Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Eidesleistung des Wehrbeauftragten
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 169. Sitzung
am 14. April 2005 Reinhold Robbe zum Wehrbeauftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über den
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet
dieser vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid.
Herr Robbe, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu
kommen. - Herr Robbe, ich bitte Sie jetzt, den Eid zu
sprechen.
({0})
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben dem Gesetz entsprechend den Eid gesprochen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute für Ihr verantwortungsvolles Amt.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zunächst will ich
noch vor Beginn unserer Diskussionen dem Kollegen
Jochen Borchert gratulieren, der am 25. April seinen
65. Geburtstag feierte. Sehr herzlichen Glückwunsch!
({0})
Sodann teile ich mit, dass der Kollege Peter Harry
Carstensen am 20. April sein Mandat niedergelegt hat
und als sein Nachfolger Carl Eduard von Bismarck am
25. April 2005 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat. Herzlich willkommen, lieber Kollege
von Bismarck!
({1})
Der Kollege Dietrich Austermann hat am 4. Mai auf
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Roland
Dieckmann am 6. Mai 2005 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Herzlich willkommen, Kollege Dieckmann!
({2})
Für den Kollegen Reinhold Robbe, der am 11. Mai
auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtete, hat mit Wirkung von heute, dem 12. Mai 2005,
der uns aus der 14. Wahlperiode bereits bekannte Kollege Hans Forster die Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag erworben. Auch Sie, Kollege Forster, herzlich willkommen!
({3})
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege
Ulrich Kelber als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. Nachfolgerin soll die Kollegin Doris Barnett werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist die Kollegin Doris Barnett als
stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gem. Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO BT: Umstellung des
Zahlungstermins für die Sozialversicherungsbeiträge
({4})
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({5})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 15/5444 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gem. § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Reichard
({7}), Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Trinkwassermanagement in Entwicklungs- und Schwellenländern
durch die verstärkte Einbeziehung der Privatwirtschaft
verbessern
- Drucksache 15/5451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsame Position
der Europäischen Union zum Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China
- Drucksache 15/5467 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({10})
a) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über
die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4233 ({11})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die
Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4232 ({12})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem
Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union
- Drucksache 15/4230 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({14})
- Drucksache 15/5487 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder ({15})
Jerzy Montag
Sibylle Laurischk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der Verordnung über
genehmigungsbedürftige Anlagen und zur Änderung
der Anlage 1 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung
- Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, 15/5483 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Winfried Hermann
Birgit Homburger
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Kritik
des FDP-Vorsitzenden an Gewerkschaftsfunktionären in
Deutschland
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Erfolge in der Politik für behinderte Menschen nutzen - Teilhabe und
Selbstbestimmung weiter stärken
- Drucksache 15/5463 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({17})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({18}), Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beim Fahrkarten- und Ticketkauf
verhindern - Teilhabe ermöglichen
- Drucksache 15/5460 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib,
Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Reibungslose Umsetzung
der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewährleisten - Länderkompetenzen beachten
- Drucksache 15/5449 ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
- Drucksache 15/5445 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({20})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
ZP 9 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Karl-Josef
Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Sozialdumping
durch osteuropäische Billigarbeiter
- Drucksache 15/5168 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({21})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Präsident Wolfgang Thierse
ZP 10Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unternehmensnachfolge
- Drucksache 15/5448 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gem. § 96 GO
ZP 11Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister,
Heinz Seiffert, Otto Bernhardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Herausforderungen der Globalisierung annehmen, Unternehmensteuern modernisieren,
Staatsfinanzen durch mehr Wachstum sichern
- Drucksache 15/5450 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({23})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
ZP 12Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Steuervereinfachung im
Vollzug - Vorteil für Bürger, Betriebe und Verwaltung
- Drucksache 15/5466 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({24})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
ZP 13Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Äußerungen des Bundesministers der Finanzen zu Haushaltsrisiken für den Bundeshaushalt 2005 und zur Mehrwertsteuer
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Ferner wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 24
und 26 abzusetzen. Die Vorlagen unter Punkt 28, die
Freibetragsregelungen, Hinzuverdienstmöglichkeiten und
den Zusatzpunkt „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ betreffen, sollen am Freitag bereits um 9 Uhr und die Vorlagen
unter Punkt 29 - Klimaschutz - nach der Debatte zum
Steuerrecht beraten werden.
Schließlich mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 169. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Dirk Fischer
({25}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W.
Lippold ({26}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/5102 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({27})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen
werden.
Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({28}), Dietrich Austermann, Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU: Notwendige Investitionen in die
deutsche Verkehrsinfrastruktur bereitstellen
- Drucksache 15/5325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({29})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden.
Entwurf eines von den Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/5316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({30})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers zur Ratifizierung der europäischen Ver-
fassung
Für ein starkes und soziales Europa
b) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
29. Oktober 2004 über eine Verfassung für
Europa
- Drucksachen 15/4900, 15/4939 ({31})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({32})
- Drucksache 15/5491 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({33})
Peter Altmaier
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Michael Roth ({34}), Günter
Gloser, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie
den Abgeordneten Rainder Steenblock, Volker
Beck ({35}), Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung
Präsident Wolfgang Thierse
und Stärkung der Rechte des Bundestages
und des Bundesrates in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 15/4925 ({36})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble,
Dr. Gerd Müller, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der
Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen
Union
- Drucksache 15/4716 ({37})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({38})
- Drucksache 15/5492 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({39})
Peter Altmaier
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({40})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der Begleitung, Mitgestaltung und
Kontrolle europäischer Gesetzgebung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei der Rechtsetzung der Europäischen Union nach In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrags
- Drucksachen 15/4936, 15/4937, 15/5492 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({41})
Peter Altmaier
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa
werden wir später namentlich abstimmen.
Zu einem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein interfraktioneller Entschließungsantrag vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder.
({42})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die vergangenen Tage standen nicht nur in
Deutschland, sondern in der ganzen Welt im Zeichen
des Erinnerns und des Gedenkens an das Ende des
Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren.
Ein besonders bewegendes Erlebnis war für mich die
Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag in
Moskau. Ich habe die von Präsident Putin ausgesprochene Einladung als Ehre und als Auszeichnung unseres
Landes verstanden, so wie ich auch die Einladungen von
Präsident Chirac im vergangenen Juni in die Normandie
und von Ministerpräsident Miller im vergangenen August zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand als
Zeichen der Verbundenheit und des Vertrauens in unser
Land empfunden habe. In der Teilnahme des deutschen
Bundeskanzlers an diesen Gedenkveranstaltungen
drückt sich die Wertschätzung aus, die das demokratische und vereinte Deutschland in der Staatengemeinschaft genießt. 60 Jahre nach dem Ende des von
Deutschland begonnenen Krieges sind wir ein geachteter
und geschätzter Partner in der Welt. Diese Tatsache
sollte uns mit Dankbarkeit erfüllen.
({0})
Meine Damen und Herren, mit der Kennzeichnung
„historisch“ sollten wir einen sparsamen, einen vernünftigen Umgang pflegen. Aber die Verfassung der Europäischen Union, über die wir heute zu beschließen haben, verdient dieses große Wort. Sie ist, wie könnte es
anders sein, nur Menschenwerk. Sie erfüllt naturgemäß
nicht alle Hoffnungen und sie bannt nicht alle Ängste.
Der Verfassungstext ist aber ein sehr guter und fairer
Kompromiss, in harter Arbeit vom Konvent formuliert,
unter der umsichtigen Leitung von Valéry Giscard
d’Estaing. Ich spreche wohl für Sie alle, meine Damen
und Herren, wenn ich Giscard d’Estaing und sämtlichen
Mitgliedern des Verfassungskonvents, vor allen den
deutschen Vertretern, unseren Dank und unseren Respekt für die geduldige, schwierige, aber eben alles in allem erfolgreiche Arbeit ausspreche.
({1})
Lassen Sie mich stellvertretend für alle nur zwei deutsche Namen nennen: Erwin Teufel, bis vor wenigen Tagen noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg,
von dessen Sachkunde in Brüssel mit Respekt gesprochen wurde,
({2})
und Joschka Fischer,
({3})
- ich glaube, Sie lernen es nie ({4})
der in den entscheidenden Monaten des Konvents mit
Energie und Begeisterung, aber auch durch großes Verhandlungs- und Vermittlungsgeschick maßgeblich zum
Gelingen des Verfassungswerkes beigetragen hat.
({5})
Alle, die mit ihnen zusammenwirkten, haben in vielen
Tagen und Nächten in der Tat das Bestmögliche geleistet. Durch die Vertretung der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments
und aller nationalen Parlamente im Konvent hat die neue
Verfassung eine breite demokratische Legitimation.
