Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/12/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Eidesleistung des Wehrbeauftragten Der Deutsche Bundestag hat in seiner 169. Sitzung am 14. April 2005 Reinhold Robbe zum Wehrbeauftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet dieser vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Herr Robbe, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu kommen. - Herr Robbe, ich bitte Sie jetzt, den Eid zu sprechen. ({0}) Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Wehrbeauftragter, Sie haben dem Gesetz entsprechend den Eid gesprochen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr verantwortungsvolles Amt. Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zunächst will ich noch vor Beginn unserer Diskussionen dem Kollegen Jochen Borchert gratulieren, der am 25. April seinen 65. Geburtstag feierte. Sehr herzlichen Glückwunsch! ({0}) Sodann teile ich mit, dass der Kollege Peter Harry Carstensen am 20. April sein Mandat niedergelegt hat und als sein Nachfolger Carl Eduard von Bismarck am 25. April 2005 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat. Herzlich willkommen, lieber Kollege von Bismarck! ({1}) Der Kollege Dietrich Austermann hat am 4. Mai auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Roland Dieckmann am 6. Mai 2005 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Herzlich willkommen, Kollege Dieckmann! ({2}) Für den Kollegen Reinhold Robbe, der am 11. Mai auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtete, hat mit Wirkung von heute, dem 12. Mai 2005, der uns aus der 14. Wahlperiode bereits bekannte Kollege Hans Forster die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Auch Sie, Kollege Forster, herzlich willkommen! ({3}) Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege Ulrich Kelber als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. Nachfolgerin soll die Kollegin Doris Barnett werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Doris Barnett als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU gem. Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO BT: Umstellung des Zahlungstermins für die Sozialversicherungsbeiträge ({4}) Redetext Präsident Wolfgang Thierse ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({5}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes - Drucksache 15/5444 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss gem. § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Reichard ({7}), Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Trinkwassermanagement in Entwicklungs- und Schwellenländern durch die verstärkte Einbeziehung der Privatwirtschaft verbessern - Drucksache 15/5451 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsame Position der Europäischen Union zum Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China - Drucksache 15/5467 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({9}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({10}) a) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 15/4233 ({11}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 15/4232 ({12}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 15/4230 ({13}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({14}) - Drucksache 15/5487 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Siegfried Kauder ({15}) Jerzy Montag Sibylle Laurischk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen und zur Änderung der Anlage 1 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung - Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, 15/5483 Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bierwirth Winfried Hermann Birgit Homburger ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Kritik des FDP-Vorsitzenden an Gewerkschaftsfunktionären in Deutschland ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Erfolge in der Politik für behinderte Menschen nutzen - Teilhabe und Selbstbestimmung weiter stärken - Drucksache 15/5463 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({17}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({18}), Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beim Fahrkarten- und Ticketkauf verhindern - Teilhabe ermöglichen - Drucksache 15/5460 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewährleisten - Länderkompetenzen beachten - Drucksache 15/5449 ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes - Drucksache 15/5445 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({20}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ZP 9 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Sozialdumping durch osteuropäische Billigarbeiter - Drucksache 15/5168 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({21}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Präsident Wolfgang Thierse ZP 10Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unternehmensnachfolge - Drucksache 15/5448 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({22}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss gem. § 96 GO ZP 11Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Otto Bernhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Herausforderungen der Globalisierung annehmen, Unternehmensteuern modernisieren, Staatsfinanzen durch mehr Wachstum sichern - Drucksache 15/5450 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({23}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss ZP 12Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Steuervereinfachung im Vollzug - Vorteil für Bürger, Betriebe und Verwaltung - Drucksache 15/5466 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({24}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ZP 13Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Äußerungen des Bundesministers der Finanzen zu Haushaltsrisiken für den Bundeshaushalt 2005 und zur Mehrwertsteuer Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Ferner wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 24 und 26 abzusetzen. Die Vorlagen unter Punkt 28, die Freibetragsregelungen, Hinzuverdienstmöglichkeiten und den Zusatzpunkt „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ betreffen, sollen am Freitag bereits um 9 Uhr und die Vorlagen unter Punkt 29 - Klimaschutz - nach der Debatte zum Steuerrecht beraten werden. Schließlich mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 169. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Abgeordneten Dirk Fischer ({25}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold ({26}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 15/5102 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({27}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({28}), Dietrich Austermann, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Notwendige Investitionen in die deutsche Verkehrsinfrastruktur bereitstellen - Drucksache 15/5325 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({29}) Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden. Entwurf eines von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 15/5316 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({30}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundes- kanzlers zur Ratifizierung der europäischen Ver- fassung Für ein starkes und soziales Europa b) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa - Drucksachen 15/4900, 15/4939 ({31}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({32}) - Drucksache 15/5491 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth ({33}) Peter Altmaier Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Michael Roth ({34}), Günter Gloser, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Rainder Steenblock, Volker Beck ({35}), Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung Präsident Wolfgang Thierse und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 15/4925 ({36}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Müller, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 15/4716 ({37}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({38}) - Drucksache 15/5492 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth ({39}) Peter Altmaier Sabine Leutheusser-Schnarrenberger c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({40}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer Gesetzgebung - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei der Rechtsetzung der Europäischen Union nach In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrags - Drucksachen 15/4936, 15/4937, 15/5492 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth ({41}) Peter Altmaier Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa werden wir später namentlich abstimmen. Zu einem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein interfraktioneller Entschließungsantrag vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder. ({42})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die vergangenen Tage standen nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt im Zeichen des Erinnerns und des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren. Ein besonders bewegendes Erlebnis war für mich die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag in Moskau. Ich habe die von Präsident Putin ausgesprochene Einladung als Ehre und als Auszeichnung unseres Landes verstanden, so wie ich auch die Einladungen von Präsident Chirac im vergangenen Juni in die Normandie und von Ministerpräsident Miller im vergangenen August zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand als Zeichen der Verbundenheit und des Vertrauens in unser Land empfunden habe. In der Teilnahme des deutschen Bundeskanzlers an diesen Gedenkveranstaltungen drückt sich die Wertschätzung aus, die das demokratische und vereinte Deutschland in der Staatengemeinschaft genießt. 60 Jahre nach dem Ende des von Deutschland begonnenen Krieges sind wir ein geachteter und geschätzter Partner in der Welt. Diese Tatsache sollte uns mit Dankbarkeit erfüllen. ({0}) Meine Damen und Herren, mit der Kennzeichnung „historisch“ sollten wir einen sparsamen, einen vernünftigen Umgang pflegen. Aber die Verfassung der Europäischen Union, über die wir heute zu beschließen haben, verdient dieses große Wort. Sie ist, wie könnte es anders sein, nur Menschenwerk. Sie erfüllt naturgemäß nicht alle Hoffnungen und sie bannt nicht alle Ängste. Der Verfassungstext ist aber ein sehr guter und fairer Kompromiss, in harter Arbeit vom Konvent formuliert, unter der umsichtigen Leitung von Valéry Giscard d’Estaing. Ich spreche wohl für Sie alle, meine Damen und Herren, wenn ich Giscard d’Estaing und sämtlichen Mitgliedern des Verfassungskonvents, vor allen den deutschen Vertretern, unseren Dank und unseren Respekt für die geduldige, schwierige, aber eben alles in allem erfolgreiche Arbeit ausspreche. ({1}) Lassen Sie mich stellvertretend für alle nur zwei deutsche Namen nennen: Erwin Teufel, bis vor wenigen Tagen noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg, von dessen Sachkunde in Brüssel mit Respekt gesprochen wurde, ({2}) und Joschka Fischer, ({3}) - ich glaube, Sie lernen es nie ({4}) der in den entscheidenden Monaten des Konvents mit Energie und Begeisterung, aber auch durch großes Verhandlungs- und Vermittlungsgeschick maßgeblich zum Gelingen des Verfassungswerkes beigetragen hat. ({5}) Alle, die mit ihnen zusammenwirkten, haben in vielen Tagen und Nächten in der Tat das Bestmögliche geleistet. Durch die Vertretung der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und aller nationalen Parlamente im Konvent hat die neue Verfassung eine breite demokratische Legitimation. Durch die Verfassung wird die Europäische Union entscheidungsfähiger und zugleich politisch führbar bleiben. Durch die Verfassung wird die Europäische Union demokratischer, auch bürgernäher. Das Europäische Parlament wird gestärkt und erhält mehr Mitwirkungsrechte. Die nationalen Parlamente erhalten zusätzliche Informationsund Kontrollrechte. Die Bundesregierung ist bereit, dem auch in einer Vereinbarung mit dem Deutschen Bundestag Rechnung zu tragen. ({6}) Die Zuständigkeiten zwischen der nationalen und der europäischen Ebene werden in der europäischen Verfassung klarer getrennt. Und die Verfassung trägt mit dem Entscheidungsmodus der doppelten Mehrheit dem urdemokratischen Prinzip „Ein Bürger, eine Stimme“ wirklich Rechnung. Deshalb kann es auch insoweit keinen Zweifel geben: Wer in Europa mehr Demokratie will, der muss für diese Verfassung stimmen. ({7}) Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, in diesem Augenblick nicht allzu kleinlich und detailversessen auf den einen oder anderen Halbsatz in diesem oder jenem Paragraphen des Gesamtwerks zu starren - einen Halbsatz, der unseren Erwartungen vielleicht nicht völlig entspricht -, sondern einmal innezuhalten, vielleicht sogar ein paar Schritte zurückzutreten, um unsere Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, mit den Augen der Älteren unter uns zu betrachten, jener, die Zeugen und Opfer der Verheerungen des 20. Jahrhunderts waren, also aus der Sicht unserer Väter und Mütter, unserer Großmütter und Großväter, die uns - 60 Jahre nach dem Ende der europäischen Katastrophen - gerade in diesen Tagen des Gedenkens wieder so nahe gerückt sind. Wer von ihnen hätte damals von einer europäischen Verfassung, von einem in Frieden, Freiheit und Wohlstand vereinten Europa auch nur zu träumen gewagt, damals, in den Trümmern der Städte, damals, als die Tore der Konzentrationslager endlich aufgesprengt wurden und der Blick der Völker entsetzt die Leichenberge und die ausgemergelten Skelette wahrnahm, damals, als sich hinter Millionen deutscher Soldaten die Tore der Kriegsgefangenenlager für bittere Monate und Jahre schlossen, damals, als sich ein Gefühl der Erlösung einstellte, aus dem sich allmählich, wie es Richard von Weizsäcker 40 Jahre später in einer mutigen und wegweisenden Rede ausgesprochen hat, ein Gefühl der Befreiung zu entwickeln begann, weil den Mörderkommandos der SS und der Feldgendarmerie das blutige Handwerk gelegt wurde, weil die von Anhängern und Mitläufern getragene Nazidiktatur, die Leid, Tod und Zerstörung über Europa gebracht hatte, endlich gebrochen war? Nein, den Überlebenden war es damals nicht in den Sinn gekommen, von einer europäischen Verfassung für die Völker des Kontinents auch nur zu träumen, Völker, die als gute Nachbarn friedlich zusammenleben. Keiner wagte zu hoffen, dass jener Menschheitstraum von Frieden, Solidarität und Freiheit jemals unsere Realität bestimmen und unseren Alltag formen würde. Wirklich keiner? Nicht ganz. In Buchenwald, in Dachau, in Flossenbürg und Mauthausen, also in den Zellen des Widerstandes der Lager und der Zuchthäuser, wurde von der Notwendigkeit der Einheit Europas - wenn auch nur flüsternd - gesprochen. Ich nenne stellvertretend die Namen Eugen Kogon, Jorge Semprún, Joseph Rovan, Fritz Erler, Helmuth von Moltke und Eugen Gerstenmaier. Im Widerstand der europäischen Völker gegen den Faschismus leuchtete das Licht des vereinigten Europas eben in den dunkelsten Jahren unserer Geschichte zum ersten Mal und ganz, ganz zaghaft auf. Europa - so viel ist klar - wurde aus der Not geboren, aus der Notwendigkeit - im wahrsten Sinne des Wortes -, einer Notwendigkeit, der schließlich auch die Vernunft gehorchte. Aus dem Elend des Seins wuchs ein neues Bewusstsein, ein neuer Geist. Der Krieg war noch nicht beendet, als drüben in Washington Jean Monnet - damals der Beauftragte des Freien Frankreichs für die Versorgung der Armeen, die jenseits des Atlantik kämpften - die ersten Pläne für den Zusammenschluss Europas zu entwerfen begann, zusammen mit seinen amerikanischen Kollegen, unter ihnen George Ball, den wir später als den Architekten der Außenpolitik von John f. Kennedy kennen und auch schätzen lernten. Vergessen wir nicht - jetzt erst recht nicht -, dass die besten Köpfe der amerikanischen Nachkriegsdiplomatie zu den Vätern Europas gehörten: ({8}) George F. Kennan und Dean Acheson, die Konstrukteure des Marshallplans. Sie bestanden darauf, dass die Europäer in einem gemeinsamen Gremium die Verwaltung der amerikanischen Milliarden verantworteten, das westliche Deutschland eingeschlossen, das zunächst von Besatzungsmächten vertreten wurde. Das Monnetprojekt für die gemeinsame Kontrolle der deutschen und französischen Montanindustrie trat später unter dem Namen Schumanplan ins Leben. Jean Monnet und Robert Schuman fanden ihre kongenialen Partner in Konrad Adenauer, dem italienischen Christdemokraten de Gasperi und dem belgischen Sozialisten Paul-Henri Spaak - die Gründerväter Europas. Charles de Gaulle hat 1954 als leidenschaftlicher Repräsentant des klassischen Nationalstaates Monnets Konzept der europäischen Verteidigungsunion zu Fall gebracht. Es war ein Glücksfall, dass er sich nach der Rückkehr ins Amt der historischen Logik gebeugt hat: De Gaulle erkannte die französisch-deutsche Kooperation als produktive Keimzelle Europas und er setzte sie als Motor in der europäischen Einigung ins Werk - ein bewundernswerter Wandel, der die Größe dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit bezeugt. Ohne die deutschfranzösische Aussöhnung und Partnerschaft wäre das europäische Einigungswerk nicht möglich gewesen. Auch das ist Verpflichtung. ({9}) Die Verständigung zwischen de Gaulle und Konrad Adenauer und das gemeinsame Werk des Élysée-Vertrags haben wir gemeinsam mit unseren französischen Freunden und Partnern zum 40. Jahrestag in einer gemeinsamen Sitzung gefeiert. Auch das ist ein Ereignis, das sich 1945 kein Deutscher und wohl auch kein Franzose vorstellen konnte. Und auch das gehört zu einer Verpflichtung, die wir alle miteinander haben. Alle Nachfolger von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer haben übrigens entsprechend dem Gesetz der europäischen Einheit und der Logik der deutsch-französischen Zusammenarbeit politisch gehandelt. Diese besondere Bindung zwischen Deutschland und Frankreich ist für unsere und für alle nachkommenden Generationen Erbe, aber eben auch zugleich Verpflichtung. Meine Damen und Herren, viele sehen Willy Brandt allzu einseitig nur als Strategen der Ostpolitik. Ich wäre der Letzte, der diese historische Zäsur und diese großartige Leistung unterschätzte. Denn die Entspannungspolitik der damaligen sozial-liberalen Koalition war der eigentliche Anfang des gesamteuropäischen Wandels und Umbruchs. ({10}) Willy Brandt hat aus tiefer Überzeugung wieder und wieder betont, dass sich seine Ostpolitik konsequent aus der Westpolitik Konrad Adenauers ergeben hat, dass sie ohne das Fundament der Europäischen Gemeinschaft nicht denkbar gewesen wäre und dass sie freilich auch niemals die Einbindung in die Atlantische Allianz entbehren konnte. Helmut Schmidt, aber auch Helmut Kohl führten das Werk Brandts konsequent fort. Willy Brandt hat - man vergisst es allzu oft - mit Präsident Pompidou 1970 in Den Haag die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, einer Wirtschafts- und Währungsunion samt Europäischer Zentralbank, beschlossen. Als Zielpunkt wurde übrigens das Jahr 1980 ins Auge gefasst. Das war ein wenig zu optimistisch, wie wir wissen. Die Entwicklung nahm unsere Geduld etwas länger in Anspruch. Indes: Es waren Brandt und Pompidou, denen es gelang, Großbritannien unter der Führung des konservativen Edward Heath, der ein bekennender Europäer war und ist, ins gemeinsame Boot zu holen. Sie waren es auch, die für Spanien, Portugal und Griechenland nach der Befreiung aus ihren autoritären Regimes das Tor zu Europa aufgeschlossen haben. Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt und der Liberalkonservative Giscard d’Estaing haben in ihrer Zeit das europäische Werk aus Passion und Überzeugung fortgesetzt. Sie bahnten dem Euro mit der so genannten Währungsschlange den Weg. Der Christdemokrat Helmut Kohl und der Sozialist Francois Mitterand waren es schließlich, die mit dem Vertrag von Maastricht das Rahmenwerk der Europäischen Union geschaffen haben, und zwar den Rahmen für das ganze Europa, das auch jene Völker und Staaten einschließt, die im vergangenen Jahr der Europäischen Union beigetreten sind, und das auch jene willkommen heißt, die im Jahr 2007 dazukommen werden. ({11}) Übrigens - das sollten wir bei einer Würdigung politischer Leistungen nicht unterschlagen -: Francois Mitterand und Helmut Kohl haben die deutsche Einheit in Europa eingebunden. In dieser Tradition und Kontinuität wollen Jacques Chirac und ich die deutsch-französische Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. Mein Zusammenwirken mit dem französischen Staatspräsidenten - lassen Sie mich das voller Dankbarkeit hier anmerken - steht in seiner Intensität, seiner Aufrichtigkeit, seiner Zuverlässigkeit und auch seiner Herzlichkeit dem unserer Vorgänger nicht nach. ({12}) Meine Damen und Herren, bei den Beratungen zur europäischen Verfassung hat sich die deutsch-französische Partnerschaft im Interesse unserer Völker und im Interesse der gesamten Europäischen Union einmal mehr bewährt. Diese Verfassung, über die wir heute abstimmen, ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, der in der Geschichte der europäischen Integration wahrlich ohne Beispiel ist. Historisch steht die Verfassung in der Kontinuität eines Europas, das seine Lehren aus der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen hat. Insoweit ist die Verfassung sowohl ein Dokument der Selbstvergewisserung als auch ein Ausdruck für das Selbstverständnis des vereinigten Europas im 21. Jahrhundert. Es ist ein Europa, das sich als Wertegemeinschaft versteht und auf den universellen Werten und den unveräußerlichen Rechten des Menschen beruht. Es ist ein Europa, das Demokratie mit wirtschaftlicher ProduktiviBundeskanzler Gerhard Schröder tät und sozialer Solidarität zu einem ganz eigenen Gesellschaftsmodell verknüpft. Es ist ein Europa, das sich als soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Gemeinschaft begreift, das ganz bewusst mehr sein will als eine bloße geographische Einheit, mehr als Binnenmarkt und Freihandelszone. Es ist ein Europa, das als innere Einheit auftreten und handeln will - nach der festen Überzeugung, dass wir Europäer gemeinsam mehr erreichen können, als jeder für sich je erreichte. Es ist ein Europa, das eine Stimme für Frieden und Multilateralismus und ein starker Partner für eine gerechte und kooperative Weltordnung sein will. ({13}) Dazu gehört ausdrücklich auch eine stabile Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Verfassung schafft dieses Europa nicht. Aber sie bietet den Rahmen, die Institutionen und die Verfahren, damit das erweiterte Europa seinen Weg weitergehen kann. Sie wird dem europäischen Integrationsprozess einen neuen Schub, eine neue Dynamik verleihen. Mit der Verfassung geben wir Europäer uns in freier Selbstbestimmung ein neues System der Ordnung, das die Fragmente der bisherigen europäischen Verträge in verbesserter und harmonisierter Form zusammenfügt. Die europäische Verfassung steht auch einer Vertiefung der Europäischen Union nicht im Wege. Im Gegenteil: Gerade im erweiterten Europa stellt sich die Notwendigkeit vertiefter Formen der Zusammenarbeit besonders dringlich. Dies gilt aus meiner Sicht vor allem für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik, aber nicht minder für eine europäische Ausländer- und Zuwanderungspolitik. Die Verfassung verändert auch nicht die Statik oder gar die Architektur im gemeinsamen Europa. Sie kennt keine Dominanz und sie schafft auch kein französisches Europa, erst recht kein deutsches Europa, sondern ein wahrhaft europäisches Europa. Meine Damen und Herren, die europäische Einigung ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte, natürlich mit Zweifeln und Rückschlägen versehen. Aber trotz aller Zweifel, Rückschläge und Krisen, die es seit den 50er-Jahren immer wieder gegeben hat, sind wir doch weit vorangekommen. Vor allem hat der europäische Einigungsprozess zusammen mit der atlantischen Allianz unseren Völkern seit nunmehr 60 Jahren Frieden beschert. Dieses Glück ist den Völkern unseres Kontinents niemals zuvor zuteil geworden. ({14}) Aber nicht nur Frieden: auch einen in der Geschichte einmaligen Wohlstand, wie ihn die Menschen auf diesem Kontinent - trotz der akuten ökonomischen Probleme so nie zuvor gekannt haben. Meine Damen und Herren, die Kontinuität in der Europapolitik gehört zum Grundkonsens aller deutschen Regierungen und aller deutschen Demokraten. Ich kann Europa unser aller Raison d’Être nennen: die Garantie eines Lebens in Freiheit und in Würde. Diese Garantie bringt die europäische Verfassung auf vortreffliche Weise zum Ausdruck. Diese Verfassung ist das vorläufig krönende Werk der politischen Arbeit von zwei oder drei Generationen. ({15}) Mit der heutigen Abstimmung legen wir auch ein Zeugnis darüber ab, dass wir uns ihrem Vermächtnis würdig erweisen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wird mit großer Mehrheit der Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages zustimmen. Auch wenn sich eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion dieser Mehrheit nicht anschließen wird - ihre Zweifel sind geblieben -, bringen wir als Fraktion in unserer großen Mehrheit unser Ja zum Vertrag über die Verfassung in Europa eindrucksvoll zum Ausdruck. Wir sagen Ja dazu, mit diesem Vertrag die Einigung Europas institutionell weiter zu festigen; denn wir vergessen nicht die Lehren von denen, die vor uns politische Verantwortung trugen, von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Kohl, die Lehren aus den Katastrophen der beiden Weltkriege auf europäischem Boden. Europa als Friedens- und Wertegemeinschaft stärken, dazu gibt es keine Alternative. ({0}) Als ich nach der deutschen Einheit Jugendministerin wurde, rief mich im Sommer 1991 Bundeskanzler Helmut Kohl an und sagte mir: Sie müssen Joseph Rovan kennen lernen, einen der großen Befürworter des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, 1918 in München geboren, 1933 nach Frankreich emigriert, Kriegsdienst auf französischer Seite, Mitarbeiter der Résistance, 1944 verhaftet und nach Dachau deportiert, 1945 politischer Berater des Ministers Edmond Michelet und glühender Befürworter des Jugendaustauschs zwischen Deutschland und Frankreich. Als ich ihn traf, übergab er mir sein Buch „Geschichten aus Dachau“ und drückte in so unbeschreiblicher Weise gleichzeitig die Freude über die deutsche Einheit und das Ende des Kalten Krieges aus, dass mir klar wurde, welche Kraft die Visionäre am Ende des Zweiten Weltkrieges aufgebracht hatten, dieses gemeinsame Europa zu bauen. Das werden und dürfen wir niemals vergessen. ({1}) Winston Churchill sagte schon 1946 in einer Rede an die akademische Jugend an der Universität Zürich: „Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!“ Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle. Das sagte Konrad Adenauer. Europa kann und darf kein wirtschaftliches und technisches Unternehmen bleiben. Europa braucht eine Seele, das Bewusstsein seiner historischen Affinitäten, seiner gegenwärtigen und künftigen Aufgaben, einen politischen Willen im Dienste eines selben menschlichen Ideals, so Robert Schuman. Einen politischen Willen im Dienste eines selben menschlichen Ideals - dieser Wille hält heute immer noch an. Das ist nach sechs Jahrzehnten, nach dem Zerfall alter Ordnungsmuster und alter Gewissheiten, nach der Vervielfachung der Zahl der Mitgliedstaaten und angesichts ganz neuer Herausforderungen nicht selbstverständlich. Europa hat seit 1945 eine wechselvolle Geschichte erlebt: stürmischer Beginn - darüber ist heute gesprochen worden - mit der Montanunion, den Römischen Verträgen, die Politik des leeren Stuhls von Frankreich 1965, Phasen des Leerlaufs und dann auch wieder eine große Renaissance der Integrationsgeschichte durch das Binnenmarktprojekt, durch das Schengener Abkommen, neue Perspektiven, neue Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges, jetzt der Verfassungsvertrag 2005. Immer waren Deutschland und Frankreich als Motor an dieser europäischen Einigung beteiligt. Es ist interessant, dass Papst Johannes Paul II. am Anfang dieses Jahres, am 10. Januar, beim Empfang des Diplomatischen Corps beim Heiligen Stuhl noch einmal darauf hingewiesen hat - ich zitiere -: Und Europa kann sehr wohl als ein sicherlich privilegiertes Beispiel für die Möglichkeiten des Friedens angeführt werden. Nationen, die sich einst als erbitterte Feinde bekämpften, sind heute in der Europäischen Union vereint, die sich im vergangenen Jahr zum Ziel gesetzt hat, durch den Verfassungsvertrag von Rom noch enger zusammenzuwachsen. Die Ratifizierung dieses Verfassungsvertrages am Anfang des 21. Jahrhunderts heute hier in Deutschland - gestern haben Österreich und die Slowakei zugestimmt; ich hoffe, dass das französische Referendum erfolgreich sein wird - ist ein weiterer historischer Schritt. Auch ich möchte allen danken, die daran mitgewirkt haben, dass dieses Projekt ein Erfolg wurde, allen voran dem Präsidenten des Verfassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, und allen Mitgliedern dieses Konvents, Roman Herzog und den Mitgliedern des Vorgängerkonvents, die sich mit der Grundrechte-Charta beschäftigt haben, und ich möchte danken, dass Wolfgang Schäuble und Karl Lamers bereits Anfang der 90er-Jahre davon gesprochen haben, dass es die Notwendigkeit eines solchen Projekts gibt, weil sich Europa vor allen Dingen seiner gemeinsamen geistigen Grundlagen bewusst werden muss. ({2}) Ich bin froh - ich sage voraus, dass das weitergehen wird und es intensiver werden wird -, dass sich Europa mit seinen geistigen Grundlagen befasst. Was sind die Werte, was ist die Würde des Menschen? Freiheit, Gleichheit, Solidarität als Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - das alles ist als Identität der Europäischen Union jetzt im Verfassungsvertrag festgeschrieben. Wir hätten uns gewünscht, dass auch über die Wurzeln unseres Erbes, über das jüdisch-christliche Erbe, in diesem Verfassungsvertrag eine deutlichere Auskunft gegeben worden wäre. Ein klarer Gottesbezug hätte uns mit Sicherheit geholfen, unsere Identität klarer zu definieren. ({3}) Es ist immerhin zum ersten Mal gelungen, in diesem Verfassungsvertrag den Status der Kirchen vertraglich abzusichern. Das ist ein Erfolg. Wir werden weiter darum streiten, dass wir ohne Bekenntnis zu unseren Wurzeln den interkulturellen Dialog nicht werden führen können. ({4}) Erwin Teufel hat in der ersten Lesung zu der Ratifizierung des Verfassungsvertrages hier von der Bundesratsbank aus sehr deutlich gemacht, dass es all denen, die politische Verantwortung tragen, bei allem Bekenntnis zu Europa aber auch zu denken geben muss, dass wir in den letzten zehn Jahren in den monatlichen Umfragen zur Akzeptanz Europas, die die Europäische Union in allen Mitgliedstaaten durchführt - ich zitiere aus seiner Rede -, im Unterschied zu früheren Zeiten, als wir in Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen Länder, bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind. Erwin Teufel sagte dann: Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als ein fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut wie keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein Geflecht von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine Übersicht. Der Bauer, der Handwerksmeister, der Kommunalpolitiker erleben aber fast tagtäglich europäische Gesetzgebung, von der sie der Überzeugung sind, dass sie bürgerfern und problemfern ist, dass sie sehr viel besser auf nationaler Ebene, auf Landesebene, ja sogar auf kommunaler Ebene erfolgen sollte. So weit Erwin Teufel bei der ersten Lesung. Deshalb, so glaube ich, ist es wichtig, dass wir uns vergegenwärtigen, dass sich Europa um die richtigen Aufgaben kümmern muss. Die richtigen Aufgaben sind die, die über die Kraft des Nationalstaates hinausgehen. ({5}) Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass in diesem Verfassungsvertrag zum ersten Mal ganz eindeutig die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips verankert ist. Es sind neue Aufgaben definiert. Zu denen muss man sich und zu denen werden wir uns bekennen: die Außenund Sicherheitspolitik als gemeinsame Politik der Europäischen Union. Dass die europäische Außenpolitik Gesicht und Stimme durch einen europäischen Außenminister bekommt, ist gut. Allerdings wird die Aufgabe dieses Außenministers nicht ganz einfach sein, weil dies auch voraussetzt, dass er eine einheitliche Haltung verkünden kann. Das heißt, ich hoffe sehr, dass es gelingt, in den wichtigen außenpolitischen Fragen auch eine gemeinsame europäische Identität zu finden. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass im Verfassungsvertrag deutlich verankert ist, dass Sicherheitspolitik keine Politik gegen die NATO, sondern eine Politik in Übereinstimmung mit der NATO sein sollte. ({6}) In Fortführung des Vertrages von Amsterdam ist jetzt auch deutlich, dass angesichts der Bedrohungen des 21. Jahrhunderts die Rechts- und Innenpolitik stärker als bisher eine Gemeinschaftsaufgabe sein wird. Auch hier halte ich es für richtig, dass wir diese Politik in Europa gemeinsam betreiben. Jeder, der einmal Europol besucht hat, weiß, wie wichtig Verbrechens- und Terrorbekämpfung auf europäischer Ebene sind. Ich sage allerdings auch, dass in diesem Zusammenhang die Fragen der demokratischen Legitimation weiter diskutiert werden müssen. Ich darf wohl für alle hier Anwesenden sagen, dass die mündliche Verhandlung zum europäischen Haftbefehl noch kein Ruhmesblatt für das Parlament war. ({7}) Da müssen wir besser werden, meine Damen und Herren. ({8}) Weil das notwendig ist, ist es gut, dass in diesem Verfassungsvertrag die Stärkung des Demokratieprinzips in vielfältiger Weise deutlich wird. Die Rechte des Europäischen Parlaments werden gestärkt. Meine Damen und Herren, die Geschichte Europas ist lang und wir vergessen manchmal, dass das Europäische Parlament erst 1979 zum ersten Mal gewählt wurde. Dieses Parlament ist noch heute auf einem Weg, den andere nationale Parlamente natürlich längst hinter sich gelassen haben. Es ist gut, dass die Rechte des Europäischen Parlaments jetzt denen des Rates annähernd gleichgestellt werden, wenngleich das immer noch nicht vollkommen geschehen ist. Die CDU und CSU und auch die Europäische Volkspartei haben dafür gekämpft, dass sich die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament zum Schluss auch in der Besetzung der Kommission niederschlagen müssen. Sonst verstehen die Menschen in den Nationalstaaten doch gar nicht, warum sie ein Europäisches Parlament wählen. Ich halte das für einen großen Fortschritt. ({9}) Wir haben die Demokratie mit diesem Verfassungsvertrag durch das Prinzip der doppelten Mehrheit gestärkt, was gerade für Deutschland von extrem großer Bedeutung ist. Die Tatsache, dass in Zukunft nicht nur die Stimmengewichtung der Länder - Deutschland 29, Polen 27 Stimmen - entscheidend ist, sondern bei europäischen Beschlüssen zusätzlich auch die Mehrheit der Bevölkerung erreicht werden muss, ist ein notwendiger, richtiger und wichtiger Schritt, von dem insbesondere Deutschland profitiert. Andere Länder haben sich damit schwer getan. Trotzdem halte ich ihn für richtig. Er bedeutet für uns einen großen Erfolg. ({10}) Für die Kommission ist es jetzt notwendig und meines Erachtens auch dringlich, die Kompetenzen zur Erarbeitung von Richtlinien, in Zukunft Gesetze genannt, wirklich zu überprüfen. Sie muss sie begründen vor dem Hintergrund der Subsidiarität. Nicht mehr allgemeine Zielbestimmungen in den europäischen Verträgen sind Kompetenz begründend, sondern die Kompetenz muss durch Einzelermächtigungen konkret nachgewiesen werden. Es ist gut, dass es die Subsidiaritätskontrolle und die Subsidiaritätsklage und damit ein Frühwarnsystem gibt. Ich sage für unsere Fraktion zu: Wir werden von diesen Instrumenten dann, wenn wir es für notwendig halten, regen Gebrauch machen, damit gerade dieses Subsidiaritätsprinzip, das ich im Zusammenhang mit Bürgernähe in Europa für essentiell halte, in Zukunft besser durchgesetzt werden kann. ({11}) Meine Damen und Herren, nicht jeden, der einmal in einem Rat in Europa gesessen hat, wird das freuen, aber in Zukunft müssen die Ratssitzungen, die sich mit Gesetzgebung befassen, öffentlich sein. Das ist notwendig und wird auch eine Veränderung der Diskussion mit sich bringen. Dadurch wird einmal mehr deutlich gemacht werden, dass darüber nachgedacht werden muss, wie oft Gesetzgebung in Europa notwendig ist. Ich verhehle nicht, dass einem gewisse Zweifel kommen, wenn 900 Richtlinien noch schlummern und zur Beratung anstehen. Wenn alle diese Sitzungen öffentlich sein werden, werden wir sehr viel mehr hinschauen können und das ist gut so. ({12}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dann im Zusammenhang mit der Diskussion über den Verfassungsvertrag einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich damit befasst, wie wir seitens des Bundestags eine bessere parlamentarische Kontrolle gewährleisten können. Ich möchte ganz besonders Peter Hintze danken, der zum Schluss in den Verhandlungen nun doch gute Ergebnisse erreicht hat. Herr Bundeskanzler, ich spüre die Bereitschaft, dass auch die Bundesregierung mit dem Parlament eine Vereinbarung darüber schließt, dass unsere Kontrollrechte gestärkt werden, das heißt, dass europäische Angelegenheiten, die später in nationales Recht umgesetzt werden müssen, frühzeitig diskutiert werden können, dass die Bundesregierung ihre Position in den Verhandlungen darlegen muss und dass auch Abweichungen von dieser Position, die die Integrationskraft der Europäischen Union notwendig macht, schnellstmöglich dem Parlament mitgeteilt werden, sodass wir nicht von Richtlinien überrascht werden, die sieben Jahre nach Verabschiedung in Kraft treten. Es geht vielmehr darum, dass wir dann, wenn etwas ansteht, mitdiskutieren können. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir Europa auch zu den Menschen in unseren Wahlkreisen tragen können. ({13}) Dabei verhehle ich nicht, dass wir nicht alle Wünsche durchsetzen konnten. Wir hätten es gerne gehabt, dass bei den Beitrittsverhandlungen auch eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen wäre. Aber wir haben einiges erreicht. Auf alle Mitglieder dieses Hauses kommt viel zusätzliche Arbeit zu. Ich hoffe, dass jeder Kollege gerne von seinen Kontrollrechten Gebrauch macht, ({14}) sodass es nicht nur zu Mehrarbeit für die Regierung, sondern auch für die Parlamentarier kommt. Ich glaube, dass wir an einem solchen historischen Tag, an dem wir ein solches Projekt verabschieden, auch sehen müssen - das hat etwas mit der Zustimmung zu Europa zu tun -, dass wir in zweierlei Hinsicht am Scheideweg stehen: zum einen, was die Integrationstiefe anbelangt, und zum anderen, was die Ausdehnung der Europäischen Union anbelangt. Es ist - jedenfalls aus meiner Sicht - für das Funktionieren der Europäischen Union von größter Bedeutung, dass es uns gelingt, Europa als Wertegemeinschaft, aber auch als ein Modell für das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen, nämlich als Sozialstaatsmodell durchzusetzen. Dies werden wir im globalen Wettbewerb nur dann schaffen, wenn wir wirtschaftlich stark sind. Deshalb unterstütze ich alles, was mit der LissabonStrategie zusammenhängt. Aber wir werden in Zukunft weiter überlegen müssen, was dem Ziel der wirtschaftlichen Stärke und der Schaffung von Arbeitsplätzen dient und worauf wir vielleicht verzichten müssen. Dabei könnte es sein, dass die Bestückung von Biergärten mit Sonnenschirmen ein wenig zurücktreten muss und dass dafür Richtlinien, die die wirtschaftliche Kraft in Europa wieder anfeuern, in den Vordergrund treten. Wir werden in den nächsten Jahren Diskussionen darüber führen, ob nicht Kompetenzen, die Europa schon einmal hatte und die in dem viel gelobten Acquis communautaire verankert sind, wieder an die Nationalstaaten zurückgegeben werden, ({15}) so wie wir es in der Föderalismuskommission zwischen Bundes- und Länderebene derzeit miteinander diskutieren. Das bedeutet keine Schwächung von Europa; es bedeutet vielmehr, dass das Subsidiaritätsprinzip immer wieder der Punkt sein muss, an dem wir überprüfen, welche Aufgabe wo am besten geleistet werden kann. Das bedeutet dann auch, dass wir die Richtlinien, die wir aus Europa bekommen, in Deutschland nicht im Übermaß umsetzen sollten, indem wir immer noch 20 Prozent draufsatteln; vielmehr sollten wir den fairen Wettbewerb zwischen Deutschland und anderen ermöglichen. ({16}) Denn wir sind uns doch alle einig, dass mit Deutschlands wirtschaftlicher Prosperität auch Europas wirtschaftliche Prosperität in ganz wesentlichen Bereichen zusammenhängt. Wir müssen uns der Frage stellen, welche Balance wir in dem Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung schaffen. Ich glaube, wir müssen sehr redlich und zum Teil auch leidenschaftlich darüber diskutieren, welche Erweiterungskapazitäten Europa hat. Der Bundeskanzler hat am 7. Mai gesagt, es gebe Grenzen der Erweiterung Europas, die sich nicht abstrakt festlegen ließen, sondern sich konkret aus der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union ergäben. Beitrittsfähigkeit und Aufnahmefähigkeit seien die zwei Seiten einer Medaille. Ich kann das hundertprozentig unterschreiben. Ich sage allerdings auch: Es wird immer wieder vorkommen, dass wir, wie zum Beispiel im Fall der Türkei, unterschiedlicher Meinung darüber sind, ob die Aufnahmefähigkeit - das ist mein Bezugspunkt - zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich da ist, ohne dass wir das europäische Einigungswerk gefährden. Lassen Sie uns darüber fair, aber auch intensiv und leidenschaftlich streiten! Es wird Europa gut tun. ({17}) Ich habe eine letzte Bitte. Wir müssen auch darauf achten, dass wir mit einer Sprache sprechen, und zwar außerhalb unseres Landes bei dem, was wir verhandeln, und innerhalb unseres Landes, wenn wir Wahlkämpfe haben. ({18}) - Ja, meine Damen und Herren, ich sage das in aller Nüchternheit. - Ich glaube, man darf nicht - wie es über Monate geschehen ist - über eine Richtlinie wie die Dienstleistungsrichtlinie, die von Grund auf richtig ist, plötzlich in Situationen, in denen es zu bestimmten Entscheidungen kommt, etwas nuanciert und anders sprechen, als man das vorher getan hat. ({19}) Ich glaube, man muss bei den Beitrittsverhandlungen ganz klar Position beziehen. Die Bundesregierung hat es formal auch getan. - Darüber brauchen Sie sich gar nicht aufzuregen. Der Bundeskanzler hat zum Beispiel in Weiden - in fünf Punkten - gesagt: Wir dürfen nicht nur die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschränken, sondern wir müssen auch bei der Freizügigkeit im Bereich der Dienstleistungen Einschränkungen vornehmen. Er hat damals das Baugewerbe - dort ist es geschehen - und Bereiche des Handwerks - dort ist es so gut wie nicht geschehen - als Beispiele genannt. Wenn wir uns heute die Statistiken ansehen und uns über die stark angestiegene Zahl der Neugründungen von Handwerksbetrieben freuen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass Realität ist, dass zum Beispiel in Köln 50 Fliesenlegerbetriebe aus den mittel- und osteuropäischen Staaten in einer Wohnung ansässig sind, weil die Fliesenleger - anders als in Österreich - nicht von der Dienstleistungsfreiheit ausgenommen wurden. ({20}) - Bleiben Sie ganz ruhig! Ich bin gar nicht auf Polemik gestimmt. ({21}) - Ich bin überhaupt nicht auf Polemik gestimmt. Ich sage Ihnen nur in aller Ruhe: Wenn Sie in einem Jahr die Handwerksordnung so ändern, dass der Zugang der Fliesenleger zum Arbeitsmarkt vereinfacht wird, und gleichzeitig die Dienstleistungsfreiheit ermöglichen, dann dürfen Sie zumindest zum Schluss über den Sachverhalt nicht Klage führen. Wir hätten das anders gemacht. ({22}) Ich sage dies deshalb, und zwar in tiefem Ernst, weil es mir und meiner Fraktion darum geht, dass Europa aus den heute genannten historischen Gründen auch in den nächsten Jahrzehnten die notwendige Akzeptanz, die notwendige Bürgernähe aufbringt, damit die Menschen in diesem Lande Europa als eine Chance begreifen, als eine Chance in der globalen wirtschaftlichen Auseinandersetzung, als eine Chance in der kulturellen Auseinandersetzung, als eine Chance, ein Partner zu sein, der für Freiheit und Demokratie in der Welt streitet. Um das nicht aufs Spiel zu setzen, müssen wir auch in dem, was vielleicht wie ein Detail erscheint, was die Menschen aber betrifft, ernsthaft miteinander ringen. Ich glaube - damit lassen Sie mich schließen -, der vorliegende Verfassungsvertrag hat unsere Möglichkeiten erheblich erweitert. Deshalb kann ich aus vollem Herzen Ja sagen, auch wenn mir nicht alles gefällt. Aber der Streit um Europa muss im 21. Jahrhundert unter neuen Bedingungen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger genauso leidenschaftlich geführt werden, wie das die Gründungsväter der Europäischen Union getan haben. Herzlichen Dank. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Franz Müntefering. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Wochen, die haben es in sich. Dies ist so eine Woche. ({0}) Deshalb will ich ein bisschen dabei verweilen; denn die Dinge gehören zusammen. 8. Mai: Zehntausende demonstrieren am Brandenburger Tor Demokratie und für Demokratie, darunter Vertreter der Aktion Sühnezeichen, des Anne-FrankZentrums, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, der Arbeiterwohlfahrt, des Türkischen Bunds in BerlinBrandenburg, von Mehr Demokratie e. V., des DGB, von „Zivilcourage zeigen“ und von „Gesicht zeigen“. Das waren ein sympathisches Gesicht und ein gutes Gefühl in Deutschland. ({1}) Wenn man auf der Straße, an den Ständen oder in den Zelten dabei war, dann sah man: Die ist dabei, der ist dabei, fröhlich locker, aber auch entschlossen. Die Botschaft war eindeutig: Diese deutsche Demokratie ist selbstbewusst und sie ist sich ihrer Verantwortung bewusst; Nazis und Extremisten jedweder Art haben in Deutschland keine Chance - nie wieder! ({2}) Ich richte unseren Dank an Klaus Wowereit und alle Verantwortlichen in Berlin. Dies gilt ganz besonders für die Polizistinnen und Polizisten, die in diesen Tagen in vorbildlicher Weise mitgewirkt haben. Wir waren und sind auf unsere Hauptstadt richtig stolz. ({3}) 9. Mai: Russland gedenkt des Kriegsendes vor 60 Jahren und lädt dazu den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als Freund ein. Das Land, das mehr als jedes andere unter der Aggression Deutschlands gelitten hat, zeigt Versöhnung. Der Bundeskanzler hat in seiner Rede heute die gute Geschichte Europas seit Adenauer und de Gaulle skizziert. Ich füge hinzu: Dass Präsident Putin, Bundeskanzler Gerhard Schröder und viele Staatsmänner in Moskau gemeinsam Friedfertigkeit und Freundschaft demonstriert haben, gehört in die Kette einer großartigen, hoffnungsvollen Entwicklung Europas und hoffentlich weit darüber hinaus. ({4}) 10. Mai: Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas für die Öffentlichkeit. 2711 Stelen und das darunterliegende Informationszentrum machen dieses Mahnmal in der Gegenwart und für die Zukunft zu einer Stätte dauerhafter Erinnerung an eine grausame, entsetzliche deutsche Vergangenheit. Gedenkstunden gibt es viele. Wer die Zeitzeugin Sabine van der Linden in der Gedenkstunde vorgestern miterlebte, der wird sie nie vergessen. ({5}) 12. Mai, heute: Vor 40 Jahren, am 12. Mai 1965, nahmen Israel und die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen auf. Das waren und das sind keine einfachen Beziehungen; aber sie haben zur Wiederannäherung zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk geführt. Damals, 1965, wurde ein Abgrund überwunden, wie es ihn tiefer zwischen zwei Völkern in der Menschheitsgeschichte wohl nicht gab. Die Überlebenden, die Angehörigen der Ermordeten, haben nach dem Ende des Schreckens vielfach Zuflucht in Israel gefunden. Sie haben den jungen Staat mit aufgebaut, der den Juden aus aller Welt eine sichere Heimat bieten soll. Vielen von ihnen war der Gedanke, normale Beziehungen zu Deutschland und zu Deutschen zu unterhalten, zu Anfang unerträglich. Es bedurfte einer ungeheuren Kraft und eines großen Herzens, sich im Licht dieser Vergangenheit trotzdem der Zukunft zuzuwenden. Diese Kraft hatten die Menschen in Israel. Dafür sind wir dankbar. ({6}) Dieser 12. Mai 2005 wird aber auch als derjenige Tag in den Geschichtsbüchern stehen, an dem der Deutsche Bundestag den Vertrag über eine Verfassung für Europa beschließt. Eine Verfassung beschließen heißt, Grundwerte zu benennen und sich Regeln zu geben. Eine Verfassung ist keine Garantie für eine richtige Politik; aber sie erleichtert richtige Politik. Sie ist ein Kompass, weist also den Weg. Sie kann keine Steine aus dem Weg räumen - Steine wird es wahrlich genug geben und wir stoßen jeden Tag auf welche -; aber sie gibt Orientierung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist ein gutes Beispiel und eine Erfolgsgeschichte. Theoretisch könnte in Deutschland heute auch ohne Grundgesetz alles so sein, wie es heute ist; aber eben nur theoretisch. Jean Monnet hat sich zu dieser Problematik einmal so geäußert: „Es kommt nicht darauf an, aufzuschreiben, was sein soll, sondern es kommt darauf an, aufzuschreiben, was sein kann.“ Richtig! Was kann Europa sein? Eine Region, in der die Menschenrechte und die Grundrechte gesichert sind. Die EU-Charta der Grundrechte ist integraler Bestandteil der europäischen Verfassung. Sie wird rechtsverbindlich. Die Grundrechte werden individuell einklagbar. Die Charta ist Kern einer gemeinsamen europäischen Werteordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, jeder Bürger und jede Bürgerin. Dieses Dokument fortschrittlicher Menschenrechte und Grundrechte enthält neben den politischen und bürgerlichen auch weit gehende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte und hat sich bereits heute zu einem Dokument mit weltweiter Strahlkraft entwickelt. Die europäische Geschichte mit all ihren Irrungen und Tragödien ist auch geprägt von der Nächstenliebe christlicher Gesinnung, von der Mitmenschlichkeit der Aufklärung und des Humanismus, von der Solidarität sozialdemokratischer und sozialistischer Ideen. Die Grundrechte, die sich damit verbinden, garantieren die Freiheit des Einzelnen, die Gerechtigkeit im staatlichen Handeln und die Solidarität in der Gesellschaft. Für die Verfassung stimmen heißt Zustimmung zu diesen Werten. ({7}) Was kann Europa sein? Eine Region der Demokratie. 25 souveräne Staaten - bald mehr als 25 - bilden eine Union. Wir lernen, diese Union demokratisch zu gestalten. Wie geht und wie lebt Demokratie, wenn es Gemeinden und Länder und einen Bundesstaat und die Union gibt, und dies in Variationen und 25-mal? Wir alle müssen wohl üben. Aber Üben ist keine Schande. Eine Schande wäre es, wenn sich die Demokratie mutlos in nationalstaatliche Selbstvergessenheit und Verzagtheit zurückfallen ließe. ({8}) Wir wollen dieses Europa als eine Region der Demokratie. Einfach ist das nicht; das wissen wir alle. Die EUVerfassung steht allerdings nicht dagegen; sie hilft, mehr Demokratie zu wagen in Europa. Mehr Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger unmittelbar, das ist ein Anliegen sozialdemokratischer Politik. In unserem Grundgesetz steht das noch nicht. Das ist bislang am Widerstand von CDU und CSU gescheitert. Bei der EU-Verfassung waren wir erfolgreicher. Sie sieht die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens vor. ({9}) Es ist nicht leicht, aber es ist ein Angebot an die Menschen in Europa. Das geht im Übrigen auf die Initiative des sozialdemokratischen Vertreters des Bundestages im Konvent, Professor Dr. Jürgen Meyer, zurück. Das freut uns. Ich begrüße ihn heute hier ganz herzlich. ({10}) Mehr Teilhabe der Parlamente, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente. Auch der Deutsche Bundestag ist direkt in die Rechtsetzung der europäischen Ebene einbezogen. Das ist prinzipiell nicht neu. Diese Rechte des Bundestages werden jedoch bald konkretisiert. Dazu liegen Gesetzentwürfe vor. Das Frühwarnsystem zur Subsidiaritätsrüge und die Möglichkeit zur Klage stärken unsere Mitwirkungsrechte bei europäischen Entscheidungen. Sie sind aber weder ein Ersatz für die parlamentarische Kontrolle und Legitimation des europäischen Handelns der Bundesregierung noch dürfen sie als Instrumente gegen die europäische Integration missbraucht werden. Der Bundestag hat bereits heute ein breites Instrumentarium, um Regierungshandeln demokratisch zu kontrollieren. Wenn wir jetzt neue Rechte für den Bundestag vereinbaren, dann in erster Linie deshalb, um bereits bestehende Rechte besser nutzen zu können, um sie für die parlamentarische Arbeit handhabbarer zu machen. Was für Deutschland nicht geht, will ich auch ansprechen. Das sind Regelungen, die die Europapolitik Deutschlands zum Stillstand bringen würden. Eine Knebelung deutscher Europapolitik durch den Bundestag wird es mit uns nicht geben. Wir wollen eine handlungsfähige deutsche Europapolitik im Dienst der Vertretung der Interessen unseres Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger auf EU-Ebene. Wir wollen eine jederzeit handlungsfähige Bundesregierung. Sie muss in Europa jederzeit agieren und mit führen können; auch das gehört zur Wahrheit dazu. ({11}) Mir sei der Hinweis erlaubt: Wir müssen in der Debatte um die Föderalismusreform in Deutschland klarstellen, dass wir in Europa nicht mit 17 Wirtschafts- und Finanzministern unterwegs sein wollen, sondern dass es im Hinblick auf den Einfluss Deutschlands in Europa nötig ist, die Interessen unseres Landes zu bündeln und sie durch die Bundesregierung verantwortlich vertreten zu lassen. Deutsche Kleinstaaterei hat in Europa keinen Platz. Peer Steinbrück, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat dazu Vernünftiges gesagt. ({12}) Was kann Europa sein? Ein soziales Europa. Soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt, Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Schutz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Solidarität zwischen den Generationen und der Kampf gegen soziale Ausgrenzung und Diskriminierung werden mit dieser Verfassung zu erklärten Zielen europäischer Politik. Wir wollen, dass auch in Zeiten von Globalisierung und Entgrenzung der Märkte und des Geldes Europas Politik von dem Anspruch bestimmt wird, sozial zu sein. ({13}) Albert Einstein: „Der Staat ist für die Menschen und nicht die Menschen für den Staat.“ Das gilt auch für die Ökonomie. Soziale Marktwirtschaft heißt auch: gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Anspruch auf Elternurlaub, das Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz, das Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihrer Vertreter auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung, das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung der Interessen zu ergreifen, einschließlich des Rechts auf - hoffentlich selten vorkommende - Streiks. ({14}) Das sind unveräußerliche Bestandteile sozialer Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist auch in diesen Zeiten wettbewerbsfähig gegenüber einer puren Marktwirtschaft, denn sie wird von der Verantwortung aller für das Gelingen getragen und sichert den sozialen Frieden. ({15}) Unsere Botschaft ist klar: Dass die EU-Dienstleistungsrichtlinie nicht nur den Idealen liberaler Wettbewerbspolitik entsprechen darf, sondern auch sozialen Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Lande genügen muss, das ist ein klares Wort und das vertreten wir auch so. ({16}) Dass europäische Steuerpolitik mindestens im Bereich der Bemessungsgrundlagen kompatibel sein muss und nicht zu Steuerdumping führen darf, auch das ist ein klares Wort. Das wollen wir so. ({17}) Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist anstrengend, aber bietet eine große und zugleich die einzige Chance. Wir Europäer müssen es in den nächsten beiden Jahrzehnten schaffen, aus Europa eine stabile Region des dauerhaften Wohlstandes für alle zu machen, der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens. Wir können das schaffen. Kleinkarierte Populisten und Wortverdreher helfen uns da nicht. Ich will auf den Schlenker, den Sie, Frau Merkel, gemacht haben, eingehen; ich hatte dieses Thema sowieso vorgesehen. Wenn Sie Näheres über die 50 Fliesenleger in Köln wissen, auf die Sie eingegangen sind, dann bitte ich Sie sehr herzlich: Geben Sie mir die genaue Adresse. Ich sorge dafür, dass morgen dort Besuch erscheint, der klarstellt, dass dieses Verhalten illegal ist. Reden Sie also nicht nur darüber, sondern helfen Sie mit, dass solch ein Verhalten bekämpft wird! Damit kämen wir der Lösung schon ein Stück näher. ({18}) - Ja, das sind ja Geschichten, von denen wir in den letzten Tagen und Wochen immer mehr hören. Der Kanzler hat vorhin die letztjährige Erweiterung und die geplante Erweiterung zum 1. Januar 2007 angesprochen. Alle wussten, dass Bulgarien und Rumänien gemeint sind. Keiner von Ihnen hat die Hand gerührt. ({19}) Ich lese einmal vor, was Wolfgang Schäuble am 3. Juli 2003 gesagt hat: Europa erweitert sich nicht, sondern Europa überwindet seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch nicht zu Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder Belgrad sind schließlich Europa. Damit ist gesagt: Auch Bulgarien, Rumänien, Kroatien und Serbien gehören zu Europa dazu. ({20}) Ich sage nur: Man muss sich hüten, welche Botschaft man an welcher Stelle gibt. Im Zehnpunktepapier zur Erweiterung der Europäischen Union von Anfang 2001 macht die Union deutlich, dass sie die Zuwanderung von Arbeitskräften als Gewinn betrachtet. Diese werden „keine großen Verwerfungen verursachen“, so heißt es. ({21}) Deutschland sei bereits jetzt in bestimmten Bereichen immer stärker auf eine größere Zahl von ausländischen Arbeitskräften angewiesen. Die Erweiterung werde die Wirtschaft und den Euro stärken und die Arbeitsplätze in Deutschland sichern und stärken. Auch die innere Sicherheit werde zunehmen. - Was man da nicht alles so liest! ({22}) Über Peter Hintze, Ihren Sprecher für europapolitische Fragen, heißt es am 15. Februar 2001 in der „Süddeutschen Zeitung“: ({23}) plädiert in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Zuge der EU-Osterweiterung für deutlich kürzere Übergangsfristen als die Bundesregierung. ({24}) Diese sieben Jahre seien eindeutig zu lang. Er halte eine Frist von drei Jahren für ausreichend … ({25}) Die zu erwartende Zahl der Arbeitnehmer aus den Beitrittsstaaten liege unter den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes … ({26}) Ich lasse das alles so stehen. Fröhliches Wiedersehen bei diesen Themen im Wahlkampf, kann ich Ihnen nur sagen! Wir haben da gutes Material. ({27}) Was kann Europa sein? Eine Region des Friedens. Der Frieden in Deutschland und in Europa, nach dem Niedergang des Kommunismus gefestigt, ist ein Segen. Das wissen wir alle. Viele von uns haben 60 Jahre Frieden erlebt. Das gab es über Jahrhunderte an dieser Stelle in Europa nicht. Aus verfeindeten Völkern sind Freunde geworden. Das soll heute noch einmal betont sein, ganz im Sinne Willy Brandts: „Wir wollen gute Nachbarn sein, nach innen und nach außen.“ ({28}) Frieden ist ein hohes Gut. Im tagtäglichen KleinKlein der europäischen Integration gerät das leicht in Vergessenheit. Die europäische Integration dient auch dem Ziel, den Frieden in Europa zu erhalten. Europäische Politik muss auch künftig dem Friedensziel dienen. Das ist Grundvoraussetzung für eine Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Einigung Europas. Friedenserhalt im Innern bedeutet auch, dass Europa sein wirtschaftliches und politisches Gewicht nutzt, um für eine aktive Friedenspolitik nach außen einzutreten. Es werden große Erwartungen an die EU gerichtet, beispielsweise von den Vereinten Nationen. Sie fordern mehr europäisches Engagement in den Bereichen humanitäre Hilfe sowie Konfliktvorbeugung und -bewältigung weltweit; denn sie wissen, dass Europas einmalige Erfahrung in der Schaffung von friedlicher Zusammenarbeit und Wohlstand von unschätzbarem Wert ist. Auch diese Aufgabe hat Europa zu erfüllen und wir wollen uns ihr stellen. ({29}) Werden wir heute hier und am 27. Mai im Bundesrat die nötige Zweidrittelmehrheit erreichen? Wir dürfen wohl sicher sein. Ich sage aber auch in alle Richtungen: Es wäre gut, wenn alle dabei wären. Die bayerische Spezialität, damals gegen das Grundgesetz zu stimmen, muss hier nicht zur Tradition weiterentwickelt werden. ({30}) Ich war, wie viele im Hause, in den vergangenen Tagen in Frankreich und habe dort die Anstrengungen erlebt, unter denen viele unterwegs sind und für die EUVerfassung werben. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, sich in solche Angelegenheiten einzumischen. Aber ich sage trotzdem: Es ist - da bin ich gewiss - der Sache dienlich. Ich wünsche mir und uns allen in Deutschland und im Deutschen Bundestag von Herzen, dass wir in diesem Mai 2005 in Deutschland und in Frankreich das gute, klare Signal geben: Wir wollen dieses Europa - demokratisch, sozial und friedfertig. Vielen Dank. ({31})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal aus dem Wahlkampf ein Stück zurück zum Thema des Tages. ({0}) Es geht um den europäischen Verfassungsvertrag. Er bringt, um es kurz zu sagen, ein Stück Stärkung des Europäischen Parlaments. Er bringt Klärungsmechanismen für die nationalen Parlamente beim Thema Subsidiarität. Er verankert unter unserer großen Wertschätzung eine Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassung. Er ermöglicht qualifizierte Mehrheitsentscheidungen und eröffnet die Chance zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Er hat aber auch Schwächen. Im Rahmen des Defizitverfahrens wird die Kommission nicht so gestärkt, wie wir es möchten. Die Konstruktion der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist ein Potenzial für die Zukunft. Es kommt aber auf die Persönlichkeit an, die sie unternimmt. Wenn sie sich zwischen den Institutionen zerreiben lässt, wird diese Politik scheitern. Wenn es ihr gelingt, zwischen den Institutionen zu arbeiten, wird diese Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die unsere Hoffnung ist, gelingen. Der Verfassungsvertrag führt bei dem Institutionengefüge noch nicht zu der Klarheit, die wir uns wünschen. Aber um es ganz deutlich zu sagen: Es gibt keine Alternative zu diesem Vertrag. Er beschreibt das jetzt Erreichbare; er zeigt in die richtige Richtung. Die Bundestagsfraktion der FDP wird heute mit Ja stimmen. ({1}) Ich will nicht länger über den Verfassungsvertrag argumentieren. Die entscheidende Aufgabe ist nämlich eine andere. Es geht um die Frage, ob es uns gelingt, mit politischer Überzeugung in den Gesellschaften - auch in der deutschen Gesellschaft - zu verankern, dass dieser Weg alternativlos und richtig ist und aus welchen Gründen er gegangen werden muss. ({2}) Die eigentliche Aufgabe liegt nicht darin, auf Seminaren den Verfassungsvertrag - durch wen auch immer groß zu beschreiben. Die eigentliche Aufgabe liegt zwischen dem Pathos der ganzen europäischen Bewegung, das sie mit Recht anführen kann und das sich durch weite Teile der Aussprache zieht, und dem Alltag der Menschen in Europa. Wenn uns das nicht gelingt, nutzt uns eine geschriebene und verabschiedete Verfassung nichts. ({3}) Für die Verabschiedung ist der heutige Tag gewählt worden - wir dürfen nicht darüber hinweg diskutieren, dass er aus guten Gründen gewählt worden ist -, um ein Signal an unseren befreundeten europäischen Nachbarn Frankreich zu senden. In diesem Land findet ein Referendum statt. Da spielt all das hinein, was wir auch in Deutschland spüren: Unmut. Nur schwer begreifen die Menschen das Tempo der Erweiterung. Sie kommen an Grenzen der Nachvollziehbarkeit europäischer Entscheidungen. Sie haben von den politischen Führungen in Europa schon lange nicht mehr klar, überzeugend, deutlich und mutig die Frage beantwortet bekommen, worauf wir denn jetzt in der Tat hinaus wollen. Dass wir Deutschen nach den Katastrophen, die wir erlebt haben, Europa brauchen, ist gar keine Frage. Aber wohin wir jetzt mit Europa gehen wollen, das muss neu grundgelegt werden. Wer das verdrängt - zu einem Teil der Verdrängung gehörte die Diskussion hier im Haus, ob wir zu einem Volksentscheid kommen sollten -, der muss sich fragen lassen, ob er nur aufgrund von europäischen Gipfeltreffen glaubt, europäische Gesellschaften von dieser Verfassung überzeugen zu können. Wir spüren, dass das so nicht funktionieren kann. ({4}) Die europäische Nachkriegsgeschichte hat in allen beteiligten europäischen Ländern große Namen hervorgebracht. Aber Europa kann nicht nur eine Sache der politischen Eliten sein. Europa muss auch eine Sache seiner eigenen Gesellschaften sein: im Umfang, in den Zielen und im Credo. ({5}) Deshalb kommt es mir darauf an, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, denen, die hier sind, und denen, die an den Fernsehgeräten zusehen, klar zu sagen: Es gibt kein Land in Europa, das Europa selbst, eine handlungsfähige Europäische Union, aber auch ihre Durchschaubarkeit und ihre Überzeugung so dringend braucht wie die Bundesrepublik Deutschland. Es gibt im Übrigen auch kein Land in Europa, das wie die Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig so dringend und notwendig das transatlantische Bündnis braucht. Deshalb sollten wir niemals den Sirenenklängen nachgeben und so tun, als ob wir Europa mit einem kleinen Gegengewicht zu Amerika aufbauen könnten. ({6}) Wir müssen nicht der Auffassung sein, dass die amerikanische Administration jedes Mal Recht hat. Auch Konrad Adenauer und Helmut Schmidt haben sich in Einzelfragen heftig mit der amerikanischen Führung auseinander gesetzt. Das ist nicht die Frage. Aber wir Deutschen müssen genau wissen, wer unsere Sicherheit am Ende garantiert, mit wem wir Wohlstand erreicht haben und zu wem wir gehören. ({7}) Deshalb ist das Gerüst Europäische Union und transatlantische Partnerschaft so wichtig. Nun zu den Zielen. Wenn Europa mit seinen Erfolgen, die es zweifellos hat, Gestaltungsanspruch erheben will, dann darf es nicht in dieser Lethargie verbleiben, in der es sich gegenwärtig trotz Verfassungsvertragsentwurfs befindet. Wir sind von den Zielen des Lissabon-Unternehmens weit entfernt. Wir wollten in wenigen Jahren der wirtschafts- und wissenschaftsstärkste Raum der Welt sein. Wir hatten den Bürgern vorgegeben, dass wir ihnen mehr Chancen als Risiken anbieten. Aber wir sind noch nicht einmal auf der Hälfte der Strecke. Herr Kollege Müntefering, ich bezweifle für meinen Kolleginnen und Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion, ob wir dieses Ziel mit einem europäischen Modell, wie Sie es zeichnen, das staatlichen Regelungen einen sehr starken Vorrang einräumt, erreichen. Lassen Sie mich einmal vorlesen, was uns Alexis de Tocqueville, der großartige französische Nachbar, schon 1835 ganz erfrischend ins Stammbuch geschrieben hat: Der Europäer ist gewohnt, ständig einen Beamten vorzufinden, der sich so ziemlich in alles einmischt … Der Bürger in den Vereinigten Staaten lernt von klein auf, dass er sich im Kampf gegen mancherlei Schwierigkeiten des Lebens auf sich selbst verlassen muss. Er hat für die Obrigkeit nur einen misstrauischen und unruhigen Blick und ruft die Macht nur zur Hilfe, wenn er es gar nicht vermeiden kann. Es mag einen Weg zwischen diesen beiden Positionen geben; aber eine Prise angloamerikanischen Denkens in Wirtschaftsbeziehungen, in eigener Tatkraft und in der Vitalität der Gesellschaften täte uns ganz gut. ({8}) Ich glaube nicht, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland mit einem durchregulierten europäischen Sozialmodell à la Frankreich und Rot-Grün weiterkommen. Nicht ohne Grund schwächeln diese beiden Länder gegenwärtig am stärksten, obwohl sie als dynamische Tandemfigur Zugpferde sein müssten. Irgendetwas stimmt hier also nicht. Wir brauchen eine Revitalisierung Europas. Aber das wird nur gelingen, wenn wir die Kraft der Gesellschaften entfalten und ihnen staatliche Rahmenbedingungen geben, die sie dazu befähigen. ({9}) Wenn wir sie hinwegregulieren, werden wir dazu nicht kommen. Meine Damen und Herren, was ist der innere Zusammenhalt Europas? Sloterdijk sagt: Wer die Äneis von Vergil liest, weiß, wo Europa liegt. Europa, das ist ein Punkt auf der Karte der Hoffnung. Wo besiegte Menschen eine zweite Chance bekommen. Es gibt dafür keine bessere Ausdrucksform. Wenn wir an den 8. Mai denken, wissen wir, dass wir Deutsche diesen Satz dreimal unterstreichen können. Es ist unstreitig, dass Europa nach den Katastrophen eine schlichte Überlebensfrage für seine Bürger war. Europa ist für uns nicht nur Wirtschaft. Europa ist mit der Ideengeschichte der Menschheit, mit Pluralismus, individueller Freiheit, der Aufklärung, der Französischen Revolution und den Bürgerrechten verbunden. Ob ein Gottesbezug in der Verfassung steht oder nicht: Europa hat christlich-jüdische Wurzeln. Sie gehören zu uns, ob man nun Mitglied der Evangelischen Kirche oder Katholik ist. Wenn der berühmte Satz: „Vor Gott sind alle Menschen gleich“ stimmt - ich bin überzeugt, dass er stimmt; dafür muss man nicht jeden Sonntag in die Kirche gehen -, dann gilt dieser Satz nicht nur für Katholiken und Protestanten, sondern für alle Menschen. Er gilt auch für die anderen. Wenn wir nicht in Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen leben, wird Europa nicht gelingen. ({10}) Das sind die Wurzeln, die wir ohne Hineinschreiben des Gottesbezugs in die Verfassung kennen müssen. Sie sind mehr als katholisch oder evangelisch; sie sind unsere kulturellen europäischen Wurzeln. ({11}) Wir brauchen, wenn wir Menschen Ziele geben wollen und ihnen sagen wollen: „Die Risiken sind geringer als die Chancen“, neue Dynamik, neue Vitalität. Nur wenn wir selbst dies ausstrahlen, werden wir am Ende ein Europa aufbauen können, in dem die Menschen gerne leben, das sie nicht ängstlich beschauen und in dem sie keine neuen Wettbewerber fürchten, sondern in dem sie sich wohl fühlen und ihre Lebenschancen suchen. Wir wollen - damit will ich abschließen -, dass Europas Stimme gehört wird. Dann muss man sich aber erst bei sich selbst Gewicht verschaffen. Die Stimme eines schwächelnden Kontinents ohne Wachstumsraten, ohne neue wirtschaftliche Dynamik und ohne internationale strategische Vorstellungen wird kaum gehört werden. Sie muss noch viel kräftiger entwickelt werden, sei es nur, dass wir sagen müssen: Die Nationen, die wie wir und unsere europäischen Nachbarn in Freiheit leben, haben eine besondere Verpflichtung den Menschen in der Welt gegenüber, die weiter in Unfreiheit leben müssen. Das ist die Aufgabe, die wir wahrnehmen müssen, und das ist die Botschaft an andere. Das setzt aber voraus, dass wir eine eigene Überzeugung von unserem Kontinent und seinen Aufgaben haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Bundesaußenminister Joseph Fischer. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner letzten Rede vor dem Europaparlament - das war eine große Rede - hat der bereits vom Tod gezeichnete damalige französische Staatspräsident François Mitterrand in einem, wie ich finde, bewegenden und zugleich bedenkenswerten Satz den eigentlichen Grund für die Gründung der Europäischen Union zusammengefasst. François Mitterrand hat damals gesagt: Der Nationalismus, das ist der Krieg. Die Überwindung des Nationalismus durch den Gedanken der europäischen Integration - der Bundeskanzler hat die Geschichte dieses Gedankens heute noch einmal sehr beeindruckend vor Augen geführt - bedeutete für Europa die Überwindung des Kriegs. Ich war gestern im Wahlkampf für das Referendum in Lyon. Dort bin ich auf französische Politiker meiner Generation getroffen. Wir sind die erste Generation, die nicht gegeneinander ins Feld gezogen ist, die nicht gegeneinander gekämpft hat, die sich nicht gegenseitig umgebracht hat. ({0}) Daran muss sich das europäische Einigungswerk messen. Es geht nicht nur um die Frage der Vergangenheit, auf die der Bundeskanzler heute völlig zu Recht hingewiesen hat. Erinnern wir uns doch an den Beginn einer neuen europäischen Ordnung, an die Rückkehr des Krieges in Jugoslawien 1990/91! Erinnern wir uns doch daran, dass in dem Moment, in dem die europäische Integration als Angebot nicht greift, die Gefahr des Rückfalls in einen blutigen, Menschen verachtenden Nationalismus in Europa nach wie vor eine konkrete war und bleiben wird! Deswegen appelliere ich an alle, noch einmal darüber nachzudenken, wenn jetzt versucht wird, im Wahlkampf kurzfristig eine populistische Münze zu schlagen: Die Politik der europäischen Erweiterung war immer Bestandteil europäischer Friedenspolitik. Das heißt, das Angebot, zum Europa der Integration zu gehören, ist ein entscheidender friedenspolitischer Ansatz, den wir seit der Idee der europäischen Integration und ihrer Umsetzung verfolgt haben und auch in Zukunft weiter verfolgen müssen. ({1}) Wenn wir ein friedliches Europa wollen, können wir nicht ein Europa wollen, das sich in ein Europa der Integration und in ein Zwischeneuropa teilt, in dem sich mit Blick auf Brüssel und die Integration die Gefühle zwischen Sehnsucht und Frustration bewegen. Nein, das wird nicht funktionieren; das ist die Botschaft, die wir 1991 aus dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu lernen haben. Wenn wir - trotz aller Lösungen bis hin zum Kosovo - die Perspektive der europäischen Integration kappen würden, drohten die Probleme, die Konflikte, aber auch die Barbarei zurückzukehren. ({2}) Die europäische Verfassung ist daher eine der zentralen Konsequenzen der erweiterten Europäischen Union. All die Probleme, mit denen wir zu tun haben, auf dem Arbeitsmarkt und in vielen anderen Bereichen, und die Ängste, die unsere Menschen haben, zum Beispiel, ob sie das größere Europa noch verstehen werden, sind nicht die Konsequenz der Erweiterung der Europäischen Union, sondern die Konsequenz des Falls von Mauer und Stacheldraht. Die künstliche Teilung Deutschlands ging am 9. November 1989 zu Ende, auch die künstliche Teilung Europas ging am 9. November 1989 zu Ende. Wer ein friedliches Europa will, der wird zum erweiterten Europa Ja sagen müssen, und wer zum erweiterten Europa Ja sagt, der muss auch zu dieser Verfassung Ja sagen, weil das erweiterte Europa auf der Grundlage der alten Verträge schlicht und einfach nicht mehr demokratisch genug und nach außen nicht mehr handlungsfähig und effizient genug ist. ({3}) Deswegen, meine Damen und Herren, kommt dieser Verfassung eine überragende Bedeutung zu. Ich freue mich, dass Vertreter aller Fraktionen breiteste Zustimmung signalisiert haben. Nun komme ich zu einem entscheidenden Punkt: Die Frage der Verstehbarkeit europäischer Politik wird durch einen Verfassungsvertrag natürlich nicht aus sich heraus gelöst. Die Frage, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und in den anderen Mitgliedstaaten den europäischen Gesetzgebungsprozess - parteipolitisch orientiert, wie das in einer Demokratie sein muss - als den ihren verstehen, hängt ganz entscheidend davon ab, wie diese Verfassung vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat mit Leben erfüllt wird. Es gibt drei Elemente, die für mich einen entscheidenden Schritt nach vorne bedeuten: Der erste Aspekt ist die Gemeinsame Außenpolitik. Ich finde, sie ist ein ganz zentraler Punkt für die Handlungsfähigkeit und die Rolle unseres Landes in der Welt des 21. Jahrhunderts. Wer meint, Europa würde uns gefährden und nicht schützen, der erzählt den Menschen schlicht und einfach die Unwahrheit; ({4}) denn wären wir auf uns allein gestellt, hätten wir in der Welt der Globalisierung keine Chance mehr. Der zweite Punkt sind die europäischen Grundrechte. Ich kann nur sagen: Dabei handelte es sich im Wesentlichen um eine Initiative Deutschlands, die nicht nur von Rot-Grün, sondern auch von allen anderen Fraktionen getragen wurde. Darin, dass wir die Grundrechte als Teil II verbindlich in die Verfassung aufgenommen haben - hinzu kommt noch der gesonderte Teil der sozialen Grundrechte, in dem es unter anderem um die Geschlechtergleichstellung geht -, sehe ich angesichts des gleichzeitig wachsenden Raums der Freiheit und der Sicherheit in Europa den zweiten ganz großen Erfolg. Ich sage Ihnen: Als Abgeordneter wäre für mich persönlich allein der Grundrechtsteil Grund genug, dieser Verfassung zuzustimmen; ({5}) denn dafür, dass dies Wirklichkeit wird, haben viele von uns weit über ein Jahrzehnt gekämpft. Das dritte Element ist die Demokratisierung der Institutionen. Ich wünsche mir - das ist von entscheidender Bedeutung; denn das hieße, Europa auszufüllen -, dass die großen politischen Lager bei der nächsten Europawahl mit Spitzenkandidaten antreten und Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstellen. Ebenfalls wünsche ich mir - und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf gesamteuropäischer Ebene -, dass bei der nächsten Europawahl die jeweiligen Politikprogramme vorgelegt werden. Es muss gesagt werden, welche Politik man betreiben will: eine eher wirtschafts- bzw. neoliberale, eine eher soziale, eine eher ökologische oder was auch immer. Diese Wahl muss auf der Grundlage von Spitzenkandidaturen und einer klaren programmatischen Alternative gesamteuropäisch durchgeführt werden, damit auch klar wird, dass das Mehr an Rechten des Europäischen Parlaments - das muss sich in einer Demokratie auch im Wahlkampf durchsetzen - zu mehr Verantwortung führt, sodass die Bürgerinnen und Bürger wissen, wen sie an der Nase zu greifen haben, wenn in Europa gerade wieder einmal etwas nicht sehr Lichtes und Sinnvolles beschlossen wird; denn das kann man dann nicht mehr auf der nationalen Ebene abladen. Meine Damen und Herren, genauso entscheidend wird es auf die Subsidiaritätskontrolle und die Subsidiaritätsklage ankommen. - Das sind furchtbare Wörter; wer versteht darunter schon etwas? - Das bedeutet, dass die nationalen Parlamente aufgrund dieser neuen Kontrollbefugnis jetzt Elemente einer zweiten Kammer aufweisen und entscheiden können: Muss und darf Europa über diese oder jene Frage entscheiden oder gehört die Kirche in diesem Fall nicht ins Dorf? Diese Entscheidung liegt in Zukunft in den Händen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates. Hier müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern das Mehr an Transparenz in der Gesetzgebung der nationalen Parlamente sichtbar machen. Da kann ich Ihnen nur sagen: Man darf sich schon die Frage stellen, ob die bereits heute existierenden Rechte immer optimal ausgenutzt wurden oder nicht. Deswegen hat die Bundesregierung wirklich großes Interesse daran, dass wir den Teil der europäischen Gesetzgebung, der auf uns - sowohl auf die Regierung als auch auf die nationalen Parlamente - zukommt, so transparent wie möglich gestalten und dass wir in diesem Zusammenhang durch das Angebot des Bundeskanzlers, einen Vertrag mit Bundestag und Bundesrat zu schließen, wirklich zu guten Lösungen kommen. Entscheidend ist auch die Gleichstellung von Bundestag und Bundesrat bei den Informationsrechten. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Auf dieser Grundlage können wir wirklich gemeinsam vorankommen. ({6}) Nein, meine Damen und Herren, wenn ich hier höre, das Parlament sei nicht beteiligt worden, dann kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bitte doch, zu bedenken, dass dieser Verfassungsvertrag nicht das Ergebnis einer Regierungskonferenz war - sie war nachgeschaltet -, sondern dass wir das institutionelle Viereck der Europäischen Union versammelt hatten, und zwar die Mitglieder der nationalen Parlamente - die im Übrigen die Mehrheit im Konvent gestellt haben -, die Vertreter des Europaparlaments, die Vertreter der Regierungen und der Kommission. Die Tagungen waren voll transparent. Es gibt eine Reihe von Initiativen; es gab in den zweieinhalb Jahren im Europaausschuss permanent Diskussionen und Informationen. Die Vertreter des Bundestages - Kollege Altmaier und Professor Meyer, der bereits rühmend erwähnt wurde; ich möchte mich dem anschließen - waren initiativ, gemeinsam mit anderen Kollegen aus anderen Parlamenten, aus nationalen wie auch aus dem Europaparlament. Nein, verehrte Damen und Herren, an Transparenz hat es im Verfahren wirklich nicht gemangelt. Das hat meines Erachtens diese Verfassung auch geprägt. ({7}) Deswegen bedeutet diese Verfassung aus meiner Sicht ein Mehr an Demokratie in Europa. Sie bedeutet nicht, dass wir Kompetenz abgeben, die nicht irgendwo im Europäischen Parlament oder im Europäischen Rat ankommen wird. Die Vorstellung, das Initiativrecht dem Europäischen Parlament zu geben und es dem Europäischen Rat zu nehmen, dazu - gestatten Sie mir diese Bemerkung - ist es schlicht und einfach zu früh gewesen: Ich sehe nicht, dass es dazu Mehrheiten in Europa gegeben hätte; es hat sie dafür nicht gegeben. Deswegen - bei aller grundsätzlichen Sympathie als überzeugter europäischer Integrationist - stand dieses nun wirklich nicht zur Debatte. Diese Verfassung wird Europa ein Mehr an Demokratie, ein Mehr an Handlungsfähigkeit bringen. Ich habe schon vorhin darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass wir einen Kontinent des Friedens haben, dass wir den Erweiterungsprozess mit der Vertiefung, die durch die Verfassung stattfindet, weiter voranbringen. Wir dürfen nicht darauf verzichten, unseren Menschen zu erklären, dass die Probleme, die sich durch den Fall von Mauer und Stacheldraht ergeben haben - Gott sei Dank haben wir diese Probleme und nicht mehr die Probleme, die es davor gegeben hat; Gott sei Dank müssen wir uns heute diesen Herausforderungen stellen -, ({8}) nichts mit der Verfassung zu tun haben. Im Gegenteil: Wir müssen das Erbe, das wir von unseren Vorgängern übernommen haben, wirklich fortentwickeln, wir müssen uns der historischen Herausforderung, ein Europa des Friedens, das heißt, ein Europa der Integration, der Demokratie und der Solidarität, auf unserem Kontinent zu schaffen, stellen. Wir dürfen nicht in kleine populistische Wahlkämpfe abrutschen. Wir müssen den Menschen zu erklären versuchen, was der Fall ist und was schlicht und einfach nicht. Es gab ja schon damals Kritiker, die bezüglich Maastricht voller Skepsis waren. Wir werden wieder „Die Menschen haben Sorgen“ und Ähnliches mehr hören; dabei werden diese Sorgen natürlich nach oben getrieben. ({9}) Was ist denn aus der ganzen Kritik an der Euroeinführung tatsächlich geworden? Da sollte man sich die Reden von gestern noch einmal anschauen und die Realitäten von heute! ({10}) Wir müssen begreifen, welche Bedeutung Maastricht hatte. Ich sage: Seien wir doch froh angesichts der weltwirtschaftlichen Verwerfungen und der Herausforderungen der Globalisierung, dass es Maastricht gegeben hat, dass wir hier eine eindeutige Mehrheit - eine Zweidrittelmehrheit - gehabt haben und dass wir damals eben nicht auf die Kritiker gehört haben! Dasselbe wird für die Verfassung gelten. ({11}) Ich möchte Sie alle bitten - auch diejenigen, die sich vielleicht noch nicht dazu entschließen können, heute zuzustimmen -, nochmals nachzudenken: Die Alternative zu dieser Verfassung ist der Nizzavertrag. Es wird nicht irgendeine andere Verfassung geben. Als jemand, der den Konvent mitbekommen hat - Kollege Altmaier, da werden Sie mir sicher zustimmen -, kann man sagen: Wenn es ein Nein bei der Ratifikation gäbe, wird man nicht zu Verhandlungen zurückkehren und eine bessere Verfassung bekommen. Die Alternative ist der Nizzavertrag, ein Vertrag, der, wie ich finde, funktioniert hat, um die Erweiterung zu ermöglichen. Aber das erweiterte, das größere Europa, ein Mehr an Demokratie, ein Mehr an Solidarität, ein Mehr an Nachhaltigkeit, ein Mehr an Handlungsfähigkeit wird der Nizzavertrag niemals leisten, sondern dazu brauchen wir die Verfassung. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber, das Wort. ({0}) Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Mit dem Verfassungsvertrag - ich spreche nicht von der Verfassung, sondern von einem Verfassungsvertrag - gibt sich Europa eine neue Grundordnung. Sie wird für das politische, das wirtschaftliche und das gesellschaftliche Zusammenleben der Völker und der Menschen in Europa von weit reichender Bedeutung sein. Sie berührt die Menschen in unserem Land bis weit in den Alltag hinein. Dieser Verfassungsvertrag ist natürlich auch ein Baustein im großen europäischen Friedenswerk, das heute oft angesprochen worden ist. Hier gibt es keine Meinungsverschiedenheiten; das ist ja auch gut so. Die historische Dimension dieses Verfassungsvertrages ist unbestritten. Seinen wirklichen Wert für Europa wird dieser Verfassungsvertrag aber nur entfalten, wenn er Europa handlungsfähiger macht und die Menschen hierzulande spüren, dass er ihren Interessen entspricht. Die Menschen müssen spüren: Ihre Probleme, die Probleme eines Landes in Deutschland und die Probleme Deutschlands - ob sie ökonomischer oder anderer Art sind -, können zu einem großen Teil nicht mehr allein in Deutschland und auch nicht mehr allein in Europa gelöst werden. Deswegen ist es natürlich notwendig, dass in den globalen internationalen Zusammenschlüssen unsere Stimme über Europa kommt; denn nur dann können wir im Konflikt vielleicht mit China oder im Konflikt bzw. in der Auseinandersetzung mit Indien oder mit den Vereinigten Staaten von Amerika etwas erreichen. Das ist den Menschen heute sicherlich noch nicht so bewusst. Es ist uns insgesamt nicht gelungen, den Menschen klar zu machen, dass unsere Position zum Beispiel bei den WTO-Verhandlungen natürlich nur mit einem gewissen Nachdruck über Europa eingebracht werden kann. Es wäre sicherlich schöner, wenn wir sie lupenreiner einbringen könnten, aber wir können sie nur über Europa einbringen. Deswegen gibt es zum europäischen Zusammenschluss natürlich keine Alternative. Ich glaube, darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Das will ich auch von meiner Seite aus sehr deutlich unterstreichen. ({2}) Europa hat als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begonnen. Wir haben sie zu einer politischen Union in einem Staatenverbund - zu mehr aber auch nicht - fortentwickelt. Mit der Aufnahme der Grundrechte-Charta in dieses Vertragswerk verpflichtet sich die Europäische Union im Interesse der Menschen auf das große gemeinsame Wertefundament unserer christlich-abendländischen Kultur. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({3}) Der Verfassungsvertrag ist das erste europäische Vertragswerk, das von allen 25 Mitgliedstaaten gemeinsam gestaltet wurde. Es ist damit ein echtes Bindeglied zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Gleichzeitig ist der Verfassungsvertrag - darauf möchte ich abheben, weil sich das Bundesverfassungsgericht demnächst damit befassen wird - nicht die Verfassung eines neu entstandenen Staates. Wäre er das, wäre er nicht verfassungsgemäß. Das ist er aber nicht. Einige meinen das; ich bin völlig anderer Meinung. Deswegen sage ich das hier deutlich: Die Europäische Union ist kein Staat ({4}) und soll es nach dem Willen der Bürger in Europa auch nicht werden. ({5}) Auch künftig bleibt die Europäische Union ein Staatenverbund. Die Mitgliedstaaten - das ist in diesem Verfassungsvertrag entscheidend verankert - bleiben die „Herren der Verträge“. Das heißt, die nationalen Parlamente entscheiden auch künftig darüber, auf welchen Feldern die Europäische Union tätig werden darf. Meine Damen, meine Herren, ich sage ein klares Ja zu diesem Verfassungsvertrag. Auch die überwältigende Mehrheit meiner Partei steht nach einer reiflichen Diskussion und Abwägung zu diesem Verfassungsvertrag. Ich sage aber auch: Es genügt auf Dauer nicht, eine Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat zu haben. Hier stimme ich Ihnen völlig zu. Wir müssen auch die Menschen überzeugen. Dafür reicht es nicht aus, pathetisch an den Idealismus der Menschen, der Bevölkerung, zu appellieren. Wir müssen die konkreten Auswirkungen dieses Vertrages auf die Menschen benennen. Sie sind manchmal gravierend. Wir müssen sie nennen und dann abwägen, ob wir in der Lage sind, das zu akzeptieren oder nicht. Wer die Bürger gewinnen will, darf Fragen der Bürger nicht mit pathetischer Geste als kleinlich und detailversessen wegwischen oder gar demjenigen, der darauf hinweist, sagen, das sei billiger Populismus. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, damit kommen Sie auf die Dauer nicht zu einer größeren Akzeptanz Europas. ({6}) Inhaltlich wurde mit dem Verfassungsvertrag vieles erreicht: Die EU wird vor allem durch eine mutige, aber auch notwendige Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen handlungsfähiger. Die EU wird bürgernäher und demokratischer; denn die Abstimmung nach Bevölkerungsgröße wird zum Regelfall. Die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments werden gestärkt. Die sehr weit und allgemein gefassten Ziele des Vertrages begründen ausdrücklich keine weiteren Handlungskompetenzen der Europäischen Union. Mit dem hier bereits angesprochenen Frühwarnsystem und der Subsidiaritätsklage - diese Instrumente sind natürlich schwer verständlich - erhalten die nationalen Parlamente erstmals unmittelbare Rechte im europäischen Meinungsbildungsprozess. ({7}) Das Recht der Subsidiaritätsrüge bindet die nationalen Parlamente in den europäischen Gestaltungsprozess ein und mit der Subsidiaritätsklage können nun auch die Parlamente ihre eigenen Rechte bei unzulässigen Eingriffen der Europäischen Union schützen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage Ihnen noch einmal, warum ich dies für so bedeutsam halte - darüber haben wir uns oft auseinander gesetzt -: Die Menschen in Deutschland - dies gilt sicherlich auch für die Menschen in anderen Ländern - bekommen viele europäische Entscheidungen etwa über Richtlinien, wenn sie im Rat getroffen worden sind, letzten Endes nicht mit. Oft gibt es über das Pro und Kontra in Bezug auf diese Richtlinien nicht den notwendigen öffentlichen Meinungsstreit. Das entscheidende Problem ist, dass es eine europäische Öffentlichkeit nicht gibt; das Europäische Parlament wird nie ein klassisches Parlament sein. Die deutsche Öffentlichkeit kann daher nur über Bundestag und Bundesrat - im besonderen Maße über den Bundestag - erreicht werden. Hier muss gestritten werden, bevor die Entscheidung getroffen wird, ob einer europäischen Richtlinie zugestimmt oder nicht zugestimmt wird. Dann bekommen wir auch die Verbände, die Medien und die Menschen in diesen Entscheidungsprozess hinein. So, wie es gegenwärtig der Fall ist, gelingt uns dies nicht. ({8}) Der Verfassungsvertrag eröffnet zudem erstmals auch eine klare Alternative zur Vollmitgliedschaft. Er sieht ausdrücklich vor, Nachbarstaaten ohne Vollmitgliedschaft an die Europäische Union heranzuführen, beispielsweise über eine privilegierte Partnerschaft. Er schafft damit unseres Erachtens das richtige Instrument für die Beziehungen mit der Türkei. Meine Damen, meine Herren, der Verfassungsvertrag weist damit im Vergleich zur geltenden Rechtsgrundlage, dem Vertrag von Nizza, erhebliche Fortschritte auf. Die positiven Elemente wurden von vielen entwickelt; ich hebe hier Wolfgang Schäuble und Erwin Teufel hervor. Erwin Teufel hat sich von Anfang an ungeheuer in diesen Konvent eingebracht. Er hat es fast zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Fragen der Subsidiarität und der Kompetenzverteilung in die Vertragsdiskussion einzubringen. Ich hätte mir gewünscht, dass vieles von dem, was er eingebracht hat, vom Bundesaußenminister aufgegriffen worden wäre. ({9}) - Ja, das ist gar keine Frage. Der Bundesaußenminister hat die Debatte im Konvent relativ spät verfolgt. Ein Dreivierteljahr lang war er überhaupt nicht dabei und hat die Arbeit anderen überlassen; das will ich an dieser Stelle auch einmal vermerken. ({10}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({11}) Der Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss von 25 Staaten. Kompromiss bedeutet Geben und Nehmen. Ich bin davon überzeugt, dass beim Verfassungsvertrag das Ergebnis stimmt, auch wenn ich in aller Offenheit sage, dass er nicht in allen Punkten unseren Vorstellungen entspricht. Die Grundrechte-Charta ist ein wichtiges Bekenntnis zu unseren Werten; aber es muss auch darauf hingewiesen werden, dass sich viele in diesem Haus einen klaren Gottesbezug - zumindest in der Fassung der polnischen Verfassung - gewünscht hätten. ({12}) Es wäre eine weitaus stärkere Konzentration auf die eigentlichen Kernaufgaben der Europäischen Union notwendig gewesen. Die Europäische Union macht immer noch zu viel Überflüssiges und zu wenig Notwendiges. Es ist ein Unsinn, sich Gedanken zu machen, wie Kellner in Biergärten vor Sonneneinstrahlung geschützt werden können. Also arbeitet man an einer Richtlinie, mit der dann letzten Endes der Wirt verpflichtet wird, entsprechende Schutzmechanismen in einer bestimmten Art und Weise zu installieren. Es ist Unsinn, so etwas über Europa zu lösen. ({13}) Ähnlich verhält es sich mit der Übertragung neuer Kompetenzen auf die Europäische Union, etwa bei der Daseinsvorsorge. Es ist in der Tat für viele Kommunen ein entscheidender Punkt, die Daseinsvorsorge, den Katastrophenschutz, den Fremdenverkehr oder den Sport plötzlich im europäischen Kompetenzgeflecht zu sehen. Ich halte das für falsch. Immerhin sind die Kompetenzen eng begrenzt. Aber es ist dann immer ein Abwägungsprozess. Besonders wir in der CSU haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Vielleicht haben wir mehr darüber diskutiert als in anderen Parteien. Wir haben seit Jahren darüber intensiv diskutiert und damit gerungen. Ich sage ausdrücklich: Ich komme nach dieser Abwägung zu einem ganz klaren Ja. Ich werbe natürlich auch für ein ganz klares Ja, für die Zustimmung zu diesem Verfassungsvertrag. Aber ich respektiere auch, wenn einige Kollegen aus den genannten Gründen heute nicht zustimmen können. Meine Überzeugung ist: Zur Lösung der bevorstehenden Herausforderungen ist Europa mit diesem Verfassungsvertrag besser gewappnet als mit dem bestehenden Vertrag von Nizza. ({14}) Der Verfassungsvertrag stößt die Tür für eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente auf. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Der Bürger, aber auch viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus fühlen sich von Brüssel bevormundet. Die nationalen Abgeordneten wollen zu Recht gefragt werden, wenn Europa Vorgaben für ihre Mitgliedstaaten macht. Es muss endlich aufhören, denjenigen oder diejenigen, die auf bestimmte europäische Vorgänge innenpolitischer Art hinweisen und Kritik üben, immer gleich mit dem Populismusvorwurf oder als Europagegner zu diffamieren. ({15}) Hier in diesem Hause wird oft genug über den richtigen Weg der deutschen Politik gestritten. Aber noch nie ist jemand auf die Idee gekommen, einem Kritiker der Steuerpolitik der Regierung vorzuwerfen, er sei gegen Deutschland. Das ist absoluter Unsinn und deswegen muss man damit aufhören. Die europäische Politik ist keine Außenpolitik mehr, sondern europäische Politik ist klassische Innenpolitik geworden. Deswegen muss hier in diesem Haus und darüber hinaus über europäische Entscheidungen ein intensiverer Streit geführt werden. Wenn wir das nicht schaffen, wird Europa bei aller Pathetik, die man in diesem Zusammenhang aufbringen kann, scheitern. ({16}) Ich will auf Folgendes hinweisen: Wenn Deutschland bzw. Sie darüber entscheiden würden, ob beispielsweise der Bereitschaftsdienst bei Ärzten als Arbeitszeit angesehen wird, dann würde hier darüber eine lebhafte Diskussion stattfinden. Wenn es aber so kommt, wie es der Europäische Gerichtshof oder das Europäische Parlament haben will, dann bedeutet das für Deutschland die Einstellung von etwa 20 000 bis 30 000 Ärzten oder die Versorgung der Kranken muss an den Krankenhäusern reduziert werden. Über diese Thematik wird in Deutschland nicht diskutiert. Wenn es aber eine Entscheidung der Regierung wäre, würde sie hier diskutiert werden. Es müssen künftig Entscheidungen diskutiert werden, damit die Landräte, die Bürgermeister, die Patienten und die Krankenkassen wissen, was auf sie zukommt, wenn eine solche Entscheidung getroffen wird. ({17}) Am Ende kommt es wieder zu einer solchen Diskussion wie bei der Antidiskriminierungsrichtlinie. Sie wurde 1996 ähnlich wie die Feinstaub-Richtlinie von 1999 von niemandem zur Kenntnis genommen. Als sie dann aber umgesetzt wurde, gab es Riesenärger. Dieses Parlament muss der Regierung vorher sagen, was seines Erachtens richtig ist. Ich gebe allerdings auch zu - Herr Kollege Fischer, Sie haben völlig Recht -: Das bedeutet natürlich auch eine gewaltige Arbeit, weil von den 900 Richtlinien mindestens 600 im Laufe der nächsten Jahre auf dem Tisch liegen werden. Aber es hilft nichts; denn dazu sind wir und Sie in besonderer Weise da. ({18}) Lassen Sie mich den „Spiegel“ zitieren, der letzte Woche geschrieben hat: „Das Pathos hat ausgedient.“ Ich bin heute ein bisschen daran erinnert worden. Statt europapolitischer Sonntagsreden erwartet der Bürger bei der Ausarbeitung von Gesetzen in Brüssel eine innenpolitische Diskussion. Darum geht es. Deswegen, so glaube ich, ist das Begleitgesetz, das wir vorgelegt haben, richtig. Ich halte es für eine absolute Notwendigkeit. Ich weiß, dass Sie, Herr Bundeskanzler, anderer Meinung sind. Wir haben oft darüber geredet. Ich halte es für notwendig. Wenn wir die Möglichkeit haben, wird dieser Entwurf Gesetz. Im Moment haben wir nicht die Möglichkeit, dass er Gesetz wird. Ich wundere mich, Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({19}) dass die SPD-Fraktion sich da so einbinden lässt. Ich halte es für notwendig, dass die Bundesregierung Stellungnahmen des Bundestages grundsätzlich für verbindlich erachtet. ({20}) Das wäre genau das Recht, das sich der Bundesrat bereits erarbeitet hat. Dort müssen diese Dinge auch berücksichtigt werden. ({21}) Wir haben uns angenähert. Aber ich sage Ihnen auch, dass dieser wichtige Fortschritt, ({22}) dass die Bundesregierung das Parlament unterrichten muss, wenn sie von der Stellungnahme des Parlamentes abweicht, nicht in einer Entschließung abschließend geregelt sein kann. Dazu braucht es eine gesetzlich verbindliche Regelung, wie das auch beim Bundesrat der Fall ist. ({23}) Ich bedauere es außerordentlich, dass Sie nicht so weit gehen wollen wie die CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Gesetzesvorschlag. Lassen Sie mich ein Letztes sagen: Herr Müntefering hat Herrn Hintze zitiert, der wiederum andere zitiert hat. Ich glaube, Herr Müntefering, wir müssen über die Frage der Integrationsfähigkeit der Europäischen Union, wenn wir sie als eine politische Union mit weit reichenden außenpolitischen und innenpolitischen Kompetenzen haben wollen, intensiv nachdenken, insbesondere darüber, ({24}) ob die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union gegenwärtig durch die Aufnahme von acht osteuropäischen Ländern, die ich durchaus begrüße, weil das die Wiedervereinigung Europas ist, gewährleistet ist. Es ist eine viel größere Schwierigkeit, diese Länder zu integrieren als vielleicht Schweden, Finnland oder Österreich. Da bedurfte es keiner Anpassungskriterien. ({25}) Ich will die heutige Situation in aller Kürze ansprechen. Es hat lange gedauert, bis man die einheitliche Meinung hatte, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die ein Wesensmerkmal der Europäischen Union ist, ausnahmsweise für eine Übergangszeit gegenüber den acht osteuropäischen Ländern eingeschränkt werden muss. ({26}) - Ja, ich wollte noch mehr. Ich wollte so viel wie die Österreicher. Die Österreicher haben eine wirklich gute Regelung erreicht. Ich muss Sie fragen: Warum haben Sie das nicht erreicht? ({27}) Die Dienstleistungsfreiheit ist auch ein wesentliches Gut. Die Dienstleistungsfreiheit hätte genauso für eine Übergangszeit eingeschränkt werden müssen, weil diese Länder einfach andere Strukturen haben. Wenn Polen noch nicht einmal 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union erwirtschaftet, die Slowakei 50 Prozent und Ungarn beim Beitritt noch nicht einmal 40 Prozent, dann kann man einen bedingungslosen Wettbewerb der Arbeitnehmer nicht zulassen. ({28}) Sie lassen das aber über die Dienstleistungsfreiheit zu. Sie gehört viel mehr eingeschränkt, genauso wie das die Österreicher vorgemacht haben. ({29}) Lassen Sie mich ein Letztes zur Frage der Konsolidierung sagen. Sie kennen unsere unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich der Türkei. Ich will das jetzt nicht noch einmal aufbereiten. Wir werden, wenn wir eine neue Regierung haben, alles im Rahmen der legalen Möglichkeiten tun, dass der Beitritt zur Vollmitgliedschaft niemals stattfinden wird. ({30}) Ich sage das ganz deutlich. ({31}) Herr Bundeskanzler, Sie hören nicht auf die Opposition und Sie hören nicht auf die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die einen Beitritt der Türkei als Vollmitglied nicht wollen. Sie sollten dann wenigstens auf Ihren Vorvorgänger hören. Ich will Helmut Schmidt zitieren: Die EU würde sich mit einer Aufnahme der Türkei und weiterer Staaten ökonomisch und finanziell übernehmen … Er fährt fort: Monnet und Schuman, Adenauer und de Gasperi, Churchill und de Gaulle waren Staatsmänner von ungewöhnlichem Weitblick - keiner von ihnen hat die europäische Integration bis über die kulturellen Grenzen Europas ausdehnen wollen. Daran sollten wir uns halten, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({32}) Wir sollten diese großen Europäer nicht nur zitieren, wenn es uns passt, sondern wir sollten sie auch dann zitieren, wenn es uns nicht passt. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich: Wir sind daran interessiert, dass die Europäische Union bürgernäher wird, dass sie von den Menschen stärker angenommen wird und der Abwärtstrend bei der Akzeptanz der Europäischen Union in der deutschen Bevölkerung nachlässt. Dazu beizutragen ist mit unsere Aufgabe. Ich sage ganz deutlich: Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({33}) Erstens. Es gehört zu unserem Beitrag, leidenschaftliche Debatten in diesem Hohen Hause zu führen, bevor auf europäischer Ebene darüber entschieden wird. Damit können wir zu einem Abbau des Demokratiedefizits beitragen und die Situation etwas verbessern. Zweitens. Wir brauchen eine Phase der Konsolidierung. ({34}) Deswegen meine ich, man sollte hinsichtlich Serbien und Montenegro relativ zurückhaltend sein. Herr Bundeskanzler, Sie machen den Menschen nur Angst, wenn gesagt wird, ein Beitritt sei morgen oder übermorgen möglich. Drittens. Nicht jedes Problem in Europa muss von Europa gelöst werden. Ansonsten führt das zu der Regelungssucht, die Europa gegenwärtig hat. ({35}) Ich bin der festen Überzeugung, dass der Regelungssucht mit diesem Verfassungsvertrag etwas Einhalt geboten werden kann. Deswegen glaube ich, dass wir heute eine Riesenchance haben, Europa ein Stück nach vorne zu bringen. Ich werbe für die Zustimmung. Danke schön. ({36})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Stoiber, ich gebe Ihnen in einigen Punkten durchaus Recht. ({0}) Aber bei der Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie haben Sie einfach vergessen zu erwähnen, dass es diese Bundesregierung war, die den Prozess in Brüssel gestoppt hat, die verhindert hat, dass die Dienstleistungsrichtlinie jetzt in Deutschland so wirksam wird, wie es ursprünglich vorgesehen war. Herr Stoiber, ich gebe Ihnen auch Recht, dass das deutsche Parlament intensiv beteiligt werden muss, und zwar nicht erst dann, wenn der Europäische Rat bereits Rahmenbeschlüsse oder andere Beschlüsse gefasst hat. ({1}) - Auch wenn Sie jetzt „Hört! Hört!“ rufen, müssen wir uns hier allerdings alle, auch ich mich, selbstkritisch fragen: Warum haben wir die Möglichkeiten, die es in diesem Bereich gibt, bisher nicht ausreichend genutzt? Wieso ist es zu Situationen gekommen wie der, die zur Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über den EU-Haftbefehl geführt hat? Herr Stoiber, Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass wir die Diskussion in der Bevölkerung aufnehmen müssen. Wenn es schon keine Volksabstimmung über die EU-Verfassung gibt, müssen wir doch zumindest die Argumente, die Bedenken, die Kritik und die Probleme, die in der Bevölkerung geäußert werden, hier im Deutschen Bundestag diskutieren. Das kann sich aber nicht in der Diskussion über die Fragen erschöpfen, die Sie angesprochen haben: wer wie lange in welchen europäischen Gremien anwesend war oder wer wie über Regelungen beim Einfall von Sonnenlicht in bayerische Biergärten entschieden hat. Wir müssen die tatsächliche, die fundamentale Kritik, die es in Deutschland genauso wie in Frankreich gibt und die außerhalb dieses Parlaments an uns herangetragen wird, aufnehmen und uns intensiv darüber Gedanken machen. Wir müssen uns fragen: Was ist an dem Vorwurf dran, dass die europäische Verfassung eine Pflicht zur Aufrüstung auferlegt? Was ist an dem Vorwurf dran, dass die europäische Verfassung die Möglichkeit schafft, internationale Militärinterventionen und -missionen auch ohne UNO-Mandat durchzuführen?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Ströbele, denken Sie bitte daran, dass sich eine Kurzintervention von einer Regierungserklärung auch durch die deutlich kürzere Redezeit unterscheidet. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ein letzter Punkt: Was ist an dem Vorwurf dran, dass die europäische Verfassung eine neoliberale Verfassung sein soll, ({0}) die die sozialen Rechte, die soziale Bindung des Eigentums und den Sozialstaat nicht ausreichend berücksichtigt und in den Grundrechten verankert hat? Damit sollten wir uns auch hier auseinander setzen, sonst klinken wir uns aus der Diskussion in Frankreich und Deutschland aus. Dann hätten wir dieses Thema auch in der heutigen Debatte nicht ernst genug behandelt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Herr Ministerpräsident Stoiber. Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0}): Herr Abgeordneter Ströbele, ich gehe davon aus - um Ihre letzte Frage zu beantworten -, dass Sie den Verfassungsvertrag, dem Sie heute hoffentlich zustimmen werden, sehr sorgfältig gelesen haben. Wenn das der Fall ist, dann beantwortet sich Ihre Frage: Europa wird nicht neoliberal; vielmehr wird Europa ein starkes Sozialmodell darstellen. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({1}) Dass die Verfassung eine Pflicht zur Aufrüstung auferlegt, ist absoluter Unsinn. Dazu werden Sie weder in dem Verfassungsvertrag noch in einer politischen Erklärung irgendeiner Regierung etwas finden. Insofern ist, glaube ich, die Frage sehr leicht zu beantworten. Ihre erste Frage hinsichtlich der Dienstleistungen zeigt - mit Verlaub, nehmen Sie es mir nicht übel -, dass das alles sehr kompliziert ist. Sie verwechseln die Dienstleistungsrichtlinie mit der Dienstleistungsfreiheit. Zwischen beidem besteht ein sehr großer Unterschied. ({2}) Ich habe nicht die Dienstleistungsrichtlinie, sondern die Dienstleistungsfreiheit angesprochen. Dazu darf ich aber auch Ihnen gegenüber auf Folgendes hinweisen, Herr Abgeordneter Ströbele: Die Bundesregierung wollte - anders als bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit - die Dienstleistungsfreiheit in keiner Weise einschränken. Dass die Dienstleistungsfreiheit mit entsprechenden Auswirkungen für Deutschland in insgesamt drei Bereichen - darunter das Baugewerbe und der Gartenbau eingeschränkt worden ist, verdanken wir allein der Intervention des österreichischen Bundeskanzlers beim entscheidenden Gipfeltreffen. Ich bin froh, dass wir wenigstens das erreicht haben. Ich hätte erwartet, dass die Bundesregierung - wenn sie schon die Arbeitnehmerfreizügigkeit wegen der bestehenden Anpassungsschwierigkeiten richtigerweise einschränkt - dafür eintritt, gleichermaßen die Dienstleistungsfreiheit einzuschränken. Dann wären manche Probleme mit Scheinselbstständigkeit und anderen Formen von Missbrauch in unserem Lande nicht aufgetreten. ({3}) Deswegen meine ich, dass man diesen Vorwurf aufrechterhalten sollte: In den weiteren Verhandlungen muss besser verhandelt werden. Gegenüber den Österreichern, die sich sowieso als die besseren Deutschen empfinden, sollten wir ein bisschen Nachsicht üben und vielleicht auch das übernehmen, was sie besser machen als wir. Danke schön. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Nachsicht, aber ich möchte schnell wieder von den Sonnenschirmen und bayerischen Biergärten wegkommen und stattdessen das Thema behandeln, das uns heute Morgen vereinigt. ({0}) Vielleicht sollten wir öfter einmal über die historische Dimension Europas sprechen; einige haben das offensichtlich noch nicht richtig verstanden. Sie haben natürlich Recht, Herr Ministerpräsident Stoiber: Man muss der Wirklichkeit ins Auge blicken. Auf der einen Seite freuen wir uns heute über die europäische Verfassung, die uns mit Dankbarkeit erfüllt; auf der anderen Seite müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Angst in Europa und vor allem in Deutschland umgeht. Unsere Antwort kann aber nicht darin bestehen, dass wir den Kleinkrämern, den Kleinmütigen und den Ängstlichen Europa überlassen; wir müssen uns vielmehr an die Spitze derjenigen stellen, die aufzuklären versuchen und die etwas Positives mit Europa verbinden. Denn gerade für uns in Deutschland ist das vereinigte Europa alternativlos. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, für Aufklärung zu sorgen. ({1}) Heute ist - wie ich meine, zu Recht - viel über die geschichtlichen Wurzeln der wunderbaren Idee Europa gesprochen worden. Es sind diejenigen genannt worden, die der Generation meiner Großeltern oder Eltern angehören. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Schulen besucht und kann feststellen, dass dieses Gefühl der Dankbarkeit auch in meiner Generation und bei den noch Jüngeren vorhanden ist. Sie wissen, dass dieses Europa auf einem Trümmerberg, einem Berg von Millionen Leichen, errichtet wurde und dass wir in Deutschland dafür dankbar sein können, dass dieser Akt der Versöhnung sechs Jahrzehnte lang gelungen ist. Das ist eine Erfolgsgeschichte, auf die wir zu Recht stolz sein können. ({2}) Altbundespräsident Johannes Rau hat in den vergangenen Tagen gefragt: Haben wir in Deutschland verlernt zu staunen? Haben wir verlernt, darüber zu staunen, dass uns dies gelungen ist, dass Frieden und Freiheit herrschen, wozu die Europäische Union maßgeblich beigetragen hat? Ich glaube nicht, dass die europäische Integration alleine eine Frage der Staatsräson ist. Sie gehört aus meiner Sicht zu unserer nationalen Identität. Deutsche wissen, dass wir gute Europäerinnen und Europäer zu sein haben. Gerade meine Generation weiß das; denn wir haben gelernt, dass Europa grenzenlos ist, dass man in Europa studieren und sich ausbilden lassen kann und dass man Partnerschaften und Freundschaften über nationale Grenzen hinweg pflegen kann. Natürlich sind manche Sorgen und Ängste der Bürger berechtigt. Gelegentlich taucht der Vorwurf auf, die Vorherrschaft des Neoliberalismus sei auf der Tagesordnung in Europa ganz oben. Aus meiner Sicht brauchen wir in Europa ein neues Leitbild; denn alleine die Friedensmacht Europa hilft uns nicht dabei, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu steigern. Deswegen müssen wir den Menschen die Angst nehmen und deutlich machen, dass wir in Europa das Sozialmodell verteidigen und zukunftsfest machen, dass wir soziale und ökologische Standards sichern und dass wir die Menschen schützen. Dieses Europa kann dafür sorgen, dass die Globalisierung sozial, menschlich und fair gelingt. Das schaffen wir allein auf nationalstaatlicher Ebene nicht. Michael Roth ({3}) Deswegen müssen wir für ein starkes und solidarisches Europa streiten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Die europäische Verfassung schafft dafür eine Grundlage. ({4}) Ich bitte ebenso um Fairness bei der Beurteilung der europäischen Verfassung. Das Wesen Europas ist der Kompromiss. 25 Mitgliedstaaten haben diesen Kompromiss in einem Konvent zustande gebracht. Ich will nur daran erinnern: Bislang ist es uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen, den Föderalismus, die bundesstaatliche Ordnung, zu reformieren. Umso dankbarer und respektvoller sollten wir denjenigen gegenüber sein, die das zumindest auf der europäischen Ebene geschafft haben. Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 25, 28 Mitgliedstaaten haben sich zusammengesetzt und ihnen ist ein großer Wurf gelungen, der auf keinem einzigen Politikfeld einen Rückschritt, sondern ausschließlich Fortschritte darstellt. Dies sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern verständlich machen. ({5}) Ich danke deshalb all denjenigen, die dazu beigetragen haben. Sie mögen es nachvollziehen können: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies eine besondere Geschichte, die 1923 mit dem Heidelberger Grundsatzprogramm begonnen hat. Schon damals ist vom Traum der Vereinigten Staaten von Europa geschrieben und gesprochen worden. Deswegen werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns immer als Sachwalter derjenigen verstehen, die Europa nach vorne bringen wollen. Ich will auf den wesentlichen Punkt eingehen, der uns dazu veranlasst hat, auf das Ergebnis stolz zu sein: Die europäische Verfassung orientiert sich nicht allein am Wünschenswerten, sondern vor allem am Machbaren in der Europäischen Union. Die Grundrechte-Charta beinhaltet mehr soziale Grundrechte als unser deutsches Grundgesetz. Das macht deutlich, dass Solidarität in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, sondern dass alle EU-Institutionen dazu verpflichtet sind, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität zu dienen. ({6}) Die europäischen Parlamente, nicht allein das Europäische Parlament, sondern auch unsere nationalen Parlamente, sind gestärkt worden. Wir haben etwas auf den Weg gebracht, wozu wir Sie, Herr Ministerpräsident Stoiber, wahrlich nicht brauchten. Das Begleitgesetz, das die Stärkung des Deutschen Bundestages in Europaangelegenheiten vorsieht, ist in der Mitte des Deutschen Bundestages gestaltet worden, und zwar von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen. Wenn Sie schon versuchen, eine Lanze für den Parlamentarismus zu brechen, dann sollten Sie einmal darüber nachdenken, ob nicht auch die Landtage gestärkt werden müssten. Ihnen geht es im Hinblick auf den Föderalismus doch nur darum, dass die Ministerpräsidenten nicht nur im Bundesrat sitzen, sondern am besten am großen europäischen Tisch, um dort mitentscheiden und mitgestalten zu können. Wo sollen denn da unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landesparlamenten bleiben? ({7}) Ich will aber auch deutlich sagen: Wir sollten mit dieser unsäglichen Jammerei endlich aufhören. Man muss nicht bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um sich erklären zu lassen, dass es im Bereich „Justiz und Inneres“ als dritter Säule der Europäischen Union kein Vertragsverletzungsverfahren gibt. Das kann man sich schon von den Europapolitikerinnen und Europapolitikern aller Fraktionen hervorragend erklären lassen. ({8}) Dass wir hier nicht nur uns selber blamieren, sondern auch dieses Parlament, ist ein Armutszeugnis. Unser Parlament, der Bundestag, sollte uns so viel wert sein, dass wir hier keine Legenden stricken. ({9}) Einige selbst ernannte Europapolitiker haben in den vergangenen Wochen gesagt, hier würden parlamentarische Debatten abgewürgt und der Verfassungsentwurf werde einfach so durchgewinkt. Hier wird überhaupt nichts durchgewinkt. Über dieses Projekt wird seit drei Jahren gestritten und wir haben Übereinstimmung in hohem Maße erzielt. Wir haben Arbeitsgruppen eingerichtet. Wir haben im Plenum des Bundestags mehrfach pro Jahr gestritten, wir haben Meinungen und Erfahrungen ausgetauscht. Wir haben mit unseren Konventsdelegierten, Jürgen Meyer und Peter Altmaier, und vielen anderen zusammengesessen. Das, was unsere Konventsdelegierten erarbeitet haben, ist auch unser Erfolg. Darauf können wir stolz sein. Wir sollten das nicht kleinreden. ({10}) Ich will mich bei allen Fraktionen bedanken, bei Frau Leutheusser-Schnarrenberger, bei Herrn Hintze, bei Herrn Altmaier, bei Rainder Steenblock, bei Günter Gloser und bei Angelica Schwall-Düren. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass dieses Parlament stärker wird. Diese neue Härte ist aber kein Blockadeinstrument, sondern verpflichtet uns, die Europagesetzgebung frühzeitiger und umfassender zu begleiten und mit dem Geschrei nicht erst dann anzufangen, wenn es zu spät ist. Wir dürfen die Verantwortung nicht nur bei der Bundesregierung abladen, sondern wir müssen unserer eigenen Verantwortung gerecht werden. Das nimmt uns keiner ab. ({11}) Ich möchte noch etwas zum Bundesverfassungsgericht sagen - alle blicken etwas nervös in diese Richtung -: Der anerkannte Staatsrechtler Bogdandy hat einen bemerkenswerten Aufsatz geschrieben, in dem er eine Lanze für die Macht der Parlamente in Europa bricht. Er stellt die Frage, ob der Deutsche Bundestag durch die zu engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in den vergangenen Jahren nicht stärker als durch manche europäische Michael Roth ({12}) Gesetzgebung beschnitten wurde. Wir sollten auch diese Frage in den Mittelpunkt rücken und die Bösen nicht immer nur in Brüssel vermuten. Auch die innerstaatliche Perspektive ist wichtig: Wo bleibt der Bundestag und welche Vorgaben - zum Teil bis ins Detail - macht uns beispielsweise das Bundesverfassungsgericht? Herr Stoiber, Sie haben in den vergangenen Wochen eine Verschnaufpause für Europa gefordert; das sei jetzt alles zu viel; wir hätten in den vergangenen Jahren viel zu viele heiße Eisen angepackt. Ich gebe Ihnen in einem Punkt Recht: Das, was wir seit der Wiedervereinigung Europas und Deutschlands auf den Weg gebracht haben, ist eine ganze Menge. Aber ist es nicht faszinierend, was sich auf unserem Kontinent tut? Da wird für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für mehr Wohlstand und für mehr Sicherheit gekämpft. Das erstreiten sich Staaten, die noch vor wenigen Jahren diktatorisch regiert wurden. Wollen wir denen wirklich sagen: „Wir haben keine Zeit für euch; wir müssen uns um unsere eigenen Probleme kümmern!“ und die Hände in den Schoß legen? Unsere Hauptaufgabe muss doch sein, denjenigen in Europa zu helfen, die zu diesem Kontinent der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sicherheit gehören wollen. Dabei müssen wir uns anstrengen. Wir müssen die Ärmel hochkrempeln, anstatt uns mit uns selbst zu beschäftigen. Alles andere wäre verantwortungslos. ({13}) Ist es nicht wunderbar, dass diese Europäische Union, über die wir gar nicht mehr mit Freude und Dankbarkeit zu reden in der Lage sind, von außen so fasziniert betrachtet wird? Da sind Menschen, die sich nach dem sehnen, was wir in Jahrzehnten mühsam haben erstreiten müssen. Sie wollen dazugehören. Sie haben auch einen Anspruch darauf, finde ich, dass wir ihnen dabei helfen und dass wir ihnen Perspektiven aufzeigen. Herr Stoiber, Sie haben des Weiteren gesagt, die Bundesregierung müsse im Hinblick auf ein mögliches, wenn auch hoffentlich nicht eintretendes Scheitern der europäischen Verfassung endlich einen Plan B vorlegen. Ich erwarte von der Bundesregierung und von allen Bundestagsabgeordneten, dass sie sich überall dort in Europa, wo ein Referendum zu scheitern droht, an die Spitze der Bewegung stellen und helfen; denn es geht nicht nur darum, ob die Franzosen oder die Deutschen scheitern; es geht um uns Europäerinnen und Europäer. Angesichts dessen sollten wir uns anstrengen, jetzt nicht fordern, dass ein Plan B oder mehrere solcher Pläne mit irgendwelchen Krisenszenarien vorgelegt werden, sondern helfen, dass diese europäische Verfassung Wirklichkeit wird. ({14}) Noch etwas zum Föderalismus, weil der Föderalismus nicht nur eine faszinierende Idee für Deutschland, sondern auch für das Europa ist, wie wir es uns wünschen, wie zumindest ich es mir wünsche. Sie haben mit einigen, aus meiner Sicht übertriebenen Forderungen dazu beigetragen - das sage ich in Richtung mancher Ministerpräsidenten -, dass die Grundlagen des Föderalismus in Deutschland einen dramatischen Vertrauensverlust erlitten haben. Sägen Sie bitte nicht an dem Ast, auf dem Sie selber sitzen! ({15}) Natürlich bin auch ich darüber enttäuscht, dass in Deutschland eine öffentliche Debatte über dieses große Projekt kaum stattgefunden hat. Sind aber wirklich nur die vermeintlich unwilligen Politikerinnen und Politiker daran schuld? Tragen dafür nicht auch die Medien Verantwortung, die in der Regel überhaupt nicht bzw. wenig berichtet haben? Meine persönliche Auffassung dazu ist: Bei all den Risiken, die damit verbunden sind - ein Referendum hätte uns zumindest dazu gezwungen, eine Debatte zu führen. ({16}) Auch nach diesem Tag sollten wir diese Debatte nicht den Nationalisten, den hinlänglich bekannten Europagegnern und Globalisierungsgegnern überlassen, die mit falschen Argumenten die Ängste der Menschen schüren. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es auch hier Menschen gibt, die diese Ängste schüren, die den Vorwurf des Populismus zwar immer sehr weit von sich weisen, aber die sich doch in Populismus ergehen. Das finde ich schade. Da sollte man dann schon ehrlich sein. ({17}) Wenn diese EU-Verfassung scheitert, sind viele in Frankreich oder auch in Deutschland darüber traurig. Die ersten Champagnerflaschen werden, glaube ich, geöffnet bei Monsieur Le Pen, bei den Rechtsextremisten, bei denjenigen in Großbritannien, die von diesem Projekt noch nie viel gehalten haben. Vielleicht wird sich auch der eine oder andere in den Vereinigten Staaten von Amerika die Hände reiben und sagen: Die kommen mit ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik doch nicht so weit, wie sie es immer wieder eingefordert haben. Deswegen: Bescheidenheit ist angesagt. Die europäische Verfassung ist keine Eier legende Wollmilchsau, die auch noch auf alle drängenden Fragen eine ausreichende Antwort hat. Sie gibt uns hier im Deutschen Bundestag aber Gelegenheit, diese Antworten zu finden. Wer für ein demokratischeres und solidarischeres Europa eintritt, der muss heute für diese Verfassung stimmen und sich in den nächsten Wochen in die Gruppe derjenigen einreihen, die auch in den anderen Mitgliedstaaten dazu beitragen, dass dieses großartige Verfassungsprojekt gelingt. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe dem Kollegen Roth Recht. Ich habe die Rede von Herrn Bundeskanzler Schröder nachgelesen - ich habe sie mir angehört und konnte es kaum glauben - und muss angesichts des Gegenstands der heutigen Debatte - wir debattieren über die Verabschiedung der europäischen Verfassung - sagen, dass ich eine solch inhaltslose und perspektivlose Rede vom deutschen Bundeskanzler eigentlich nicht erwartet hätte. ({0}) Meine Damen und Herren, ich hätte mir wirklich gewünscht, dass wir alle diese europapolitische Debatte zu einer großen Stunde des deutschen Parlamentarismus machen. Sie aber, Herr Müntefering, haben eben die Fliesenleger in die Debatte eingeführt. ({1}) Es geht bei der europäischen Verfassung schließlich um ein Projekt, das in der Perspektive der nächsten zehn Jahre das deutsche Grundgesetz ablösen wird. ({2}) Ich habe in der Kurzintervention die Möglichkeit, auf ein paar Punkte einzugehen. Einer der Hauptpunkte ist - der Außenminister nimmt an der Debatte überhaupt nicht mehr teil -, dass dieser Verfassungsvertrag aus deutscher Sicht ausgesprochen schlecht verhandelt wurde. Wir übertragen substanzielle Rechte in 20 weiteren Politikbereichen auf Brüssel und höhlen die Rechte des Deutschen Bundestages ein Stück weit aus. ({3}) Dies kommt deshalb einer Entparlamentarisierung gleich, weil nicht das Europäische Parlament diese Rechte erhält, ({4}) sondern wir die Rechtsetzung auf die Bürokratie und die Exekutive übertragen und den Parlamenten nicht einmal ein Gesetzesinitiativrecht geben. Wenn es um europäische Rechtsetzung geht, können in Brüssel Gesetze nicht aus dem Parlament heraus entwickelt werden. Das ist ein großes Manko. Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag und die Landtage geben substanzielle Rechte auf. Deshalb haben CDU und CSU das Mitwirkungsgesetz zur Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages eingebracht. Mit diesem Mitwirkungsgesetz hätten wir europäische Rechtsetzung wieder in die Parlamente zurückgeholt und Gesetze hier legitimiert. Durch einen Parlamentsvorbehalt, durch Debatten und Entscheidungen des Deutschen Bundestages hätten wir dazu beigetragen, dass mehr Legitimation geschaffen und wieder eine Brücke zum Bürger gebaut wird. Wenn Sie, meine Damen und Herren, so feixen, wie es Herr Müntefering in seiner Rede getan hat, ({5}) dann können Sie doch nicht im Ernst glauben - das ist sehr bedauerlich für das Projekt Europa -, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Ich glaube das nicht. Ich bedauere es sehr, dass wir ebenso wie auf ein Referendum auch auf eine breit angelegte Debatte verzichtet haben. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Müller, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Es hätte uns gut getan, wenn wir in den Fraktionen und im Deutschen Bundestag versucht hätten, einen breiten und offenen Dialog mit der Bevölkerung aufzunehmen und zu führen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger für die FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja begeistert und überrascht davon, wie sich jetzt, wo es zu spät ist, immer mehr Kolleginnen und Kollegen für ein Referendum über die europäische Verfassung aussprechen. ({0}) Sie hatten hier mehrere Gelegenheiten, über einen Gesetzentwurf abzustimmen, mit dem das ermöglicht worden wäre. ({1}) Sie haben mit ganz wenigen Ausnahmen - Herr Müller, ich nehme Sie aus - das abgelehnt, und zwar unisono. Wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen, Sie wollten ein Volksreferendum, dann ist das einfach unehrlich und heuchlerisch. ({2}) Ich finde es auch bemerkenswert, dass über die fehlende parlamentarische Beratung geklagt wird. Neunmal haben wir hier im Plenum des Bundestages über die europäische Verfassung diskutiert. ({3}) Wir haben im Europaausschuss zweieinhalb Jahre lang intensiv den gesamten Prozess gestaltend begleitet. Das heißt, es gab viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, sich einzubringen. Wir haben noch nie bei einem Prozess der Beratung und der Weiterentwicklung der europäischen Verträge so wie bei diesem die Parlamentarierinnen und Parlamentarier einbezogen. ({4}) Von daher ist es vordergründig und falsch, wenn Sie dem entgegenstehende, falsche Botschaften von dieser Debatte des Deutschen Bundestages aussenden. ({5}) Es muss auch ehrlicherweise gesagt werden, dass der Bundestag selbst - das sollten wir sehr selbstkritisch sagen - die bestehenden Rechte, auch die sich aus unserem Grundgesetz ergebenden Rechte nach Art. 23, viel zu wenig genutzt hat ({6}) und viele leider gar nicht wissen, dass es sie gibt. Das finde ich erschütternd. Wenn hier beklagt wird, dass man sich nicht im Rahmen eines europäischen Gesetzgebungsverfahrens einbringen könne, zeigt das, dass noch nicht einmal Kenntnis über das Grundgesetz vorhanden ist. Dann kann ich natürlich auch nicht erwarten, dass Kenntnis über Grundzüge des europäischen Verfassungsvertrages vorhanden ist, den wir den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären haben. Da kann ich nur froh sein, wenn diejenigen, die sich hier mit solchem Nichtwissen äußern, nicht die sind, die ihn den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Überlassen Sie das uns, die mit Herzblut hinter dieser Verfassung stehen, weil es keine Alternative dazu gibt! ({7}) Denn was wäre die Alternative? Die Alternative wäre, dass wir uns wieder auf Binnenmarkt und Wettbewerb reduzieren. Binnenmarkt und Wettbewerb sind wichtig; aber das ist doch längst nicht alles. Wenn wir die Grundrechte-Charta nicht bekommen, nehmen wir den Bürgerinnen und Bürgern etwas, was ihre Rechte stärken würde. Außerdem würde das dazu führen, dass wir im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik kein stärkeres, handlungsfähiges Europa bekommen, das wir aber dringend brauchen; denn es muss ein Gleichgewicht hergestellt werden. Es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika als eine handlungsfähige Macht, als eine Weltmacht. Da muss doch Europa stark werden - nicht gegen Amerika; aber Europa muss seine eigenen Aufgaben bei sich selbst und in seiner Nachbarschaft wahrnehmen können, ({8}) natürlich immer vor dem Hintergrund der internationalen Einbettung, des Multilateralismus, den wir wollen, und auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen. Von daher warne ich davor, hier mit kurzen Schlagworten ein falsches Licht auf die Inhalte der europäischen Verfassung zu werfen. Dort ist keine Pflicht zur Aufrüstung und Beteiligung an Kriegen enthalten. Im Gegenteil, die Krisenprävention mit eigenen Möglichkeiten soll endlich gestärkt und verbessert werden. Das halte ich für überfällig und dringend notwendig. ({9}) Ein letztes Wort, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte noch einmal betonen, dass es dank der Nachhaltigkeit der FDP gelungen ist, ein Fraktionsklagerecht zur Durchführung der Subsidiaritätskontrolle einzuführen. Viele hier waren zu Beginn der Debatte nicht so sehr davon begeistert. Ich denke, es ist gut, dass wir uns jetzt, am Ende der Beratungen, im Begleitgesetz gemeinsam darauf verständigt haben, dass eine Fraktion als Minderheit geltend machen kann, dass die Subsidiarität verletzt worden ist. Denn wie sieht die Realität aus? Sie sieht so aus, dass Koalitionsfraktionen im Zweifel doch wohl kaum klagen werden, wenn ihre Regierungsvertreter im Rat einem Vorhaben zugestimmt haben, das die Subsidiarität nach Auffassung einer Fraktion im Bundestag verletzt. Deshalb ist es wichtig, dass es diese Möglichkeit gibt, von der natürlich verantwortungsbewusst und nicht aus euroskeptischen Gründen, sondern im Sinne einer Stärkung der Rechte des Parlamentes Gebrauch gemacht werden soll. Recht herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Woche ist eine wahrhaft historische Woche, eine bewegende Woche für Deutschland gewesen und der heutige Tag ist ein guter Tag für Deutschland; denn die Verfassung für Europa, die wir heute mit großer Mehrheit verabschieden werden, ist ein Meilenstein auch für unser Land. Ich bin sehr froh darüber, dass wir dem Verfassungsvertrag hier im Deutschen Bundestag mit so überwältigender Mehrheit zustimmen. Es ist auch aus unserer historischen Verantwortung ein hervorragendes Signal, dass keine politische Kraft im Deutschen Bundestag, wie zum Teil in anderen Ländern, versucht hat, das Thema des Verfassungsvertrages für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist ein ausgesprochen positiver Vorgang, auf den wir alle stolz sein können und für den ich mich bei allen Fraktionen bedanken möchte. ({0}) Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass die Mehrheit, die sich heute im Bundestag darstellen wird, keine Eins-zu-eins-Entsprechung in der deutschen Bevölkerung hat. Ich glaube, dass wir alle aufgrund unserer Verantwortung für die europäische Zukunft aufgerufen sind, den Menschen in Deutschland sehr genau zu erklären, warum diese Verfassung für Europa alternativlos ist. Ich möchte dazu gerne ein paar Stichworte nennen. Diese Verfassung - das ist für mich einer der zentralen Kernpunkte - macht Europa demokratischer. Wer zu dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem demokratischer werdenden Europa, der sagt Nein zu mehr Beteiligungsrechten des Europäischen Parlaments und zu mehr Transparenz. Wer zu dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem handlungsfähigeren Europa. Was wir aber brauchen und wollen, ist ein Europa, das die Entscheidungen schnell und transparent treffen kann. Die Abstimmungsmechanismen, die wir schaffen, machen dieses Europa handlungsfähiger. Auch das muss deutlich werden: Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein zum Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein dazu, dass die Europäische GrundrechteCharta für alle Bürgerinnen und Bürger Europas rechtsverbindlich wird, und der beraubt sich einer guten Grundlage für die Wahrung und Durchsetzung der unveräußerlichen Menschenrechte und der individuellen Bürgerrechte. Ich kann für meine Fraktion feststellen: Wir sagen Ja zu Europa, weil wir, was den Schutz der Grundrechte und der Menschenrechte angeht, diese Verfassung für einen großen Fortschritt halten. Ich möchte in diesem Zusammenhang dankbar an den Kollegen Wolfgang Ullmann erinnern, der als Mitglied des Europäischen Parlaments für die Entwicklung der Europäischen Grundrechte-Charta Hervorragendes geleistet hat. ({1}) Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, sagt auch Nein zu einem sozialeren Europa. Denn in dieser Verfassung wird zum ersten Mal die Wirtschaft Europas als soziale Marktwirtschaft und nicht als freie Marktwirtschaft definiert. Auch das ist ein großer Fortschritt. In der Europäischen Union werden jetzt sozialere Ziele angestrebt. Wir sollten nicht dem plumpen Populismus einiger Leute auf den Leim gehen, die uns einreden wollen, dass mit dieser Verfassung Europa unsozialer und kälter wird. Diese Verfassung bietet die Grundlage dafür, dass das europäische Gesellschaftsmodell ein soziales Modell ist, das sich fortentwickelt, blüht, wächst und gedeiht. Diese Chance haben wir. Aber wir müssen sie wahrnehmen. ({2}) Auch die friedenspolitische Dimension ist in der öffentlichen Debatte häufiger angesprochen worden. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein dazu, dass zivile und militärische Fähigkeiten, die für die Konfliktlösung eingesetzt werden können, zum ersten Mal in einer Verfassung nebeneinander gestellt werden. Wer Nein dazu sagt, der will anscheinend nicht die zivilen Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung einsetzen, die uns diese Verfassung an die Hand gibt. Daher ist es wichtig, dass wir zu dieser Verfassung Ja sagen. ({3}) Ich möchte noch ein zentrales Ziel dieser Verfassung deutlich machen. In der Verfassung wird als Ziel formuliert: Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität … unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte … Ich glaube, eine so progressive nationalstaatliche Verfassung muss erst noch geschrieben werden. Deshalb sind wir für diese Verfassung. ({4}) Da wir für diese Verfassung sind - das haben heute alle Redner deutlich gemacht -, haben wir allerdings auch die Verantwortung, das Bild von Europa, das in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, mit Leben zu erfüllen. Auch das ist etwas, was mir in dieser Debatte gefehlt hat - auch in Ihrer Rede, lieber Herr Kollege Stoiber, obwohl ich ansonsten vielen Teilen Ihrer Rede zustimme. Ich glaube, wir haben die Verantwortung, die Ängste in der Bevölkerung aufzunehmen. Aber wir haben auch die Verantwortung, nicht zusätzlich Ängste zu schüren, sondern real und rational über die Herausforderung zu diskutieren. ({5}) Die Erweiterung der EU, die wir alle hier im letzten Jahr gefeiert haben und über die wir uns gefreut haben, darf nicht als Instrument genutzt werden, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Denn wir müssen uns immer klar machen: Was ist denn die Alternative dazu? Was wäre denn, wenn Polen heute nicht in der EU wäre, oder was wäre, wenn Bulgarien und Rumänien keine Beitrittsperspektive hätten? Was würde das ökonomisch bedeuten, wenn diese Länder nicht nach den Spielregeln der Europäischen Union verfasst wären? Es mag sich jeder, der an Wettbewerbsgleichheit interessiert ist, vorstellen, was es bedeuten würde, wenn wir an unseren Ostgrenzen Länder hätten, die nach völlig anderen ökonomischen, sozialen, ökologischen und demokratischen Spielregeln funktionieren würden. Wir haben sozial, demokratisch, aber auch ökonomisch und natürlich ökologisch ein eigenes Interesse daran, dass die Erweiterung der Europäischen Union voranschreitet und die Spielregeln, die wir wollen, auch in diesen Ländern greifen. Deshalb sollte man keine Ängste vor der Erweiterung schüren, sondern realistische Mechanismen einbauen. Das hat diese Bundesregierung in der Frage der Dienstleistungsfreiheit getan. Deshalb ist Ihr Hinweis auf die Dienstleistungsfreiheit völlig falsch, weil die Bundesregierung hier ihrer Verantwortung nachgekommen ist und Übergangsregelungen eingeführt hat, die sich vernünftig realisieren lassen. ({6}) Der zweite Teil dieser Diskussion umfasst die Debatte um unsere nationale Verantwortung im Deutschen Bundestag. Dazu ist von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern vieles gesagt worden. Der Hinweis ist richtig, dass der Deutsche Bundestag durch die europäische Verfassung und die Subsidiaritätsklage bzw. Subsidiaritätsrüge, wie sie vorgesehen ist, eine deutlich größere Verantwortung bekommt. Wir können jetzt - ob zu Recht oder nicht - nicht mehr mit dem Finger nach Brüssel zeigen und sagen: Was die da alles für einen Unsinn, für komplizierte Regelungen, für überflüssigen Quatsch realisieren! Vielmehr sind wir selber in unserem nationalen Parlament jetzt ein Stück weit mehr verantwortlich. Das ist ein Riesenfortschritt; aber das ist auch eine riesige Verantwortung, die wir damit tragen. Ich glaube, dass wir dieser Verantwortung mit den Strukturen, so wie wir sie bisher haben, nicht gerecht werden können. Wir brauchen in diesem Hohen Hause andere, zusätzliche Arbeitsstrukturen. In dem vorliegenden Entschließungsantrag ist auf eine Fragestunde zu Themen europäischer Politik hingewiesen worden. Auch die Arbeit in den Fachausschüssen muss sich sehr viel stärker an dem, was in Brüssel tatsächlich zur Entscheidung ansteht, orientieren. Wir sollten nicht nur europäische Beschlüsse der Vergangenheit zur Kenntnis nehmen, sondern selber in einem sehr viel umfangreicheren Maße unsere Initiativrechte nutzen, um uns in die Entscheidungsstrukturen auf der Brüsseler Ebene einzuklinken, und nicht mit Debatten nachklappen, wie sie jetzt zum Teil über die Verfassung geführt werden. Ich verstehe überhaupt nicht, dass keiner gewusst haben will, worum es eigentlich geht. ({7}) Über diese Verfassung ist so breit wie über kein anderes Projekt diskutiert worden. Lassen Sie uns deshalb die Verantwortung annehmen, die wir in unserem Parlament haben! Lassen Sie uns die Arbeit in den Ausschüssen ernsthaft umstrukturieren! Lassen Sie uns eine neue Fragestunde beschließen, um hier im Parlament über europäische Themen zu debattieren! Dann werden wir mit Sicherheit einen großen Schritt vorankommen. Jacques Delors hat einmal gesagt: „Europa ist nur einer wirklichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr des Stillstandes.“ Wenn wir das, was heute zur Entscheidung ansteht, nicht realisieren würden, dann würden wir uns dieser Gefahr tatsächlich aussetzen. Diese Verfassung nicht anzunehmen, die Umsetzung in nationales Recht nicht zu realisieren wäre nicht nur ein großer Fehler, sondern für den Deutschen Bundestag auch historisch verantwortungslos. Dazu wird es nicht kommen. Robert Schuman hat in seiner historischen Erklärung vom 9. Mai 1950 gesagt: Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, … Die Tatsachen, die wir heute schaffen, sind im Sinne von Robert Schumans europäischem Traum ein ganz großer Schritt, konkret nach vorne zu kommen und unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Europa gerecht zu werden, insbesondere unserer Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. Wenn ich Sie heute fragen würde, wie der erste Satz der Verfassung für Europa lautet, könnten - da bin ich mir sicher - die meisten von Ihnen das nicht sagen. Eigentlich müssen Sie diesen Satz auch nicht kennen; denn er ist bürokratisch, nichtssagend und falsch. Er lautet: Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Dieser Satz ist falsch, weil der Wille der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land überhaupt nicht gefragt ist. ({0}) Nur durch eine Volksabstimmung könnte man diesen Satz und die ganze Verfassung legitimieren. Meine Damen und Herren, Sie stimmen heute im Bundestag über die Verfassung Europas ab, die Sie teilweise nicht kennen und die Sie auf keinen Fall in ihrer Wirkungsmacht einschätzen können. Dazu war die Zeit zu kurz. Viele haben sich auch nicht ausreichend damit beschäftigt. Ich finde, das ist ein sehr schlechter Start für eine Verfassung, die das Zusammenleben der Europäer auf Jahrzehnte bestimmen soll. Sie verweigern sich einem Volksentscheid zur EU-Verfassung und wollten doch einmal mehr Demokratie wagen. Sie wollen still und heimlich, an den Bürgern vorbei, die Verfassung durch Bundestag und Bundesrat winken. Heute werden Sie eine Mehrheit für die Verfassung bekommen; doch das ist ein Pyrrhussieg. Sie tun damit Europa und den Europäern keinen Gefallen. Sie verkennen nämlich, dass Identifikation mit Europa nur entstehen kann, wenn sich die Menschen mit Europa auseinander setzen, über Europa diskutieren und leidenschaftlich streiten, wie wir es jetzt in Frankreich erleben. ({1}) Doch warum sollen sich die Bürger unseres Landes mit der Verfassung auseinander setzen, wenn ihre Meinung gar nicht gefragt ist? Ich frage all diejenigen, die heute von ihren Reisen nach Frankreich und ihrem Einsatz dort berichtet haben: Warum haben Sie sich nicht mit gleichem Einsatz für einen Volksentscheid in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt? ({2}) Diejenigen Europäer, die sich gegen die europäische Verfassung aussprechen, als Europagegner zu disqualifizieren ist böswillig und dumm. Laurent Fabius, ehemaliger französischer Premier, sagte gegenüber dem französischen Fernsehen, dass es Millionen Franzosen gebe, die wie er überzeugte Europäer seien, aber mit Nein stimmen wollen, einfach deshalb, weil sie ein unabhängiges und soziales Europa wollen. Die PDS hat vor allem drei gute Gründe, die Verfassung abzulehnen: Erstens. Die Verfassung ist nicht durch eine Volksabstimmung legitimiert. Zweitens. Die Verfassung setzt auf militärische Stärke, auf Aufrüstung und weltweite militärische Konfliktlösungen. ({3}) Drittens. Die Verfassung setzt auf freien Markt - nicht auf soziale Marktwirtschaft -, freien Geldverkehr und freie Konkurrenz. Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Konfliktlösungen in Europa nie funktioniert haben. ({4}) Unsere Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa unter dieser Logik in den letzten tausend Jahren nur gelitten hat. Wir wollen dieser Logik nicht länger folgen. Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, sondern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt auf eine, wie es dort heißt, „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Hat die Europäische Union zusammen mit der Bundesregierung schon in den letzten Jahren alles getan, um - ich zitiere Herrn Müntefering „Heuschrecken“ Tür und Tor zu öffnen, so wird mit der vorliegenden Verfassung diesen „Heuschrecken“ neue Nahrung gegeben. Im Entwurf der Verfassung für Europa gibt es selbstverständlich Aussagen und Passagen, die wir unterstützen, die sinnvoll sind, die eine wirkliche Verbesserung darstellen würden. Doch die Ablehnungsgründe wiegen um ein Vielfaches schwerer. Einer Verfassung, die in diesen drei entscheidenden Punkten hinter den Erwartungen der Bürger zurückbleibt, kann nicht Grundlage eines zukunftsgerichteten Europas sein. ({5}) Ich bin mir sicher, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik mit dem Satz beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein kräftiger und wirkungsvoller Satz, tausendmal besser als der erste Satz der europäischen Verfassung. Jeder von Ihnen, meine Damen und Herren, der noch zum Bücherlesen kommt, weiß, dass der erste Satz eines Buches sehr viel über das ganze Buch sagen kann. So ist es auch bei dieser Verfassung. Wir als PDS werden heute aus den genannten Gründen gegen diese Verfassung stimmen. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Martin Hohmann das Wort. - Wenn er nicht da ist, kann er nur schwer reden. Dann erteile ich dem Kollegen Dietmar Nietan für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat muss man über Europa streiten. Es muss auch möglich sein, über die europäische Verfassung sehr hart miteinander zu ringen und zu streiten; denn sie ist nicht irgendetwas, sondern eine Verfassung, die zum Wohle der Menschen Weichen stellen soll. Erlauben Sie mir diese etwas zugespitzte Bemerkung: Ich habe den Eindruck, dass viele - ich sage ausdrücklich: nicht alle - Kritikerinnen und Kritiker dieser Verfassung dem Kleinmut verfallen sind. ({0}) Denjenigen, der ernsthaft behauptet, dieser Entwurf eines Verfassungsvertrags, der eine Grundrechte-Charta - die übrigens mit dem Satz anfängt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist - und auch einen expliziten Hinweis auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern enthält, sei das Einfallstor des weltweit operierenden Kapitalismus, frage ich: Wo war er, als der Vertrag von Nizza verabschiedet wurde? Damals hätten all die Menschen, die das behaupten, durch unser Land und durch ganz Europa Demonstrationszüge organisieren müssen; denn der Verfassungsentwurf, der uns jetzt vorliegt, ist zehn- oder 20-mal besser als der Vertrag von Nizza. Wo waren all diese Kritiker damals? ({1}) Ich erlaube mir - auch wenn er jetzt nicht mehr auf seinem Platz sitzt -, Folgendes zu sagen: Eine besondere Art des Kleinmuts hat der bayerische Ministerpräsident demonstriert. Ich muss sagen, es ist schon eine Kunst, sich mit so viel Wehleidigkeit und Missgunst für diese Verfassung auszusprechen. Ich habe die ganze Zeit, als ich gehört habe, wie er genörgelt und gekrittelt hat, gedacht, dieser Mann sei gegen die Verfassung. ({2}) Wenn Herr Stoiber seine Sorge um die Fähigkeit der Europäischen Union, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen, ernst meint - dieses Problem wird zu Recht angesprochen -, dann frage ich mich in der Tat, warum er heute, wenn wir mit der EU-Verfassung einen weiteren Schritt unternehmen wollen, um die Aufnahmefähigkeit der EU sicherzustellen, erklärt, dass er mit der Tradition von Adenauer bis Kohl bricht, die der Türkei immer eine Perspektive geboten haben. Sein Ziel ist wohl, bis an sein Lebensende - koste es, was es wolle - zu verhindern, dass die Türkei der EU beitritt. Das war wahrlich nicht europäisch, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich möchte darauf eingehen, dass gesagt wird, die EU-Verfassung sei militaristisch; denn ich glaube, sie ist das Gegenteil. Das möchte ich in einigen Punkten erläutern. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir mit dieser Verfassung die Grundlage für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen, die Grundlage, um noch viel mehr zu tun, als wir bereits bisher auf dem Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erreicht haben. Ich will nur darauf hinweisen: In Art. I-41 des Verfassungsentwurfs wird ausdrücklich unterstrichen, dass Friedenssicherung, Konfliktverhütung und die Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der VN die Leitlinien für die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein sollen. Ich finde, das sind deutliche Worte. Wer das als Militarisierung bezeichnet, der scheint diese Verfassung nach dem Motto zu lesen: Ich lese nur das, was ich lesen will, und nehme nur das zur Kenntnis, was ich hören und sehen will. Wer so verfährt, nimmt allerdings nicht die Realität zur Kenntnis. ({4}) Ich glaube, dass diese Verantwortung für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auch deshalb so wichtig für uns ist, weil die Menschen in der ganzen Welt auf das europäische Modell schauen. Ich finde, die Worte, die der Bundeskanzler gesagt hat, sind richtig: Wir müssen dankbar sein für die europäische Einigung, die uns so weit gebracht hat, die dafür gesorgt hat, dass es in Europa keine Kriege mehr gegeben hat und dass sich niemand mehr vorstellen kann, dass die Staaten, die jetzt Mitglied in der Europäischen Union sind, jemals wieder Krieg gegeneinander führen werden. Aber wenn dem so ist, brauchen wir nicht nur Dankbarkeit, wir müssen uns auch verantwortlich zeigen für das, was in der Welt geschieht. Dann darf man nicht wegsehen, dann brauchen wir zivile und - ich betone das auch militärische Fähigkeiten, zur Not denjenigen, die Menschenrechte missachten, die Völkermord begehen, in den Arm zu fallen. Wer davor die Augen verschließt und glaubt, alles nur zivil regeln zu können, lässt die Menschen, die von Unrecht und Verfolgung bedroht sind, im Stich. Das wollen wir jedenfalls nicht. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle auch sagen, dass mich die Kritik von ganz links außen an dem so genannten Militarismus schon etwas wundert, wenn ich mir einmal vorstelle, dass die gleichen Leute, die davon träumen - das ist nicht mein Traum; ich sage das deutlich -, Europa müsse ein Gegengewicht zu den USA sein, dass all die Leute, die sagen, die USA agieren nur unilateral und sie agieren militaristisch, es sich haben gefallen lassen, dass es die Amerikaner waren, die uns Europäern in den 90erJahren geholfen haben, die Konflikte auf dem Balkan zu lösen, weil wir dazu nicht in der Lage waren. Das muss sich ändern und das müssen wir aus eigener Kraft schaffen. Das aus eigener Kraft schaffen zu wollen ist kein Militarismus, sondern das ist das Ernstnehmen der Verantwortung, die auch wir für den Frieden in der Welt haben. ({6}) Die europäische Verfassung bietet Instrumente für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: einen gestärkten Außenminister Europas, der gleichzeitig auch Vizepräsident der Kommission und Vorsitzender des Außenministerrates ist; eine ständige strukturierte Zusammenarbeit; die Rüstungsagentur, die es uns erlaubt, die Rüstungsanstrengungen koordiniert und effizient zu gestalten und damit am Ende weniger Geld für Rüstung einsetzen zu müssen. Das ist keine Aufrüstung, das ist Effizienz und angesichts der knappen Budgets ist diese Art von Rüstungskooperation auch richtig. Wer all dies will, trägt auch zur Festigung der transatlantischen Beziehungen bei. Denn eins habe ich gelernt: In Amerika ist man es satt, immer wieder von Europäern zu hören, man wolle endlich mit den Amerikanern auf gleicher Augenhöhe reden usw. Wir sollten nicht darüber lamentieren, sondern wir sollten zeigen - indem wir die Fähigkeiten zu ziviler und militärischer Konfliktprävention, aber auch zur Konfliktlösung haben -, dass wir nicht nur über die gleiche Augenhöhe reden, sondern sie auch haben. Ich glaube, das ist wichtig für die transatlantischen Beziehungen. ({7}) Natürlich ist es richtig, dass wir das alles den Menschen in unserem Land besser erklären müssen; ich schließe mich da ausdrücklich ein. Aber ich glaube - ohne jetzt dem Unkritischen, Pathetischen das Wort reden zu wollen -, entscheidend ist in einem solchen Prozess, dass die Menschen merken: Derjenige, der ihnen Europa erklären will, ist nicht jemand, der daran herummäkelt und -nörgelt, sondern jemand, der von Europa überzeugt ist. Ich finde, da kann der eine oder andere von uns noch etwas lernen. Man braucht auch etwas Herzblut und Enthusiasmus, um den Menschen Europa nahe zu bringen. ({8}) Lassen Sie mich mit der Präambel unseres Grundgesetzes schließen. Dort heißt es: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Was könnte eindrucksvoller zu dem heutigen Tag passen als dieser nun wirklich mit viel Weitsicht und Klugheit formulierte Satz der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes? Denn er macht eins deutlich: Unsere Verfassung, unser Grundgesetz können wir nur in einem europäischen Zusammenhang sehen. Die Präambel unseres Grundgesetzes verpflichtet uns, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Ich bin der festen Überzeugung: Mit der Verfassung für Europa kommen wir auch diesem Auftrag unseres Grundgesetzes einen großen Schritt näher. ({9}) Ohne die Probleme und Dinge, die im Verfassungsentwurf hätten besser sein können, wegdiskutieren zu wollen, sage ich deshalb für mich und, wie ich glaube, auch für meine Fraktion: Heute ist ein guter Tag für Europa. Weil es ein guter Tag für Europa ist, ist es auch ein guter Tag für unser Land. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerne knüpfe ich an die Worte meines Vorredners an und sage: Der heutige Tag ist auch ein guter Tag für den Deutschen Bundestag. ({0}) Wir sagen Ja zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa und wir sagen Ja zu einer Stärkung der Rechte dieses Parlaments. Nie hat der Deutsche Bundestag mehr Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen, als sie ihm durch diese Verfassung und durch die gemeinsame Vereinbarung der Fraktionen eingeräumt werden. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kollegen Gloser und Roth von der SPD, beim Kollegen Steenblock von den Grünen und bei der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP bedanken. Ich bedanke mich auch beim Bundeskanzler - das tue ich selten - dafür, dass er heute in seiner Regierungserklärung zur Ratifizierung zugesagt hat, die Vereinbarung, die wir zwischen den Fraktionen gemeinsam getroffen haben, umzusetzen und einzuhalten. Herzlichen Dank dafür! ({1}) Nun hatte ich beschlossen, heute nur freundlich zu sprechen. ({2}) Der Kollege Müntefering hat aber zwei Fragen gestellt ({3}) und er hat natürlich auch das Recht, die Antworten zu hören. Ich hoffe, er sitzt jetzt irgendwo am Bildschirm und bekommt es mit, sonst wird es ihm Herr Benneter im Zweifelsfall mitteilen. ({4}) Er hat sich hier vorne ans Pult gestellt und unsere Vorsitzende, Frau Merkel, mit strenger Stimme aufgefordert, wenn denn das mit den Mehrfachanmeldungen ({5}) von Firmensitzen an einer Adresse stimme - es stimme wahrscheinlich nicht; es sei eine typische Wahlkampfsache -, dann möge sie doch bitte die Adresse nennen. ({6}) - Auch die Hausnummer. ({7}) - Herr Benneter schreibt mit. - Frau Merkel hat gesagt, es hätten sich 50 Firmen an einer Adresse angemeldet. Ich muss Ihnen sagen: Das war falsch, es sind nämlich 56 Firmen an einer Adresse. Herr Müntefering bzw. Herr Benneter, die Adresse zum Mitschreiben: Es ist die Görlitzer Straße 2 in Neuss. ({8}) - Ja, passen Sie auf. ({9}) - Es geht noch weiter, passen Sie mal auf. Die Handwerkskammer Düsseldorf, die dafür zuständig ist, teilt uns dazu mit: Im Jahre 2004 hat es im Bereich der Handwerkskammer 1799 Registrierungen in den zulassungsfreien Handwerken gegeben. Das ist ein Anstieg gegenüber 2003 um 550 Prozent. Von den 1799 Registrierungen entfallen zwei Drittel auf den Fliesenlegerberuf. - Dass da irgendetwas schief läuft, wird doch jedermann einsehen. Sie haben jetzt die Adresse und können der Sache nachgehen. Wir erkundigen uns in einer Woche, ob Sie es getan haben. ({10}) Das war aber erst Teil eins. Sie müssen Herrn Müntefering noch etwas mitteilen, nämlich den Teil zwei. ({11}) Es geht um das Thema Rumänien. Es wird noch besser. ({12}) Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung ihren Verhandlungsfehler aus dem Jahre 2005 mit einer Rede von Peter Hintze aus dem Jahre 2001 entschuldigt. Herr Müntefering, es ist ein Unterschied, etwas zu zitieren und das Zitat auch richtig zu verstehen. Herr Müntefering hat mich richtig zitiert, aber er hat es falsch verstanden. Ich will es ihm gerne erläutern. ({13}) - Sehen Sie, am Schluss der Debatte werden Sie vielleicht noch einen Erkenntnisgewinn haben. 2001 habe ich vor einem Konstruktionsfehler der Verträge gewarnt, der heute offen zutage tritt. Bei der Osterweiterung der EU hat die Bundesregierung sehr lange Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die sofortige Dienstleistungsfreiheit für fast alle Arbeitsfelder vereinbart. Daraus entsteht ein übergroßer Druck, der sich im Dienstleistungssektor entladen hat. Jetzt erkennen Sie diesen Konstruktionsfehler. Was tun Sie? Sie reparieren, wie so oft, an der falschen Stelle. Sie haben es in den Verhandlungen mit Rumänien und Bulgarien schlicht vergessen, diese Erkenntnisse aufzunehmen und die Übergangsfristen im Dienstleistungsbereich entsprechend zu ändern. Heute reden Sie stattdessen von Sozialdumping und betreiben die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen. Damit greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber wieder voll ins Leere; denn die Dienstleister, die hier antreten - ich habe Ihnen eben die Zahlen der Handwerkskammer Düsseldorf genannt - sind keine Arbeitnehmer, die unter die Allgemeinverbindlichkeit fallen würden, sondern Selbstständige, für die es keine Arbeitslöhne mit Tarifbindung gibt. Sie präsentieren uns also wieder eine Scheinlösung. ({14}) Ich erwarte ja nicht, dass jeder dies weiß; aber ich kann es doch vom Fraktionsvorsitzenden der SPD erwarten. Er hat damit heute ganz unbeabsichtigt die Regierung in die Bredouille gebracht. ({15}) - Jetzt bekomme ich den freundlichen Zwischenruf „Scheinselbstständige“. Wer ist denn nach der bundesstaatlichen Ordnung dafür zuständig? ({16}) Wer ist denn für die Missbräuche in den Schlachthöfen zuständig? ({17}) Zuständig ist die Bundesfinanzverwaltung. Es wäre also sehr positiv, wenn Sie auch diesen Fehler noch in Ihrer Regierungszeit ausräumten. Darum bitte ich. ({18}) Herr Ströbele - auch er hat versucht, uns aufzuklären; der bayerische Ministerpräsident hat darauf bereits präzise geantwortet - hat davon gesprochen, dass die Bundesregierung die Dienstleistungsrichtlinie gestoppt habe, womit quasi alles im grünen Bereich sei. Mein Kollege Arnold Vaatz nennt so etwas, wenn die Dinge komplett durcheinander geworfen werden, normalerweise eine kategoriale Verwirrung. Mit der Dienstleistungsrichtlinie verhält es sich nämlich vollkommen anders. Der Herr Bundeskanzler, der im Moment leider nicht anwesend sein kann, feierte sie noch im Dezember als das wichtigste Instrument für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa. Jetzt hat er sie angeblich aus dem Verkehr gezogen. Das, worüber wir uns unterhalten, geschieht aber gar nicht auf dem Boden dieser Richtlinie, die ja noch nicht in Kraft getreten ist, sondern auf dem Boden der bestehenden Verträge und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Alle Fehler, die sich dort eingeschlichen haben, sind zum einen Verhandlungsfehler, die Sie bei den Beitrittsverträgen begangen haben, und zum anderen Aufsichtsfehler der Verwaltung, für die Sie Verantwortung tragen. ({19}) Die Verfassung, die wir heute verabschieden, ist ein Schlüssel für ein starkes Europa im 21. Jahrhundert. In den letzten Tagen bin ich oft gefragt worden, ob ich verstehen könnte, dass man gegen diese Verfassung sei. Auch wenn es vielleicht den einen oder anderen Kollegen schmerzt, sage ich: Ich kann es nicht verstehen, weil ich diese Verfassung wirklich als einen Fortschritt empfinde. Gerade das, was uns an Europa zu schaffen macht - dass es nämlich neben den vielen guten und erfolgreichen Dingen immer wieder auch unsinnige Rechtsetzungen gibt, gegen die wir hinterher mit Mühe ankämpfen müssen und die durch unsere Bundesregierung manchmal noch unsinniger gemacht werden -, überwinden wir dadurch, dass wir, die Parlamentarier, nach In-Kraft-Treten dieser Verfassung früher eingeschaltet werden. Diese Parlamentarisierung Europas stellt den großen Fortschritt in dieser Verfassung dar. ({20}) In mancher Zeitung ist jetzt zu lesen, dass zu wenig über die Verfassung gesprochen worden sei. Ich unterrichte die Journalisten hiermit davon, dass wir in diesem Saal sehr oft darüber gesprochen haben, wenn auch zugegebenermaßen in einem sehr überschaubaren Kreis von Kolleginnen und Kollegen. Manche, die sich heute erregen - nicht alle; ich nehme einen Kollegen, der eine Kurzintervention gemacht hat, ausdrücklich aus, er war immer dabei -, haben die Möglichkeiten zur Erörterung des Verfassungsvertrags überhaupt nicht wahrgenommen. Dies bedauere ich sehr. ({21}) Ich spreche jetzt hoffentlich für alle Fraktionen dieses Hauses: Die beiden Vertreter des Bundestages im Konvent, Jürgen Meyer von der SPD und Peter Altmaier von der CDU/CSU, haben uns über zweieinhalb Jahre in Ausschüssen und anderen Gremien, aber auch hier im Plenum so unterrichtet, dass jeder, der guten Willens ist, wirklich voll in der Materie sein und sich auch einbringen konnte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({22}) Lassen Sie mich noch etwas zu dem Wertebezug sagen, der den allermeisten in diesem Hause sehr am Herzen liegt. Diese Verfassung ist von einem klaren Wertebezug geprägt. Was anderes ist es denn, wenn die unverletzliche Würde des Menschen, so wie wir sie im Grundgesetz beschreiben, auch hier in dieser neuen Verfassung beschrieben ist? Was ist denn ein besserer Ausdruck des christlichen Verständnisses vom Menschen als die unverletzliche Würde des einzelnen Menschen? ({23}) Was ist denn anderes Ausdruck unserer Werte als die rechtsstaatliche Ordnung, die wir uns auch für dieses Europa wünschen? Diese Verfassung hat mehr Wertebezug als jede europäische Vertragsgebung zuvor. ({24}) Dem ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, einem großen Liberalen, verdanken wir den wunderschönen Gedanken, dass Europa auf drei Hügeln errichtet ist. Er nannte die Akropolis in Athen, das Kapitol in Rom und Golgatha bei Jerusalem. Das geistige Fundament Europas ist die griechische Philosophie, das römische Recht und das jüdisch-christliche Erbe. Von diesem Geist - ich nehme alle Mütter und Väter dieser Verfassung in Schutz, die sie vorbereitet haben - ist die Verfassung für Europa geprägt. Wir können stolz sein, als Abgeordnete heute darüber entscheiden und diese Verfassung auf den Weg bringen zu können. ({25}) Was unterscheidet sie noch von den bisherigen Vertragswerken? Wir haben in Deutschland und in Europa gute und fähige Diplomaten. Sie haben das Geschäft in der Vergangenheit gemacht. Aber diese Verfassung - das kann man ihr ansehen - ist zum ersten Mal das Werk der Parlamentarier in Europa. Deswegen hat die Verfassung ein ganz deutliches parlamentarisches Plus. Das macht sie demokratischer. Eben hat hier eine Kollegin den Art. I zitiert; es lohnt sich immer wieder, ihn zu hören und auch zu lesen. Dieser Art. I leitet nach der Präambel eine Verfassung ein, die mehr Transparenz, mehr Effizienz, mehr Demokratie und mehr Beteiligung des Europaparlaments und auch des Deutschen Bundestages sichert als jede Verfassung zuvor. Dieses Plus an Demokratie und parlamentarischer Beteiligung verdanken wir denen, die diese Verfassung vorbereitet haben. Dass wir heute zu ihr Ja sagen können, ist eine gute Sache. ({26}) Ich freue mich, dass es uns in intensiven Gesprächen gelungen ist - diese haben die Beteiligten in vielen Stunden genervt und haben vielleicht auch die eine oder andere Diskussion zu Hause mit sich gebracht, sodass man Tag und Nacht nichts anderes machen konnte -, diesem Anspruch der neuen Verfassung gerecht zu werden und unsere Mitwirkung als Bundestag im Rahmen dieser neuen Verfassung gut vorzubereiten. Es gibt eine Idee in der europäischen Verfassung, die den europäischen Verträgen bisher fremd war, nämlich die Idee, dass die Kontrolle über das Subsidiaritätsprinzip nicht bei denen verbleibt, die für die Rechtsetzungsakte selbst verantwortlich sind, sondern bei denen liegt, die als Parlamentarier in den Nationalstaaten die Verantwortung für die Auswirkungen europäischer Rechtsetzungsakte zu tragen haben. Das ist ein ganz großes Plus. Wir haben die Chance, am Beginn eines europäischen Rechtsetzungsaktes seine Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit zu unterstreichen oder entsprechende Änderungen zu verlangen. Dieses Instrument wollen wir wahrnehmen. Dazu sind wir gut gerüstet. ({27}) Ich freue mich, dass der Vorsitzende des Europaausschusses, Matthias Wissmann, bei uns ist. Wir haben uns im Europaausschuss - damit meine ich auch die vielen anderen Kollegen aus allen Parteien - darauf verständigt, dass wir als Europaausschuss die Last auf uns nehmen, auch in den sitzungsfreien Zeiten dafür zu sorgen, dass im Rahmen der Fristen, die die europäische Verfassung setzt, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde das volle Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestages gewährleistet ist. Das haben wir Kollegen uns im Europaausschuss auferlegt. Das werden wir auch tun. Wir werden das Plenum auch rechtzeitig unterrichten. ({28}) Wir brauchen ein Weiteres. Wir brauchen das Thema der europäischen Rechtsetzungsakte, der europäischen Gesetzgebung auch hier in der Mitte unseres Plenums. Wir wünschen uns regelmäßige Fragestunden mit dem Schwerpunkt Europa. Wir wünschen uns, dass in all den Fachausschüssen dieses Deutschen Bundestages die großen Europathemen nicht an den Schluss der Tagesordnung geschoben werden, wo die Erschöpfung eintritt und wo man dann unter „ferner liefen“ eine Sammelliste abhakt, sondern wir wünschen uns, dass sich jeder Kollege und jede Kollegin bei der Arbeit über die europäische Dimension des eigenen Handelns klar ist und sie auch mit einbringt. ({29}) Wir treffen diese Entscheidung heute unter zwei Flaggen, unter der Flagge der Bundesrepublik Deutschland und unter der Flagge Europas, die zwölf Sterne trägt, um die Verschiedenheit der europäischen Völker und die wachsende Zahl der Mitgliedstaaten auszudrücken. Wir tun das als nationales Parlament in einer europäischen Verantwortung. Wir tun das für uns, wir tun das für unsere Kinder und für zukünftige Generationen. Danke schön. ({30})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Martin Hohmann.