Durch die Verfassung wird die Europäische Union entscheidungsfähiger und zugleich politisch führbar bleiben.
Durch die Verfassung wird die Europäische Union demokratischer, auch bürgernäher. Das Europäische Parlament
wird gestärkt und erhält mehr Mitwirkungsrechte. Die
nationalen Parlamente erhalten zusätzliche Informationsund Kontrollrechte. Die Bundesregierung ist bereit, dem
auch in einer Vereinbarung mit dem Deutschen Bundestag Rechnung zu tragen.
({6})
Die Zuständigkeiten zwischen der nationalen und der
europäischen Ebene werden in der europäischen Verfassung klarer getrennt. Und die Verfassung trägt mit dem
Entscheidungsmodus der doppelten Mehrheit dem
urdemokratischen Prinzip „Ein Bürger, eine Stimme“
wirklich Rechnung. Deshalb kann es auch insoweit keinen Zweifel geben: Wer in Europa mehr Demokratie
will, der muss für diese Verfassung stimmen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, in
diesem Augenblick nicht allzu kleinlich und detailversessen auf den einen oder anderen Halbsatz in diesem
oder jenem Paragraphen des Gesamtwerks zu starren
- einen Halbsatz, der unseren Erwartungen vielleicht
nicht völlig entspricht -, sondern einmal innezuhalten,
vielleicht sogar ein paar Schritte zurückzutreten, um unsere Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, mit
den Augen der Älteren unter uns zu betrachten, jener, die
Zeugen und Opfer der Verheerungen des 20. Jahrhunderts waren, also aus der Sicht unserer Väter und Mütter,
unserer Großmütter und Großväter, die uns - 60 Jahre
nach dem Ende der europäischen Katastrophen - gerade
in diesen Tagen des Gedenkens wieder so nahe gerückt
sind.
Wer von ihnen hätte damals von einer europäischen
Verfassung, von einem in Frieden, Freiheit und Wohlstand vereinten Europa auch nur zu träumen gewagt, damals, in den Trümmern der Städte, damals, als die Tore
der Konzentrationslager endlich aufgesprengt wurden
und der Blick der Völker entsetzt die Leichenberge und
die ausgemergelten Skelette wahrnahm, damals, als sich
hinter Millionen deutscher Soldaten die Tore der Kriegsgefangenenlager für bittere Monate und Jahre schlossen,
damals, als sich ein Gefühl der Erlösung einstellte, aus
dem sich allmählich, wie es Richard von Weizsäcker
40 Jahre später in einer mutigen und wegweisenden
Rede ausgesprochen hat, ein Gefühl der Befreiung zu
entwickeln begann, weil den Mörderkommandos der SS
und der Feldgendarmerie das blutige Handwerk gelegt
wurde, weil die von Anhängern und Mitläufern getragene Nazidiktatur, die Leid, Tod und Zerstörung über
Europa gebracht hatte, endlich gebrochen war?
Nein, den Überlebenden war es damals nicht in den
Sinn gekommen, von einer europäischen Verfassung für
die Völker des Kontinents auch nur zu träumen, Völker,
die als gute Nachbarn friedlich zusammenleben. Keiner
wagte zu hoffen, dass jener Menschheitstraum von
Frieden, Solidarität und Freiheit jemals unsere Realität bestimmen und unseren Alltag formen würde. Wirklich keiner? Nicht ganz. In Buchenwald, in Dachau, in
Flossenbürg und Mauthausen, also in den Zellen des Widerstandes der Lager und der Zuchthäuser, wurde von
der Notwendigkeit der Einheit Europas - wenn auch nur
flüsternd - gesprochen. Ich nenne stellvertretend die Namen Eugen Kogon, Jorge Semprún, Joseph Rovan, Fritz
Erler, Helmuth von Moltke und Eugen Gerstenmaier. Im
Widerstand der europäischen Völker gegen den Faschismus leuchtete das Licht des vereinigten Europas eben in
den dunkelsten Jahren unserer Geschichte zum ersten
Mal und ganz, ganz zaghaft auf. Europa - so viel ist
klar - wurde aus der Not geboren, aus der Notwendigkeit - im wahrsten Sinne des Wortes -, einer Notwendigkeit, der schließlich auch die Vernunft gehorchte. Aus
dem Elend des Seins wuchs ein neues Bewusstsein, ein
neuer Geist.
Der Krieg war noch nicht beendet, als drüben in
Washington Jean Monnet - damals der Beauftragte des
Freien Frankreichs für die Versorgung der Armeen, die
jenseits des Atlantik kämpften - die ersten Pläne für den
Zusammenschluss Europas zu entwerfen begann, zusammen mit seinen amerikanischen Kollegen, unter ihnen George Ball, den wir später als den Architekten der
Außenpolitik von John f. Kennedy kennen und auch
schätzen lernten. Vergessen wir nicht - jetzt erst recht
nicht -, dass die besten Köpfe der amerikanischen Nachkriegsdiplomatie zu den Vätern Europas gehörten:
({8})
George F. Kennan und Dean Acheson, die Konstrukteure
des Marshallplans. Sie bestanden darauf, dass die Europäer in einem gemeinsamen Gremium die Verwaltung
der amerikanischen Milliarden verantworteten, das westliche Deutschland eingeschlossen, das zunächst von
Besatzungsmächten vertreten wurde. Das Monnetprojekt
für die gemeinsame Kontrolle der deutschen und französischen Montanindustrie trat später unter dem Namen
Schumanplan ins Leben. Jean Monnet und Robert
Schuman fanden ihre kongenialen Partner in Konrad
Adenauer, dem italienischen Christdemokraten de
Gasperi und dem belgischen Sozialisten Paul-Henri
Spaak - die Gründerväter Europas.
Charles de Gaulle hat 1954 als leidenschaftlicher Repräsentant des klassischen Nationalstaates Monnets
Konzept der europäischen Verteidigungsunion zu Fall
gebracht. Es war ein Glücksfall, dass er sich nach der
Rückkehr ins Amt der historischen Logik gebeugt hat:
De Gaulle erkannte die französisch-deutsche Kooperation als produktive Keimzelle Europas und er setzte sie
als Motor in der europäischen Einigung ins Werk - ein
bewundernswerter Wandel, der die Größe dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit bezeugt. Ohne die deutschfranzösische Aussöhnung und Partnerschaft wäre das
europäische Einigungswerk nicht möglich gewesen.
Auch das ist Verpflichtung.
({9})
Die Verständigung zwischen de Gaulle und Konrad
Adenauer und das gemeinsame Werk des Élysée-Vertrags haben wir gemeinsam mit unseren französischen
Freunden und Partnern zum 40. Jahrestag in einer gemeinsamen Sitzung gefeiert. Auch das ist ein Ereignis,
das sich 1945 kein Deutscher und wohl auch kein Franzose vorstellen konnte. Und auch das gehört zu einer
Verpflichtung, die wir alle miteinander haben. Alle
Nachfolger von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer
haben übrigens entsprechend dem Gesetz der europäischen Einheit und der Logik der deutsch-französischen
Zusammenarbeit politisch gehandelt. Diese besondere
Bindung zwischen Deutschland und Frankreich ist für
unsere und für alle nachkommenden Generationen Erbe,
aber eben auch zugleich Verpflichtung.
Meine Damen und Herren, viele sehen Willy Brandt
allzu einseitig nur als Strategen der Ostpolitik. Ich wäre
der Letzte, der diese historische Zäsur und diese großartige Leistung unterschätzte. Denn die Entspannungspolitik der damaligen sozial-liberalen Koalition war der
eigentliche Anfang des gesamteuropäischen Wandels
und Umbruchs.
({10})
Willy Brandt hat aus tiefer Überzeugung wieder und
wieder betont, dass sich seine Ostpolitik konsequent aus
der Westpolitik Konrad Adenauers ergeben hat, dass sie
ohne das Fundament der Europäischen Gemeinschaft
nicht denkbar gewesen wäre und dass sie freilich auch
niemals die Einbindung in die Atlantische Allianz entbehren konnte. Helmut Schmidt, aber auch Helmut Kohl
führten das Werk Brandts konsequent fort. Willy Brandt
hat - man vergisst es allzu oft - mit Präsident Pompidou
1970 in Den Haag die Entwicklung der Europäischen
Gemeinschaft zur Europäischen Union, einer Wirtschafts- und Währungsunion samt Europäischer Zentralbank, beschlossen. Als Zielpunkt wurde übrigens das
Jahr 1980 ins Auge gefasst. Das war ein wenig zu optimistisch, wie wir wissen. Die Entwicklung nahm unsere
Geduld etwas länger in Anspruch. Indes: Es waren
Brandt und Pompidou, denen es gelang, Großbritannien
unter der Führung des konservativen Edward Heath, der
ein bekennender Europäer war und ist, ins gemeinsame
Boot zu holen. Sie waren es auch, die für Spanien, Portugal und Griechenland nach der Befreiung aus ihren autoritären Regimes das Tor zu Europa aufgeschlossen haben.
Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt und der Liberalkonservative Giscard d’Estaing haben in ihrer Zeit das
europäische Werk aus Passion und Überzeugung fortgesetzt. Sie bahnten dem Euro mit der so genannten Währungsschlange den Weg. Der Christdemokrat Helmut
Kohl und der Sozialist Francois Mitterand waren es
schließlich, die mit dem Vertrag von Maastricht das
Rahmenwerk der Europäischen Union geschaffen haben,
und zwar den Rahmen für das ganze Europa, das auch
jene Völker und Staaten einschließt, die im vergangenen
Jahr der Europäischen Union beigetreten sind, und das
auch jene willkommen heißt, die im Jahr 2007 dazukommen werden.
({11})
Übrigens - das sollten wir bei einer Würdigung politischer Leistungen nicht unterschlagen -: Francois
Mitterand und Helmut Kohl haben die deutsche Einheit
in Europa eingebunden. In dieser Tradition und Kontinuität wollen Jacques Chirac und ich die deutsch-französische Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen.
Mein Zusammenwirken mit dem französischen Staatspräsidenten - lassen Sie mich das voller Dankbarkeit
hier anmerken - steht in seiner Intensität, seiner Aufrichtigkeit, seiner Zuverlässigkeit und auch seiner Herzlichkeit dem unserer Vorgänger nicht nach.
({12})
Meine Damen und Herren, bei den Beratungen zur
europäischen Verfassung hat sich die deutsch-französische Partnerschaft im Interesse unserer Völker und im
Interesse der gesamten Europäischen Union einmal mehr
bewährt. Diese Verfassung, über die wir heute abstimmen, ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses,
der in der Geschichte der europäischen Integration
wahrlich ohne Beispiel ist. Historisch steht die Verfassung in der Kontinuität eines Europas, das seine Lehren
aus der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen hat. Insoweit ist die Verfassung sowohl ein Dokument der Selbstvergewisserung als auch ein Ausdruck
für das Selbstverständnis des vereinigten Europas im
21. Jahrhundert.
Es ist ein Europa, das sich als Wertegemeinschaft versteht und auf den universellen Werten und den unveräußerlichen Rechten des Menschen beruht. Es ist ein
Europa, das Demokratie mit wirtschaftlicher ProduktiviBundeskanzler Gerhard Schröder
tät und sozialer Solidarität zu einem ganz eigenen Gesellschaftsmodell verknüpft. Es ist ein Europa, das sich
als soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Gemeinschaft begreift, das ganz bewusst mehr sein will als
eine bloße geographische Einheit, mehr als Binnenmarkt
und Freihandelszone. Es ist ein Europa, das als innere
Einheit auftreten und handeln will - nach der festen
Überzeugung, dass wir Europäer gemeinsam mehr erreichen können, als jeder für sich je erreichte. Es ist ein
Europa, das eine Stimme für Frieden und Multilateralismus und ein starker Partner für eine gerechte und kooperative Weltordnung sein will.
({13})
Dazu gehört ausdrücklich auch eine stabile Partnerschaft
mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Verfassung schafft dieses Europa nicht. Aber sie
bietet den Rahmen, die Institutionen und die Verfahren,
damit das erweiterte Europa seinen Weg weitergehen
kann. Sie wird dem europäischen Integrationsprozess einen neuen Schub, eine neue Dynamik verleihen. Mit der
Verfassung geben wir Europäer uns in freier Selbstbestimmung ein neues System der Ordnung, das die
Fragmente der bisherigen europäischen Verträge in verbesserter und harmonisierter Form zusammenfügt.
Die europäische Verfassung steht auch einer Vertiefung der Europäischen Union nicht im Wege. Im Gegenteil: Gerade im erweiterten Europa stellt sich die Notwendigkeit vertiefter Formen der Zusammenarbeit
besonders dringlich. Dies gilt aus meiner Sicht vor allem
für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik, aber nicht minder für eine
europäische Ausländer- und Zuwanderungspolitik.
Die Verfassung verändert auch nicht die Statik oder
gar die Architektur im gemeinsamen Europa. Sie kennt
keine Dominanz und sie schafft auch kein französisches
Europa, erst recht kein deutsches Europa, sondern ein
wahrhaft europäisches Europa.
Meine Damen und Herren, die europäische Einigung ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte, natürlich
mit Zweifeln und Rückschlägen versehen. Aber trotz
aller Zweifel, Rückschläge und Krisen, die es seit den
50er-Jahren immer wieder gegeben hat, sind wir doch
weit vorangekommen. Vor allem hat der europäische
Einigungsprozess zusammen mit der atlantischen
Allianz unseren Völkern seit nunmehr 60 Jahren
Frieden beschert. Dieses Glück ist den Völkern unseres
Kontinents niemals zuvor zuteil geworden.
({14})
Aber nicht nur Frieden: auch einen in der Geschichte
einmaligen Wohlstand, wie ihn die Menschen auf diesem
Kontinent - trotz der akuten ökonomischen Probleme so nie zuvor gekannt haben.
Meine Damen und Herren, die Kontinuität in der
Europapolitik gehört zum Grundkonsens aller deutschen
Regierungen und aller deutschen Demokraten. Ich kann
Europa unser aller Raison d’Être nennen: die Garantie
eines Lebens in Freiheit und in Würde. Diese Garantie
bringt die europäische Verfassung auf vortreffliche
Weise zum Ausdruck. Diese Verfassung ist das vorläufig
krönende Werk der politischen Arbeit von zwei oder drei
Generationen.
({15})
Mit der heutigen Abstimmung legen wir auch ein Zeugnis darüber ab, dass wir uns ihrem Vermächtnis würdig
erweisen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({16})
Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der Fraktion der
CDU/CSU, Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion wird mit großer Mehrheit der
Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages zustimmen.
Auch wenn sich eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion dieser Mehrheit nicht anschließen
wird - ihre Zweifel sind geblieben -, bringen wir als
Fraktion in unserer großen Mehrheit unser Ja zum Vertrag über die Verfassung in Europa eindrucksvoll zum
Ausdruck.
Wir sagen Ja dazu, mit diesem Vertrag die Einigung
Europas institutionell weiter zu festigen; denn wir vergessen nicht die Lehren von denen, die vor uns politische Verantwortung trugen, von Konrad Adenauer über
Willy Brandt bis Helmut Kohl, die Lehren aus den Katastrophen der beiden Weltkriege auf europäischem Boden. Europa als Friedens- und Wertegemeinschaft
stärken, dazu gibt es keine Alternative.
({0})
Als ich nach der deutschen Einheit Jugendministerin
wurde, rief mich im Sommer 1991 Bundeskanzler
Helmut Kohl an und sagte mir: Sie müssen Joseph
Rovan kennen lernen, einen der großen Befürworter des
Deutsch-Französischen Jugendwerkes, 1918 in München geboren, 1933 nach Frankreich emigriert, Kriegsdienst auf französischer Seite, Mitarbeiter der Résistance, 1944 verhaftet und nach Dachau deportiert, 1945
politischer Berater des Ministers Edmond Michelet und
glühender Befürworter des Jugendaustauschs zwischen
Deutschland und Frankreich.
Als ich ihn traf, übergab er mir sein Buch „Geschichten aus Dachau“ und drückte in so unbeschreiblicher
Weise gleichzeitig die Freude über die deutsche Einheit
und das Ende des Kalten Krieges aus, dass mir klar
wurde, welche Kraft die Visionäre am Ende des
Zweiten Weltkrieges aufgebracht hatten, dieses gemeinsame Europa zu bauen. Das werden und dürfen wir
niemals vergessen.
({1})
Winston Churchill sagte schon 1946 in einer Rede an
die akademische Jugend an der Universität Zürich: „Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!“
Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen.
Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute
eine Notwendigkeit für alle.
Das sagte Konrad Adenauer. Europa kann und darf kein
wirtschaftliches und technisches Unternehmen bleiben.