Martin Hohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003152, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gegen den Verfassungsvertrag sprechen drei große Bedenken. Zum Ersten: Es entscheidet nicht der Souverän, das deutsche Volk. Bei ihm aber muss die unmittelbare Letztentscheidung liegen. Gewiss kann man einwenden, das sehe unser Grundgesetz nicht vor. Andererseits schließt Art. 20 Abs. 2 diese Entscheidung gerade nicht aus. Der Respekt vor dem Willen des deutschen Volkes hätte es verlangt, eine Entscheidung von solch eminenter Wichtigkeit für die Zukunft des gesamten politischen Lebens unmittelbar in die Hände der Wahlbürgerschaft zu legen. Außerdem zeigt die Terminierung dieser Sitzung, mit welchem relativen Unernst das Verfahren betrieben wird. Die heutige vorgezogene Bundestagsentscheidung muss nach dem Willen des Bundeskanzlers als Lockmittel für die als widerspenstig eingeschätzten Franzosen herhalten. Zum Zweiten: Es wurde versprochen, die Zuständigkeiten innerhalb der Gemeinschaft klar, durchsichtig und insbesondere nach dem Subsidiaritätsprinzip zu regeln. Gehalten wurde das nicht. Zur Frustbekämpfung der EU-Bürger wäre es aber sehr wichtig gewesen; denn viele Bürger fühlen sich von anonymen Mächten und nicht greifbaren Verantwortlichkeiten geradezu bedroht. ({0}) Europa wirkt für sie nicht mehr wie eine politische Verheißung, wie das in der Nachkriegszeit und lange danach war, sondern wie ein undurchschaubarer Moloch, geradezu wie eine Bedrohung. Viele Menschen haben nicht mehr den Eindruck, dass Europa ihnen dient, sondern empfinden sich als Spielmaterial für weit entfernte, anonyme Bürokraten. Gegen das Gefühl des Ausgeliefertseins hätte eine glasklare Kompetenzverteilung geholfen. Diese Chance wurde weitgehend ausgeschlagen. Die EU weitet stattdessen ihre Kompetenzen aus. Keiner beschreibt die Methode besser als Jean-Claude Juncker. Er sagt: Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt. Wenn zukünftig 80 Prozent der Entscheidungen in Brüssel und Straßburg fallen, dann sollte der Bundestag daraus Konsequenzen ziehen. Er könnte sich entsprechend verkleinern, er könnte 80 Prozent seiner Kosten einsparen. Vielleicht könnte man ({1}) ihn in eine Beschäftigungsgesellschaft für entmachtete Abgeordnete umwandeln. Mit drastisch reduzierten Befugnissen bei gleichem Aufwand weiterzuarbeiten, das ist politische Hochstapelei. Zum Dritten: Es fehlt ein klarer Gottesbezug. Europa ist ohne seine christlichen Wurzeln nicht denkbar. Europa braucht mehr denn je ein Wertegefüge. Dieses kann aufgrund der zweitausendjährigen europäischen Geschichte und Kultur nur die Botschaft von Jesus Christus sein. Aus dieser Botschaft erwuchsen die Aufklärung und die Tugend der Toleranz. Zur Stärkung und Rückbindung der Toleranz sind christliche Werte unabdingbar, für die der Gottesbezug symbolisch steht. Ohne Gott geht Europa zum Teufel. Die riesige Aufgabe, rund 30 europäische Völker zu einem harmonischen und friedlichen Zusammenleben zu einen, übersteigt menschliches Vermögen. Dazu braucht es Gottes Segen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Beitrag zum Thema „Fundamentalismus“ jetzt ein Beitrag zum Thema „Europa - in Vielfalt geeint“. ({0}) Wenn wir heute die Verfassung ratifizieren, dann haben wir in der EU die Demokratisierung durch Parlamentarisierung im hohen Maße erreicht. Ich erinnere an das, worum es geht: „Als wir vor sieben Jahren hier die Römischen Verträge ratifizierten, wussten wir, dass die parlamentarische Institution der zu schaffenden Gemeinschaften unAxel Schäfer ({1}) terentwickelt sein würde und dass auf dem Weg von den nationalen Parlamenten zu den europäischen Institutionen parlamentarische Rechte verloren gehen würden.“ So Karl Mommer, Vizepräsident des Bundestages, bei der Einbringung eines Gesetzentwurfes der SPD für die Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1964. Die Direktwahlakte wurde schließlich 1976 in der EG beschlossen. Bundeskanzler damals: Helmut Schmidt, SPD. Die Forderung nach „einer europäischen Föderation mit demokratischer Verfassung“ steht im Wahlprogramm von 1978. Spitzenkandidat: Willy Brandt. Der europäische Konvent, der erst zur Grundrechte-Charta und dann zum „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ führte, wurde von Gerhard Schröder als EU-Ratspräsident auf den Weg gebracht. So viel zum besonderen Beitrag der deutschen Sozialdemokratie zum Gelingen des heutigen Tages. ({2}) Was heißt „Demokratisierung durch Parlamentarismus in Europa“ konkret? Das Europäische Parlament entscheidet bei circa 95 Prozent aller Gesetze gleichberechtigt mit dem Rat. Nur zur Erinnerung: Bis 1999 hatte bei allen strittigen Gesetzen der Ministerrat immer das letzte Wort, heute haben wir gleiche Augenhöhe erreicht. Das Europäische Parlament hat, entgegen vielen Äußerungen von Europaskeptikern und -gegnern, natürlich auch das Initiativrecht. Lieber Kollege Müller, lesen Sie in den Art. 330 und 332 nach. ({3}) Das Europäische Parlament wählt die Kommission und hat schon vor der Investitur 2004 gezeigt, was das bedeutet. Die Mitgliedstaaten werden niemals mehr Kandidatinnen oder Kandidaten vorschlagen, bei denen die Abgeordneten in Straßburg nur aufstehen und klatschen. Alle künftigen Kommissare werden vor der Wahl einer Anhörung unterzogen und dann beurteilt - eine Möglichkeit der Volksvertretung, von der wir in Deutschland allerdings nur träumen können. Die Parlamentarisierung Europas geht einher mit der Europäisierung des Bundestages. Sie bedeutet andere Verfahren und erfordert von uns allen eine andere Mentalität. Europa ist nicht mehr nur ein großes Haus mit Büro und Telekommunikation. Europa, das sind wir, Idee und Realität einer Gemeinschaft, die in unseren Köpfen denkt und in unseren Herzen lebt. Deshalb müssen wir schneller und besser werden, wenn es um die Beteiligung an der europäischen Rechtsetzung geht, und gründlicher, was die Umsetzung auf nationaler Ebene anbelangt. Deshalb müssen wir die Subsidiaritätskontrolle verantwortungsbewusst handhaben. Das bedeutet eben nicht, dass wir künftig möglichst viele EU-Initiativen strikt anhalten und konsequent einwenden, sondern wir wollen europäisches Gemeinschaftsrecht strikt einhalten und konsequent anwenden. Wir müssen auch als Bundestag in Brüssel stärker präsent sein. Als Abgeordneter weise ich in diesem Zusammenhang selbstkritisch darauf hin, dass wir in Deutschland noch von Elementen europäischer Demokratie lernen können. Das Bürgerbegehren ist ein neues Instrument auf EU-Ebene, das auf nationaler Ebene fehlt. Den Ombudsmann gibt es in der Europäischen Union und in zahlreichen Mitgliedstaaten; bei uns ist er hingegen weitgehend unbekannt. Öffentliche Ausschusssitzungen, wie sie im Europäischen Parlament selbstverständlich sind, gehören im Bundestag leider und unverständlicherweise heute noch zur Ausnahme. Es gibt also noch viel zu tun. Aber - das merke ich nur deshalb kritisch an, weil ich selber früher Mitglied des Europäischen Parlaments war - unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel und Straßburg müssen sich fragen, ob es auf Dauer zu verantworten ist, 40 Sitzungswochen im Jahr durchzuführen. Das entspricht nicht mehr den heutigen Notwendigkeiten. Europaabgeordnete müssen stärker hier vor Ort präsent sein. ({4}) Als Bundestagsfraktion betonen wir heute unsere europäische Identität, als Angehörige von europäischen Parteifamilien können wir in EU-Angelegenheiten deshalb nicht mehr nationalstaatlich argumentieren. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen - an dieser Stelle ist die CDU/CSU gefordert -: Der tschechische Präsident Václav Klaus, Mitglied der christdemokratisch-konservativen Parteifamilie Europas und der ODS, beurteilt die EU-Verfassung - ich zitiere wörtlich - als „leer und schlecht“ und preist zugleich „die größtmögliche Erweiterung: Türkei, Marokko, Ukraine, Kasachstan - je mehr, desto besser“. Ich erwarte jetzt von der CDU/CSU, dass sie mit dieser Position in der Öffentlichkeit kritisch umgeht und ihre heute von der Kollegin Dr. Merkel und von Ministerpräsident Stoiber dargelegte Position nicht nur in diesem Hause, sondern auch in ihrer eigenen Parteifamilie deutlich macht. ({5}) Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an der Geschichte, und zwar an Helmut Schmidt, dem früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler. Er hat auf dem Parteitag der Labour Party 1977, als es in Großbritannien um die Frage „Europa - ja oder nein?“ ging, eine begeisternde und fulminante Rede gegen die Europaskeptiker und Europakritiker in der Labour Party gehalten. Das war mutig und es war keine Einmischung in innere Angelegenheiten; es war vielmehr eine praktizierte - wenn auch schwierige - sozialdemokratische „Familienpolitik“. Diese Form von öffentlicher Rede und Gegenrede ist wichtig, weil über die EU-Verfassung in Tschechien bekanntlich vom Volk abgestimmt wird. Bei uns ist das leider nicht der Fall. Viele in der SPD-Fraktion betrachten dies als schwerwiegenden Fehler. Ich sage noch einmal, an die Kollegin Dr. Merkel und Herrn Ministerpräsident Stoiber gewandt: Es lag im vergangenen Oktober in Ihren Händen, die Initiative von SPD und Rot-Grün aufzugreifen, ({6}) um gemeinsam mit der FDP und uns zu einer Lösung zu kommen, auch hier plebiszitäre Elemente in die Verfas16382 Axel Schäfer ({7}) sung aufzunehmen. Sie haben das nicht gewollt, weil Sie intern zerstritten waren. ({8}) Den meisten - selbst den Gegnern von Referenden in Deutschland - ist heute klar, wie wichtig es gewesen wäre, eine breite Debatte zu führen. Wir hätten die deutsche Gretchenfrage beantworten müssen: Wie hältst du es mit der Integration? Spanien war ein gutes Beispiel für eine freiwillige, nicht bindende Abstimmung. Gerhard Schröder hat sich dort erfolgreich für ein Ja eingesetzt, wie er es auch zurzeit in Frankreich tut. Dieser deutsche Bundeskanzler agiert als Europäer. Dafür sollte ihm der gesamte Bundestag ausdrücklich danken. ({9}) Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windräder. Wir wollen hier Windräder bauen. Wir bauen an einem offenen, demokratischen, freien und solidarischen Europa. Nur Nationalisten bauen noch Mauern, und zwar in den Köpfen. Die reale Mauer in Europa ist am 9. November 1989 gefallen. Wir wollen heute dazu beitragen, dass Europa auch durch unsere Entscheidung in Deutschland in Vielfalt geeint wird. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss der Debatte. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, teile ich mit, dass zwei Kollegen nach § 31 unserer Geschäftsord- nung um das Wort zu einer mündlichen Erklärung zu ih- rem Abstimmungsverhalten gebeten haben. Das sind die Kollegen Dr. Peter Gauweiler und Manfred Carstens, de- nen ich anschließend das Wort erteile. Darüber hinaus liegen etwa 80 persönliche Erklärungen zur Abstim- mung vor, die zu Protokoll genommen werden.1) Ich gebe nun das Wort dem Kollegen Dr. Peter Gauweiler.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich gebe gemäß § 31 der Geschäfts- ordnung des Bundestags folgende Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten ab. Mit dem Gesetzentwurf soll ein Verfassungsvertrag in Kraft gesetzt werden, der in Art. I-6 folgende Regelung enthält: Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zustän- digkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Damit wird erstmalig - und erstmalig zu einer entspre- chenden 40-jährigen Rechtsprechung des Europäischen 1) Anlagen 2 bis 5 Gerichtshofs, der die Bundesrepublik Deutschland bis zum heutigen Tage immer widersprochen hat - mit Zustimmung des Deutschen Bundestages kraft Zustimmungsgesetzes nicht nur der Vorrang des neuen Verfassungsvertrags als solcher, sondern ausdrücklich und uneingeschränkt auch der Vorrang des von den EU-Organen erlassenen Sekundär- und Tertiärrechts vor allem deutschen Recht einschließlich des Grundgesetzes mitsamt den Grundrechten postuliert. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die Mitglieder des Deutschen Bundestags berechtigt sind, das Grundgesetz wie die Landesverfassungen zur Disposition der EU-Organe zu stellen. Namhafte Verfassungsrechtler haben in den letzten Wochen eingehend darauf hingewiesen, dass die mit der Verabschiedung des Gesetzes vom Bundestag ausgesprochene Zustimmung zur europäischen Verfassung nicht mehr als normale Grundgesetzänderung bewertet werden darf, sondern als Ersetzung und Verdrängung des Grundgesetzes durch ein anders strukturiertes und verfasstes System angesehen werden muss. Dafür gibt das Grundgesetz den Bundestagsabgeordneten keine Handreiche. Vielmehr bestimmt das Grundgesetz, dass Änderungen des Grundgesetzes, die seine Basis auch nur „berühren“, unzulässig sind. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gibt dem Bundestag nicht das Recht, sich im Namen der und unter Berufung auf die grundgesetzliche Legitimation über das Grundgesetz hinwegzusetzen. Das Grundgesetz hat die Verfahrensweise für den Fall, dass eine neue, dem Grundgesetz übergeordnete Verfassung in Kraft treten soll, in Art. 146 ausdrücklich und klar geregelt. Dort heißt es: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Damit besteht heute die begründete Gefahr, dass durch das soeben zur Abstimmung vorgelegte Gesetz das demokratische Fundamentalprinzip verletzt wird, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Ein derartig weit reichendes Verfassungsgesetz kann nur auf einem Referendum des deutschen Volkes über ein neues Verfassungsgesetz beruhen. Dass der Bundestag, der unserer Bevölkerung eine Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag ausdrücklich verweigert, mit seiner heutigen Abstimmung auch noch auf unser Nachbarland Frankreich Einfluss nehmen will, wo in wenigen Tagen eine Volksabstimmung stattfindet, wirkt vor diesem Hintergrund besonders unangebracht. Es gibt eine Reihe vielfältiger inhaltlicher Einwendungen gegen den Verfassungsvertrag, die mich an der Zustimmung hindern und die ich im Einzelnen schriftlich zu Protokoll gebe. Diese Einwände gegen das Zustimmungsgesetz machen eine Verfassungsbeschwerde und eine Organklage unumgänglich, um dem Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit zu geben, nach Maßgabe seines Beschlusses vom 28. April 2005 die Verfassungsmäßigkeit dieses Zustimmungsgesetzes und der mit der Verabschiedung verbundenen Vorgänge in einem Hauptsacheverfahren zu überprüfen. Dies wird geschehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Manfred Carstens das Wort.