Europa braucht eine Seele, das Bewusstsein seiner historischen Affinitäten, seiner gegenwärtigen und künftigen
Aufgaben, einen politischen Willen im Dienste eines selben menschlichen Ideals, so Robert Schuman.
Einen politischen Willen im Dienste eines selben
menschlichen Ideals - dieser Wille hält heute immer
noch an. Das ist nach sechs Jahrzehnten, nach dem Zerfall alter Ordnungsmuster und alter Gewissheiten, nach
der Vervielfachung der Zahl der Mitgliedstaaten und angesichts ganz neuer Herausforderungen nicht selbstverständlich. Europa hat seit 1945 eine wechselvolle Geschichte erlebt: stürmischer Beginn - darüber ist heute
gesprochen worden - mit der Montanunion, den Römischen Verträgen, die Politik des leeren Stuhls von Frankreich 1965, Phasen des Leerlaufs und dann auch wieder
eine große Renaissance der Integrationsgeschichte durch
das Binnenmarktprojekt, durch das Schengener Abkommen, neue Perspektiven, neue Herausforderungen nach
dem Ende des Kalten Krieges, jetzt der Verfassungsvertrag 2005.
Immer waren Deutschland und Frankreich als Motor an dieser europäischen Einigung beteiligt. Es ist interessant, dass Papst Johannes Paul II. am Anfang dieses
Jahres, am 10. Januar, beim Empfang des Diplomatischen Corps beim Heiligen Stuhl noch einmal darauf
hingewiesen hat - ich zitiere -: Und Europa kann sehr
wohl als ein sicherlich privilegiertes Beispiel für die
Möglichkeiten des Friedens angeführt werden. Nationen,
die sich einst als erbitterte Feinde bekämpften, sind
heute in der Europäischen Union vereint, die sich im
vergangenen Jahr zum Ziel gesetzt hat, durch den Verfassungsvertrag von Rom noch enger zusammenzuwachsen.
Die Ratifizierung dieses Verfassungsvertrages am
Anfang des 21. Jahrhunderts heute hier in Deutschland
- gestern haben Österreich und die Slowakei zugestimmt; ich hoffe, dass das französische Referendum erfolgreich sein wird - ist ein weiterer historischer Schritt.
Auch ich möchte allen danken, die daran mitgewirkt haben, dass dieses Projekt ein Erfolg wurde, allen voran
dem Präsidenten des Verfassungskonvents, Valéry
Giscard d’Estaing, und allen Mitgliedern dieses Konvents, Roman Herzog und den Mitgliedern des Vorgängerkonvents, die sich mit der Grundrechte-Charta beschäftigt haben, und ich möchte danken, dass Wolfgang
Schäuble und Karl Lamers bereits Anfang der 90er-Jahre
davon gesprochen haben, dass es die Notwendigkeit eines solchen Projekts gibt, weil sich Europa vor allen
Dingen seiner gemeinsamen geistigen Grundlagen bewusst werden muss.
({2})
Ich bin froh - ich sage voraus, dass das weitergehen
wird und es intensiver werden wird -, dass sich Europa
mit seinen geistigen Grundlagen befasst. Was sind die
Werte, was ist die Würde des Menschen? Freiheit,
Gleichheit, Solidarität als Grundsätze der Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit - das alles ist als Identität der
Europäischen Union jetzt im Verfassungsvertrag festgeschrieben. Wir hätten uns gewünscht, dass auch über die
Wurzeln unseres Erbes, über das jüdisch-christliche
Erbe, in diesem Verfassungsvertrag eine deutlichere
Auskunft gegeben worden wäre. Ein klarer Gottesbezug
hätte uns mit Sicherheit geholfen, unsere Identität klarer
zu definieren.
({3})
Es ist immerhin zum ersten Mal gelungen, in diesem
Verfassungsvertrag den Status der Kirchen vertraglich
abzusichern. Das ist ein Erfolg. Wir werden weiter darum streiten, dass wir ohne Bekenntnis zu unseren Wurzeln den interkulturellen Dialog nicht werden führen
können.
({4})
Erwin Teufel hat in der ersten Lesung zu der Ratifizierung des Verfassungsvertrages hier von der Bundesratsbank aus sehr deutlich gemacht, dass es all denen, die
politische Verantwortung tragen, bei allem Bekenntnis
zu Europa aber auch zu denken geben muss, dass wir in
den letzten zehn Jahren in den monatlichen Umfragen
zur Akzeptanz Europas, die die Europäische Union in
allen Mitgliedstaaten durchführt - ich zitiere aus seiner
Rede -,
im Unterschied zu früheren Zeiten, als wir in
Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und
mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen
Länder, bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind.
Erwin Teufel sagte dann:
Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der
Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als
ein fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut
wie keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein
Geflecht von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine
Übersicht. Der Bauer, der Handwerksmeister, der
Kommunalpolitiker erleben aber fast tagtäglich
europäische Gesetzgebung, von der sie der Überzeugung sind, dass sie bürgerfern und problemfern
ist, dass sie sehr viel besser auf nationaler Ebene,
auf Landesebene, ja sogar auf kommunaler Ebene
erfolgen sollte.
So weit Erwin Teufel bei der ersten Lesung. Deshalb, so
glaube ich, ist es wichtig, dass wir uns vergegenwärtigen, dass sich Europa um die richtigen Aufgaben kümmern muss. Die richtigen Aufgaben sind die, die über die
Kraft des Nationalstaates hinausgehen.
({5})
Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass in diesem Verfassungsvertrag zum ersten Mal ganz eindeutig
die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips verankert ist.
Es sind neue Aufgaben definiert. Zu denen muss man
sich und zu denen werden wir uns bekennen: die Außenund Sicherheitspolitik als gemeinsame Politik der Europäischen Union. Dass die europäische Außenpolitik Gesicht und Stimme durch einen europäischen Außenminister bekommt, ist gut. Allerdings wird die Aufgabe
dieses Außenministers nicht ganz einfach sein, weil dies
auch voraussetzt, dass er eine einheitliche Haltung verkünden kann. Das heißt, ich hoffe sehr, dass es gelingt,
in den wichtigen außenpolitischen Fragen auch eine gemeinsame europäische Identität zu finden. Ich halte es
für außerordentlich wichtig, dass im Verfassungsvertrag
deutlich verankert ist, dass Sicherheitspolitik keine Politik gegen die NATO, sondern eine Politik in Übereinstimmung mit der NATO sein sollte.
({6})
In Fortführung des Vertrages von Amsterdam ist jetzt
auch deutlich, dass angesichts der Bedrohungen des
21. Jahrhunderts die Rechts- und Innenpolitik stärker
als bisher eine Gemeinschaftsaufgabe sein wird. Auch
hier halte ich es für richtig, dass wir diese Politik in
Europa gemeinsam betreiben. Jeder, der einmal Europol
besucht hat, weiß, wie wichtig Verbrechens- und Terrorbekämpfung auf europäischer Ebene sind. Ich sage allerdings auch, dass in diesem Zusammenhang die Fragen
der demokratischen Legitimation weiter diskutiert werden müssen. Ich darf wohl für alle hier Anwesenden sagen, dass die mündliche Verhandlung zum europäischen
Haftbefehl noch kein Ruhmesblatt für das Parlament
war.
({7})
Da müssen wir besser werden, meine Damen und Herren.
({8})
Weil das notwendig ist, ist es gut, dass in diesem Verfassungsvertrag die Stärkung des Demokratieprinzips
in vielfältiger Weise deutlich wird.
Die Rechte des Europäischen Parlaments werden gestärkt. Meine Damen und Herren, die Geschichte Europas ist lang und wir vergessen manchmal, dass das Europäische Parlament erst 1979 zum ersten Mal gewählt
wurde. Dieses Parlament ist noch heute auf einem Weg,
den andere nationale Parlamente natürlich längst hinter
sich gelassen haben. Es ist gut, dass die Rechte des
Europäischen Parlaments jetzt denen des Rates annähernd gleichgestellt werden, wenngleich das immer noch
nicht vollkommen geschehen ist.
Die CDU und CSU und auch die Europäische Volkspartei haben dafür gekämpft, dass sich die Ergebnisse
der Wahlen zum Europäischen Parlament zum Schluss
auch in der Besetzung der Kommission niederschlagen
müssen. Sonst verstehen die Menschen in den Nationalstaaten doch gar nicht, warum sie ein Europäisches Parlament wählen. Ich halte das für einen großen Fortschritt.