Manfred Carstens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000322, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meiner Fraktion gegenüber habe ich bereits dargelegt, was ich jetzt noch vor dem Deutschen Bundestag sagen möchte: ({0}) weswegen ich mich nicht imstande sehe, dem Vertrag über eine Verfassung für Europa zuzustimmen. Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass dieses Vertragswerk nach meiner Einschätzung eine Verbesserung des Vertrages von Nizza, also ein Fortschritt, ist. Daher möchte ich mich bei denen bedanken, die über diesen Vertrag verhandelt haben. Dass ich gegen diesen Verfassungsvertrag stimme, liegt nicht daran, dass ich irgendetwas gegen Europa habe. Mir liegt sehr an einer gedeihlichen Weiterentwicklung Europas. Es gibt aber einen Aspekt, der für mich so bedeutsam ist, dass ich nicht zustimmen kann. Obwohl man sich sehr bemüht hat, hat man nach all den Beratungen in dem Verfassungsvertrag keinen Platz für Gott und die Verantwortung vor ihm gefunden. Damit meine ich Gott den Dreifaltigen, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Man könnte sagen: Auch in vorherigen europäischen Verträgen war die Bezeichnung „Gott“ nicht enthalten, also ist es nicht schlimm, wenn sie auch in diesen Vertrag nicht aufgenommen ist. Wer das sagt, der hat nicht die Bedeutung dieses Verfassungsvertrages vor Augen: Es ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass man sich durch einen Vertrag eine Verfassung gibt. Diese Verfassung ist von besonderer Bedeutung. Hinzu kommt, dass der Begriff „Gott“ nicht versehentlich nicht aufgenommen wurde; man hat IHN also nicht vergessen. Vielmehr hat es erhebliche Anstrengungen gegeben, nicht zuletzt seitens der CDU/CSU-Fraktion, hier im Deutschen Bundestag und auf europäischer Ebene, das nachträglich zu heilen. Diejenigen aber, die sich dagegengestellt haben, Gott in das Verfassungsgesetz aufzunehmen, haben sich durchgesetzt, sodass Gott - aus welchen Gründen auch immer - wissentlich und gewollt nicht in die Verfassung gekommen ist. Aufgrund dieses Tatbestandes kann ich diesem Verfassungsgesetz nicht zustimmen. Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass ich zuinnerst davon überzeugt bin, dass das große Werk, Europa in den nächsten Jahrzehnten - und hoffentlich länger in Frieden und Freiheit, in gegenseitiger Rücksichtnahme und partnerschaftlich zusammenzuführen, ohne Gottes Hilfe nicht zu vollbringen ist. Da das, was in diesem Vertrag fehlt, derartig nachhaltig ist, kann ich meine Zustimmung einfach nicht geben. Ich wünsche diesem Europa, zu dem wir alle gehören, eine gute Zukunft, obwohl ich hier jetzt Nein sagen muss. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa. Hierbei handelt es sich um die Drucksachen 15/4900 und 15/4939. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5491, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Annahme dieses Gesetzentwurfs bei der zweiten Beratung und der Schlussabstimmung die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 401 Stimmen, erforderlich ist. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen Plätze eingenommen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ich darf während dieser namentlichen Abstimmung darauf hinweisen, dass unmittelbar im Anschluss daran weitere, mit diesem Verfassungsvertrag verbundene Entscheidungen zu Begleitgesetzen und zu einem Entschließungsantrag anstehen. Ich bitte um entsprechende Präsenz. Gibt es noch einen Kollegen oder eine Kollegin, der oder die die Stimme nicht abgeben konnte? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich unterbreche die Sitzung bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses führen wir die weiteren Abstimmungen zu diesem Tagesordnungspunkt durch. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa bekannt. Abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 569, ({0}) mit Nein haben gestimmt 23; es gibt zwei Enthaltungen. Damit ist der Gesetzentwurf mit der erforderlichen Mehrheit angenommen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 594; davon ja: 569 nein: 23 enthalten: 2 Ja SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({1}) Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({2}) Klaus Barthel ({3}) Sören Bartol Sabine Bätzing Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({4}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({5}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Elvira Drobinski-Weiss Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Martina Eickhoff Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Rainer Fornahl Hans Forster Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({9}) Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gisela Hilbrecht Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Walter Hoffmann ({11}) Iris Hoffmann ({12}) Frank Hofmann ({13}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Klaus-Werner Jonas Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Dr. Heinz Köhler ({14}) Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({15}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Hilde Mattheis Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({16}) Christian Müller ({17}) Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({18}) Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Rene Röspel Karin Roth ({19}) Michael Roth ({20}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({21}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({22}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Siegfried Scheffler Horst Schild ({23}) Ulla Schmidt ({24}) Silvia Schmidt ({25}) Dagmar Schmidt ({26}) Wilhelm Schmidt ({27}) Heinz Schmitt ({28}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Brigitte Schulte ({29}) Reinhard Schultz ({30}) Swen Schulz ({31}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Dr. Peter Struck Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({32}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({33}) Gunter Weißgerber ({34}) Hildegard Wester Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({35}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({36}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({37}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer Dr. Christoph Zöpel CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Artur Auernhammer Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({38}) Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Carl-Eduard von Bismarck Renate Blank Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert ({39}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({40}) Cajus Julius Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Roland Dieckmann Vera Dominke Rainer Eppelmann Anke Eymer ({41}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({42}) Dirk Fischer ({43}) Axel E. Fischer ({44}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger-Heinrich Haibach Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Klaus Hofbauer Joachim Hörster Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Irmgard Karwatzki Volker Kauder Siegfried Kauder ({45}) Gerlinde Kaupa Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({46}) Norbert Königshofen Thomas Kossendey Michael Kretschmer Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({47}) Dr. Karl A. Lamers ({48}) Helmut Lamp Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({49}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({50}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Erwin Marschewski ({51}) Stephan Mayer ({52}) Dr. Conny Mayer ({53}) Dr. Martin Mayer ({54}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({55}) Maria Michalk Hans Michelbach Klaus Minkel Marlene Mortler Stefan Müller ({56}) Bernward Müller ({57}) Bernd Neumann ({58}) Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({59}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({60}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({61}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Angela Schmid Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({62}) Andreas Schmidt ({63}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Matthias Sehling Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Erika Steinbach Christian von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({64}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({65}) Gerald Weiß ({66}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({67}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({68}) Volker Beck ({69}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({70}) Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Jutta Krüger-Jacob Renate Künast Undine Kurth ({71}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({72}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({73}) Krista Sager Christine Scheel Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({74}) Werner Schulz ({75}) Ursula Sowa Silke Stokar von Neuforn Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({76}) FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({77}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Helga Daub Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({78}) Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({79}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Günther Friedrich Nolting ({80}) Eberhard Otto ({81}) Detlef Parr Gisela Piltz Dr. Andreas Pinkwart Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Nein CDU/CSU Manfred Carstens ({82}) Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Albrecht Feibel Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({83}) Klaus-Jürgen Hedrich Ernst Hinsken Robert Hochbaum Manfred Kolbe Hartmut Koschyk Rudolf Kraus Barbara Lanzinger Doris Meyer ({84}) Franz Obermeier Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Johannes Singhammer Fraktionslose Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch Enthalten SPD Dr. Hermann Scheer Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns allen ist bewusst, dass dies keine Routineentscheidung gewesen ist. ({85}) Mit dieser überwältigenden Zustimmung zum europäischen Verfassungsvertrag setzt der Deutsche Bundestag die Serie seiner eindrucksvollen Voten zum europäischen Integrationsprozess und zur Rolle Deutschlands in Europa fort. ({86}) Ich will für die Besucher dieser Plenarsitzung, aber auch für die Fernsehzuschauer und Rundfunkzuhörer darauf hinweisen, dass mit dieser Entscheidung ein monatelanger Beratungs- und Abwägungsprozess zum Abschluss gebracht worden ist, dem Dutzende von Sitzungen in Ausschüssen des Deutschen Bundestages, in Arbeitsgruppen, in den Fraktionen und in Fachkonferenzen und eben nicht nur im Plenum des Deutschen Bundestages vorausgegangen sind. ({87}) Wir kommen nun zu den weiteren Abstimmungen in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 4 b. Abweichend von der in der Tagesordnung vorgesehenen Reihenfolge kommen wir zunächst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4716 zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5492, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Nun kommen wir zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/4925. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5492, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. ({88}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Der Gesetzentwurf ist einstimmig vom Deutschen Bundestag angenommen. ({89}) Wir stimmen nun über den interfraktionellen Entschließungsantrag auf Drucksache 15/5493 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch dies ist einstimmig so beschlossen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/5492 fort. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4936 zur Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer Gesetzgebung durch die getroffenen Entscheidungen für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Empfehlung ist einstimmig so angenommen. Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4937 mit dem Titel „Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei der Rechtsetzung der Europäischen Union nach InKraft-Treten des Verfassungsvertrags“ ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Damit sind wir am Schluss dieses Tagesordnungspunktes. Ich bedanke mich bei allen für die disziplinierte Mitwirkung. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ute Granold, Siegfried Kauder ({90}), Dr. Jürgen Gehb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 232 a, 233 c StGB ({91}) - Drucksache 15/5326 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({92}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Ute Granold für die CDU/CSUFraktion. ({93})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben bereits im letzten Jahr das Thema Menschenhandelsdelikte im Deutschen Bundestag beraten und darüber abgestimmt. Dabei haben wir im Wesentlichen den Rahmenbeschluss der EU vom Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt. In den Beratungen konnte die Union wesentliche Verbesserungen gegenüber dem Entwurf der Koalition erreichen. Wir hatten schon damals einen Antrag eingebracht, die Freier von Zwangsprostituierten unter Strafe zu stellen. Mit Rücksicht auf die bereits abgelaufene Umsetzungsfrist und im Hinblick auf die Zusicherung der Bundesregierung, unseren Antrag ergebnisoffen zu beraten, waren wir einverstanden, unseren Antrag abzukoppeln. Heute ist unser Gesetzentwurf, der noch um die Überwachung der Telekommunikation erweitert wurde - hier sehen wir weiteren Handlungsbedarf -, in der Beratung. Die jüngst durchgeführte Sachverständigenanhörung zu den Menschenhandelsdelikten hat ergeben, dass der Menschenhandel typischerweise konspirativ verübt wird. Deshalb kommt der Telefonüberwachung nicht nur bei den schwersten Fällen des Menschenhandels höchster Stellenwert zu. Menschenhandel - das heißt im Kern: Frauen- und Mädchenhandel - war und ist für die Union ein Thema, das ständig auf der Agenda ist. Ich kann beim besten Willen die Aufgeregtheit von Bündnis 90/Die Grünen nicht verstehen. ({0}) Offenbar geht es Ihnen mehr um die Bekämpfung der Union als um die Rechte der geschändeten Frauen. Dank des Visa-Untersuchungsausschusses steht der Menschenhandel im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Da besteht Betroffenheit. Es geht um die Verletzung der Menschenrechte und um die Verletzung der Menschenwürde in übelster Form. Die Union fordert die Bekämpfung des Menschenhandels - konsequent mit allen Mitteln und in allen Bereichen. Dazu gehören nicht nur die jüngst beschlossene Verschärfung der Gesetze gegen Menschenhändler und die notwendige Verbesserung des Opferschutzes, sondern auch die Bestrafung der Freier von Zwangsprostituierten. Sie sind die wahren Ausbeuter. Erst die Kunden schaffen den Markt. Ohne Nachfrage kein Angebot und damit auch kein Leid der Frauen! Die Frauen-Union hat bereits auf ihrem Bundesdelegiertentag 2003 ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Menschenhandels beschlossen und dabei ebenfalls gefordert, dass die Freier von Zwangsprostituierten bestraft werden. ({1}) Ich war im Mai letzten Jahres mit meinem Kollegen Siegfried Kauder - er wird unseren Gesetzentwurf gleich im Detail erläutern - in Tschechien im Grenzgebiet zu Bayern. Wir haben die Situation in Domazlice, einem kleinen Landkreis mit dem größten Bordell Europas - 40 Bordelle mit 800 Prostituierten -, angesehen und Gespräche mit der dortigen Polizei und auch mit Hilfsorganisationen geführt. Frauen und Mädchen vornehmlich aus Tschechien, der Ukraine, Rumänien, der Slowakei und Moldawien werden hier gesammelt, eingearbeitet und dann quer durch Europa verkauft. Deutschland ist dabei sowohl Transit- als auch Zielland. Das ist Sklavenhandel im 21. Jahrhundert - mitten in Europa, mitten unter uns. ({2}) Nach Schätzungen der UN werden allein in Europa Jahr für Jahr 500 000 Frauen und Mädchen verschleppt und zur Prostitution gezwungen. Damit werden etwa 10 Milliarden Euro umgesetzt. Weltweit sind es 60 Milliarden Euro und etwa 4 Millionen Frauen, die als Ware gehandelt werden. Frauenhandel ist heute das lukrativste, das expansivste und das risikoärmste Geschäft der organisierten Kriminalität und hat längst den Waffenund Drogenhandel abgelöst. Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Berlin ist längst - so der Bundesaußenminister im Oktober 2001 auf der OSZE-Konferenz „Europa gegen den Menschenhandel“ - zur Drehscheibe des internationalen Menschenhandels geworden. Es gibt unterschiedliche Zahlen. Als gesichert gilt, dass in Deutschland etwa 250 000 Prostituierte leben und arbeiten. 80 Prozent davon sind Migrantinnen. Jede zweite davon ist in der Zwangsprostitution. Das heißt, bei uns sind etwa 100 000 Frauen in der Zwangsprostitution und dabei ist jede Frau eine Frau zu viel. Es wird weiter davon ausgegangen, dass von etwa 34 Millionen männlichen Volljährigen in Deutschland täglich bis zu 1,2 Millionen die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen. Ich habe dieser Tage die Diplomarbeit einer Studentin der Sozialwissenschaften der FH Potsdam erhalten. Sie ist vom März 2005 und befasst sich mit der Prostitution, einer Bestandsaufnahme und einer Handlungsaufforderung - auch an die Politik. Ich habe die Arbeit sehr interessiert, aber auch erschüttert gelesen. Sie endet mit den Worten: Es ist, wenn wir Glück haben, fünf vor zwölf. Das sind klare Worte. Wir alle sind aufgefordert, den Opfern von Menschenhandel, den Zwangsprostituierten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Dies betrifft im Übrigen Frauen aus allen Bevölkerungsschichten mit den unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen. Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt. Das heißt, nur durch polizeiliche Razzien können Zwangsprostituierte überhaupt gefunden und befreit werden. Ich erinnere an die jüngste Großrazzia im Raum Hannover mit 230 Einsatzkräften und 31 Festnahmen. Dabei konnten 15 Zwangsprostituierte aufgegriffen werden. Frau Schewe-Gerigk, auch wenn Sie es immer wieder heftigst bestreiten: Das Prostitutionsgesetz aus dem Jahre 2002 hat dazu geführt, dass kaum noch erfolgreiche Razzien ({3}) durchgeführt werden können. Ihr Verweis auf die polizeiliche Generalklausel in den Ländern hilft da wenig. Geldnot und mancherorts auch der fehlende politische Wille spielen sicherlich eine Rolle, aber Hauptgrund ist das Prostitutionsgesetz. ({4}) Mit dem Prostitutionsgesetz wurde die Prostitution, für die in den Medien stark geworben wird, hoffähig gemacht. Sie ist eine legale Dienstleistung wie jede andere geworden und führt bei konsequenter Anwendung von Hartz IV sogar so weit, dass Leistungskürzungen bei Verweigerung der Arbeitsaufnahme entstehen können. ({5}) Den Frauen wurde damit nicht geholfen, ganz im Gegenteil: Kaum eine hat sich zwischenzeitlich sozialversichern lassen. Die Förderung der Prostitution ist nicht mehr strafbar. Die Polizei spricht hier sogar von einem Zuhälterschutzgesetz. ({6}) Sie wissen, dass sich der Bundesrat derzeit auf Initiative Bayerns ebenfalls mit der Bestrafung der Freier bei Zwangsprostitution befasst und darüber hinaus das Prostitutionsgesetz auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir werden über dieses unsägliche Gesetz noch zu reden haben. ({7}) Ich empfehle im Übrigen die Lektüre der eingangs erwähnten Diplomarbeit. Prostitution ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Sie ist keine Dienstleistung wie jede andere. Das zu meinen oder zu verbreiten ist meines Erachtens zynisch. Die Diplomandin war - ich zitiere „über die Abgründe des Themas fassungslos“. In ihrem Anschreiben an mich heißt es unter anderem: Die Recherche hat mich in meinen politischen Grundfesten erschüttert - denn bis dato war ich treue Grünen- und PDS-Wählerin. Ich erwähne an dieser Stelle auch Alice Schwarzer, sicherlich keine Sympathisantin der Union. Sie äußerte sich gleich lautend. Ich könnte die Reihe beliebig fortsetzen. Viele Zwangsprostituierte - zu 80 Prozent Migrantinnen, wie eingangs erwähnt - sind in den vergangenen Jahren nicht mehr über die grüne Grenze, sondern mittels Visa vermeintlich legal nach Deutschland gekommen. ({8}) Die „Lageberichte Menschenhandel“ des BKA von 1999 bis 2003 bestätigen dies. Für die Schlepper bestand keine Gefahr mehr, aufzufliegen; der Preis für die Schleusung konnte erhöht werden und die Gewinne wurUte Granold den noch satter. Der Handel blühte und blüht, solange ihm nicht Einhalt geboten wird. Der EU-Justizkommissar Frattini ist bekanntlich mit der Überprüfung der Visapraxis befasst; denn davon ist der gesamte Schengen-Raum betroffen. Nach einer ersten Bewertung liegt ein Verstoß Deutschlands gegen EURecht vor. ({9}) Da Menschenhandel ein Delikt ist, das keine Grenzen kennt, und die mafiosen Verbrecher weltweit agieren, muss nicht nur auf europäischer, sondern auch auf internationaler Ebene eng zusammengearbeitet werden. Dazu gehört auch, dass die entsprechenden Rechtsvorschriften zeitnah umgesetzt werden. Hier bestehen in Deutschland erhebliche Defizite: Der EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels wurde erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist verabschiedet. Die Richtlinie zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise ist trotz Fristablaufs bis heute nicht umgesetzt. Die UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie die Zusatzprotokolle gegen Menschenhandel und Schleusungen von Migranten aus dem Jahr 2000 sind ebenfalls noch nicht umgesetzt. ({10}) Wenn die Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution ganz oben auf der Agenda steht, dann ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass die Rechtsetzung zeitnah erfolgt. Das gilt auch in diesem Fall. Die strafrechtliche Bekämpfung der Zwangsprostitution kann erst dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie nicht länger allein auf Zuhälter und Menschenhändler ausgerichtet ist. Diese Drahtzieher haben erst durch die Freier die Basis für ihre Verbrechen, die die Notlage der Frauen schamlos ausnutzen. Das sieht nicht nur die Union so. Auch die Kirchen und die Opferschutzorganisationen sehen das Erfordernis, die Freier von Zwangsprostituierten unter Strafe zu stellen. Die Union hat erst vor einigen Tagen ein Symposium zur Situation der Zwangsprostituierten durchgeführt, auf dem insbesondere die Freierbestrafung diskutiert wurde. Der von uns eingeschlagene Weg hat sich als der richtige erwiesen. Es besteht eine Gesetzeslücke. Dies wird im Übrigen von namhaften Professoren bestätigt; Professor Renzikowski war Sachverständiger bei der Anhörung zur Verschärfung der Vorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels. Die Versuche gerade vom Bündnis 90/Die Grünen, die Unionsinitiative mit dem Hinweis auf bestehende Gesetze zu Fall zu bringen, sind untauglich. Ich erwähne hier die unterlassene Hilfeleistung, die Vergewaltigung oder die Nichtanzeige einer geplanten Straftat; all diese Vorschriften sind nicht einschlägig, um die Verhinderung von Zwangsprostitution und die Freierbestrafung auf den Weg zu bringen. ({11}) Meine Damen und Herren Kollegen der Koalitionsfraktionen, Ihre Kollegin Helmhold hat im November 2004 im Niedersächsischen Landtag gesagt: Auch für die Freierbestrafung wird in Kürze eine Regelung gefunden. Sie selbst haben in den vergangenen Wochen in verschiedenen Presseerklärungen geäußert: Über die Strafwürdigkeit eines solchen Verhaltens besteht für uns kein Zweifel. Geben Sie sich einen Ruck! Zwar steht auf dem Antrag „CDU/CSU“, aber dennoch ist er richtig und wichtig. Die geschändeten Frauen warten auf ein Zeichen. Dr. Lea Ackermann hat in ihrer 20-jährigen Tätigkeit bei Solwodi mit vielen Zwangsprostituierten gesprochen, sie betreut und bei Prozessen begleitet. Sie hat sie nach einer möglichen Bestrafung ihrer Freier befragt. Die Frauen haben ausnahmslos gesagt, dass sie sich eine Bestrafung dieser Freier wünschen. Recht haben sie. ({12}) Natürlich muss mehr getan werden, als die Freier zu bestrafen; das allein reicht nicht. Der Opferschutz muss ausgebaut werden. Beim Bundesfrauenministerium wurde 1997 die Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet, die gute Arbeit geleistet hat und weiter leisten wird. Mit dem Zuwanderungsgesetz wurden Möglichkeiten geschaffen, den Aufenthaltsstatus der leidgeprüften Frauen zu verbessern. Es gibt eine EU-Richtlinie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatenangehörige, die nur umgesetzt werden muss. Die Opfer und auch die Opferhilfsorganisationen brauchen dringend finanzielle Unterstützung. Die Profite aus den Straftaten müssen abgeschöpft, die Telefonüberwachung muss ausgeweitet und die internationale Zusammenarbeit muss intensiviert werden. Ich appelliere abschließend an alle Fraktionen in diesem Hause, an die Opfer von Zwangsprostitution zu denken und die anstehenden Diskussionen nicht mit ideologischen Scheuklappen zu führen. Dieses Thema ist zu wichtig und das Leid der vielen Frauen ist zu groß. Es gibt in Deutschland über 100 000 Frauen, die wie Tiere gehalten werden, die keine Freiheit und keine Menschenwürde mehr haben. Wir würden uns freuen, wenn den Frauen, die schon hier sind, geholfen wird und wenn durch die Gesetzgebung erreicht wird, dass keine Frauen hinzukommen, sodass ihnen dieses Schicksal erspart bleibt. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Simm von der SPD-Fraktion.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Granold, wenn man Ihnen zuhört, hat man das Gefühl, dass Sie hier zwar über vieles, nicht aber über den Anlass der heutigen Aussprache, den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf, geredet haben. ({0}) Ich allerdings werde mich bemühen, das, soweit es in der mir zur Verfügung stehenden Zeit möglich ist, zu tun. Allerdings kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren - vielmehr wird er durch einiges von dem, was Sie gesagt haben, noch bestätigt -, dass es der Union bei diesem Thema eher darum geht, den unbewiesenen Vorwurf zu untermauern, dass durch die so genannte Visaaffäre massenhaft Frauen in die Zwangsprostitution getrieben worden seien, statt darum, eine angemessene gesetzliche Regelung zu finden. ({1}) - Ich habe mir die Mühe gemacht, im Protokoll des Bundesrates die Rede von Frau Merk nachzulesen, die auch in diese Richtung ging. Ich selbst komme aus Ostbayern und kenne die Probleme mit dem Sextourismus, die es dort seit der Grenzöffnung gibt. Unsere Polizei schätzt, dass täglich etwa 2 000 Freier die Grenze überqueren, um in Tschechien die Dienste von Prostituierten zu nutzen. Ständig gibt es auch entsprechende Veröffentlichungen in regionalen Zeitungen. Man kann davon ausgehen, dass die Freier aufgrund dieser Veröffentlichungen wissen, dass unter diesen Prostituierten auch eine ganze Reihe von Frauen sind, die Opfer eines Menschenhandels geworden sind und Prostitution nur unter Zwang ausüben. Auch können wir davon ausgehen - hier gebe ich Ihnen Recht -, dass es das Angebot der Prostitution - jedenfalls das der Zwangsprostitution - ohne die Nachfrage der Freier nicht in dem Ausmaß gäbe, wie es gegenwärtig der Fall ist. Ich persönlich unterstütze - auch aufgrund meiner Antipathie gegen diese zum Teil biederen Bürger, die dort regelmäßig hinfahren - Bestrebungen, nach einem Weg zu suchen, wie wir Freier - zumindest diejenigen, die erkennbar nach Zwangsprostituierten suchen - strafrechtlich belangen können. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie Ihren Antrag im Rahmen der Beratungen über die neuen Menschenhandelstatbestände erst sehr spät eingebracht haben. Dabei waren wir übereingekommen, dass es doch nicht ganz so einfach ist, diesen Straftatbestand praktikabel auszugestalten, dass wir dieses Vorhaben daher zurückstellen und uns um gemeinsame Lösungen bemühen werden. Nun sind Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgeprescht. Er ist so gestrickt, dass ich nicht das ernsthafte Bemühen erkennen kann, zu einer Lösung dieses Problems zu kommen. ({2}) Ich kann das nicht in allen Details begründen. Wir werden darüber im Ausschuss beraten und sicherlich auch Anhörungen dazu durchführen. Aber sehen Sie sich allein die Konstruktion des Grundtatbestandes in § 232 a Abs. 1 des Strafgesetzbuches an: Die Vorsatztat setzt eine Vortat nach § 232 des Strafgesetzbuches voraus. Die Frau muss also Opfer eines Menschenhandels geworden sein. Das Gericht muss das als erwiesene Vortat feststellen. Inwieweit muss das Gericht dann eigentlich die Vortat erforschen? Die Vortat muss vom Vorsatz des Täters umfasst werden. Aufgrund meiner Strafrechtspraxis beurteile ich diese Regelung als in der Praxis nicht handhabbar. Sie wird zu keinen Verurteilungen führen. ({3}) Sie haben das Problem auch erkannt - wir hatten ja im Vorfeld darüber geredet - und haben in einem Fahrlässigkeitstatbestand Ausflucht gesucht, wonach ein Täter auch strafbar ist, wenn er sexuelle Beziehungen zu einem solchen Opfer eines Menschenhandels aufnimmt und leichtfertig die Lage des Opfers nicht erkennt. Ich sage Ihnen aus meiner Erfahrung heraus: Leichtfertigkeit ist im Strafrecht mitnichten einfacher nachzuweisen als einen Vorsatz oder gar einen bedingten Vorsatz. Leichtfertigkeit ist ein gesteigertes Maß an Sorgfaltspflichtverletzung, das Außer-Acht-Lassen all dessen, was man jemandem im Auge zu haben und bei einem bestimmten Vorgang zu beachten zumuten kann. Sie werden - das sage ich Ihnen voraus - auch damit zu keinen Verurteilungen kommen, machen aber gerade für die Freier ein breites Feld von Ausflüchten auf. Möglicherweise werden geschickte Verteidiger Gutachten beantragen, um den Beweis zu führen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Vorbildung nicht intelligent genug war zu erkennen, in welcher Situation er sich befindet. In meinen Augen ist das völlig untauglich. Der Bundesrat hat diesen Teil Ihrer Strafvorschrift, die insoweit identisch ist mit dem Gesetzentwurf von Bayern im Bundesrat, in seinen Beratungen zu Recht gestrichen. Aber Sie sind unbeeindruckt; es geht Ihnen in Wahrheit wohl nicht um eine sachgerechte Lösung. Denn unverdrossen haben Sie das hier trotzdem so eingebracht und halten es erkennbar aufrecht. Mir ist noch einiges aufgefallen, auf das Sie hinzuweisen ich der Boshaftigkeit halber nicht unterdrücken kann, weil es für mich ein Hinweis darauf ist, dass Sie Ihren Gesetzentwurf nicht mit letzter Konsequenz zu Ende gedacht haben, dass Sie insbesondere die Konsequenzen aus diesem Fahrlässigkeitstatbestand nicht bedacht haben. Das hat nun zur Folge, dass plötzlich in § 5, in dem die Auslandstaten aufgelistet sind - Taten, die nach unserem Recht bestraft werden können, auch wenn sie im Ausland begangen worden sind -, ein Fahrlässigkeitstatbestand auftaucht, nämlich mit § 232 a Abs. 2. Ferner ist nach Ihrer Konstruktion künftig eine Fahrlässigkeitstat mit einer Kronzeugenregelung bedacht und auch eine Telekommunikationsüberwachung kann wegen einer Fahrlässigkeitstat anordnet werden. Ich bitte, noch einmal zu überlegen, ob Sie da nicht ein Stück weit über das hinausgeschossen sind, was - unter Juristen jedenfalls - diskutabel ist. Denn alle diese Dinge - Auslandsstrafbarkeit, Kronzeugenregelung, Telekommunikationsüberwachung - sehen wir in unserem Strafgesetz bisher nur bei schweren Taten, bei Vorsatztaten und auch dabei nur bei solchen mit einigem Gewicht vor. Sie sehen das alles jetzt für eine Fahrlässigkeitstat vor, die Sie im Höchstmaß mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedrohen - das heißt im Regelfall: Geldstrafe - und die Sie damit selber am untersten Rand der Strafbarkeit überhaupt angesiedelt haben. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorhabens bitte ich noch einmal zu bedenken. ({4}) Wir haben uns dem Thema seriös genähert: Wir haben eine Expertenanhörung durchgeführt. Wir sind durch die Expertenanhörung noch nicht so ganz schlau geworden; da gibt es noch eine ganze Reihe Fragen zu beantworten. Wir werden aber weiter an dem Thema bleiben und uns um eine angemessene Lösung bemühen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mehrfach daran erinnert worden: Wir hatten bei der gemeinsamen Verabschiedung der verschärften Bestimmungen zum Menschenhandel verabredet, das Thema der Bestrafung von Freiern anzugehen. Wir haben heute die erste Lesung. Erste Lesung bedeutet, dass man einen Vorschlag vorläufig bewertet und dass man deutlich macht, wo man Fragezeichen sieht und wie die eigene Position am Beginn der Beratungen im Plenum ist. Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich auf zwei Gesichtspunkte hinweisen, die mir außerordentlich wichtig sind: Die erste Bemerkung. Viel bedeutender noch als mögliche strafrechtliche Änderungen ist für mich, dass wir ein allgemeines gesellschaftliches Klima schaffen, durch das wir deutlich machen, dass wir Zwangsprostitution nicht akzeptieren. ({0}) Ich will in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass es mich ganz außerordentlich ärgert, dass uns eine prominente Person, die dadurch aufgefallen ist, dass sie auf entsprechende Anzeigen sexuelle Dienstleistungen in Anspruch genommen hat, nach kürzester Zeit schon wieder auf dem Bildschirm begegnet, dass es keinen Protest dagegen gibt ({1}) und dass es ganz offensichtlich als selbstverständlich hingenommen wird, dass jemand, der sich so verhalten hat, wieder durch Fernsehsendungen führen kann. Ich halte das für nicht erträglich. ({2}) Die zweite Bemerkung. Zu den Dingen, die wir in der letzten Zeit feststellen mussten und durch die die Situation von Zwangsprostituierten nach meiner Meinung zynisch aufgegriffen wurde, gehörten auch die Bemerkungen der nordrhein-westfälischen Ministerin Bärbel Höhn, die aus ihrer Sicht deutlich gemacht hat, dass Zwangsprostituierte mit Visum besser dastehen als ohne. Auch das bagatellisiert das Unrecht, das es in diesem Bereich gibt. Auch das halte ich für nicht hinnehmbar. ({3}) Wir haben uns verabredet, dass wir die Probleme sorgfältig prüfen werden. Dass wir sie sorgfältig prüfen müssen, haben insbesondere die Staatsanwälte bei den bisherigen Beratungen deutlich gemacht. Die Staatsanwälte kennen die Situation, die Frau Kollegin Granold geschildert hat und die auch Frau Simm in ihrem Beitrag aufgezeigt hat. Sie haben uns deutlich gemacht, wie schwierig es ist, in diesem Bereich zu ermitteln. Ich denke, dass wir dies berücksichtigen müssen. Es hilft nicht, dass wir hier im Bundestag eine Bestimmung verabschieden, die hinterher in der Praxis nicht wirklich tauglich ist. ({4}) Eine praxistaugliche Bestimmung ist für mich ein ganz wichtiges Ziel, das wir erreichen müssen. Auch bezogen auf einen zweiten Punkt möchte ich die Position der Freien Demokraten deutlich machen. Frau Granold, Sie haben sich sehr kritisch zum Prostitutionsgesetz geäußert. Wir halten es für richtig, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben. ({5}) Wir bleiben dabei. Es wird für uns kein Zurück geben. Auch das ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Markierung. Bei Ihrem Gesetzentwurf, den Sie heute vorstellen, gibt es sehr viele rechtliche Fragezeichen. Frau Simm hat ein Thema angesprochen, das mir persönlich sehr wichtig ist. Sie wissen, dass ich mich den Telefonüberwachungen, deren Zahl immer mehr zunimmt, widme. Wir müssen dort zu einer Neuordnung kommen. Ich fordere die Bundesregierung nachdrücklich auf, ihre Vorstellungen in diesem Bereich endlich vorzulegen. Es kann aber nicht sein, dass wir dann, wenn wir alle wissen, dass wir in diesem Zusammenhang nachsteuern müssen, auf einmal den Bereich der Fahrlässigkeitstaten mit aufnehmen. Das kann nicht sein. ({6}) Insgesamt bin ich im Übrigen sehr skeptisch. Wir haben im Bereich der Sexualdelikte bisher zu Recht keine Fahrlässigkeitstaten. Wenn Ihr Vorschlag Gesetz werden würde, wäre das der Einstieg dafür, dass es auch hier Fahrlässigkeitstaten gäbe. Ich bin dort sehr zurückhaltend. Insgesamt werden wir eine Lösung finden müssen. Das ist auch der Wille der Freien Demokraten. Ich erkläre ausdrücklich die Bereitschaft, dass wir uns an den Gesprächen beteiligen. Ich habe aber das Gefühl, dass das, was Sie bisher vorgelegt haben, eher mehr Fragezeichen aufwirft als Antworten gibt. Damit möchte ich meinen Beitrag heute hier schließen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über eines sind wir uns hier im Hause einig: Menschenhandel ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung, ein Verbrechen an der Würde und der Freiheit der Opfer, das mit allen Mitteln und auf allen Ebenen bekämpft werden muss. ({0}) Bei den Opfern handelt es sich größtenteils um Frauen, die meist mit falschen Jobversprechen als Aupairmädchen oder Bardame nach Deutschland geholt und zur Prostitution gezwungen werden. Hier werden ihnen die Pässe abgenommen, sie werden verkauft und physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Diesem Menschen verachtenden Geschäft, das für die Menschenhändler nicht nur lukrativ, sondern auch risikoarm ist, müssen wir den Boden entziehen. Darum hat Rot-Grün eine Vielzahl von Gesetzen zum Schutz der Opfer, aber auch zur besseren Verfolgung der Täter beschlossen. Die Situation, die wir 1998 vorgefunden haben, war für die Frauen katastrophal: Wurden sie bei Razzien ohne Papiere angetroffen, behandelte man sie nicht etwa als Opfer von Menschenhandel, sondern als Täterinnen, die gegen das Ausländerrecht verstoßen hatten. Abschiebehaft oder sofortiger Rückflug war die Folge. Die Täter blieben unerkannt, weil die Opfer nicht mehr aussagen konnten, und konnten ihr schmutziges Geschäft weiterführen. Sogar jetzt noch gibt es CDU-regierte Länder, die den vierwöchigen Abschiebeschutz nicht gewähren und damit eine Aufklärung der Verbrechen verhindern. Ich nenne dies Täterschutz. ({1}) Auch heute habe ich das Gefühl, dass es Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, nicht wirklich um die Opfer geht, sondern um ein Thema, das sich wunderbar zu einer höchst emotionalisierenden und polemischen Hetze gegen die Regierungsparteien missbrauchen lässt. Frau Granold, ich wollte es nicht ansprechen. Aber heute sind die Zeitungen voll davon, dass die ILO gestern in ihrem Jahresbericht mitgeteilt hat, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Visapraxis und einem erhöhten Anteil von Opfern des Frauenhandels gebe. Sie aber wollen dieses Problem instrumentalisieren. Ihnen ist dies im Ausschuss nicht gelungen; jetzt tragen Sie es hier in den Bundestag hinein. ({2}) Zu dieser Annahme führen mich vor allem die Unsachlichkeit und Undifferenziertheit, mit der einige - ich betone: einige - an dieses Thema herangehen. Das beste Beispiel dafür - wir haben es vorhin schon wieder gehört - ist die anhaltende Vermischung des Frauenhandels mit dem Prostitutionsgesetz. Dieses Gesetz verbessert die Situation der Prostituierten, die freiwillig und legal in Deutschland tätig sind. An den polizeilichen Ermittlungsmöglichkeiten hat es überhaupt nichts geändert. Noch gestern habe ich vom LKA Berlin gehört, dass die Razzien in gleicher Intensität weitergeführt werden, wie es vor dem In-Kraft-Treten des Prostitutionsgesetzes der Fall war. ({3}) Wie häufig Razzien durchgeführt werden, liegt also allein in der Länderzuständigkeit. Daher bitte ich Sie, diese bewusste Täuschung zu unterlassen und keine Verbindung zwischen Prostitutionsgesetz und Ermittlungstätigkeit mehr herzustellen. Aber nun zu Ihrem Antrag: Schon im Vermittlungsausschuss hatten wir Ihnen zugesagt, einen Straftatbestand für jene Freier zu prüfen, die die Zwangssituation von Menschenhandelsopfern vorsätzlich ausnutzen. Für mich ist das ein strafwürdiges Verhalten; ich stehe daher einer solchen Strafbarkeit offen gegenüber. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gut gemeint ist ja oft nicht gut. ({4}) Selbst unter den Opferverbänden, der Polizei und der Rechtswissenschaft gibt es keine einheitliche Bewertung. Nach einer intensiven Anhörung, die wir gemeinsam mit der SPD durchgeführt haben, habe ich viel mehr Fragen als vorher: Führte ein Straftatbestand dazu, dass die Schleuser die Mauern um die Opfer erhöhen und diese dadurch für die Außenwelt noch weniger sichtbar werden? Könnte auch weiterhin jede fünfte Frau durch Hinweise eines Freiers als Opfer von Frauenhandel identifiziert werden - so ist es jetzt; 20 Prozent der Freier geben den Behörden eine Nachricht - oder würden die Männer schweigen, weil sie sich strafbar machen? Käme es möglicherweise wie im Jahre 2003 in Schweden, wo ja alle Freier bestraft werden, zu keiner Verurteilung? Für mich steht nur eines fest: Eine gesetzliche Regelung könnte durch ein klares Verbot die wichtige Signalwirkung entfalten, dass dieses menschenverachtende Verhalten vom Staat nicht toleriert wird. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir zu einer solchen Generalprävention gelangen können. Ihr Antrag ist für uns aber in der hier vorliegenden Form nicht zustimmungsfähig. Wir sehen auch, dass es schwer ist, einem Freier nachzuweisen, dass er um die Zwangssituation eines Menschenhandelsopfers wusste. Es ist allerdings kein gangbarer Weg, dies dadurch aufzufangen, dass auch fahrlässiges Nichterkennen bestraft werden soll. Viel zu umstritten ist unter Fachleuten die Frage, ob die Zwangssituation der Opfer für die Freier erkennbar ist. Wenn Sie dann auch noch als einen der Umstände, die auf Opfer von Menschenhandel hindeuten, die fehlende Arbeitserlaubnis oder Drogenabhängigkeit nennen, dann macht das wirklich deutlich, dass Sie diese Problematik nicht verstanden haben. Auch wenn es nicht in Ihr Bild passt: Außer der Zwangssituation des Menschenhandels kann es noch ein paar andere Umstände geben, die Migrantinnen dazu bringen, ihren Lebensunterhalt und vielleicht auch den ihrer Familie mit Prostitution zu verdienen. Sie fordern weiterhin eine Kronzeugenregelung für Menschenhandelsdelikte. Das lehnen wir auch in diesem speziellen Deliktbereich ab. Eine solche Regelung würde doch geradezu dazu einladen, die Zwangslage eines Opfers von Menschenhandel zunächst auszunutzen, die Tat erst danach zur Anzeige zu bringen und dafür auch noch straffrei zu bleiben. ({5}) Selbst auf Ihrem eigenen Symposium hat die Staatsanwältin Leister die Frage gestellt, warum die CDU/CSU die Freier besser stellen möchte als die Opfer. Darüber können Sie ja einmal nachdenken. Im Übrigen ist eine solche Regelung auch nicht nötig, da die Gerichte bereits nach dem geltenden Recht die Bereitschaft zur Aufklärung bei der Strafzumessung der Tat berücksichtigen können. Handlungsbedarf sehen wir wie Sie bei der Telekommunikationsüberwachung, wenn es sich um Verbrechen handelt. Auch wir halten es bei der Strafverfolgung für wichtig, die Strukturen organisierter Kriminalität durch geeignete Ermittlungsmethoden aufzubrechen. Dies werden wir im Rahmen der Reform der Telefonüberwachung, an der die Koalition derzeit arbeitet, berücksichtigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Bei all Ihren Vorschlägen zum Frauenhandel fällt mir immer wieder auf, dass strafrechtliche und polizeiliche Instrumente in einem absolut unausgeglichenen Verhältnis zu Opferschutz und Opferrechten stehen. ({6}) Den Frauenhandel werden wir nur wirksam bekämpfen können, wenn wir auf Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung setzen. ({7}) Ich habe die große Sorge, dass die Maßnahmen, die den Frauen wirklich helfen, wie sichere Unterkünfte, ein besserer Aufenthaltsstatus, qualifizierte Betreuung in spezialisierten Beratungsstellen, die Sie in Ihren Ländern mit Ihrer Mehrheit beschließen können, nicht durchgeführt werden, auch weil sie Geld kosten, und dass man sein Gewissen dadurch entlasten will, dass man lediglich im Strafrecht etwas ändert. Das finde ich scheinheilig. ({8}) Einen kleinen Vorgeschmack hat uns die bayerische Justizministerin gegeben, die sagt, sie wisse gar nicht, woher sie das Geld für die Beratungsstellen nehmen solle. Ich frage Sie: Wie wäre es mit einem Opferfonds - Herr Kauder, wir haben gestern Abend darüber diskutiert - à la Rheinland-Pfalz? Herr Kauder, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Sie wissen, Rot-Grün hat im Bundesrat keine Mehrheit, kann also keine aufenthaltsrechtlichen Änderungen durchsetzen, die als Opferschutz dringend notwendig sind. Die CDU/CSU hat im Bundestag keine Mehrheit und kann keine Strafrechtsänderung durchsetzen. Wir sollten uns zu einem Berichterstatter- und Berichterstatterinnengespräch zusammensetzen und beides machen, nämlich in einem Paket einen gemeinsamen Antrag sowohl zum Aufenthaltsrecht als auch zum Strafrecht. Dann könnten wir den Menschenhandel wirkungsvoll bekämpfen. Ich freue mich schon auf die Debatte. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat hat in der letzten Woche beschlossen, einen Gesetzesantrag des Landes Bayern unter der Überschrift „Bekämpfung des Menschenhandels“ mit einigen Änderungen einzubringen. Diesen Entwurf wird der Bundestag in Kürze beraten. Die Union legt nun heute einen Gesetzentwurf vor, der mit dem bayerischen Entwurf weitgehend identisch ist. Ich verstehe nicht ganz, was das soll. Ich kann es mir eigentlich nur so erklären, dass Sie meinen, ausgerechnet mit diesem Thema Wahlkampf machen zu müssen. ({0}) Wenn das so ist, wofür viel spricht, dann instrumentalisieren Sie die Not und das Elend der Opfer von Menschenhändlern für Ihre Kampagnen gegen uns, die Regierung und die Koalition. ({1}) Es wird Ihnen aber nichts nützen. Ihre Aufgeregtheit zeigt mir, dass ich Recht habe. ({2}) In einem Punkt geht Ihr Entwurf sogar über die Vorlagen des Freistaates Bayern und des Bundesrates hinaus, nämlich bei der Freierstrafbarkeit auch bei Fahrlässigkeit. Diesen Vorschlag hat schon der Bundesrat gestoppt. Wie gestern der Presse zu entnehmen war, wird er auch von Opferverbänden und der Gewerkschaft der Polizei kritisch gesehen. Zu Recht. Ich gehe davon aus, dass dieser Vorschlag auch im Bundestag abgelehnt wird. Das, was Sie da machen, ist nichts anderes als vordergründiger gesetzgeberischer Aktionismus. Das gilt letztlich auch für den Vorsatztatbestand, wie Sie ihn vorschlagen. Der Vorschlag ist vielleicht gut gemeint, den Kern des Unrechts trifft er aber nicht. Eine Strafe ist doch nur dann berechtigt, wenn ein Freier eine gegenwärtige, also eine noch wirksame Zwangslage ausnutzt. Ihr Entwurf stellt ebenso wie der Gesetzentwurf des Bundesrates nicht auf die gegenwärtige Situation des Opfers ab, sondern knüpft an ein vorgelagertes Geschehen an, also an eine Zwangslage, die möglicherweise zum Tatzeitpunkt gar nicht mehr besteht. ({3}) Damit Sie sich aber jetzt nicht aufregen müssen, lasse ich keinen Zweifel an folgender Feststellung: Wenn ein Freier bewusst die Zwangslage einer Frau ausnutzt, ist das nicht hinnehmbar. Das sollten wir nicht dulden. Das werden wir nicht dulden und da werden wir gemeinsam mit der Koalition ein deutliches Zeichen setzen. ({4}) - Dann, wenn wir es vernünftig beraten haben, aber nicht mit Schnellschüssen, wie Sie das zu machen pflegen. ({5}) - Bevor Sie jetzt HB-Männchen spielen, beruhigen Sie sich etwas. Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat mit dem Bündnis 90/Die Grünen auch in Erfüllung einer Prüfzusage aus dem Vermittlungsverfahren zum 37. Strafrechtsänderungsgesetz vor kurzem eine Expertenanhörung durchgeführt. Über das Ergebnis haben Frau Schewe-Gerigk und Frau Simm bereits berichtet. Es ist nicht richtig, wenn Sie, Frau Granold, sagen, Sie hätten das zurückgezogen, weil wir über die Frist hinaus gewesen seien. ({6}) Wir haben die Frist auch deshalb überschritten, weil Ihre konservativ geführten Regierungen den Vermittlungsausschuss angerufen haben und dadurch eine weitere Verzögerung eingetreten ist. ({7}) Wenn Sie ein bisschen Vernunft hätten, dann wüssten Sie, dass wir vereinbart haben, dass wir die Praxis befragen wollen. Wir haben die Praxis noch nicht befragt, Sie schon ganz und gar nicht. ({8}) - Das überlassen Sie einmal mir, Herr Kauder, jedenfalls nicht bei Nacht und Nebel und nicht im Schlafanzug, wie Sie das machen. ({9}) Wenn man nicht nur symbolische Gesetzgebung betreiben möchte, dann muss man sich auch mit den möglichen Folgen eines solchen Straftatbestandes auseinander setzen. Es kommt gar nicht so selten vor - auch das ist schon erwähnt worden -, dass Freier Anzeige erstatten und damit den Frauen aus der Zwangslage heraushelfen. ({10}) Diese Anzeigebereitschaft hätte sicher ein Ende, wenn die Freier selbst eine Bestrafung befürchten müssten. Daran wird auch keine Kronzeugenregelung etwas ändern. Die Freierstrafbarkeit - vor allem, wenn sie, wie Sie das wollen, schon bei Fahrlässigkeit eintreten soll könnte dazu führen, dass sich die Szene in der Illegalität abschottet. Gerade das würde den Opfern nicht helfen. Erstaunlich und erfreulich finde ich, dass Sie das urbayerische Anliegen, das Prostitutionsgesetz wieder abzuschaffen, wenigstens heute nicht auf die Tagesordnung gebracht haben. ({11}) - Ich wollte Sie gerade loben und sagen, dass das zeigt, dass Sie doch nicht die kleine Filiale des bayerischen Justizministeriums sind. ({12}) Aber die Rede von Frau Granold lässt mich da schweigen. Sie sind die Filiale des bayerischen Justizministeriums. ({13}) - Ich freue mich, dass Sie sich aufregen. Ich muss jetzt noch auf die Kronzeugenregelung eingehen. Sie schlagen eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung für Menschenhandelsdelikte vor, nachdem Sie in den vergangenen Jahren gebetsmühlenartig frühere Vorschläge des Bundesrates mit weiteren Kronzeugenregelungen als eigene Ideen verkauft haben. Wenn ich richtig gezählt habe, wären wir jetzt bei der 24. Kronzeugenregelung angelangt: ({14}) drei bereits bestehende, 20 weitere aus der konservativen Ecke in den Vorjahren und nunmehr dieser Vorschlag eines § 233 c StGB. Über die Schwächen dieser Unmenge von bereichsspezifischen Regelungen sind wir uns eigentlich einig. Diese Schwächen bestehen nach wie vor. Sie sollten langsam einmal erkennen, dass Sie hier nicht auf dem richtigen Weg, sondern vielmehr auf dem Holzweg sind, und auf einem morschen noch dazu. Ich verpflichte mich hier: Wenn im nächsten Jahr Ihre 25. Kronzeugenregelung kommt, werde ich hier Weinessig und Zitronen spendieren. ({15}) - Nein, nur für die. Auch bei der Telekommunikationsüberwachung setzen Sie auf den alten Hut konservativer Denkweise. Wir haben für die Fälle, in denen es richtig ist, bereits eine Telefonüberwachung und wir werden - das ist angesprochen worden - die Probleme der Telekommunikationsüberwachung anders regeln müssen als durch eine ständige Erweiterung des Straftatenkatalogs. ({16}) Kommen wir also auf den Kern des Anliegens, das Sie hier mit treuem Augenaufschlag vorgetragen haben und welches Herr Kauder jetzt noch in allen Einzelheiten erläutern wird, zurück. ({17}) - Nein, das war nicht persönlich. Sie alle haben mich mit treuem Augenaufschlag angeguckt. - Kommen wir darauf zurück: Im Kern lautet Ihr Anliegen, dem auch wir uns nicht verschließen werden, sondern das wir genauso aktiv verfolgen werden und zu dem wir vernünftige Regelungen vorlegen werden: Schutz der Frauen, die gegen ihren Willen zur Prostitution gezwungen werden. Es kann nicht lauten, so wie es Frau Granold gesagt hat, die meint, man würde damit einen Sumpf austrocknen: Strafbarkeit der Freier um jeden Preis. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, hat schon der biblische König David nicht gewollt. Danke schön. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Emotionalität, mit der diese Debatte teilweise geführt wurde, hat mich erschüttert. „Ich werde dir Europa zeigen. Du wirst in Deutschland für mich arbeiten. Du wirst eine wundervolle Zukunft haben.“ So wurde eine ukrainische Frau vom Schleuser Boris B. mit einem gefälschten Reisepass und einem erschlichenen Visum nach Berlin verbracht. ({0}) Dort wandelte sich das Gesicht von Boris B. sehr schnell. „Ab jetzt bin ich dein Direktor, dein Vater und dein Gott“ - und auf dem Schreibtisch lag eine Sexpostille als Anweisung für die zukünftige Berufstätigkeit. ({1}) Irina C. wurde mit drei weiteren Damen in einem EinZimmer-Appartement untergebracht; zwei schliefen in Stockbetten, eine auf dem Sofa, eine auf dem Boden. Sie waren kaserniert. ({2}) In einschlägigen Postillen wurde angeboten: „Naturgeile ukrainische junge Frau, zu allem bereit.“ Bei Boris B. fand man 3 500 Adressen, an die diese Mädchen verschachert worden sind. Meine Damen und Herren, einen solchen Zustand kann man nicht anstehen lassen. ({3}) Irina C. wurde auf der Straße angetroffen, sie wurde bei der Polizei vernommen. Sie wurde angeklagt und wegen Urkundenfälschung und eines Verstoßes gegen Siegfried Kauder ({4}) das Ausländergesetz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. ({5}) Boris B. wurde ebenfalls - und er zu Recht - zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Freier läuft frei herum, auch wenn er die Situation des Mädchens erkannt hat. Das hat dieses Hohe Haus im Jahr 1993 besser gemacht. Damals ging es um eine Änderung der Vorschriften zur Kinderpornographie. Fraktionsübergreifend war man zu Recht der Meinung, auch der Besitz von kinderpornographischen Schriften solle unter Strafe gestellt werden, ({6}) weil nämlich der Besitz von Kinderpornographie mittelbar den sexuellen Missbrauch von Kindern begünstigt. Nicht anders ist es beim Freier. Nun kann man sich natürlich fragen: Hat es einen Sinn, ein Gesetz zu beschließen, das den Besitz von Kinderpornographie bestraft? Wie will ich denn den Besitz, der zu Hause stattfindet, nachweisen? Es gelingt der Polizei immer wieder, denn der Besitz von Kinderpornographie ist ein Kontrolldelikt. Nicht anders ist es beim Menschenhandel und beim Missbrauch von Frauen. Auch dort handelt es sich um Kontrolldelikte. ({7}) Meine Damen und Herren, entsprechend haben wir den Straftatbestand der Freierstrafbarkeit ausgebaut. Der Freier, der die durch Menschenhandel geschaffene Situation entweder erkennt oder sie leichtfertig - das ist die höchste Stufe der Fahrlässigkeit - nicht erkennt und der diese Situation ausnützt, macht sich strafbar. Nun wird der Einwand erhoben: Wo gibt es denn so etwas wie die Bestrafung von Fahrlässigkeit bei Sexualdelikten? Das ist im System nicht bekannt. Dieses Argument hat ein Professor aufgebracht; es ist aber falsch. Ich empfehle, in § 178 des Strafgesetzbuches nachzulesen: Verursacht der Täter durch … Vergewaltigung … wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren. ({8}) Wir haben es also mit einer Kombination aus Vorsatz und Fahrlässigkeit zu tun. Das macht deutlich, dass der formale Einwand nicht richtig ist. ({9}) Wir haben uns sehr wohl auch Gedanken darüber gemacht, wie eine Tataufklärung möglich sein soll. Das ist zweifellos ein Problem. Wir haben uns entschlossen, eine Kronzeugenregelung einzuführen, deren Sinnhaftigkeit von der Regierungskoalition offensichtlich nicht erkannt worden ist. Der Freier, der eine Frau in ihrer Situation missbraucht, wird in aller Regel diese Kronzeugenregelung nicht in Anspruch nehmen müssen. Ihm kann man schon nach derzeitigem Recht mit den §§ 153 oder 153 a der Strafprozessordnung helfen. Wir wollen aber auch, dass der Menschenhändler die Chance hat, sich zu offenbaren und eine Strafmilderung zu bekommen; denn nur so bekommt man Zugang zu einem mafiosen System. Beim Betäubungsmittelrecht ist es auch nicht anders. Dort können wir entsprechende Erfolge zeitigen. ({10}) Wie Sie sehen, haben wir zu unserem Gesetzentwurf durchaus sinnvolle Überlegungen angestellt. Nun darf ich Sie persönlich ansprechen, Frau Schewe-Gerigk. Wir haben gestern gemeinsam eine Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte besucht. Sie wissen sehr wohl, dass es derzeit auf europäischer Ebene schon Überlegungen gibt, ob nicht genau das, was wir in unserem Gesetzentwurf vorsehen, auf europäischer Ebene festgelegt werden sollte, nämlich dass der Missbrauch von Menschenhandelsopfern durch den Freier unter Strafe gestellt wird. ({11}) - Also darf ich festhalten: Bei der Bestrafung vorsätzlichen Handelns machen Sie mit. Es geht Ihnen um die Leichtfertigkeit. Darüber können wir im Ausschuss diskutieren. Damit kommen wir zu unserem Thema. Wenn Sie die Regelungen zu vorsätzlich begangenen Taten mittragen, dann müssen Sie das hier auch gegenüber der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen. Darüber können wir reden. Nun lässt sich einwenden, wie man dem Freier nachweisen soll, dass er die Situation des Menschenhandelsopfers erkannt oder leichtfertig verkannt hat. Diese Frage höre ich allerdings überwiegend von Männern; das könne man doch gar nicht belegen. „Frauenrecht ist Menschenrecht e.V.“ hat einen Zwölfpunktekatalog entwickelt, nach dem man indiziell die Zwangssituation eines Menschenhandelsopfers feststellen kann: Sie kann zum Beispiel kein Deutsch; sie kann die sexuelle Dienstleistung und deren Dauer nicht selbst aushandeln; sie nimmt das Geld nicht in Empfang; sie hat möglicherweise Verletzungsspuren. Die Indizien insgesamt ermöglichen sehr wohl einen Tatnachweis. Siegfried Kauder ({12}) Auch Ihre Kritik an der Kronzeugenregelung ist nicht berechtigt. Lesen Sie nach, was der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei dazu sagt. Er ist ebenso wie wir der Meinung, dass dies eine sehr gute Möglichkeit ist, Zugang zu der Struktur des meist mafios durchgeführten Menschenhandels zu bekommen. ({13}) Sie sehen also, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Eines fällt bezeichnenderweise auf. Sie bringen außer der Kritik hinsichtlich der Leichtfertigkeit keine sachliche Kritik an unserem Gesetzentwurf vor, weil Ihnen offenkundig nichts einfällt. ({14}) Sie sind aber auch nicht bereit - obwohl Sie das Problem erkannt haben -, aktiv und zum Schutz dieser Opfer daran mitzuarbeiten. ({15}) Ich hätte mir vorgestellt, dass Sie in die heutige Diskussion Vorschläge zum Bleiberecht dieser Opfer einbringen. Wir müssen uns dieses Themas zweifellos annehmen. Es geht aber nicht an, dass Sie sagen: Wir machen schon beim ersten Schritt nicht mit; dann müssen wir uns den zweiten nicht überlegen. Das Bleiberecht ist ein Thema, das wir sehr wohl gemeinsam diskutieren können. Wir müssen uns aber erst darüber einig werden, ob die Freierstrafbarkeit eingeführt werden soll oder nicht. Dieses Thema, das Frauen, die nach Deutschland eingeschleust werden, auf der Seele liegt und auf das Frauenverbände zu Recht beharrlich und beständig hinweisen, haben Sie gar nicht im Blickfeld. Wir haben gestern bei der Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte auch gehört, dass wir nicht länger warten dürfen. Wir sehen einen Sachverhalt, der kriminogen ist, den wir aber schleifen lassen, weil Sie nichts tun und noch nicht einmal bereit sind, den ersten Schritt mitzumachen. Das ist - ich sage bewusst nicht: eine Schande schade. Ich hoffe, dass wir in der sachlichen Zusammenarbeit im Ausschuss doch noch einiges bewegen. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun das Wort die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren! In der 14. Legislaturperiode, also vor knapp vier Jahren, haben wir von den Regierungsfraktionen einen Antrag eingebracht, der sich mit der Situation von Frauen beschäftigt, die als Opfer von Menschenhandel vorwiegend aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks hierher verschleppt werden. Der Titel dieses Antrags lautet „Prävention und Bekämpfung von Frauenhandel“. Wir haben ihn hier im Dezember 2001 einstimmig verabschiedet. In diesem Antrag wird sehr genau die Tatsache beschrieben - das hat Frau Granold schon wiedergegeben -, dass etwa 120 000 Frauen zum Zweck der sexuellen Ausbeutung nach Westeuropa verbracht werden und dass der Jahresgewinn aus diesem „Geschäft“ höher ist als aus dem Drogenhandel. In diesem Antrag werden aber auch die Ziele unserer gemeinsamen Politik in diesem Bereich beschrieben. Wir beschritten damit - ich spreche für diejenigen, die diesen Antrag damals erarbeitet haben - keineswegs Neuland. Es gab bereits damals aus der Ära Kohl den runden Tisch „Frauenhandel“ und den Bundesweiten Koordinierungskreis. Ich kann mich gut erinnern, dass die Recherchen zu diesem Antrag trotzdem mühsam waren. Ich hätte mir gewünscht, dass nicht so viel von den Bundesländern geregelt werden muss. Das betrifft insbesondere den Opferschutz. Ich habe damals oft mit geringem oder sogar fehlendem Problembewusstsein meiner Gesprächspartner aus den Bundesländern zu kämpfen gehabt. Ich rate Ihnen allen sehr zur Lektüre des Antrags; denn er hat in den letzten vier Jahren an Aktualität, was die Situation der Opfer betrifft, nichts verloren. Noch heute gibt es zu wenige Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel in den Bundesländern. Infolge der Mittelkürzungen in den Bundesländern - auch das ist schon angesprochen worden - werden existierende Beratungsstellen nicht mehr bezuschusst und müssen oft geschlossen werden. Noch heute fehlen dort oft die Mittel für die Betreuung der Opfer von Menschenhandel. Einzig Rheinland-Pfalz hat - auch das ist schon angesprochen worden - einen Opferfonds eingerichtet. ({0}) Noch heute wird jungen Frauen, die als illegale Prostituierte bei einer Razzia oder einer Kontrolle aufgegriffen werden, trotz der Aufklärungsarbeit des BKA und der Beratungsstellen oft nicht die Vierwochenfrist eingeräumt, die ihnen bis zu einer freiwilligen Ausreise eigentlich zusteht. Das fördert bedauerlicherweise nun wieder den Drehtüreffekt und verhindert oft Ermittlungen gegen die Schlepper. Noch heute erhalten sehr wenige Frauen, die großen Mut bewiesen haben und durch ihre Aussage zur Aufdeckung und Zerschlagung der Netze der Schlepperbanden beigetragen haben, Abschiebeschutz oder sogar ein Bleiberecht oder eine neue Identität. Wie grau der Themenbereich noch immer ist, zeigt die Tatsache, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf die Vorschläge nicht mit den entsprechenden Zahlen unterlegen konnten, mit Zahlen, die für den Beweis zum Beispiel der Nützlichkeit des Unterfangens der Freierbestrafung wichtig wären. Angelika Graf ({1}) Seit der Verabschiedung unseres Antrags im Jahr 2001 haben wir vonseiten des Bundes eine Reihe der darin enthaltenen Forderungen erfüllt. Ich denke dabei zum Beispiel an die jüngste, schon öfter angesprochene Änderung des Strafrechts in §§ 232 und 233. Dies wird das Vorgehen gegen die Täter, die Schlepper, erleichtern. Aber auch die Opferrechtsreform möchte ich in Erinnerung rufen. Sie hat die Situation der Opfer von Menschenhandel deutlich verbessert. Ich erwähne außerdem noch einmal den runden Tisch und möchte bitten, die Arbeit des BMZ bei der Bekämpfung der Armut in den Herkunftsländern nicht zu vergessen. Wurde damit das Problem an sich bekämpft? Es ist richtig: Ohne die Kunden, die Männer, die Sex möglichst billig kaufen wollen, gäbe es das Phänomen der Ausbeutung der illegalen Prostituierten bei uns nicht. Man muss natürlich nicht erst seit dem Fall Friedman fragen, welche Mittel wir haben, um denen, die als Kunden diese Frauen wissentlich ausbeuten, das Handwerk zu legen. Wie groß der „Bedarf“ an derart billigem Sex ist, beschreibt die Aussage einer bayerischen Polizistin aus dem Gebiet der Grenze zu Tschechien - auch Frau Simm hat das zitiert -, die von täglich 2 000 Freiern aus Deutschland berichtet, die auf der anderen Seite der Grenze billige Sexdienstleistungen einkaufen. Da geht es wohl noch billiger und noch einfacher als bei uns. Frauenhandel ist also ein transnationales Problem. Ich rate jedem, sich die armen jungen Frauen auf dem tschechischen Straßenstrich hinter dem Grenzübergang Philippsreut anzusehen, die dort ihre Dienste freiwillig oder nicht freiwillig anbieten, um zu überleben. Man begreift, dass Frauenhandel mit der Armut in den Herkunftsländern direkt zu tun hat. Man erkennt aber auch, wie schwach entwickelt das Mitleid und das Schuldbewusstsein vieler Kunden offensichtlich ist. Ich denke, da packt einen zu Recht die Wut. Ich verstehe deswegen, dass man sich über die Bestrafung von Freiern Gedanken macht. Wir haben uns bei dem fraktionsübergreifenden Berichterstattergespräch damals im Zusammenhang mit der Änderung des StGB bezüglich Menschenhandels darauf geeinigt, den Punkt Freierstrafbarkeit mit der nötigen Sorgfalt zu prüfen. Fest steht für mich: Nichts wäre - auch im Hinblick auf die Situation und die Gefühlslage der Opfer, die wir bei aller Diskussion über die Täter nicht aus dem Auge verlieren dürfen - fataler als Regelungen, die in Wahrheit nicht greifen, die Situation der Opfer eher verschlechtern ({2}) oder die illegale Prostitution noch mehr in den Untergrund verdrängen ({3}) und damit die Lage der betroffenen Frauen noch unerträglicher und noch auswegloser machen. Das soll heißen: Ich will keine mit heißer Nadel gestrickte Änderung des StGB, die sich populistisch gut vermarkten lässt, sondern eine Regelung, die insbesondere die Situation der Opfer im Blick hat. ({4}) Dabei sollte man bedenken, dass in Italien - Frau Schewe-Gerigk, dort sind die aufenthaltsrechtlichen Regelungen für die Opfer von Frauenhandel nämlich wesentlich besser als bei uns und dort ist das Netz der Beratungsstellen dichter - 20 Prozent aller registrierten Fälle von illegaler Prostitution von den Freiern aufgedeckt werden, die sich an die Beratungsstellen wenden. Zur Polizei gehen in Italien wie hier in Deutschland die wenigsten der Freier. Eine Ermittlung der Polizei würde nämlich aufdecken, dass der Mann eine Prostituierte aufgesucht hat - ein Umstand, der bei Frau oder Freundin sicherlich nicht unbedingt auf Gegenliebe oder Verständnis stößt. Ich denke, da ist der logische Fehler in Ihrem Ansatz. Eine Kronzeugenregelung würde nicht helfen. Herr Kauder, zu der von Ihnen ins Spiel gebrachten Kronzeugenregelung für Schlepper möchte ich sagen: Darüber müssen wir noch intensiv reden. Ich persönlich bin im Augenblick eher dagegen. ({5}) Eine Freierstrafbarkeit, die sich auch auf die Fahrlässigkeit erstreckt, würde zudem nach Ansicht der Beratungsstellen jede präventive Arbeit im Freiermilieu zunichte machen. ({6}) Das Ziel sollte meines Erachtens nicht sein, die Freier generell zu kriminalisieren - sie würden generell kriminalisiert, wenn dieser Vorschlag umgesetzt wird -, sondern ihnen zu helfen, zu erkennen, wann eine Frau in die Prostitution gezwungen wurde, und dann richtig zu handeln. ({7}) Wir weisen Ihre Angriffe auf das Prostitutionsgesetz deutlich zurück. Dazu ist schon im Vorfeld vieles gesagt worden. Ich möchte auf den eingangs erwähnten Antrag der Regierungsfraktionen aus dem Jahre 2001 zurückkommen. In ihm wird dieses Thema unter dem Aspekt der Menschenrechte der Opfer behandelt. Eines der großen Ziele, die mit der Verabschiedung des Antrages verbunden waren, war die Verbesserung des Opferschutzes. Bei aller Diskussion über die Freier wäre es gut, wenn wir dieses Ziel nicht aus dem Auge verlören. ({8}) Wirken Sie doch bitte auf die von Ihnen regierten Länder ein, das Ihre in diesem Bereich zu tun und zum Beispiel die Beratungsstellen weiterhin entsprechend zu finanzieren! Wenn das geschieht, wäre schon viel gewonnen. Angelika Graf ({9}) ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/5326 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 c sowie Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: 30 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien ({2}) vom 9. Juni 1999 - Drucksache 15/5428 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bürgernähe durch Vereinfachung des Kfz-Zulassungsverfahrens - Drucksache 15/4505 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Innenausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({7}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bereitstellung von Informationen über Allgemeine Betriebserlaubnisse ({9}) und EGTypgenehmigungen auch für nationale und internationale Behörden - Drucksache 15/4930 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10}) Innenausschuss Rechtsausschuss ZP 2 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes - Drucksache 15/5444 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({11}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Reichard ({12}), Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Trinkwassermanagement in Entwicklungsund Schwellenländern durch die verstärkte Einbeziehung der Privatwirtschaft verbessern - Drucksache 15/5451 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({13}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Gemeinsame Position der Europäischen Union zum Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China - Drucksache 15/5467 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({14}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 m sowie Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 31 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung des Verwaltungszustellungsrechts - Drucksache 15/5216 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16}) - Drucksache 15/5475 16400

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Siegmund Ehrmann Stephan Mayer ({0}) Gisela Piltz Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5475, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({1}) Nr. 805/2004 über einen Europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen ({2}) - Drucksache 15/5222 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 15/5482 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Thomas Silberhorn Jerzy Montag Sibylle Laurischk Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5482, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen - Drucksache 15/5220 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) - Drucksache 15/5443 Berichterstattung: Abgeordnete Heinz Schmitt ({7}) Dr. Antje Vogel-Sperl Birgit Homburger Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5443, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 d: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hochbaustatistikgesetzes - Drucksache 15/4738 ({8}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) - Drucksache 15/5241 Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Kranz Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/5241, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 31 e: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik über die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4978 ({10}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Nigeria über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4980 ({11}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Guatemala über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4981 ({12}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Angola über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4982 ({13}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4983 ({14}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4984 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({16}) - Drucksache 15/5362 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Müller ({17}) Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nrn. 1 bis 6 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5362, die Gesetzentwürfe anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die sechs Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer ({19}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutschland beibehalten - Drucksachen 15/1876, 15/2374 Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1876 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({21}), Sibylle Laurischk, Joachim Günther ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gesamtverkehrskonzept Südbaden - Bündelung von Schiene und Straße im Rheingraben - Drucksachen 15/2470, 15/4015 Berichterstattung: Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2470 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDPFraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gero Storjohann, Dirk Fischer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({24}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Führerscheinbürokratie verhindern - Führerscheintourismus beenden - Drucksachen 15/3716, 15/4484 Berichterstattung: Abgeordnete Heidi Wright Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3716 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 31 i bis 31 m. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 201 zu Petitionen - Drucksache 15/5349 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 201 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 202 zu Petitionen - Drucksache 15/5350 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 202 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 203 zu Petitionen - Drucksache 15/5351 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 203 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 204 zu Petitionen - Drucksache 15/5352 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 31 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 205 zu Petitionen - Drucksache 15/5353 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 3 a: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 15/4233 ({30}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 15/4232 ({31}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 15/4230 ({32}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({33}) - Drucksache 15/5487 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Siegfried Kauder ({34}) Jerzy Montag Sibylle Laurischk Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Drucksache 15/4233. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 auf Drucksache 15/5487, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Drucksache 15/4232. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 auf Drucksache 15/5487, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Drucksache 15/4230. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 3 auf Drucksache 15/5487, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 3 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({35}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen und zur Änderung der Anlage 1 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung - Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, 15/5483 Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bierwirth Winfried Hermann Birgit Homburger Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/5218 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als Zusatzpunkte 14 a und 14 b aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Zusatzpunkt 14 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({36}) zu dem Gesetz zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG ({37}) - Drucksachen 15/3441, 15/4119, 15/4236, 15/4501, 15/4540, 15/4922, 15/5479 Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Michael Müller ({38}) Berichterstatter im Bundesrat: Senator Dr. Roger Kusch Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Ist das richtig? - Wir kommen dann zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgende Beschlussempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5479? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 14 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({39}) zu dem Gesetz zur Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Deregulierung aus den Regionen - Drucksachen 15/4231, 15/4673, 15/4938, 15/5178, 15/5480 Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Ludwig Stiegler Berichterstatter im Bundesrat: Staatsminister Geert Mackenroth Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5480? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/4533 zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zur akustischen Wohnraumüberwachung. ({40}) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5486, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. ({41}) - Bitte.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das muss ein Irrtum sein. Die Debatte soll heute Abend gegen 17 Uhr noch geführt werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich bestätige, dass das ein Irrtum ist, und stelle das zurück. ({0}) Dann kommen wir jetzt gleich zum Zusatzpunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Kritik des FDP-Vorsitzenden an Gewerkschaftsfunktionären in Deutschland Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Klaus Uwe Benneter von der SPD-Fraktion das Wort.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sehe, es sind alle vollständig. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns ist mit Interesse aufgefallen, dass die FDP nach vielen Jahren das Thema Bürgerrechte, das sie lange Jahre offensichtlich vernachlässigt hatte, wieder entdeckt hat. Dies ist gut so; denn die Wahrung der demokratischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger ist ein ganz wichtiges Thema. ({1}) Sie wissen am besten, dass dies für die FDP früher ein sehr wichtiges Thema war, zu dem sie damals mehr zu sagen hatte als heute. ({2}) Der Haken ist nur: Ihr Bekenntnis zu den Bürgerrechten ist dann unglaubwürdig, wenn Sie im gleichen Atemzug einen ganz wichtigen Bereich dieser Bürgerrechte, nämlich die demokratische Selbstorganisation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den deutschen Gewerkschaften, als - Herr Westerwelle, ich darf Sie zitieren - „Plage“ bezeichnen. Das ist unglaubwürdig. Damit werden Sie dem Anspruch nicht gerecht, den Sie hinsichtlich der Wahrung der Bürgerrechte an sich selber stellen. Ihre Haltung ist auch deshalb unglaubwürdig, weil Sie, wie Herr Niebel sagte, die Gewerkschaften, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammengeschlossen sind, entmachten wollen. Das ist Ihr neues Konzept. ({3}) - Gut, Sie machen da einen feinen Unterschied zwischen den Gewerkschaften einerseits und den Gewerkschaftsfunktionären andererseits. ({4}) Auch ich weiß, dass die Vertreter von Verbänden nicht immer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. ({5}) Ich denke dabei an die plumpen Attacken des Herrn Hundt. Auch über manche Äußerungen von Interessenverbänden der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber ärgere ich mich gelegentlich. Die Art und Weise, wie Sie Ihre grundsätzliche Kritik an demokratisch gewählten Repräsentanten formulieren, ist ganz schön nahe an einem wirklich antidemokratischen Populismus. ({6}) Dazu gehört auch die Behauptung, die demokratischen Parlamentarier würden nicht die Interessen des Volkes repräsentieren. ({7}) Walter Scheel, ein großer Liberaler und ehemaliger Vorsitzende der FDP, hat als Bundespräsident auf dem DGB-Bundeskongress 1975 noch formuliert, freie Gewerkschaften, freie Wirtschaft und freier Staat würden einander bedingen. Ginge die Freiheit in einem dieser Bereiche verloren, bräche das sorgsam Ausgewogene ineinander und miteinander zusammen. ({8}) Von diesem freiheitlichen Gesellschaftsverständnis ist die FDP heute weit entfernt. ({9}) Diese Agitation gegen die demokratischen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer ist Ausdruck einer neuen Geisteshaltung der FDP, die letztlich auf die Verachtung des gesamten Sozialstaates hinausläuft. ({10}) Sie, Herr Westerwelle, sind noch bemüht, diese Geisteshaltung mit faulen Bekenntnissen zum Gemeinwohl ein wenig zu kaschieren. Die wahre Geisteshaltung der FDP kommt aber bei Ihrer Parteijugend zum Ausdruck. Die Überschrift „Alte, gebt den Löffel ab!“ einer entsprechenden Veröffentlichung zeigt dies deutlich. ({11}) Diese Geisteshaltung spiegelt sich in all Ihren Programmschriften, Diskussionsbeiträgen und Parteitagsbeschlüssen wider. Ich will nur einige Punkte nennen: Sie fordern die Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit. Sie fordern die Privatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie fordern außerdem die Einführung eines einheitlichen Einkommensteuersatzes für Normalverdiener und für Spitzenverdiener. Was Sie so flott als „Flat Tax“ in Ihrem Wahlprogramm in Nordrhein-Westfalen fordern, hat - das müssten Sie eigentlich wissen - ganz üble Konsequenzen. Sie sagen aber noch nicht einmal, wie hoch dieser einheitliche Steuersatz sein soll. Weil Sie behaupten, er müsse in der Größenordnung des Körperschaftsteuersatzes liegen, gehen wir einmal von 25 Prozent aus. Die Konsequenz daraus wäre, dass die Normalverdiener diese Entlastung der Spitzenverdiener bezahlen müssten. ({12}) Ganz konkret: Für Verheiratete mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro würde das eine zusätzliche Steuerbelastung von 4 000 Euro bedeuten. ({13}) Ein Ehepaar mit einem Einkommen von 1 Million Euro würde mit 150 000 Euro entlastet werden. Das sind die Berechnungen der Länderfinanzminister zu diesem Punkt. Die massiven Steuerausfälle, die hierdurch zweitens zu verzeichnen wären, würden sich auf 42 Milliarden Euro summieren. Auch das sind, wie gesagt, Zahlen und Berechnungen der Länderfinanzminister dazu. Das sind die Konsequenzen Ihrer - frei übersetzt - „Flach-Steuer“, ein Name, der passt, soweit dies Ihren ökonomischen Sachverstand betrifft. Mit politischem Liberalismus hat diese Verachtung des Sozialstaates jedenfalls nichts mehr zu tun. ({14}) Da sind Sie in guter Gesellschaft mit der Union. Die fordert im Gesundheitswesen eine Kopfpauschale und Sie fordern eine Kopfsteuer auf Einkommen. ({15}) Sie wollen alles durchökonomisieren. Das ist Ihr Programm. Die Menschen müssen wissen: Die FDP schickt sich an, mit ihrem Spitzenkandidaten Florida-Wolf in Nordrhein-Westfalen die Regierung übernehmen zu wollen und das mit einem Programm, das den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft bekämpft und nur noch den Reichen dienen soll.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kampf gegen die Gewerkschaften, gegen die demokratisch gewählten Repräsentanten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer richtet sich gegen die Grundfesten unserer sozialen Ordnung. Weil das so ist,

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Benneter, Sie sind fast zwei Minuten über Ihrer Redezeit.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- gehe ich davon aus, dass Sie in Nordrhein-Westfalen die Quittung dafür bekommen werden. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich finde es, um es ganz klar zu sagen, schon ein bisschen beschämend, ({0}) dass wir heute eine Aktuelle Stunde zum Thema Klassenkampf haben, ({1}) von dem ich eigentlich geglaubt hätte, dass wir ihn nach fast 60 Jahren sozialer Marktwirtschaft überwunden hätten. ({2}) Schauen Sie, da gibt es einen Herrn Müntefering, der von Heuschreckenschwärmen redet. Da kontert die FDP, Gewerkschaftsfunktionäre seien die wahre Plage, und sagt dann sofort: Wir haben natürlich nichts gegen Gewerkschaften. ({3}) Wir müssen zugeben: Verbände sind natürlich ohne Funktionäre nicht denkbar. Selbst die FDP wäre ohne Funktionäre nicht denkbar. ({4}) Stellen Sie sich einmal vor, wir würden sagen: Die FDP ist eigentlich ganz nett, aber ihre Funktionäre! ({5}) Was ich damit sagen will: Ich glaube, dass uns eine solche Debattenlage überhaupt nicht weiterbringt. Wenn es in Deutschland eine Plage gibt, dann ist es die Heimsuchung in unserem Land, dass über 5 Millionen Menschen arbeitslos sind. ({6}) Das ist die wahre Plage, die wir in diesem Land haben. Deswegen kann ich nur an alle Seiten appellieren, keine Nebelkerzen zu werfen und sich nicht im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf auf Nebenkriegsschauplätzen auszutoben, sondern sich damit auseinander zu setzen, wie wir in unserem Land zu mehr Beschäftigung und zu einer Politik kommen können, die sich schlicht und ergreifend an dem Grundsatz orientiert: Vorfahrt für Arbeitsplätze! ({7}) Das ist das Wichtigste, das wir tun müssen. Wir alle wissen doch - ich weiß, dass dies auch in der FDP nicht anders gesehen wird -, dass zu dieser Gesellschaft natürlich auch Gewerkschaften gehören, und zwar starke. ({8}) Die Gewerkschaften haben sehr viel mit dem Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland zu tun. ({9}) Das wird in unserer Verfassung durch die grundgesetzliche Absicherung der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie festgeschrieben und von niemandem in diesem Hause infrage gestellt. ({10}) An die Adresse der SPD gerichtet - denn in Nordrhein-Westfalen wird viel erzählt -: Dies wird auch nicht von einer CDU/FDP-Regierung - weder in NordrheinWestfalen noch auf Bundesebene - infrage gestellt; das ist doch völlig klar. ({11}) Auch eine CDU/FDP-Regierung weiß, dass die soziale Partnerschaft in unserem Land ihren Ausdruck in der Tarifautonomie, der Mitbestimmung und im Betriebsverfassungsgesetz findet. Dies steht im Grundsatz für niemanden infrage. Deswegen sollten Sie mit dieser Debatte aufhören. Wir haben schon das Problem, dass sich Gewerkschaftsfunktionäre, wenn sie auf großen Gewerkschaftsveranstaltungen mit Massenmedien kommunizieren, anders artikulieren, als es vor Ort gehandhabt wird. ({12}) In Nordrhein-Westfalen gibt es doch ganze Gebiete, in denen die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie in der Realität nicht mehr vorhanden ist und wir uns aufgrund des Konkurrenzdrucks mächtig in Richtung 40-Stunden-Woche bewegen. Die Wahrheit ist - das habe ich auch in einem Artikel für die „Wirtschaftswoche“ so geschrieben -, dass die Gewerkschaften erheblich an Glaubwürdigkeit gewännen, wenn es zwischen den Reden der Funktionäre und dem Handeln vor Ort nicht einen so großen Unterschied gäbe. ({13}) Ich gehöre seit 30 Jahren der IG Metall an. Ich sage Ihnen eines: Für das Titelblatt der IG-Metall-Mitgliederzeitschrift in dieser Woche schäme ich mich. ({14}) Ein solches Titelblatt ist nicht Stil einer normalen politischen Artikulation. Solche Titelblätter hat es zu ganz anderen Zeiten gegeben, die der Grund waren, warum wir vor einigen Tagen den 60. Jahrestag des Endes einer Diktatur gefeiert haben. ({15}) - Das ist schon wahr und damit muss man auch umgehen. Ich sage Ihnen: Ich schäme mich dafür, dass ein solches Titelblatt entworfen, vervielfältigt und unter die Leute gebracht worden ist, und das finanziert durch Gewerkschaftsgelder. Das ist nicht in Ordnung. ({16}) Ich glaube - damit will ich dann auch schließen -, dass es mehr Glaubwürdigkeit gäbe, wenn das Handeln und die Reden der Gewerkschaftsfunktionäre mehr zusammenpassen würden und wenn die Funktionäre zu dem stünden, was vor Ort vereinbart worden ist. Dann würden sie an Attraktivität gewinnen ({17}) und so manche Debatte über die Tarifautonomie würde in diesem Hause anders geführt, als sie zurzeit geführt wird. Schönen Dank. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wer oder was in Deutschland die wahre Plage ist. Ich weiß nur, was hier eine Plage ist: die permanente Absenkung des Niveaus der politischen Debatte durch Sie, Herr Westerwelle, ({0}) dies weniger wegen Ihrer aggressiv-vulgären Rhetorik, sondern wegen des ideologischen Zerrbilds, das hinter dieser Wortwahl steckt. Sie vermitteln das Zerrbild: Es gibt die treue Belegschaft und den braven Betriebsrat, die sich nach nichts anderem sehnen als nach Lohn- und Urlaubsverzicht. Auf der anderen Seite steht der finstere Funktionär der Gewerkschaft, der auf die Einhaltung der Flächentarifverträge pocht und die Unternehmen zu Entlassungen zwingt. ({1}) Diese ideologische Konstruktion entspricht erstens nicht der Realität und ist zweitens ökonomischer Unfug. ({2}) Erstens. Innerhalb des Systems der Flächentarifverträge - das haben Sie gerade auch gesagt, Herr Laumann - existiert eine Vielfalt von abweichenden Lösungen. Sie wissen, dass es Sanierungstarifverträge, Beschäftigungssicherungsverträge, Öffnungsklauseln, Revisionsklauseln und die Pforzheimer Lösung vom Februar 2004 gibt. All dies wirkt wie ein Ventil, über das der Druck von Tarifnormen entweichen kann, wenn die Tarifverträge nicht der wirtschaftlichen Lage der Betriebe entsprechen. Ich weiß nicht, wie oft wir von diesem Pult aus in letzter Zeit Karstadt und Opel als Beispiele angeführt haben, um darzustellen, wozu Gewerkschaften bereit und willens sind, wenn es die Lage der Unternehmen erfordert. Man fragt sich schon, woran es liegt, dass Sie diese Realität nicht zur Kenntnis nehmen. Vielleicht nehmen Sie ein geheimes Medikament zu sich, das zu selektivem Gedächtnisschwund oder dergleichen führt. ({3}) Zweitens: zur ökonomischen Wirklichkeit. Gerade aus Unternehmersicht bietet ein Flächentarifvertrag mit flexiblen Lösungen unschätzbare Vorteile. In Zeiten, in denen die Zahl der Risikoquellen ständig wächst - Rohstoffpreise, Kapitalbeschaffung unter Basel II, Innovationswettbewerb -, wollen die Unternehmen zumindest auf der Seite der Lohnkosten Sicherheit und Verlässlichkeit, Sicherheit und Planbarkeit haben. Das betrifft auch die Mittelständler. Das wird von diesen Unternehmern - fragen Sie sie einmal - nicht bestritten. Planbarkeit ist für Unternehmen nicht nur auf der betrieblichen Ebene von Bedeutung. In diesem Falle könnte man ja sagen, dass das unter Umständen auch ein Firmentarifvertrag erfüllen könnte. Aber für die Branchenstabilität einer vernetzten Wirtschaft sind der Flächentarifvertrag und funktionierende Gewerkschaften enorm wichtig. Jetzt zitiere ich Hans Werner Busch, den Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall: In einem weit verzweigten Netz von Lieferbeziehungen, wie es die deutsche Industrie darstellt, ist die ökonomische Friedenssicherung besonders wertvoll. Ein Mehrfaches an Kapitalbindung und Zinskosten wäre nämlich fällig, wenn beispielsweise die Automobilhersteller zu einer Lagerhaltung gezwungen würden, die das Risiko eines zweiwöchigen Arbeitskampfes ihrer Zulieferer ausschalten sollte. ({4}) - Genau, das ist jetzt auf der Autobahn. ({5}) Würden die Zulieferer allerdings unkontrolliert streiken - gäbe es also keine Friedenspflicht -, müsste wiederum von der Autobahn in die Betriebe verlagert werden. Dann müssten Lager geschaffen werden und dann wäre eine zweiwöchige Lagerhaltung notwendig. ({6}) Sie haben keine Ahnung von der betriebswirtschaftlichen Realität und den Abläufen. Ein letztes ökonomisches Argument: ({7}) - Hören Sie lieber zu, statt so zu brüllen, Herr Niebel. Das können Sie. ({8}) Die Eingrenzung des Lohnwettbewerbs und die Verringerung der Transaktionskosten durch Verträge schätzen Unternehmen sehr. Wenn man sich das einmal ansieht, stellt man fest: Selbst Firmen, die nicht tarifgebunden sind, sondern Haus- und Firmentarifverträge abschließen, orientieren sich an den Flächentarifverträgen. Diese Unternehmer haben nämlich gar keine Lust, in jedem individuellen Fall eine Auseinandersetzung im Betrieb zu führen und den Betriebsfrieden zu riskieren, sondern sie nehmen den Tarifvertrag als Mustertarifvertrag und weichen lediglich in dem einen oder anderen Punkt davon ab. Je differenzierter die tarifliche Wirklichkeit wird - je mehr Alterssicherungsmodelle und Langzeitkonten eingebaut werden und je mehr Qualifizierung Bestandteil von Tarifverträgen ist, wie es in der Chemieindustrie der Fall ist -, desto wichtiger sind kompetente Verhandlungspartner, die das vernünftig abwickeln können; das sind die Gewerkschaften. Vor diesem Hintergrund sollte es uns eher Sorgen machen, dass der Organisationsgrad sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite sinkt. Kurzum, Herr Westerwelle, kann das Fazit dieser kleinen Reise in die Wirklichkeit nur lauten: Wer behauptet, dass Gewerkschaften in Deutschland die wahre Plage sind, kennt weder die betriebliche Realität noch die Erfolgsfaktoren des Standorts Deutschland. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erstens bedanken wir Freien Demokraten uns bei Ihnen, der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben; ({0}) das war eine kluge Entscheidung. Und: Herr Kollege Benneter, in Ihrer Einführung in diese Debatte haben Sie uns in weiten Teilen aus dem Herzen gesprochen. ({1}) Zweitens. Herr Kollege Kurth, wir bedanken uns außerordentlich bei Ihnen, dass Sie uns aus der betrieblichen Praxis des wahren Arbeitslebens berichtet haben. ({2}) Daraufhin habe ich gemeinsam mit dem Kollegen Laumann in Ihrem im Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages veröffentlichten Lebenslauf nachgeschaut und festgestellt: Das Einzige, was Sie bisher mit dem normalen Arbeitsleben zu tun hatten, war Ihre Zivildiensttätigkeit beim Caritasverband. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir an dieser Stelle zur Sache. Wir halten es für einen unmöglichen Vorgang, dass die Gewerkschaften in ihrer Politik zunehmend eine funktionärische Sicht einnehmen. Damit stehen wir gar nicht allein. Vielmehr ist das auch die Meinung der Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Nur noch 23 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind überhaupt in Gewerkschaften organisiert. ({4}) Allein in den letzten Jahren sind über 800 000 Mitglieder aus den Gewerkschaften ausgetreten. ({5}) Genau darum geht es. Wir als Freidemokraten wollen starke Gewerkschaften. Aber wir sagen: Gewerkschaften sind dann stark, wenn sie die Interessen der Arbeitnehmer, nicht aber dann, wenn sie die Interessen ihrer Funktionäre vertreten. ({6}) Ich nenne Ihnen zwei aktuelle Beispiele. Vor einiger Zeit haben wir hier im Deutschen Bundestag eine Debatte darüber geführt, dass der Streik für die 35-StundenWoche in Ostdeutschland, in Sachsen und Brandenburg, von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären vom Zaun gebrochen wurde. Dieser Streik für die 35-Stunden-Woche - von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären ersonnen; mit westdeutschen Bussen wurden die Streikposten herüber nach Sachsen gefahren - ist nicht an Arbeitgebern zusammengebrochen. Er ist zusammengebrochen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die es sich nicht länger bieten lassen wollten, so bevormundet zu werden - zulasten ihrer eigenen Arbeitsplätze. ({7}) Dasselbe haben wir derzeit wieder: Im sicheren öffentlichen Dienst - wo kein Arbeitsplatzrisiko besteht wie für Millionen andere - holt Verdis grüner Chef Bsirske jetzt wegen 18 Minuten längerer Arbeitszeit die Streikkeule heraus. Das ist eine Politik, die die Arbeitslosigkeit in Deutschland vergrößert und die wir Freien Demokraten immer und immer wieder kritisieren werden, weil wir Arbeitnehmerinteressen wahrnehmen und es für falsch halten, wenn das nur noch funktionärisch gesehen wird. ({8}) Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, kommen wir zu den konkreten Dingen: Wir wollen nicht anstelle von Gewerkschaften mehr entscheiden, sondern wir wollen, dass die Arbeitnehmer selbst mehr entscheiden können. Das ist unsere Politik: Wenn 75 Prozent einer Belegschaft sich in einer geheimen Abstimmung darauf verständigen, vom Flächentarifvertrag abzuweichen, dann soll das auch gelten, ohne dass ein Funktionär - sei es auf der Gewerkschaftsseite, sei es auf der Arbeitgeberseite - dagegen ein Veto einlegen kann. Nicht mehr wollen wir, aber auch nicht weniger. ({9}) Wir halten es für eine Groteske unserer Zeit, dass ausgerechnet der stellvertretende Aufsichtsratschef der Lufthansa, Herr Bsirske, den Streik gegen das Unternehmen organisiert, für dessen Wohl er in dieser Funktion eigentlich arbeiten sollte. ({10}) Das akzeptieren wir nicht länger und das wird von uns, wenn wir Regierungsverantwortung bekommen, in die Verhandlungen eingebracht werden, weil es notwendig ist, die Arbeitnehmerinteressen und die Interessen von Betriebsräten und von betrieblichen Bündnissen zu stärken. Das ist die Realität heute: Diese IG-Metall-Zeitschrift, die ich Ihnen hier zeige, wird von Herrn Peters offiziell herausgegeben - Herr Müntefering ist Mitglied der IG Metall -; die Ausgabe ist von diesem Monat, vom Mai. Investoren werden als Aussauger und Blutsauger, mit Goldzahn und mit einem Hut in den Farben der amerikanischen Flagge dargestellt. ({11}) Wir Liberale sind gegen jede Form von Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie von links kommt, meine sehr geehrten Damen und Herren! ({12}) Das schadet unseren wirtschaftlichen Interessen massiv; auch darauf muss hingewiesen werden. Das ist keine Petitesse, das ist ein kapitaler Vorgang, der Arbeitsplätze in Deutschland kostet, weil Investoren wegbleiben. Denn dieses Bild ist nicht nur in Deutschland erschienen, sondern es ist millionenfach in der Weltpresse verbreitet worden. Das, was ich Ihnen nun zeige, ist die neue Ausgabe von „BusinessWeek“, einer der wichtigsten international erscheinenden Wirtschaftszeitungen, allgemein in diesem Hause bekannt. Allein über 1 Million Mal wird diese Zeitschrift in den Vereinigten Staaten von Amerika verkauft. Darin finden Sie das Titelblatt mit der Heuschrecke abgedruckt. Wir werden „Bloodsuckers“ genannt; das ist es, worum es geht. Dazu sage ich: Es ist ein Fehler, wenn man die Investoren beschimpft, die hier Arbeitsplätze durch ihre Investitionen schaffen sollen. Wir wollen eine Politik zugunsten von Arbeitnehmern, zugunsten von betrieblichen Bündnissen. Deswegen sind wir für weniger funktionärische Fremdbestimmung durch die Gewerkschaftsfunktionäre und für mehr Selbstbestimmung in den Betrieben; und das werden wir auch durchsetzen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einige kurze Vorbemerkungen. Herr Kollege Westerwelle, ich finde, es ist kein guter Stil, wenn man einen Kollegen hier auf diese Weise diffamiert, der im Übrigen - auch ich habe jetzt einmal im Volkshandbuch nachgeschaut - sehr viel mehr in seinem Berufsleben getan hat, als Sie ihm hier mit seinem Zivildienst beim Caritasverband zugebilligt haben. ({0}) Wissen Sie, wenn wir auf dieser Ebene miteinander diskutieren, dann machen wir das, was das Parlament ausmacht, gemeinsam kaputt. Das sollten wir wirklich vermeiden. ({1}) Punkt zwei. Herr Westerwelle, Sie haben mit der Zuspitzung Ihrer hier ausgebreiteten Position sicherlich dazu beigetragen - das war ja wohl auch beabsichtigt -, eine Diskussion über Sinn und Unsinn von Gewerkschaften in unserem Lande loszutreten. ({2}) - Oh ja, so ist es von den Medien übrigens auch allenthalben verstanden worden. - Ich finde, dass wir auch hier nur mit differenzierten Bildern weiterkommen. Ihr Fraktionsvorsitzender in Schleswig-Holstein hat in der Chemnitzer „Freien Presse“ Ihre Äußerungen ja nicht umsonst als „postpubertäre Äußerungen“ bezeichnet. ({3}) Im Übrigen ist in „Spiegel Online“ nachzulesen, er habe gesagt, Westerwelle habe der FDP keinen Gefallen getan. Die Debatte um den Arbeitsmarkt und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme müsse mit dem Kopf und nicht mit dem Kehlkopf gewonnen werden. - Auch da hat der Mann in Schleswig-Holstein absolut Recht. ({4}) Weil ich Ihre Parteitagsrede verfolgt habe, ({5}) erinnere ich mich darüber hinaus daran, dass der von uns allen sehr geschätzte Freidemokrat Burkhard Hirsch auf Ihre Intervention, die er eben auch so versteht wie viele im Land, klar gesagt hat: Wir brauchen, um den sozialen Frieden in diesem Lande aufrechtzuerhalten und die soziale Marktwirtschaft auszubauen, starke Gewerkschaften. - Ich höre mit Befriedigung, dass sich viele in diesem Hause wieder auf diese Basis zurückbegeben haben. Insofern sind wir durch diese Debatte beim Selbstverständnis vielleicht schon ein Stückchen vorangekommen. Ich sage darüber hinaus, dass der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie, Herr Schmoldt, ja nicht umsonst gesagt hat: Mit solchen diffamierenden Äußerungen schaden Sie der demokratischen Kultur in unserem Lande. Wir müssen einfach aufpassen, dass wir mit derartig platten Argumentationen und Zuspitzungen am Ende nicht tatsächlich etwas heraufbeschwören, was wir nicht gebrauchen können, nämlich die Verhärtung der Fronten gerade im Bereich von Wirtschaft und Arbeitsmarkt, obwohl wir eigentlich das Aufeinanderzugehen als das Konzept verstehen, das wir brauchen, um diesen Standort Deutschland zu modernisieren. ({6}) Es gibt viele Beispiele - ich denke, wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie dem auch Ihre Zustimmung geben -, die wir hier anführen könnten, bei denen Gewerkschaften wesentlich dazu beigetragen haben, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessern zu helfen. Im Bereich der Luft- und Raumfahrt hatten wir kürzlich N3 Engine Overhaul Services, eine Investition von Rolls-Royce Deutschland und Lufthansa Technik. Wettbewerber war ein Standort in Tschechien. Es ist ganz ausdrücklich den Gewerkschaften zu danken, die sich auf langfristige Vereinbarungen mit den Investoren verständigt haben, dass die Entscheidung zur Investition nicht zugunsten von Tschechien, sondern eben von Ostdeutschland getroffen wurde. Dies muss man bei solchen Debatten doch auch einmal sagen. Das waren Entscheidungen von so genannten Gewerkschaftsfunktionären, in diesem Falle der IG Metall. ({7}) Nichts anderes hat sich zum Beispiel auch bei Opel ereignet. Der gesamte Zukunftsvertrag ist am Ende neben den Betriebsräten auch von den hauptamtlichen Mitstreitern der IG Metall gestaltet worden. Ich denke, es hat eine tragfähige Lösung gegeben, die gezeigt hat, dass die Gewerkschaften sehr wohl verstanden haben, dass wir unsere Tarifpolitik in diesem Lande nicht mehr sozusagen in einem abgeschotteten Raum miteinander gestalten können, sondern dass wir heute in globalen Zusammenhängen denken und unsere Unternehmen auch durch eine sinnvolle Politik der Gewerkschaften selbst wettbewerbsfähig im globalen Sinne halten müssen. Das muss doch unser gemeinsames Bestreben sein. So verstehe ich jedenfalls viele in den Gewerkschaften. Meine Damen und Herren, im Übrigen zeigen doch gerade auch die Entwicklungen in der Tarif- und Lohnpolitik, wo wir stehen. Es gibt doch nicht einen aus irgendeinem wirtschaftswissenschaftlichen Institut, der etwa den Gewerkschaften vorwerfen würde, sie hätten an der Tariffront und an der Lohnpolitikfront Fehler gemacht. Nein, wir sind hier auf einem außerordentlich niedrigen Niveau. Als Folge dessen sind wir bei den Lohnstückkosten hoch wettbewerbsfähig. Auch hier ist ein Stück Verantwortung von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern gemeinsam getragen worden. ({8}) Das ist der Weg, der in unserem Lande in die richtige Richtung führt. An dieser Stelle weise ich auf die Vereinbarungen ganz moderner Art hin, die letztendlich schwere Einschnitte in den Besitzstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gebracht haben. Dies gilt etwa für Siemens, Daimler-Chrysler, Karstadt-Quelle, Opel und Volkswagen. Meine Damen und Herren, niemand wird sagen, die Gewerkschaften hätten einen Heiligenschein. Auch dort werden mit dem einen und anderen in manchen Fällen wichtige Diskussionen zu führen sein; das ist gar keine Frage. Aber viele in den Gewerkschaften haben verstanden, dass die Zeiten hart und Bewegung und Flexibilität gefordert sind. Dies zeigen übrigens auch die Arbeitszeitmodelle: 50 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Lande sind in einem System flexibler Arbeitszeiten beschäftigt, 40 Prozent arbeiten auf der Basis von Arbeitszeitkonten. Auch diese Schritte in die richtige Richtung zeigen, dass das System in Ordnung ist. Wir müssen es weiterentwickeln, weiter modernisieren und weiter an die Herausforderungen anpassen. Dann werden wir unsere volkswirtschaftlichen Daten verbessern können. Dies wird sich dann auch an der Front auswirken, die Sie, Herr Laumann, zu Recht benannt haben: beim Abbau von Arbeitslosigkeit und der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Hier sitzen wir am Ende alle wieder in einem Boot. Ich persönlich - dies darf man als frei gewählter Abgeordneter einmal sagen - empfinde als IG-Metall-Mitglied die vorhin gezeigte Karikatur auf der ersten Seite der Zeitung als - ich drücke es mit aller Vorsicht aus nicht gelungen. ({9}) Auch die Gewerkschaft sollte einmal darüber nachdenken, ob uns solche Kampfpositionen wirklich weiterbringen. Mich mobilisieren sie jedenfalls nicht; eher ist das Gegenteil der Fall. Vor diesem Hintergrund müssen wir solche Diskussionen führen, allerdings innerhalb eines Rahmens, der uns in die Lage versetzt, miteinander zu reden, und nicht dazu führt, dass wir sprachlos werden. Wir dürfen nicht dazu beitragen, dass eine gute Basis gemeinschaftlichen Handelns, die sich 50 Jahre lang bewährt hat, aufgekündigt wird. Dies kann und darf nicht Sinn einer solchen Diskussion sein. Die Damen und Herren der FDP sollten mit ihrem Vorsitzenden noch einmal hart ins Gericht gehen. Jedenfalls sollte er seinen sehr zugespitzten Vorwurf relativieren und ihn auf die Sachkritik zurückführen, die ihm am Herzen liegt. Danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welch eine gespenstische Debatte führen wir hier eigentlich? Der Vorsitzende der größten Partei in Deutschland, Müntefering, spricht von Heuschreckenplage und meint damit amerikanische und andere ausländische Investoren. ({0}) - Nein, die SPD ist in Nordrhein-Westfalen lange nicht mehr die größte, ({1}) aber auf Bundesebene ist sie es noch. Die IG Metall, eine der größten Gewerkschaften in Europa und in der Welt, stellt die Amerikaner in dem Titelbild ihrer Zeitschrift als einen hässlichen Blutsauger mit amerikanischem Hut dar. ({2}) Die FDP nennt die Gewerkschaften, die wir in unserer sozialen Marktwirtschaft brauchen, eine Plage. ({3}) Diese Kombination ist in der Tat eine große Plage. All das können wir nämlich nicht gebrauchen. Das ist so überflüssig wie ein Kropf. Wir sind keine Bananenrepublik und hier muss auch nicht die Revolution ausgerufen werden. Wir müssen keine alten Lagerkämpfe auffrischen, sondern wir müssen Lösungen für seit langem bekannte Probleme anbieten. Genau das passiert aber nicht. Zur FDP kann ich nur eines zur Entschuldigung sagen: Sie hat als Echo auf das reagiert, was Müntefering erklärt hat. Aber wer auf ein falsches Signal Echo spielt, vergrößert das Problem, Herr Westerwelle. Besser ist, man lässt es sein und kehrt zur Sacharbeit zurück. Die Union ist bei dieser künstlichen Art, die Dinge so hochzutreiben, dass sich die Menschen verwundert die Augen reiben und sich fragen, in welchem Land sie eigentlich leben, nicht dabei und lässt sich dafür in keiner Weise in die Pflicht nehmen. Wir lehnen diese Art von Diskussion als Ersatz zur Lösung schwerwiegender volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Probleme entschieden ab. ({4}) Ich empfehle allen Dreien: Entschuldigen Sie sich für diese Art der Diskussion, sodass wir wieder zur sachlichen Arbeit zurückkommen können. Das wäre in Ordnung und ein tolles Zeichen. 5 Millionen Menschen suchen eine Arbeit und wir führen solche Debatten! Diese Menschen müssen sich doch wirklich auf den Arm genommen fühlen. Überlegen Sie einmal, ob Sie sich nicht in einem Spitzentreffen einigen können, diese Debatte zurückzuziehen, um zur Sachlichkeit zurückzukehren, die dringend nötig ist. Auch der Wahlkampf rechtfertigt das nicht. Sie stehen in Nordrhein-Westfalen mit dem Rücken an der Wand. Das, was Müntefering losgetreten hat, ist erkennbar ein wirklicher Rohrkrepierer und hat ihn selber beschmutzt. ({5}) - Nein, Ihre Umfragewerte für die Wahl in NordrheinWestfalen sind gerade gestern noch einmal um 1 Prozentpunkt gesunken. Sie sind weder stabil geblieben noch haben sie sich erhöht. Das ist ein Rohrkrepierer. Schade um der Sache willen! Wissen Sie, wo die Probleme wirklich liegen? ({6}) - Ich kann es auch noch vertiefen. - Ich kann Ihnen vorlesen, was Ihre Ministerien in Ihrer Regierungszeit an so genannte Aussaugerunternehmen verkauft haben. ({7}) Auf diesem Gebiet sind Sie Weltklasse, Spitze. Den ersten großen Geschäftsabschluss, der mit Apax gemacht worden ist, hat Herr Müntefering persönlich unterschrieben. ({8}) Es geht um Milliardenunternehmen. Sie haben sogar Pensionsansprüche der Post an diese angeblich so unsozialen und unvernünftigen internationalen Finanzierungsgruppen verkauft. Machen Sie damit Schluss! Das hilft nicht weiter. Das Problem ist ein anderes. Wir brauchen Antworten auf die Frage nach der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie machen mit dieser Art von verbaler Aufrüstung Folgendes: Die Investoren, die wir nach Deutschland holen wollen, schrecken Sie ab. Die Investoren, die wir in Deutschland haben, vertreiben Sie zusätzlich. Es geht schief, wenn Sie so weitermachen. Was ist nötig? Wir brauchen Politik, die zum Beispiel den Verkaufsdruck vermindert. Häufig wird ja aus der Not heraus verkauft. Was machen Sie diese Woche, Herr Wend? Wir wollten morgen über Steuersenkungen im Unternehmensbereich diskutieren. ({9}) - Wir sind gerade beim Jobgipfel; das ist nämlich die Antwort. Wir wollten die Körperschaftsteuer senken. Das können wir morgen nicht diskutieren. Ich befürchte Schlimmes nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. ({10}) Sie haben heute nicht umsonst gewarnt. Ich vermute, dass Sie selber vermuten, dass in Ihren eigenen Reihen versucht wird, diese Sache gänzlich zu stoppen. ({11}) Ich will ein weiteres Beispiel nennen, die Erbschaftsteuerreform. Wenn wir bei der Erbschaftsteuerreform nicht die Probleme lösen, die wir uns vorgenommen haben und die verabredet waren, bleibt die Frage: Was passiert dann? Bevor die Erbschaftsteuer gezahlt wird, wird das Unternehmen an solche Institutionen verkauft, die Sie in Deutschland nicht haben wollen. ({12}) - Natürlich, wir haben den Vorschlag doch eingebracht. Sie haben doch den bayerischen Gesetzentwurf abgeschrieben. Wir sind mit Edmund Stoiber völlig einer Meinung. ({13}) - Sie haben das gleiche Problem wie ich an dieser Stelle. Das Ganze muss solide finanziert sein. Deswegen haben Sie wohl die Diskussion über diese Reform zum zweiten Mal verschoben. ({14}) Machen wir eine konkrete Politik zur Verhinderung eines Verkaufs von Unternehmen in Deutschland. Am besten ist es, die Unternehmen bleiben im Familienbesitz. Am besten ist, die Arbeitsplätze bleiben hier. Machen wir eine Modernisierung unseres Landes und rüsten wir verbal ab! Alles andere ist nur schädlich und vergiftet das Klima. Unsere Probleme in Deutschland sind wahrlich zu groß, als dass wir auf solche Nebenkriegsschauplätze, die peinlich sind, ausweichen dürfen. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Selg von Bündnis 90/ Die Grünen.

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Westerwelle, Ausführungen über Ihre beruflichen oder auch gewerkschaftlichen Berührungspunkte oder Ihr Engagement möchte ich mir ersparen. Aber die Art und Weise, wie Sie die Debatte hier geführt haben, nämlich polemisch, persönlich verletzend und ohne ein Wort zur Sache, spricht für sich. ({0}) Herr Westerwelle, Sie bezeichnen die Gewerkschaften und damit auch Menschen wie mich - ich bin seit 25 Jahren bei Verdi - als wahre Plage, als Totengräber des deutschen Wohlstands und als Verräter der Arbeiterklasse. ({1}) Das ist ein abenteuerliches Kraftsprüchesammelsurium, das Sie uns hier anbieten, das mich zutiefst erschreckt. Sie haben vorhin auch gesagt, dass es im öffentlichen Dienst Arbeitsplatzsicherheit gibt. Dazu möchte ich Ihnen meine Erfahrungen nennen. Ich habe vor über drei Jahren ein Krankenhaus schließen und einen Sozialplan erstellen müssen. Das war die bitterste Erfahrung in meinem beruflichen Leben. 120 Menschen waren von Arbeitslosigkeit bedroht und ohne Verdi hätten wir keinen vernünftigen Sozialplan zustande gebracht. ({2}) Sie betonen, wo Sie gehen und stehen, die Bürgerrechte. Sie prügeln auf uns, auf Rot-Grün, ein und behaupten, dass wir diese einschränken wollten. ({3}) Wie verträgt sich denn das mit Ihrer Forderung, die Parität in der betrieblichen Mitbestimmung abzuschaffen und zu einer Drittelparität zu kommen? ({4}) Wie verträgt sich das mit Ihrer Forderung nach betrieblichen Bündnissen, von denen Sie eigentlich wissen müssten, dass es sie längst gibt? Ich frage Sie auch: Enden denn die Bürgerrechte für Sie an den Betriebstoren? Die Gewerkschaften, sehr geehrter Herr Westerwelle, sind mit der verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie zutiefst Ausdruck der Wahrnehmung dieser Bürgerrechte. Ihre Vorschläge aber sprechen eben diesen Bürgerrechten Hohn. Seien Sie lieber so ehrlich und sagen Sie, dass Sie nur auf sozialen Kahlschlag aus sind. Bekennen Sie sich dazu, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und somit auch ihre Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter für Sie keine vollwertigen Bürgerinnen und Bürger sind. ({5}) Ein anderes Thema, nämlich dass sich auch die Gewerkschaften wandeln müssen, hat Herr Laumann vorhin angesprochen. Ich bestreite das gar nicht. Kein Gewerkschafter wird das heute mehr bestreiten. Viele haben es bereits getan. Deshalb, sehr geehrter Herr Westerwelle, sollten Sie sehr vorsichtig sein, was Ihre Ignoranz und Arroganz gegenüber den Leistungen der Gewerkschaften betrifft. ({6}) Wir haben und wir brauchen weiterhin starke Gewerkschaften in Deutschland. Sie sollten nicht vergessen, welch ungeheuren Beitrag die Gewerkschaften beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute geleistet haben: die geordnete friedliche Organisation der Arbeiterschaft, gerade eben die Vermeidung einer zersplitterten Gewerkschaftsstruktur, wie wir sie vor der faschistischen Diktatur in Deutschland hatten, die Moderation des industriellen Wandels zum Beispiel im Ruhrgebiet oder die Vermeidung von Streiks und möglichen Unruhen. Der Abschluss in der Stahlindustrie zeigt dies. Ihr eigener Parteifreund Burkhard Hirsch hat Sie auf dem FDP-Parteitag vor einem allzu scharfen Ton gegenüber den Gewerkschaften gewarnt und deren unverzichtbares Verdienst für den sozialen Frieden Deutschlands ausdrücklich gewürdigt. All das ignorieren Sie nun und tun so, als wäre in Deutschland alles ohne diese „lästigen“ Gewerkschaften besser. Das zeigt einmal mehr, dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden. ({7}) - Lieber Herr Niebel, was heißt es denn dann, wenn Sie sagen: Das hat er nie gesagt, dass die Gewerkschaften eine wahre Plage, Totengräber des deutschen Wohlstands und Verräter der Arbeiterklasse sind? Hören Sie bitte einmal zu, was Ihr Vorsitzender sagt, und sagen Sie nicht: Das hat er nicht gesagt. ({8}) Was glauben Sie eigentlich, wie Deutschland heute ohne die Leistungen der Gewerkschaften aussähe? Ihre Antworten kann ich mir denken. Das wäre ein Deutschland nach Ihrem Geschmack. Sie haben es vorhin gesagt. Aber ich möchte es mir nicht vorstellen. Ich muss es mir auch nicht vorstellen; denn unter Rot-Grün - da können Sie sicher sein - wird es das nicht geben. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDPFraktion. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss schon zugeben: Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich meine Redezeit vielleicht dem Kollegen Benneter zur Verfügung stellen sollte. ({0}) Das war ein bemerkenswerter Vortrag, den wir hier gehört haben. Vielleicht kann ich meinen Vorsitzenden davon überzeugen, dass wir diese Rede als Wahlwerbespot für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen bringen. ({1}) Nur unterscheidet die Aktuelle Stunde, die Sie hier beantragt haben, natürlich leider nicht zwischen Ursache und Wirkung. ({2}) - Das hier ist aus dem Inhaltsverzeichnis des „Focus“ dieser Woche. ({3}) Die Frage nach Ursache und Wirkung hat etwas damit zu tun, wer zuerst biblische Vergleiche gezogen hat. Es war Ihr Vorsitzender, der Investoren in diesem Land mit Tieren verglichen hat. ({4}) - Die Heuschrecken sind hier aus künstlerischen Gründen rot. Eigentlich wissen wir: Heuschrecken sind grün. Das ist keine Frage. ({5}) Es war Ihr Vorsitzender, der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der eine Debatte vom Zaun gebrochen, in der man auf den groben Klotz auch mit einem groben Keil reagieren muss, weil dieses Land sonst das Problem von fast 5 Millionen registrierten Arbeitslosen niemals überwindet. ({6}) Ihre Parteizeitung „Vorwärts“, Herr Benneter - ich glaube, Sie sind der Herausgeber -, titelt: „Nackte Profit-Maximierung gefährdet die Demokratie.“ ({7}) Das Bild aus der Zeitschrift der IG Metall ist hinreichend bekannt und ausreichend verwendet worden. Sie müssen sich vorwerfen lassen, dass Sie unhistorisch und geschichtslos sind. Was wäre aus der Bundesrepublik Deutschland geworden, wenn vor 60 Jahren nicht amerikanisches Investitionskapital in dieses Land gekommen wäre? ({8}) Heute werden noch gerade einmal knapp 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Gewerkschaften vertreten. Die Gewerkschaftsfunktionäre tun allerdings so, als seien sie in der Lage und legitimiert, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Wir wissen: Das müsste eigentlich der Herr Bundeskanzler tun; aber offenkundig regiert der ja schon gar nicht mehr. Gewerkschaftsfunktionäre drangsalieren den deutschen Mittelstand mit immer neuen Ideen. Ich möchte hier als Beispiel das Gesetz zur Ausbildungsplatzumlage nennen, das immer noch in der Schublade liegt und in dem eine Ausbildungsquote von 6 Prozent festgeschrieben ist. ({9}) Beim DGB betrug die Ausbildungsquote im letzten Jahr 0,3 Prozent, bei Verdi 0,4 Prozent, bei der IG Metall 0,9 Prozent. So viel zu Anspruch und Wirklichkeit. ({10}) Nun wollen wir alle nicht, dass unsere jungen Menschen nur bei Gewerkschaften ausgebildet werden. Aber wenn Funktionäre eine gewisse Messlatte vorgeben, dann müssen sie sich auch selbst danach richten. Wir alle wissen, dass gerade die Gewerkschaftsfunktionäre nicht die besten Arbeitgeber sind. Was bei Verdi im Zuge des Personalabbaus passiert, wird von den Mitgliedern der Gewerkschaft, die keinen eigenen Betriebsrat haben dürfen, weil sie sich ja quasi selbst vertreten, zu Recht massiv kritisiert. Es kann nicht sein, dass Sie so tun, als würden betriebliche Bündnisse für Arbeit längst bestehen. ({11}) Es gibt Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Ich kann Ihnen auch erklären, weshalb die Funktionäre der Arbeitgeberverbände und die der Gewerkschaften so sehr gegen eine gesetzliche Regelung sind: weil dadurch die Verbändemacht eingeschränkt werden würde zugunsten der Möglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb. ({12}) Die Öffnungsklauseln in Tarifverträgen greifen nämlich immer nur dann, wenn die Funktionäre der einen oder der anderen Seite zustimmen. Überall dort, wo Betriebsrätinnen und Betriebsräte auf der einen Seite und Unternehmerinnen und Unternehmer oder die Geschäftsleitung auf der anderen Seite in freier Selbstbestimmung, in freier und geheimer Wahl mit 75 Prozent der Belegschaft etwas anderes entscheiden, als im Flächentarifvertrag steht, kommt die Keule des Verbändestaates dazwischen, um die Verbändemacht zu sichern. ({13}) Wir haben das mehrfach gesehen, zum Beispiel bei Viessmann und bei Burda. Mit der Fahne der Tarifautonomie in der Hand sind die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit gegangen, weil einige Gewerkschaftsfunktionäre verhindert haben, die Betriebe zukunftssicher zu gestalten. ({14}) Wir müssen in diesem Land dafür sorgen, dass es gute, funktionsfähige Gewerkschaften gibt. Kein Mensch, ganz besonders nicht in der FDP, möchte, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebeutet werden. Wir müssen aber verhindern, dass Funktionäre ihre eigenen Funktionärsinteressen vertreten auf Kosten der Menschen, deren Interessen sie eigentlich vertreten sollten. ({15}) Wenn in 29 von 30 DAX-Unternehmen Gewerkschaftsfunktionäre im Aufsichtsrat sitzen, haben die etwas mit der wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu tun. ({16}) Spätestens dann, wenn sich der grüne Vorsitzende von Verdi, Herr Bsirske, als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Lufthansa selbst bestreikt, müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen, dass hier etwas falsch läuft. ({17}) Herr Benneter hat vorhin bestimmte Formulierungen kritisiert. Herr Benneter ist für andere Formulierungen einmal aus der SPD ausgeschlossen worden. ({18}) Herr Benneter, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Ihr Parteivorsitzender Tank & Rast an Apax verkauft hat. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Ihr Finanzminister die Bundesdruckerei an Apax verkauft hat, an eine Firma, die auf Ihrer „Heuschrecken-Liste“ steht. Und Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Frau Schmidt die Wohnungen der BfA ebenfalls an eine Fondsgesellschaft verkauft hat. Seien Sie doch nicht so scheinheilig und streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen! ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Wenn Multifunktionäre so tun, als seien sie in der Lage und befugt, dieses Land an sich zu reißen, dann muss es einen geben, der sich dagegen erhebt. Das werden die Freien Demokraten sein. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Riester.

Walter Riester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003616, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war nicht überrascht über das Anpöbeln des Herrn Westerwelle gegenüber gewählten Vorsitzenden einzelner Gewerkschaften. Das stand in einer Kontinuität zu seinen sonstigen Äußerungen. Ich glaube auch nicht, dass sie bei den Gewerkschaften große Überraschung ausgelöst haben. Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass seine Äußerung große Ängste auslöst, wenn er von der Opposition befreit sei, dann wolle er Gewerkschaftsfunktionäre entmachten. Denn die Gewerkschaftsvorsitzenden werden in demokratischen Prozessen gewählt; sie werden nicht vom Vorsitzenden der FDP eingesetzt. Darin sehe ich nicht das Problem. Das Problem liegt vielmehr in den Inhalten, die er vertreten hat. Er hat gesagt: Wenn wir an die Macht kommen, dann werden wir das Tarifrecht aufbrechen. ({0}) - Im „Focus“ sagt er: das Tarifrecht aufbrechen. ({1}) Was er unter „Aufbrechen“ versteht, hat er hier erläutert. Er möchte nicht, dass die letzte Entscheidung bei den Gewerkschaften liegt, sondern dass die Vorgabe der Geschäftsleitung in geheimer Abstimmung von den Beschäftigten akzeptiert werden muss. Als Jurist müsste er eigentlich wissen, dass das Tarifvertragsgesetz noch vor der deutschen Verfassung geschaffen worden ist. In Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz wurde die Koalitionsfreiheit bewusst so stark verankert, ({2}) weil man wusste, wie erpressbar Menschen in bestimmten Situationen sind. ({3}) Es kann durchaus sein, dass Ihnen in diesem Zusammenhang der allgemeine Hintergrund fehlt. Ich will Ihnen deshalb die aktuelle Situation eines großen, renommierten Unternehmens, nämlich Siemens, schildern. ({4}) - Ich rede nicht mit Ihnen, sondern ich schildere jetzt die Situation von Siemens, einem Unternehmen, das auch Handys fertigt. Der Anteil der Lohnkosten bei der Fertigung eines Handys schwankt inzwischen zwischen 2 Prozent und 6 Prozent der Fertigungskosten. Trotzdem ist die Belegschaft hier erpresst worden: Bei Zugeständnissen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie bei der Anhebung der Arbeitszeit könne die Fertigung dort weitere zwei Jahre gehalten werden. Der Belegschaft blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Das ist die Erpressungssituation. Wissen Sie, warum das zurzeit geradezu tödlich ist? Wir werden morgen über das Entsenderecht diskutieren. Dabei geht es um die Frage, wie sich Menschen verhalten müssen, für die es keine Tarifverträge gibt, und welche Konkurrenzsituation in unserem Land auftritt. Es geht nicht darum, ob weitere Zuwanderung gewollt ist; wenn Ihr Vorhaben verwirklicht wird, dann wird dies zur Basis in Deutschland. Werfen Sie einen Blick in die Bereiche in Ostdeutschland, in denen es schwache Strukturen gibt. ({5}) - Da spricht jemand von einem „Klassenkämpfer“, der keine Ahnung hat, dass inzwischen Menschen bereit sind, sich für 3 bis 4 Euro zu verdingen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. ({6}) Ich komme zu einem weiteren Punkt. Er erklärt, dass die Mitbestimmung abgeschafft werden soll. ({7}) - Herr Westerwelle. Das ist im „Focus“ nachzulesen. Er möchte, dass die Mitbestimmung abgeschafft wird. ({8}) - Das können Sie ja nachlesen. Sie müssen das nicht mit mir diskutieren; das sind die Fakten. Ich habe in der Praxis erlebt - von dieser haben Sie wahrscheinlich keine Ahnung -, ({9}) wie es in deutschen Aufsichtsräten zugeht, und kenne die Kompetenz beider Seiten. Ich kann Ihnen deshalb sagen: Die dort vertretenen Gewerkschafter und Betriebsräte stehen den Vertretern, die für eine Bank oder eine Versicherung in drei oder vier Aufsichtsräten miteinander konkurrierender Unternehmen sitzen, in der sachlichen Kompetenz in nichts nach. Sie sind insbesondere näher an der Praxis dran. ({10}) Nun tut es mir Leid, dass Herr Westerwelle aus Zeitgründen, wie er mir gesagt hat, nicht weiter an der Debatte teilnehmen kann. ({11}) Aber ich finde, dass er sehr viel Chuzpe bewiesen hat; denn das, was er Ihnen gesagt hat, entspricht genau dem, was er sonst offen erklärt. Er erklärt: Wir leben im Sozialismus, über 50 Prozent Staatsquote! Vergisst er, dass seine Partei diejenige ist, die die längste Zeit in dieser Republik an der Regierung war, und dass die Staatsquote 1998, als die FDP aus der Regierung ausgeschieden ist, bei 52 Prozent lag? Das sagt uns jemand, der die meiste Zeit seines Lebens in staatlichen, mit Steuermitteln finanzierten Schulen und Hochschulen gelernt hat ({12}) und nun seit drei Legislaturperioden - finanziert mit Steuergeld - Politikfunktionär ist. ({13}) Da verstehe ich die Menschen, die sagen: Mit vollen Hosen ist gut stinken! ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welches ist die wahre Plage in Deutschland? Die wahre Plage ist, dass - offiziell gemeldet - 5 Millionen Arbeitsplätze in diesem Land fehlen und dass tatsächlich 8 Millionen Arbeitsplätze benötigt werden. Die wahre Plage ist, dass wir jeden Tag 1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland verlieren, und zwar auch heute, am 12. Mai 2005. Die wahre Plage in unserem Land ist, dass die rot-grüne Bundesregierung kein Rezept findet, um diesen Untergang von Arbeitsplätzen nachhaltig zu stoppen. Diese Aktuelle Stunde ist sicherlich überflüssig. Aber auch in einer überflüssigen Aktuellen Stunde dürfen Selbstverständlichkeiten gesagt werden. Selbstverständlich haben die Gewerkschaften ihren Anteil am Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Geschichte. Selbstverständlich brauchen wir auch Funktionäre, genauso wie bei jedem anderen Verband. Selbstverständlich wollen wir ernsthaft, gut und eng zusammenarbeiten. Selbstverständlich gibt es auch Meinungsunterschiede. Welches ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde? Sie wollen eigentlich das enge Verhältnis zwischen den Regierungsfraktionen und dem DGB sowie ein eher distanziertes Verhältnis zu den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag demonstrieren. Nun wäre ich mir darin nicht so ganz sicher. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich gerade die Regierungsfraktionen sehr plagen - zumal in ihrem Verhältnis zum DGB -, als ich vor kurzem gelesen habe: DGB-Chef Sommer attackiert den Bundeskanzler. Schröder versuche, mit einer Mischung „aus Zuckerbrot und Peitsche Gunst und Ehre zu verteilen, Menschen unter Druck zu setzen“. So „Stern.de“ vom 24. August 2004. Oder der Chef des DGB in seiner Rede zum 1. Mai 2005 in Mannheim: Es ist ein Unding, dass der Vorsitzende der größten Regierungspartei … die inhumanen Auswüchse des Ellenbogenkapitalismus beim Namen nennt und der stellvertretende Parteivorsitzende und Wirtschaftsminister dazu lapidar erklärt, die Kritik seines Vorsitzenden habe keinerlei Auswirkungen auf das konkrete Regierungshandeln. ({0}) Schließlich - wieder „Stern.de“ vom 24. August 2004 werde es mit ihm „keine Wahlauftritte, keine Wahlaufrufe und keine Wahlempfehlungen geben“. Denn die SPD habe „viele Positionen geräumt und wir sind heute schlauer als 1998 und 2002“. Uns ist an einer guten, konstruktiven Zusammenarbeit gelegen. Es gibt eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten. Eine davon nenne ich: Anders als Sie fordern wir betriebliche Bündnisse für Arbeit. Diese Bündnisse sind umstritten. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir hier vorankommen und dass wir mehr Rechte auf die betriebliche Ebene verlagern. Sie selbst haben davon gesprochen, dass dies teilweise mit großem Erfolg geschieht. Wir sollten übereinkommen, dass dieser Weg fortgesetzt wird. ({1}) In den Zusammenhang mit den sieben Plagen biblischen Ausmaßes gehört die Geschichte von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. ({2}) Angesichts der letzten fast sieben Jahre unter dieser rotgrünen Bundesregierung kann niemand in diesem Hohen Hause behaupten, es seien sieben fette Jahre gewesen. Es waren für die Arbeitnehmer sieben magere Jahre; sie haben Einkommens- und Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. ({3}) Wir wollen, dass für die Arbeitnehmer und für die Wirtschaft sieben fette Jahre folgen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Doris Barnett. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Tat an einer Art Scheideweg. Herr Westerwelle hat zum letzten Gefecht aufgerufen: Er will die Arbeitnehmerschaft in Deutschland endlich so kurz und klein schlagen, dass sie in sein Weltbild der Marktwirtschaft passt. Das ist bei ihm - nebenbei gesagt, auch bei der CDU - die Ordnung der Freiheit. ({0}) Deshalb steht für ihn und seine Partei die Freiheit über der Gleichheit. Die Gleichheit ist zwar im Grundgesetz festgeschrieben; aber sie gilt für ihn eben nur vor dem Gesetz. Nach ihm herrscht in der Wirtschaft aber die Freiheit und wer das nicht versteht, den muss man mit Gewalt zu seinem Glück zwingen. Diese Beglückung soll dann - wenn die FDP je wieder in Regierungsverantwortung kommt ({1}) durch die Zerschlagung der Gewerkschaften erfolgen. Die CDU/CSU soll da mitmachen und sie wird es wohl auch; denn außer einem Bekenntnis zur Gewerkschaft als solcher haben wir keine wirkliche Distanzierung zu Westerwelles Ausfällen gehört. ({2}) Die zerschlagenen Gewerkschaften müssen nach Westerwelles Lesart von ihren Hauptamtlichen befreit werden, weil sie die Arbeitnehmerschaft angeblich verraten mit ihren Tarifabschlüssen, die in der Fläche gelten und somit auch den anständigen Mittelständler vor Dumpingkonkurrenz schützen. Offensichtlich ist es der FDP und den Arbeitgeberfunktionären lieber, die Tarifkonflikte zukünftig in die Betriebe hineinzutragen; schließlich können die Arbeitnehmer vor Ort und allein doch viel freier entscheiden. Die FDP ist bestimmt überzeugt, dass der einzelne freie Betriebsrat bzw. der einzelne freie Arbeitnehmer stark genug ist, seine berechtigten Forderungen auf den Tisch des Arbeitgebers zu legen und sie auch durchzusetzen. Herr Westerwelle zweifelt sicherlich keine Sekunde daran, dass der Betriebsrat ebenso wie der einzelne Mitarbeiter „im global agierenden Multi“ auf gleicher Augenhöhe mit seinem Chef verhandelt. Nun, von ausgeprägtem Realitätssinn bleibt die FDP in letzter Zeit sowieso verschont. Dafür hat sie das Zerschlagungssyndrom befallen. Ich erinnere nur an die Zerschlagungsgelüste von Ihnen, Herr Niebel, bezüglich der Bundesagentur für Arbeit. ({3}) Durch Regierungsabstinenz offensichtlich blackoutgeschädigt hat die FDP vergessen, welche Kraftanstrengungen die Gewerkschaften und ihre Repräsentanten in den Jahren seit Kriegsende geschultert haben, um dieses Land nach vorne und zu Wohlstand zu bringen: vom Strukturwandel über Mehrarbeit, betriebliche Bündnisse, Vorruhestand mit und ohne Wiederbesetzungsgarantie bis hin zu Lohnzurückhaltung, Verzicht auf Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld usw., und das alles, um Arbeitsplätze zu sichern, um Unternehmen vor der Insolvenz dank unfähiger Manager zu retten, ({4}) um den sozialen Frieden zu wahren, um als Investitionsstandort attraktiv zu bleiben und um Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen zu können. ({5}) Leider ist es aber auch wahr, dass die ganzen Anstrengungen von der anderen Tarifvertragsseite so gut wie nicht honoriert wurden: Arbeitsplätze wurden abgebaut; Ausbildungsplätze fallen weg bzw. werden nicht in ausreichender Anzahl angeboten; Unternehmen verlagern den Standort wegen kurzfristig höherer Gewinne. ({6}) Für die FDP geht das wohl in Ordnung; denn schließlich haben wir Marktwirtschaft und leben in der Ordnung der Freiheit. Wer wagt, das als unsozial anzuprangern, wird als Plage in der Wertewelt der FDP abgestempelt. Ich sage: Wer so wie Herr Westerwelle argumentiert, hat nicht nur eine verquere Wertewelt, der hat sich selbst als regierungsunfähig und -unwürdig disqualifiziert. ({7}) Seine - angebliche - Neutralität stellt Herr Westerwelle und mit ihm die FDP her, indem sie nicht nur die hauptamtlichen Gewerkschafter, sondern auch die Funktionäre der Unternehmensverbände abschaffen wollen. Nun frage ich mich, wie zukünftig - das wurde schon gesagt - Tarifvertragsverhandlungen zwischen zwei Organisationen, die nur noch als leere Hüllen bestehen würden, funktionieren sollen. Gar nicht! Das ist ja auch das Ziel. Dass das den Unternehmen wirklich nutzt, bleibt die Behauptung von Herrn Westerwelle. Lassen wir es dabei. Allerdings mache ich mir schon Gedanken darüber, welches Menschenbild und welche Menschenwürde in die Vorstellung von Freiheit von Herrn Westerwelle gehören. Da prangert er an, dass die Gewerkschaften in den unteren Lohngruppen prozentual bessere Lohnzuwächse erzielt haben. Nebenbei gesagt: Den gleichen Vorwurf gibt es in einer nicht unbedeutenden Rede vom 15. März dieses Jahres. ({8}) In der Ordnung der Freiheit scheint der Mensch nur als Kostenfaktor betrachtet zu werden, weil Vertragsfreiheit, Wettbewerb, offene Märkte, freie Preisbildung wichtiger zu sein scheinen als Menschenwürde. Deshalb passen auch die Gewerkschaften und ihre Vertreter, die nicht nur Löhne und andere Arbeitsbedingungen bundesweit vereinbaren, nicht in dieses Bild. ({9}) Kündigungsschutz, Tarifvertragsrecht, Mitbestimmung, Betriebsverfassung, Jugendschutz - das alles sind Störfaktoren in dieser Ordnung der Freiheit. Spätestens da bekommt die FDP auch kräftigen Beifall von der CDU/ CSU, ({10}) die das alles schon selbst aufgeschrieben hat. Zu Recht haben unsere Altvorderen begriffen, welch wichtige Rolle Gewerkschaften in einer Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft spielen. Sie wären auch nie auf die Idee gekommen, Gewerkschaften oder ihre Vertreter als Verräter der Arbeitnehmerschaft zu bezeichnen; im Gegenteil. Lassen Sie mich zum Schluss ein Zitat bringen: Ich halte es für sehr gefährlich, die großen Zusammenschlüsse der gesellschaftlichen Elemente als Vermassung, als anonyme Mächte, die den einzelnen manipulieren, zu bezeichnen. Es ist das grundgesetzlich verbriefte Recht jedes Bürgers, die Vertretung seiner Interessen einer Vereinigung seiner Wahl zu übertragen. Und das Urteil darüber, ob die beauftragten Führer dieser Vereinigung mit ihren Aktionen die Interessen der Mitglieder vertreten, kann man getrost den Vertretenen überlassen. So Bundespräsident Walter Scheel 1975. ({11}) Dem ist nichts hinzuzufügen, selbst 30 Jahre danach nicht. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Weiß.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin eigentlich an dieses Rednerpult getreten, um den Kollegen Westerwelle in dem konkreten Punkt der Gewerkschaftsschelte - bei ansonsten viel Übereinstimmung - maßvoll zu kritisieren. Frau Barnett, angesichts dessen, wie Sie hier als Münteferings Maschinengewehr aufgetreten sind, ({0}) die Intentionen der FDP und des Vorsitzenden der FDP dargestellt haben und gesagt haben: „Man will die Zerschlagung der Gewerkschaften; man will die Tarifautonomie zerstören“, muss ich aber zunächst feststellen: Das war so starker Tobak, dass es ans Verleumderische grenzt. Was Sie ausgeführt haben, muss man wirklich zurückweisen. ({1}) Wenn man im Interesse größerer Dezentralisierung und Flexibilisierung, die diese Volkswirtschaft, diese Wirtschaftsgesellschaft brauchen, betriebliche Bündnisse für Arbeit will, wenn man dafür bei Aufrechterhaltung der Schutzrechte für die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer und der Tarifautonomie, die wir brauchen, gewisse Regeln will, dann legt man doch nicht die Axt an die Grundlagen dieses Sozialstaats. Was Sie dargestellt haben, war wirklich sehr überzogen, Frau Kollegin. Das diente nicht der Klarstellung politischer Positionen. Das war, glaube ich, auch nicht die Absicht und nicht die Funktion dieser Debatte. Diese Debatte, die den Wettbewerb in der polemischen Überbietung in Sachen Heuschrecken wie eine alttestamentarische Plage nun leider auch über den Deutschen Bundestag gebracht hat, hatte nur einen einzigen politischen Zweck, nämlich den, von der Arbeitsmarktmisere abzulenken, wie sie im Jahr sieben der SchröderRegierung, der rot-grünen Regierung, besteht. ({2}) Es war ein Ablenkungsmanöver und ein kläglich gescheitertes dazu. Das ändert allerdings nichts daran - das sage ich bei viel Übereinstimmung ansonsten, Herr Niebel -, dass die Art und Weise, in der Herr Westerwelle über die Gewerkschaften gesprochen hat, nach Form, Stil und Inhalt nicht akzeptabel war. Ich sage noch einmal: Wir brauchen die Gewerkschaften. Alfred Dregger hat einmal gesagt: Wenn wir sie nicht hätten, müssten wir sie erfinden. Recht hat er. Wir brauchen starke Gewerkschaften. Ich glaube, wir brauchen diese starken Gewerkschaften in einer europäisierten und globalisierten Welt mehr denn je. Wir brauchen sie in der offenen Gesellschaft so notwendig, wie wir die Verbände der Wirtschaft, die Arbeitgeberverbände, brauchen. Die Gewerkschaften sollen und müssen - das ist wohl wichtiger als jemals zuvor - die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten - die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und nicht parteipolitische Interessen; das muss man allerdings manchen Gewerkschaftlern auch ins Stammbuch schreiben. ({3}) Schauen wir uns einmal an, wie viele Streiktage wir in Deutschland hatten: im Zeitraum von 1993 bis 2002 im Durchschnitt pro 1 000 Beschäftigte fünf Arbeitstage. Im Vergleich dazu waren es in Großbritannien 25 Arbeitstage, in den Vereinigten Staaten 45 Tage, in Frankreich 92 Tage. Da muss man doch sagen, das Modell der entwickelten Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist gelungen. Das zeigt sich gerade an diesen Benchmarkwerten, dass wir uns hier sehen lassen können. ({4}) Herr Staffelt hat vorhin auf Opel in meiner Heimatstadt Rüsselsheim hingewiesen. Da ist es doch nicht nur zusammen mit den Betriebsräten - das war ein wahres Co-Management, ein modernes Management -, sondern auch im engstem Schulterschluss mit den Gewerkschaften gelungen, Erhebliches zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen beizutragen. ({5}) Das war nicht nur das Werk der Betriebsräte, sondern auch das Werk der Gewerkschaften. Man muss noch eines zu Herrn Westerwelle sagen: Die Leute an der Spitze der Gewerkschaften wie Frank Bsirske und Ursula Engelen-Kefer haben sich nicht an die Spitze geputscht, sondern sind in ihr Amt gewählt worden. Gerald Weiß ({6}) ({7}) Auch wenn man manche Aussagen und gewisse politische Inhalte in den Programmen der Gewerkschaften kritisieren muss, darf es nicht dazu kommen, dass diese Kritik in persönliche Hetze ausartet. Das gilt aber natürlich wechselseitig: im Verhältnis der Politik zu den Gewerkschaften wie auch der Gewerkschaften zur Politik. Die Art und Weise, Frau Barnett, wie Sie eben heuschreckenartig über Herrn Westerwelle hergezogen sind, ({8}) ist nicht anders als persönliche Hetze zu bezeichnen. Das ist nicht zu akzeptieren und nicht zu vertreten. Das muss man wirklich sagen. ({9}) Wir sollten die persönliche Integrität und die Lauterkeit der Motive

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- wechselseitig nicht infrage stellen. Insbesondere sollten wir uns wieder um die Hauptfrage kümmern. Hauptproblem sind nicht die Heuschrecken auf dieser oder jener Seite des Arbeitsmarktes, sondern die Hauptsache ist die Bekämpfung der elenden Arbeitslosigkeit in Deutschland. In diesem Bereich waren Sie extrem erfolglos. Diesen Misserfolg versuchen Sie deshalb durch solche Debatten wie heute zu bemänteln. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Wend.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Partei- und Fraktionsvorsitzender, Franz Müntefering, wurde mehrfach angesprochen. ({0}) Ich möchte zu dieser Thematik zwei Sätze vorab sagen, weil ich davon ausgehe, dass Sie inzwischen ein gewisses Differenzierungsvermögen besitzen. Es geht um Folgendes: Mit ihm stimme ich völlig in der Auffassung überein, dass wir privates Beteiligungskapital, übrigens auch von Kapitalbeteiligungsgesellschaften - die Frage, ob aus dem Inland oder dem Ausland, ist dabei völlig gleichgültig -, in Deutschland nicht nur gut gebrauchen können, sondern sogar froh sein können, wenn sie hier investieren. Sie haben manches Unternehmen, das sich in einer schwierigen Situation befand, übernommen, nach fünf bis acht Jahren, als es am Markt wieder besser positioniert war, wieder veräußert, damit Arbeitsplätze gerettet bzw. sogar noch geschaffen. Eine solche Vorgehensweise kann - das will ich mit aller Deutlichkeit sagen - durchaus vernünftig sein. ({1}) Es gibt aber auch eine andere Seite: Dieser Frage weichen Sie aus. Ich werde sehr konkret und nenne die Firma Grohe. Die Firma Grohe, Hersteller von Sanitärinstallationen - Sie kennen sie alle -, wurde im letzten Herbst zum zweiten Mal von Finanzinvestoren übernommen. Sie haben als Erstes McKinsey eingesetzt - das ist modern und üblich - und Folgendes festgestellt: Grohe hat eine Gewinnmarge von 20,8 Prozent. Das reichte den neuen Eigentümern nicht; sie hätten gerne 28 Prozent Gewinnmarge gehabt. Um diese zu erreichen, um kurzfristig statt 20,8 Prozent Rendite 28 Prozent zu haben, müssen Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland abgebaut und verlagert werden. An der Stelle sage ich: Diese Auswüchse des Kapitalismus, die ausschließliche Fixierung auf kurzfristige Gewinne, sind wir nicht bereit zu akzeptieren. ({2}) Das ist die Debatte, die wir führen; da werden Sie nicht ausweichen können. Das ist keine pauschale Kritik, sondern eine sehr konkrete Kritik bezüglich der Auswüchse. Alles andere ist hochwillkommen. Die Gewerkschaften: Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, dass sich die, die auf der linken Seite in diesem Raum sitzen, über die Gewerkschaften teilweise mehr geärgert haben als Sie; denn wenn die eigenen Freunde einen hart und, wie ich finde, oft auch ungerecht kritisieren und Dinge tun, die nicht akzeptabel sind - darüber ist hier schon gesprochen worden -, dann trifft einen das am meisten. Darüber muss man kritisch diskutieren. Aber wir diskutieren heute über etwas viel Grundsätzlicheres, Herr Niebel, und das werfe ich Ihnen vor. Sie waren so freundlich, eben an diesem Pult zu sagen, es gehe nicht nur um bestimmte Funktionäre; auch dazu ist schon etwas gesagt worden. Sie haben gesagt - ich habe es mir extra aufgeschrieben -: Wir wollen die Verbändemacht, wenn wir an die Regierung kommen, beschränken. Es geht also doch um die Verbände, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände. Damit diskutieren wir über etwas Konstitutives, was unsere Nachkriegsordnung und unsere Verfassung betrifft. Ich möchte aus dem Grundgesetzkommentar von Maunz-Dürig-Herzog-Scholz - alle bekanntlich keine der Sozialdemokratie nahe stehenden Verfassungsrechtler und Politiker - zitieren. Dort heißt es: Denn das Grundgesetz betraut Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände … mit zentralen Zuständigkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsordnung sowie der rechtlichen Arbeitsverfassung. Weiter: Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit dient … der Aufgabe, im Verein mit dem sozialen Gegenspieler das Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben durch die Verfassung den Auftrag erhalten, unser Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden. ({3}) Deswegen kann es vernünftigerweise nicht Ziel sein, den Einfluss dieser Verbände zu beschränken, sondern wir müssen das Ziel haben, diese Verbände stark zu halten, damit sie unser Arbeitsleben auch in Zukunft ordnen und befrieden. Eine verfassungsrechtliche Aufgabe, zu der wir stehen, meine Damen und Herren! ({4}) Mein Vorwurf an Sie ist, dass Sie diese Dimension der Rolle der Verbände, der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, bei der Befriedung unserer Gesellschaft nicht verstehen. Aber es ist noch mehr. Ich darf noch ein Zitat bringen, Herr Niebel: Die aus der Kritik des kapitalistischen Systems entsprungene Arbeiterbewegung und die zunächst von liberaldemokratischer wie später von sozialdemokratischer Seite initiierte Gewerkschaftsbewegung hat das … Verdienst, die Perversion des kapitalistischen Systems nicht nur aufgehalten, sondern in einen evolutionären Prozess der ständigen Steigerung … umgekehrt zu haben. Arbeitsschutzgesetzgebung, Arbeitslosenversicherung, Lohnvereinbarung der Sozialpartner und … Mitbestimmung des Arbeitnehmers sind die Stadien dieser stetigen Systemreform. Freiburger Thesen der FDP von 1971, Herr Niebel. ({5}) Deswegen behaupte ich: Sie sind nicht nur dabei, sozusagen Säulen unserer Verfassung infrage zu stellen, sondern Sie entkleiden sich an der Stelle auch Ihrer eigenen Geschichte, Herr Niebel. Das ist etwas, worüber Sie noch einmal ganz in Ruhe nachdenken sollten. ({6}) Die Gewerkschaften - ich sage es noch einmal - machen es einem nicht immer ganz leicht. Gleichwohl ist, wie ich finde, eine Menge Bewegung eingetreten. Deswegen zum Abschluss noch ein Zitat, diesmal von Berthold Huber, dem stellvertretenden Vorsitzenden der IG Metall. Ich zitiere: Die IG Metall hat sich Mitte der 80er Jahre gegen Leiharbeit und Befristungen gewandt, weil sie der Erosion der so genannten Normalarbeitsverhältnisse entgegentreten wollte. … Jetzt sind wir 15, 20 Jahre weiter und die Frage von Flexibilität, Ungesichertheit und Sicherheit stellt sich neu. Unser Problem scheint mir mit zu sein, dass die Gewerkschaften und ihre prägenden Meinungsträger eher aus Normalarbeitsverhältnissen kommen und sich mit der Gestaltung dieser neuen Arbeitsverhältnisse schwer tun. Die existieren aber. Deswegen hat es keinen Zweck, sentimental an dem Vertrauten festzuhalten. Man muss den Blick auf die Zukunft der Arbeitswelt richten. Sie gilt es im Interesse der Beschäftigten zu gestalten und zu zivilisieren. ... Wir müssen bereit sein, auf die vielfältige Arbeitswelt zu reagieren und differenzierte Antworten zu geben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege!