({9})
Wir haben die Demokratie mit diesem Verfassungsvertrag durch das Prinzip der doppelten Mehrheit gestärkt, was gerade für Deutschland von extrem großer
Bedeutung ist. Die Tatsache, dass in Zukunft nicht nur
die Stimmengewichtung der Länder - Deutschland 29,
Polen 27 Stimmen - entscheidend ist, sondern bei europäischen Beschlüssen zusätzlich auch die Mehrheit der
Bevölkerung erreicht werden muss, ist ein notwendiger,
richtiger und wichtiger Schritt, von dem insbesondere
Deutschland profitiert. Andere Länder haben sich damit
schwer getan. Trotzdem halte ich ihn für richtig. Er bedeutet für uns einen großen Erfolg.
({10})
Für die Kommission ist es jetzt notwendig und meines Erachtens auch dringlich, die Kompetenzen zur Erarbeitung von Richtlinien, in Zukunft Gesetze genannt,
wirklich zu überprüfen. Sie muss sie begründen vor dem
Hintergrund der Subsidiarität. Nicht mehr allgemeine
Zielbestimmungen in den europäischen Verträgen sind
Kompetenz begründend, sondern die Kompetenz muss
durch Einzelermächtigungen konkret nachgewiesen werden. Es ist gut, dass es die Subsidiaritätskontrolle und
die Subsidiaritätsklage und damit ein Frühwarnsystem
gibt. Ich sage für unsere Fraktion zu: Wir werden von
diesen Instrumenten dann, wenn wir es für notwendig
halten, regen Gebrauch machen, damit gerade dieses
Subsidiaritätsprinzip, das ich im Zusammenhang mit
Bürgernähe in Europa für essentiell halte, in Zukunft
besser durchgesetzt werden kann.
({11})
Meine Damen und Herren, nicht jeden, der einmal in
einem Rat in Europa gesessen hat, wird das freuen, aber
in Zukunft müssen die Ratssitzungen, die sich mit Gesetzgebung befassen, öffentlich sein. Das ist notwendig
und wird auch eine Veränderung der Diskussion mit sich
bringen. Dadurch wird einmal mehr deutlich gemacht
werden, dass darüber nachgedacht werden muss, wie oft
Gesetzgebung in Europa notwendig ist. Ich verhehle
nicht, dass einem gewisse Zweifel kommen, wenn
900 Richtlinien noch schlummern und zur Beratung anstehen. Wenn alle diese Sitzungen öffentlich sein werden, werden wir sehr viel mehr hinschauen können und
das ist gut so.
({12})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dann im Zusammenhang mit der Diskussion über den Verfassungsvertrag einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich damit
befasst, wie wir seitens des Bundestags eine bessere
parlamentarische Kontrolle gewährleisten können. Ich
möchte ganz besonders Peter Hintze danken, der zum
Schluss in den Verhandlungen nun doch gute Ergebnisse
erreicht hat.
Herr Bundeskanzler, ich spüre die Bereitschaft, dass
auch die Bundesregierung mit dem Parlament eine Vereinbarung darüber schließt, dass unsere Kontrollrechte
gestärkt werden, das heißt, dass europäische Angelegenheiten, die später in nationales Recht umgesetzt werden
müssen, frühzeitig diskutiert werden können, dass die
Bundesregierung ihre Position in den Verhandlungen
darlegen muss und dass auch Abweichungen von dieser
Position, die die Integrationskraft der Europäischen
Union notwendig macht, schnellstmöglich dem Parlament mitgeteilt werden, sodass wir nicht von Richtlinien
überrascht werden, die sieben Jahre nach Verabschiedung in Kraft treten. Es geht vielmehr darum, dass wir
dann, wenn etwas ansteht, mitdiskutieren können. Das
ist die Voraussetzung dafür, dass wir Europa auch zu den
Menschen in unseren Wahlkreisen tragen können.
({13})
Dabei verhehle ich nicht, dass wir nicht alle Wünsche
durchsetzen konnten. Wir hätten es gerne gehabt, dass
bei den Beitrittsverhandlungen auch eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen wäre. Aber wir haben einiges erreicht. Auf alle Mitglieder dieses Hauses kommt
viel zusätzliche Arbeit zu. Ich hoffe, dass jeder Kollege
gerne von seinen Kontrollrechten Gebrauch macht,
({14})
sodass es nicht nur zu Mehrarbeit für die Regierung,
sondern auch für die Parlamentarier kommt.
Ich glaube, dass wir an einem solchen historischen
Tag, an dem wir ein solches Projekt verabschieden, auch
sehen müssen - das hat etwas mit der Zustimmung zu
Europa zu tun -, dass wir in zweierlei Hinsicht am
Scheideweg stehen: zum einen, was die Integrationstiefe
anbelangt, und zum anderen, was die Ausdehnung der
Europäischen Union anbelangt. Es ist - jedenfalls aus
meiner Sicht - für das Funktionieren der Europäischen
Union von größter Bedeutung, dass es uns gelingt, Europa als Wertegemeinschaft, aber auch als ein Modell für
das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen, nämlich
als Sozialstaatsmodell durchzusetzen. Dies werden wir
im globalen Wettbewerb nur dann schaffen, wenn wir
wirtschaftlich stark sind.
Deshalb unterstütze ich alles, was mit der LissabonStrategie zusammenhängt. Aber wir werden in Zukunft
weiter überlegen müssen, was dem Ziel der wirtschaftlichen Stärke und der Schaffung von Arbeitsplätzen dient
und worauf wir vielleicht verzichten müssen. Dabei
könnte es sein, dass die Bestückung von Biergärten mit
Sonnenschirmen ein wenig zurücktreten muss und dass
dafür Richtlinien, die die wirtschaftliche Kraft in Europa
wieder anfeuern, in den Vordergrund treten.
Wir werden in den nächsten Jahren Diskussionen darüber führen, ob nicht Kompetenzen, die Europa schon
einmal hatte und die in dem viel gelobten Acquis
communautaire verankert sind, wieder an die Nationalstaaten zurückgegeben werden,
({15})
so wie wir es in der Föderalismuskommission zwischen
Bundes- und Länderebene derzeit miteinander diskutieren. Das bedeutet keine Schwächung von Europa; es bedeutet vielmehr, dass das Subsidiaritätsprinzip immer
wieder der Punkt sein muss, an dem wir überprüfen, welche Aufgabe wo am besten geleistet werden kann. Das
bedeutet dann auch, dass wir die Richtlinien, die wir aus
Europa bekommen, in Deutschland nicht im Übermaß
umsetzen sollten, indem wir immer noch 20 Prozent
draufsatteln; vielmehr sollten wir den fairen Wettbewerb
zwischen Deutschland und anderen ermöglichen.
({16})
Denn wir sind uns doch alle einig, dass mit Deutschlands
wirtschaftlicher Prosperität auch Europas wirtschaftliche
Prosperität in ganz wesentlichen Bereichen zusammenhängt.
Wir müssen uns der Frage stellen, welche Balance wir
in dem Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und
Erweiterung schaffen. Ich glaube, wir müssen sehr redlich und zum Teil auch leidenschaftlich darüber diskutieren, welche Erweiterungskapazitäten Europa hat. Der
Bundeskanzler hat am 7. Mai gesagt, es gebe Grenzen
der Erweiterung Europas, die sich nicht abstrakt festlegen ließen, sondern sich konkret aus der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union ergäben. Beitrittsfähigkeit und Aufnahmefähigkeit seien die zwei Seiten einer
Medaille. Ich kann das hundertprozentig unterschreiben.
Ich sage allerdings auch: Es wird immer wieder vorkommen, dass wir, wie zum Beispiel im Fall der Türkei, unterschiedlicher Meinung darüber sind, ob die Aufnahmefähigkeit - das ist mein Bezugspunkt - zu einem
bestimmten Zeitpunkt wirklich da ist, ohne dass wir das
europäische Einigungswerk gefährden. Lassen Sie uns
darüber fair, aber auch intensiv und leidenschaftlich
streiten! Es wird Europa gut tun.
({17})
Ich habe eine letzte Bitte. Wir müssen auch darauf
achten, dass wir mit einer Sprache sprechen, und zwar
außerhalb unseres Landes bei dem, was wir verhandeln,
und innerhalb unseres Landes, wenn wir Wahlkämpfe
haben.
({18})
- Ja, meine Damen und Herren, ich sage das in aller
Nüchternheit. - Ich glaube, man darf nicht - wie es über
Monate geschehen ist - über eine Richtlinie wie die
Dienstleistungsrichtlinie, die von Grund auf richtig ist,
plötzlich in Situationen, in denen es zu bestimmten Entscheidungen kommt, etwas nuanciert und anders sprechen, als man das vorher getan hat.