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Differenzierte Antworten“ ist richtig. Wenn Sie bei den differenzierten Antworten auf schwierige Fragen so weit wären wie die IG Metall und ihr stellvertretender Vorsitzender, wären wir alle ein Stück weiter. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c sowie Zusatzpunkte 5 und 6 auf: 6 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe - Drucksache 15/4575 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben konsequent sichern - Drucksache 15/4927 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Sexuelle Übergriffe gegen Menschen mit Behinderung wirksam unterbinden und Hilfsangebote für Betroffene verbessern - Drucksache 15/4928 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Erfolge in der Politik für behinderte Menschen nutzen - Teilhabe und Selbstbestimmung weiter stärken - Drucksache 15/5463 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({4}), Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beim Fahrkarten- und Ticketkauf verhindern - Teilhabe ermöglichen - Drucksache 15/5460 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe. Der Bericht ist im Dezember des letzten Jahres vorgelegt worden. Aber er hat nichts an Aktualität verloren. Er beschreibt die Politik für Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren und zeigt deutlich, dass es seit 1998 in einem erheblichen Umfang neue Grundlagen für die Politik für Menschen mit Behinderung gegeben hat. Gemeinsam mit Organisationen und Verbänden der Behinderten sowie mit Selbsthilfegruppen hat der Gesetzgeber - in vielen Bereichen mit breiter Zustimmung dieses Hauses - einen Paradigmenwechsel vollzogen: weg von der allumfassenden Fürsorge und hin zu einer Politik, die mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördert und die die Möglichkeiten schafft, dass Behinderte besser in die Gesellschaft integriert werden. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn wir die behinderten Menschen dabei unterstützen, Barrieren aus dem Weg zu räumen, und wenn wir ihnen helfen, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Dies waren im Kern gute Reformentscheidungen. Der Paradigmenwechsel war richtig und wichtig. Aber es bleibt eine ständige Aufgabe von uns allen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Ziele erreicht werden. ({0}) Grundstein war und ist das SGB IX mit einem bürgernahen Rehabilitations- und Teilhaberecht, mit der Einführung gemeinsamer Servicestellen, mit kürzeren Bearbeitungsfristen, mit der Verhinderung von Mehrfachbegutachtungen, mit dem Auftrag an die Rehabilitationsträger, gemeinsame Empfehlungen zu verabschieden, und mit der Einführung des persönlichen Budgets. Letzten Endes geht es um die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Denn die gesetzlichen Regelungen sind das eine. Sie aber im täglichen Leben umzusetzen und dafür zu sorgen, dass entsprechend dem Willen des Gesetzgebers vor Ort gehandelt wird, ist die Aufgabe von uns allen. Natürlich gibt es Probleme bei der Umsetzung. Natürlich gibt es ein Beharrungsvermögen - auch im Behördenbereich -, weil der eine oder andere die Umstellung nicht will. Wir müssen den Verantwortlichen klar machen, dass es darum geht, eigenständigen Persönlichkeiten zu helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und ein selbstständiges Leben zu führen. Wir müssen auch mithelfen, vorhandene Barrieren einzureißen - nicht nur Barrieren im Alltag, sondern manchmal auch Barrieren in den Köpfen. An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber und die Bundesregierung eine Vielzahl von Brücken geschaffen haben, die es den Menschen ermöglichen, den Weg in Richtung eines selbstbestimmten Lebens zu gehen. Neben dem SGB IX gibt es das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter, das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen und das Behindertengleichstellungsgesetz, das wir gemeinsam geschaffen haben und das die Barrierefreiheit gewährleisten soll. Mit diesen Gesetzen und Regelungen wurden die Verbände und Organisationen der Behinderten - ich will in diesem Zusammenhang auf drei Punkte hinweisen - viel stärker in den Gesetzgebungsprozess und in die Umsetzung einbezogen. Ich erinnere an die Vorbereitung gemeinsamer Empfehlungen, an die Arbeit der gemeinsamen Servicestellen, an verbesserte Anhörungsrechte und an die zusätzliche Beteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss, als es um die Modernisierung des Gesundheitswesens ging, sowie die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung in den Betrieben. Ferner sind in diesem Zusammenhang der Beirat für Teilhabe von behinderten Menschen und der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung zu nennen. Das SGB IX hat mit dazu beigetragen, dass die Möglichkeiten, die die Leistungen zur Teilhabe bieten, mithilfe des persönlichen Budgets erheblich verbessert worden sind. Das gibt den Menschen die Chance, die Leistungen, die sie bislang sehr kompakt bekommen haben - ich nenne beispielsweise eine ambulante, teilstationäre oder stationäre Unterbringung in einer Einrichtung -, nun eigenverantwortlich in Anspruch zu nehmen. Damit erhalten sie mehr Autonomie und können die Hilfe nach ihren persönlichen Wünschen gestalten. Auch das ist Teilhabe, auch das ist Eigenverantwortung, auch das ist mehr Integration. ({1}) Wir haben für diesen Fall 16 Modellregionen vorgesehen. Modelle brauchen wir aber nicht mehr, wenn es darum geht, mehr Arbeit für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Denn dabei geht es im Kern um die Einstellung, und zwar nicht nur um die Einstellung an sich, sondern auch um die Einstellung in den Köpfen. ({2}) Wenn es darum geht, jemanden zu beschäftigen, darf die Frage nicht lauten: Behindert oder nicht behindert? Die Frage muss vielmehr lauten: Geeignet oder nicht geeignet? An dieser Stelle will ich an die guten Ergebnisse erinnern, die wir gemeinsam errungen haben: Die Arbeitslosigkeit konnte im Zeitraum von 1998 bis 2003 um gut 13 Prozent gesenkt werden. ({3}) - Danach ist sie wie in anderen Bereichen auch gestiegen. ({4}) Das stellt uns überhaupt nicht zufrieden. Deswegen haben wir bei den Mitteln zur Integration in Beschäftigung auch nicht nachgelassen. Wir haben von 1998 bis 2004 dazu beigetragen, dass die besonderen Leistungen und die allgemeinen Leistungen zur Förderung der Teilhabe an Arbeit bei der Bundesagentur für Arbeit um 68 Prozent erhöht worden sind. ({5}) Wir haben dazu beigetragen, dass die Pflichtleistungen zur beruflichen Rehabilitation von 1999 bis 2004 um 40 Prozent gestiegen sind. Dieser Kurs wird heute mit einem Volumen von 2,7 Milliarden Euro fortgesetzt, wenn es darum geht, Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation zu finanzieren. Die Initiative „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ war nicht ohne Erfolg. Sie war von der Gemeinsamkeit der Wirtschaft, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften geprägt, zu handeln. Genau diesen Kurs setzen wir jetzt fort, wenn es darum geht, jungen Menschen und Schwerbehinderten eine Möglichkeit zur Integration in das Arbeitsleben zu verschaffen. Wir haben vor einiger Zeit im Rahmen unserer Jobinitiative „Jobs ohne Barrieren“, die wir gemeinsam mit den Behindertenverbänden, den Gewerkschaften, der Wirtschaft und den Unternehmen ergriffen haben - organisiert vom Unternehmensforum, also einem Zusammenschluss von Unternehmen in Frankfurt -, eine Veranstaltung durchgeführt. Dabei hat es mich sehr beeindruckt, wie uns ein Besitzer eines kleinen Unternehmens im EDV-Bereich erklärt hat, wie ein blinder junger Mensch in diesem Unternehmen zum EDV-Kaufmann bzw. Programmierer ausgebildet wird. Es war faszinierend, zu erleben, wie jemand, der blind ist, einen Laptop bedient. Das, was wir mit den Augen sehen, sieht er mithilfe technischer Unterstützung. Bei ihm sind bestimmte Kompetenzen durch andere Sinneswahrnehmungen stärker ausgebildet. Da beweist sich: Er ist für diesen Beruf, für diese Ausbildung geeignet. Diese Beispiele weiterzuführen und deutlich zu machen, dass das geht, ist ein wesentliches Ziel dieser Initiative. Es geht darum, mit daran zu arbeiten, dass Unternehmen und Personalverantwortliche dies wahrnehmen und den Menschen eine Chance geben, sich entsprechend ihren Fähigkeiten in die Arbeitswelt einzubringen und die Brücken, die wir gebaut haben, zu nutzen, um in Arbeit und Beschäftigung zu kommen. Wir haben mit der Initiative „Jobs ohne Barrieren“ mit dazu beigetragen, dass sich nun eine Vielzahl von Unternehmen an Projekten und Initiativen beteiligt, mit denen vor Ort Beispiele praktischer Beschäftigung und Ausbildung geschaffen werden. Die 90 000 Broschüren, die wir hergestellt haben, sind mittlerweile abgerufen worden. Diese gezielte Information, dieser Abbau von Vorurteilen und teilweise von Berührungsängsten tragen dazu bei, die Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen, die Behinderungen haben, erheblich zu verbessern. Aber es geht nicht allein darum, Gesetze zu verabschieden, sondern auch darum, dass die Gesetze vor Ort mit Leben erfüllt werden müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir alle gemeinsam mit denjenigen, die vor Ort, bei den Sozialhilfeträgern, in den Kommunen, in Vereinen und Verbänden, im Familienbetrieb, im weltweit agierenden Konzern oder im Bürgeramt, Verantwortung tragen, daran arbeiten, dass auf die Pfeiler, die wir hier setzen, Brücken kommen, die den Menschen den Übergang zur Teilhabe an Arbeit und zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der vorliegende Bericht und unsere Arbeit mit dazu beitragen können, dass dann, wenn wir dies vor Ort kooperativ umsetzen, Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen nicht nur als Gesetzesziel formuliert werden, sondern auch schrittweise in der Alltagspraxis Realität werden. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Hüppe.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer gerade die Rede von Herrn Thönnes gehört und wer den Bericht ausführlich gelesen hat, der müsste eigentlich den Eindruck gewonnen haben: Alles ist gut; es gibt noch ein paar Umsetzungsprobleme, ansonsten aber ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gesichert. ({0}) - Es gibt, wie gesagt, vielleicht noch ein paar Umsetzungsprobleme. Wer aber die Realität sieht, der weiß, dass sich die Situation für Menschen mit Behinderungen vor allem in der Arbeitswelt verschlechtert hat. Die Bundesregierung spricht in ihrem Bericht von einem modernen und leistungsfähigen System der Teilhabe, von Chancengleichheit und sozialer Integration, von der Eröffnung beruflicher Perspektiven für behinderte Menschen und von freier Selbstbestimmung. Rot-Grün beschwört immer wieder - Herr Thönnes hat das gerade wieder getan den so genannten Paradigmenwechsel. Abgesehen davon, dass wir uns vielleicht einmal die Einfachsprache angewöhnen sollten, können angesichts der realen Situation viele Menschen dieses Wort nicht mehr hören und empfinden es eher als Hohn. Wenn ich mit den Betroffenen spreche, stellt sich mir ein dramatisches Bild dar: Immer mehr Menschen mit Behinderungen haben keinen Arbeitsplatz. Selbst Rechtsansprüche werden vor Ort nicht eingelöst, weil kein Geld vorhanden ist. ({1}) Eltern mit behinderten Kindern haben Angst vor der Zukunft. Die medizinische und pflegerische Versorgung bekommt immer mehr Risse, die nur notdürftig gekittet werden. Einrichtungen der Behindertenhilfe kämpfen um ihre Standards und um ihre Existenz. Wenn wir heute über die gesellschaftliche Teilnahme von Menschen mit Behinderungen sprechen, dann unterscheiden wir uns in diesem Hause nicht im Ziel. Viele gesetzliche Grundlagen wie das SGB IX und das Bundesgleichstellungsgesetz haben wir gemeinsam im Bundestag beschlossen. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich es gut finde, dass wir bei diesen Themen über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Es ist richtig, dass wir diese Menschen vor Augen haben und ihnen in allen Bereichen Chancengleichheit eröffnen wollen. ({3}) Das größte Hindernis bei der Umsetzung dieses Ziels - das müssen Sie nun einmal zugeben - ist allerdings die katastrophale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung; denn sie trifft gerade die Benachteiligten am härtesten. Das zeigt wieder einmal, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Ohne wirtschaftlichen Aufschwung, ohne mehr Beschäftigung wird es immer schwieriger, unser vergleichsweise immer noch gutes Sozialsystem zu sichern und Menschen mit Behinderungen in das Arbeitsleben zu integrieren. Deswegen müssen wir jedes, aber auch wirklich jedes Gesetz - das gilt auch für das Antidiskriminierungsgesetz - daraufhin prüfen, ob es zu mehr oder weniger Arbeitsplätzen führt. Das ist die entscheidende, auch soziale Frage. ({4}) Der Bericht der Bundesregierung vermittelt die Weigerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Natürlich finden sich im SGB IX gute Ansätze. Deswegen haben wir ihm im Jahr 2001 zugestimmt. Heute aber, vier Jahre später, muss festgestellt werden, dass die Umsetzung in vielen Bereichen nicht gelungen ist. So spricht die Bundesregierung - Herr Thönnes hat dies auch getan - gleich auf der ersten Seite ihres Berichts von den eingerichteten so genannten gemeinsamen Servicestellen, die zwischen den verschiedenen Reha-Trägern vermitteln und so den behinderten Antragstellern zu einem schnelleren Verfahren verhelfen sollen. Wer aber in der Anlage des Berichts die Zusammenfassung über die wissenschaftliche Begleitforschung zur Einrichtung dieser Stellen liest, muss eine ernüchternde Bilanz ziehen. Die Studie beweist, dass diese Stellen kaum bekannt sind und deswegen auch kaum genutzt werden. Mehr als die Hälfte der Servicestellen, die geantwortet haben, hatte im Jahr 2003 - im ganzen Jahr 2003! - weniger als 13 Beratungsfälle. Da 30 Prozent der Servicestellen gar nicht geantwortet haben, muss laut der Studie im schlimmsten Fall davon ausgegangen werden, dass fast ein Drittel gar keinen Fall hatte. Was nutzt es, wenn im Bericht stolz darauf verwiesen wird, dass fast in allen Kreisen Deutschlands Servicestellen eingerichtet wurden, aber keiner weiß, dass es diese überhaupt gibt? ({5}) Ein weiteres Beispiel für die mangelhafte Umsetzung der Regelungen des SGB IX ist die Frühförderung von Kindern. Der Frühförderung im Kindesalter muss aus meiner Sicht - ich glaube, da stimmen wir überein - die größte Bedeutung zukommen; denn je früher die Förderung von Kindern mit Beeinträchtigungen erfolgt, desto größer ist der Erfolg. ({6}) Deswegen wurde die Frühförderung als Komplexleistung in das SGB IX aufgenommen. Es ist aus meiner Sicht eine Katastrophe, wenn die Hilfe für Kinder zu spät oder gar nicht einsetzt, weil sich die Kostenträger nicht einigen können. ({7}) - Ja, gleichzeitig müssen Sie aber auch sagen, dass in Nordrhein-Westfalen alle Mittel für die Frühförderung in den gegenwärtigen Haushalt eingestellt worden sind. ({8}) Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({9}) Das ergibt sich aus der Antwort auf die Anfrage der CDU-Landtagsfraktion. Auf dieses Thema war ich vorbereitet und bin dankbar, dass Sie es angesprochen haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidbauer?

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hüppe, ist Ihnen entgangen, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung hilfreich war, indem sie in diesem Fall eine Rechtsverordnung auf den Weg gebracht hat, und ist Ihnen entgangen, dass es ausgerechnet das Land Bayern war, das diese Rechtsverordnung entkernt hat, damit sich ihre Wirkung ja nicht entfalten kann?

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schmidbauer, ich bin dankbar, dass Sie diese Frage stellen. Tatsächlich ist die Frühförderungsverordnung seit dem 1. Juli 2003 in Kraft. Seitdem sind fast zwei Jahre vergangen. Wenn wir diesen Bereich gesetzlich hätten regeln können, dann hätten die Kinder einen Anspruch auf Förderung und dann wüssten auch die Kostenträger, was sie zu zahlen haben. ({0}) Wir dürfen nicht noch länger warten; ({1}) denn, liebe Kollegin, inzwischen sind bereits fast zwei Jahre vergangen. Das bedeutet, dass viele Kinder, die eigentlich einer Frühförderung bedurft hätten, heute schon in der Schule sind und deswegen leider Gottes vielleicht sogar auf eine Sonderschule gehen müssen. Meine Damen und Herren, der größte Teil des Berichts der Bundesregierung beschäftigt sich - ich sage: zu Recht - mit der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben. Dort heißt es - ich zitiere -: „Teilhabe am Arbeitsleben ist … von elementarer Bedeutung“ und ist „Grundlage für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“. Dieser Aussage wird wohl jeder hier im Hause zustimmen; denn wer im Arbeitsbereich ausgesondert ist, wird zwangsläufig auch in allen gesellschaftlichen Bereichen wie Wohnen, Bildung, Kultur und Freizeit ausgesondert. ({2}) Was dann in Ihrem Bericht erfolgt, ist allerdings eher peinlich. Anstatt sich den aktuellen Problemen der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu stellen - das ist auch heute leider nicht erfolgt -, wird hauptsächlich Selbstbeweihräucherung betrieben. Wer die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen will, sollte nicht den Bericht der Bundesregierung, sondern den Mikrozensus 2003 des Statistischen Bundesamtes lesen. Ihm kann man entnehmen, dass die Erwerbsquote erwerbsfähiger Menschen mit Behinderungen wesentlich niedriger ist als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Nur etwas mehr als die Hälfte der behinderten Menschen zwischen 25 und 45 Jahren können ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit finanzieren. Anstatt diese Situation, die sich in den letzten zwei Jahren noch dramatisch zugespitzt hat, selbstkritisch zu hinterfragen, stellen Sie in Ihrem Bericht fest, dass die Bundesregierung sehr erfolgreich gewesen sei. Sie rühmt sich, den Trend der steigenden Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen nicht nur gestoppt, sondern sogar umgekehrt zu haben. Sie schwärmt uns jetzt seit Jahren - wie auch Herr Thönnes das gerade wieder getan hat - von der Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ vor, durch die die Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter in der Zeit von Oktober 1999 bis Oktober 2002 um 24 Prozent gesenkt worden sei. Ich muss die Bundesregierung wirklich einmal fragen: Wie lange wollen Sie uns das eigentlich noch erzählen? Sie mussten diese 24 Prozent erreichen - eigentlich hätten Sie sogar 25 Prozent erreichen müssen -, weil Sie die Beschäftigungspflichtquote für Betriebe sonst nicht von 6 Prozent auf 5 Prozent hätten senken können. Längst ist bewiesen, dass Sie in diesem gesamten Zeitraum keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen haben, sondern dass diese Zahlen einzig und allein durch Bereinigungen der Statistik entstanden sind. ({3}) Das wird in Ihrem eigenen Bericht bewiesen. Warum diese statistische Zahl gesunken ist, steht dort nämlich: Die Abgänge aus der Statistik waren Abgänge in die Nichterwerbstätigkeit. Das heißt, dass die Menschen in die Frührente gingen oder als Hausmann bzw. Hausfrau aus der Statistik herausfielen. Dieser Trend stieg konsequent bis auf 62 Prozent der Abgänge. Von 1998 bis 2003 - nur so weit reicht Ihr Bericht - stieg die Zahl der Abgänge in die Nichterwerbstätigkeit damit um 37 Prozent. Das, meine Damen und Herren, ist der „Erfolg“ der Bundesregierung. Interessanterweise gab es ausgerechnet im Stichjahr 2002 einen sprunghaften Anstieg der Zahl der Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen. Der Zuwachs an Werkstattmitarbeitern - hören Sie genau zu ist 2002 mit über 25 000 Personen mehr als dreimal so hoch gewesen wie in den Vorjahren. Nach 2002 wurde dieser Zuwachs nie wieder erreicht; Gleiches gilt übrigens auch für die Berufsförderungsmaßnahmen. Ich halte es, nicht für richtig - weder volkswirtschaftlich noch menschlich -, nur um diese Zahlen zur erreichen Menschen in Einrichtungen zu stecken, die eigentlich nicht dahin gehören. ({4}) - Das sind die Zahlen von der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen; Sie können sie gern von mir bekommen. Die Kampagne war ein Strohfeuer, bei dem viel Geld verbrannt wurde, das wir heute dringend bräuchten. Ich hoffe, dass die neue Aktion „Jobs ohne Barrieren“ nicht ebenso ein Strohfeuer wird. Heute steht die Bundesregierung im Bereich beruflicher Teilhabe für Menschen mit Behinderung vor einem Scherbenhaufen: Mit über 194 000 arbeitslosen Schwerbehinderten im April halten wir uns auf Rekordhöhe. Was die berufliche Reha und die Vermittlung behinderter Menschen angeht, ergibt sich ein katastrophales Bild: Zahlreiche Betroffene und Träger der beruflichen Reha haben sich an mich gewandt - ich weiß: an andere Kollegen auch - und über Missstände informiert. Die Kassen der Bundesagentur für Arbeit sind im Rehabereich leer, und das, obwohl noch nicht einmal ein halbes Jahr vergangen ist. Der Vater eines behinderten Sohnes hat mir noch vor zwei Wochen gesagt, dass ihm die örtliche Bewilligungsbehörde gesagt hat: Ja, sein Sohn habe zwar einen Rechtsanspruch auf einen Platz, aber im Gesetz stehe nicht, wann dieser erfüllt werden müsse. Meine Damen und Herren, das ist das zynische Ergebnis der Politik der Bundesregierung. ({5}) - Das ist so. Die Wirklichkeit ist: Eingliederungszuschüsse an Arbeitgeber, die behinderte Menschen beschäftigen wollen, werden kaum noch bewilligt. Integrationsprojekte und Firmen bangen um ihre Existenz. Träger von Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken melden, dass immer weniger Anmeldungen von der BA getätigt werden, obwohl der Bedarf eher höher als niedriger ist. Die berufliche Reha im Rahmen von Hartz IV wird erst gar nicht betrieben. Bei den optierenden Gemeinden ist die Lage noch völlig ungeklärt. ({6}) Werkstätten für behinderte Menschen schlagen Alarm, da zwar der Rechtsanspruch auf einen Werkstattplatz von der BA anerkannt wird, aber keine Kostenzusage für dieses Jahr mehr erteilt wird. Es ist klar - und da stimmen wir mit den Regierungsparteien überein -, dass berufliche Reha wirtschaftlich und effizient sein muss. Aber die BA hat nach eigenen Angaben ja nicht einmal - das steht auch in ihrem Bericht - gesicherte Erkenntnisse über die Wirkung von Teilhabemaßnahmen. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben durch verschiedene Initiativen versucht, hier zur Aufklärung beizutragen. Wir haben vor drei Wochen eine Kleine Anfrage gestellt, in der es um berufliche Teilhabe geht. Man hat für die Antwort um Fristverlängerung gebeten und diese haben wir auch erteilt: um eine Woche. Die Antwort sollte gestern kommen. Noch gestern wurde mir mitgeteilt, sie komme spät abends. Sie war auch spät abends nicht da. Ich habe heute Morgen noch einmal anrufen lassen: Sie ist immer noch nicht da. ({7}) Man hat mir aber zugesichert: Zwei Stunden nach der Debatte werden wir die Zahlen bekommen. Meine Damen und Herren, wer so lange Zeit braucht, nur damit die Zahlen nicht mehr rechtzeitig zu dieser Debatte vorliegen, der hat etwas zu verschweigen. ({8}) Unsere Kleine Anfrage zur Zukunft der beruflichen Ersteingliederung und Wiedereingliederung gesundheitlich beeinträchtigter und behinderter Menschen hat ans Licht gebracht, dass die Bundesagentur für Arbeit die Stellenzahl für Mitarbeiter im Rehabereich von 2003 auf 2004 halbiert hat, und zwar nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Landesebene. Trotzdem geht die Bundesregierung in ihrer Antwort davon aus, dass schon alles in Ordnung sei - ich zitiere -: Die Bundesregierung geht davon aus, dass eine Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben auch im Bereich der Förderung der beruflichen Teilhabe behinderter Menschen personell sichergestellt ist. Meine Damen und Herren, ich habe in verschiedenen Podiumsdiskussionen erlebt, wie Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Bündnisgrünen so taten, als hätten sie damit nichts zu tun ({9}) und als würden sie ja auch bedauern, dass das bei der BA alles so falsch laufe. Aber so kommen Sie nicht davon. Sowohl das Gesundheitsministerium als auch das Bundeswirtschaftsministerium haben gemeinsam die Fachaufsicht über die BA. Wenn sogar Rechtsansprüche nicht erfüllt werden, dann reicht kein Lamentieren, dann reicht auch kein Entschließungsantrag, sondern dann muss endlich durchgegriffen werden, damit den Menschen geholfen werden kann. ({10}) Ich möchte nun noch auf das Schul- und Bildungssystem eingehen. Auch ich bin der Meinung, dass wir hier mehr tun müssen, und zwar nicht erst in der Schule, sondern, wenn möglich, schon in den Tageseinrichtungen für Kinder. Ich glaube, darin sind wir uns auch einig. Viel zu selten gibt es heute noch einen gemeinsamen Unterricht und eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern. Ich glaube - das zeigen übrigens auch alle Studien -, dass viele Vorurteile abgebaut werden könnten, wenn behinderte Menschen schon von klein auf mit nicht behinderten Menschen zusammenleben könnten. ({11}) - Ja, gut, wir können darüber reden. Sehen Sie sich die Statistik an. Ihr Land ist da auch nicht viel besser. ({12}) - Ich meine, Nordrhein-Westfalen ist auch nicht viel besser. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es nutzt doch nichts, dass wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen. ({14}) - In dieser Frage, meine ich. - Wichtig ist doch, dass wir in Zukunft das verhindern, was in der Vergangenheit geschehen ist, dass nämlich, so Ihr Bericht, die Zahl der Sonderschüler von 1994 bis 2002 um 12 Prozent gestiegen ist. In meinem Wahlkreis Unna ist die Zahl um 8 Prozent in einem Jahr gestiegen. Das dürfen wir einfach nicht akzeptieren. Wir müssen zusehen, dass wir es gemeinsam schaffen, dass diese Kinder gemeinsam mit nicht behinderten Kindern leben und lernen können. ({15}) Es gibt noch viele Punkte, die man erläutern könnte. Wir werden weiter mit Ihnen zusammenarbeiten. Zum Schluss bitte ich Sie aber einfach: Seien Sie wenigstens etwas selbstkritischer und kommen Sie nicht mit irgendwelchen Dingen, die Jahre zurückliegen; denn nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt. ({16}) Wenn wir wieder dazu kommen, dann werden wir die Dinge gemeinsam anpacken, wie wir es in der Vergangenheit auch getan haben. Vielen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Hüppe, eigentlich wollte ich meine Rede ja mit einem Loblieb auf das Sozialgesetzbuch IX beginnen. Das, was Sie jetzt hier abgeliefert haben, und die Art, mit der Sie sämtliche Mängel, die ja unstreitig auch in der Gesetzesumsetzung bestehen, ({0}) der Regierungskoalition und der Bundesregierung anlasten wollen, bringt mich aber schon dazu, bereits zu Beginn der Rede mal zu schauen, wer von denjenigen, die das Gesetz umsetzen müssen, das überhaupt tut und wie er es tut. ({1}) Schichten wir das mal Stück für Stück ab. ({2}) - Nein, wir fangen mit dem Bundesland Bayern und der Frühförderung, über die Sie geredet haben, an. - Wer hat denn die Rechtsverordnung, die schließlich kommen musste, abgelehnt? Das war das Land Bayern, das von der CSU regiert wird. ({3}) Schauen wir mal, wer noch in der Verantwortung steht. Die überörtlichen Sozialhilfeträger stehen in der Verantwortung, das mit umzusetzen. Darauf haben wir nicht ohne weiteres einen direkten Zugriff. Wir haben mit dem Sozialgesetzbuch IX den gesetzlichen Rahmen geschaffen. Was macht jetzt etwa der Bezirk Schwaben im Zuge der Änderung des Bundessozialhilfegesetzes? Er streicht den Werkstattbeschäftigten das Mittagessen. Das wäre auch ein Punkt. ({4}) Schauen wir uns mal Hessen an, das von der CDU regiert wird. Die Sozialministerin Lautenschläger stellt sich hin und sagt, die Optionskommunen hätten überhaupt nichts mit Reha zu tun. ({5}) Dabei muss man doch nur einmal im Gesetz nachlesen, was da steht. Hessen ist eine rehafreie Zone. ({6}) Auch hier: Sie reden von Optionskommunen und versuchen, uns als Regierungskoalition das aufs Butterbrot zu schmieren. ({7}) - Der Kollege Stöckel gibt das Stichwort Niedersachsen. - Ich nenne als ein weiteres Beispiel das Blindengeld in Niedersachsen und Thüringen. Auch das sind CDU-geführte Landesregierungen. Als ob das Ganze nicht genug wäre: Schauen wir uns mal etwas an, was über den Bundesrat, und zwar indirekt wiederum über die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg kommt, nämlich das so genannte Kommunale Entlastungsgesetz. ({8}) Was finden wir darin? Dort finden wir eine Finanzkraftklausel, durch die die Leistungen für Menschen mit Behinderungen von der aktuellen Kassenlage abhängig gemacht werden sollen. ({9}) Das sind der Hintergrund, vor dem das Ganze stattfindet, und die Orchestrierung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Einen Moment. - Das müssten Sie auch mit erwähnen, bevor es hier losgeht und Sie anfangen, alles zusammen, einschließlich der Schulpolitik, die Sie in der Föderalismuskommission doch so krampfhaft in den Händen der Länder halten wollten, in den großen Sündensack der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen zu schippen. So läuft es nicht. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heiderich?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kurth, da Sie eben auf die Bundesländer Bezug genommen und das Land Hessen genannt haben, frage ich zurück, ob Ihnen bekannt ist, dass in Hessen die Bundesagentur für Arbeit und damit letztlich auch die verantwortliche Bundesregierung zurzeit nicht mehr in der Lage sind, für behinderte und benachteiligte Jugendliche die berufliche Ausbildung und Qualifizierung zu gewährleisten, und dass ausweislich der Antworten auf meine gestrigen Fragen hier im Plenum die Bundesregierung offensichtlich auch nicht bereit ist, hier nachzusteuern und die den Jugendlichen gesetzlich zustehenden Leistungen zu erbringen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mir ist natürlich bekannt, dass wir im Bereich der berufsvorbereitenden Maßnahmen sowie der Zuweisungen an Berufsbildungswerke und Berufsförderungswerke im Moment Mängel auch bei der Bundesagentur für Arbeit zu verzeichnen haben. Dies streite ich überhaupt nicht ab. Ich habe hier aber gerade von den Optionskommunen geredet. Die Probleme speziell im Bereich der Berufsförderungswerke rühren daher, dass die Optionskommunen keine Zuweisungen in diese Richtung mehr vornehmen. ({0}) - Natürlich. Ich war erst in der letzten Woche beim Berufsförderungswerk Dortmund, zu dessen Einzugsbereich allein drei Kreise gehören, die optiert haben. Von ihnen kommen überhaupt keine Zuweisungen mehr. Die Bundesagentur für Arbeit steht, wie Sie wissen, aufgrund der Arbeitsmarktreformen derzeit in einem schwierigen Umbauprozess. Auch wir kritisieren es natürlich, wenn dort die Mittel, die für Eingliederung einzusetzen sind und die zum Teil aus der Ausgleichsabgabe stammen, nicht zweckentsprechend verwandt werden. Selbstverständlich kritisiere auch ich, wenn dort so getan wird, als reiche statt einer berufsvorbereitenden Maßnahme eine Trainingsmaßnahme. Im Hinblick auf diese Kritik gehen wir doch Hand in Hand. Aber die Bundesagentur für Arbeit ist schließlich ein Organ der Selbstverwaltung, wo je zu einem Drittel Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesregierung, auch das Bundeswirtschaftsministerium, sitzen. ({1}) - Hier greife ich den Appell von Herrn Hüppe gern auf, dass wir auf diesem Gebiet möglichst gemeinsam politisch handeln müssen, damit die gesetzlichen Leistungen auch erbracht werden. Das ist ganz klar. Was das Land Hessen angeht, so agiert es nicht in der Weise, dass dort die Optionskommunen mit gutem Beispiel vorangingen. Wir haben ihnen ja noch gesondert Steuergelder zur Verfügung gestellt, damit in Hessen die Aufgabe der beruflichen Rehabilitation bewältigt werden kann. Jetzt behaupten Optionskommunen, dass sie dafür einfach kein Geld hätten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Mit Blick auf unsere irrsinnig lange Tagesordnung bitte ich die Kollegen, dann aber etwas zurückhaltend zu sein.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage kann man auch mit Ja oder Nein beantworten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das geht meistens schief. ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das glaube ich. - Ich will den Kollegen Kurth auch gar nicht in seinem Bericht über die Länder unterbrechen, sondern ihn nur fragen, ob er zur Kenntnis nimmt, dass die Finanzkraftklausel keine Idee der Länder ist, ({0}) sondern dass die Bundesregierung bereits im SGB XII diese Finanzkraftklausel selbst eingeführt hat und dass diese Klausel erst nach vielen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss herausgenommen worden ist. ({1})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich verstehe diese Darstellung nicht. Im SGB XII gibt es keine Finanzkraftklausel. Können wir uns darauf verständigen? Sie steht aber sehr wohl im Kommunalen Entlastungsgesetz, das jetzt von den Ländern BadenWürttemberg und Bayern eingebracht worden ist. Das sind die Fakten, auf die wir uns doch wohl verständigen können. ({0}) Nun möchte ich die mir verbleibende Redezeit dazu nutzen, die Leuchttürme darzustellen, die im Gefolge des SGB IX aufgewachsen sind. Man muss auch erwähnen, dass, obgleich noch viel zu tun ist, eine Menge erreicht worden ist: Wir haben eine Stärkung der ambulanten Versorgungsstrukturen zu verzeichnen, die beispielsweise vom Landschaftsverband Rheinland in vorbildlicher Weise umgesetzt werden. Dort gibt es mittlerweile fast flächendeckend Kontakt-, Koordinierungsund Beratungsstellen für Menschen mit geistiger Behinderung, die diese gezielt auf das Leben in der eigenen Wohnung statt im Heim vorbereiten und ihnen bei der Wohnungssuche, aber auch bei Verrichtungen des täglichen Lebens helfen. Wir haben die Möglichkeit der persönlichen Assistenz geschaffen. Trotz der Defizite, die Sie angesprochen haben, gehören zu den Leuchttürmen zweifellos auch die Instrumente zur Verbesserung der Integration in den Arbeitsmarkt. Wir haben die Informationsfachdienste mit dem Beratungsangebot für Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgebaut und das Förderinstrumentarium für Arbeitgeber verbessert. Weiterhin besteht die Möglichkeit, Eingliederungszuschüsse bis zu 70 Prozent in Anspruch zu nehmen. Wenn das die BA nicht macht und diese Möglichkeit nicht nutzt, dann ist das zu kritisieren. Aber wir als Gesetzgeber haben einen hervorragenden Rahmen geschaffen. Dann gibt es noch die Arbeitsassistenz, die es vielen Menschen mit Behinderung überhaupt erst ermöglicht, eine Arbeit aufzunehmen. ({1}) An dieser Stelle darf auch das ganze Engagement der Arbeitgeber gerade in Großbetrieben nicht verschwiegen werden. Das setzt sich mit der Kampagne „job - Jobs ohne Barrieren“ auch in den Betrieben des Mittelstandes fort. Bemerkenswert ist auch der Boom der Integrationsbetriebe. Nach nur wenigen Jahren sind es jetzt 500 Integrationsbetriebe mit 15 000 Beschäftigten, die am ersten Arbeitsmarkt tätig sind. Das Instrument des gezielten finanziellen Nachteilsausgleichs für die Arbeitgeber in solchen Integrationsprojekten hat sich derart bewährt, dass ich der Ansicht bin, man müsste einmal darüber nachdenken, dies auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzuwenden. ({2}) All diese Anstrengungen, die auf diesen verschiedenen Feldern gebündelt sind, verfolgen ein Ziel: Schluss mit den Sonderwegen! So weit wie möglich soll mit dem Verstecken in Heimen, dem Verfrachten in Werkstätten oder Sonderschulen Schluss sein, quasi mit der Existenz einer Parallelgesellschaft, die sich de facto teilweise immer noch behauptet. Das immer noch verkrampfte Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und denjenigen, die die Mehrheitsgesellschaft als Behinderte bezeichnet, wird sich nicht ändern, wenn wir nicht auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben, voranschreiten und Menschen mit psychischen, körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen oder Sinneseinschränkungen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. ({3}) Davon profitiert auch die Mehrheitsgesellschaft. Wir haben bereits weiter gehende Schritte eingeleitet, etwa mit dem persönlichen Budget. Damit haben wir eine entscheidende sozialpolitische Neuerung auf den Weg gebracht, die noch in der Modellphase steckt, aber ab 2008 dann endlich einen Anspruch darauf darstellen wird, dass Menschen die verschiedenen Einzelleistungen als ein Budget erhalten und sich als Arbeitgeber die Dienstleistungen einkaufen können, die sie brauchen, und zwar in der Zusammensetzung, die sie für sinnvoll halten. Dieses persönliche Budget wird auch einen ganz neuen Markt an ambulanten Dienstleistungen hervorbringen und dazu führen, dass der Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe gedämpft wird. Im Zusammenhang mit dem persönlichen Budget muss ich am Schluss noch einen Kritikpunkt ansprechen. Wir wissen, dass sich dieses Budget aus vielen verschiedenen Einzelleistungen zusammensetzt: hier etwas von der Krankenkasse und dort etwas von der Kommune. Dabei hat sich gezeigt, dass die einzelnen Leistungsträger, also diejenigen, die die Leistungen zur Verfügung stellen, besser zusammenarbeiten müssen. Im Moment besteht das Problem, dass die einzelnen Reha-Träger immer noch versuchen, nur ihr Feld zu bestellen, und nicht bereit sind, übergreifend zusammenzuarbeiten und sich miteinander zu verzahnen. Das beste Beispiel sind in der Tat die Servicestellen, die nicht so funktionieren, wie sie sollen. Das liegt aber nicht daran, dass etwa die Regierung oder der Gesetzgeber versagt hätte. Wir als Gesetzgeber haben vielmehr ausdrücklich die Selbstverwaltung respektiert und die Träger gebeten, sich untereinander zu einigen. Wir haben das gesetzliche Instrumentarium geschaffen. Wir wollten aber nicht jedes Detail regeln und jede Einzelheit vorschreiben, sondern die Servicestelle sollte zu einer Anlaufstelle für alle Leistungen werden, die auch die Reha-Leistungen bündelt. Der Betroffene sollte auf diese Weise die Leistungen aus einer Hand erhalten und nicht von Pontius zu Pilatus laufen müssen. Man muss jedoch sagen: Die Selbstverwaltung hat an dieser Stelle zwar nicht überall, aber weitgehend versagt; vieles lässt noch zu wünschen übrig. Aber das sprechen wir ganz offen an. Sie hätten doch die Zahlen über die Servicestellen gar nicht nennen können, wenn es die wissenschaftliche Begleitforschung des Bundes nicht gegeben hätte, wenn kein offener Bericht vorläge, wenn wir als Koalitionsfraktionen und Regierung das Ganze nicht von vornherein als Prozess der lernenden Gesetzgebung angelegt hätten. Das haben wir extra gemacht, um eventuelle Mängel aufzudecken und Verbesserungen möglich zu machen. Diese sind in dem Antrag, den die Koalitionsfraktionen begleitend eingebracht haben, dargelegt. Das zeigt, dass auf diesem Wege noch eine Menge zu tun ist, aber dass wir in den letzten vier Jahren einen richtigen Quantensprung bei der Beteiligung von Menschen mit Behinderung getan haben. Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Anfang eine Anregung geben: Ein solcher Bericht wie der, der hier vorliegt, lebt von dem großen Detailwissen der Verbände. Das ist unverzichtbar, um ein aussagekräftiges Bild der Situation von Menschen mit Behinderungen zu zeichnen. Wir bedauern daher, dass den Verbänden nur eine zweiwöchige Frist eingeräumt wurde, um den Arbeitsentwurf zum vorliegenden Bericht der Bundesregierung zu kommentieren und eine Stellungnahme abzugeben. So stellt der Deutsche Schwerhörigenbund zu Recht fest, dass es angesichts des Umfangs von immerhin 220 Seiten ein zu großes und schweres Unterfangen sei, eine fundierte Stellungnahme binnen zwei Wochen zu erstellen. Ich möchte deshalb ganz konkret anregen, dass man diese Frist verlängert und sich den Sachverstand der Verbände für diesen Bericht holt. ({0}) Eines, lieber Kollege Kurth, fand ich toll, nämlich dass Sie sagten, uns allen seien die Probleme von Menschen mit Behinderungen bekannt. Wenn ich mir aber den Bericht von 220 Seiten anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass das eine reine Lobhudelei und Selbstbeweihräucherung ist, ({1}) weil die Probleme, die Sie zu Recht ansprechen und die wir hier diskutieren, in dem Bericht gar nicht enthalten sind. ({2}) Eines der Fehlkonstrukte in diesem Bericht ist doch im Gegensatz zum Altenbericht der Bundesregierung, der von einer unabhängigen Kommission erstellt wird, dass die wirklichen Probleme, die hier bestehen, in dem Bericht gar nicht auftauchen, sondern dass häufig im Jahr 2003, wie auch in der Rede des Staatssekretärs, geendet wird, obwohl ab dem Jahr 2003 zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt die wirklichen Probleme erst entstanden. Deswegen möchte ich mich zu Anfang auf die Probleme auf dem Arbeitsmarkt konzentrieren. Es fehlt eine kritische Betrachtung und ein Anprangern von Missständen in diesem Bericht. So ist im Abschnitt „Arbeitsmarktpolitik und Bundesagentur für Arbeit“ zu lesen, dass sich die Bundesagentur nochmals nachdrücklich zur Förderung der Teilhabe behinderter und schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben bekannt habe. Natürlich ist dies sehr erfreulich. Allerdings sieht die Realität anders aus. Ich denke, keine Fraktion würde es Ihnen verübeln, wenn nicht nur Erfolge, sondern auch Schwierigkeiten klar benannt würden. So fehlt mir eine kritische Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten, die es bei der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2003 gab. ({3}) Zwar habe ich keinerlei Zweifel daran - wir kennen die Äußerungen der Ministerin, des Staatssekretärs und vieler anderer -, dass die Bundesregierung diese Schwierigkeiten genauso gesehen und sie auch kritisiert hat, aber das Verhalten der Bundesagentur ist weiterhin kritikwürdig und gehört in diesen Bericht hinein. ({4}) Dieser Tage erreichen mich nämlich wieder Zuschriften, die befürchten lassen, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund fehlender Mittel in diesem Jahr nicht mehr in das Eingangsverfahren für den Berufsbildungsbereich bzw. berufsvorbereitende Maßnahmen übernommen werden. ({5}) Daniel Bahr ({6}) Auch gibt es Berichte, dass die Bundesagentur teilweise versucht, sehr schwer vermittelbare Arbeitsuchende mit Handicaps, die nichts mit Behinderung im eigentlichen Sinne zu tun haben, in die Werkstätten für Behinderte abzuschieben. Vielen Werkstätten sind solche Fälle bekannt und damit werden vermeintliche Einzelfälle zu einem echten Problem, vor allem aus Sicht der Werkstätten. Ich erwarte, dass die Bundesregierung ein solches Verhalten nicht duldet. Allerdings frage ich mich, warum ein solcher Bericht nicht als Plattform genutzt wird, das Verhalten der Bundesagentur kritisch zu beleuchten und die interessierte Öffentlichkeit darauf hinzuweisen. ({7}) Es steht auch in Ihrer Verantwortung, der Verantwortung der Bundesregierung, die Einfluss auf das Handeln der Bundesagentur nehmen kann, dazu etwas in diesen Bericht aufzunehmen. Auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter sucht man im Bericht vergebens. Alle hier im Hause vertretenen Parteien waren sich Anfang 2003 darüber einig, die Beschäftigungspflichtquote schwerbehinderter Menschen bei 5 Prozent zu belassen und nicht auf 6 Prozent zu erhöhen, weil der Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter fast punktgenau die politische Zielvorgabe von 25 Prozent erreicht hatte. Nur, die Meldungen, die uns ab Mitte 2003 erreichten, hörten sich doch ganz anders an. Plötzlich war von einem erschreckenden Anstieg der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter die Rede und seitens des Ministeriums wurden hierfür die Arbeitgeber verantwortlich gemacht. Die Ministerin ist lautstark an die Öffentlichkeit getreten. Dem vorliegenden Bericht wiederum können Sie nur entnehmen, dass dieser Anstieg „im Zuge des Anstieges der allgemeinen Arbeitslosigkeit“ erfolgte, was die Frage aufwirft, warum die Arbeitgeber derart heftig attackiert wurden. ({8}) Der Anteil Schwerbehinderter an der Gesamtarbeitslosigkeit betrug im Oktober 2004 4,1 Prozent. Das ist im Bericht enthalten. Die eigentlich interessante Vergleichszahl nennt der Bericht aber nicht. Diese können Sie allerdings in einem älteren Bericht der Bundesregierung gemäß § 160 SGB IX finden. Im Januar 2003 betrug diese Zahl 3,6 Prozent, was belegt, dass die spezifische Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in diesem Zeitraum weit überproportional gestiegen ist. Es sollte uns doch bedenklich stimmen, dass die Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten weit über der normalen Arbeitslosigkeit liegt. ({9}) Statt nur Erklärungsversuche oder Entschuldigungsgründe für diese bedauerliche Entwicklung zu suchen, hätte ich mir klare Aussagen zu Handlungsoptionen gewünscht. Die Lage ist erkannt, aber wie soll sie behoben werden? Interessant ist, dass die Erstellung des Berichts auf der Grundlage des § 66 SGB IX basiert. Der Paragraph sieht unter anderem vor, dass die Bundesregierung in ihrem Bericht „zu treffende Maßnahmen“ vorschlägt, die im Zusammenhang mit der Umsetzung des SGB IX stehen, wenn dies erforderlich ist. Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen müssen wir über zu treffende Maßnahmen und nicht nur über eine Feststellung in diesem Bericht diskutieren. Mir fehlen in dem Bericht vollkommen die Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreifen will, um die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter wieder zu senken. ({10}) Ich weiß - es war ja auch der Presse zu entnehmen -, dass im Ministerium über Maßnahmen diskutiert wurde, um Einstellungshemmnisse für Schwerbehinderte zu beseitigen. Dazu zählte das Ministerium den besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte sowie den Zusatzurlaub für diesen Personenkreis. Das Ministerium scheint nach sehr negativen Rückmeldungen von Gewerkschaften und Verbänden von der Diskussion über diese Vorstellungen vollkommen abgerückt zu sein. Ich habe mir ebenso wie die FDP-Fraktion keine abschließende Meinung hierzu gebildet, bin aber der Meinung, dass wir hier im Deutschen Bundestag eine Diskussion über Maßnahmen zur Verminderung von Einstellungshemmnissen brauchen, um die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter senken zu können. Nur so können wir Schwerbehinderten wieder einen Zugang zum geregelten Arbeitsmarkt bieten. Aussagen dazu fehlen im Bericht vollkommen. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung will sich dieser Diskussion angesichts der nahenden Bundestagswahl nicht mehr stellen. Ich finde das bedauerlich, denn immerhin bleibt noch ein Jahr Zeit, hier etwas zu tun. ({11}) Gleiches gilt für die Eingliederungshilfe. Zu Beginn der Legislaturperiode habe ich das Thema hier im Bundestag angesprochen und die Bundesministerin hat erklärt, sie wolle die steigenden Fallzahlen bei der Eingliederungshilfe in diesem Jahr thematisieren und über Lösungswege diskutieren. Mittlerweile sind drei Jahre dieser Legislaturperiode vergangen und wir haben vonseiten der Bundesregierung bis heute noch nicht gehört, wie sie den steigenden Fallzahlen bei der Eingliederungshilfe begegnen will. Ich kann kein Konzept erkennen, wie sie die finanziell klammen Kommunen und Bundesländer bei diesem Problem unterstützen will. Wir werden weiterhin warten müssen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silvia Schmidt.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Bahr, ich hoffe nicht, dass wir hier im Deutschen Bundestag über die Aufhebung des Kündigungsschutzes und des ZusatzSilvia Schmidt ({0}) urlaubs für behinderte oder schwerbehinderte Menschen diskutieren müssen. Mit mir wird es eine Diskussion darüber jedenfalls nicht geben. Zwei weitere Bemerkungen zu Ihren Ausführungen: Sie sagten unter anderem, wir hätten mit diesem Bericht Schönfärberei betrieben. ({1}) Bei den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs hatte ich nicht das Gefühl. Sie haben auch gesagt, der Bericht würde einiges verschleiern. Im Gegensatz zu Ihnen hat Herr Hüppe hier versucht - wie er es getan hat, kann man infrage stellen -, die Aussagen des Berichts sehr lebendig darzustellen. Das sollte man nicht vergessen und deshalb sind Ihre Aussagen für mich sehr schwer nachzuvollziehen. Der zweite Bereich: Sie sprachen über den Einsatz von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen wie beispielsweise Werkstätten. Wenn Sie die Statistiken verfolgt haben, wissen Sie wahrscheinlich, dass jetzt verstärkt auch ältere behinderte Menschen in diesen Einrichtungen aufgenommen werden. Auch über diese Aussage sollte man einmal nachdenken. Herr Kurth hat die Schwierigkeiten mit der Bundesagentur angesprochen. In Teilen stimme ich den Ausführungen zu, aber so gravierende Probleme, wie Sie sie darstellen, sehe ich nicht. Ich hatte vorgestern ein Gespräch mit dem Regionaldirektor von Sachsen-Anhalt/ Thüringen, Herrn Dähne, in dem er mir ausdrücklich gesagt hat, man komme dieser Pflichtaufgabe sehr gewissenhaft nach. ({2}) Wenn es in dem einen oder anderen Bereich Schwierigkeiten geben sollte - ich weiß, dass es sie gibt -, werden wir den Problemen nachgehen. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben verschiedene Bereiche aufgezählt und gesagt: Hier werden Leistungen gekürzt. Ich mache es heute einmal etwas anders, als Sie es gewohnt sind, und sage einfach: Da haben Sie Recht. ({4}) Allerdings muss ich hier auch die Länder ansprechen, die teilweise ihren Aufgaben beim Paradigmenwechsel bzw. beim Umkehrgedanken in der Behindertenpolitik nicht nachkommen. Auch sie haben eine Pflicht und eine Verantwortung. Zwischen den einzelnen Ländern gibt es deutliche Unterschiede. Wir müssen feststellen, dass der politische Wille des Bundesgesetzgebers von den CDU/ CSU-geführten Landesregierungen einfach gebrochen wird. Dafür gibt es hervorragende Beispiele. Ich möchte aber positive Beispiele nennen: Das sozialdemokratisch geführte Rheinland-Pfalz hat als erstes Bundesland Modellprojekte zum persönlichen Budget durchgeführt und zur Barrierefreiheit ist von den sozialdemokratisch geführten Ländern auch einiges getan worden. In Brandenburg gibt es trotz knapper Kassen - das möchte ich besonders betonen - bis zu maximal 10 000 Euro für die behindertengerechte Anpassung von Wohnraum. Ebenfalls in Brandenburg ist die Barrierefreiheit auch für Behördenneubauten der Kommunen Pflicht. ({5}) Anders in Hessen: Hier zeichnet sich die Barrierefreiheit dadurch aus, dass sie für die Kommunen nicht verpflichtend ist. Behindertengerechte Schwimmbäder in Hessen sind also nicht verpflichtend. Bei der Frühförderung gab es - das wurde auch schon mehrmals erwähnt - immer wieder Abstimmungsprobleme. Hier hat Nordrhein-Westfalen - auch dank Regina Schmidt-Zadel, die dabei Vorreiter war - vorbildlich reagiert. Dort wurde die bundesweit erste Landesrahmenempfehlung zur Umsetzung der Frühförderungsverordnung geschaffen. Dabei ist es zu keinerlei finanziellen Einbußen gekommen. Das war eine Falschaussage, Herr Hüppe, die man nicht so stehen lassen kann. Das SGB IX hat zu vielen spürbaren Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen geführt. Ich möchte Ihnen hier nur einige positive Beispiele nennen. Wir können zwar alles schlechtreden, aber das bringt uns nicht weiter. Wir müssen auch aufzeigen, was das SGB IX bewirkt hat. Frauen sind doppelt belastet und behinderte Frauen dreifach. Das wissen wir und das will sicherlich niemand bestreiten. Aber § 9 im SGB IX fordert, die Bedürfnisse der Mütter und Väter zu berücksichtigen. So hat eine beinamputierte Mutter gegen ihre Krankenkasse geklagt, die sich geweigert hatte, bessere, gangsichere Prothesen zu finanzieren. Schließlich bekam die Mutter zweier Kinder vor dem Bundessozialgericht Recht. Das Gericht bezog sich ausdrücklich auf die „Bedürfnisse behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages“ im Sinne des SGB IX. Das Wunsch- und Wahlrecht des § 9 SGB IX beinhaltet auch das Recht auf Pflegekräfte des eigenen Geschlechts, das gerade von Frauen immer wieder gefordert wird. Das Wunsch- und Wahlrecht wirkt sich auch bei der Kinderbetreuung aus. Dadurch bekam eine behinderte Mutter vom Sozialamt Jena ein höhenverstellbares Kinderbett mit Schiebetüren finanziert, das sie mit dem Rollstuhl unterfahren kann. Das von Bayern in den Bundesrat eingebrachte Kommunale Entlastungsgesetz - KEG - würde dazu führen, dass dieses Wunsch- und Wahlrecht unter einem Finanzierungsvorbehalt steht. Wer will der Mutter die Erfüllung dieses Wunsches verwehren? Auch über § 54 SGB IX, der vorsieht, dass Kinderbetreuungskosten berücksichtigt werden, ist vom Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern positiv berichtet worden. Der Verband hat aber auch die Silvia Schmidt ({6}) Erfahrung gemacht, dass die Behörden SGB IX entweder nicht kennen oder nicht kennen wollen. Die Förderung von Frauen und Familien ist aber wichtig. Wir haben einiges gewollt und auch sehr gut gemacht und wir haben alles gemeinsam beschlossen. Sie von der CDU/CSU weisen stets auf Ihr behindertenpolitisches Engagement hin. Das ist auch richtig. Aber dann sorgen Sie bitte dafür, dass dieser Paradigmenwechsel auch in den CDU/CSU-regierten Ländern umgesetzt wird! Damit möchte ich noch einmal auf das KEG zurückkommen, das in Bayern ganz großgeschrieben wird. Mit der Einführung der so genannten generellen Finanzkraftklausel findet aber praktisch keine Sozial- und Behindertenpolitik mehr statt. Denn wie Sie zu Recht erwähnt haben, gibt es in den Kommunen und auch in den Ländern große Haushaltslöcher. Obwohl selbst die Fachausschüsse des Bundesrates gegen den Gesetzentwurf waren, haben ihre Länder zugestimmt. Das ist ein Rückschlag für die gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Er bedeutet - das ist sogar noch schlimmer - einen Rückschritt auf den Stand vor dem In-Kraft-Treten des Bundessozialhilfegesetzes 1962. Die Rückverlagerung des § 35 a vom KJHG in das Sozialhilferecht wollen Sie ebenfalls. Das würde bedeuten, dass seelisch behinderte Kinder und Jugendliche erneut zwischen die Leistungsträger geraten. Sie wissen auch, was das bedeutet: Keiner übernimmt die Kosten und das geht zulasten der Kinder. Nun komme ich zu meinem eigenen Bundesland Sachsen-Anhalt, dessen Sozialminister sein Amt mit Sicherheit verfehlt hat. Sozusagen über Nacht wurden die Eltern behinderter Kinder darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Umfang der vom Arzt festgesetzten ambulanten Fördereinheiten gekürzt wird. Damit dürfen die Einrichtungen nur noch 90 Minuten statt bisher 150 Minuten für Vorbereitung, Anfahrt, Therapie und Elternberatung abrechnen. Die Kosten sollten von circa 85 Euro auf 50 Euro reduziert werden. Abgesehen davon, dass die ambulante Frühförderung geschwächt wird, handelt das Land gegen die Frühförderungsverordnung. Dass der Sozialminister, Herr Kley, das Kürzen der Vorbereitungszeit mit dem Vergleich abtat, dass man auch bei einer Autoreparatur nur die Reparaturkosten und nicht die Vorbereitungszeit zahlen müsse, ist erschreckend. Herr Kley hat sich mit diesem Vergleich für das Amt des Sozialministers disqualifiziert. Ich kann deshalb nur seinen Rücktritt fordern. In Sachsen-Anhalt wurde aber auch der Tagessatz für ambulant betreute Wohnformen auf 10,96 Euro reduziert. In der Lutherstadt Eisleben bekam ein freier Träger vorher 15 Euro, nun nur noch knapp 11 Euro. Damit ist die Existenz des Trägers bedroht, ebenfalls der Grundsatz: ambulant vor stationär. Diesen Grundsatz wollen wir aber alle hier im Deutschen Bundestag. Die einseitige, ohne Verhandlungen mit den Trägern vorgenommene Sparpolitik zeigt, was CDU/CSU-Behindertenpolitik heißt. Es wurde bereits erwähnt, dass Weihnachten 2004 in Niedersachsen blinden Menschen der Beitrag zu ihren Mehraufwendungen vollständig gestrichen worden ist. Ich kann Sie nur auffordern, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Bleiben Sie bei der Wahrheit und fordern Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort auf, Behindertenpolitik tatsächlich zu betreiben und für eine entsprechende Umsetzung zu sorgen! Ich glaube, nur so kommen wir ein Stück weiter. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje Blumenthal. ({0})

Antje Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003480, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute nicht nur über den Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe, sondern auch über zwei Anträge meiner Fraktion, deren Ziel es ist, genau diese Lage zu verbessern. ({0}) Als wichtigste Aufgabe der Behindertenpolitik werden im Bericht die Teilhabe, die Eigenverantwortlichkeit und die Selbstbestimmung genannt. Bei der Selbstbestimmung denken wir - hier schließe ich mich nicht aus noch immer zuerst an Bereiche wie Arbeit, gesundheitliche Versorgung und Bildung. Erst ganz allmählich werden auch Themenbereiche angesprochen, die in Verbindung mit Menschen mit Behinderung lange Zeit tabu waren: Partnerschaft und Sexualität. Gerade hier handelt es sich um Erfahrungen, die ganz wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Identitätsfindung und auch zur Selbstbestimmtheit beitragen können. Aber gerade im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung klaffen Lücken, die von der Bundesregierung offenbar noch nicht einmal erkannt, geschweige denn auch nur in Ansätzen geschlossen worden sind. Das wird an der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zum Thema „sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung“ deutlich. Menschen mit Behinderung werden deutlich häufiger Opfer sexueller Gewalt als nicht behinderte Menschen. Besonders betroffen davon sind geistig behinderte Menschen. Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 50 Prozent der behinderten Frauen einmal oder mehrmals Opfer sexueller Gewalt wurden. Erst seit wenigen Jahren wird dieses Thema überhaupt im Zusammenhang mit sexueller Selbstbestimmung erwähnt. Weitgehend jedoch wird es nach wie vor tabuisiert, und zwar sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Diskussion. Dementsprechend existieren zu diesem Problem kaum aussagefähige Studien, erst recht nicht in Bezug auf die Situation in Deutschland. Die rot-grüne Bundesregierung selbst hat überhaupt keine Ahnung, weder von den Ausmaßen und den Folgen noch von den Ursachen und den Präventionsmöglichkeiten bei sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung. Kein Wort hierzu von Ihnen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, jedenfalls nicht in Ihren bisherigen Reden, und kein Wort hierzu von Staatssekretär Thönnes! ({1}) Das eine möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wenn Sie sich die Antworten auf unsere Kleine Anfrage durchlesen, die Sie aus gutem Grund sogar in Ihrem Bericht zitieren, werden Sie buchstäblich bei jeder zweiten Antwort sinngemäß den Satz finden: Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. Angesichts dieser massiven Unkenntnis trauen Sie sich heute mit einem hastig zusammengeschusterten Antrag ins Plenum, in dem zwar großspurig von Erfolgen geredet wird, in dem dieses Thema aber nicht mit einem Wort erwähnt wird. Ich frage Sie: Wie gehen Sie mit unseren Anträgen bzw. mit den Problemen der betroffenen Menschen um? ({2}) Dieser Schande können Sie eigentlich nur dadurch entgehen, dass Sie unseren Anträgen zustimmen. ({3}) In der Tat ist es so, dass die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage ganz erhebliche Defizite in den Bereichen „Erkennung“, „Therapie“ und „Prävention von sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung“ offenbart hat. Das, was über die Situation bekannt ist, wissen wir entweder durch ausländische Studien, die in Bezug auf die hiesigen Verhältnisse natürlich nur sehr begrenzt aussagefähig sind, oder aus Kontakten zu Interessenvertretungen und Institutionen. Wissenschaftlich fundierte Studien existieren schlicht und ergreifend nicht. Offenbar hat Rot-Grün dieses Informationsdefizit zumindest erkannt, aber, wie so oft, nicht angemessen reagiert. Das einzige Modellprojekt zum Umgang mit sexueller Gewalt in Wohneinrichtungen hatte eine Laufzeit von 1999 bis 2003. Auf den Abschlussbericht warten wir allerdings noch heute. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, wenn Ihnen dieses Thema so am Herzen liegt, dann hätten Sie Druck machen müssen, damit uns dieser Bericht endlich vorliegt. Wir haben das Jahr 2005! ({4}) Es sind aber nicht nur die fehlenden wissenschaftlichen Daten und Untersuchungen, die dieses erschreckende Bild kennzeichnen, sondern es ist auch die offensichtliche Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung im Hinblick auf die Bereiche „Therapie“ und „Prävention“, in denen es wirklich katastrophal aussieht. Kenntnisse der Bundesregierung über die Verfügbarkeit und Qualität niedrigschwelliger Betreuungsangebote für Menschen mit Behinderung, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind - Fehlanzeige. Kenntnisse der rot-grünen Regierung über Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote für Mitarbeiter von Beratungs- und Betreuungseinrichtungen, um den Umgang mit den Opfern zu verbessern Fehlanzeige. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Man könnte natürlich denken, dass die Bundesregierung zumindest beabsichtigt, in Zukunft geeignete Maßnahmen zu fördern. Aber auch diesbezüglich gilt ganz offensichtlich: Fehlanzeige. Es ist wirklich bedauerlich, dass im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ein solch eklatanter Mangel an Informationen und Konzepten vorzufinden ist. Skandalös ist allerdings, dass Rot-Grün offenbar kein Interesse zeigt, hier Abhilfe zu schaffen. Aus diesem Grund haben wir unseren Antrag eingebracht. Wir wollen die Situation von behinderten Menschen, die Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind, verbessern. Wir fordern, dass wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben werden, die den Umfang, die Besonderheiten und die Folgen sexueller Übergriffe repräsentativ analysieren und aus den Erkenntnissen Ansatzpunkte für Prävention und Therapie entwickeln. Die Betreuer und in der Behindertenhilfe tätige Personen müssen endlich besser über den Umfang, die Besonderheiten und die Erkennungs-, Präventions- und Therapiemöglichkeiten in Bezug auf sexuelle Gewalt, insbesondere in familiären Strukturen, informiert werden, sei es durch Seminare und Schulungen oder zunächst durch Informationsmaterialien und Veranstaltungen. Das Bewusstsein dafür muss geschärft werden, wo sexuelle Übergriffe gegenüber behinderten Menschen beginnen, welche Folgen sie haben und welche strafrechtlichen Konsequenzen den Tätern drohen. Aber Sie von der Koalition haben schon im Rechtsausschuss versagt, als Sie sich weigerten, den sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Menschen als Verbrechen einzustufen. ({5}) Sie haben das dringend notwendige Signal an die Täter nicht gesetzt. Sie haben damit nicht nur die behinderten Menschen enttäuscht. ({6}) Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zu weiteren Aspekten der Selbstbestimmung sagen, mit denen wir uns in unserem zweiten Antrag befassen. Zum einen: die Mobilität im öffentlichen Nahverkehr. Die Schwerbehindertenausweisverordnung sieht zurzeit noch vor, dass Menschen, die das Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr haben, über einen Ausweis verfügen, auf dem ein Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen“ aufgedruckt sind. Der Satz deutet damit die Notwendigkeit im Gegensatz zum Recht an, Begleitpersonen mitzuführen. Worauf es hierbei aber ankommt, ist das Recht und nicht die Notwendigkeit. Wir sind keineswegs kleinkariert, wenn wir feststellen: Diese Formulierung führt zu solchen Missverständnissen, dass den Betroffenen ohne Begleitperson die Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Teil verwehrt wird. ({7}) - Sie sollten darüber nicht hämisch lachen, sondern Sie sollten sich mit den behinderten Menschen unterhalten, die zurückgewiesen werden, zum Beispiel weil sie keine Begleitperson bei sich haben. ({8}) Der zweite Aspekt der selbstbestimmten Lebensführung, den wir in unserem Antrag aufgreifen, ist die Gewährung von Parkerleichterungen unter bestimmten festgelegten Kriterien auch für schwerbehinderte Menschen, die nicht als außergewöhnlich gehbehindert gelten, die aber aufgrund der Schwere ihrer Behinderung solchen Personen hinsichtlich der Notwendigkeit von Parkerleichterungen gleichgesetzt werden sollten. Dazu zählen zum Beispiel contergangeschädigte Ohnarmer und Morbus-Crohn-Kranke. Eine bundeseinheitliche Regelung für alle Schwerbehinderten, die wir in unserem Antrag fordern, ist im Sinne dieser Menschen daher dringend angezeigt. Meine Damen und Herren, Sie haben einen eigenen Antrag vorgelegt, der sehr viel Lob für die von Ihnen getragene Bundesregierung enthält, der aber ansonsten sehr schwammig ist und keine konkreten Forderungen enthält. Wir haben Ihnen konkrete und praktikable Vorschläge für die Verbesserung der Situation behinderter Menschen vorgelegt. ({9}) Deshalb bitten wir Sie herzlich um Ihre Zustimmung bzw. darum, dass das in Ihre Beratungen Eingang findet. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete und Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karl Hermann Haack. Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: Guten Tag! Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin der Letzte in dieser Runde. Ich habe mir einiges aufgeschrieben, will meine Rede aber zunächst zur Seite legen. Als Erstes möchte ich etwas sagen, was uns gemeinsam betrifft. Ursprünglich war die Debatte angesetzt auf Donnerstag, Kernzeit, 14 Uhr. Wir haben uns gedacht: Wir wollen einmal richtig über dieses Thema reden und die Menschen in der Republik sollen die Möglichkeit haben zuzusehen. - Das wurde sehr ernst genommen. Mich rief dann jemand an, der nicht hören kann, und fragte: Wird diese Debatte durch einen Gebärdendolmetscher begleitet? Darauf habe ich geantwortet: Nein. Mehrfach habe ich als Behindertenbeauftragter die Bundestagsverwaltung aufgefordert und aus unterschiedlichen Fraktionen wurden ebenfalls Anträge gestellt, dies in der Kernzeit zu gewährleisten. Dem ist bis heute nicht entsprochen worden. ({0}) Daraufhin sagte er zu mir: Warum machen Sie eigentlich Gesetze, die für Sie nicht gelten? ({1}) Ich habe noch eine schöne Botschaft bekommen. Er sagte: Ich sehe fern. Inzwischen gucke ich mir Cowboyfilme an. Die werden durch einen Gebärdendolmetscher begleitet. Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie doch einmal auf das Niveau von Cowboyfilmen! ({2}) Da fiel mir die Kinnlade herunter. Egal wie diese Debatte heute ausgeht, sollten wir uns auf einen gemeinsamen Antrag an die Bundestagsverwaltung verständigen mit dem Ziel, den Bundestag barrierefrei zu machen. ({3}) Das war der gemeinsame Teil. ({4}) Jetzt kommt das Trennende. Frau Blumenthal, da möchte ich mit Ihnen anfangen. ({5}) Sie haben einen Bereich sehr deutlich dargestellt, der zu den erschütterndsten zählt und sehr respektvoll zu behandeln ist. Darum sage ich sehr respektvoll: Wir haben gemeinsam mit dem Weibernetz, der Interessenvertretung behinderter Frauen, einiges in das SGB IX hineingeschrieben. Als Ergebnis ist am 1. Januar 2004 das Sexualstrafrecht in dem Sinne, wie Sie es hier beklagt haben, geändert worden. Das Weibernetz war mit der Formulierung einverstanden gewesen. Des Weiteren gibt es Kurse für behinderte Frauen und Mädchen zur Selbstverteidigung und zur Stärkung des Selbstvertrauens auch in dieser Richtung. ({6}) Diese Kurse werden nach dem SGB IX finanziert und entsprechend gut angenommen. Ebenso gilt das für die Selbsthilfegruppenförderung. Das Weibernetz e.V. erhält ebenfalls entsprechende Fördermittel. Ich denke, dass wir uns in dieser Hinsicht nichts vorwerfen lassen müssen. ({7}) Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen Kollege Hüppe, wenn es 2006 für die rot-grüne Koalition schief geht, werden Sie eventuell mein Nachfolger. Da würde ich an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtiger sein. Ich sage Ihnen auch, warum. Es war Ihre Fraktion auf Bundesebene, die in der gemeinsamen Beratung zunächst die Positivliste abgelehnt und dann in das Gesundheitsmodernisierungsgesetz hineingeschrieben hat: Alle OTC-Mittel, also alle nicht verschreibungspflichtigen Mittel, müssen zu 100 Prozent vom Betreffenden selber bezahlt werden. Es gibt keine Ausnahmeregelung für Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke usw. ({8}) Wenn wir das nicht mitgemacht hätten, wäre das Ganze geplatzt. Der Herr Stoiber und der Herr Teufel, jetzt Oettinger genannt, haben uns ein Kommunales Entlastungsgesetz vorgelegt. Zur Eingliederungshilfe heißt es dort: je nach Kassenlage. In Baden-Württemberg hat eine Kommunalreform stattgefunden. ({9}) Die Regierungspräsidien wurden abgeschafft. Zuständig sind die Landratsämter. Ich war kürzlich in verschiedenen Kommunen und Einrichtungen in Baden-Württemberg. Dort wurde mir geschildert, dass behinderte Menschen je nach dem Verständnis, das der Landrat für sie aufbringt, ihre Eingliederungshilfe und andere Leistungen erhalten. Das haben wir nicht gewollt. Wir haben doch gemeinsam auch mit Ihnen gegen den Irrsinn gekämpft, den Herr Stoiber vorhatte, sowohl die Kinder- und Jugendhilfe als auch die Eingliederungshilfe zu 100 Prozent auf die Landesebene zu verlagern, ({10}) weil wir nicht wollten, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen je nach Kassenlage der Länder bis zu 16-mal unterschiedlich gestaltet wird. Stellen Sie sich einmal vor, im Saarland, in Brandenburg, in Thüringen, in Nordrhein-Westfalen oder auch in Bayern würde jeder nach seinem Gusto darüber entscheiden. Das haben wir verhindert. ({11}) Wenn wir jetzt beklagen, was Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt erleben, dann ist doch zu fragen, wer den Irrsinn mit den Optionsmöglichkeiten für die Kommunen und der Gründung von Arbeitsgemeinschaften angefangen hat, was dazu führte, dass dort, wo Kommunen optiert haben oder Arbeitsgemeinschaften gegründet wurden, die Bundesagentur für Arbeit sich quasi nur noch um den Restbestand kümmern darf. Das war doch Herr Koch. Schauen Sie sich das doch einmal an! Die Kommunen, die optiert haben, erzählen Ihnen, dass sie für die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen nicht zuständig seien. Auch die Arbeitsgemeinschaften sagen, dass sie dafür nicht zuständig seien. Wenn man sie aber dann darauf hinweist, dass ihnen dafür das entsprechende Budget zugewiesen wurde und sie dieses Geld erhalten haben, streiten sie das ab. Ich denke, dass wir an diesem Punkt noch einmal ganz gewaltig nachzuarbeiten haben. Herr Hüppe, ich mache Ihnen ein Angebot: Wenn Sie das verstanden haben, was ich Ihnen hier erzählt habe, und sich daher in Zukunft vorsichtiger ausdrücken, erkläre ich mich bereit, Ihre Rede, die Sie hier gehalten haben, zehnmal in Schönschrift abzuschreiben. ({12}) Ich sage das, weil ich denke, dass wir Abstand von Schuldzuweisungen nehmen sollten, die ja nur deswegen vorgenommen werden, weil, wie jetzt in NordrheinWestfalen, eine Wahl ansteht. Das im SGB IX enthaltene Bundesgleichstellungsgesetz haben wir gemeinsam mit den Betroffenen, insbesondere mit den Behindertenverbänden, erarbeitet und im Bundestag und im Bundesrat einstimmig verabschiedet. Wir haben somit auch gemeinsam dafür zu sorgen, dass es in unserem Land umgesetzt wird. In diesem Zusammenhang komme ich zu den drei wichtigsten Problemen: ({13}) Es gibt das operative Geschäft. Bezüglich der Bundesagentur haben wir das schon beredet. In der Frühförderung wird das Hilfsangebot derzeit von 15 der 16 Bundesländer nicht realisiert, weil es keine Rahmenvereinbarungen gibt. 40 000 junge Menschen sind betroffen. Nur weil sich örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger und Krankenversicherungen nicht verständigen können und die Länder nicht entsprechend handeln und sie zwingen, etwas zu tun, bekommen 40 000 junge Menschen die ihnen zustehenden Leistungen nicht. Ähnliches gilt für die Servicestellen. In der Anhörung saßen doch die Vertreter der Reha-Träger und sangen das Hohelied der Selbstverwaltung und haben davon geredet, dass sie innovativ seien und in diesem Bereich mithelfen würden. Was haben sie denn gemacht? Mit den Servicestellen geschah das Gleiche wie damals im Zuge des Reha-Angleichungsgesetzes. Man lässt sie austrocknen, stellt sich aber gleichzeitig hin und sagt, sie funktionierten nicht. Das ist die Strategie. In diesem Bereich werden wir also nachzuarbeiten haben. Es gibt auch ein positives Beispiel; das habe ich mitgebracht: das „Programm der Deutschen Bahn AG“. Die Deutsche Bahn AG legt in Kürze ein Programm vor, in dem sie beschreibt, wie das Behindertengleichstellungsgesetz in den nächsten zehn Jahren in ihrem Bereich eins zu eins umgesetzt werden soll. Wenn das die Deutsche Bahn kann, die einen Strukturwandel durchmacht und Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen finanzielle Schwierigkeiten hat, frage ich mich, warum das die Bundesagentur für Arbeit, die Rentenversicherungsträger und die Träger der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfe usw. nicht umsetzen können.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Haack, denken Sie ein bisschen an die Zeit. Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: Sofort. - Wenn die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben“ ein Netzwerk von Nutzern des persönlichen Budgets gründet, warum können dann nicht auch die Reha-Träger etwas Ähnliches machen? Mein Ziel ist: Wir müssten - da ist Zivilcourage gefordert - eine Enquete-Kommission „Institutionelle Reformen sozialer Sicherungssysteme“ einsetzen, die die Aufgabe haben sollte, das operative Geschäft von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der sozialen Sicherungssysteme zu durchleuchten. Danke. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir sind ja alle Zeuge einer interessanten Wette geworden. Aber, Herr Kollege Haack, Sie waren nicht der Letzte in der Reihe der Rednerinnen und Redner, sondern das ist die Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über zweierlei: über den Bericht der Bundesregierung zur Lage behinderter Menschen, also über Politik, und über den Alltag von Menschen mit Behinderungen, also über das richtige Leben. Dass beides nicht dasselbe ist, belegt auch der vorliegende Bericht: Er ist lang, anspruchsvoll und zielt auf Verbesserungen, aber er trifft nicht die reale Lebenssituation. Das beginnt schon mit der Einleitung. Die Bundesregierung schreibt, sie habe einen politischen Paradigmenwechsel eingeleitet, und lobt, dass ihre Agenda 2010 neue Chancen für Menschen mit Behinderungen eröffne. - Eines stimmt: Die Agenda 2010 ist ein Paradigmenwechsel; denn sie ist der Gegenentwurf zu einem modernen, bürgerrechtlichen Sozialstaat. ({0}) Gerade Menschen mit Behinderungen aber brauchen den Sozialstaat besonders. Sie haben ein Recht auf demokratische Teilhabe und auf aktive Solidarität. Damit spreche ich überhaupt nicht gegen Einzelerfolge, die im Bericht ebenfalls aufgeführt sind. Ich spreche auch nicht gegen einzelne Vorhaben, die aufgelistet wurden. Aber ich widerspreche Ihrer Generaleinschätzung. Fördern und Fordern, so nennen Sie ein zentrales Element Ihrer Politik, auch in diesem Bericht. Nur mal ganz nebenbei: „Fördern und Fordern“ ist eine literarische Anleihe bei Makarenko, einem sowjetischen Pädagogen. ({1}) Machen wir den Praxistest: Bundesweit sind 17 Prozent aller Menschen mit Behinderungen arbeitslos. Das sind überdurchschnittlich viele. Sie spüren also noch stärker: Das rot-grüne Fordern greift, aber das rotgrüne Fördern nicht. Dieselben Defizite zeigen sich bei der so genannten Gesundheitsreform. Diese trifft vor allem Menschen, die ganz besonders auf medizinische Leistungen angewiesen sind. Menschen mit Behinderungen gehören dazu. Deshalb ein Wort an den Kollegen Haack: Da können Sie sich nicht allein mit der Union und ihren Vorschlägen herausreden; Sie von der Koalition hätten - nach einem Jahr so genannter Gesundheitsreform alle Möglichkeiten gehabt, ({2}) Novellierungen vorzuschlagen, die beispielsweise beinhalten, Kinder von 13 bis 17 Jahren oder eben auch Menschen mit Behinderungen von der Medikamentenbezahlung zu befreien. Wir sind immer noch beim Praxistest. Sie kennen die Kritik der PDS an der Steuerpolitik. Diese geht unter anderem zulasten der Kommunen. Vieles, was Menschen mit Behinderungen vor Ort helfen könnte, scheitert auch daran. Zum Schluss ein Erlebnis aus der vergangenen Woche. Ich war im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und lernte dort eine engagierte Frau kennen. Sie war vor Jahresfrist von Bundespräsident Horst Köhler zur „Tafel der Demokratie“ eingeladen worden und fand bei ihrem ersten Berlin-Besuch, dass Rollstuhlbewegte es hier viel leichter als bei ihr zu Hause in Herne hätten. Ich weiß, dass Menschen mit Behinderungen aus Berlin, von denen einige auch heute hier der Debatte folgen, das sehr viel kritischer sehen. Aber sie berichtete mir, dass sie zu Hause an keinen Geldautomaten herankomme, dass das neu errichtete Gerichtsgebäude für Menschen wie sie kaum erreichbar sei, dass der Nahverkehr neue Hürden aufbaue und die viel gelobten Servicestellen überlastet seien. Kurzum: Die PDS im Bundestag erwartet von der Bundesregierung einen realistischen Bericht und keine Schönfärberei. Vor allem aber fordern wir einen Politikwechsel - auch im Sinne der Menschen mit Behinderungen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4575, 15/4927, 15/4928, 15/5463 und 15/5460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/4927 und 15/4928 sollen zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP 40 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel Im Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten - Drucksache 15/5464 Da ich den Herrn Botschafter Stein auf der Tribüne gesehen habe, möchte ich ihn im Namen von uns allen zu dieser Debatte begrüßen. ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der „dunkelsten aller dunklen Nächte“ dämmerte der Morgen. Mit diesem Bild hat Zalman Shazar, damals Staatspräsident Israels, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern gekennzeichnet. David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, beide hatten mit eigenen Augen gesehen, wie Deutsche die dünne Haut der Zivilisation aufbrachen und dem Willen Hitlers folgten. Die Schoah ist präsent in Israel und auch in Deutschland. Der Holocaust war der monströse Riss, den die Nationalsozialisten in die Zivilisation und zugleich in die Zeit mit ungeheuerlichem Einsatz von Terror geschlagen haben. Hitler - das muss immer wieder vergegenwärtigt werden - wollte die Juden dazu verdammen, in diesem Riss zu verschwinden. Für immer sollte es für die Juden keine Zukunft geben, keinen Ort - nirgends. Diese Vergangenheit und die Erinnerung daran werden nicht vergehen. Die Nazidiktatur und mit ihr alle, die sie gestützt haben, haben in den Namen Deutschland ein Mal eingebrannt und dieses Mal heißt Holocaust. Es wird bleiben bis an das Ende aller Zeiten. Amos Oz hat es vor zwei Tagen gesagt, als er Ihnen, sehr geehrter Herr Außenminister, zur Verleihung des Leo-Baeck-Preises gratulierte. Seinen Worten schließe ich mich ausdrücklich an. Er sagte: Sie verdienen diese Ehre, lieber Joschka Fischer, für Ihre Integrität und Ihre Vision, für Ihre Phantasie und für Ihren Mut, für Ihre tiefe Empathie mit allen Opfern von Ungerechtigkeit und, nicht zuletzt, für Ihre warme, unbeirrbare Empathie für das jüdische Volk und für Israel. Wir schließen uns dieser Gratulation an, lieber Joschka Fischer. ({0}) Noch einmal Amos Oz in der gleichen Rede: Das jüdische Volk hat … ein langes und schmerzvolles historisches Gedächtnis. Das Gedenken an den Holocaust, die Eröffnung des Mahnmals wenige Schritte von hier - das haben wir alle miterlebt - und die Debatte darüber, wie der, der es begeht, beim Gehen in ihm seinen Sinn aufschließt, machen deutlich - jeder wird es in seinem Gedächtnis bewahren -: Vom Holocaust geht eine ungeheure Macht aus. Sein Schrecken schwindet nicht. Diese Wunde wird die Zeit nicht heilen. Schimon Perez hat heute in der „Welt“ geschrieben: Je mehr wir über den Mord an den Juden erfahren, desto weniger wissen wir über ihn. Er fordert heraus, auf die Frage „Warum?“ eine Antwort zu finden: Warum konnten Deutsche das banal Böse verkörpern? Warum haben sie den Nachbarn verraten? Warum haben sie sich zu wenig aufgebäumt? Diese Fragen werden nie ein Ende nehmen und sie dürfen kein Ende nehmen. Denn sie zwingen uns immer wieder neu, genau das zu tun, worauf es ankommt, nämlich Tugenden zu festigen, die jeder Einzelne braucht und die wir alle in jenem Moment brauchen, in dem sich das Böse zeigt. In diesem Augenblick müssen wir als Einzelne und als Kollektiv, als Deutsche und als Europäer den Mut und die Kraft haben, uns gegen das neu entstehende Böse, in welcher Gestalt auch immer es erscheint - ob in altem oder in neuem Antisemitismus -, zu wehren. Das ist das historische Vermächtnis. Gerade der Bundestag muss darüber wachen. Dies darf nie vergessen werden. ({1}) Es werden neue Fragen hinzukommen: Wird die Erinnerung ausreichen, um die Beziehungen neu zu festigen? Wie verändert sich das Geschichtsverständnis, wenn es dereinst einmal keine Zeitzeugen mehr geben wird? Was müssen wir, Israelis und Deutsche, gemeinsam tun, damit die Zeugenschaft weitergegeben wird? ({2}) Manche von uns waren dabei, als in der letzten Woche March of the Living daran erinnerte, wie die Überlebenden von Auschwitz damals ihren Weg in die Freiheit angetreten haben. Zum ersten Mal durften Deutsche Gert Weisskirchen ({3}) Juden auf diesem Weg begleiten. Das war, liebe Kollegin Müller und alle anderen, die dabei waren, ein wunderbares Zeichen der Zuneigung und des Vertrauens in uns Deutsche. Dieses Vertrauen müssen wir bei uns und in uns bewahren. ({4}) Aber was wird eigentlich - das ist eine wichtige Frage - in 20, 30 Jahren geschehen? Was werden dann die Inhalte des historischen Bewusstseins sein? Driften dann die Verständnisse auseinander, beispielsweise in Israel das fast partikulare Wissen darum, dass die Schoah mit der Judenheit zu tun hat, und in Deutschland der immer wieder stattfindende Versuch, dieses Gedenken zu universalisieren? Besteht dann nicht die große Gefahr, dass etwas auseinander driftet, was doch zusammengehört? Ich würde herzlich darum bitten, dass in das Kulturabkommen, das hoffentlich bald unterzeichnet wird, der Gedanke aufgenommen wird, die Historiker darum zu bitten, genau diesen Punkt gemeinsam zu erörtern, um uns Hinweise zu geben, wie ein gemeinsames Gedenken, das Wissen und das Bewahren des Wissens um den Holocaust und die Schoah uns Deutsche auch künftig in einem kulturellen Gedächtnis verbinden könnten. Ich finde, das wäre eine gute Aufgabe für Historiker. Es gibt viele Historiker, die an diesem Thema arbeiten. Es wäre klug, wenn beide Regierungen die Historiker bitten würden, gemeinsam an diesem großen Projekt zu arbeiten. ({5}) Wenn Normalität hieße, das einzigartig Herausragende unserer Beziehungen werde eingeebnet, dann muss dem Einhalt geboten werden. Wenn Normalität allerdings heißen soll - das hoffe ich -, Israelis und Deutsche sollten einander besser verstehen lernen und häufiger das jeweils andere Land besuchen, dann sollten wir dazu aufrufen. Die praktische Zusammenarbeit in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer und übrigens auch in sicherheitspolitischer Hinsicht hat sich erstaunlich rasant und positiv entwickelt. Deutschland ist für Israel der wichtigste Partner in der Europäischen Union und der zweitwichtigste Partner nach den USA. Auch das ist ein wunderbares Zeichen für das Vertrauen, das Israel in uns setzt. Die kulturellen Verbindungen sind außerordentlich fest. Der Wunsch, die deutsche Sprache zu lernen, wird immer stärker, besonders bei jungen Menschen. Viele Projekte stiften Freundschaft und helfen, dass Vertrauen gefestigt wird. Ich will ein solches Projekt nennen und es herausheben: Aktion Sühnezeichen. Diese Aktion arbeitet an den Werken, die uns versöhnen helfen. Sie lindern Schmerzen. Sie bauen an einer gemeinsamen Zukunft. Ich möchte darüber hinaus eine Initiative nennen, die fast im Verborgenen arbeitet. Sie ist wunderbar. Rudi Pahnke - der eine oder andere wird ihn kennen kämpfte schon in der DDR als evangelischer Pfarrer für die Freiheit. Seit einigen Jahren widmet er sich dem Austausch deutscher und israelischer Jugendlicher, bis Ende letzten Jahres vom Jugendministerium, jetzt durch die Mittel für das Civitas-Programm gefördert. Das sind wunderbare Beispiele. Diese müssen wir mehren, erweitern und verstärken, damit junge Menschen einander kennen lernen und Missverständnisse, die es bei manchen Selbstverständnissen zwischen Israel und Deutschland gibt, abgebaut werden können. Was wir beide, Deutschland und Israel, brauchen, ist genau das, was Schimon Stein von uns erwartet, fordert und wünscht: Lassen wir uns das Trennende überwinden und wir werden feststellen, dass uns viel mehr vereint als trennt. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war ein gutes, ein ermutigendes Ereignis. Wir sind als Deutscher Bundestag aufgerufen, diese Kontinuität fortzusetzen und zu verstärken. Das wünsche ich mir. Ich bin auch sicher, dass der Bundestag das tun wird. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe, CDU/ CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor vier Tagen haben wir des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung Deutschlands und Europas von der Nazibarbarei vor 60 Jahren gedacht. Vor zwei Tagen wurde in eindrucksvoller Weise das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet. Heute erinnern wir an die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel, die am 12. Mai 1965 bekannt gegeben wurde. Wer durch das von Peter Eisenman gestaltete Stelenfeld geht und wer am „Ort der Information“ die Namen und Schicksale der von Deutschen ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer hört, der kann etwas erahnen von der Größe jener Staatsmänner - ich nenne die Namen Nahum Goldmann und David Ben Gurion -, die trotz allen Schmerzes, tiefer Zweifel, ja verständlicher Empörung im eigenen Land Schritte auf die junge westdeutsche Demokratie zugingen. ({0}) In der Bundesrepublik Deutschland hatte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 27. September 1951 unmissverständlich und mit einhelliger Zustimmung des gesamten Deutschen Bundestages zur Verantwortlichkeit Deutschlands für die nationalsozialistischen Verbrechen sowie zur Pflicht moralischer und materieller Wiedergutmachung gegenüber den Vertretern des Judentums und dem Staat Israel bekannt. Nach der Unterzeichnung des Luxemburger Wiedergutmachungsabkommens von 1952 markiert die Begegnung von Ben Gurion und Adenauer 1960 in New York einen weiteren entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Die Bereitschaft israelischer Staatsmänner, über den Abgrund der Schoah, jenes in der Menschheitsgeschichte einzigartigen Verbrechens, Brücken zu bauen, war, wie Schimon Peres einmal formulierte, „kein Sieg des Vergessens über die Erinnerung, sondern ein Sieg der Hoffnung über die Verzweiflung, ein Sieg des Vertrauens“. ({1}) So wie uns der kalt und perfektionistisch ins Werk gesetzte Mord an 6 Millionen Juden sowie der Massenmord an Hunderttausenden anderer Opfer des NS-Regimes die niedrigste Gesinnung vor Augen führt, zu der Menschen fähig sind, Angehörige unseres Volkes fähig waren, so führt uns diese Haltung der Hoffnung und des Vertrauens die höchste Gesinnung vor Augen, zu der Menschen fähig sind. Beides dürfen wir nicht vergessen. ({2}) Ich denke, in den Worten von Sabine van der Linden, jener Holocaust-Überlebenden, die heute in Australien lebt und die vorgestern bei der Denkmaleröffnung sprach, war etwas von dieser Größe, von dieser höchsten Gesinnung zu spüren. Wahr ist aber auch, dass die Transparente, auf denen am 8. Mai auf dem Alexanderplatz gegen eine angebliche Befreiungslüge und einen vermeintlichen Schuldkult gewettert wurden, zeigen: Der Ungeist, der so unermessliches Leid über ganz Europa und in besonderer Weise über die Juden Europas brachte, ist nicht verschwunden. Er muss täglich aufs Neue und mit ganzer Entschiedenheit bekämpft werden. ({3}) Meine Damen und Herren, in unserem gemeinsamen Antrag ist beschrieben, in welcher Weise die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel in den letzten vier Jahrzehnten gewachsen sind, sodass Deutschland heute engere Beziehungen zu Israel unterhält als zu jedem anderen Land außerhalb Europas und Nordamerikas. Kein verantwortlicher Mensch in Deutschland will einen Schlussstrich unter die Erinnerung an die NS-Vergangenheit ziehen. Zu Recht hat Bundespräsident Horst Köhler am 2. Februar dieses Jahres vor der Knesset erklärt, dass die - ich zitiere ihn - „Verantwortung für die Schoah Teil der deutschen Identität“ ist. Gerade deshalb konnten den Beziehungen zum Judentum und damit auch den Beziehungen zum Staat Israel neue Kapitel hinzugefügt werden. Viele Menschen in Deutschland wie in Israel haben in zahllosen Partnerschaften in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens tatkräftig an diesen Kapiteln mitgeschrieben. In diesem dichten Netz, das unter anderem über 100 Städtepartnerschaften, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Bildungseinrichtungen, Sportvereine, die Freiwilligen von „Aktion Sühnezeichen“ und „Pax Christi“ sowie zahllose Künstler und Wissenschaftler miteinander geknüpft haben, entstanden zahllose Freundschaften. Mit Israel verbinden uns gemeinsame demokratische Überzeugungen sowie Werte, die im Judentum und im Christentum, im Humanismus und in der Aufklärung verankert sind. Der eindrucksvoll entwickelte Forschungsstandort Israel ist für uns ein wichtiger Partner bei der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Wir wollen einen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts leisten. Israels Bevölkerung muss endlich ohne Angst vor Terror leben können. ({4}) Zugleich bekennen wir uns zum Recht des palästinensischen Volkes auf einen demokratischen und lebensfähigen Staat. Aufgrund des historischen Erbes haben die deutsch-israelischen Beziehungen bleibend einen besonderen Charakter. Dankbar denken wir an das in den letzten vier Jahrzehnten Erreichte. Zur Selbstzufriedenheit besteht indes kein Anlass. Denn wenn bei einer Allensbach-Umfrage, die im März 2005 durchgeführt wurde, 25 Prozent der in Deutschland Befragten Israel als größte Bedrohung für den Frieden in der Welt nannten und wenn Deutschland bei jugendlichen Israelis in der Beliebtheitsskala der Staaten auf den hinteren Rängen - in der Nachbarschaft von Russland, Iran und Syrien - rangiert, dann zeigt dies: Die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten zu vertiefen und in den Herzen und Köpfen der Menschen, gerade der jüngeren Menschen, zu verankern ist eine bleibende Aufgabe. Auch dazu verpflichten wir uns mit unserer heutigen Beschlussfassung, die erneut eindrucksvoll belegt, welch hohen Stellenwert alle Fraktionen dieses Hauses den Beziehungen zwischen Deutschland und Israel einräumen und auch in Zukunft beimessen werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsche haben 6 Millionen europäische Juden mit der kalten, industriellen Logik der Konzentrationslager ermordet. Der Tod war für diese Menschen „ein Meister aus Deutschland“, wie es in dem berühmten Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan heißt. Aus diesem Grund ist heute, 40 Jahre, nachdem Israel und Deutschland bzw. Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen zueinander aufgenommen haben, nichts normal und selbstverständlich. Ich sage klar: Wir hatten auf das, was wir in diesen 40 Jahren erleben und aufbauen konnten, keinen wirklichen Anspruch. Wenn es stimmt - wir teilen diese Auffassung -, dass die Verantwortung für die Schoah, wie es Bundespräsident Köhler sagte, „Teil der deutschen Identität“ ist, dann möchte ich klar sagen: Verantwortung ist für mich ein Begriff, der nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit Wirkungskraft hat. Wenn Verantwortung nicht auch auf Gegenwart und Zukunft wirkt, bleibt sie eine leere Phrase. ({0}) Deswegen möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, was diese Verantwortung in Bezug auf unsere heutige politische Gegenwart eigentlich ausmachen kann. Der erste Punkt ist: Wir haben eine Mitverantwortung dafür, dass der Staat Israel in international anerkannten Grenzen existiert und dass seine Menschen ohne Angst, Sorge und Terror leben können. Der zweite Punkt, den ich nennen möchte, ist, dass wir eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Erinnerungskultur haben. Das schreckliche Morden an den europäischen Juden muss auch weiterhin erinnert werden, und zwar umso mehr, je weniger Zeitzeugen - Menschen, die uns etwas erzählen können - noch leben. Es geht um die Frage, wie wir die Erinnerung tatsächlich praktizieren und wie wir an die heute 40- oder 50-Jährigen weitergeben, wie sie diese Erinnerung für ihre Kinder oder Enkel tradieren können. Geschichte und gerade so grausame Geschichte besteht übrigens nicht nur aus Episoden und den Erzählungen von Einzelschicksalen, sondern wir müssen uns auch immer wieder - auch in 20, 30 Jahren - analytisch die Frage stellen, was die Ursachen für diese Entwicklung waren. Ich sage dies ganz bewusst, weil ich gegenwärtig sehen kann, dass manche in Deutschland doch eine Neigung haben, die Geschichte in Einzelschicksale und Einzelgeschichten aufzulösen. Diese gehören dazu - ich will es nicht negieren -; oft wird Geschichte plastischer und transparenter, wenn man dies tut. Aber wir müssen auch die Frage nach den Ursachen, die weiter zurückreichen können als bis 1933, weiter stellen; auch das ist für mich ein Aspekt einer aktiven und vernünftigen Erinnerungskultur. ({1}) Der dritte Punkt - was Verantwortung heute heißen kann -: Sinnvollerweise heißt Verantwortung für mich, dass wir in der Gegenwart Antisemitismus und Rassismus in unserem Land und überall auf der Welt, wo wir es können, aktiv bekämpfen müssen. ({2}) Ich glaube, dass dies eine Selbstverständlichkeit ist; niemand wird sagen: Nein, das ist nicht so. Aber wir müssen uns schon fragen, ob wir dies politisch auch wirklich ausreichend tun, ob - ich will ein willkürliches Beispiel nehmen - die von den Ländern finanzierten Programme für Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene gekürzt werden sollen oder nicht. Das sind Fragen, an denen deutlich wird, wie ernst wir es mit der Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus meinen. Damit will ich sagen: Das kann nicht nur am Sonntag stattfinden oder in Parlamentsdebatten dieser Art, sondern es entscheidet sich überall - kommunal, auf der Ebene der Länder und natürlich auch des Bundes -, ob wir wirklich bereit sind, diesen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aufzunehmen. An die CDU und die FDP eine Bemerkung zum Nachdenken: Ich fand es nicht so gut, dass am Montag bei der Veranstaltung des Zentralrates der Juden zur Übergabe des Leo-Baeck-Preises an Joschka Fischer von der Unionsfraktion und von der FDP-Fraktion - soweit das sichtbar war - niemand da war. Sie müssen sich überlegen: Sie haben da nicht nur Joschka Fischer boykottiert - was Ihr politisches Recht ist -, sondern Sie haben eine Veranstaltung des Zentralrates der Juden nicht besucht. Frau Merkel, vielleicht war es nur eine Panne, aber ich finde, Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob es klug ist, in Deutschland bei solchen Preisverleihungen als Fraktion nicht vertreten zu sein. ({3}) Es war jemand von der Konrad-Adenauer-Stiftung da, aber niemand von Ihren Fraktionen; darüber sollten Sie nachdenken. ({4}) Ich möchte noch einen weiteren Punkt nennen, der mit Verantwortung zu tun hat. Vielleicht haben wir auch eine politische Mitverantwortung - ich bin sicher, dass wir sie haben - dafür, den heutigen Konflikt zwischen den Israelis bzw. dem Staat Israel und den Palästinensern, die noch keinen eigenständigen Staat haben, mit zu entschärfen. Ich finde, es gehört zu unserer Verantwortung, dabei zu helfen - mit den Mitteln der Politik, mit den Mitteln der wirtschaftlichen Unterstützung und mit den Mitteln der Diplomatie -, diesen Konflikt zu entschärfen. Der Weg ist mit der Roadmap, mit der Vorstellung der Völkergemeinschaft, dass wir zwei Staaten brauchen, die auch lebensfähig sind, vorgezeichnet. Ich finde, dass vieles, was von dieser Regierung in der Vergangenheit getan wurde, aber auch, was in den nächsten Monaten und im nächsten Jahr zu tun ist, in diese Richtung weisen muss. Da sind wir bei der spannenden Frage, ob Deutsche heute eigentlich - Johannes Rau hat gestern etwas dazu gesagt - israelische Politik kritisieren dürfen. Ich will meine klare Antwort geben, von der ich weiß, dass viele in meiner Fraktion sie teilen: Aus der Perspektive von Freundschaft und aus der Perspektive der genannten Verantwortung kann man dies tun - aber als Deutscher nicht mit dem Gestus der Anklage, sondern als jemand, der Fragen stellt, der Besorgnisse artikuliert, der eben genau hinschauen will und am Existenzrecht Israels und der Sicherheit seiner Menschen orientiert Vorschläge macht. Wenn ich zur aktuellen Situation in Israel und in Palästina etwas sagen sollte, würde ich sagen: Es gibt eine neue Chance für Frieden dort. Das ist eine ganz zarte Pflanze und wir müssen einen Beitrag leisten, dass sie wachsen und gedeihen kann. Es gibt so etwas wie einen Waffenstillstand. Es gibt den Gaza-Rückzug, den man als positives Zeichen sehen kann. Ich habe die Hoffnung, dass weitere Zeichen auf beiden Seiten folgen werden, auf der israelischen wie auch auf der palästinensischen Seite, die uns endlich konsequent auf den in der Roadmap vorgezeichneten Weg bringen werden. Ich habe Verständnis dafür, dass Zäune - ich denke an die Zäune, die jetzt in der Westbank errichtet werden wirklich vor Terror schützen können. Deshalb verstehe ich, dass solche Zäune aufgebaut werden. Ich möchte aber doch die Warnung bzw. Besorgnis zum Ausdruck bringen, dass die Zäune so liegen müssen, dass sie die Entfaltungsmöglichkeiten der Palästinenser nicht so einschränken, dass ein möglicher künftiger palästinensischer Staat insgesamt nicht lebensfähig ist. Ich finde, in dieser Spannung kann die deutsche Politik mit aller Vorsicht, also nicht mit dem Gestus der Anklage, auch dazu beitragen, dass der Weg zum Frieden dort wirklich gegangen wird. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die meine Fraktion hat. Ich glaube, das ganze Haus teilt diese Hoffnung, dass wir jetzt am Neuanfang eines friedlichen Weges stehen. Er wird schwierig sein und viele Rückschläge bringen, aber 40 Jahre deutschisraelische diplomatische Beziehungen sollten natürlich auch von der Hoffnung der Menschen in Israel und Palästina auf Stabilität, Frieden und Sicherheit in der ganzen Region für die Zukunft getragen sein. Wir müssen die Beziehungen zu Israel vertiefen. Sie sollen sich nicht automatisieren, routinisieren oder normalisieren. Die Besonderheit muss bestehen bleiben. Ich hoffe, dass ein solches Gedenken bzw. eine solch erinnernde Debatte, wie wir sie heute führen, ein Beitrag dazu ist, dass dies bestätigt wird und dass wir die Beziehungen in den nächsten Jahren vertiefen können, sodass wir in zehn Jahren mit einem noch positiveren Bild als heute dastehen können. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind einzigartig und sie werden es auch immer bleiben. Es war in den letzten 40 Jahren nicht vorbestimmt, dass sie sich so entwickeln würden, wie sie es taten. 20 Jahre nach Ende der Schoah hatten wir das große Glück, zwei Staatsmänner zu haben, Konrad Adenauer und David Ben Gurion, die die mutige Entscheidung getroffen haben, dass unsere Länder aufeinander zugehen. Von daher glaube ich gar nicht mal, dass es heute ein Tag des Erinnerns sein sollte, sondern ein Tag, um in die Zukunft zu schauen. ({0}) Ich war damals zwei Jahre alt und mich interessieren eigentlich mehr die nächsten 40 Jahre der deutsch-israelischen Beziehungen, die auf uns zukommen. Man muss hier auch sagen, dass heute nicht nur über 40 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen debattiert wird, sondern heute ist auch Yom Ha’atzma’ut. Herr Botschafter, 57 Jahre Unabhängigkeit des Staates Israels: Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich dazu. ({1}) Das bedeutet aber auch 57 Jahre, in denen man immer wieder um das Existenzrecht des Staates Israels kämpfen musste: in fünf Nahostkriegen, in einer Situation, in der noch lange nicht alle islamischen Staaten das Existenzrecht Israels anerkennen, in einer Situation, in der wir auf einem guten Weg sind, die aber noch lange nicht gesichert ist, in einer Situation, in der durchaus auch militärische Stärke vonnöten ist, um das uneingeschränkte Existenzrecht des Staates Israel als jüdischer Staat in sicheren Grenzen ohne Angst und ohne Terror für die Zukunft zu gewährleisten. Den Zusatz „als jüdischer Staat“ hätte ich mir auch in dem gemeinsamen Antrag gewünscht; denn die Feierlichkeiten der vergangenen Tage zeigen, dass es notwendig ist, dass Israel als jüdischer Staat in den nächsten 40 Jahren und darüber hinaus Existenzmöglichkeiten in Sicherheit hat. ({2}) Deswegen hätten wir auch hier darauf eingehen sollen. Nichtsdestotrotz ist vieles genannt worden, was richtig ist, zum Beispiel gute wirtschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Israel - der zweitwichtigste Handelspartner für Israel ist die Bundesrepublik Deutschland - und hervorragende wissenschaftliche Beziehungen. Ich hatte das Glück, im Februar mit dem Bundespräsidenten in Israel sein zu dürfen. Wir haben eine zukunftsgerichtete Reise gemacht. Der Bundespräsident hat insbesondere die Themen Forschung, Zukunftsentwicklung und Jugendaustausch angesprochen und sich entsprechende Projekte angeschaut. Wir haben hier ein ungeahnt großes Gebiet von Möglichkeiten, auf dem wir uns gegenseitig befruchten und voneinander lernen können. Ich glaube, wir sollten überlegen, wie wir unsere gemeinsamen Interessen in den nächsten 40 Jahren neu definieren. Unser gemeinsames Interesse liegt darin, Forschung voranzutreiben, weil beide Länder in der globalen Welt niemals über Niedriglöhne, sondern nur über die besseren Ideen, Produkte und Dienstleistungen konkurrieren können. Da gibt es Bereiche, in denen wir Deutsche schon die Lernenden geworden sind. Dies haben wir in Israel auf den Feldern Nanotechnologie, Hirnforschung, Stammzellenforschung und Gentechnik erlebt. Es gibt aber auch Bereiche, in denen Israel sehr gut von uns lernen kann. Beides zusammen führt zu zukunftssicheren Arbeitsplätzen in beiden Ländern. Auch können wir von Israel lernen, wie Integration gelingt. Integration wird eines der Zukunftsthemen der deutschen Innenpolitik werden. Es täte uns gut, wenn wir uns vergegenwärtigten, wie es dieses kleine, mutige Land geschafft hat, so viele unterschiedliche Kulturen und so viele unterschiedliche Menschen aus vielen Ländern zu integrieren und dazu zu bringen, für den Fortschritt und den Wohlstand aller in diesem Lande zu arbeiten. Des Weiteren haben beide Länder ein gemeinsames Interesse daran, zu diskutieren, wie wir den Terrorismus in der Welt und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bekämpfen können und wie wir es schaffen, in einer friedlicheren Zukunft zu leben. Über diese Themen sollten wir uns in den nächsten 40 Jahren der deutsch-israelischen Beziehungen unterhalten. Ich freue mich, dass die Bundesrepublik Deutschland und Israel nach der schwierigen Geschichte einen Weg gefunden haben, in Kenntnis dessen, was passiert ist, nach vorn zu schauen. Ich freue mich, dass der Bundespräsident deutlich gemacht hat, dass wir dies für die kommenden Jahre vorhaben. Deswegen bin ich Ihnen, Herr Botschafter, sehr dankbar, dass Sie uns immer als kritischer Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Gestern hat Professor Lahnstein bei der Verleihung des Friedenspreises der Deutsch-Israelischen Gesellschaft gesagt, Sie machten es sich und auch uns nicht immer leicht. Dies ist wohl wahr. Aber nur so kommt man zu einem guten Dialog. Freunde müssen miteinander im Wettstreit der Meinungen über das Beste für die Zukunft gemeinsam entscheiden können. Hier sind wir für die nächsten 40 Jahre deutsch-israelischer Beziehungen auf einem guten Wege. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein bedeutender Tag. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Art und Weise, in der wir hier auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrags debattieren, zeigen, dass allen Fraktionen in diesem Hause und allen demokratischen Parteien Israel im wahrsten Sinne des Wortes am Herzen liegt. ({0}) Willy Brandt, der 1973 als erster

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Was insbesondere diese deutsch-israelischen Beziehungen angeht, so wird jedermann verstehen, wenn ich auch hier sage, dass sie einen besonderen Charakter haben. Diese Charakteristik bleibt unangetastet. Für uns kann es zumal keine Neutralität des Herzens und des Gewissens geben. Besser kann man, wie ich glaube, diese Beziehungen nicht beschreiben. Dirk Niebel hat Recht: Wir müssen so, wie es auch in unserem Antrag steht, im Wissen um die Vergangenheit eine Brücke schlagen, um gemeinsam mit Israel die Zukunft zu gestalten. Dies ist mir auch als ein Vertreter der jüngeren Generation in diesem Hause ein großes Anliegen. Es ist wichtig, dass jede Generation ihren Weg findet, die Vergangenheit zu verinnerlichen und Verantwortung für sie zu übernehmen. Ich werde es nie vergessen, wie ich mit einer Gruppe von jungen Kolleginnen und Kollegen des Bundestages im Mai 1999 in Yad Vashem ein Gespräch mit dem großen Yehuda Bauer hatte, der uns immer wieder Mut zusprach und uns sagte, wir sollten uns nicht schuldig fühlen, aber auch nie vergessen, dass wir Verantwortung trügen. Dies gilt es zu verinnerlichen und in die Tat umzusetzen. ({0}) Hier ist viel zum weiteren Ausbau der bilateralen Beziehungen gesagt worden. Ich erinnere an den deutschisraelischen Jugendaustausch, der eine hervorragende Arbeit leistet. Es ist auch schon viel zu unserer Verantwortung bei der Bekämpfung des Antisemitismus gesagt worden. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, zu sagen, dass unser Haus stolz darauf sein kann, dass wir mit Gert Weisskirchen einen Kollegen haben, der zusammen mit dem Congressman Chris Smith in der OSZE dafür gesorgt hat, dass Antisemitismus ganz oben auf die Agenda gesetzt worden ist. Herzlichen Dank dafür. ({1}) Die Förderung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in unserem Land muss uns am Herzen liegen; denn der Vernichtungsfeldzug der Nazis, der Holocaust, hat mit der jüdischen Kultur einen Teil unserer eigenen europäischen Kultur auszuradieren versucht. Was gibt es Schöneres zu sehen, als dass jetzt in Deutschland wieder jüdisches Leben blüht? Das sollten wir mit allen Mitteln unterstützen. ({2}) Wenn wir in die Zukunft schauen, heißt das auch, heute, an dem Tag, an dem wir mit großer Mehrheit die EU-Verfassung ratifiziert haben, konkret zu überlegen: Was kann Deutschland in der Europäischen Union tun, um Israel und Europa stärker zusammen zu bringen? Israel gehört für mich zur euro-atlantischen Gemeinschaft! Deshalb sind die Vorschläge im Rahmen der neuen Nachbarschaftspolitik, die wir auf dem Tisch liegen haben, gute Vorschläge. Ich finde es bemerkenswert, dass der israelische Botschafter bei der EU, Oded Eran, diese Vorschläge nicht nur sehr positiv aufgenommen, sondern auch deutlich gemacht hat, dass Israel bereit ist, darüber hinaus mit der Europäischen Union zu kooperieren. Da sollten wir den israelischen Botschafter in Brüssel beim Wort nehmen und ihn gerade als Deutschland in der EU auf diesem Weg zu einer engeren Kooperation mit Europa unterstützen. ({3}) Aber auch die Unterstützung und Ausweitung der Kooperation zwischen Israel und der NATO über das Mittelmeerdialogprogramm und über die Istanbul-Initiative hinaus sind wichtig. Dirk Niebel hat es gesagt: Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung, der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen, maritime Kooperation oder auch Kooperation in Bereichen wie Search and Rescue bieten sich hier einfach aufgrund gemeinsamer Interessen und großer Fähigkeiten Israels auf diesen Gebieten an. Deshalb begrüße ich in diesem Zusammenhang die vielen Initiativen, die es in Israel gibt. Ich nenne die Initiative von Uzi Arad, der Berater des Auswärtigen Ausschusses der Knesset ist und langjähriger Sicherheitsberater von Herrn Netanjahu war, der deutlich gemacht hat, dass auch in diesem Teil des politischen Spektrums in Israel das Interesse an einer Zusammenarbeit mit Europa und auch mit der NATO wächst. Ich finde, wir sollten das unterstützen und zeigen, dass wir als Deutsche nicht nur in der EU, sondern auch in der NATO ein Motor für diese stärkere Zusammenarbeit sind. ({4}) Ich sage das auch deshalb, weil wir mit Blick auf den Nahost-Friedensprozess - wir lassen uns den Optimismus nicht nehmen - für die Zeit, wenn es dort Frieden gibt, ein Angebot haben müssen, und zwar nicht nur für Israel und die Palästinenser in Bezug auf die konkrete Arbeit in diesem Friedensprozess und die Zeit danach, sondern auch für Israel, damit es weiß, dass es sich weiterhin in unserer Gemeinschaft aufgehoben fühlen kann. Auch aus diesem Grund sind solche Initiativen der verstärkten Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union, der NATO und Israel eine Chance, die Kräfte in Israel zu stärken, die den Mut finden, für Israel schmerzhafte Konzessionen auf dem Weg zum Frieden zu machen. Da sollten wir sie nicht alleine lassen. Wir müssen unsere Rolle bei der Gestaltung des Nahost-Friedensprozesses ernst nehmen. Wir müssen die Chance, die sich jetzt durch den Abzugsplan im Gazastreifen ergibt, nutzen. Auch hier müssen wir als Europäer dafür sorgen, dass der Abzug aus dem Gazastreifen nicht in eine Sackgasse führt, sondern ein Erfolgsmodell ist: über die Roadmap hin zu einem lebensfähigen Zweistaatenmodell für Israel in Sicherheit, aber auch für Palästina mit gesicherten Perspektiven. Unser Botschafter Rudolf Dreßler hat gesagt: Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse unseres Landes. Sie ist somit ein Teil unserer Staatsräson. Ich möchte das ergänzen und ausdrücklich unterstreichen, was Dirk Niebel gesagt hat: Ich hätte mir gewünscht, dass in diesem gemeinsamen Antrag auch stehen würde, dass sich die Sicherheitsgarantie für Israel auf Israel als einen Staat mit jüdischem Charakter bezieht. ({5}) Ich stelle fest - ich hoffe, die Kollegin Hildegard Müller verzeiht mir das, weil Hildegard Müller, Dirk Niebel, ich und auch andere jüngere Kolleginnen und Kollegen mit dieser Formulierung keine Probleme haben -, dass dies vielleicht eine Frage von politischen Generationen ist. Vielleicht steht diese Formulierung zum 45. Jahrestag unserer Beziehungen im Antrag, weil dann eine andere Generation politische Verantwortung trägt. Zum Schluss möchte ich unseren ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau zitieren. Er hat, so glaube ich, das gezeigt, worauf es ankommt, wenn wir an die nächsten Generationen denken. Er hat zum Abschluss seiner Rede vor der Knesset im Februar 2000 gesagt: Ich bin überzeugt davon: Wenn wir der Jugend die Erinnerung weitergeben und sie zu Begegnungen ermutigen, dann brauchen wir uns um die Zukunft der Beziehungen zwischen Israel und Deutschland nicht zu sorgen. Ich wünsche Ihnen und uns diese Zuversicht. Das beginnende Jahrhundert soll ein Jahrhundert des Friedens werden: für die Söhne und Töchter Abrahams und für unsere Welt. Ich finde, wir sollten uns diese Worte von Johannes Rau zu Herzen nehmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller, CDU/ CSU-Fraktion.

Hildegard Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003598, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer hätte es angesichts der Verbrechen, die von Deutschen und im deutschen Namen millionenfach an Juden begangen worden sind, für möglich gehalten, dass Deutschland und Israel heute als Partner und Freunde miteinander verbunden sind? Nach der Gründung des Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland gab es anfangs nur wenige Kontakte zwischen beiden Staaten. Die Initiativen in den 50er-Jahren scheiterten noch und es war sehr schwierig in den Anfangsjahren. Doch Konrad Adenauer und David Ben Gurion setzten den Weg einer offiziellen Wiederannäherung zwischen Deutschland und Israel gegen Widerstände in beiden Ländern durch. Betrachtet man die Beziehungen heute, kann man zu der Auffassung gelangen, die Beziehungen seien normal. Junge Israelis besuchen in großer Zahl das Goethe-Institut. Sie lernen Deutsch, weil sie in Deutschland studieren wollen, sich beruflich etwas davon versprechen oder geschäftliche Kontakte pflegen, die vertieft werden sollen. Die Zahl der israelischen Aussteller auf Messen wächst, die Zahl der Kooperationen und Joint Ventures auch. Gleiches gilt für das Engagement von Deutschen in Israel. Doch trotz dieser erfreulichen Entwicklung gilt es, vor der Begrifflichkeit „normal“ zu warnen, auch wenn wir uns noch so sehr danach sehnen. Normal im Sinne von „der Norm entsprechend“ oder - anders ausgedrückt - „üblich“ oder „durchschnittlich“ können die deutsch-israelischen Beziehungen niemals sein. Die Beziehungen werden stets durch die Singularität der Schoah gekennzeichnet sein. Es ist zugleich wichtig, dass nachwachsende Generationen das Bewusstsein und den Wunsch nach besonderen Beziehungen zu Israel entwickeln. Dies erscheint umso dringlicher, wenn die Opfer und Zeitzeugen des Holocausts, der Aussöhnung und des Neubeginns die besondere Qualität der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel zukünftig nicht mehr mit Leben erfüllen und gestalten können. Ein besonderes Augenmerk müssen wir stets dem Kampf gegen jegliche Form des Antisemitismus widmen, ob er aus rechtsextremen, islamistischen, antiamerikanischen oder antizionistischen Motiven heraus entsteht. Antisemitismus ist ein Verbrechen gegen die Menschenwürde und hat keinen Platz in Deutschland. ({0}) Es ist und bleibt unsere Verpflichtung, ihn in allen Ausprägungen gesellschaftlich zu ächten und mit der ganzen Härte des Gesetzes zu verfolgen. Deutschland muss in diesem Sinne auch eine starke Stimme in die Europäische Union einbringen. Vielen Menschen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern fällt es schwer, zu begreifen, in welcher Gefahr die Menschen in Israel seit Jahrzehnten leben. Wir kennen nicht diese Erfahrung, jederzeit auf dem Weg zur Arbeit, im Café oder Restaurant Opfer eines Terroranschlags werden zu können. So trauern wir mit unseren israelischen Freunden um die Opfer des Terrors. Auch ist uns fremd, dass die Existenz unseres Staates ernsthaft infrage gestellt wird. Israel hat seit seiner Gründung 1948 immer wieder seine Existenz verteidigen müssen. Bis zum heutigen Tage haben etwa 21 000 Soldaten ihr Leben gelassen. Ihrer hat Israel gestern am Gefallenengedenktag Yom Hazikaron gedacht. Bis zum heutigen Tag wird Israels Existenz von den meisten seiner Nachbarländer nicht akzeptiert. Deshalb ist für Israel die militärische Stärke zur Sicherung seiner Existenz unverzichtbar. ({1}) Deutschlands Beziehungen zum jüdischen Staat gründen auf unserer Verantwortung für die Schoah und deshalb sind unsere Beziehungen durch unser unerschütterliches Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürger bestimmt. Israel wird sich in dieser Hinsicht stets auf Deutschland als Freund und Partner verlassen können. Die besondere Verantwortung, die wir für die Sicherheit Israels haben, werden wir auch in der internationalen Staatengemeinschaft immer einsetzen. ({2}) Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten - ein Rechtsstaat, eine starke Wirtschaft und eine westliche Zivilgesellschaft, die unsere Werte teilt. Deutschland und Israel sind Partner, die wesentliche gemeinsame Interessen teilen. Das ist eine gute und belastbare Grundlage für eine gemeinsame Zukunft. Für diese Zukunft denke ich neben dem Ausbau der politischen Beziehungen - dazu ist heute schon vieles gesagt worden - an einen Ausbau der Partnerschaften zwischen Städten, Vereinen und Schulen, an eine Vertiefung des Jugendaustauschs und der Jugendbegegnung sowie an eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Forschung. Im Februar durfte auch ich den Bundespräsidenten auf seiner Israelreise begleiten. Durch die Besuche im Weizmann-Institut, im Technion in Haifa oder in dem Entwicklungslabor eines deutschen Softwareherstellers habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir von Israel, das in der europäischen Forschung und im HightechBereich eine wichtige Rolle spielt, sehr viel lernen können. Als rohstoffarme Länder sollten wir daher verstärkt gemeinsame Forschungsvorhaben in der Bio- und Nanotechnologie und zwischen Unternehmen aus der Informations- und Kommunikationstechnik sowie der Pharmazeutik und Medizintechnik anstoßen. ({3}) Über die Jahre sind in Wissenschaft und Forschung sowie in Wirtschaft und Kultur auf gemeinsamen Interessen beruhende nachhaltige, enge, ja, ich darf sagen, freundschaftliche Beziehungen entstanden. Sie sind lebendig, belastbar und zukunftsorientiert. Meine Damen und Herren, es mag unter diesen Partnern auch tagespolitische Meinungsverschiedenheiten geben, jedoch lassen beide Partner keinen Zweifel an der Integrität und Verlässlichkeit des anderen aufkommen. Beide Seiten stellen den anderen nicht infrage und die Beziehungen müssen sich auch in Krisenzeiten weiter verlässlich zeigen. Ich würde mich freuen, wenn mehr Deutsche Israel besuchen würden. Es ist ein wunderbares Land. Stellt doch ein persönlicher Kontakt die unvoreingenommenste Möglichkeit einer engeren Beziehung zwischen Deutschen und Israelis dar. Für die Zukunft sollten wir die besondere Beziehung zu Israel neu beleben. Wir sollten es als unsere gemeinsame Aufgabe betrachten und Bereiche und Projekte identifizieren; denn unseren Beziehungen nützen weder Sonntagsreden noch Lippenbekenntnisse an solchen Tagen, meine Damen und Herren. Oder, um es mit dem französischen Sprichwort auszudrücken: Rien n’est jamais acquis - nichts ist jemals endgültig erreicht und gesichert. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Das Ereignis, das wir heute würdigen wollen, ist nicht dem politischen Alltagsgeschäft entsprungen. Es lag nicht in der Logik der Dinge. Diplomatische Beziehungen mit Deutschland schienen für viele Israelis in den Jahren nach Kriegsende undenkbar zu sein. 1949 rief der Herausgeber der israelischen Zeitung „Ha’aretz“, Gershon Schocken, dazu auf, alle gesellschaftlichen Kontakte zu Deutschland abzubrechen. Hier wiederum gab es jahrelang keine intensive Auseinandersetzung mit der Schoah. Ewig und endgültig schien der Graben zwischen Israel und dem Land des Holocaust zu sein. Ihn zu überwinden, dazu bedurfte es des Mutes, der Führungsstärke und nicht zuletzt des historischen Verantwortungsbewusstseins zweier herausragender Staatsmänner: Konrad Adenauer und David Ben Gurion; sie wurden schon erwähnt. Bei ihrem legendären Treffen im New Yorker Hotel „Waldorf Astoria“ im Jahre 1960 gelang es ihnen, gegen große Widerstände in ihren Heimatländern ({0}) - ja, Sie haben Recht - einen Weg fortzusetzen, der 1952 mit dem Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen begonnen hatte und bis zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen 1965 führen sollte. Ben Gurion war überzeugt davon, dass zwar die Schuldigen zu bestrafen seien, aber nicht deren Kinder. Es war allerdings ein Weg - auch daran muss erinnert werden -, den der sozialistische Teil Deutschlands nicht mitging. Die DDR Ulbrichts und Honeckers folgte vielmehr einem demonstrativ antiisraelischen Kurs und wurde dafür mit der offiziellen diplomatischen Anerkennung durch Ägypten 1967 belohnt. ({1}) Die einzige Auslandsreise Walter Ulbrichts außerhalb des Ostblocks führte ihn nach Kairo. Im Westen jedoch begann eine zaghafte Annäherung zwischen der Bundesrepublik und dem jüdischen Staat, die bald alle Ebenen umfasste. Selbst Adenauer und Ben Gurion hätten sich nicht träumen lassen, dass Deutschland heute mit kaum einem Land so viele Kontakte unterhält wie mit Israel. Davon zeugt die außerordentliche Dichte politischer Besuche - beispielhaft seien nur die hervorragenden Beziehungen zwischen Franz Josef Strauß und Schimon Peres genannt. Davon zeugen auch mehr als hundert Städtepartnerschaften, zahlreiche Jugendaustauschprogramme sowie ein enger wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Austausch. Wir wollen aber nicht vergessen, dass die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Israelis auch weiterhin sehr komplex ist und bleibt und - das wurde schon festgestellt - vielleicht nie ganz normal werden wird. Paradoxerweise ist es gerade die Erlebnisgeneration der aus Deutschland nach Israel eingewanderten Juden, die - trotz anfangs größter Vorbehalte - Wegbereiter der Beziehungen wurde. Sie wussten, wie sehr sich Deutschland gewandelt hat. Bei allen guten Kontakten ist die Einstellung jüngerer Israelis gegenüber Deutschland fast skeptischer als die der älteren. Mit Sorge werden in Israel zu Recht antisemitische Tendenzen jeglicher Art und ein sich verschlechterndes Bild Israels in der deutschen Öffentlichkeit registriert. Forderungen nach der Existenz eines Palästinenserstaates müssen genau abgewogen werden, damit nicht übersehen wird, dass radikale Palästinensergruppen nicht für einen Staat neben Israel, sondern für einen eigenen Staat anstelle Israels kämpfen. Aus diesem Grund kommt es auch zu Terrormaßnahmen. Viele Israelis fühlen sich so als Bürger eines demokratischen Staates im Kampf gegen undemokratische Systeme um sich herum manchmal auch von uns im Stich gelassen. ({2}) Diesen Anzeichen einer Entfremdung gilt es entschieden zu begegnen. Wer die deutsch-israelischen Beziehungen bereits für selbstverständlich hält, sollte bedenken: Die besonderen Bedingungen, unter denen sie bestehen, verbieten es, aus Nachlässigkeit Stereotypen Vorschub zu leisten. Dass die NPD ihren Aufmarsch in Berlin am vergangenen Sonntag absagen musste, weil die Bürger ihn durch Zivilcourage verhinderten, sollte dabei genauso bedacht werden wie der Mut, den die israelische Regierung in letzter Zeit bei ihren friedensstiftenden Maßnahmen nach innen aufbringt. ({3}) Am 27. September 1951 sagte Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag: Es ist die vornehmste Pflicht des deutschen Volkes, im Verhältnis zum Staat Israel und zum jüdischen Volk den Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden zu lassen. Dieser Satz verpflichtet niemanden, Fehler der israelischen Politik zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Ich möchte mich ausdrücklich dem anschließen, was Sie, Herr Kollege Kuhn, ausgeführt haben: Es kommt dabei vor allen Dingen auf die Form an. Es kann durchaus auch Mahnung sein, sich zuverlässig den aus der eigenen Geschichte erwachsenden Verantwortlichkeiten zu stellen. Die CDU/CSU wird sich diesen Verantwortlichkeiten auch in heutiger Zeit und in Zukunft stellen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/5464 mit dem neu gefassten Titel „40 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Israel - Im Wissen um die Vergangenheit die Zukunft gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 ({0}) - Drucksache 15/4533 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 15/5486 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Olaf Scholz Hans-Christian Ströbele Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Es gibt im Moment wohl kein anderes Gesetzgebungsverfahren - zumindest nicht im Bereich des Strafprozessrechts -, das auf so unterschiedliche Beurteilungen stößt. Auf der einen Seite wird gefordert, dass man die Wohnraumüberwachung nunmehr ganz sein lassen solle. Auf der anderen Seite wird gefordert, dass man die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 3. März 2004 gemacht hat, nun doch nicht allzu wörtlich nehmen solle und ruhig einmal ein bisschen darüber hinausgehen könne. Lassen Sie mich deshalb vorweg auf zwei Voraussetzungen hinweisen, von denen ich meine, dass sie der Beratung des Gesetzentwurfes zugrunde liegen sollten. Erstens. Die akustische Wohnraumüberwachung ist ein Instrument zur Bekämpfung schwerer Formen von Kriminalität, auf das wir nicht verzichten können. ({0}) Das belegt nicht nur das von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Gutachten des Max-Planck-Instituts, mit dem nachgewiesen wurde, dass zum Beispiel 87 Prozent der Fälle aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, in denen bisher eine Wohnraumüberwachung angeordnet war, der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Das erhellt sich vielmehr auch aufgrund der Tatsache, dass sich Kriminelle nicht in der Gewissheit wiegen dürfen, dass sie nur eine Wohnung aufsuchen müssen und ihnen dann in diesem Staate nichts mehr geschehen kann. Ich glaube nicht, dass das ein Signal ist, das wir senden sollten. ({1}) Die zweite Prämisse ist, dass die Wohnraumüberwachung selbstverständlich die Gefahr schwerer Grundrechtseingriffe birgt. Deshalb sind wir als Gesetzgeber verpflichtet, die Maßnahmen in dem Maße zu begrenzen, wie es die Wahrung der Grundrechte erfordert. Die Einsicht in diese beiden Voraussetzungen scheint nicht von allen in diesem Hohen Hause geteilt zu werden. Ich habe den Eindruck, dass sich die FDP nicht ganz schlüssig ist, welche Position sie eigentlich beziehen soll. ({2}) Ich habe nicht verstanden, warum Sie, meine Damen und Herren von der FDP, nach Ihrer Entscheidung auf dem Bundesparteitag, auf dem Sie erklärt haben, wir bräuchten das alles gar nicht mehr und die Wohraumüberwachung sei ganz abzuschaffen, gestern im Rechtsausschuss einen Änderungsantrag gestellt haben, der im Vergleich zu unserem Gesetzentwurf sogar Erweiterungen vorsieht. Aber das können Sie nachher noch aufklären. ({3}) Vielleicht ist das auch nur ein Missverständnis. Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit der schon erwähnten Entscheidung wertvolle Orientierungshilfen gegeben, an denen wir uns bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfes ausgerichtet haben. Wir haben intensiv über die Frage diskutiert, wie man es richtig macht, wie man den Ansprüchen sowohl der Strafverfolgungsbehörden als auch der Grundrechtsträger Rechnung tragen kann. Ich meine jedenfalls, dass wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der über alle unterschiedlichen Meinungen hinweg einen Kompromiss darstellen kann. ({4}) Das hat die Sachverständigenanhörung meiner Meinung nach ergeben. Im Zentrum des Gesetzentwurfes stehen zwei Regelungen, die für das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen, sinnfällig sind. Das ist zum einen die negative Kernbereichsprognose als Anordnungsvoraussetzung und das ist zum anderen die Unterbrechungsregelung, zu der, wie ich gerade erfahren habe, die CDU/CSUFraktion einen Änderungsantrag eingebracht hat. Die negative Kernbereichsprognose ist Anordnungsvoraussetzung jeder Überwachungsmaßnahme. Mit ihr muss nämlich erst einmal prognostiziert werden, dass nicht die Gefahr eines Eingriffs in die unantastbare Privatsphäre besteht. Diese Kernbereichsprognose gewährleistet damit, dass die Strafverfolgungsbehörden jeden Einzelfall sehr sorgfältig prüfen. Auch Sie wissen, dass das Gericht darüber entscheiden muss. Diese Prüfung muss im Anordnungsbeschluss dokumentiert werden, damit bei einer späteren Überprüfung im Wege des Rechtsschutzes durch das erkennende Gericht die gemachten Erwägungen nachvollziehbar sind. Wir haben damit sichergestellt, dass der Rechtsschutz, den auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gefordert hat, nicht im Einzelfall durch den Hinweis auf praktische Bedürfnisse ausgehebelt werden kann. Die mit dieser Kernbereichsprognose verbundenen Anforderungen an die Praxis sind hoch. Ich glaube aber nicht, dass sie deshalb dazu führen, dass man die Wohnraumüberwachung künftig als unpraktikabel verwerfen und nicht mehr anwenden wird. Eine automatische Aufzeichnung bleibt weiterhin möglich, beispielsweise - diese Fälle sind zahlreich - beim Abhören von Geschäfts- und Betriebsräumen. Ein weiterer Punkt betrifft die Unterbrechungsregelung. Wir meinen, dass wir dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts lediglich mit der von uns vorgeschlagenen Regelung wirklich Folge leisten können; denn nur so stellen wir sicher, dass der Kernbereich nicht angetastet wird. Es wurde eindeutig festgestellt, dass eine Aufzeichnung nicht stattfinden darf, sobald der Kernbereich berührt wird. Das heißt konkret: Wenn man künftig mithört und feststellt, dass ein Gespräch die Privatsphäre berührt, dann muss man die Aufzeichnung beenden. Man darf dann also nicht sagen - ich beziehe mich auf den Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion -: Das nehmen wir jetzt einmal auf ein Tonband auf; später dürfen das der Richter und im Zweifel auch der Dolmetscher, der das Ganze übersetzen muss, abhören; über die Rechtmäßigkeit der Aufzeichnung wird hinterher entschieden. Der Kern der Karlsruher Entscheidung - wenigstens ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Entscheidung nur so verstanden werden kann, auch im Hinblick auf die abweichenden Meinungen - besteht darin, dass in die Privat- und Intimsphäre nicht eingegriffen werden darf, auch nicht durch den Richter. ({5}) - Herr Abgeordneter, wieder einschalten darf man dann, wenn man Anhaltspunkte dafür hat, dass sich die Situation geändert hat. ({6}) - Das ist natürlich nicht ganz einfach; deswegen habe ich eingangs festgestellt, dass die Frage der Unantastbarkeit des Kernbereichs ein echtes Problem ist. Aber es gibt natürlich Anhaltspunkte: Die Freundin hat die Wohnung verlassen; es sind neue Personen in die Wohnung gekommen; vielleicht veranlasst einen auch nur der Zeitablauf, anzunehmen, dass ein Gespräch beendet sein könnte, um dann die Entscheidung zu treffen, die Aufzeichnung wieder fortzusetzen. Ich gestehe Ihnen zu: Diese Entscheidung zu treffen ist nicht einfach. Aber aus dieser Tatsache kann man nicht die Schlussfolgerung ziehen, es generell anders zu machen ({7}) und auf eine vollständige Aufzeichnung zurückzugreifen, die in einer großen Anzahl von Fällen von mindestens zwei Personen abgehört werden muss. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen können deshalb Ihrem Änderungsantrag - Sie haben ihn von den Ländern inhaltlich übernommen -, nicht zustimmen. Was da geplant ist, kann nicht funktionieren. Gerade in Bezug auf diese beiden Punkte möchte ich deutlich machen, dass unser Gesetzentwurf ein ausgewogenes, ein in sich geschlossenes und auch ein insgesamt vernünftiges Regelungskonzept enthält. Das gilt nicht nur für die angesprochenen Fragen, sondern - sicherlich zur Freude des ganzen Hauses - auch für die Regelung zum Schutz der Berufsgeheimnisträger. Das gilt für die Verwendung der erlangten Daten zur Gefahrenabwehr - wir haben festgestellt, dass man solche Erkenntnisse zur Gefahrenabwehr nutzen darf - und auch für die datenschutzrechtlichen Vorschriften. Schließlich gilt es für die Pflicht, dem Parlament Bericht zu erstatten. Mit der Tatsache, dass diese Berichtspflicht konkretisiert und verstärkt wird, geht die Möglichkeit des Parlaments einher, rechtzeitig zu kontrollieren, ob die Strafverfolgungsbehörden keinen unbotmäßigen Gebrauch machen. Vor allem im Hinblick auf den Zeitablauf und darauf, dass das Gesetz außer Kraft tritt und wir bis zum Juni eine Regelung haben müssen, würde ich mich freuen, wenn die Tonbandalternative verworfen werden könnte und wenn auch die Oppositionsfraktionen bei den Ländern für die Auffassung werben könnten, dass das Richterband nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht und dass es deshalb keinen Sinn macht, in diesem Punkt den Vermittlungsausschuss anzurufen, um zu versuchen, da noch etwas zu erreichen; es käme nur zu einer Zeitverzögerung, die uns allen nichts nützt. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSUFraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, erneut und sicherlich auch abschließend debattieren wir heute die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 3. März 2004 zur akustischen Wohnraumüberwachung. In diesem Urteil wurde zwar der Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes als Grundlage für die akustische Wohnraumüberwachung für verfassungsgemäß erklärt, jedoch hielt das Gericht die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen in der Strafprozessordnung für zum Teil grundgesetzwidrig. Es normiert einen absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung. Ein Abhören des gesprochenen Wortes soll dort zukünftig nur noch unter äußerst engen Voraussetzungen möglich sein. Wie ich schon in der ersten Lesung betont habe, kann ich nicht nachvollziehen, weshalb das Gericht derartige Einschränkungen bei der akustischen Wohnraumüberwachung überhaupt für notwendig gehalten hat. ({0}) Wir alle wissen - das kam bereits in der ersten Lesung sowie in der Sachverständigenanhörung danach zum Ausdruck -, dass Abhörmaßnahmen in Privaträumen schon bisher immer nur als allerletztes Mittel eingesetzt wurden, um Ermittlungen zum Abschluss zu bringen oder anderweitig nicht zu erlangende Erkenntnisse zu erhalten. Dies geschieht stets - die Frau Ministerin hat es in ihrem heutigen Interview in der „taz“ ausgeführt - im Bewusstsein dessen, dass mit dem Abhören in Privaträumen natürlich auch immer in das Persönlichkeitsrecht eingegriffen wird und eine umso sensiblere Handhabung des Instruments notwendig ist. Wir alle wissen auch, dass genau daraus die seltene Anwendung in der Praxis resultiert. Das Horrorszenario, das damals bei der Einführung des so genannten großen Lauschangriffs an die Wand gemalt wurde, dass nun ständig irgendwelche privaten Räume von angeblich unbescholtenen Bürgern verwanzt würden, ({1}) ist ganz offensichtlich und Gott sei Dank nicht eingetreten; etwas anderes, Herr Ströbele, ist mir nicht bekannt. Vor diesem Hintergrund fällt es mir nach wie vor schwer - das muss man in diesem Rahmen auch sagen dürfen -, das Urteil des Verfassungsgerichts zu verstehen und umzusetzen. Es liegt aber nun in unserer Verantwortung als Gesetzgeber, das Beste aus diesen engen Voraussetzungen zu machen. Zunächst zu § 100 c Abs. 5 der Strafprozessordnung in der Fassung Ihres Gesetzentwurfs; darum geht es in unserem Änderungsantrag. Wir sind der Meinung, dass Sie insoweit nicht das Beste daraus machen. Hier gelangen wir, Frau Ministerin, leider zu unterschiedlichen Interpretationen des Verfassungsgerichtsurteils, obwohl wir uns in der Beurteilung der einzelnen Vorschriften sonst relativ nahe sind. Nach Ihrem Entwurf ist das Abhören und Aufzeichnen unverzüglich abzubrechen, soweit sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Äußerungen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Natürlich mag es Situationen geben, in denen der lauschende Beamte auf eine Verletzung dieses Kernbereichs schließen kann, so zum Beispiel, wenn der Verdächtige mit engen Vertrauten oder Familienangehörigen über eigene Erkrankungen, über seine Gesundheit oder gar über sein Liebesleben spricht. In diesen Fällen kann der Beamte natürlich sofort abschalten und muss es auch nach unserer Meinung tun. Was wäre aber, wenn der Verdächtige - das wurde uns in der Sachverständigenanhörung mehrfach vorgetragen - in Kenntnis der neuen Rechtslage unter Anwendung seiner sämtlichen kriminellen Energie jedes Gespräch zunächst mit einem privaten Inhalt beginnt, um das Abschalten sozusagen zu provozieren und um dann zum wirklich Wichtigen zu kommen, was die Polizei dann leider nicht mehr mithören kann? ({2}) Die Erfahrungen im Bereich der Telefonüberwachung haben gezeigt, dass Straftäter mit Überwachungsmaßnahmen rechnen und sich Gegenstrategien überlegen. Also ist das nicht von allzu weit hergeholt. Gerade Verdächtigen aus der organisierten Kriminalität sind die Ermittlungsmethoden und deren rechtliche Grenzen durchaus bekannt. Stellen Sie sich weiter bitte Folgendes vor: Häufig werden in einer Wohnung mehrere Räume überwacht. Natürlich werden dort mehrere Gespräche geführt; es sind auch mehrere Gesprächsteilnehmer anwesend. Die Tonqualität der Aufnahmen ist oftmals mäßig oder gar ganz schlecht. Dadurch ist es schwierig, die Gesprächsteilnehmer eindeutig zu identifizieren und die Redebeiträge überhaupt zuzuordnen. Gänzlich unpraktikabel wird es dann, wenn die abgehörte Unterhaltung in einer oder mehreren fremden Sprachen geführt wird. Es kann im Einzelfall dann nämlich sehr schwierig oder unmöglich sein, über Tage hinweg einen Dolmetscher an der Hand zu haben, der abgehörte Gespräche simultan übersetzt. ({3}) Die Wertung, ob der Kernbereich betroffen ist, würde dann entscheidend von der Qualität der Übersetzung abhängen. All das erschwert zusätzlich die Entscheidung der Beamten vor Ort, eine Aktion sofort abzubrechen oder vielleicht unter Kenntnis der schwierigen Rechtslage dennoch weiterzuführen, weil sie wissen, dass beweiserhebliches Material nach dem Abbruch verloren gehen kann. All das hat uns bewogen, unseren Änderungsantrag einzubringen. Wir sind der Meinung, dass er die verfassungsrechtlichen Grenzen noch nicht überschreitet und das Beste aus der Sache herausholt. Ich teile leider nicht, Frau Ministerin, Ihren Optimismus, dass es vielleicht trotzdem in der Praxis halbwegs vernünftig weitergehen würde, wenn wir Ihrem Entwurf folgten. Auch wir fordern natürlich, das Abhören unverzüglich zu unterbrechen, sobald Äußerungen aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich erfasst werden. Wir sagen jedoch, dass die Aufzeichnungsgeräte weiterlaufen dürfen und nur die Ermittlungsbeamten nicht mehr zuhören sollen. ({4}) Diese technische Aufzeichnung wird dann dem zuständigen Gericht vorgelegt, dieses prüft die Aufzeichnung auf ihre Zulässigkeit hin und entscheidet über den Fortgang der Überwachungsmaßnahme. So stellen wir uns das vor. Damit wird unserer Ansicht nach sichergestellt, dass der Schutz des Kernbereichs weiterhin erhalten bleibt. Sollte der Richter nämlich entscheiden, dass kernbereichsrelevante Äußerungen enthalten sind, sind diese unverzüglich zu löschen. ({5}) Wir nehmen so - das wissen wir aus der Sachverständigenanhörung - den Druck von den Ermittlungsbeamten vor Ort. Auch das ist für uns ein entscheidender Punkt. Ihr Entwurf, meine Damen und Herren, fordert diesen nämlich wirklich schier hellseherische Fähigkeiten bezüglich der Frage ab, wann die Fortsetzung der Überwachung wieder zulässig ist. Unsere Lösung steht auch nicht - das habe ich soeben schon gesagt - im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich ausdrücklich das Abhören des Gesprächs zum Zweck der Überprüfung zugelassen, ob eventuell eine Verletzung der Menschenwürde nach Art. 1 des Grundgesetzes zu befürchten ist. Das Gericht sagt zwar, bereits die Ermittlungspersonen vor Ort sollen diese hoch qualifizierte Entscheidung treffen, wir aber sagen, das ist nicht der einzig mögliche Weg, das könnte auch ein Richter tun. Ich denke, eine Entscheidung dieses Ausmaßes gehört nun einmal auch in richterliche Hände. ({6}) So ist zumindest sichergestellt, dass keine beweisrelevanten Daten verloren gehen. Uns als Unionsfraktion ist durchaus bewusst, dass den übrigen Fraktionen in diesem Hohen Haus das Verfassungsgerichtsurteil gerade recht kommt. ({7}) Die akustische Wohnraumüberwachung war noch nie die Sache von Rot-Grün. ({8}) Auch die FDP schleicht sich nun, flankiert von einem entsprechenden Parteitagsbeschluss, rückwärts wieder aus der Geschichte heraus. Die akustische Wohnraumüberwachung sollte nach ihrem Willen wieder komplett abgeschafft werden. Wohltuend hebt sich hier die Meinung der Frau Ministerin ab, die heute ausdrücklich in dem von mir schon zitierten Interview gesagt hat, dass sie die akustische Wohnraumüberwachung nicht abschaffen würde und sich auch dagegen wehrt, die Erfolge dieses Mittels kleinzureden. In diesem Punkt stehen wir voll auf ihrer Seite. ({9}) Wir sind der Meinung - die Statistiken, die die Frau Ministerin bereits angeführt hat, belegen das zuverlässig -, dass sich die akustische Wohnraumüberwachung bewährt hat, dass sie in den Fällen, in denen sie angewandt wurde, zu guten Erfolgen geführt hat und oftmals den entscheidenden Hinweis geben konnte und dass sie auch wirklich nur da eingesetzt wurde, wo es kein anderes Mittel gab. Im Sinne einer effizienten Verbrechensbekämpfung und Verbrechensvorbeugung wollen wir, im Gegensatz zu Ihnen, die akustische Wohnraumüberwachung praktikabel halten. Dem soll unser Änderungsantrag dienen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns hier erneut wie schon vor Jahren mit dem großen Lauschangriff und der akustischen Wohnraumüberwachung beschäftigen, verdanken wir unter anderem der Freien Demokratischen Partei. Sie hat nämlich seinerzeit dieses Gesetz in ihrer großen Mehrheit mit verabschiedet, auch unter Mitwirkung des Kollegen Funke. Das soll man nicht vergessen, wenn er sich gleich mannhaft dafür einsetzen wird - so vermute ich -, den Beschluss des Parteitages der FDP umzusetzen, der ja diesen großen Lauschangriff insgesamt ablehnt. ({0}) Ebenso verdanken wir aber - auch das wollen wir nicht vergessen; das meine ich durchaus lobend - einzelnen Abgeordneten der FDP, dass sie nach dem damals beschlossenen großen Lauschangriff vor das Bundesverfassungsgericht gezogen sind - da hatten Sie Recht, Frau Leutheusser-Schnarrenberger - und die Änderungen des Grundgesetzes und der Strafprozessordnung angegriffen haben. Das Bundesverfassungsgericht hat ihnen zu einem erheblichen Teil Recht gegeben. Jetzt können wir - das ist das Positive - aus diesem Gesetz, das damals verabschiedet und lange Jahre angewandt worden ist, ein verfassungskonformes Gesetz machen. Wir dürfen dabei natürlich nicht vergessen, dass schon all die Jahre abgehört worden ist und Wohnraumüberwachung stattgefunden hat und dass davon sehr viele - der ganz überwiegende Teil offensichtlich - betroffen waren, die nichts ausgefressen hatten. Es heißt ja immer, wer nichts gemacht habe, brauche das auch nicht zu fürchten. Es waren aber offenbar viele Menschen solchen Angriffen des Staates ausgesetzt, die entweder nie Beschuldigte oder Verdächtige waren - sie haben sich lediglich in einer solchen Wohnung aufgehalten oder die Wohnraumüberwachung wurde auch auf sie angewendet - oder bei denen sich später herausstellte, dass sie nicht die Täter waren und zu Unrecht verdächtigt worden sind. So etwas gibt es ja auch. ({1}) Das heißt, sehr viele waren betroffen, wahrscheinlich auch in der Form, Herr Gehb, dass sich eine normale Unterhaltung aus ihrem ganz persönlichen Kernbereich auf Tonbändern wiedergefunden hat. Wenn ich mir diese Eingriffe in den Intimbereich von sehr vielen Menschen über Jahre hinweg vor Augen führe, dann kann ich nur sagen: Das Gesetz, wie Sie es damals gemacht haben, war falsch. Die Grünen hatten damals, sowohl in ihrer Fraktion als auch in ihrer Partei, zu Recht gefordert, diesen großen Lauschangriff nicht ins Gesetz zu schreiben. Die Wohnung ist etwas Besonderes. In England sagt man: My home is my castle. Das soll zum Ausdruck bringen: Da hat kein anderer etwas zu suchen, da will ich ungestört sein. - Ich kann Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Als ich einmal, unmittelbar nachdem dort die Militärdiktatur zu Ende gegangen war, in Griechenland war, habe ich eine große Demonstration erlebt, bei der es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Anschließend hat die Polizei einige Demonstranten verfolgt, mehrere Straßen entlang, wie man sehen konnte, bis sie plötzlich vor einem Haus stand. Aber sie ging nicht durch die Tür. Ich habe mich gewundert und gedacht: Wenn die verdächtigt sind, strafbare Handlungen begangen zu haben, warum verfolgt die Polizei sie dann nicht weiter? Mir wurde gesagt: Wir haben gerade eine Diktatur überwunden und für uns ist die Wohnung ein heiliger Raum. Wenn die Polizei jetzt, nach den Erfahrungen, die wir mit der Verletzung des Rechts auf den Schutz der eigenen Wohnung gemacht haben, hier hineingehen würde, dann gäbe das einen Riesenskandal in der Gesellschaft und die Polizeibeamten, die das tun würden, würden entlassen. ({2}) Aus diesem Grunde steht in Art. 13 unseres Grundgesetzes der Schutz der Wohnung, übrigens auch ein besonderer Schutz vor Durchsuchungen und Eindringen staatlicher Gewalt. ({3}) Das ist der Hintergrund. Wissen Sie, Herr Kollege Gehb, ich habe hin und wieder, wenn ich mit Betroffenen zu der Behörde gegangen bin oder im Rahmen von Strafprozessen, die nicht immer angenehme Beschäftigung gehabt, alte Stasiakten zu lesen. Mit das Unangenehmste und Abscheulichste darunter waren Berichte und Protokolle über staatliche Eingriffe in den Kernbereich der Familien, des Privaten, sei es, dass das Berichte von Verwandten, Verlobten oder Ehepartnern waren, sei es, dass es Berichte über Eingriffe waren, die mit technischen Mitteln erfolgten. Weil das nicht sein darf und weil möglichst viele Menschen in Deutschland sicher sein sollen, dass sie sich in ihrer Wohnung ungestört über persönliche Probleme und über ihre intimsten Bereiche austauschen können, ist der Schutz der Wohnung so wichtig. Das Bundesverfassungsgericht hat ein neues Grundrecht hinzugefügt, indem es gesagt hat: Auch die Würde des Menschen ist zusätzlich erheblich beeinträchtigt, wenn der Staat in den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung eingreift. - Dies ist ein Fortschritt. Diesen wichtigen Satz sollten wir uns für andere Gesetzgebungsvorhaben merken. ({4}) Wir haben nach einigen Diskussionen ein Gesetz vorgelegt, das deutliche Einschränkungen des bisherigen großen Lauschangriffs darstellt. Viele beklagen - darunter auch die Union -, dass damit die Arbeit der Polizei in einzelnen Fällen schwieriger wird. Es wird eine ganze Reihe von Fällen geben, in denen ein Richter in der Vergangenheit eine Wohnraumüberwachung anordnen konnte, in denen das in Zukunft aber nicht der Fall sein wird. Der Richter darf in Zukunft eine Anordnung zur Wohnraumüberwachung nicht treffen, wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht betroffen ist. Es wird natürlich auch die Fälle geben, in denen der Richter eine Wohnraumüberwachung anordnet, weil er der irrigen Meinung ist, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass es sich nur um geschäftliche Gespräche oder möglicherweise um Gespräche, die kriminelle Handlungen betreffen, handelt. Die Gespräche werden dann aufgenommen; die Aufnahme muss anschließend aber vernichtet werden. Wir haben in diesem Gesetzentwurf - das finde ich richtig - über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, eine Festlegung getroffen - sie war auch in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes enthalten; wir haben sie sozusagen gerettet -, dass die Berufsgeheimnisträger, also die Rechtsanwälte, die Ärzte, die Geistlichen, aber auch die Journalisten, besonders geschützt werden und dass in ihren BerufsausübungsbeHans-Christian Ströbele reich der Staat nicht eingreifen darf, sodass sie ihren Beruf wirksam ausüben können. Wir haben eine weitere wichtige Marke, die das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, gerettet. Wir wollen nämlich auch nicht, dass die Strafzumessung erhöht wird, nur damit ein Straftatbestand weiterhin im Katalog dieses Gesetzes enthalten ist. Ich nenne beispielsweise § 129 Abs. 4 des Strafgesetzbuches. Man kann also eine Höchststrafe von fünf Jahren nicht auf zehn Jahre heraufsetzen, um Lauschangriffe anordnen zu können. Wir haben verhindert, dass es eine entsprechende Regelung gibt. Jetzt liegt ein Gesetz vor, das verfassungskonform und rechtlich in Ordnung ist. Dieses Gesetz garantiert weitgehend den Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Die Bereiche, in denen das Gesetz noch angewendet werden kann, sind einigermaßen vertretbar, auch wenn ich mich persönlich weiterhin dafür einsetzen werde - ich denke, diese Position ist bei den Grünen nach wie vor zu Hause -, ({5}) dass wir irgendwann aufgrund weiterer Fakten und Evaluierungen zu dem Ergebnis kommen, dass wir eine solche Strafvorschrift überhaupt nicht brauchen, und dass wir sie deshalb aus dem Gesetz und dem Grundgesetz streichen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dazu brauchen wir aber eine Zweidrittelmehrheit, die wir erst noch erkämpfen müssen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der 13. Legislaturperiode haben wir heftig um geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und anderer besonders schwerer Formen von Kriminalität gerungen. Mit großer Mehrheit hat der Deutsche Bundestag dabei die akustische Wohnraumüberwachung beschlossen und das Grundgesetz entsprechend geändert. Aufgrund der grundrechtssensiblen Auswirkungen dieser Maßnahmen hat sich keine Fraktion des Bundestages die Entscheidung leicht gemacht. Insbesondere meine Partei hat sich sehr intensiv mit den Argumenten, die für und gegen die Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung sprechen, auseinander gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen Jahr in einem Aufsehen erregenden Urteil die Änderungen des Grundgesetzes zur Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung für grundsätzlich verfassungsgemäß anerkannt. Eine andere Bewertung hat das Gericht bezüglich der Ausführungsbestimmungen in der Strafprozessordnung vorgenommen. Diese wurden vom Gericht überwiegend als verfassungswidrig angesehen. Das Gericht hat daraufhin dem Gesetzgeber aufgegeben, eine Novellierung der Ausführungsbestimmungen bis zum 30. Juni 2005 herzustellen. Frau Ministerin, es ist zunächst anzuerkennen, dass man sich grundsätzlich bemüht, die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts in die neue Gesetzesfassung aufzunehmen. ({0}) Aus Sicht der FDP gehen die Bemühungen der Bundesregierung jedoch nicht weit genug. ({1}) Wir haben uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr genau angesehen und den Gesetzentwurf anschließend daraufhin überprüft, ob die klaren und eindeutigen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Dabei sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass dies in zentralen Fragen nicht der Fall ist. ({2}) Eine ganz zentrale Forderung an den Gesetzgeber ist, dass die akustische Wohnraumüberwachung von vornherein dort unterbleiben muss, wo das Abhören des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit Wahrscheinlichkeit zur Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung führen wird. Dieses absolute Erhebungs- und Überwachungsverbot findet sich in dem Gesetzentwurf in dieser Klarheit leider nicht. ({3}) Nach dem Willen der Bundesregierung kann die Überwachungsmaßnahme grundsätzlich in jedem Fall angeordnet werden, soweit und solange sie vermutlich den Kernbereich privater Lebensführung nicht erfasst. Eindeutig ist dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch zu entnehmen, dass regelmäßig eine Vermutung dafür besteht, dass Gespräche in Privatwohnungen grundsätzlich dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind. Auch diese Aussage lässt der Gesetzentwurf offen. Des Weiteren benennt das Urteil konkret die Art der Verhältnisse der Personen, die eine kernbereichsrelevante Kommunikation indizieren können. Dazu führt das Urteil aus: Eine solche Wahrscheinlichkeit ist typischerweise beim Abhören von Gesprächen mit engsten Familienangehörigen, sonstigen engsten Vertrauten und einzelnen Berufsgeheimnisträgern gegeben. Diese ausdrückliche Vermutung einer Kernbereichsrelevanz bei Gesprächen unter Familienangehörigen kommt in dem Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck. ({4}) Besonders wichtig sind aus Sicht der FDP die Ausführungen des Gerichts zur Zuständigkeit der Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass es zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes einer Regelung bedarf, nach der eine Verwertung von Informationen, die durch eine akustische Wohnraumüberwachung erlangt worden sind, nur dann zulässig ist, wenn die Verwertbarkeit der Informationen zuvor von einem Gericht überprüft worden ist. Das Bundesverfassungsgericht verlangt damit die Überprüfung jeder Verwertung einer Aufnahme. ({5}) Diese Vorgabe wird in dem Gesetzentwurf schlicht übergangen. ({6}) Unsere Änderungsanträge haben wir den Berichterstattern bereits am 19. April zur Verfügung gestellt. Die aktuelle Beschlusslage des vergangenen FDP-Bundesparteitages, die angesprochen worden ist, hat nicht zu einer Umkehr unserer bisherigen Meinung geführt. Dies ist auch nicht notwendig. In den letzten Tagen ist von rot-grüner Seite Kritik an unseren Vorschlägen geübt worden: Einmal seien sie zu weitgehend; einmal seien sie zu restriktiv. ({7}) Um es klar zu sagen: Uns geht es bei diesen Änderungsanträgen einzig und allein darum, den Gesetzestext zu präzisieren und ihn so eng wie möglich an den Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts anzulehnen. ({8}) Mehr ist damit nicht gewollt - ich komme gleich dazu -, ({9}) aber auch nicht weniger. Wenn Sie das Urteil sorgfältig gelesen hätten, würde Ihre Kritik an unseren Vorschlägen schnell verstummen. Herr Kollege Ströbele, Sie haben zu Recht gesagt: Die Vorschläge der FDP gefallen mir sehr gut. Für die FDP darf es mit der heutigen Entscheidung des Bundestages keinen Schlussstrich unter die Debatte um die akustische Wohnraumüberwachung geben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Funke, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sofort. Zwei Sätze, bitte. - Wir werden rechtzeitig eine Evaluierung des Gesetzes verlangen, um feststellen zu können, ob und inwieweit die neuen Eingriffsbefugnisse sich in der Praxis bewährt haben. Die gesetzlichen Hürden für die Anordnung einer Überwachungsmaßnahme sind künftig sehr hoch. In der Vergangenheit ist mit der akustischen Wohnraumüberwachung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden, wie die geringe Zahl der Maßnahmen deutlich zeigt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Funke, es tut mir Leid. Sie müssen jetzt wirklich zum Ende kommen.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, komme ich auch. - Dennoch ist es rechtspolitisch berechtigt, die Frage nach der Zukunft der akustischen Wohnraumüberwachung zu stellen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Stünker, ich möchte doch nur etwas klarstellen. Ich habe nicht gesagt: Der Vorschlag der FDP ist der richtige. Vielmehr habe ich gesagt, das höre sich schlüssig an, nachdem Sie, Herr Kollege Funke, zu der Auffassung des Bundesjustizministeriums, die dahin ging, dass Ihr Vorschlag den großen Lauschangriff weiter öffne als der Regierungsentwurf, gesagt hatten, sie scheine Ihnen schlüssig zu sein. ({0}) Daraufhin habe ich gesagt, dass Ihr Vorschlag schlüssig gewesen ist. Sie müssen das vollständig berichten, damit ich hier nicht in ein falsches Licht komme. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Funke, Sie können antworten.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ströbele, Sie haben, glaube ich, doch etwas unvollständig berichtet. ({0}) Es kommt im Ergebnis auch nicht darauf an. Wir haben uns in der Tat die Auffassung des Bundesjustizministeriums angehört. Da habe ich gesagt, wir würden sie gerne schriftlich haben. Das haben wir bekommen. Dann haben wir festgestellt, dass dieser Vorschlag des Bundesjustizministeriums sich eben nicht an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiert und sich insbesondere nicht restriktiv an dem Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Dann sind wir auch bei unserer Meinung verblieben. Man muss bei diesen schwierigen Rechtsfragen die Möglichkeit haben, sich den Text anzusehen und dann seine Meinung zu bilden. Das haben wir getan. Wir arbeiten in dieser Fraktion eben so gründlich. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hermann Bachmaier, SPDFraktion. ({0})

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Funke, die Versuchung wäre groß, den Disput, den wir schon im Rechtsausschuss hatten, fortzusetzen. Ich dachte, Sie hätten einmal darüber nachgedacht, ob das alles seine Richtigkeit und auch seine juristische Stimmigkeit hat, was Sie uns da vorgelegt haben. Eines ist auf jeden Fall klar: Mit Ihrem jüngsten Parteitagsbeschluss hat das, was Sie uns im Rechtsausschuss vorgelegt haben, herzlich wenig zu tun. ({0}) Aber die Anträge waren ja auch schon vor dem Sonntag geschrieben. Sie wurden da halt überrascht. ({1}) Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde … gehört die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Mit diesem Leitsatz in seinem Urteil vom März vergangenen Jahres hat uns das Bundesverfassungsgericht einen Kerngedanken des Grundgesetzes wieder nachhaltig ins Gedächtnis gerufen. Die Entscheidung ist auch für uns eine deutliche Mahnung. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass wir uns immer wieder der Grenzen staatlicher Eingriffsmöglichkeiten vergewissern. ({2}) Wir sind auch in gefährlichen Situationen und bei der Bekämpfung schwerer und schwerster Kriminalität nicht frei in der Wahl unserer Mittel, sondern begrenzt durch unsere Verfassung und durch das unantastbare und unveräußerliche Gebot, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Wir alle brauchen Räume, in denen wir unbehelligt sind. Wir brauchen Orte, an denen wir unsere Ruhe haben können, jedenfalls unsere Ruhe vor dem Staat, und an denen unsere private Lebensgestaltung und unsere persönliche Entfaltung vom Staat unbedingt und uneingeschränkt beachtet werden. ({3}) Dazu hätte ich auch von der CDU/CSU gerne einen Satz gehört; aber dazu hört man von Ihnen gar nichts. ({4}) Viele von Ihnen wissen, dass ich nie ein Freund der akustischen Wohnraumüberwachung, also des so genannten großen Lauschangriffs, war. Als Bundestag und Bundesrat im Jahr 1998 nach langjährigen Auseinandersetzungen das Grundgesetz geändert haben, um die akustische Wohnraumüberwachung zur Verfolgung besonders schlimmer Straftaten und zur Abwehr besonders großer Gefahren zu ermöglichen, gehörte ich zu den Mitgliedern der SPD-Fraktion, die dieser Verfassungsänderung nicht zugestimmt haben. ({5}) Ich habe nicht daran geglaubt, dass wir dieses Instrumentarium zur effektiven Bekämpfung der organisierten Kriminalität wirklich benötigen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich daran nach wie vor meine Zweifel. Manfred Kanther, der 1998 Bundesminister des Innern war - man mag es heute fast nicht glauben -, hat seinerzeit wahre Schreckensszenarien vor uns ausgebreitet: Nur mithilfe des großen Lauschangriffs könne das organisierte Verbrechen wirksam bekämpft werden. Manfred Kanther glaubte offensichtlich zu wissen, wovon er sprach. Heute verstehen wir das. ({6}) - Herr Funke, ich verbitte mir, dass Sie unseren geschätzten Innenminister mit Herrn Kanther vergleichen. Das verbitte ich mir wirklich. - Aufgrund der mittlerweile vorliegenden Erfahrungen und der begrenzten Zahl der erfolgreichen Lauschangriffe wird dieses Ermittlungsinstrument inzwischen etwas nüchterner bewertet. Nun komme ich zu unserer heutigen Aufgabe. Die Verfassungsänderung vom März 1998 wurde im Mai 1998 durch die Strafprozessordnung umgesetzt. Dabei ging es vor allem um den damals neuen § 100 c der Strafprozessordnung. Die entsprechenden Regelungen wurden später mehrfach geändert. Heute haben wir ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr umzusetzen, das dankenswerterweise unter anderem von Frau Leutheusser-Schnarrenberger und unserem ehemaligen Kollegen Burkhard Hirsch als Einzelkämpfern erstritten worden ist. Dabei habe ich keine große Unterstützung durch die FDP-Fraktion festgestellt. Wir müssen die Regelungen der Strafprozessordnung diesem Urteil zufolge nachbessern und sie verfassungsfest machen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns hierzu folgende Vorgaben gemacht: Der große Lauschangriff ist nur dann verfassungsrechtlich möglich, wenn es um die Aufklärung besonders schwerer Straftaten geht, wobei sich die besondere Schwere aus dem angedrohten Strafmaß ergeben muss. Deshalb haben wir den Straftatenkatalog des § 100 c Abs. 2 der Strafprozessordnung überarbeitet. Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass diese Maßnahme nur dann angeordnet werden darf, wenn dadurch Äußerungen aus dem so genannten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht erfasst werden, wie es jetzt in § 100 c der Strafprozessordnung wörtlich heißt, einem Paragraphen, den Sie, Herr Funke, noch immer nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn sich während der Überwachung entsprechende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Äußerungen aus dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung erfasst werden, dann ist das Mithören und Aufzeichnen sofort zu unterbrechen. Wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine nicht abhörfähige Situation eintreten könnte, dann darf kein Mitschnitt des Gesprächs erfolgen. Dann muss live, in so genannter Echtzeit - erforderlichenfalls unter Herbeiziehung eines Dolmetschers -, mitgehört werden, damit die Aufzeichnung jederzeit abgebrochen werden kann. Frau Raab, das ist der Inhalt des Urteils, nicht aber das, was Sie versuchen, in Ihrem Interesse in das Urteil hineinzulesen. ({8}) Aufzeichnungen über solche Äußerungen, die dennoch erfolgen, müssen gelöscht werden; Erkenntnisse daraus dürfen nicht verwertet werden ({9}) ein sicherlich in der Praxis schwieriges Verfahren; das will ich nicht leugnen. Schließlich bewegen wir uns ja im sensiblen Grenzbereich des verfassungsrechtlichen Schutzes der Privatsphäre und der Bekämpfung schwerer Kriminalität, was zum Beispiel die Amerikaner in ihrer Regelung schon lange verstanden haben. Sie aber weigern sich hartnäckig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Sehr wichtig war uns, dass der Schutz der in § 53 Strafprozessordnung - die Frau Ministerin und Herr Ströbele haben es erwähnt - aufgezählten Berufsgeheimnisträger - also Ärzte, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Verteidiger, Journalistinnen und Journalisten, Geistliche - unangetastet bleibt. Darauf haben wir großen Wert gelegt; das war uns ein großes Anliegen. Deshalb ist mit § 100 c Abs. 6 Strafprozessordnung geregelt, dass in den Fällen des § 53 Strafprozessordnung das Abhören und Aufzeichnen von Gesprächen in Wohnungen grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn es um diese Berufsgeheimnisträgerinnen und Berufsgeheimnisträger geht, weil sie den absoluten Vertrauensschutz benötigen wie die Luft zum Atmen - sonst können sie diese Berufe nicht ausüben und ihren jeweiligen Gesprächspartnern nicht die Sicherheit gewähren, die notwendig ist. ({10}) Deshalb haben wir diese Regelung so getroffen. Auch wenn sich ein Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern in Bezug auf ein Gespräch erst während des Gesprächs ergibt, muss abgeschaltet werden. Schließlich ist mit § 100 d Abs. 4 Strafprozessordnung eine laufende Unterrichtung des anordnenden Gerichts über den Verlauf und die Ergebnisse der Wohnraumüberwachung vorgeschrieben, sodass ständig korrigierend eingegriffen werden kann. Zusammenfassend darf ich festhalten: Der Rechtszustand, den wir heute schaffen, ist eine eindeutige Verbesserung gegenüber der Rechtslage, die wir vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatten. ({11}) Dabei möchte ich es aber heute nicht belassen. Lassen Sie mich deshalb abschließend noch auf die in § 100 e Strafprozessordnung verankerten Berichtspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag eingehen. Alle Verfahren, in denen es zu einer akustischen Wohnraumüberwachung gekommen ist, sind nach dieser neuen Regelung detailliert auszuwerten. Anzugeben ist zum Beispiel jeweils, ob ein Bezug zur organisierten Kriminalität besteht, anzugeben sind die Anzahl der überwachten Personen und die Anzahl von betroffenen nicht beschuldigten Personen, angegeben werden muss, wie häufig eine Maßnahme unterbrochen werden musste, weil der Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt wurde usw. Es ist eine Fülle von Daten auszuwerten, denen wir uns danach zu widmen haben, um dann zu evaluieren, welche Abhilfemaßnahmen getroffen werden müssen. Ich meine, wir können uns von diesen Kriterien aussagefähige Berichte erhoffen, mit denen wir uns auseinander zu setzen haben. Akustische Wohnraumüberwachung, das klingt relativ abstrakt und technisch. Wenn man aber näher hinschaut, muss man feststellen, dass sich hinter diesem Begriff ein Staat verbirgt, der sich - bisweilen fast wie ein Einbrecher - heimlich Zutritt zu fremden Wohnungen verschafft und dort Wanzen installiert, um abzuhören - Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss -, ein nicht gerade schöner Vorgang, auf den wir uns nur in äußerster Not einlassen sollten. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass die Erkenntnisse, die wir in Zukunft gewinnen, uns auch irgendwann einmal die Kraft geben - wenn die Verhältnisse so sind -, dass wir auf dieses schwierige InstruHermann Bachmaier ment, das wir unseren Bürgerinnen und Bürgern und auch vielen Unbeteiligten zumuten, auch wieder verzichten können. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir debattieren heute in der Tat über ein verfassungsrechtlich hoch brisantes Thema. Wir befinden uns mitten in einer Verfassungskontroverse zwischen dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht. Aber als gewählte Volksvertreter müssen wir zu allererst bei einer solchen Diskussion auch einmal festhalten, worum es dem Bundestag 1998 gegangen ist und worum es hoffentlich auch heute der Mehrheit dieses Hauses noch geht: nämlich um eine effektive Bekämpfung schwerster Kriminalität. Die wirklich überschaubare Zahl der Fälle, in denen die Wohnraumüberwachung stattgefunden hat, belegt ja auch: Es waren Fälle schwerer organisierter Kriminalität, Mord, Totschlag und Völkermorddelikte, Taten, die in ganz besonderem Maße den Rechtstaat und seine Strafverfolgungsbehörden auf den Plan rufen müssen. Wenn wir das effektiv tun wollen, haben wir zur Kenntnis zu nehmen, dass organisierte Gewaltkriminalität und terroristische Verbrechen eben nicht nur in Büroräumen, sondern auch schon mal im Wohnzimmer verabredet werden. Wer die Opfer solcher Verbrechen nicht nur beklagen will, sondern diese Verbrechen möglichst verhindern und die Täter ausfindig machen will, der muss auch bereit sein, im mutmaßlich privaten Bereich abzuhören. ({0}) Schauen wir uns den Gesetzentwurf der Koalition an, so müssen wir leider feststellen, dass dieser Gesetzentwurf den Strafverfolgungsbehörden, den Staatsanwälten, den Polizisten, Steine statt Brot gibt. ({1}) Nach der vorgeschlagenen Regelung des § 100 c Abs. 5 Strafprozessordnung muss das Tonband praktisch schon beim ersten intimen Wort während einer Unterhaltung abgeschaltet werden. Mit dieser Vorschrift ist die akustische Wohnraumüberwachung faktisch erledigt und tot. ({2}) - Zum Urteil komme ich gleich noch. Rot-Grün liest das Urteil offenbar so, dass schon das bloße Laufenlassen eines Tonbandes - das ist ja wohl Ihre Aussage - eine Verletzung der Menschenwürde darstellen kann. Meines Erachtens muss man das keineswegs so lesen. Ich finde, das ist eine viel zu weitgehende Interpretation dieses Urteils. ({3}) Wenn Sie diesen Ansatz konsequent zu Ende denken, dann erkennen Sie, dass deutsche Behörden zumindest im Bereich der Überwachung ausländischer Straftäter überhaupt nicht mehr tätig werden können. Der Dolmetscher muss ständig mit in der Abhörkabine sitzen. Fehlt er oder wird auf einmal eine Sprache gesprochen, für die er nicht ausgebildet worden ist, muss schon vorsorglich abgeschaltet werden, weil ja irgendetwas Privates in einer fremden Sprache gesprochen werden könnte. ({4}) Man kann das keinesfalls nachvollziehen. Nur weil etwas Privates gesprochen werden könnte, ohne dass man Anhaltspunkte dafür hat, muss nach Ihrer Lösung abgeschaltet werden. ({5}) Das ist, wenn man so will, eine Fremdsprachenprivilegierung. Ich finde, das ist ein fatales Signal bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität. ({6}) Der linken Seite dieses Hauses kann ich die mitunter herauskommenden Krokodilstränen für diese angeblich unumgängliche Gängelung der Strafverfolger nicht so ganz abnehmen. Das wurde auch in den Debattenbeiträgen gerade deutlich. Die Wahrheit ist eben, dass die Grünen 1998 gegen die Wohnraumüberwachung waren, ({7}) dass weite Teile der SPD dagegen waren und dass der Rest der SPD zähneknirschend zugestimmt hat, weil der Druck durch die Bevölkerung gewachsen war. Die Menschen in diesem Land wünschen und wollen eben eine effektive und wirksame Bekämpfung von Straftaten. Die Menschen in diesem Lande haben es eben nicht verstanden, dass die Verabredung zu schwersten Verbrechen im Ergebnis durch ein Grundrecht geschützt werden soll. Nachdem man vor sieben Jahren unter diesem Druck eingebrochen ist - im positiven Sinn; das befürworte ich im Nachhinein natürlich sehr -, versuchen Sie jetzt, die Wohnraumüberwachung auf kaltem Wege wieder auszuhebeln. ({8}) Sie wollen das wieder rückgängig machen, wozu Sie sich damals unter dem öffentlichen Druck bereit erklärt haben. Herr Bachmaier, es gab gestern noch ganz erfreulich offene Worte von Ihnen. Sie haben gesagt, Sie seien nicht enttäuscht über das Urteil. ({9}) Herr Stünker hat gesagt, man hätte das Urteil besonders eng - wörtlich haben Sie „sehr eng“ gesagt - umgesetzt. Wenn das so ist, dann muss man sich die Frage stellen, ob es nicht auch eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Wenn man es sehr eng umgesetzt hat - so haben Sie es gestern gesagt -, dann frage ich mich, warum man es denn so eng umsetzen muss. Das sind in der Tat keine beruhigenden Töne für die Menschen, die zu Recht Sorge haben, dass die Kriminalität in dieser Form in Deutschland weiter um sich greift. Das genau ist der Punkt, an dem sich die CDU/CSUBundestagsfraktion bei der akustischen Wohnraumüberwachung von den übrigen Fraktionen dieses Hauses unterscheidet. Wir sind enttäuscht über das Karlsruher Urteil, ({10}) wir halten es in seiner Tendenz für höchst problematisch und wir wollen seine Vorgaben eben nicht eng umsetzen, ({11}) sondern im Interesse der Sicherheit aller Bürger wollen wir alle Handlungsspielräume, die hier verbleiben - ich gebe gern zu, dass das nicht viele sind -, konsequent und intensiv ausnutzen, um möglichst im Zweifelsfalle für die Sicherheit einzustehen und den Handlungsspielraum für die Sicherheit im Interesse der Menschen in diesem Lande auszunutzen. ({12}) Ich glaube, dass es sich alle übrigen Fraktionen dieses Hauses zu leicht machen, wenn sie sich diesen Handlungsspielraum als Gesetzgeber selbst absprechen. Bundestag und Bundesrat haben 1998 den Art. 13 unseres Grundgesetzes um den Abs. 3, über den wir hier sprechen, ergänzt, durch den die akustische Wohnraumüberwachung dezidiert zugelassen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil selbst klargestellt, dass dieser Art. 18 Abs. 3 Grundgesetz nicht der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes widerspricht bzw. zuwiderläuft. ({13}) - Genau, Art. 13 Abs. 3 Grundgesetz. Danke schön für diesen Hinweis! - Er widerspricht eben nicht der Ewigkeitsgarantie von Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz. Es wäre geradezu grotesk, anzunehmen, dass das Verfassungsgericht nur eine leere Hülle übrig lassen, also ein Instrument im Grundgesetz belassen wollte, das gar nicht mehr handhabbar ist. Die Entscheidung des Verfassungsgebers und ihre prinzipielle Bestätigung durch das Verfassungsgericht sollten wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages selbst ernst nehmen. Auch die Strafprozessordnungsregelungen, die aufgrund des Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes -

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stünker?