({19})
Ich glaube, man muss bei den Beitrittsverhandlungen
ganz klar Position beziehen. Die Bundesregierung hat es
formal auch getan. - Darüber brauchen Sie sich gar nicht
aufzuregen. Der Bundeskanzler hat zum Beispiel in Weiden - in fünf Punkten - gesagt: Wir dürfen nicht nur die
Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
beschränken, sondern wir müssen auch bei der Freizügigkeit im Bereich der Dienstleistungen Einschränkungen vornehmen. Er hat damals das Baugewerbe - dort ist
es geschehen - und Bereiche des Handwerks - dort ist es
so gut wie nicht geschehen - als Beispiele genannt.
Wenn wir uns heute die Statistiken ansehen und uns
über die stark angestiegene Zahl der Neugründungen
von Handwerksbetrieben freuen, dann dürfen wir nicht
vergessen, dass Realität ist, dass zum Beispiel in Köln
50 Fliesenlegerbetriebe aus den mittel- und osteuropäischen Staaten in einer Wohnung ansässig sind, weil die
Fliesenleger - anders als in Österreich - nicht von der
Dienstleistungsfreiheit ausgenommen wurden.
({20})
- Bleiben Sie ganz ruhig! Ich bin gar nicht auf Polemik
gestimmt.
({21})
- Ich bin überhaupt nicht auf Polemik gestimmt.
Ich sage Ihnen nur in aller Ruhe: Wenn Sie in einem
Jahr die Handwerksordnung so ändern, dass der Zugang
der Fliesenleger zum Arbeitsmarkt vereinfacht wird, und
gleichzeitig die Dienstleistungsfreiheit ermöglichen,
dann dürfen Sie zumindest zum Schluss über den Sachverhalt nicht Klage führen. Wir hätten das anders gemacht.
({22})
Ich sage dies deshalb, und zwar in tiefem Ernst, weil
es mir und meiner Fraktion darum geht, dass Europa aus
den heute genannten historischen Gründen auch in den
nächsten Jahrzehnten die notwendige Akzeptanz, die
notwendige Bürgernähe aufbringt, damit die Menschen
in diesem Lande Europa als eine Chance begreifen, als
eine Chance in der globalen wirtschaftlichen Auseinandersetzung, als eine Chance in der kulturellen Auseinandersetzung, als eine Chance, ein Partner zu sein, der für
Freiheit und Demokratie in der Welt streitet. Um das
nicht aufs Spiel zu setzen, müssen wir auch in dem, was
vielleicht wie ein Detail erscheint, was die Menschen
aber betrifft, ernsthaft miteinander ringen.
Ich glaube - damit lassen Sie mich schließen -, der
vorliegende Verfassungsvertrag hat unsere Möglichkeiten erheblich erweitert. Deshalb kann ich aus vollem
Herzen Ja sagen, auch wenn mir nicht alles gefällt. Aber
der Streit um Europa muss im 21. Jahrhundert unter
neuen Bedingungen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger genauso leidenschaftlich geführt werden, wie das die
Gründungsväter der Europäischen Union getan haben.
Herzlichen Dank.
({23})
Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Franz Müntefering.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt Wochen, die haben es in sich. Dies ist so eine Woche.
({0})
Deshalb will ich ein bisschen dabei verweilen; denn die
Dinge gehören zusammen.
8. Mai: Zehntausende demonstrieren am Brandenburger Tor Demokratie und für Demokratie, darunter Vertreter der Aktion Sühnezeichen, des Anne-FrankZentrums, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, der
Arbeiterwohlfahrt, des Türkischen Bunds in BerlinBrandenburg, von Mehr Demokratie e. V., des DGB,
von „Zivilcourage zeigen“ und von „Gesicht zeigen“.
Das waren ein sympathisches Gesicht und ein gutes Gefühl in Deutschland.
({1})
Wenn man auf der Straße, an den Ständen oder in den
Zelten dabei war, dann sah man: Die ist dabei, der ist dabei, fröhlich locker, aber auch entschlossen. Die Botschaft war eindeutig: Diese deutsche Demokratie ist
selbstbewusst und sie ist sich ihrer Verantwortung bewusst; Nazis und Extremisten jedweder Art haben in
Deutschland keine Chance - nie wieder!
({2})
Ich richte unseren Dank an Klaus Wowereit und alle
Verantwortlichen in Berlin. Dies gilt ganz besonders für
die Polizistinnen und Polizisten, die in diesen Tagen in
vorbildlicher Weise mitgewirkt haben. Wir waren und
sind auf unsere Hauptstadt richtig stolz.
({3})
9. Mai: Russland gedenkt des Kriegsendes vor
60 Jahren und lädt dazu den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als Freund ein. Das Land, das
mehr als jedes andere unter der Aggression Deutschlands gelitten hat, zeigt Versöhnung. Der Bundeskanzler
hat in seiner Rede heute die gute Geschichte Europas seit
Adenauer und de Gaulle skizziert. Ich füge hinzu: Dass
Präsident Putin, Bundeskanzler Gerhard Schröder und
viele Staatsmänner in Moskau gemeinsam Friedfertigkeit und Freundschaft demonstriert haben, gehört in die
Kette einer großartigen, hoffnungsvollen Entwicklung
Europas und hoffentlich weit darüber hinaus.
({4})
10. Mai: Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas für die Öffentlichkeit. 2711 Stelen
und das darunterliegende Informationszentrum machen
dieses Mahnmal in der Gegenwart und für die Zukunft
zu einer Stätte dauerhafter Erinnerung an eine grausame,
entsetzliche deutsche Vergangenheit. Gedenkstunden
gibt es viele. Wer die Zeitzeugin Sabine van der Linden
in der Gedenkstunde vorgestern miterlebte, der wird sie
nie vergessen.
({5})
12. Mai, heute: Vor 40 Jahren, am 12. Mai 1965, nahmen Israel und die Bundesrepublik Deutschland
diplomatische Beziehungen auf. Das waren und das
sind keine einfachen Beziehungen; aber sie haben zur
Wiederannäherung zwischen dem deutschen und dem
jüdischen Volk geführt. Damals, 1965, wurde ein Abgrund überwunden, wie es ihn tiefer zwischen zwei Völkern in der Menschheitsgeschichte wohl nicht gab.
Die Überlebenden, die Angehörigen der Ermordeten,
haben nach dem Ende des Schreckens vielfach Zuflucht
in Israel gefunden. Sie haben den jungen Staat mit aufgebaut, der den Juden aus aller Welt eine sichere Heimat
bieten soll. Vielen von ihnen war der Gedanke, normale
Beziehungen zu Deutschland und zu Deutschen zu unterhalten, zu Anfang unerträglich. Es bedurfte einer ungeheuren Kraft und eines großen Herzens, sich im Licht
dieser Vergangenheit trotzdem der Zukunft zuzuwenden.
Diese Kraft hatten die Menschen in Israel. Dafür sind
wir dankbar.
({6})
Dieser 12. Mai 2005 wird aber auch als derjenige Tag
in den Geschichtsbüchern stehen, an dem der Deutsche
Bundestag den Vertrag über eine Verfassung für Europa
beschließt. Eine Verfassung beschließen heißt, Grundwerte zu benennen und sich Regeln zu geben. Eine Verfassung ist keine Garantie für eine richtige Politik; aber
sie erleichtert richtige Politik. Sie ist ein Kompass, weist
also den Weg. Sie kann keine Steine aus dem Weg räumen - Steine wird es wahrlich genug geben und wir stoßen jeden Tag auf welche -; aber sie gibt Orientierung.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist ein gutes
Beispiel und eine Erfolgsgeschichte. Theoretisch könnte
in Deutschland heute auch ohne Grundgesetz alles so
sein, wie es heute ist; aber eben nur theoretisch. Jean
Monnet hat sich zu dieser Problematik einmal so geäußert: „Es kommt nicht darauf an, aufzuschreiben, was
sein soll, sondern es kommt darauf an, aufzuschreiben,
was sein kann.“ Richtig!
Was kann Europa sein? Eine Region, in der die Menschenrechte und die Grundrechte gesichert sind. Die
EU-Charta der Grundrechte ist integraler Bestandteil
der europäischen Verfassung. Sie wird rechtsverbindlich.
Die Grundrechte werden individuell einklagbar. Die
Charta ist Kern einer gemeinsamen europäischen Werteordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, jeder
Bürger und jede Bürgerin. Dieses Dokument fortschrittlicher Menschenrechte und Grundrechte enthält neben
den politischen und bürgerlichen auch weit gehende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte und hat sich
bereits heute zu einem Dokument mit weltweiter Strahlkraft entwickelt.