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Krings, vor drei, vier Wochen bin ich in Washington gewesen und habe einem amerikanischen Obersten Richter, der sich täglich mit diesen Problemen beschäftigt, die Frage gestellt, ob es nach der amerikanischen Verfassung erlaubt wäre, ein Band mitlaufen zu lassen, damit hinterher ein Richter die Aufzeichnung abhören könnte. Diese Lösung wollen Sie hier ja ins Gesetz hineinschreiben. Er hat kurz nachgedacht und gesagt, er hielte dies nach der amerikanischen Verfassung für undenkbar. Wie beurteilen Sie dies? ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Stünker, ich empfinde es immer als sehr erfrischend, wenn sich auch die SPD-Fraktion gelegentlich einmal auf amerikanisches Recht und im weitesten Sinne auch auf amerikanische Politik beruft. Das ist ein guter Beitrag. ({0}) - Dann lassen Sie mich jetzt in der Sache antworten. Wir haben ein Gesetz im Lichte unseres Grundgesetzes zu beschließen. Die amerikanische Verfassung ist hier nicht maßgeblich. In unserem Land hat der Verfassungsgeber die akustische Wohnraumüberwachung ausdrücklich in Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes hineingeschrieben. ({1}) In der letzten Entscheidung des Verfassungsgerichts finden Sie keine Aussage, dass Art. 13 Abs. 3 GG gegen Art. 1 oder Art. 79 GG verstieße. Das Gegenteil ist der Fall; es wurde in diesem Urteil ausdrücklich festgehalten, dass Art. 79 GG nicht betroffen sei. Dies sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen, anstatt hier nur amerikanisches Verfassungsrecht heranzuziehen. ({2}) Ich komme zu einem letzten Aspekt. Auch die Strafprozessregelungen, die aufgrund des Art. 13 Abs. 3 GG ergehen konnten und die wir heute diskutieren, sind nicht aus einer politischen Laune heraus entstanden. Sie sind Ausfluss und Ausfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht unseres Parlaments, des Gesetzgebers. Wir haben auch gegenüber den Opfern eine Schutzpflicht. In der Debatte wird oft vergessen, dass Grundrechte nicht nur Täter, sondern auch Opfer schützen sollen. Auch dies sollten wir beachten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dies war bereits mein Schlusssatz. Ich muss zum Ende kommen, aber leider ist nach dem heutigen Tag auch die akustische Wohnraumüberwachung am Ende. Danke. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgerrechtsorganisationen, Rechtsanwälte und Initiativen registrieren seit langem, dass die Überwachungspraxis in Deutschland rasant zunimmt. Dies ist kein Zufall, es war gewollt: von der CDU/CSU ohnehin, aber auch von SPD und Grünen. Die PDS hat vor einer solchen Entwicklung gewarnt und sie abgelehnt. ({0}) Inzwischen hat sogar das Bundesverfassungsgericht die Überwachungspraxis gerügt und rechtliche Änderungen angemahnt. Es hat unmissverständlich klargestellt, dass es einen Kernbereich privater Lebensführung gibt, in dem weder der Staat noch seine Dienste etwas zu suchen haben: die Wohnung. Ausnahmen müssen wohl begründet und genehmigt sein. Darum geht es in der laufenden Debatte. Nun hat Rot-Grün ein geändertes Gesetz vorgelegt. Heute stellt sich daher die Frage, ob es den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Für die PDS muss ich diese Frage leider mit Nein beantworten. ({1}) Rot-Grün versucht, sich am Urteil des Gerichts vorbeizumogeln. Aus dem Bayerischen Wald hallt sogar der Ruf nach noch mehr Überwachung. Genau dies wollen wir aber nicht. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass die Antiterrorgesetze aus dem Jahre 2001, die so genannten Otto-Pakete, nach zwei, spätestens drei Jahren überprüft werden sollten. Darauf warten wir im Bundestag und die interessierte Öffentlichkeit noch immer. ({2}) Stattdessen durften wir gestern hören, dass Bundesinnenminister Schily ihre Entfristung, also unbefristete Gültigkeit, anstrebt. Bündnis 90/Die Grünen signalisierten schon einmal Kompromissbereitschaft. Auch dafür hat die PDS im Bundestag kein Verständnis. ({3}) Nun hat die FDP-Fraktion einige Änderungen beantragt. Sie zielen darauf, mit dem Gesetz zur Wohnraumüberwachung wenigstens den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu genügen. Das ist uns als PDS zu wenig; denn wir sind weder für den großen noch für den kleinen Lauschangriff. ({4}) Nun noch eine Schlussbemerkung. Die FDP hat auf ihrem jüngsten Parteitag einen Beschluss zu Bürgerrechten gefasst. Die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, hat danach gefrotzelt, die FDP wolle sich plötzlich ein bürgerrechtliches Image zulegen. Sie wissen: Ich bin in vielen Fragen mit der FDP über Kreuz. Aber eine Erfahrung habe ich in den letzten zweieinhalb Jahren sammeln müssen: Immer wenn es hier um den Schutz der Bürgerrechte und auch die Abwehr in ihre Eingriffe ging, standen FDP und PDS allein gegen eine Allianz von CDU/CSU bis hin zu den Grünen. ({5}) Das ist nicht gut für die Bürgerinnen und Bürger, nicht gut für die Demokratie und, wie ich finde, auch nicht gut für die Zukunft Deutschlands. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Fraktion.

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Krings hat mich durch seinen Beitrag daran erinnert, wie das 1997/98 war. Auch damals gab es Leute, die eine Situation aufgezeigt haben, um dann zu sagen: Wir brauchen zum Schutze der Bevölkerung und zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität unbedingt den großen Lauschangriff. Ich bin dankbar, dass wir heute in einer anderen Situation sind. Diese Bundesregierung und die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben als verantwortliche Politiker auf einer sachlichen Grundlage und in einer sachlichen Atmosphäre das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt. Ich glaube, wir haben eine gute Grundlage für eine sachgerechte Beurteilung. Diese war 1997/98, als Sie Verantwortung trugen, nicht gegeben. ({0}) Man fragt sich wirklich, wie Herr Krings damit umgeht. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass es einen Bereich der privaten Intimsphäre gibt, der sich jedem staatlichen Eingriff entzieht. Er aber stellt sich hier hin und erklärt: Eigentlich gilt für mich diese Entscheidung nicht, ich würde sie völlig anders umsetzen. ({1}) Ich erinnere an den Beitrag von Herrn Norbert Geis im Ausschuss. Dazu kann ich nur sagen: Norbert Geis ist im Vergleich zu dem, was Sie gesagt haben, eine „lame duck“. ({2}) Der Änderungsantrag der CDU/CSU nimmt aus meiner Sicht wesentliche Teile des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht zur Kenntnis. Ihr Änderungsantrag ist verfassungsrechtlich mehr als bedenklich. Ihm kann man sicherlich nicht zustimmen. Ich muss Sie fragen: Wollen Sie, dass der Gesetzgeber ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet? Haben Sie aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nichts gelernt? ({3}) Die FDP hingegen verfällt in das genau andere Extrem. Ihr geht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht weit genug. Herr Funke, ich möchte Sie bitten: Schauen Sie sich § 100 c Abs. 4 StPO an. Dort wird nicht der Begriff „Privatwohnung“ verwendet. Ich halte diesen Begriff auch für falsch. Wie soll im Einzelfall beurteilt werden, was eine Privatwohnung ist? Wird ein Arbeitszimmer in einer Privatwohnung auch zur Privatwohnung? ({4}) - Das habe ich gelesen. - Oder wie sieht es mit der LKW-Kabine aus, die teilweise zum Privatraum werden kann? Ihr Änderungsantrag ist zwar plakativ, aber nicht handhabbar. ({5}) Er ist auch nicht notwendig. Gerade unter sicherheitspolitischen Aspekten darf der Gesetzgeber aus meiner Sicht dieses Feld nicht völlig räumen. Mit dem Antrag der Regierungskoalition erfüllen wir die Ansprüche, die die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts für notwendig erachtet. Die akustische Wohnraumüberwachung ist im Einzelfall weiterhin möglich. Sie ist aus meiner Sicht auch notwendig und sie ist praktikabel. ({6}) Trotz hoher Anforderungen wird sie in den wirklich herausragenden Fällen erfolgreich eingesetzt werden können. Die Exekutive hat die akustische Wohnraumüberwachung angewandt und muss jetzt vom Bundesverfassungsgericht hören, dass es so nicht weitergeht. Dass dann Kritik aus der Exekutive kommt, ist etwas völlig Normales. Ich hätte mich gewundert, wenn keine Kritik gekommen wäre. Nur, wir sollten uns vielleicht auch einmal vergegenwärtigen, dass wir seit 1998 die Instrumente für die Strafverfolgung erweitert und modernisiert haben. Es gibt ein Arsenal, gerade zur Bekämpfung der Schwerstkriminalität, das wir seit 1998 neu geschaffen haben. Dieses Arsenal wird von der Polizei verantwortungsvoll, nicht ausufernd, sondern zurückhaltend und effizient eingesetzt. In der Gesamtschau der rechtsstaatlichen Möglichkeiten hat sich die Situation der Strafverfolgungsorgane verbessert und sie wird sich weiter verbessern, wie diese Koalition mit dem Gesetzentwurf zum vereinfachten DNA-Test unter Beweis stellen wird. ({7}) Wenn ich mir vorstelle, dass nach Ihrer Aussage auf dem FDP-Parteitag, Herr Funke, eine gemeinsame Koalition mit der CDU/CSU gebildet werden soll, dann kann ich nur sagen: Für den Bereich der Innen- und Rechtspolitik wird das niemals zu schaffen sein. ({8}) Oder Sie müssen im Prinzip alles über den Haufen werfen. ({9}) Ich sage Ihnen: Dieser Gesetzentwurf ist in einer guten und sachlichen Atmosphäre entwickelt worden. Er vermeidet die Extrempositionen der CDU/CSU und der Frank Hofmann ({10}) FDP. Er ist gut für die Bürgerrechte und gut für die Sicherheit. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Norbert Geis, CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Arbeitsgruppe, die den Gesetzentwurf 1998 vorbereitet hat, gehörten der damalige und der heutige Innenminister an, der damalige Justizminister und seine Nachfolgerin. Es gehörten ihr auch Herr Körper, ich und einige andere an. Es war damals eine gemeinschaftliche Anstrengung und diese gemeinschaftliche Anstrengung ist von der ganz großen Mehrheit dieses Hauses getragen worden. Davon wollen wir nicht abgehen; das wollen wir heute einmal festhalten. ({0}) Zweite Vorbemerkung: Ich wende mich gegen den Begriff „Lauschangriff“. Der Verbrecher greift an und der, der versucht, die Tat zu ermitteln und den Verbrecher bloßzustellen, der verteidigt die Rechtsordnung. ({1}) Deshalb ist „Lauschangriff“ ein falscher Begriff und wir sollten ihn nicht verwenden. ({2}) Die Unverletzlichkeit der Wohnung hat in unserer Kultur eine lange Tradition. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Gestaltung der privaten Lebenssphäre und der Wahrung der menschlichen Würde. Darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen hingewiesen. Es hat dies in seiner Entscheidung vom 3. März 2004 noch einmal klargestellt und gesagt, dass die Wohnung als Kernbereich der privaten Lebensgestaltung den absoluten Schutz genießt. Aber wie jedes Grundrecht wird auch das Grundrecht des Art. 13 des Grundgesetzes nicht schrankenlos gewährt. Die Wohnung ist kein exterritorialer Raum. Die Hausdurchsuchung ist möglich, wenn der Richter sie anordnet und wenn sie auf gesetzlicher Grundlage geschieht. Sie trifft sehr oft den engsten, den intimsten Bereich des jeweils Betroffenen, des Wohnungsinhabers. Wenn es darum geht, Gefahren für das Leben abzuwenden, haben wir überhaupt keine Hemmung und dürfen auch gar keine Hemmung haben, den privatesten Bereich mit technischen Mitteln zu überwachen und dazu akustische und sogar visuelle Mittel einzusetzen. Da gibt es keine Schranken. Insofern ist dieses Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung sehr aufgedröselt, wenn man das von dieser Seite sieht. Das gibt es heute schon und das Verfassungsgericht hat mitnichten daran gerüttelt. Es wäre auch schlimm, denn es geht darum, durch akustische oder visuelle Wohnraumüberwachung rechtzeitig eingreifen zu können und einen Verbrecher zum Beispiel davon abzuhalten, ein entführtes Kind zu Tode zu bringen. Auch im Rahmen der Strafverfolgung besteht die Möglichkeit, jetzt auch vom Verfassungsgericht bestätigt, akustische Mittel zur Überwachung des Wohnraumes einzusetzen. Das bestreitet niemand. Das Verfassungsgericht hat Art. 13 Abs. 3 noch einmal ausdrücklich als verfassungskonform gekennzeichnet. ({3}) Als wir 1998 darangegangen sind, die Wohnraumüberwachung im Falle der Strafverfolgung durch eine Verfassungsänderung zu ermöglichen, ging es uns darum, in den innersten Bereich der organisierten Kriminalität vorzudringen. Wir wollten endlich die Drahtzieher, wir wollten die Finanziers, wir wollten an die Verbrecher im feinen Anzug und im teuren Auto herankommen, die sich selber die Hände nicht schmutzig machen, aber andere beauftragen, zu morden und zu töten. Das war unser Anliegen. ({4}) Natürlich wollten wir den Wohnraum selbst nicht verletzten. ({5}) - Das war nicht unsere Absicht. - Uns ging es damals nicht um reine Strafverfolgung, uns ging es nicht um die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches, sondern uns ging es darum, durch eine konsequente Strafverfolgung künftig Verbrechen zu vermeiden. Der Verbrecher richtet sich nicht nach dem geschriebenen Gesetz; er kümmert sich nicht um das, was im Strafgesetzbuch steht. ({6}) Für ihn ist allein die Frage entscheidend: Wird meine Tat entdeckt oder nicht? Deswegen haben wir versucht, auch mithilfe der Wohnraumüberwachung eine bessere Aufklärung von Schwerstverbrechen zu ermöglichen. Das gilt für alle Länder um uns herum - für Frankreich, für England - und das gilt auch für die USA. ({7}) Es war richtig, dass wir damals die Wohnraumüberwachung eingeführt haben. ({8}) Weil meines Erachtens Strafverfolgung und Gefahrenabwehr nicht scharf voneinander zu trennen sind, sondern in engem Zusammenhang stehen, halte ich die scharfe Unterscheidung des Verfassungsgerichts, welches bei der Abwehr von Strafen alles ermöglicht, aber die Strafverfolgung eng begrenzt, für sehr bedenklich. Das muss hier einmal in Ruhe gesagt werden dürfen, denn hier ist nichts sakrosankt. Wir dürfen auch dem Verfassungsgericht sagen, dass wir bestimmte Entscheidungen nicht voll akzeptieren. ({9}) Ich akzeptiere diese Entscheidung insoweit nicht. Obwohl das Verfassungsgericht in seinem Urteil deutlich sagt, die Wohnraumüberwachung solle auch im Bereich der Strafverfolgung möglich sein, schafft es gleichzeitig Begrenzungen, die der Bundesregierung praktikable und handhabbare gesetzliche Regelungen dieses Instruments schier unmöglich machen. Dennoch meine ich, Frau Ministerin, dass eine Regelung in unserem Sinne möglich gewesen wäre. Vielleicht hätten Sie die Vorschläge, die aus dem Bundesrat gekommen sind, mehr beachten sollen, vielleicht hätten Sie auch die Vorschläge der Sachverständigen in der Anhörung des Bundestages aufnehmen sollen, zum Beispiel den Vorschlag, in den Katalog der Anlasstaten die schwere Form der kriminellen Vereinigung nach § 129 Abs. 4 mit aufzunehmen. Man hätte den Strafrahmen für diese schwere Form auf zehn Jahre erhöhen können, wie es ein Sachverständiger ausdrücklich vorgeschlagen hat. Es wäre möglich gewesen, diese klassische OK-Tat mit in den Katalog der Anlasstaten aufzunehmen. Auch die schweren Bestechungsdelikte hätte man mit aufnehmen müssen, ({10}) denn alle Praktiker sagen uns: Gerade in Fällen von Bestechung ist die akustische Wohnraumüberwachung ein wichtiges Mittel, weil die Täter sich so abschotten, dass eine Aufklärung anders nicht möglich ist. Ich bedaure sehr, dass diese schweren Bestechungsdelikte nicht darin enthalten sind. ({11}) - Nein, sie sind nicht darin enthalten. Der Sachverständige schlägt das ja ausdrücklich vor. Lassen Sie mich abschließend etwas zu der im Gesetzentwurf vorgesehenen Unterbrechung der Abhörmaßnahmen anmerken. Es ist richtig, was Herr Krings und Frau Raab ausgeführt haben: Die Unterbrechung ist jetzt in einer Weise geregelt, dass die akustische Wohnraumüberwachung praktisch ad nullum geführt wird. Sie wird nicht mehr möglich sein. Denn wie soll der abhörende Beamte, wenn die Überwachung abgestellt worden ist, wissen, wann die private Unterhaltung wieder beendet ist und wann unter Umständen die Chance besteht, dass die Abzuhörenden über ein Verbrechen reden? Das ist nicht vorstellbar. Er müsste schon hellseherische Fähigkeiten haben. Deswegen meine ich, dass der Vorschlag der CDU/ CSU-Fraktion, zwei Bänder zu ermöglichen - nämlich ein Richterband und eines, das der ermittelnde Beamte abhört -, durchaus einer genauen Prüfung wert wäre. ({12}) Der Beamte schaltet aus, sobald ein Gespräch den privatesten Kernbereich berührt. Das Richterband wird dem Richter vorgelegt und ein unabhängiger Richter entscheidet darüber, ob der Inhalt verbrecherischen Gehalt hat und in die Ermittlungen einbezogen wird oder ob das abgehörte Band vernichtet werden muss. Ich bin der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf ein Vermittlungsverfahren durchlaufen muss. Ich hoffe sehr, dass wir im Vermittlungsausschuss eine vernünftige Lösung finden. Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen sind nicht praktikabel. Dann können wir das Vorhaben auch gleich lassen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/4533 zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zur akustischen Wohnraumüberwachung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5486, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5489? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ CSU-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Kollegin Pau angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({0}), Bernhard Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Kaster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in Deutschland sichern - Drucksache 15/5332 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute existieren weltweit 40 so genannte Megastädte. Dabei handelt es sich um Städte mit jeweils über 10 Millionen Einwohnern. In den nächsten zehn Jahren wird erwartet, dass die Zahl dieser Städte auf insgesamt 60 steigen wird. In Deutschland haben wir - das ist historisch und strukturell begründet - keine Megacitys und wir werden sie auch nicht bekommen. Das bedeutet: Wir haben zwar nicht die riesigen Probleme der Megastädte, wir haben allerdings auch nicht die sich aus diesen Metropolen ergebenden Chancen. Gleichwohl muss sich der Standort Deutschland in einer globalisierten Welt mit seinen Bedingungen in den großen Städten dem harten Wettbewerb mit den Weltmetropolen stellen. Aktuell findet in Berlin eine Tagung des Städtenetzwerkes „Metropolis“ mit 500 Teilnehmern aus aller Welt statt. Hier geht es genau um die angesprochenen Fragen. Dies ist ein Wettbewerb um Wirtschaftsinvestitionen, Konzernzentralen und damit auch um Arbeitsplätze und attraktive Lebensbedingungen. Wir konkurrieren mit europäischen und weltweiten Metropolen und Metropolregionen. Kern der heutigen Krise unserer Großstädte ist das im europäischen wie im weltweiten Vergleich viel zu niedrige Wirtschaftswachstum. ({0}) Was für die Volkswirtschaft insgesamt gilt, trifft erst recht auf die Großstädte zu: Geht es ihnen schlecht, leidet das ganze Land. Und umgekehrt: Was unseren Großstädten gut tut, das hilft auch unserem Land. Fehlentwicklungen, Fehlentscheidungen und Fehlsteuerungen rot-grüner Bundespolitik haben dazu geführt, dass sich gerade in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in Deutschland zunehmend verschlechtert haben. ({1}) Augenblicklich kumuliert sich in unseren Städten eine Vielzahl unserer wirtschaftspolitischen, haushaltspolitischen und gesellschaftspolitischen Probleme. Die kommunalfeindliche Politik der letzten Jahre hat viele Städte an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Dringend notwendige, das Stadtbild prägende und infrastrukturelle Investitionen bleiben auf der Strecke. Landauf, landab entsteht ein Investitionsstau ohnegleichen. In ganz Nordrhein-Westfalen etwa kommen in diesem Jahr von 23 Großstädten ganze drei ohne ein Haushaltssicherungskonzept aus. ({2}) Von den übrigen 20 müssen mindestens 14 sogar mit einer vorläufigen Haushaltsführung vorlieb nehmen, weil ihr Sicherungskonzept erst gar nicht genehmigt wurde. Hier bleiben nicht nur Investitionen auf der Strecke. Nein, hier steht viel mehr auf der Kippe, und zwar auch das, was großstädtische Lebensattraktivität erst ausmacht, wie Bibliotheken, Theater oder Kulturzentren, also das, was für die Menschen vor Ort wichtig ist. Soziale Brennpunkte hat es schon immer in unseren Städten gegeben. Heute sprechen wir aber nicht nur von sozialen Brennpunkten. Nein, wir müssen vielmehr vom „Kippen“ ganzer Stadtteile sprechen. Wir erleben regelrechte Wanderungsbewegungen, beispielsweise in Berlin oder in Köln - viele Städte wären hier zu nennen -, von einem zum anderen Stadtviertel: Flucht vor drastisch sinkenden Eigentumswerten, Flucht vor Kriminalität, Flucht auch vor den Folgen einer fehlgeschlagenen Integrationspolitik und mangelnder Integrationsbereitschaft. Das muss als Wahrheit ausgesprochen werden. Jeder spricht gerne von Entbürokratisierung. Aber gleichzeitig beraten wir über ein Antidiskriminierungsgesetz oder wir reagieren auf die Feinstaubdebatte mit Vorschlägen wie der Citymaut. Politisches Handeln ist vielmehr dort angesagt, wo die Städte keine oder nur geringe Handlungsmöglichkeiten haben, etwa bei der Bekämpfung des Graffitiunwesens - was tut man sich hier schwer! - oder in einer die Integration und die Integrationsbereitschaft fördernden Ausländerpolitik. Unsere Großstädte stellen sich dennoch kreativ und dynamisch der Situation, um Impulsgeber von Wirtschaft und Gesellschaft zu bleiben, seien es die alternativen Finanzierungswege für Großprojekte wie den Jungfernstieg in Hamburg, sei es eine vorbildliche Finanzpolitik wie in Düsseldorf, sei es die beispielgebende Kooperation einer Großstadtregion wie der Region Stuttgart oder sei es die Vorreiterrolle vieler Städte im Hinblick auf E-Government, betriebswirtschaftliche Haushaltsführung oder innovative Kooperationsmodelle. Unsere großen Städte versuchen trotz großer Probleme, aus eigener Initiative und Kraftanstrengung noch vieles zu realisieren. Hier gilt: Not macht eben erfinderisch. Im Mittelalter hieß es „Stadtluft macht frei“. Jeder kennt diesen Ausspruch. Seit 1998 müssen wir ihn ergänzen: Rot-Grün drückt diese Luft ab. ({3}) Frei atmen in unseren Städten, das heißt, endlich wieder die Finanzspielräume zu geben, damit die Städte die notwendigen Investitionen nach eigener Prioritätensetzung in Angriff nehmen können. Bitte nicht schon wieder die alte Leier von zinsverbilligten KfW-Krediten anstimmen! Frei atmen in unseren Städten, das heißt auch, keine einseitigen Vorgaben für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu machen. Haben wir hier doch den Mut, örtliche, das heißt auch ganz unterschiedliche Varianten - ob Kinderbetreuung im Quartier oder ob Tagesmüttermodelle - sich frei entwickeln zu lassen! Frei atmen, das heißt auch, dass die europäische Ebene nicht immer neue Überregulierungen schafft. Unsere Städte müssen im Einklang mit dem Wettbewerbsprinzip und im Sinne echter Verantwortung weiterhin selbst entscheiden können, wie sie ihre Aufgaben erfüllen. ({4}) Unsere Städte müssen deshalb im Vorfeld europapolitischer Entscheidungen an der nationalen Willensbildung auch institutionell beteiligt werden. Das ist ganz wichtig. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist fünf vor zwölf. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, die Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, das heißt die Zukunftsund Wettbewerbsfähigkeit unserer Großstädte viel stärker als bisher auch in den bundespolitischen Blick zu nehmen. Unser heutiger Antrag weist dazu den Weg. Stimmen Sie ihm daher zu! Geben Sie den Großstädten die notwendige Luft zum Atmen zurück! Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marga Elser von der SPD-Fraktion.

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zeitpunkt Ihres Antrages, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, verwundert mich sehr. Wenn ich mir Ihre Forderungen so anschaue, dann habe ich schon den Eindruck, dass Sie so manches, was bereits in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurde, überhaupt nicht mitbekommen haben. ({0}) Die Bundesregierung hat die Probleme, die Sie schildern, bereits vor Jahren erkannt und sie arbeitet sehr konsequent an ihrer Lösung. Einige Maßnahmen waren bereits erfolgreich. ({1}) Es ist mir unverständlich, warum sich Ihr Antrag nur auf Großstädte konzentriert. Wir haben mehr als 13 000 Kommunen. Es ist absolut unseriös, große gegen kleine Städte auszuspielen. ({2}) Sie fordern, Großstädte finanziell zu entlasten. Nur mit einer umfassenden und durchgreifenden Gemeindefinanzreform kann die kommunale Finanzkrise bewältigt werden. ({3}) So der Wortlaut in Ihrem Antrag. Ich frage Sie: Wer hat denn verhindert, dass die Gemeindefinanzreform 2003 umfassend verabschiedet wird, so wie wir es wollten? Die rot-grüne Bundesregierung hatte eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingesetzt. ({4}) Diese hat im Wesentlichen zwei Maßnahmen in den Vordergrund gestellt: die Reform der Gewerbesteuer und die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Der Bundesrat hat dieses Vorhaben blockiert. Im Vermittlungsausschuss war es dann möglich, wenigstens einen Teil dieser Maßnahmen auf den Weg zu bringen. ({5}) Den Anstieg der kommunalen Schulden haben wir damit insgesamt stark abgebremst. Dazu beigetragen haben im Wesentlichen die Gewerbesteuerumlage und die Änderung der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer, zum Beispiel durch die Mindestgewinnbesteuerung. Die Steuereinnahmen der Gemeinden und der Gemeindeverbände erhöhten sich im Jahr 2004 um 9,4 Prozent auf 51 Milliarden Euro. Hier wird auch klar, dass Ihr Antrag alles andere als aktuell ist. Sie hantieren mit veralteten Zahlen: Sie beziffern das Defizit der Kommunen 2003 auf fast 9 Milliarden Euro. Diese Zahl ist nur fast richtig. Es waren 8,5 Milliarden Euro. Im Übrigen liegen auch schon die Zahlen für 2004 vor. Diese müssten Sie eigentlich kennen. Die waren bei der Abfassung Ihres Antrags bereits bekannt. Offensichtlich kennen Sie sie aber nicht. Deshalb freut es mich umso mehr, dass ich Ihnen hier eine gute Nachricht überbringen kann. Der Schuldenberg der Kommunen hat sich innerhalb eines Jahres halbiert, und zwar von 8,5 auf 3,8 Milliarden Euro. ({6}) Sicherlich sähe die Finanzlage noch besser aus, wenn auch die freien Berufe im Rahmen einer Gemeindewirtschaftsteuer ihren Anteil leisten würden. Eine umfassende Reform, so wie wir sie gefordert haben, wurde von Ihnen damals leider blockiert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Elser, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die kommunalen Kassenkredite in Ihrer Regierungszeit von 5,8 Milliarden auf den Höchststand von 20 Milliarden Euro im vergangenen Jahr gestiegen sind? Wenn Sie das als Erfolg betrachten, dann muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie auf dem richtigen Weg sind. ({0})

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben in der Gemeindefinanzreform getan, was wir tun konnten, ({0}) was Sie uns haben machen lassen. Weder der Anstieg noch das Absinken dieser Schulden sind, denke ich, allein vom Bund zu verantworten. Daran sind noch viele andere Bereiche beteiligt. ({1}) Dazu kann ich Ihnen auch einiges vorrechnen. So kommen wir nicht weiter, denke ich. ({2}) Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung. Nach der Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland sind die Länder für die finanzielle Ausstattung der Kommunen zuständig. Die Adressierung Ihres Antrags verwundert mich deshalb. In diesem Jahr werden die Kommunen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe entlastet. ({3}) Ich möchte das nicht weiter ausführen; ({4}) das wissen wir alle. Ihre Vorschläge zur Lösung der kommunalen Finanzkrise sind also offensichtlich bereits umgesetzt. Sie fordern weiter, dass die Städte darin unterstützt werden sollen, sich an die Veränderungen durch den demographischen Wandel anzupassen. Auch hierzu hat die rot-grüne Bundesregierung bereits viele Maßnahmen ergriffen. Sie haben das offensichtlich übersehen. ({5}) Wir kennen die Daten. Immer mehr älteren Menschen stehen immer weniger junge Menschen gegenüber. Die Potenziale der älteren Menschen müssen in Zukunft besser genützt werden. ({6}) Das ist in der Wirtschaft so - dazu vermisse ich Anträge von Ihnen allerdings -; das ist aber auch beim bürgerschaftlichen Engagement so. Ich darf daran erinnern, dass wir in unserer Regierungszeit schon einiges getan haben. Ich nenne nur das Programm „Soziale Stadt“. ({7}) Städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen, städtebaulicher Denkmalschutz, Stadtumbau Ost, Stadtumbau West - alles das haben wir in Gang gesetzt. ({8}) Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Die Kommunen sind voll gerüstet. Sie können die Herausforderungen annehmen. Sie fordern kinder- und familienfreundliche Strukturen. Sie fordern, die Familien einzubeziehen und einen kommunalen Familientisch zu gründen. Dieser Vorschlag freut mich natürlich außerordentlich; denn damit greifen Sie nichts anderes auf als die Initiative unserer Familienministerin zu lokalen Bündnissen für Familie. ({9}) Seit Januar 2004 sind 145 solcher Bündnisse geschlossen worden, vor Ort angepasst usw. Es ist also alles bereits gemacht. ({10}) Wir haben zum 1. Januar 2005 das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Auch das wollte der Bundesrat nicht haben. ({11}) Mit diesem Gesetz haben wir nicht nur guten Willen bekundet, sondern auch Geld für die Kommunen gegeben. Wenn die Länder die Gelder nicht an die Kommunen weitergeben, ({12}) dann ist das nicht unsere Sache. Ich weiß, dass das Land Baden-Württemberg nur einen Bruchteil des Geldes an die Kommunen weitergegeben hat. Für den Ausbau von Ganztagsschulen haben wir 4 Milliarden Euro an die Kommunen weitergegeben. Ich bin nicht wie die Frau Kultusministerin Schavan der Meinung, dass dieses Geld nur für Schulen an sozialen Brennpunkten ausgegeben werden soll. Ich finde, jede Schule müsste profitieren. ({13}) Damit entspräche man auch dem Wunsch der Väter und Mütter nach intensiver Betreuung ihrer Kinder. Wir helfen den Kommunen, kinder- und familienfreundliche Strukturen zu schaffen. Dieses Ganztagsschulprogramm ({14}) ist aber noch aus einem anderen Grund sehr wichtig. Dort, wo Familien gerne leben, steigen nicht nur die kommunalen Steuereinnahmen. Nein, sie sind auch deshalb ein wichtiger Faktor, weil durch sie die Investitionsdynamik und die Wettbewerbsfähigkeit der Städte steigen. Deutschland spielt mit seinem Halbtagsschulsystem international eine Sonderrolle. Wenn wir im Wettbewerb standhalten wollen, müssen wir diese Sonderrolle ablegen. Die Initiative „Zukunft Bildung und Betreuung“ ist für uns deshalb der beste Weg. Sie fordern, dass die bundespolitischen Rahmenbedingungen für Sicherheit und Ordnung geschaffen werden. Sie fordern, dass soziale Spannungsfelder gelöst werden. Dazu gehört natürlich auch - das ist schon von Ihnen gesagt worden - die Bekämpfung des Graffitiunwesens. Wir wissen doch - wir diskutieren darüber ja schon viele Jahre -, dass dieses Problem nicht mit einer Änderung im Strafgesetzbuch erledigt werden kann. Die Schwierigkeit besteht doch darin, dass die Sprayer auf frischer Tat ertappt werden müssen. Das ist doch das Problem. ({15}) Sie fordern eine bessere Integration. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Ihnen wirklich entgangen, dass wir gerade mit dem Zuwanderungsgesetz eine bessere Integration von Auswanderern und Zuwanderern erreicht haben? ({16}) Wir haben die Grundlagen dafür geschaffen, dass Ausländer und Zuwanderer sprachlich, beruflich und auch sozial integriert werden. Der Grundstein ist gelegt. Die Integration selbst kann letztendlich jedoch nur dadurch erreicht werden, dass die Zuwanderer selbst und die deutsche Bevölkerung aufeinander zugehen. Zum Schluss möchte ich noch einen Satz dazu sagen, dass Sie von der Bundesregierung einen jährlichen Bericht zur Lage und zur Entwicklung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte fordern. Auf der einen Seite schimpfen Sie immer über die Bürokratie. Hier fordern Sie nun ein Mehr an Bürokratie. Da frage ich Sie schon: Wie passt dies zusammen? ({17}) Insgesamt bleibt mir nur eines übrig, nämlich Ihnen von der CDU/CSU zu danken. Mit Ihrem Antrag haben Sie wunderbar, wenn auch etwas unstrukturiert, dargestellt, was die rot-grüne Bundesregierung in den letzten Jahren für die kommunalen Haushalte getan hat. ({18}) Noch viel mehr machen Sie mit Ihrem Antrag deutlich, dass Sie selbst keine besseren Ideen haben. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-Fraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir von der FDP-Bundestagsfraktion freuen uns außerordentlich, dass auch die Kollegen von der Union jetzt die Kommunalpolitik entdeckt haben. Man freut sich immer über Mitstreiter auf diesem Gebiet. ({0}) Wir haben immer darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, die Kommunen hier im Haus wichtiger zu nehmen und auch besser zu behandeln, wenn entsprechende Dinge beraten werden. Aus unserer Sicht sollte sich der Antrag aber nicht nur mit Großstädten beschäftigen, auch wenn das ein wichtiges Thema für uns alle ist, sondern mit den Kommunen insgesamt. Das Problem trifft nämlich Großstädte und die normalen Städte gleichermaßen. ({1}) Ich freue mich auch darüber, dass Sie in Ihrem Antrag einen Bericht zur Lage der Großstädte fordern; denn die FDP hat schon vor längerer Zeit hier einen Antrag eingebracht, in dem ein Bericht über die Lage der Kommunen eingefordert wurde. Nach der Diskussion im Innenausschuss habe ich eine dunkle Ahnung davon - das hat Frau Elser hier jetzt auch bestätigt -, dass sich die Koalitionsfraktionen diesem Antrag verweigern werden. Wenn Sie einmal die Berichtsliste 2004 zur Hand nehmen, dann sehen Sie, dass es 158 Berichte gibt, darunter - ich möchte jetzt keinem Kollegen zu nahe treten - so spannende wie den Bericht über die Möglichkeit des weiteren Ausbaus der Nord-Süd-Schienenverbindung unter Wahrung der Verkehrsbedürfnisse des Freistaates Thüringen und auf möglichst kostengünstige Weise - ich will das Deutsch gar nicht kommentieren - oder auch den Bericht über das gesamte Saatgutrecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün, mal ganz im Ernst: Wir diskutieren hier über die dritte Säule unseres Staates, über das, was Bürgerinnen und Bürger jeden Tag erfahren, und Sie sagen angesichts von 158 Berichten, das bedeute zusätzliche Bürokratie und Sie wollten sich nicht darum kümmern. Das finde ich einen Skandal, ehrlich gesagt. ({2}) Wenn man davon absieht, dass der Antrag der CDU/ CSU vom Antidiskriminierungsgesetz über Graffiti bis hin zum Zebrastreifen alles an Politikfeldern abräumt, dann unterstützen wir Sie in der Zielsetzung Ihres Antrages. Ohne eine Gemeindefinanzreform wird es den Städten und Gemeinden - das ist ja der Kern Ihres Antrages - langfristig niemals besser gehen können. ({3}) Die finanzielle Ausstattung funktioniert nicht, wenn wir nicht endlich eine ordentliche Gemeindefinanzreform auf den Weg bringen. Auch daran ändern die heute vorgelegten Zahlen des Arbeitskreises Steuerschätzung nichts. Denn selbst wenn es den Gemeinden besser gehen sollte: Der Patient ist krank und nur weil es ihm ein wenig besser geht, ist er noch nicht geheilt. ({4}) Deshalb mein Appell: Bringen Sie endlich eine Gemeindefinanzreform auf den Weg! 20 Milliarden Euro Kassenkredite sind ein Unding; davon können die Städte und Gemeinden nicht leben. Eines allerdings fehlt uns - das vielleicht noch als Hinweis -: das Konnexitätsprinzip. Wenn Sie es mit den Kommunen ernst meinen, dann müssen Sie auch dafür sorgen, dass wir hier nicht länger etwas beschließen, was die Gemeinden auszubaden haben. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie das noch aufnehmen. ({5}) - Das ist in fast allen Ländern beschlossen worden; aber ich rede vom Bundestag. Wir sind hier im Bundestag und Sie haben sich dieser Abstimmung verweigert. Ich hoffe, dass wir einen Weg finden, den Kommunen zu helfen. In diesem Sinne würden wir Sie gerne unterstützen, wenn Sie uns da ein Stück entgegenkommen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes, lieber Kollege Kaster und Frau Kollegin Piltz: Anfang Juni führt unsere Fraktion eine große Konferenz zum Thema „Stadt Aktiv“ durch. ({0}) Sie sind herzlich eingeladen. Kommen Sie; ich glaube, da können Sie einiges lernen. ({1}) Ich muss sagen: An sich finde ich es toll, dass die CDU/CSU das Thema aufgegriffen hat, egal ob mit dem Schwerpunkt Großstädte oder Städte generell; denn ich glaube schon, dass es wichtig ist, dass wir hier intensiver und öfter über Kommunalpolitik generell und durchaus auch über die stadtspezifischen Probleme reden. So weit bin ich absolut d’accord. ({2}) Ich fand es aber schon eine Enttäuschung, dass wir diese knappe halbe Stunde ({3}) - nein, da muss ich schon in Ihre Richtung zeigen -, die hier zur Diskussion zur Verfügung steht und eigentlich zu wenig ist, für Polemik nutzen; denn das ist dem Thema überhaupt nicht angemessen. Die Städte haben tatsächlich eine Reihe von Problemen, die nicht mit einer Verschärfung von Graffitigesetzen, Strafgesetzen generell oder dem Thema Antidiskriminierung zu lösen sind. ({4}) Insofern wünsche ich mir, dass das Thema intensiver aufgegriffen wird. ({5}) Ich möchte ein paar Punkte ansprechen. Einige sind von Ihnen aufgegriffen worden, aber leider sehr unsystematisch. ({6}) Der Antrag ist leider sehr inkonsistent, obwohl er auch Richtiges enthält. Ich glaube schon, dass das Thema Deindustriealisierung und Globalisierung - enorme wirtschaftliche Umbrüche, mit denen die Städte zu tun haben - ein ganz wichtiger Punkt ist, bei dem wir alle keine Lösung haben, dem wir uns aber in der Auseinandersetzung stellen müssen. ({7}) - Deswegen sage ich ja, dass einiges Richtige drinsteht. Sie haben ja auch einiges von unserer Fachkommission bei der Böll-Stiftung abgeschrieben. ({8}) Insofern kenne ich einige Sätze sogar im O-Ton. Aber egal. Wichtige Themen sind: demographischer Wandel, Alterung, Kinderlosigkeit, Singularisierung, das zunehmende soziale Auseinanderdriften unserer Gesellschaft, Migration und Integration. Über die Herausforderungen, vor denen die Städte angesichts des multikulturellen und multiethnischen Zusammenlebens stehen, ist schon im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes intensiv diskutiert worden. ({9}) Wir haben schon erste Schritte zur Unterstützung eingeleitet. Wir wissen alle, dass die Städte in diesem Bereich mehr Hilfe brauchen. Was Sie überhaupt nicht gerne diskutieren, ist das Thema Suburbanisierung. Die Städte werden dadurch geschwächt, dass der Einzelhandel in die Außenbereiche abwandert. In diesem Zusammenhang muss man erwähnen, dass Sie mit großer Lust für das Wohnen an der Peripherie eintreten. ({10}) Die Städte können nicht gestärkt werden, wenn bei stagnierenden Bevölkerungszahlen nur die Umlandgemeinden profitieren. Sie wissen auch, welche großen finanziellen Probleme für die Städte damit verbunden sind. ({11}) Auch mit Blick auf die Ökologie und auf den Flächenverbrauch ist es nicht sinnvoll, diese Entwicklung weiter zu fördern. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Stichworte Eigenheimzulage und Entfernungspauschale. ({12}) - Ja, auch das gehört dazu. Ich erwähne weiterhin die Herausforderungen in Bezug auf den Klima- und Umweltschutz und auf die Gesundheit. Damit sind die Stichworte Feinstaub, Lärm, Motorisierung und Belastung der Städte verbunden. Ich sage ganz klar: Wer eine kinderfreundliche Stadt will - dafür engagieren wir uns im hohen Maße; die Kollegin Elser hat eben ein Beispiel aus unserem Kinderbetreuungs- und Ganztagsschulenkonzept vorgestellt -, ({13}) der muss auch dafür eintreten, dass die Mobilität stadtverträglich wird. ({14}) Dieser großen Herausforderung muss sich Ihre Fraktion genauso stellen wie wir. ({15}) Weil meine Redezeit begrenzt ist, möchte ich nur ganz kurz über das sprechen, was getan werden muss. Die Städte selbst müssen mehr Mut zur Innovation haben ({16}) und die Fähigkeit zur Kommunikation mit der ansässigen Wirtschaft und den Hausbesitzern entwickeln. Ohne die Mithilfe der Hausbesitzer werden wir keine kinderfreundlichen Wohnungen und kein kinderfreundliches Wohnumfeld schaffen können. Aber auch die Länder - ich nenne nur die Stichworte Raumordnung und Regionalplanung - müssen sich angesichts des demographischen Wandels und der wirtschaftlichen Umbrüche um dieses Thema intensiv kümmern. Die Wirtschaftsförderung darf nicht immer nur die Regionen an der Peripherie stärken und die Städte außen vor lassen. Auch auf der Länderebene ist also viel zu tun. Als letzten Punkt will ich die Finanzfrage erwähnen. Wir unterstützen nach wie vor eine Gemeindefinanzreform, ({17}) aber in der Form, wie sie von den Kommunen gefordert wurde, und nicht in der Form, wie Sie das wollen. Sie bewirken eine Schwächung der Städte, indem Sie die Gewerbesteuer abschaffen wollen. ({18}) Das kann nicht die richtige Form einer Gemeindefinanzreform sein. Im Gegenteil: Was an Vorschlägen vorliegt und von uns unterstützt wird, muss vom Bundesrat mitgetragen werden. Das hilft den Kommunen weiter. Dann können wir die Finanzfragen anders angehen, als Sie das bisher wollen. Danke schön. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in Deutschland sichern: Warum sollte uns das überhaupt interessieren, wo doch nur die wenigsten Menschen in Deutschland in großen Städten leben? Es geht dabei nicht nur um die Zukunft großer Städte, sondern im Grunde um Ballungsräume, Regionen oder Metropolen, in deren Zentren sich große Städte befinden. In Deutschland sind das zum Beispiel die Metropolregion Berlin/ Brandenburg, Frankfurt/Rhein-Main oder die Metropolregion Rhein-Ruhr mit dem Ruhrgebiet. Hier konzentrieren sich Wirtschaft, Verwaltung und Kultur. In diesen Metropolen wird unter Mithilfe der Informations- und Kommunikationstechnologie die Weltwirtschaft gemacht. Mit anderen Worten: Die Metropolregionen konkurrieren weltweit miteinander um die besten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Standortbedingungen. Aufgrund dieser Entwicklung gilt es, die Metropolen in Deutschland zu unterstützen. Genau dazu fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag „Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in Deutschland sichern“ auf. ({0}) Die Herausforderungen, vor die wir in Deutschland und Europa im Zeitalter der Wissens- und Informationsgesellschaft gestellt sind, lauten daher: Wie schaffen wir gute Rahmenbedingungen? Welches ManagementKnow-how brauchen wir, das es einer Metropolenregion ermöglicht, weltweit gut aufgestellt zu sein, um damit seinen Bürgern und den ansässigen Unternehmen die besten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen bieten zu können? ({1}) Am Beispiel der modernen Informationstechnologie wird deutlich, wie wichtig die Metropolen für die Ansiedlung von Unternehmen geworden sind. Dazu hat eine Ökonomengruppe des Kieler Instituts für Weltwirtschaft analysiert, wo in Deutschland junge börsennotierte Technologieunternehmen ihren Sitz haben bzw. ihren Sitz nehmen. Das Ergebnis ist eindeutig: Junge, innovative Technologiefirmen konzentrieren sich deutlich stärker auf einzelne Standorte als Unternehmen aus traditionellen Branchen. Rund die Hälfte der betrachteten Unternehmen hat ihren Sitz in München, Berlin, Hamburg oder im Rhein-Main-Gebiet. Der mit Abstand wichtigste Standort ist dabei München. Dort sind fast so viele junge börsennotierte Technologiefirmen zu Hause wie in den drei anderen Metropolregionen zusammen. Das bedeutet: Hightechfirmen sind räumlich stark konzentriert. Hauptgrund dafür ist: Je mehr Unternehmen aus dem Bereich der modernen Informationstechnologie in einer Stadt angesiedelt sind, desto attraktiver wird diese für andere Firmen aus dieser Branche. Denn die Unternehmen sind auf einen informellen Know-how-Transfer angewiesen. Zudem benötigen gerade Technologiefirmen einen großen und gut funktionierenden Arbeitsmarkt ebenso wie eine breite Infrastruktur an unternehmensnahen Dienstleistern. Außerdem spiele die Nähe zu Kunden und Kapitalgebern bei Firmen aus dem Bereich der modernen Informationstechnologie eine wichtige Rolle. Die Internetrevolution bzw. der Wandel zur Informationsgesellschaft ist folglich nicht spurlos an den Städten vorbeigegangen - auch nicht am Immobilienmarkt. Denn wissensintensive Tätigkeiten drängen stärker ins Zentrum, während die einfache Arbeit an die Peripherie verlagert wird. Hieraus resultiert zum Beispiel eine Zunahme der Nachfrage nach qualitativ hochwertigem Wohnraum in den Großstädten. Allein dieses Beispiel zeigt bereits, wie wichtig ein gut funktionierendes Management für eine Metropolenregion ist und in Zukunft sein wird. Meine Damen und Herren, um die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit von Großstädten und Metropolen im globalen Wettbewerb zu erhalten, ist es daher unerlässlich, erstens zu entbürokratisieren, um Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, ({2}) zweitens für familiengerechte Wohn- und Arbeitsplätze sowie kinder- und familienfreundliche Strukturen zu sorgen ({3}) und drittens die Kommunen finanziell und organisatorisch - Stichwort Gemeindefinanzreform - in die Lage zu versetzen, über ihre eigene Grundversorgung selbst zu entscheiden. Das heißt, selbst zu entscheiden, ob sie Leistungen in kommunaler Eigenverantwortung anbieten möchten oder ob sie zusammen mit privaten Anbietern eine öffentlich-private Partnerschaft eingehen wollen. ({4}) Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung unter anderem auf, erstens entsprechende Managementkonzepte zu unterstützen, zweitens Investitionsentscheidungen im weltweiten Wettbewerb der Metropolen um Arbeitsplätze zu fördern, ({5}) drittens die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Kommunen zu ermöglichen und viertens den Bundestag jährlich über die Entwicklung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte zu informieren. Unterstützen Sie daher diesen Antrag, um die Zukunftsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in Deutschland zu sichern! Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5332 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Reinhold Robbe, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock, Michaele Hustedt, Albert Schmidt ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Maritimen Standort Deutschland stärken Innovationskraft nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({2}), Dirk Fischer ({3}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU „Meer für morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft - zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({4}), Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutschland stärken - Drucksachen 15/4862, 15/5099, 15/4847, 15/5417 Berichterstattung: Abgeordnete Uwe Beckmeyer Wolfgang Börnsen ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Annette Faße von der SPD-Fraktion das Wort.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seeschifffahrt und Globalisierung, das sind zwei Begriffe, die unzertrennlich zusammengehören. Denn sprechen wir über Seeschifffahrt, dann sprechen wir immer auch über Globalisierung. Global denken ist nicht neu für die Seeschifffahrt. Globaler Wettbewerb, globales Denken, das sind Themen, an die sich so mancher Wirtschaftszweig in Deutschland erst gewöhnen muss. Die Seeschifffahrt dagegen kennt die Herausforderungen und den harten Wettbewerb. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dieser Wettbewerb gerecht geführt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass internationale Wettbewerbsverzerrungen, aber auch Harmonierungsdefizite auf europäischer Ebene abgebaut werden. Das gilt für die Seeschifffahrt ebenso wie für die deutsche Werftindustrie, für die Meerestechnik und für die Seehafenwirtschaft. Deshalb setzen wir uns mit allen Mitteln dafür ein, den maritimen Standort Deutschland zu sichern und zu stärken, um für die kommenden Herausforderungen gut gewappnet zu sein. ({0}) 272 Millionen Tonnen haben die deutschen Seehäfen 2004 umgeschlagen - eine Rekordzahl. Das ist ein Umschlagsplus von 8 Prozent. Rund 300 000 Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt an der deutschen Seeschifffahrt. Damit sind die deutschen Häfen Verkehrsdrehscheibe und Jobmaschine zugleich. Auf der 4. Nationalen Maritimen Konferenz in Bremen Ende Januar haben die Teilnehmer eine umfassende Bestandsaufnahme in vier Workshops vorgenommen. Sie haben konkrete Handlungsempfehlungen für alle Beteiligten des maritimen Bündnisses erarbeitet. Das Ziel ist klar benannt worden: Es geht um die weitere Stärkung des maritimen Standortes Deutschland; es geht darum, einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer gesamten Wirtschaft zu leisten. Hafenpolitik und die maritime Wirtschaft sind keine regionalen, norddeutschen Themen. Die Häfen sind im interkontinentalen Warenaustausch die Schnittstellen zwischen Land- und Seeverkehr. 90 Prozent der Waren, die wir exportieren, gehen über unsere Häfen. Viele Unternehmen in Bayern und Baden-Württemberg profitieren davon. Das sollten alle Mitglieder dieses Hauses nicht vergessen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wasserweg wird in Zukunft eine wichtigere Rolle einzunehmen haben. Den maritimen Standort zu stärken bedeutet SicheAnnette Faße rung von Wertschöpfung, Beschäftigung und Ausbildung. In diesem Zusammenhang müssen wir allerdings feststellen, dass die gestiegenen Ausbildungszahlen immer noch nicht ausreichen. In der aktuellen Ausgabe der „DVZ“ war zu lesen, dass die deutschen Reeder wieder mehr Ausbildungsplätze anbieten. Sie werben auch pressewirksam für die Berufssparte. Jahrelang hatten wir Defizite in der Ausbildung zu verzeichnen. Das hat eindeutig zu einem Mangel an Leitungskräften, aber auch an Schiffsmechanikern geführt. Auch der Anstieg von über 41 Prozent im Vergleich zu 2003 reicht noch nicht aus, um den künftigen Bedarf der Seeschifffahrt, aber auch der Landbetriebe decken zu können. Um Anreize zur Steigerung der Ausbildungsbereitschaft in den Reedereien zu schaffen, fördert der Bund seit Jahren jeden Ausbildungsplatz. Auch die Reeder haben Geld in die Hand genommen, weil sie erkannt haben, dass wir die Ausbildung unbedingt verstärken müssen. Verdi stimmte einer so genannten konditionierten Öffnungsklausel zur Schiffsbesetzung mit ausländischen Seeleuten als Übergangsregelung zu. Es ist ganz klar mehr Einsatz gefragt. Es muss mehr ausgebildet werden, damit der Nachwuchs gesichert wird. Auch die Schulen sind hier gefordert. ({2}) Im Bereich Schifffahrt haben die Tonnagesteuer, der Lohnsteuereinbehalt, die Ausbildungsplatzförderung, die neue Schiffsbesetzungsverordnung und die Schiffsicherheitsanpassung für den Schifffahrtsstandort Deutschland positive Wirkungen gezeigt. Bei Rückflaggung von netto mindestens 100 Schiffen bis Ende 2005 müssen die Finanzhilfen des Bundes fortgeschrieben werden. Das fordern wir in unserem Antrag. Auch erwarten wir, dass die Reeder bis Jahresende ihr Versprechen einlösen, sodass dann insgesamt 400 Handelsschiffe unter deutscher Flagge sein werden. Zum jetzigen Zeitpunkt beläuft sich der Bestand auf rund 380 Schiffe. Bei den Seehäfen konnten insbesondere im Containerbereich deutliche Marktanteile hinzugewonnen werden. Wichtig ist für uns der gezielte und koordinierte Ausbau der land- und seeseitigen Zufahrt zu unseren Seehäfen. Ich appelliere noch einmal an Sie alle, Fragen der Deichsicherheit und des Schutzes der Küste nicht hintanzustellen. Wir wissen, dass von der Planungsvereinfachung insbesondere die Hinterlandanbindungen und damit die deutschen Seehäfen profitieren werden. Auch wissen wir, dass von den für dieses Jahr zusätzlich bereitgestellten Mitteln in Höhe von 2 Milliarden Euro bereits 500 Millionen Euro auf dem Konto der VIFG sind. Auch davon werden unsere Seehäfen profitieren. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwar stimmen wir in vielen Punkten, die Annette Faße vorgetragen hat, überein, aber als Opposition sehen wir das ein wenig anders und setzen andere Schwerpunkte; ({0}) dafür müssen Sie Verständnis haben. Mit unserem Antrag „Meer für morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft“ wollen wir das Augenmerk aller politisch Verantwortlichen - aller Handelnden, aber auch der Bundesregierung - auf das Können, die Kraft und die Kompetenz dieses bedeutenden Wirtschaftsbereichs lenken. Ob in den Häfen, dem Schiffbau, der Schifffahrt oder der Aquakultur, überall stecken hoffnungsvolle Perspektiven für die Zukunft. ({1}) Das setzt jedoch voraus, dass die maritime Verbundwirtschaft konzeptionell, umfassend und nachhaltig betrieben wird. Sie muss aus ihrer sektoralen Betrachtung und Bedeutung herausgeführt werden und darf nicht auf drei Ministerien verteilt sein. Sie muss langfristig, vernetzt, europäisch und noch internationaler angelegt werden, als es bisher geschehen ist. Maritime Konferenzen allein bringen noch keinen Frühling in der Meerespolitik. Aber sie schaffen dem Kanzler - ganz in Wallenstein-Manier - eine passende Plattform. So heißt es bei Friedrich Schiller: „Ich hab hier bloß ein Amt und keine Meinung.“ ({2}) Konferenzen sind Schlaglichter einer durchaus bemühten Branchenpolitik. Fast 5 Millionen Menschen in Deutschland sind ohne Arbeit. Pro Jahr kommt es zu fast 40 000 Betriebsinsolvenzen. Die Staatsverschuldung hat einen Umfang von über 1,4 Billionen Euro. Seit Anfang dieses Jahrhunderts haben wir eine Wirtschaftskrise, wie wir sie in dieser Form in den letzten 60 Jahren nicht mehr hatten. Das sind klare Versäumnisse der amtierenden Regierung. Zugleich ergibt sich daraus für alle politisch Verantwortlichen aber auch die Herausforderung, diesen Abwärtstrend zu stoppen und für einen Aufschwung zu sorgen. Arbeit zu schaffen muss unsere zentrale Aufgabe sein. ({3}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt dafür ein 20-Punkte-Konzept vor. Darin beschreiben wir nicht nur die Chancen, die in der maritimen Verbundwirtschaft Wolfgang Börnsen ({4}) stecken. Vielmehr schaffen wir die Voraussetzungen für konkretes Handeln. Unser Antrag unterscheidet sich von dem der Regierungskoalition, obwohl beide Anträge in manchen Sachgebieten durchaus deckungsgleich sind, darin: Während SPD und Grüne von Wünschen und Erwartungen an die maritime Politik ausgehen, sagen wir, was erforderlich, notwendig und entscheidungsreif ist. ({5}) Allein das Wort „prüfen“ kommt im Antrag von RotGrün fünfmal vor; denn Handeln funktioniert bei Ihnen nicht. ({6}) Zugegeben, als Opposition haben wir es auch leichter, Klartext zu sprechen. Doch wir entziehen uns mit unseren 20 Festlegungen nicht der gemeinsamen Verantwortung. Wir wollen, dass die maritime Verbundwirtschaft einen Schub für die Zukunft erhält. Wir wollen, dass die gesamte Palette der maritimen Verbundwirtschaft in Meeren, Ozeanen und Küsten entwickelt wird, das heißt der Seeverkehr, die Fischerei, Aquakulturen, die Öl- und Gasförderung, Wind- und Gezeitenkraftwerke, der Schiffbau, der Tourismus und die Meeresforschung. Wir wollen, dass Küstenschutz, Gefahrenabwehr auf See, aber auch der Schutz des maritimen Ökosystems und die Fischereiressourcen eine europäische Dimension erhalten. Wir wollen eine abgestimmte, langfristige Steuerpolitik für die Kernbereiche der maritimen Verbundwirtschaft und eine Entrümpelung der vielen Vorschriften, Richtlinien und Auflagen. Lassen Sie uns mit einer maritimen Taskforce beginnen, die die Kräfte bündelt, Vernetzung schafft und Reglementierung abbaut! Auch die EU plant eine solche Eingreiftruppe. Doch neben den Strukturfragen sind auch Untiefen zu umschiffen. Untiefe Nummer eins: Wettbewerbsnachteile. Einen Leuchtturm in der maritimen Wirtschaft stellen - noch - unsere Häfen, die Beschäftigungszentren von über 300 000 Menschen, dar: steigende Zahlen im Güterumschlag seit über zehn Jahren, das Resultat zuverlässiger und kompetenter Mitarbeiter und eines qualifizierten Managements. Das Wasser aber, auf dem die Seehafenpolitik treibt, ({7}) ist flach und voller Untiefen. Von den Ostseehäfen berichten nur Lübeck, Sassnitz und Rostock von Wachstum. Die Krise unserer Wirtschaft hat die anderen Häfen voll erfasst. Nur der Nordseehafen Hamburg befindet sich unter den sechs größten Häfen Europas. Allein Rotterdam schlägt jährlich 70 Millionen Tonnen mehr um als alle deutschen Häfen zusammen. Der Kostendruck wächst, weil der faire Wettbewerb innerhalb Europas fehlt. Das gilt für die Trassenentgelte, für die Auswirkungen der Maut und für die Mineralölsteuer. Die Bundesregierung - das ist unsere Auffassung - nutzt nicht die vorhandenen Harmonisierungspläne, sie nutzt nicht die Möglichkeit, hier einzugreifen. Für Herrn Stolpe besteht Handlungsbedarf: Dieser Stolperstein muss weg. ({8}) Die Zögerlichkeit des Bundesverkehrsministers zeigt sich auch beim Ausbau des Hinterlandverkehrs. 15 notwendige Ausbaumaßnahmen warten auf ihre Finanzierung. Die Seehafenwirtschaft geht von 900 Millionen Euro Kosten aus. ({9}) Wir gehen davon aus, dass alle Häfen-, Hinterland- und Ausbaggerungsprojekte in das angekündigte 2-Milliarden-Sonderprogramm übernommen werden. Doch dafür muss die Bundesregierung ihre Pläne auf den Tisch legen. Untiefe Nummer zwei: die Selbstblockade. Noch immer uneinig ist die Bundesregierung über den Ausbau der deutschen Nordseehäfen, um der neuen Containergeneration gerecht zu werden. Während der Verkehrsminister für Hamburg plädiert, setzt der Umweltminister auf Wilhelmshaven, den Jade-Weser-Port. Während Stolpe den notwendigen Ausbau von Außenelbe und Außenweser erwartet, verlangt Trittin ein Gutachten über die Naturverträglichkeit, will mehr FFH und ein nationales Hafenkonzept. Er bremst, er blockiert, er spielt auf Zeit und die Zeit läuft uns davon. Andere europäische Großhäfen laufen Hamburg, Bremen und Wilhelmshaven den Rang ab. Absichtserklärungen des Kabinetts helfen nicht weiter, sondern klare Entscheidungen; auch dieser Stolperstein muss weg. ({10}) Untiefe Nummer drei ist die Lange-Bank-Politik. Hier komme ich zunächst zum Teil eins: Von nationaler, aber auch von weltweiter Bedeutung ist der notwendige Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals, mit über 54 000 Schiffen pro Jahr die meistbefahrene Wasserstraße der Welt. Aber auch die Schiffsgrößen nehmen zu, Teile des Kielkanals werden zum Nadelöhr. Für die neue Generation der Post-Panamax-Containerschiffe wird es eng. Der zuständige Staatssekretär aus dem Bundesverkehrsministerium, der leider jetzt nicht mehr dabei ist, hat sich im Januar dazu vor Ort geäußert. Der „shz“-Verlag zitierte den von mir geschätzten Ralf Nagel wörtlich: Diese Bundesregierung sitzt mit dem Gesicht zur Küste, nicht zuletzt deshalb, weil der Bundeskanzler aus Niedersachsen kommt. Einen konkreteren Zeitplan für den Ausbau dieser Wasserstraße könne er nicht nennen, weil es für diese komplizierte Sache keine gesetzliche Grundlage gebe. Mögliche Maßnahmen müssten zuvor sehr genau ausgearbeitet werden. Abgesehen davon, dass die Bayern, Anhaltiner und Baden-Württemberger nur mit der Rückseite des Kanzlers vorlieb nehmen müssen, da er ja ständig die Küste im Auge behält, ist die Feststellung des Staatssekretärs zugespitzt eine Bankrotterklärung an eine zukunftsgeWolfgang Börnsen ({11}) wandte maritime Politik: kein Gesetz, kein Ausbau, keine Finanzierungsvorschläge. Die Folge: Die Schiffe werden die Route über den Skagerrak nehmen, weil der NO-Kanal im Wettbewerb der Wasserstraßen ins Hintertreffen gerät. Dazu darf es nicht kommen. Der Kiel-Kanal braucht eine Perspektive. ({12}) Untiefe Nummer vier: die Lange-Bank-Politik Teil 2. Offen, ungeklärt und doch seit Jahren mit Absichtsbekundungen garniert, dümpelt ein weiteres maritimes Projekt der Bundesregierung im Brackwasser: die feste Fehmarnbeltquerung. Sie wurde 1991 in einem Vertrag zwischen Dänemark und Schweden angestoßen und Ende der 90er-Jahre durch eine Machbarkeitsstudie präsentiert. Doch erst im Frühjahr 2000 begann das Interessenbekundungsverfahren. Kopenhagen drängt, Berlin schiebt auf die lange Bank. Obwohl die Beltquerung seit Jahren Bestandteil des transeuropäischen Verkehrsnetzes ist und Brüssel dem Projekt strategische Bedeutung beimisst, tritt das Vorhaben weiter auf der Stelle; denn es hat nicht den Segen der Bündnisgrünen; die mauern wieder mal. Die Bundesregierung ist auch hier zerstritten. Seit Jahren kommt man nicht zu Potte, verärgert unsere dänischen Nachbarn und schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland, der auf gute Verkehrswege angewiesen ist. ({13}) Untiefe Nummer fünf: die Lange-Bank-Politik Teil 3. Mehr Courage wünschen wir uns auch vonseiten des Wirtschaftsministers in Sachen Erdöl- und Erdgasförderung im deutschen Teil der Nordsee. Die größte Energiequelle unseres Landes ist in Gefahr, trockengelegt zu werden, weil Umweltminister Trittin gerade hier Naturschutzbelangen eine Zukunft geben will. England, Dänemark und die Niederlande fördern im gleichen Territorium, doch die Bundesregierung hat Teile ihres Gebietes als Schutzfläche nach Brüssel gemeldet. ({14}) Dort schmort die Sache. 5 Millionen Arbeitslose und hohe Energiekosten scheinen noch nicht Mahnung genug für wirtschaftliches Handeln oder, um mit Schiller zu sprechen: Ein Augenblick gelebt im Paradiese wird nicht zu teuer mit dem Tod gesühnt. ({15}) Die deutschen Werften sind Flaggschiffe der maritimen Wirtschaft. Bedingt durch Tüchtigkeit, Technik und Tatkraft aller Beteiligten stehen deren Schiffe trotz hoher Kosten hoch im Kurs. Deutsche Reeder haben von 500 Aufträgen, die sie in diesem Jahr weltweit geordert haben, 80 in Deutschland geordert. ({16}) Die Umstellung von Wettbewerbshilfe auf Innovationsmittel halten wir für richtig. Dabei machen wir mit. Das ist eine europäische Lösung bei all den Auflagen, die wir inzwischen für die Schiffbaufinanzierung haben, und ein vertretbarer Teil. Wir sehen nur Probleme darin, ({17}) dass man 6 Millionen Euro ausgewiesen hat, einschließlich der IG Metall aber der Auffassung ist, dass man 60 Millionen Euro für die Innovationsförderung benötigt. Bei uns in Schleswig-Holstein, ({18}) auf der schönen Halbinsel Eiderstedt, steht eine alte Tafel mit der Aufschrift: Gott schuf das Meer, der Friese die Küste. Welch ein Gottvertrauen, aber auch welch ein Glaube an die Gestaltungsfähigkeit, den Mut, die Tatkraft und die Tüchtigkeit von uns Menschen stecken dahinter! An die hier beschriebene Zuversicht sollte die maritime Politik anknüpfen. Sie sollte das Meer noch mehr für die Menschen nutzen, ohne es zu missbrauchen, ({19}) und sie muss richtige Rahmenbedingungen dafür setzen. Unser Antrag geht dafür in die richtige Richtung. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock vom Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Wolfgang Börnsen, wer versucht hat, durch die Irrungen und Wirrungen dieser Rede hindurch zu finden, ({0}) der muss doch feststellen: Der Küste, dem maritimen Standort Deutschland, geht es ausgezeichnet. Die maritime Wirtschaft in Deutschland ist ein erfolgreicher, hightechorientierter Wirtschaftszweig, ein Wirtschaftszweig mit hoher Innovationskraft, ein Wirtschaftszweig, der die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Volkswirtschaft insgesamt stärkt und ein wesentlicher Faktor für Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen ist. Trotz aller Versuche, etwas Negatives herauszufinden, muss man, lieber Wolfgang Börnsen, doch sagen: An der Küste - sei es im Bereich Windenergie, sei es in den Häfen, sei es in den Werften - brummt es, ({1}) im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen unserer Wirtschaft. Es ist doch absurd, zu sagen, diese Bundesregierung habe gerade im maritimen Bereich versagt. Ganz im Gegenteil: Hier haben wir einen Wirtschaftsbereich, auf den wir stolz sein können, über den wir alle positiv reden könnten. ({2}) Ein unverzichtbarer Bestandteil der maritimen Wirtschaft - das ist überhaupt keine Frage - sind die deutschen Seehäfen. Sie dienen als Drehscheibe des nationalen, insbesondere des internationalen Güterverkehrs. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und weiter auszubauen, haben wir den gezielten und koordinierten Ausbau der land- und seeseitigen Zufahrten zu diesen Seehäfen durchzuführen. Das haben wir zu einem zentralen Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans gemacht. Nicht Ihre Regierung, unsere Vorgängerregierung, sondern diese rot-grüne Regierung hat dies zum zentralen Bestandteil ihrer Politik gemacht. ({3}) Die Seehäfen - darin sind wir uns alle einig - mit ihren unterschiedlichen Profilen müssen kooperieren; das ist überhaupt keine Frage. Dies ist auch im Rahmen der „Gemeinsamen Plattform des Bundes und der Küstenländer zur deutschen Seehafenpolitik“ festgehalten worden. Wir setzen uns dafür ein, dass dies umgesetzt wird. Ein anderer wichtiger Bereich sind die Werften. Der Welthandel boomt und die Globalisierung im Bereich des Warenaustausches findet im Wesentlichen auf den Meeren statt. Die Nachfrage nach Schiffen ist exorbitant hoch. Lieber Wolfgang Börnsen, als Schleswig-Holsteiner müsstest du wissen, dass die deutschen Werften - Lindenau in Kiel oder HDW mit dem Marineschiffbau - durch die hohe Kompetenz, die in ihnen steckt, in Europa führend sind. Im Spezialschiffbau sind wir sogar weltweit führend. Das ist keine Branche, die niedrig gehängt werden müsste. ({4}) - Ja. Im Spezialschiffbau haben wir aber viele Arbeitsplätze, die sicher, zukunftsorientiert und hightech sind. Auf diese Arbeitsplätze sind wir durchaus stolz. Wir wollen sie erhalten und ausbauen. ({5}) Ein weiterer Bereich, der von uns massiv unterstützt worden ist, in dem auch und gerade an der Küste sehr viele Arbeitsplätze geschaffen worden sind, ist die Windenergie. Deutschland ist dank der Politik dieser rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Koalition in diesem Bereich weltweit führend. „Erneuerbare Energien - made in Germany“ ist ein weltweit anerkanntes Siegel. Deutschland ist nicht umsonst der mit Abstand größte Markt und Anbieter für die Nutzung der Windenergie. Die Bundesregierung hat mit ihrer Strategie zur Förderung der Windenergienutzung neue Maßstäbe in Sachen umweltfreundlicher Stromerzeugung gesetzt. ({6}) Wir werden diese Strategie weiter fortführen. Offshoreenergie hat ein enormes Potenzial. ({7}) Das, was wir auf der See an Megawatt installieren können, hat ein Investitionsvolumen von 45 Milliarden Euro. ({8}) - Das rechnet sich mittlerweile von selbst. Die Investitionen, die Sie in die Atomkraft gesteckt haben und noch stecken können, sind ein Klacks gegen das, was hier an Anschubfinanzierung geleistet wurde. Sie wissen doch ganz genau, wie die Finanzierung von Windenergie geregelt ist. Die Windenergie ist im Gegensatz zu anderen Energien, die Sie massiv unterstützt haben, volkswirtschaftlich ausgesprochen sinnvoll. ({9}) - Aufgrund von Zwischenrufen werden wir unsere Politik mit Sicherheit nicht ändern. Mit den Rahmenbedingungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wurde der Einstieg in diese innovative Technologie geschaffen. Alle Länder Europas sind dabei, ihren Anteil an regenerativen Energien auszubauen. Der Bau von Windkraftanlagen auf hoher See ist die konsequente Fortsetzung einer nachhaltigen Energiepolitik, die an der deutschen Küste sehr viele Arbeitsplätze schaffen wird. Wenn Sie die vorliegenden Anträge vergleichen, dann werden Sie feststellen, dass der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die richtigen Fragestellungen aufgreift und Lösungsvorschläge anbietet, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Küste zu erhalten bzw. auszubauen. Gleiches gilt für die Zahl der Arbeitsplätze. Das ist in unserem Antrag beispielhaft dargestellt. Ich bitte Sie alle, diesem Antrag zuzustimmen. Damit hat die Küste eine Zukunft. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Eberhard Otto von der FDP-Fraktion. ({0})

Eberhard Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003605, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mensch von der Küste aus Mecklenburg-Vorpommern und ehemaliger Seemann - ich bin mehrere Jahre als Boots- und Steuermann zur See gefahren ({0}) ist mir dieses Thema natürlich besonders wichtig. ({1}) Die Schifffahrt und die Häfen sind für uns Nordländer von elementarer Bedeutung. Sie sind die Lebensader und die wirtschaftliche Zukunft unserer Region. Beispielsweise wäre ein Mecklenburg-Vorpommern ohne maritime Entwicklung und ohne die Entwicklung der Werften unvorstellbar; das würde eine große wirtschaftliche Schwächung bedeuten. Ohne einen leistungsfähigen und kostengünstigen Seeverkehr gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung und keine Sicherheit der Handelsverbindungen. 95 Prozent des interkontinentalen Handels und 62 Prozent des innereuropäischen Handels werden über die See abgewickelt. Ein freier und ungestörter Seeverkehr ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich die deutsche Wirtschaft weiterentwickeln kann. ({2}) Jeder, der schon einmal im Norden war, weiß, wie schön unsere Region ist. Städte wie Rostock, Wismar und Lübeck sowie endlose Strände sind einzigartig. Die Küstenländer haben ein besonderes Flair. Sie haben große Chancen, aber sie sind auch besonders bedroht. Schutz tut Not. Ohne Not wurde das öffentliche Seeamtsverfahren abgeschafft, und zwar gegen alle Widerstände von unseren Küsten. Noch heute leiden wir unter dieser falschen Entscheidung. ({3}) So haben wir bei der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs auf See ein echtes Problem, da der Sofortvollzug des Patententzuges abgeschafft wurde. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die Verhandlungen mit der Russischen Föderation über mehr Seeverkehrssicherheit in der Ostsee zu intensivieren. ({4}) Die deutschen Reeder gehören zu den weltweit erfolgreichsten. Sie besitzen circa ein Drittel der weltweiten Containerkapazität. Die 1998 von der FDP durchgesetzte Tonnagesteuer ({5}) wurde von der Bundesregierung weitergeführt. Auch bezüglich der Lohnnebenkosten und der Ausbildungsförderung hat es gute Regelungen gegeben. Durch diese Maßnahmen wird die deutsche Flagge gestärkt. Es erfolgte bereits - das wurde vorhin schon gesagt - eine Rückflaggung von 100 Schiffen. Ich hoffe und gehe davon aus, dass weitere noch in diesem Jahr hinzukommen werden. ({6}) Ich möchte noch zur Problematik der Notfallschlepperausschreibung kommen. Es muss kritisch hinterfragt werden, warum der Steuerzahler für den Schutz von Havaristen in Nord- und Ostsee in Zukunft mehr als das Doppelte bezahlen soll. Dies ist nur zu rechtfertigen, wenn mit den neuen Schleppern auch ein deutliches Plus an Sicherheit verbunden ist. Aber genau das ist nicht der Fall. Die Leistungsfähigkeit der neuen Schlepper würde kaum über der der alten liegen. Das rechtfertigt nicht eine Ausgabensteigerung von mehr als 120 Prozent.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Otto, kommen Sie bitte zum Schluss.

Eberhard Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003605, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letzter Satz: In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend noch werten, dass durch eine erhöhte Präsenz von Einsatzkräften im Bereich der so genannten Kadetrinne in der Ostsee die Häufigkeit von Unfällen, auch von Beinaheunfällen, bis zum heutigen Tage deutlich zurückgegangen ist. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Uwe Beckmeyer von der SPD-Fraktion.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) Ich wollte den beiden Kollegen von der Opposition ein Werk zeigen, von dem ich meine, dass sie es vorher hätten lesen sollen, und zwar die Dokumentation der Vierten Maritimen Nationalen Konferenz aus Bremen. Man hat aber an ihren Reden gemerkt, dass sie nicht ein einziges Mal hineingeschaut haben, ({1}) um nachzulesen, was dort von der gesamten Küste inklusive aller Länder und der dort ansässigen Wirtschaft gefordert worden ist. ({2}) Insofern darf ich einfach einmal ein Zitat aus dem Verkehrsausschuss, dem Fachausschuss, dem werten Publikum vorlesen. Da heißt es, man lehne die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP aufgrund von Qualitätsmängeln ab. ({3}) In diesen Anträgen würden Vorschläge unterbreitet, die bereits in Angriff genommen oder bereits abgearbeitet worden seien bzw. es seien Vorschläge, die in die falsche Richtung gingen. Ich denke, dieser fachlichen Wertung ist nichts entgegenzusetzen. ({4}) Sie schildert genau das, was wir hier eben gehört haben. Ich möchte etwas in Erinnerung rufen - eigentlich ist es nicht meine Art zurückzublicken, Herr Börnsen, aber Sie sind schon etwas länger in diesem Parlament als ich -: 1996 haben Sie Ihre Regierung in einer Großen Anfrage gefragt, wie sie es mit der maritimen Wirtschaft hält. Was hat diese Regierung damals geantwortet? Ein umfassendes maritimes Konzept, so lautete seinerzeit die Devise der Kohl-Regierung, sei wegen der Heterogenität der maritimen Wirtschaft nicht möglich. ({5}) Das Argument: Wesentliche Bestimmungsfaktoren der internationalen Wettbewerbsfähigkeit entzögen sich dem staatlichen Einfluss. Stattdessen verfolgte die damalige Bundesregierung nach eigener Aussage im Wesentlichen eine sektorübergreifende Strukturpolitik, die die Wettbewerbsfähigkeit der Gesamtwirtschaft stärkt. ({6}) Was war die Folge? Den Werften ging es schlecht, der Schifffahrt ging es schlecht und bei den Häfen hatten wir Mühe, dagegenzuhalten. ({7}) Was ist seitdem passiert? ({8}) Seitdem Rot-Grün regiert, haben wir jetzt zum vierten Mal eine nationale Konferenz, initiiert durch den Bundeskanzler. ({9}) Wir haben einen maritimen Koordinator des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit. Wir haben 15 prioritäre Projekte bei den Hafenzufahrten im neuen Bundesverkehrswegeplan verankert und wir haben ein Maßnahmenpaket zur Stärkung der maritimen Standorte vorgelegt. Ich denke, mehr als das, was hier jetzt auch mit der Wirtschaft verabredet worden ist, kann man gar nicht für die maritime Wirtschaft tun. Die Erfolge liegen auf der Hand. Die Kollegin Faße hat gesagt, 272 Millionen Tonnen seien 2004 in den deutschen Seehäfen umgeschlagen worden. Das ist ein Rekordergebnis. ({10}) Das haben wir in der Geschichte Deutschlands nie gehabt. ({11}) Deutsche Reeder disponieren von deutschen Standorten 2 580 Handelsschiffe mit rund 41 Millionen Bruttoregistertonnen modernster Tonnage. Das hat es niemals in Deutschland gegeben. Das ist ein Erfolg von Rot-Grün, der in der maritimen Konferenz erarbeitet wurde. Die Werften, also die deutschen Schiffbauer, haben 2004 zum ersten Mal ein geschätztes Auftragsvolumen von 3,4 Milliarden Euro gehabt. ({12}) Das ist ein Erfolg, der für die Branche Gold wert ist, weil er Stabilität in die Aufträge bringt. Herr Börnsen, Herr Otto, das sind Trümpfe, an denen Sie nicht vorbeireden können. Ihr Antrag mit dem Titel „Meer für morgen“ ist ein Meer von Tränen, weil Sie im Grunde nichts anderes kennen als Schlechtreden, Schlechtreden, Schlechtreden. Das lassen wir hier nicht durchgehen. ({13}) Die Beispiele in der zusammen mit der deutschen maritimen Wirtschaft erarbeiteten Dokumentation zeigen, ({14}) dass Sie mit allem, was Sie hier aufführen, völlig hinter dem Mond sind. ({15}) Ich möchte noch etwas zu drei aktuellen Punkten sagen, die neben den bereits angesprochenen Bereichen wichtig sind: Infrastrukturpolitik, Ordnungspolitik sowie Förderung innovativer technischer Entwicklung. In der Infrastrukturpolitik haben wir es geschafft, die Weichen neu zu stellen. ({16}) Ich nenne als Beispiele die Maßnahmen Rostock-Berlin und Hamburg-Lübeck ({17}) sowie die Hinterlandanbindungen und die seewärtigen Zufahrten. ({18}) Wir sind in diesen Bereichen im Konsens mit der maritimen Wirtschaft einen Riesenschritt vorangekommen. Das lasse ich mir auch von Ihnen nicht klein reden. ({19}) In der Ordnungspolitik haben wir bei der Schifffahrt mit der Tonnagesteuer - Frau Faße hat es erwähnt -, ({20}) mit dem Lohnsteuereinbehalt, mit der Ausbildungsplatzförderung, mit der Schiffsbesetzungsverordnung und mit der Schiffssicherheitsanpassung eine komplett neue Struktur erarbeitet. Die Kohl-Regierung hat während ihrer 16-jährigen Amtszeit nicht einmal daran gedacht, dass so etwas zustande kommen könnte. ({21}) Ich komme zum Bereich Häfen, zu dem schon einiges gesagt wurde. ({22}) Hier wollen wir vor allen Dingen die Konkurrenzfähigkeit unserer deutschen Seehäfen erreichen, indem wir Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Markt beseitigen. Wir haben dazu passende Vorschläge gemacht. ({23}) Wir haben im Bereich Werften die Exzellenzstrategie mit der entsprechenden Branche erarbeitet. Wir werden uns auf die Fortsetzung der strategischen Allianz für die Meerestechnik und auf die weitere Unterstützung des Short Sea Promotion Centers konzentrieren. Der Kollege Steenblock hat bereits auf unser Engagement im Bereich der Windenergie hingewiesen. Ich will dazu nichts weiter ausführen, weil er es ausreichend erklärt hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Beckmeyer, kommen Sie bitte zum Schluss.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, am Ende des Tages kann man sagen, dass wir einige Zeit gebraucht haben, um die Fehler der KohlRegierung zu korrigieren und den Standortinteressen gerade der maritimen Wirtschaft im Norden unserer Republik, die keine Regionalfrage darstellen, sondern für die gesamte Ökonomie unseres Staates von höchster Wichtigkeit sind, wieder die Bedeutung beizumessen, die sie verdienen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/5417. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4862 mit dem Titel „Maritimen Standort Deutschland stärken - Innovationskraft nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5099 mit dem Titel „Meer für morgen - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4847 mit dem Titel „Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutschland stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ CSU- und der FDP-Fraktion. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Hans-Joachim Otto ({0}), Daniel Bahr ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes - Drucksache 15/3097 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hans-Joachim Otto von der FDPFraktion das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe nicht maritime Kolleginnen und Kollegen! Die Freiheit und die Unabhängigkeit der Hans-Joachim Otto ({0}) Medien sind Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Demokratie. Ohne Pressefreiheit ist eine freiheitliche Demokratie nicht vorstellbar. Es ist eine der zentralen Aufgaben der Presse, die Politik und die Parteien zu kontrollieren. Jeder von uns weiß, wie zentral wichtig diese Kontrollfunktion ist. Nicht umsonst gibt es den Begriff der vierten Gewalt. Diese wichtige Kontrollfunktion schließt aus, dass diejenigen, die kontrolliert werden sollen - nämlich die politischen Parteien -, wirtschaftliche Macht auf die Kontrolleure - nämlich die Presse ausüben können. ({1}) Geschieht dies dennoch, liegt eine strukturelle Störung der demokratiestaatlichen Funktion der Presse vor. Wir sind der Überzeugung, dass sich die Parteien zur Sicherung der Unabhängigkeit der Medien eine wirtschaftliche Selbstbeschränkung auferlegen müssen. Daher sieht unser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes vor, dass Parteien zukünftig nicht mehr an Rundfunk- und Presseunternehmen beteiligt sein dürfen. Bis zum Jahr 2009 sind Übergangsregelungen für den Abbau bestehender Beteiligungen - diese gibt es nur bei einer Partei - vorgesehen. Neben diesen grundsätzlichen demokratietheoretischen Erwägungen sehen wir eine spezifische Problematik, über die wir heute sprechen müssen. Die Übernahme der „Frankfurter Rundschau“ durch die SPDeigene Beteiligungsgesellschaft DDVG, die vor fast genau einem Jahr erfolgte, ist dabei nur der bekannteste Fall. ({2}) Die SPD ist zurzeit an immerhin 14 Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen und 27 Hörfunksendern beteiligt. ({3}) Hinsichtlich der „Frankfurter Rundschau“ mögen vielleicht noch manche Leser wissen, dass zwar das Wort „unabhängig“ vorne draufsteht, dass die „FR“ aber tatsächlich zu 90 Prozent von der 100-prozentigen SPDTochter DDVG abhängig ist. ({4}) - Lieber Herr Tauss, Sie sollten Ihre Zwischenrufe ein bisschen besser dosieren. Ich will Sie an Ihren Parteifreund Michael Naumann erinnern, der Ihnen noch gut bekannt ist. Er hat nämlich kürzlich in seiner Wochenzeitung „Die Zeit“ geschrieben: „Eine Partei kauft sich ihre Leser.“ Ich meine, die eine Partei kauft sich auch ihre Wähler, und das halte ich für eine sehr problematische Entwicklung. ({5}) Bei vielen anderen Zeitungen, Zeitschriften und auch Radiostationen sind die Eigentumsverhältnisse nicht so bekannt und ich bin davon überzeugt, dass viele Leser und Hörer nicht wissen, dass die SPD an der Zeitung, die sie jeden Tag lesen, oder an dem Radiosender, den sie jeden Tag hören, in einem erheblichen Maße beteiligt ist. Die von der SPD mit herausgegebenen Zeitungen erreichen eine tägliche Auflage von rund 2 Millionen. ({6}) Das Problem ist, dass eine ganze Reihe von Zeitungen in Gebietsmonopolen dazugehört. Es geht meiner Ansicht nach auch nicht darum, ob in der täglichen Redaktionsarbeit Einfluss ausgeübt wird. ({7}) Aber ich erinnere an ein altdeutsches Sprichwort, lieber Herr Tauss, das sogar bei Ihnen in Karlsruhe bekannt ist: Man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Insofern ist die Befürchtung schon sehr groß. ({8}) - Liebe Freunde von der SPD, die lauten Zwischenrufe beweisen, dass hier ein getroffener Hund bellt. ({9}) Sie sollten sich in dieser Debatte ein bisschen zurückhalten. Mir fällt auf, dass sich die Grünen in dieser Sache sehr klug zurückhalten. Das ist offenbar ein Spezifikum der SPD. Es ist unbestreitbar, dass die Gefahr besteht, dass auf Personalentscheidungen Einfluss genommen wird. Die SPD hat nämlich direkten Einfluss nicht nur auf den Geschäftsführer der jeweiligen Organe, sondern sie besetzt auch den Chefredakteursposten. Es ist ja bekannt, welchen starken Einfluss man auf dieser Position auf die tägliche Arbeit hat. Wir Liberale haben zwar generell nichts gegen eine wirtschaftliche Betätigung von Parteien. ({10}) Wenn sie dabei erfolgreich sind, dann sei es ihnen gegönnt. Aber es ist nicht einzusehen, warum sich Parteien ausgerechnet in der Branche betätigen müssen, die eine überaus wichtige Kontrollfunktion hat. Die historische Begründung, die Sie nachher wahrscheinlich anführen werden, ist jedenfalls inzwischen obsolet geworden. ({11}) Wir verkennen nicht - auch das wird wahrscheinlich gleich von Ihnen angeführt werden -, dass es hier verfassungsrechtlich schwierige Fragen gibt. Ich schlage Ihnen deshalb vor: Lassen Sie uns im federführenden Ausschuss und in den mitberatenden Ausschüssen eine Anhörung zu den verfassungsrechtlich relevanten Fragen durchführen! Ich will Ihnen aber eines sagen: Es gibt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in welchem das Verbot von Rundfunkbeteiligungen der Parteien in Niedersachsen für verfassungsgemäß erklärt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat das interessanterweise wie folgt begründet: Die Notwendigkeit dieser Beschränkung liegt darin, dass die Staatsferne und die Überparteilichkeit des Rundfunks gesichert werden müssen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass diese Entscheidung des Hans-Joachim Otto ({12}) Bundesverfassungsgerichts betreffend den Rundfunk nicht in gleicher Weise für die Presse gelten soll. ({13}) Abschließendes Wort. Ich appelliere an Sie, die Sozialdemokraten: Wenn Sie Ihre Beteiligungen an den Presseunternehmen freiwillig veräußerten, dann könnten wir uns den ganzen Spaß hier sparen. Sie sind diejenigen, die einer problematischen Entwicklung weiterhin Vorschub leisten. Ich fordere Sie auf, selbst zu erkennen, welches Problem in der Beteiligung der SPD an Zeitungen besteht. Danke schön. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von der SPD-Fraktion.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP unternimmt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum wiederholten Mal den Versuch, ({0}) die SPD und ihre erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit zu diffamieren, ({1}) die Chancengleichheit der Parteien mit ihren historisch gewachsenen Strukturen der Finanzierung abzuschaffen ({2}) und die SPD erneut zu enteignen. ({3}) Die Novellierung des Parteiengesetzes infolge des CDUSchwarzgeldskandals wurde mithilfe von Sachverständigen vorgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat - auch hier stimmt Ihre Aussage nicht - keine Einwände gegen die Unternehmensbeteiligungen der Parteien und damit auch nicht gegen die der SPD erhoben. Die SPD befolgt die Vorgaben des Parteiengesetzes. Sie hat in ihren Finanzen die größtmögliche Transparenz. Die Rechenschaftsberichte, die Finanzberichte und die Geschäftsberichte der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft, also jenes Unternehmensbereichs der SPD, legen alle Einnahmen und Ausgaben sowie die Beteiligungen uneingeschränkt offen. Die FDP scheint hingegen kein Verfechter der Transparenz zu sein; denn vor Ort in den Bundesländern sind Sie es, die sich weigern, im Impressum von Tageszeitungen die Eigentumsverhältnisse und somit die Beteiligungen offen zu legen. ({4}) Sie haben außerdem wenig Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Sie suggerieren, dass die SPD über ihre Beteiligungen Einfluss auf die Medienberichterstattung nimmt. Dafür können Sie aber keine Beweise oder Belege vorlegen. ({5}) Da Sie wissen, dass Sie für Ihren Gesetzentwurf keine Mehrheit im Bundestag finden, versuchen Sie über die Bundesländer und eine Änderung der Landesmediengesetze - darauf bezieht sich das angesprochene Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Beteiligung an Rundfunkanstalten -, die SPD erneut zu schädigen. Dagegen läuft ein Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, das bislang nicht entschieden ist. In der 14. Wahlperiode wurde eine Kommission zur Reform der Parteienfinanzierung vom Bundespräsidenten einberufen. Diese überparteiliche Kommission und ihr Beirat waren mit Personen besetzt, die sich mit diesem Thema auskannten, praktisch und rechtlich. In den abschließenden Empfehlungen dieser Kommission zu den Beteiligungen von Parteien im Medienbereich heißt es - ich zitiere -: Die Kommission empfiehlt keine gesetzlichen Regelungen zur Begrenzung der unternehmerischen Tätigkeit von Parteien, auch nicht im Medienbereich. Ein etwaiger beherrschender Einfluss von Parteien auf die Presse aufgrund von Beteiligungen im Bereich der Printmedien wäre im Übrigen vorrangig mit den Mitteln und nach den allgemeinen Maßstäben des Kartellrechts und des Presserechts einzudämmen. Dass ein solcher Zustand derzeit von irgendeiner Partei in Deutschland erreicht wäre, ist nicht ersichtlich. Die Möglichkeit der Parteien, an der Entwicklung der neuen Medien teilzunehmen, insbesondere des Internets, sollte nicht beschnitten werden. Daran hat sich auch in der 15. Legislaturperiode nichts geändert. Falls Sie an diesem Thema ernsthaft und objektiv interessiert sind, können und sollten Sie die Ergebnisse der Kommissionsarbeit nachlesen. ({6}) Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die das Grundrecht auf Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit ebenso ausüben wie ihr Grundrecht auf Eigentum. Mit Ihrem Gesetzentwurf schaffen Sie nicht mehr Presse- und Meinungsfreiheit; ({7}) vielmehr wollen Sie damit gezielt eine Partei schädigen, die in ihrer 140-jährigen Geschichte gerade für Meinungsfreiheit, für die Vielfalt und für die Unabhängigkeit der Presse gekämpft hat. ({8}) Ihr Gesetzentwurf ist ein untauglicher Vorschlag, mehr Transparenz, Meinungsvielfalt und Unabhängigkeit in den Medien zu schaffen. Er richtet sich einseitig gegen die SPD und ist ein durchsichtiger Versuch, die Chancen der SPD im Parteienwettbewerb massiv zu schädigen. Wir lehnen diesen verfassungswidrigen Gesetzentwurf ab. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Mantel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hält Anteile an 14 Verlagen, an 30 Tageszeitungen, an 40 Anzeigenblättern und an knapp 30 Hörfunkstationen. Damit erreicht sie mit einer Gesamtauflage von über 6 Millionen Exemplaren 12 Millionen Leser. Um Ihnen dieses Schreckensszenario zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen eine Übersicht zeigen: ({0}) Die pink markierten Felder zeigen die Beteiligungen der SPD. ({1}) - Statt hier herumzuschreien, könnte Herr Tauss diese Übersicht halten. Das wäre eine gute Idee. ({2}) - Ja, das wäre einmal eine tragende Rolle für Herrn Tauss. Um dieser Manipulation ein Ende zu setzen, hat die FDP einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die CDU/CSUFraktion unterstützt diesen FDP-Gesetzentwurf einstimmig. ({3}) Ein Verbot von Medienbeteiligungen von Parteien ist nur zu befürworten. ({4}) - Herr Tauss, schauen Sie es sich nur genau an, damit Sie wissen, woran die SPD überall beteiligt ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich darf Sie einen Moment unterbrechen. Herr Tauss, setzen Sie sich bitte hin und legen Sie das weg! ({0}) Bitte schön, Frau Mantel.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber Sie wissen es ja eigentlich, Herr Tauss, weil bei Ihnen alles angeblich so wahnsinnig transparent ist. Ich muss ganz ehrlich sagen: Jetzt haben Sie es gesehen und jetzt kann die SPD ihre Medienbeteiligungen aufgeben. ({0}) So witzig das Ganze von Ihnen gerade gemeint war: Dieses Thema ist leider viel zu ernst. ({1}) Wie aktuell die Debatte ist, die wir heute führen, konnte man am Montag im „Focus“ lesen. Demnach musste der Chefredakteur der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ nach 16 Jahren vorzeitig seinen Platz räumen, da er mit der Berufung seines Nachfolgers nicht einverstanden war. Das ist auf den ersten Blick vielleicht keine ungewöhnliche Nachricht. Das kann vorkommen. Spannend wird diese Tatsache erst dann, wenn man weiß, dass die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ zu einem Fünftel der SPD-eigenen Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft gehört, der so genannten DDVG. ({2}) Die DDVG griff massiv in die Entscheidung über einen neuen Chefredakteur ein. Sie besetzte den Posten mit einem SPD-nahen Redakteur. ({3}) Der Mitbewerber galt als zu CDU-nah und hatte deshalb keine Chance. Das ist ein völlig inakzeptabler Eingriff in die Entscheidungshoheit einer Redaktion und zeigt, dass die SPD bei Personalentscheidungen gezielt manipuliert. Die Redaktionen werden systematisch so besetzt, dass da nur Genossen sitzen. ({4}) Wie direkt die SPD über die DDVG in die Redaktionen der Zeitungen hineinregiert, zeigt sich auch darin, dass Redakteure in ihren Arbeitsverträgen dazu verpflichtet werden, ({5}) SPD-freundlich zu berichten. ({6}) Die sozial-liberale politische Einstellung, die explizit in jedem Redakteursvertrag der „Frankfurter Rundschau“ steht, ist so ein Beispiel. ({7}) Unsere Demokratie lebt von Meinungsvielfalt und Pressefreiheit. Die SPD zerstört diese durch ihre unsäglichen Unterwanderungen. ({8}) Berühmtestes Beispiel ist die „Frankfurter Rundschau“, an der die DDVG im vergangenen Jahr eine Mehrheitsbeteiligung von 90 Prozent übernommen hat; der Kollege Otto hat es bereits angesprochen. ({9}) So ist die „Frankfurter Rundschau“ zu einem Kampfblatt der SPD geworden. ({10}) Kann es richtig sein, dass in einem demokratischen Rechtsstaat eine Partei umherzieht und Zeitungen aufkauft, gerade wie es ihr gefällt? ({11}) Ich meine: Nein. ({12}) Eine weitere Strategie der SPD zielt darauf ab, regionale Meinungsführerschaften zu gewinnen. Anfang 2003 kaufte die DDVG beispielsweise dem Süddeutschen Verlag seinen Anteil von 70 Prozent an der „Frankenpost“ in Hof ab und besaß somit 100 Prozent. Wer wie ich aus Franken kommt, der weiß, dass die „Frankenpost“ in der Stadt und im Landkreis Hof die einzige lokale Tageszeitung ist. ({13}) Gemeinsam mit der „Neuen Presse“, Coburg, kommt die SPD bei den Lokalzeitungen in Oberfranken auf einen Marktanteil von über 70 Prozent. Dadurch werden gezielt Monopolregionen gebildet. Die Realität ist doch bereits heute so, dass es in vielen unserer Landkreise nur noch eine einzige lokale Tageszeitung gibt. Wenn diese einzige lokale Tageszeitung der SPD gehört, dann besitzt diese nicht nur das Zeitungs-, sondern auch - das finde ich viel schlimmer - das Meinungsmonopol in dieser Region. ({14}) Die Freiheit von Rundfunk und Presse ist ein Wert, der nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist. Das ist etwas, was wir in Deutschland Gott sei Dank wieder haben. Die Freiheit von Rundfunk und Presse bedeutet auch Kontrolle staatlichen Handelns. Kontrollieren kann aber nur, wer unabhängig ist. ({15}) Finanzielle Abhängigkeit von einer Partei zerstört die Kontrollfunktion. Übernimmt eine Partei eine Zeitung auch noch in einer finanziell angeschlagenen Situation, wie das beispielsweise bei der „Frankfurter Rundschau“ war, ist die Abhängigkeit natürlich unermesslich. Ich erinnere mich noch gut an den 3. August im letzten Jahr. Da hat die „Frankfurter Rundschau“ an einem einzigen Tag einmal ihre Maske fallen lassen. Da stand nämlich statt „Unabhängige Tageszeitung“ „Abhängige Tageszeitung“ als Unterüberschrift. Ich möchte mich heute bei dem bedanken, der das veranlasst hat. ({16}) Er hat die Wahrheit in Druck gegeben und hat den Mut bewiesen, die SPD-Repressalien nicht länger stillschweigend zu erdulden. ({17}) Da wir schon beim Thema Wahrheit sind: Es mutet, gelinde gesagt, schon etwas merkwürdig an, wenn sich ausgerechnet die rot-grüne Regierung, die die Kennzeichnungspflicht bis zum Exzess betreibt, weigert, ihre roten Produkte zu kennzeichnen. ({18}) Angeblich ist Ihrer Regierung der Verbraucherschutz so wichtig. Alle Lebensmittelprodukte müssen über Gebühr gekennzeichnet sein. Verträge müssen bis ins Letzte so gekennzeichnet sein, dass sie nicht diskriminieren. Sie haben also eine wahre Kennzeichnungswut. Nur rot gefärbte Informationen müssen nicht gekennzeichnet sein. ({19}) Hier möchte ich dringend an den von Ihnen so viel beschworenen Verbraucherschutz appellieren. Auch hier zeigt sich mal wieder: Sonntagsreden der rot-grünen Regierung in jedem Politikbereich. ({20}) Woher beziehen die Bürger in unserem Land ihre Informationen? Natürlich aus den Medien und besonders aus den Printmedien. Unsere Bürger verlassen sich auf die Informationen. Das müssen sie auch. Wenn man früh die Zeitung liest, hat man nicht die Möglichkeit, jeden Artikel noch einmal gegenzuprüfen. ({21}) Nicht umsonst sagt man: Das habe ich schwarz auf weiß gelesen. Wenn die Bürger aber nur auf Medien zurückgreifen können oder zurückgreifen müssen, ({22}) die von Parteien über verwobene Beteiligungen gehalten werden, dann kann man doch nicht allen Ernstes davon sprechen, dass hier noch freie Meinungsbildung gewährleistet wird. Denn das ist doch der springende Punkt in dieser Debatte: Darf jemand eine Zeitung besitzen, der eigentlich der Kontrolle durch die Presse ausgesetzt sein müsste? ({23}) Die SPD missbraucht so das Vertrauen der Leser, die sich in einer Zeitung informieren wollen und darauf vertrauen, dass die Informationen in ihrer Zeitung stimmen. ({24}) Ein besonderes Vertrauen haben die Menschen in ihre Lokalzeitung. Die Lokalzeitungen sind die meistgelesenen Presseprodukte. Deshalb finde ich es besonders perfide, dass sich die SPD hauptsächlich in Lokalzeitungen einkauft. ({25}) Sie geben ja auch offen zu, dass Sie mit Ihren Beteiligungen den Inhalt bestimmen. Ihre Schatzmeisterin - sie werden wir ja nachher noch hören -, Frau WettigDanielmeier, ({26}) sagt - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: ({27}) Auch dort, wo wir nur 30 oder 40 Prozent haben, kann in der Regel nichts ohne uns passieren. Ich glaube, diese Aussage spricht für sich, Frau WettigDanielmeier. Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen Tipp geben, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie auch ohne finanziellen Einsatz die Titel aller Tageszeitungen beherrschen können. Geben Sie einfach eine Pressemitteilung heraus, in der steht: SPD trennt sich von all ihren Medienbeteiligungen. Herzlichen Dank. ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich aufgewachsen bin, bin ich, als ich einmal in Berlin war, auf die Straße gegangen mit dem Slogan: Enteignet Springer! Es gab einen guten inhaltlichen Grund dafür. ({0}) Angesichts der Medienlandschaft, die Sie in Ihrem Antrag beschreiben, habe ich mich gefragt, welche Zeitung ich jeden Tag lese und wo ich überhaupt lebe. ({1}) Die Frau Kollegin Mantel aus Bayern, CSU-Mitglied und auch irgendwie Journalistin, ({2}) möchte mir hier offensichtlich erläutern, dass die Medienvielfalt in Bayern sichergestellt sei. Ich könnte hier genauso wie Sie eine Liste aufstellen und Ihnen darlegen, in wie vielen Bereichen das nicht stimmt. ({3}) Dass hier der „Bayernkurier“ als Organ der Pressefreiheit dargestellt wurde, ({4}) zeigt doch, wie absurd diese Debatte ist. ({5}) Herrn Kollegen Otto möchte ich sagen: Wir haben hier in diesem Hause einmal eine seriöse Debatte über das Problem der Medienbeteiligungen von Parteien geführt. An dieser Debatte war unter anderem Herr HansDietrich Genscher beteiligt. Vielleicht sollten Sie einmal nachlesen, welch kluge Dinge Herr Genscher damals zu dieser Problematik gesagt hat ({6}) und zu welcher Empfehlung er damals gekommen ist. ({7}) Wir setzen uns - darin sind wir uns einig - für eine vielfältige Presselandschaft und für Vielfalt in den Medien ein. Herr Genscher hat damals zu Recht angeregt, im Kartellrecht etwas zu ändern. Es ist damals zu Recht anSilke Stokar von Neuforn geregt worden, dass im Impressum der Zeitung alle Beteiligungen, also nicht nur Beteiligungen von Parteien, sondern auch wirtschaftliche Verflechtungen, öffentlich und transparent gemacht werden. Aber diese Form von Transparenz, die wir damals gefordert haben, ist hier unter anderem auch von der FDP-Fraktion abgelehnt worden. ({8}) Ich will hier auch gar nicht darüber reden - obwohl ich mich sehr gut daran erinnere -, dass es eine Freundschaft zwischen einem Herrn Bundeskanzler Kohl und einem Leo Kirch gegeben hat. In diesem Fall konnte man doch von Medienkonzentration sprechen. ({9}) Lassen Sie mich hier auch etwas zur historischen Entwicklung der Sozialdemokratie ({10}) ich denke, das ist ein sehr ernstes Thema - und der Medienlandschaft in Deutschland sagen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. ({0}) Meine Damen und Herren, es gab Zeiten in diesem Deutschland, da hatten Abgeordnete aus der Sozialdemokratie nicht den Hauch einer Chance, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit in einem bürgerlichen Beruf oder in der Wirtschaft zu verdienen. ({1}) Mit diesen Journalisten und Schriftstellern begann die Verflechtung von Sozialdemokratie und Medien. Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass nach dem Ende des Faschismus - wir haben hier viele Reden dazu gehalten - die Alliierten sehr bewusst Widerstandsleute aus der SPD geholt haben, dass sie diesen Leuten zugetraut haben, in Deutschland eine demokratische Presse aufzubauen. ({2}) Das sind die historischen Gründe für die besondere Verflechtung zwischen der Sozialdemokratie und den Medien, ({3}) Gründe, die damals, als seriös in einer Kommission über das Thema geredet wurde, gewürdigt worden sind. Ich nehme die SPD in Schutz, weil die Sozialdemokratie einen Beitrag dazu geleistet hat, gegen die rechte Pressekonzentration ein inhaltliches Gegengewicht zu setzen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie ihr vorzuwerfen versuchen. Die SPD hat einen großen Beitrag in Deutschland dazu geleistet, dass wir in der Presselandschaft eine demokratische Vielfalt haben. ({4}) Und die FDP stellt sich hier hin und fordert ein Totalverbot der Beteiligung von Parteien an Medien. Sie wissen doch, dass es entsprechende Verfassungsgutachten gibt, dass damals in der Kommission - unter Ihrer Beteiligung - Gutachten erstellt worden sind. Wenn Sie hier heute einen Antrag auf Totalverbot stellen, dann ist das purer Populismus. ({5}) Ihnen geht es darum, die SPD anzugreifen; Ihnen geht es nicht um Pressefreiheit. Sie wissen sehr wohl, dass Ihr Antrag verfassungswidrig ist. ({6}) Wir sind bereit - ich muss zum Schluss kommen -, eine Anhörung dazu zu machen, wie wir Medienvielfalt, Medienfreiheit und Pressefreiheit in Deutschland weiter stärken können. Dazu gehört auch, dass die Journalisten, die zum Beispiel für große Zeitungen als freie Journalisten arbeiten, offen legen, von wem aus der Wirtschaft sie sonst noch bezahlt werden. Wir haben zum Beispiel eine Rußfilterdebatte in den Medien gehabt, die gezielt zur Verhinderung einer wichtigen Innovation geführt hat. ({7}) Die Journalisten, die sich an der Diffamierung von Rußfiltern wesentlich beteiligt haben, hatten auch Verbindungen zu Autokonzernen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Thema haben Sie verfehlt. Pressefreiheit und Pressevielfalt sind mit uns zu machen, aber nicht auf diese populistische Art und Weise, wie Sie das hier heute versuchen. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge WettigDanielmeier von der SPD-Fraktion.

Inge Wettig-Danielmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002491, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie ernst sind politische Initiativen einer Partei und einer Parlamentsfraktion zu nehmen, die wenige Tage nach einem Parteitag offen gegen Erklärungen dieses Parteitags verstoßen? ({0}) Die FDP hat sich auf ihrem Parteitag zur Rechtsstaatspartei ernannt. ({1}) Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Parteiengesetzes verstößt sie ohne jedes Bedenken gegen eine wichtige Bestimmung des Grundgesetzes. ({2}) - Nein, wir haben Grundrechte, wie Sie auch. ({3}) Sie verletzen das Grundrecht, dass kein Eigentum auf der Grundlage eines Einzelfallgesetzes entzogen werden kann. ({4}) - Dies ist ein Einzelfallgesetz. Es gehört viel verfassungsrechtliche Blindheit dazu, ausschließlich unsere Grundrechte im Feld wirtschaftlicher Tätigkeit beseitigen zu wollen ({5}) und dabei völlig zu übersehen, dass das nur mit einem Einzelfallgesetz möglich ist. Ich möchte es nicht bei diesem prinzipiellen, verfassungsrechtlichen Einwand belassen. Ich möchte ebenfalls den politischen Hintergrund ausleuchten, auch wenn Sie sich darüber mokieren. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen des Hauses zu verstehen, dass wir Sozialdemokraten auf jeden offenen und versteckten Enteignungsversuch empfindlich reagieren. ({6}) - Das gilt für jede Partei. Aber wir wollen Sie ja auch nicht enteignen. Wir sind dreimal enteignet worden. Die deutschen Sozialdemokraten sollten mit dem Sozialistengesetz wegen ihres Kampfes für politische und soziale Grundrechte im Kaiserreich vernichtet werden. Die Partei ist damals nicht untergegangen. Aber sie verlor ihr Eigentum - entschädigungslos. Noch härter trafen sie die Verfolgung und das Verbot durch das nationalsozialistische Deutschland. ({7}) Es ist richtig: Es hat dafür nach 1945 Wiedergutmachung gegeben. Aber diese Entschädigung hat bei weitem nicht die verloren gegangenen Werte ersetzt. ({8}) Durch die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED wurde uns die Nutzung unseres Eigentums in der SBZ bzw. in der DDR für 50 Jahre entzogen. Es gab also eine dritte Enteignung in einem Teil Deutschlands. Der finanzielle Ausgleich, der geflossen ist, konnte die tatsächlichen Verluste bei weitem nicht ersetzen. ({9}) Es mag sein, dass für eine Partei, die erst knapp 60 Jahre besteht, diese Argumente unbeachtliche historische Reminiszenzen sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss? ({0})

Inge Wettig-Danielmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002491, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Wettig-Danielmeier, würden Sie mir bestätigen, dass ein Großteil der Beteiligungen, die uns vorhin durch unsere Kollegin Mantel auf dem Transparent vorgestellt worden sind, genau die Beteiligungen umfassen, die nach der Zeit des nationalsozialistischen Unrechts und nach dem Ende der SED-Diktatur zurückgegeben wurden? ({0})

Inge Wettig-Danielmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002491, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich konnte diese Übersicht leider nicht genau studieren. Sie enthält eine Reihe von Fehlern. Ich kann Ihre Aussage im Moment weder bestätigen noch dementieren. ({0}) - Wenn Sie das so genau gelesen haben, dann wird es schon stimmen. ({1}) Wir hatten in unserer 142-jährigen Geschichte immer Medien. Wir haben unser Medieneigentum über die Katastrophen der deutschen Geschichte hinaus bewahrt. Wir waren in der Lage, uns unternehmerisch dem wirtschaftlichen und technologischen Wandel im Mediensektor anzupassen. ({2}) Wir haben - das müssen Sie sich auch einmal sagen lassen - durchweg Minderheitsbeteiligungen. ({3}) - Lassen Sie mich darauf antworten. Wir haben keine Beteiligungen in Höhe von 100 Prozent. Die haben wir nur beim „Vorwärts“ und nirgendwo anders. Sie sollten sich genauer informieren, ehe Sie Ihre Reden halten. ({4}) Wir haben die journalistische Freiheit immer gewahrt und ihre Chancen gefördert. ({5}) Das tun wir auch in Frankfurt, und zwar kontrolliert durch die hessische Landesregierung, ({6}) die uns durch die Stiftungsaufsicht des Landes Hessen - das ist einmalig unter unseren Beteiligungen - auferlegt hat, eine unabhängige linksliberale Zeitung zu garantieren. ({7}) Das tun wir sonst nirgends. ({8}) Wir haben, wie Sie sehr wohl wissen, eindeutig gesagt, dass wir nach der Sanierung die Minderheitsbeteiligung an der „Frankfurter Rundschau“ anstreben und nicht bei der 90-prozentigen Beteiligung bleiben wollen. Sie haben sich auch in Bezug auf Hof nicht sorgfältig genug erkundigt. Wir haben für die Zeitung in Hof - da haben Sie Recht - für zwei Jahre eine Beteiligung von 100 Prozent übernommen, weil die „Süddeutsche Zeitung“ in Schwierigkeiten gekommen war und kartellrechtliche Probleme sie daran gehindert haben, einen zusätzlichen Gesellschafter aufzunehmen, der die Sanierung hätte garantieren können. ({9}) Wir haben die Beteiligung in Hof inzwischen wieder zurückgegeben. Das ist kartellrechtlich ein Problem; das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie werden natürlich lebhaft bestreiten, dass Sie den Entwurf eines Enteignungsgesetzes vorgelegt haben. ({10}) Wer die in diesem Gesetzentwurf genannten Fristen betrachtet - sie sind zum Teil schon abgelaufen -, wird mir zustimmen: In diesen Zeiträumen können Unternehmensbeteiligungen nur unter hohen Verlusten verkauft werden. ({11}) Ich nehme an, dass einige Freie Demokraten dies auch so wollen. ({12}) Die deutliche finanzielle Schwächung der SPD ist ein beabsichtigter Kollateralschaden. ({13}) Ich kann auch nicht ausschließen, dass Sie verdeckt Interessen von Medienkonzernen verfolgen, ({14}) die unser Medieneigentum seit langem interessiert umkreisen. Müssten wir verkaufen, könnten diese Interessenten zugreifen; sie müssten es sogar. Ihren Gesetzentwurf könnten wir deshalb durchaus wie ein verdecktes Pressekonzentrationsfördergesetz wirken lassen. ({15}) Den i-Punkt auf Ihre verdeckten Absichten setzt Ihre Behauptung in der Gesetzesbegründung, dass durch die Annahme Ihrer Vorschläge keine Mehrkosten entstehen. Selbstverständlich müssten die Enteignungen entschädigt werden; ({16}) denn nach wie vor, geschätzte Fraktion einer Rechtsstaatspartei, gilt Art. 14 des Grundgesetzes. ({17}) Wir werden also die Ausschussberatungen zu einem - ich weiß nicht, wievielten - historischen und verfassungsrechtlichen Repetitorium benutzen. ({18}) Vielleicht hilft Ihnen dies, von der selbst ernannten zur realen Rechtsstaatspartei zu werden. Diese Mühen würden wir nicht scheuen, um Ihnen dabei zu helfen, sich von der Spaßpartei endlich zu einer Nachdenkpartei zu entwickeln. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 15/3097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung auch so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so- wie Zusatzpunkt 7 auf: 12 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Berg, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck ({1}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kooperation von Bund und Ländern in der Hochschulpolitik verstärken - Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland beschleuni- gen - Drucksache 15/5465 - b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Realisierung der Ziele des Bologna-Prozesses - Drucksache 15/5286 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewährleisten Länderkompetenzen beachten - Drucksache 15/5449 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick.

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Vormittag hatten wir eine wichtige Stunde für Europa. Die europäische Verfassung ist eindrücklich durch den Deutschen Bundestag bestätigt worden. Heute Abend beschäftigen wir uns wieder mit einem europäischen Thema. Allerdings ist meine Sorge, dass wir an die Qualität des Vormittags nicht heranreichen werden, weil der Antrag, der uns von der Union vorliegt, nur in einem Satz zu unterstützen ist. Diesen darf ich zitieren. In dem Antrag der Union zum Bologna-Prozess wird formuliert: Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses und der enge Zeitrahmen zur Umsetzung erfordern … auch in Zukunft eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Diese Zusammenarbeit kann nur auf der Basis gegenseitigen Vertrauens geschehen. Ich will an dieser Stelle sagen: Diese Position unterstützen wir ausdrücklich. Allerdings macht der dann folgende Text des Antrages nicht so recht deutlich, ob der eben zitierte Satz auch wirklich ernst gemeint ist, weil dieser Text in eine andere Richtung geht. Der Bologna-Prozess ist eines der wichtigsten Themen für unsere Hochschulen. 1999 haben die Minister in Bologna diesen Prozess in Gang gesetzt. Die Universitäten in Europa befinden sich seitdem in dem wahrscheinlich größten Veränderungsprozess ihrer Geschichte. Wichtig ist: Deutschland begreift zunehmend, wie ich hoffe, dass die Umstellungen unserer Universitäten und Hochschulen im Rahmen des Bologna-Prozesses eine wirklich nationale Aufgabe sind und von kleinstaatlichem Denken nicht wirklich befördert werden. Es ist eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern notwendig. Wir stehen unmittelbar vor der Bergen-Konferenz, einer Folgekonferenz, die eine Zwischenbilanz ziehen wird. Über diese Zwischenbilanz gibt ein Bericht AusParl. Staatssekretär Ulrich Kasparick kunft, der interessanterweise und, wie ich finde, erfreulicherweise gemeinsam von Bund und Ländern formuliert worden ist. ({0}) Es ist gelungen, diesen Zwischenbericht gemeinsam zu erstellen. Ich habe selber Gelegenheit gehabt, bei der Bildungsministerkonferenz in Brüssel, bei der ich Deutschland zu vertreten hatte, diese Position zu überreichen. Das war eine schöne Situation, weil die anderen europäischen Staaten wahrgenommen haben, dass Bund und Länder in dieser wichtigen Frage auch einmal gemeinsam agieren können. Wichtig ist, dass wir an dieser Zusammenarbeit festhalten. Wir machen uns allerdings große Sorgen, ob diese große Gemeinsamkeit, die wir im Bologna-Prozess bisher hatten, auch künftig gehalten werden kann. Sie wissen, dass der Bund die Universitäten bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses unterstützen wollte. Es gibt leider zurzeit Klagen aus Hessen. Die Eilklage ist abgewiesen. Die Begründung der neuen Klage haben wir noch nicht gelesen. Das Ziel dieser Veranstaltung besteht offensichtlich darin, den Bologna-Prozess zu verlangsamen. ({1}) Das kann nicht im Interesse Deutschlands sein. Im Übrigen wundert mich, Herr Rachel, wie sich in diesem Antrag Bundespolitiker als Landespolitiker gerieren. ({2}) Bundespolitiker stellen hier einen Antrag im Interesse der Länder. Ich weiß nicht recht, wo Sie sich selber politisch einordnen. Wenn Sie Landespolitik machen wollen, dann sollten Sie das im Landtag tun, aber nicht im Deutschen Bundestag. ({3}) Wenn wir über ein so wichtiges Thema wie den Bologna-Prozess reden, wünschte ich mir - ich bin da mit den Mitarbeitern im Hause und mit der Fraktion sehr einig -, dass wir an dem guten Stand, den wir in den gemeinsamen Bemühungen von Bund und Ländern im BolognaProzess bisher hatten, im Interesse unserer Hochschulen festhalten. ({4}) Ich kann überhaupt nicht verstehen, weshalb Sie neuerdings diese Rolle rückwärts versuchen, indem Sie sagen, möglicherweise sollen sogar die Länder in Europa verhandeln. Ich kenne diese Verhandlungen. Ich wünsche da viel Glück. Sie haben zwei Minuten Redezeit für 16 Länder. Da werden Sie ausführlich argumentieren können. Wir kommen glücklicherweise in Deutschland voran. Ich will Ihnen kurz ein paar Reformen nennen, die im Zusammenhang mit der Internationalisierung wichtig sind. Wir haben mit der BAföG-Reform sichergestellt, dass Studierende den Schritt ins Ausland leichter gehen können. Im Jahr 2003 haben 16 000 BAföG-Empfänger ein Auslandssemester eingelegt. ({5}) Das ist ein Anstieg von 70 Prozent innerhalb von drei Jahren. Das ist der richtige Weg. Wir wollen, dass junge Leute sich selbstverständlich in Europa ausbilden lassen. Die OECD-Studie „Education at a glance“ zeigt, dass Deutschland in Europa mittlerweile den zweiten Platz als Zielland für Studierende belegt. Eine viertel Million Studierende aus dem Ausland waren im Wintersemester 2003/2004 an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Deutschland wird international attraktiver. Dem soll auch die Exzellenzinitiative dienen. Wir wollen unsere Hochschulen noch attraktiver machen. Wir wollen die Spitzenleistungen, die wir haben, in Europa noch sichtbarer machen. Deswegen appelliere ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich an die Länder, endlich ihre unsägliche Blockadehaltung bei diesem Projekt aufzugeben. ({6}) Bei Studienleistungen und -abschlüssen sind wir gut vorangekommen. Die Akkreditierungssysteme funktionieren. Wir sind darauf angewiesen, dass wir noch an Tempo zulegen. Dazu ist - Herr Rachel, da appelliere ich einfach an Ihre Vernunft als Forschungspolitiker; ({7}) ich weiß, dass das zu später Stunde bei diesem Thema ein schwieriges Unterfangen ist - eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern erforderlich, um den hohen Standard, den wir in Europa haben, halten und ausbauen zu können. ({8}) Verlassen Sie den Weg der Kleinstaaterei! Ziehen Sie Ihren Antrag zurück! ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Kollege Rachel erhält jetzt das Wort.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Woche vor der in Bergen stattfindenden Bologna-Nachfolgekonferenz stellen wir fest: Insgesamt ist der Bologna-Prozess eine Erfolgsgeschichte. Insbesondere die unter der christlich16486 liberalen Regierung begonnene Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge ist auf gutem Wege. Mittlerweile machen diese Studiengänge über ein Viertel des gesamten Studienangebots aus. Ich denke, über die Ziele der Schaffung eines einheitlichen europäischen Wissenschaftsraums und einer größeren Mobilität der Studierenden in Europa besteht zwischen allen Fraktionen Einigkeit. Verantwortlich für die Umsetzung der Bologna-Ziele sind die Bundesländer. Die meisten von ihnen haben die Bachelor- und Masterstudiengänge bereits in ihren Landeshochschulgesetzen verankert. Förderprogramme und Modellversuche wurden bislang einvernehmlich zwischen Bund und Ländern in der BLK begleitet. Nun jedoch hält Bundesbildungsministerin Bulmahn den Ländern einen vergifteten Apfel hin: ({0}) Mit Bundesmitteln in Höhe von 4 Millionen Euro will sie über die Hochschulrektorenkonferenz ein Konferenzzentrum für die Bologna-Reform einrichten. Auch wenn dieser Vorschlag auf den ersten Blick verführerisch erscheint, ist er ein klarer Verstoß gegen die Aufgabenverteilung des Grundgesetzes. ({1}) Eine Rücksprache mit den Bundesländern ist nicht erfolgt. Dabei sind gerade die Einrichtung und Ausgestaltung von Studiengängen und Studienabschlüssen sowie die Finanzierung dieser Vorhaben eine Kernaufgabe der Bundesländer. ({2}) Wieder plant Bildungsministerin Bulmahn, die Länderzuständigkeit im Hochschulbereich auf kaltem Wege auszuhebeln. ({3}) Dabei sind Sie gerade erst mit dem Verbot von Studiengebühren und bei der Einführung der Juniorprofessur vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. ({4}) Nun droht Ihnen die nächste Niederlage. Das Land Hessen hat gegen Ihr Bundesprogramm Klage eingereicht. ({5}) Ich will klarstellen: Die Landesregierung von Hessen hat sich damit nicht gegen die Einführung von Bachelorund Masterabschlüssen gewandt. ({6}) Im Gegenteil: Das Bundesland Hessen hat die meisten akkreditierten Bachelor- und Masterstudiengänge. Ihre Anzahl hat sich in Hessen von 1999 bis 2003 versechsfacht. Da werden Sie blass. Aber wie sieht die Realität im rot-grün regierten Land Nordrhein-Westfalen aus? Die dortige Wissenschaftsministerin Kraft hat im Februar 2002 einen Erlass herausgegeben, in dem sie eindeutig festlegt, dass künftig nur noch ein Anteil von 20 Prozent des Lehrangebots an Universitäten und ein Anteil von 10 Prozent an den Fachhochschulen für das konsekutive Masterstudium zugelassen werden sollen. ({7}) Folge dessen ist: Nur etwa 50 Prozent der Bachelorstudenten werden zum Masterstudium zugelassen, an den Fachhochschulen sogar nur ein Drittel. Das verstehen Sie unter Durchlässigkeit. Meine Damen und Herren, das ist - gelinde gesagt - eine Frechheit. Anders kann man das nicht bezeichnen. ({8}) Die von Frau Kraft in diesem Erlass der nordrheinwestfälischen Landesregierung vorgesehene Quotierung, ja Kontingentierung der Masterstudiengänge war und ist im Bologna-Prozess nicht vorgesehen und schon gar nicht gefordert. ({9}) Dieser Erlass, in dem die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf derartige Kontingente festlegt, widerspricht eindeutig der Hochschulautonomie. Diese Einschränkung der Wahlfreiheit erfolgt ohne erkennbare Rechtsgrundlage. In § 19 des Hochschulrahmengesetzes sind die neuen Studiengänge keinen Einschränkungen unterworfen. Die Möglichkeit der Weiterqualifizierung darf dem Bachelor nicht entzogen werden. Das müssen wir ernst nehmen. Durch Ihr Vorgehen sinkt die Attraktivität der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge. Das verträgt sich überhaupt nicht mit den Leitlinien des Bologna-Prozesses, nach denen bis zum Jahre 2010 alle Studiengänge in Bachelor- und Masterstudiengänge überführt werden sollen. Wer den Masterstudiengang kontingentiert, der zerschlägt den Aufbau der neuen, modularisierten Studienstruktur. Das wollen wir nicht. ({10}) Aber so sieht die Realität aus. Das ist die Konsequenz der rot-grünen Hochschulpolitik, sowohl in NordrheinWestfalen als auch in anderen rot-grün regierten Bundesländern. ({11}) Meine Damen und Herren, wir müssen für die Bachelor- und Masterstudiengänge gemeinsam noch einiges tun. ({12}) Es gibt noch Probleme im Bereich der Studienangebote - hier sind die Unternehmen gefordert - und hinsichtlich der Akzeptanz der Studierenden. Immerhin haben sich 83 Prozent der Unternehmen, der Konzerne in Deutschland bei einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft dafür ausgesprochen, Bachelorabsolventen einzustellen. Die Stimmungslage bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen ist allerdings noch diffus. Dies kann uns nicht zufrieden stellen. Auch war bei einem Viertel der Studienanfänger im Jahre 2004 der Studienwunsch in Richtung Bachelor noch nicht vorhanden. Dies zeigt: Wir brauchen eine strategische Allianz zwischen Hochschulen, Berufs- und Arbeitgeberverbänden sowie öffentlichen und privaten Arbeitgebern, um ein gemeinsames Bündnis für Bachelor und Master zu schmieden. Lassen Sie mich abschließend sagen: Die CDU/CSUBundestagsfraktion begrüßt den Bologna-Prozess. Wir fordern, dass er weiter vorangetrieben wird, dass aber auch die Qualität der neuen Studienfächer und Studiengänge abgesichert wird. Deshalb fordern wir von der Bundesregierung eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und eine Abstimmung mit den Bundesländern. Hier können Bundesländer und Bundesregierung nur gemeinsam arbeiten. Was wir nicht brauchen, ist ein Dirigismus und eine Profilierungssucht der Bundesregierung auf Kosten der Länder. Wir brauchen Gemeinsamkeit und dazu fordern wir Sie hiermit auf. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Lazar.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wissen macht nicht an Landesgrenzen Halt. International, flexibel, mobil, so soll unsere Studienlandschaft aussehen. Qualität, Modernisierung, Transparenz, das macht unsere Hochschulen wettbewerbsfähig in der Welt. Zusammen mit unseren europäischen Nachbarn wollen wir mit dem Bologna-Prozess bis 2010 einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum schaffen. Wettbewerb um die besten Köpfe bedeutet nicht, Marktinteressen über alles andere zu stellen. ({0}) Bildung ist ein öffentliches Gut. Vorbei sind glücklicherweise die Zeiten der Klassentrennung, als sich arme Familien für ambitionierte Kinder die Bildung vom Mund absparen mussten. Wissen darf nicht wieder zur Ware werden, die keinen anderen Wert als den Geldwert kennt. Nicht dass Sie mich missverstehen: Wir begrüßen neue, internationale Angebote und Ansätze im deutschen Bildungssystem. Wir treten grundsätzlich für die Öffnung des Bildungssektors für private Anbieter ein: So kann viel Innovatives ins Rollen gebracht werden. Dabei steht aber für Bündnis 90/Die Grünen Qualitätssicherung im Vordergrund. ({1}) Qualität kann nur gesichert und gesteigert werden, wenn das Akkreditierungssystem für die Studiengänge noch verbessert wird. Ohne verbindliche qualitative Standards können Studienleistungen nicht verglichen werden. Die verbesserte Vergleichbarkeit von Studienleistungen sollte zu erhöhter Durchlässigkeit führen, nicht nur im Hochschulbereich allein, sondern im gesamten Bildungssystem. Wer von uns würde schon für einen Bildungsabschnitt ins Ausland gehen, wenn er keine Zusage hätte, dass diese Phase auch in Deutschland anerkannt wird? Würde Herr Koch das tun? Wahrscheinlich nicht. Dennoch machen Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, mit Ihrem Antrag zum Erfüllungsgehilfen von Roland Koch. ({2}) Ich sage Ihnen, wohin das führt: zu Kleinstaaterei statt Europa. Der Föderalismusstreit ist ein großes Hindernis auf dem Weg zu einer attraktiven europäischen Wissenschaftslandschaft. Dass dadurch auch moderne Arbeitsplätze entstehen würden, interessiert Sie bei Ihren machttaktischen Spielchen wohl weniger. Bei Arbeitgebern und Studienabgängern führt diese Haltung zu Verunsicherung. Für Bachelor- und Masterstudiengänge beispielsweise fehlen verbindliche Qualitätsrichtlinien. Die gegenseitige Anerkennung dieser Studiengänge wollen wir sicherstellen. Außerdem zeigt ein Blick auf die Qualifikationsstufen, dass die Zahl der Frauen auf dem Weg nach oben immer geringer wird. ({3}) Deshalb müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass die Stufe zwischen Bachelor und Master nicht zu einer weiteren Hürde wird. Das Gleiche gilt für finanziell schwächere Studierende. Das bringt mich zur sozialen Dimension des Bologna-Prozesses: Weshalb nehmen viele Studierende heute kein Auslandsstudium auf? Weil ihnen die finanzielle und soziale Absicherung fehlt. Im Bologna-Prozess sollen solche Barrieren verschwinden. Wir wollen die Mobilität von der europäischen Ebene aus für alle Studierenden sichern, ganz egal, aus welchem Land sie kommen. Die Bundesregierung hat mit der BAföG-Reform in der letzten Legislaturperiode die Weichen bereits richtig gestellt. Deutsche Studierende können ihr BAföG viel leichter als früher mit ins Ausland nehmen. ({4}) Jede Form von sozialer Auslese im Bildungssystem muss endlich beseitigt werden. Alle Menschen, nicht nur die Besserverdienenden, sollen die Chance haben, ihre Talente zu verwirklichen. ({5}) Wir müssen so viele Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland ausbilden, wie unser Land braucht. Das wird aber erst möglich, wenn die Hürden für den Hochschulzugang geringer werden. Mit unserem Koalitionsantrag werden die notwendigen Schritte klar benannt. Wir wollen Vergleichbarkeit und Transparenz im europäischen Hochschulraum schaffen, ohne die Vielfalt an akademischen Bildungsmöglichkeiten einzuschränken. Dazu gehört auch die fachkundige Beratung, die das Bologna-Kompetenzzentrum anbieten soll. Mit großem Interesse und reger Nachfrage haben Hochschulen und Universitäten bei der Umstellung auf die gestufte Studienstruktur auf diese Hilfe reagiert. Wir bekräftigen unser Interesse an bundesweiter Koordination auch mit finanzieller Unterstützung aus dem Bundeshaushalt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bologna-Prozess ist eine riesige Chance für alle deutschen Hochschulen und Studierenden. Wenn wir uns den globalen Herausforderungen der Wissensgesellschaft stellen, können wir im europäischen Verbund wieder Weltspitze werden. ({6}) Das Modell der Kleinstaaterei hat ausgedient. Die Zukunft der Bildung liegt in Europa. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Hinblick auf die dritte Bologna-Nachfolgekonferenz am 19. und 20. Mai 2005 in Bergen ist es sinnvoll, dass sich der Bundestag mit dem Stand und dem weiteren Fortgang des Bologna-Prozesses beschäftigt. Ich will hier einmal festhalten: Ich finde, die Tatsachen, dass dies heute der letzte Tagesordnungspunkt ist ({0}) und dass ich, Herr Küster, für meine Fraktion nur drei Minuten zu diesem Thema reden darf, sind keine guten Zeichen für Europa und für das Thema Bildung und Forschung. ({1}) Ich denke, wir sollten uns einig darin sein, dass das Thema Bildung und Forschung die Zukunftsfähigkeit unseres Landes unter Beweis stellen wird. Deswegen müssten wir das eigentlich zum Kernthema dieser Bundestagssitzung machen. ({2}) - An Ihrem lauten Schreien höre ich schon, dass es Ihnen gar nicht mehr um die Sache geht. ({3}) Meine Damen und Herren, der Bologna-Prozess ist wichtig. Ziel war die Schaffung eines europäischen Hochschulraums - den wir natürlich unterstützen -, in dem die verbindliche Einführung der gestuften Bachelor- und Masterstudiengänge und ein europaweit gültiges Punktesystem für erbrachte Leistungen, für die freie Wahl des Studienortes und die Anerkennung der Abschlüsse für alle europäischen Studierenden gewährleistet werden. Deutschland hat aufgeholt. ({4}) Fast 3 000 Bachelor- und Masterstudiengänge werden nun angeboten. Dies entspricht gegenüber dem Vorjahr einer Steigerung von circa 60 Prozent. Das ist eine positive Entwicklung. Das darf man an dieser Stelle doch auch mal deutlich machen. ({5}) Trotzdem habe ich heute bei dieser Debatte große Bauchschmerzen. Ich finde es nämlich beschämend, dass wir angesichts der Herausforderung, vor der wir stehen, einen europäischen Bildungsraum zu schaffen, immer noch die alten ideologischen Grabenkämpfe des vergangenen Jahrhunderts führen. Was meine ich damit? ({6}) - Herr Tauss, bitte schreien Sie nicht so laut. ({7}) Ich denke, dass auch Sie einen ideologischen Grabenkampf führen. ({8}) In dem Antrag der Regierungskoalition führen Sie unnötigerweise wieder die Diskussion um Studiengebühren, sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge. Mit der für uns an sich völlig selbstverständlichen Forderung, dass auch im Hochschulbereich die emanzipative Funktion von Bildung gewahrt sein muss, wird unterstellt, dass dies bei sozialverträglichen Studiengebührenmodellen nicht gegeben sei. Wir sind dafür, dass es sozialverträgliche Studiengebührenmodelle gibt. Wir werden dafür sorgen, dass Studierende aus allen sozialen Schichten ein Studium antreten können. ({9}) Meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, ich finde es falsch - das will ich betonen -, dass in Nordrhein-Westfalen bezüglich der Quotierungsversuche beim Übergang vom Bachelor zum Master unseren Vorstellungen von der Autonomie der Hochschule zuwider gehandelt worden ist. Da gebe ich dem Kollegen Rachel durchaus Recht. Gerichtet zur Union muss ich sagen: Ich finde, dass wir die ideologischen Grabenkämpfe, das ständige Gerangel um Bund- und Länderkompetenzen, beenden sollten. ({10}) Darüber lachen sich die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union doch wirklich kaputt. So kommen wir auch nicht voran. Herr Gaehtgens, der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, hat zu Herrn Koch ganz klar gesagt: Der Föderalismuskonflikt wird hier an der absolut falschen Stelle ausgetragen. Koch torpediert ein sinnvolles Programm aus Gründen, die mit den Hochschulen nichts zu tun haben. ({11}) Ich gebe Herrn Dr. Gaehtgens durchaus Recht. Meine Forderung an die SPD, die Grünen, aber auch an die Union lautet: Lassen wir endlich die ideologischen Grabenkämpfe ({12}) bei der Bildung, bei der Forschung beiseite. ({13}) Wir wollen den Wettbewerb gewinnen. Wir wollen als deutsche Nation in den Bereichen Bildung und Forschung wieder an die Spitze. Nur so kommt Europa voran. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter Rossmann. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Bologna-Nachfolgekonferenz fand am 18. und 19. September 2003 in Berlin statt. Dieses Parlament hat es damals fertig gebracht, ein paar Tage nach der Konferenz eine Debatte zum Thema zu führen. Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Wir haben uns damals vorgenommen, dass das Parlament vor der nächsten Bologna-Nachfolgekonferenz, die in Bergen stattfinden wird, zusammenkommen soll, um zu sagen, was es will. Das ist Parlamentarismus im besten Sinne. Es wäre gut gewesen, wenn wir auch von der FDP, die bemerkenswerterweise mit einer Person anwesend ist, uns aber vorwirft, dass wir mit zu wenig Abgeordneten vertreten seien - die CDU sagt im Übrigen, sie will es konstruktiv begleiten -, Vorschläge gehört hätten: Was will man in Bezug auf Bergen erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens? Was erwartet dieses Parlament von der Bundesregierung, von der Bundesministerin als einer der Beteiligten? Was soll dort im Sinne des Parlaments vertreten werden und was nicht? ({0}) Deshalb machen wir es diesmal besser. Wir sagen vor der Konferenz in Bergen, was dieses Parlament will. Das ist übrigens schon die Umsetzung dessen, was wir heute mit großem Getöse im Rahmen der Debatte über die EUVerfassung beschlossen haben: Wenn man Subsidiarität und demokratische Beteiligung will, dann müssen wir uns die Sache auch zu Eigen machen, müssen wir unserer Regierung etwas mitgeben. Ansonsten nehmen wir uns als Parlament nicht ernst. ({1}) Nun drei Feststellungen zur Sache. Der erste Punkt: Es ist gut, wenn wir zusammen Erfolge verzeichnen können. Wir stehen gar nicht an zu sagen, dass das immer gemeinsame Erfolge sind. An erster Stelle sind es die Erfolge der Hochschulen ({2}) die setzen das nämlich um -; an zweiter Stelle sind es die Erfolge der Länder; an dritter Stelle Erfolge des Bundes. Lassen Sie uns das in dieser Gemeinsamkeit festhalten, ({3}) denn dadurch gewinnt man mehr Studiengänge, mehr Studenten in diesen Studiengängen, mehr ausländische Studierende bei uns und mehr deutsche im Ausland. Auch die Akkreditierungsagentur, die jetzt auf eine Stiftungsbasis umgestellt worden ist, ist ein großer Erfolg. Das Bündnis für Akkreditierung bedeutet die Fortführung des Bologna-Prozesses. Es gibt eine Reihe von Erfolgen, die wir fantastisch finden. Man muss aber immer die Reihenfolge beachten: Hochschulen, Länder, Bund. Sie setzen sich gemeinsam ein. Die zweite Bemerkung: Wir setzen klare Ziele. Ich nenne für unsere Seite - SPD und Grüne - fünf Punkte. Zum Ersten: In Bergen muss darauf gedrungen werden, dass es Anstrengungen für noch mehr wechselseitige Anerkennungen von Studienleistungen gibt. In Deutschland muss die Lissabon-Konvention endlich - nachdem die Justizminister grünes Licht gegeben haben - verabschiedet werden. Wir machen den Vorschlag, dass man, wenn man schon Akkreditierungssysteme hat, vor allem einen Austausch der daran Beteiligten braucht. Sie müssen sich zusammenfinden können, damit sie ein Handlungsniveau, ein Qualitätsniveau verabreden können. Zum Zweiten wünschen wir uns: Die soziale Dimension des Bologna-Prozesses wird immer wichtiger, je mehr Teilnehmerstaaten es gibt und je mehr Studierende teilnehmen; deshalb muss die soziale Dimension in Bergen intensiver behandelt werden, als es in Berlin noch der Fall war. Wir fordern, erst einmal eine Datenbasis zu schaffen, damit auf dieser Grundlage Förderprogramme wie BAföG, ERASMUS, ERASMUS Mundus und die anderen Förderprogramme der EU endlich an die Menschen herangeführt werden können. Das wird im Übrigen auch mehr Mittel erfordern. ({4}) Drittens. Wenn es in diesem gestuften System zu verstärkter Mobilität von Studierenden kommt, was wir wollen, müssen auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter mithalten können. Wir wünschen uns für die Konferenz in Bergen eine Initiative, bei der auch für das wissenschaftliche Personal im europäischen Hochschul- und Forschungsraum ein erkennbarer klarer Handlungsrahmen für mehr Mobilität und Austausch gefunden wird. Viertens. Die duale Struktur setzt sich bisher aus Bachelor- und Masterstudiengang zusammen. Aber sie erstreckt sich auch auf Promotionen; das haben wir schon in der damaligen Debatte im September 2003 gesagt. Auch für den Promotionsraum muss es eine Strukturierung geben, die in Deutschland mit rund 400 Einrichtungen dieser Art in Form von Graduiertenkollegs bis hin zu Research Schools gefunden ist. Aber das muss sich auch im Bologna-Raum abspielen. Fünftens. Wir sehen einen neuen Gedanken darin, dass auch die Anerkennung von beruflicher Qualifikation, von Vorleistungen, Zertifikaten und Diplomen, die erreicht worden sind, im Hochschulsystem stärker berücksichtigt werden muss. Hierzu eine kleine Anmerkung: Der Kollege Schummer und ich waren neulich beim Technikertag in Deutschland. Die Techniker haben Sorge, wo in der gestuften Bachelor- und Masterstruktur ihre Qualifikation bleibt. Das ist eine hohe Qualifikation. Wenn wir das nicht national thematisieren und international möglich machen, versündigen wir uns an einem ganz wichtigen Qualifikationsweg. ({5}) Damit komme ich zum dritten und letzten Teil. Dies können und sollten wir hoffentlich gemeinsam konstruktiv weiterdiskutieren. Alles, was man zu Herrn Koch sagen kann, ist schon gesagt worden. Ich bitte um eines: Wenn sich dieses Parlament ernst nimmt, dann kann es mit dem Antrag der CDU/CSU in fairer Abstimmung so umgehen, dass wir ihn wegstimmen. Dann findet er Platz in der Chronik polemisch-parlamentarischer Anträge. Wir bitten umgekehrt darum: Stimmen Sie dem Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu, in dem wirklich konkrete Forderungen für die Konferenz von Bergen genannt sind. Denn der Unterschied zwischen unseren Anträgen ist: Ihren Antrag könnte man auf der Konferenz in Bergen nicht auf den Tisch legen, weil ihn niemand verstehen und sich jeder fragen würde: Was spielen sich in Deutschland für Krähwinkeleien, für Rangeleien ab? ({6}) Niemand der 40 Teilnehmerstaaten würde nachvollziehen können, was wir uns da parlamentarisch leisten. Der Antrag von SPD und Grünen würde dagegen als ein Dokument des Parlaments aufgenommen werden, das im Vorwege der Regierung klar macht, was auf der Konferenz in Bergen vertreten werden soll. Das ist guter Parlamentarismus. Je breiter die Zustimmung zu diesem Antrag ist, desto mehr Nachdruck gibt es für das, was auf der Konferenz in Bergen für die Studierenden in Deutschland und in 40 anderen Ländern erreicht werden muss. ({7}) In diesem Sinne hoffen wir auf Sachlichkeit, Konstruktivität und ein gutes Arbeiten für die Konferenz von Bergen. Danke schön. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.

Marion Seib (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An deutschen Hochschulen vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine Tagung zum Thema Bologna-Prozess stattfindet. Das macht deutlich, welche Stellung der Bologna-Prozess in Deutschland mittlerweile einnimmt. Wie kaum ein anderes Schlagwort hat der BolognaProzess die Debatte um die Reform der deutschen Hochschulen mitbestimmt. Die Nachfolgekonferenz in Bergen in gut einer Woche bietet nun die Gelegenheit, ein Resümee zu ziehen und die Aufgaben für die nächsten zwei Jahre bis zur Nachfolgekonferenz in London abzustecken. Geplant ist, dass weitere fünf Länder am Bologna-Prozess teilnehmen sollen. Mit der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Moldawien werden sich dann 45 Staaten am Bologna-Prozess beteiligen. Hier kann ich nur meine Skepsis wiederholen, die ich bereits vor zwei Jahren vorgebracht habe. Die Heterogenität der Bologna-Staaten nimmt erheblich zu, verstärkt damit die Anpassungsschwierigkeiten und stellt den langfristigen Erfolg infrage. Wir müssen auch in Zukunft aufpassen, dass der Bologna-Prozess und damit die Idee eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes nicht durch ungeeignete Teilnehmerstaaten verwässert werden. Wenn wir heute über die Umsetzung des BolognaProzesses in Deutschland debattieren, dann geht es vor allem um zwei Dinge: die erfolgreiche Einführung des gestuften Systems und den Aufbau der Qualitätssicherung in Form des Akkreditierungswesens. Über 2 900 Studiengänge werden im Sommersemester 2005 an den deutschen Hochschulen angeboten. Dies entspricht einem Viertel des gesamten Studienangebotes. Allerdings gibt es noch ein ganz erhebliches Akzeptanzproblem - auch Sie haben davon gesprochen - bei der gestuften Studienstruktur. Die letzten verfügbaren Zahlen aus dem Wintersemester 2003/2004 weisen nur 5,3 Prozent der Studierenden in den neuen Studiengängen aus. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Diskussion über den Bologna-Prozess lange Zeit nur ein Erfahrungsaustausch unter Experten war, der am Parlament vorbeilief und von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Dieses Versäumnis ist nur schwer wieder aufzuholen. Die Unsicherheit ist an vielen Stellen groß, sowohl bei den Studierenden und Professoren als auch bei den Arbeitgebern. Mit der Bundestagsanhörung zum Bologna-Prozess im vergangenen Jahr haben wir einen wichtigen Beitrag geleistet, auf diese Unsicherheit einzugehen und die Öffentlichkeit auf die anstehenden Umwälzungen hinzuweisen. Der Aufklärungsbedarf bleibt allerdings groß. In den vergangenen Jahren gab es daher zahlreiche einvernehmliche Modellversuche von Bund und Ländern, die sich mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses beschäftigten. Darüber hinaus unterstützen zahlreiche Bundesländer die Umsetzung der BolognaZiele durch eigene Programme und Fördermaßnahmen. Bayern beispielsweise hat im vergangenen Jahr eine breit angelegte Informationsoffensive zu Bachelor und Master gestartet. ({0}) Angesichts des bisherigen Modus Vivendi ist das Handeln des BMBF mehr als befremdend. Ohne Absprache und Einverständnis der Länder unterstützt das Ministerium mit Bundesmitteln die Bologna-Servicestelle bei der Hochschulrektorenkonferenz. ({1}) Bei aller Begeisterung für den Bologna-Prozess müssen wir die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes beachten. ({2}) Eine Neuordnung der Kompetenzen durch die Hintertür ist mit uns nicht zu machen. ({3}) Deswegen auch die Klage der Länder Hessen und Bayern vor dem Bundesverfassungsgericht. Wir sind nicht bereit, nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“ stillzuhalten und den Geldfluss contra legem an die HRK zu dulden. Denn die Methode der rot-grünen Bundesregierung hat System. Seit 1998 versuchen Sie unentwegt, mit einer Politik des goldenen Zügels Abhängigkeiten zu schaffen und die Länder zu hintergehen. So erreichen Sie keine beschleunigte Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland. ({4}) Ich kann die Bundesministerin nur auffordern: Kehren Sie wieder auf den Weg einer geordneten Kooperation zurück. Die Achillesferse für eine reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses ist und bleibt ({5}) die Qualitätssicherung der neuen Studienabschlüsse. Erst dann, wenn Bachelor und Master mindestens den gleichen, wenn nicht sogar einen höheren Standard als die bisherigen Abschlüsse aufweisen, verschwindet die Skepsis. ({6}) Diesem Anliegen muss die Akkreditierung in vollem Umfang Rechnung tragen. Wenn wir heute über die Beschleunigung des Bologna-Prozesses debattieren, dann müssen wir auch ganz klar herausstreichen: Das bisherige Akkreditierungsverfahren erwies sich in den letzten Jahren als Flaschenhals. Sechs Agenturen stehen 12 000 Studiengängen gegenüber. ({7}) Momentan sind erst 800 Studiengänge akkreditiert. 1 300 befinden sich im laufenden Verfahren. In wenigen Jahren steht die Reakkreditierung der Studiengänge an. Selbst mit der verstärkten Clusterakkreditierung von Studiengängen kann dieser Andrang nicht dauerhaft bewältigt werden. Ebenso stellt sich die Frage, woher eigentlich die vielen Sachverständigen kommen sollen, die die Begutachtung vor Ort durchführen können und müssen. Einen richtigen Lösungsansatz bietet hier die institutionelle Akkreditierung ganzer Hochschulen. Der Wissenschaftsrat praktiziert dieses Verfahren bereits seit einigen Jahren bei privaten Fachhochschulen mit Erfolg. Die in dieser Woche gelaufene Anhörung zu den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften hat ganz eindrucksvoll bestätigt, dass die institutionelle Akkreditierung in diesen Fächern von erheblichem Vorteil wäre. Ich appelliere deshalb an alle Verantwortlichen, diesen Weg zu forcieren und damit den Geisteswissenschaften Bürokratieabbau und damit Zeit zu gewähren. Das sind Dinge, die dort vorrangig benötigt werden. Mit der Überführung des Akkreditierungsrates in eine Stiftung des öffentlichen Rechts zum 1. Januar 2005 haben die Länder einen wichtigen Eckstein zur Etablierung eines anerkannten Akkreditierungssystems gesetzt. Zusammen mit den Akkreditierungsagenturen kann der umstrukturierte Akkreditierungsrat dazu beitragen, die neue Studienstruktur in Deutschland zu verankern, die Akkreditierungsverfahren effizienter zu gestalten und in der Öffentlichkeit die Akzeptanz der neuen Abschlüsse zu verstärken. Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses und der enge Zeitrahmen zur Umsetzung erfordern auch in Zukunft eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Besten Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen jetzt zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen. Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 15/5465, mit dem Titel „Kooperation von Bund und Ländern in der Hochschulpolitik verstärken - Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland beschleunigen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5286 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5449 mit dem Titel „Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewährleisten - Länderkompetenzen beachten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Die FDP hat sich enthalten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Peter H. Carstensen ({0}), Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ländliche Räume durch eine moderne und innovative Landwirtschaft stärken und damit Arbeitsplätze sichern - Drucksache 15/5249 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Die Abgeordneten Drobinski-Weiß, Wolff, Mortler, Schulte-Drüggelte, Ostendorff und Happach-Kasan ha- ben gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) - Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so und kön- nen gleich zur Überweisung kommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5249 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 8 Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes - Drucksache 15/4641 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3}) - Drucksache 15/5468 - Berichterstattung: Abgeordnete Gustav Herzog Bernhard Schulte-Drüggelte Cornelia Behm Dr. Christel Happach-Kasan Hier haben die Abgeordneten Hiller-Ohm, Herzog, Caesar, Schulte-Drüggelte, Behm und Happach-Kasan gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.2) - Sie sind einverstanden. Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- derung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatz- fondsgesetzes, Drucksache 15/4641. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft emp- fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5468, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit dem eben festge- stellten Stimmenverhältnis angenommen: SPD und Bündnis 90/Die Grünen dafür, CDU/CSU und FDP da- gegen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 15/5468 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan- zen Hauses einstimmig angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Dr. Maria Flachsbarth, Dr. Klaus W. 2) Anlage 9 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Lippold ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Langfristiges Gesamtkonzept zur Reduzierung der Schadstoffbelastung in der Luft notwendig - Drucksache 15/5330 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Hier bitten die Abgeordneten Klug, Flachsbarth, Hermann, Homburger und der Staatsminister Dr. Werner Schnappauf aus Bayern, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) ({6}) Wir verfahren so. Trotz geäußerten Bedauerns erkenne ich Zustimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5330 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ - Drucksache 15/4998 ({7}) ({8}) a)Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) - Drucksache 15/5485 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank b)Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/5490 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({11}) Walter Schöler Otto Fricke Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. 1) Anlage 10 Hier haben die Abgeordneten Weis, Blank, Sowa, Otto und der Staatssekretär Großmann gebeten, die Re- den zu Protokoll zu nehmen.2) - Mit Ihrer Zustimmung verfahren wir so. Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5485, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Auch das scheint das ganze Haus zu sein. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig in der dritten Beratung angenommen worden. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5495. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen von SPD, vom Bündnis 90/Die Grünen und von der CDU/CSU gegen eine Stimme aus der FDP und bei Enthaltung der beiden Abgeordneten Pau und Lötzsch. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Stefan Müller ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Einführung von Real Estate Investment Trusts in Deutschland - Drucksache 15/4929 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss Es ist keine Aussprache vorgesehen. Die Abgeordneten Hauer, Müller ({14}), Krüger-Jacob und Fricke bitten, ihre Reden zu Protokoll3) zu nehmen. - Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4929 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 2) Anlage 11 3) Anlage 12 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes - Drucksache 15/5314 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({16}) - Drucksache 15/5488 - Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk Die Abgeordneten Lotz, Michalk und Bender haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll1) zu nehmen. Wir verfahren auch so. Die Abgeordnete Pau wird aber sprechen und erhält damit jetzt das Wort. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 23. Juli 2004 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Das geltende Recht für zahlreiche Bürgerinnen und Bürger der DDR in der Bundesrepublik ist verfassungswidrig. Das Ganze hat eine Vorgeschichte, an der alle bisherigen Bundesregierungen beteiligt waren. Der gewollte Kardinalfehler war: Das Rentensystem sollte als Strafsystem missbraucht werden. Die PDS hat immer gemahnt, dass das sachfremd und politisch falsch ist. ({0}) Es ist auch rechtlich falsch, wie das Verfassungsgericht festgestellt hat. Nun soll es erneut geändert werden. Aber auch mit der heute zur Abstimmung stehenden Vorlage bleibt der Kardinalfehler erhalten. Auch das neue Gesetz bricht nicht mit dem eingeführten Rentenstrafrecht. Es verschärft es sogar. Mit dem von Ihnen eingefügten Stichtag sollen auch Mitglieder der so genannten Regierung der nationalen Verantwortung, der Modrow-Regierung, wie auch die DDR-Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil oder posthum der unbequeme bündnisgrüne Demokrat Wolfgang Ullmann und übrigens auch der Kollege Eppelmann mit Rentenentzug bestraft werden. Wer so etwas vorlegt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er als inkompetent und unsozial kritisiert wird. ({1}) Aber es geht heute nicht nur um Inkompetenz. Es geht auch um Vorsatz und um Unrecht. Im aktuellen Ände- 1) Anlage 13 rungsgesetz steht die Rente aus staatsnahen Versorgungssystemen der DDR und für damalige Abteilungsleiter im Staatsapparat zur Diskussion. Das muss geändert werden. Aber das verfügte Unrecht geht viel weiter. So haben zum Beispiel Ingenieure und weitere Beschäftigte der Interflug - der DDR-Luftfahrtgesellschaft - Beiträge für eine Zusatzrente gezahlt, die ihnen nach der Vereinigung schlicht aberkannt wurden. ({2}) Ich könnte weitere Beispiele zum Rentenunrecht nennen. Sie erinnern sich vielleicht, dass sich Balletttänzerinnen und -tänzer in der DDR versichern konnten, weil ihre Berufsperspektive überschaubar und altersbegrenzt war. Es ging dabei nie um unangemessene Reichtümer. Es ging vielmehr um bezahlte soziale Sicherheiten im Alter. ({3}) Auch diese wurden nach der Wiedervereinigung getilgt. Alle, die das Rentenunrecht nicht hinnehmen wollten, mussten sich durch die Instanzen klagen. Die PDS hat sie dazu ständig ermutigt. Zumeist haben sie vor dem Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Das spricht gegen die Politik der Bundestagsmehrheit; denn fast alle Fraktionen in diesem Haus haben das Rentenstrafrecht befürwortet. Die PDS war und ist dagegen, weil wir es ablehnen, dass ein Versicherungssystem politisch missbraucht wird. ({4}) Ich bin ebenfalls dagegen, dass DDR-Bürger länger diskriminiert werden, nur weil sie Bürger der DDR waren. So wird zum Beispiel in Bayern auf Fragebögen noch immer als verfassungsfeindlich verdächtigt, wer zu DDR-Zeiten Bienen gezüchtet hat oder mit Mitmenschen solidarisch war. Deshalb abschließend: Ich verteidige hier heute Abend nicht die DDR, sondern ich rede gegen den Blödsinn, der nun in der Bundesrepublik verzapft wird. ({5}) Das Rentenstrafrecht gehört dazu; es ist Unrecht. Deshalb bin ich dagegen. ({6}) - Noch so viel zu Ihren Zurufen: Reden Sie einmal mit den Opferverbänden! Sie werden sich vielleicht erinnern, dass wir den Anträgen der konservativen Opposition auf eine angemessene und erleichterte Entschädigung von Opfern der SED stets zugestimmt und hier selber entsprechende Anträge eingebracht haben. Aber man kann nicht eines gegen das andere aufrechnen. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Die Abgeordneten Hacker und Lohmann haben nach § 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung zur Ab- stimmung zu Protokoll gegeben1). Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5488, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der Abgeordneten Lötzsch und Pau angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Conny Mayer ({0}), Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Frauen in den Krisenregionen SubsaharaAfrikas stärken - Drucksache 15/4390 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Abgeordneten Schmidt ({2}), Groneberg, Eymer, Mayer ({3}) und Heinrich sowie die Par- lamentarische Staatssekretärin Uschi Eid haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll zu nehmen2). Wir verfahren so. Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4390 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) 1) Anlage 7 2) Anlage 14 - zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Cornelia Behm, Volker Beck ({5}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wälder naturnah bewirtschaften - Waldschäden vermindern - Gemeinwohlfunktionen sichern und Holzabsatz steigern - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cajus Julius Caesar, Peter H. Carstensen ({6}), Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldzustandsbericht 2004 - Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Daniel Bahr ({7}), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP Bessere Rahmenbedingungen für die Charta für Holz - zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung Waldzustandsbericht 2004 - Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni- torings - - Drucksachen 15/4516, 15/4502, 15/4431, 15/4500, 15/5356 - Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Cajus Julius Caesar Cornelia Behm Dr. Christel Happach-Kasan Hier haben die Abgeordneten Hiller-Ohm, Auernhammer, Caesar, Behm und Happach-Kasan ge- beten, ihre Reden zu Protokoll zu nehmen3). Wir verfah- ren mit Ihrer Zustimmung so. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- nährung und Landwirtschaft, Drucksache 15/5356. Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- schuss in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2004 der Bundesregierung auf Drucksache 15/4500 die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnis- ses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4516 mit dem Titel „Wälder naturnah bewirtschaften - Waldschäden vermindern - Gemeinwohlfunktionen sichern und Holz- absatz steigern“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und 3) Anlage 15 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/ CSU und FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2004 die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4502 zum genannten Waldzustandsbericht. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des Waldzustandsberichtes 2004 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP, Drucksache 15/4431, mit dem Titel „Bessere Rahmenbedingungen für die Charta für Holz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen - Drucksache 15/4604 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Abgeordneten Jäger, Braun, Wittlich, Kauch und die Parlamentarische Staatssekretärin Probst haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4604 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes - Drucksache 15/5408 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Hier nehmen wir mit Ihrer Zustimmung die Reden der Abgeordneten Rehbock-Zureich, Lintner, Schmidt ({10}), Friedrich ({11}) und des Parlamenta- rischen Staatssekretärs Großmann zu Protokoll1). Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta Connemann, Marlene Mortler, Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Mehr Verbraucherschutz durch eindeutigere Kennzeichnung und sendungsbezogene Rückstandsuntersuchungen von Geflügelfleischimporten in die EU aus Drittländern - Drucksache 15/5247 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Die Abgeordneten Zöllmer, Connemann, Höfken und Goldmann haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll ge- ben zu dürfen.2) - Mit Ihrer Zustimmung verfahren wir so. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wenn wir eine Aussprache zu sämtlichen Tagesordnungspunkten durchgeführt hätten, wären wir ungefähr um 3.30 Uhr fertig gewesen. So sind wir nun am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. ({13}) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Mai - nicht vergessen! -, 9 Uhr, ein. Ich wünsche den Kollegen einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.