Die europäische Geschichte mit all ihren Irrungen
und Tragödien ist auch geprägt von der Nächstenliebe
christlicher Gesinnung, von der Mitmenschlichkeit der
Aufklärung und des Humanismus, von der Solidarität
sozialdemokratischer und sozialistischer Ideen. Die
Grundrechte, die sich damit verbinden, garantieren die
Freiheit des Einzelnen, die Gerechtigkeit im staatlichen
Handeln und die Solidarität in der Gesellschaft. Für die
Verfassung stimmen heißt Zustimmung zu diesen Werten.
({7})
Was kann Europa sein? Eine Region der Demokratie. 25 souveräne Staaten - bald mehr als 25 - bilden
eine Union. Wir lernen, diese Union demokratisch zu gestalten. Wie geht und wie lebt Demokratie, wenn es Gemeinden und Länder und einen Bundesstaat und die
Union gibt, und dies in Variationen und 25-mal? Wir alle
müssen wohl üben. Aber Üben ist keine Schande. Eine
Schande wäre es, wenn sich die Demokratie mutlos in
nationalstaatliche Selbstvergessenheit und Verzagtheit
zurückfallen ließe.
({8})
Wir wollen dieses Europa als eine Region der Demokratie. Einfach ist das nicht; das wissen wir alle. Die EUVerfassung steht allerdings nicht dagegen; sie hilft, mehr
Demokratie zu wagen in Europa. Mehr Teilhabe der
Bürgerinnen und Bürger unmittelbar, das ist ein Anliegen sozialdemokratischer Politik. In unserem Grundgesetz steht das noch nicht. Das ist bislang am Widerstand
von CDU und CSU gescheitert. Bei der EU-Verfassung
waren wir erfolgreicher. Sie sieht die Möglichkeit eines
europäischen Bürgerbegehrens vor.
({9})
Es ist nicht leicht, aber es ist ein Angebot an die Menschen in Europa.
Das geht im Übrigen auf die Initiative des sozialdemokratischen Vertreters des Bundestages im Konvent,
Professor Dr. Jürgen Meyer, zurück. Das freut uns. Ich
begrüße ihn heute hier ganz herzlich.
({10})
Mehr Teilhabe der Parlamente, des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente. Auch der Deutsche Bundestag ist direkt in die Rechtsetzung der europäischen Ebene einbezogen. Das ist prinzipiell nicht neu.
Diese Rechte des Bundestages werden jedoch bald konkretisiert. Dazu liegen Gesetzentwürfe vor. Das Frühwarnsystem zur Subsidiaritätsrüge und die Möglichkeit
zur Klage stärken unsere Mitwirkungsrechte bei europäischen Entscheidungen. Sie sind aber weder ein Ersatz
für die parlamentarische Kontrolle und Legitimation des
europäischen Handelns der Bundesregierung noch dürfen sie als Instrumente gegen die europäische Integration
missbraucht werden.
Der Bundestag hat bereits heute ein breites Instrumentarium, um Regierungshandeln demokratisch zu
kontrollieren. Wenn wir jetzt neue Rechte für den Bundestag vereinbaren, dann in erster Linie deshalb, um bereits bestehende Rechte besser nutzen zu können, um sie
für die parlamentarische Arbeit handhabbarer zu machen. Was für Deutschland nicht geht, will ich auch ansprechen. Das sind Regelungen, die die Europapolitik
Deutschlands zum Stillstand bringen würden. Eine Knebelung deutscher Europapolitik durch den Bundestag
wird es mit uns nicht geben. Wir wollen eine handlungsfähige deutsche Europapolitik im Dienst der Vertretung
der Interessen unseres Landes und seiner Bürgerinnen
und Bürger auf EU-Ebene. Wir wollen eine jederzeit
handlungsfähige Bundesregierung. Sie muss in Europa
jederzeit agieren und mit führen können; auch das gehört
zur Wahrheit dazu.
({11})
Mir sei der Hinweis erlaubt: Wir müssen in der Debatte um die Föderalismusreform in Deutschland klarstellen, dass wir in Europa nicht mit 17 Wirtschafts- und
Finanzministern unterwegs sein wollen, sondern dass es
im Hinblick auf den Einfluss Deutschlands in Europa
nötig ist, die Interessen unseres Landes zu bündeln und
sie durch die Bundesregierung verantwortlich vertreten
zu lassen. Deutsche Kleinstaaterei hat in Europa keinen
Platz. Peer Steinbrück, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat dazu Vernünftiges gesagt.
({12})
Was kann Europa sein? Ein soziales Europa. Soziale
Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt, Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialer
Schutz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Solidarität zwischen den Generationen und der Kampf gegen
soziale Ausgrenzung und Diskriminierung werden mit
dieser Verfassung zu erklärten Zielen europäischer Politik. Wir wollen, dass auch in Zeiten von Globalisierung
und Entgrenzung der Märkte und des Geldes Europas
Politik von dem Anspruch bestimmt wird, sozial zu sein.
({13})
Albert Einstein: „Der Staat ist für die Menschen und
nicht die Menschen für den Staat.“ Das gilt auch für die
Ökonomie.
Soziale Marktwirtschaft heißt auch: gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Anspruch auf Elternurlaub, das
Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung,
Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz, das
Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
oder ihrer Vertreter auf rechtzeitige Unterrichtung und
Anhörung, das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und
bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung der Interessen zu ergreifen, einschließlich des
Rechts auf - hoffentlich selten vorkommende - Streiks.
({14})
Das sind unveräußerliche Bestandteile sozialer Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist auch in diesen
Zeiten wettbewerbsfähig gegenüber einer puren Marktwirtschaft, denn sie wird von der Verantwortung aller für
das Gelingen getragen und sichert den sozialen Frieden.
({15})
Unsere Botschaft ist klar: Dass die EU-Dienstleistungsrichtlinie nicht nur den Idealen liberaler Wettbewerbspolitik entsprechen darf, sondern auch sozialen Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
unserem Lande genügen muss, das ist ein klares Wort
und das vertreten wir auch so.
({16})
Dass europäische Steuerpolitik mindestens im Bereich
der Bemessungsgrundlagen kompatibel sein muss und
nicht zu Steuerdumping führen darf, auch das ist ein klares Wort. Das wollen wir so.
({17})
Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist anstrengend, aber bietet eine große und zugleich die einzige
Chance. Wir Europäer müssen es in den nächsten beiden
Jahrzehnten schaffen, aus Europa eine stabile Region
des dauerhaften Wohlstandes für alle zu machen, der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens. Wir können das
schaffen.
Kleinkarierte Populisten und Wortverdreher helfen
uns da nicht.
Ich will auf den Schlenker, den Sie, Frau Merkel, gemacht haben, eingehen; ich hatte dieses Thema sowieso
vorgesehen. Wenn Sie Näheres über die 50 Fliesenleger
in Köln wissen, auf die Sie eingegangen sind, dann bitte
ich Sie sehr herzlich: Geben Sie mir die genaue Adresse.
Ich sorge dafür, dass morgen dort Besuch erscheint, der
klarstellt, dass dieses Verhalten illegal ist. Reden Sie also
nicht nur darüber, sondern helfen Sie mit, dass solch ein
Verhalten bekämpft wird! Damit kämen wir der Lösung
schon ein Stück näher.
({18})
- Ja, das sind ja Geschichten, von denen wir in den letzten Tagen und Wochen immer mehr hören.
Der Kanzler hat vorhin die letztjährige Erweiterung
und die geplante Erweiterung zum 1. Januar 2007 angesprochen. Alle wussten, dass Bulgarien und Rumänien
gemeint sind. Keiner von Ihnen hat die Hand gerührt.
({19})
Ich lese einmal vor, was Wolfgang Schäuble am 3. Juli
2003 gesagt hat:
Europa erweitert sich nicht, sondern Europa überwindet seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch
nicht zu Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder
Belgrad sind schließlich Europa.
Damit ist gesagt: Auch Bulgarien, Rumänien, Kroatien
und Serbien gehören zu Europa dazu.
({20})
Ich sage nur: Man muss sich hüten, welche Botschaft
man an welcher Stelle gibt.
Im Zehnpunktepapier zur Erweiterung der Europäischen Union von Anfang 2001 macht die Union deutlich, dass sie die Zuwanderung von Arbeitskräften als
Gewinn betrachtet. Diese werden „keine großen Verwerfungen verursachen“, so heißt es.
({21})
Deutschland sei bereits jetzt in bestimmten Bereichen
immer stärker auf eine größere Zahl von ausländischen
Arbeitskräften angewiesen. Die Erweiterung werde die
Wirtschaft und den Euro stärken und die Arbeitsplätze in
Deutschland sichern und stärken. Auch die innere Sicherheit werde zunehmen. - Was man da nicht alles so
liest!
({22})
Über Peter Hintze, Ihren Sprecher für europapolitische Fragen, heißt es am 15. Februar 2001 in der „Süddeutschen Zeitung“:
({23}) plädiert in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Zuge der EU-Osterweiterung für deutlich kürzere Übergangsfristen als die Bundesregierung.
({24})
Diese sieben Jahre seien eindeutig zu lang.
Er halte eine Frist von drei Jahren für ausreichend …
({25})
Die zu erwartende Zahl der Arbeitnehmer aus den
Beitrittsstaaten liege unter den Bedürfnissen des
deutschen Arbeitsmarktes …
({26})
Ich lasse das alles so stehen. Fröhliches Wiedersehen bei
diesen Themen im Wahlkampf, kann ich Ihnen nur sagen! Wir haben da gutes Material.
({27})
Was kann Europa sein? Eine Region des Friedens.
Der Frieden in Deutschland und in Europa, nach dem
Niedergang des Kommunismus gefestigt, ist ein Segen.
Das wissen wir alle. Viele von uns haben 60 Jahre Frieden erlebt. Das gab es über Jahrhunderte an dieser Stelle
in Europa nicht. Aus verfeindeten Völkern sind Freunde
geworden. Das soll heute noch einmal betont sein, ganz
im Sinne Willy Brandts: „Wir wollen gute Nachbarn
sein, nach innen und nach außen.“
({28})
Frieden ist ein hohes Gut. Im tagtäglichen KleinKlein der europäischen Integration gerät das leicht in
Vergessenheit. Die europäische Integration dient auch
dem Ziel, den Frieden in Europa zu erhalten. Europäische Politik muss auch künftig dem Friedensziel dienen.
Das ist Grundvoraussetzung für eine Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Einigung Europas. Friedenserhalt im Innern bedeutet auch, dass Europa sein wirtschaftliches und politisches Gewicht nutzt, um für eine
aktive Friedenspolitik nach außen einzutreten. Es werden große Erwartungen an die EU gerichtet, beispielsweise von den Vereinten Nationen. Sie fordern mehr
europäisches Engagement in den Bereichen humanitäre
Hilfe sowie Konfliktvorbeugung und -bewältigung weltweit; denn sie wissen, dass Europas einmalige Erfahrung
in der Schaffung von friedlicher Zusammenarbeit und
Wohlstand von unschätzbarem Wert ist. Auch diese Aufgabe hat Europa zu erfüllen und wir wollen uns ihr stellen.
({29})
Werden wir heute hier und am 27. Mai im Bundesrat
die nötige Zweidrittelmehrheit erreichen? Wir dürfen
wohl sicher sein. Ich sage aber auch in alle Richtungen:
Es wäre gut, wenn alle dabei wären. Die bayerische Spezialität, damals gegen das Grundgesetz zu stimmen,
muss hier nicht zur Tradition weiterentwickelt werden.
({30})
Ich war, wie viele im Hause, in den vergangenen Tagen in Frankreich und habe dort die Anstrengungen erlebt, unter denen viele unterwegs sind und für die EUVerfassung werben. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, sich
in solche Angelegenheiten einzumischen. Aber ich sage
trotzdem: Es ist - da bin ich gewiss - der Sache dienlich.
Ich wünsche mir und uns allen in Deutschland und im
Deutschen Bundestag von Herzen, dass wir in diesem
Mai 2005 in Deutschland und in Frankreich das gute,
klare Signal geben: Wir wollen dieses Europa - demokratisch, sozial und friedfertig.
Vielen Dank.
({31})
Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Wolfgang Gerhardt.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal aus dem Wahlkampf ein
Stück zurück zum Thema des Tages.
({0})
Es geht um den europäischen Verfassungsvertrag. Er
bringt, um es kurz zu sagen, ein Stück Stärkung des
Europäischen Parlaments. Er bringt Klärungsmechanismen für die nationalen Parlamente beim Thema Subsidiarität. Er verankert unter unserer großen Wertschätzung eine Grundrechte-Charta in der europäischen
Verfassung. Er ermöglicht qualifizierte Mehrheitsentscheidungen und eröffnet die Chance zur Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik.
Er hat aber auch Schwächen. Im Rahmen des Defizitverfahrens wird die Kommission nicht so gestärkt, wie
wir es möchten. Die Konstruktion der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik ist ein Potenzial für die
Zukunft. Es kommt aber auf die Persönlichkeit an, die
sie unternimmt. Wenn sie sich zwischen den Institutionen zerreiben lässt, wird diese Politik scheitern. Wenn es
ihr gelingt, zwischen den Institutionen zu arbeiten, wird
diese Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die
unsere Hoffnung ist, gelingen.
Der Verfassungsvertrag führt bei dem Institutionengefüge noch nicht zu der Klarheit, die wir uns wünschen.
Aber um es ganz deutlich zu sagen: Es gibt keine Alternative zu diesem Vertrag. Er beschreibt das jetzt Erreichbare; er zeigt in die richtige Richtung. Die Bundestagsfraktion der FDP wird heute mit Ja stimmen.
({1})
Ich will nicht länger über den Verfassungsvertrag argumentieren. Die entscheidende Aufgabe ist nämlich
eine andere. Es geht um die Frage, ob es uns gelingt, mit
politischer Überzeugung in den Gesellschaften - auch in
der deutschen Gesellschaft - zu verankern, dass dieser
Weg alternativlos und richtig ist und aus welchen Gründen er gegangen werden muss.
({2})
Die eigentliche Aufgabe liegt nicht darin, auf Seminaren den Verfassungsvertrag - durch wen auch immer groß zu beschreiben. Die eigentliche Aufgabe liegt zwischen dem Pathos der ganzen europäischen Bewegung,
das sie mit Recht anführen kann und das sich durch
weite Teile der Aussprache zieht, und dem Alltag der
Menschen in Europa. Wenn uns das nicht gelingt, nutzt
uns eine geschriebene und verabschiedete Verfassung
nichts.
({3})
Für die Verabschiedung ist der heutige Tag gewählt
worden - wir dürfen nicht darüber hinweg diskutieren,
dass er aus guten Gründen gewählt worden ist -, um ein
Signal an unseren befreundeten europäischen Nachbarn
Frankreich zu senden. In diesem Land findet ein Referendum statt. Da spielt all das hinein, was wir auch in
Deutschland spüren: Unmut. Nur schwer begreifen die
Menschen das Tempo der Erweiterung. Sie kommen an
Grenzen der Nachvollziehbarkeit europäischer Entscheidungen. Sie haben von den politischen Führungen in
Europa schon lange nicht mehr klar, überzeugend, deutlich und mutig die Frage beantwortet bekommen, worauf
wir denn jetzt in der Tat hinaus wollen.
Dass wir Deutschen nach den Katastrophen, die wir
erlebt haben, Europa brauchen, ist gar keine Frage. Aber
wohin wir jetzt mit Europa gehen wollen, das muss neu
grundgelegt werden. Wer das verdrängt - zu einem Teil
der Verdrängung gehörte die Diskussion hier im Haus,
ob wir zu einem Volksentscheid kommen sollten -, der
muss sich fragen lassen, ob er nur aufgrund von europäischen Gipfeltreffen glaubt, europäische Gesellschaften
von dieser Verfassung überzeugen zu können. Wir spüren, dass das so nicht funktionieren kann.
({4})
Die europäische Nachkriegsgeschichte hat in allen
beteiligten europäischen Ländern große Namen hervorgebracht. Aber Europa kann nicht nur eine Sache der
politischen Eliten sein. Europa muss auch eine Sache
seiner eigenen Gesellschaften sein: im Umfang, in den
Zielen und im Credo.
({5})
Deshalb kommt es mir darauf an, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, denen, die hier sind, und denen,
die an den Fernsehgeräten zusehen, klar zu sagen: Es
gibt kein Land in Europa, das Europa selbst, eine handlungsfähige Europäische Union, aber auch ihre Durchschaubarkeit und ihre Überzeugung so dringend braucht
wie die Bundesrepublik Deutschland.
Es gibt im Übrigen auch kein Land in Europa, das wie
die Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig so dringend und notwendig das transatlantische Bündnis
braucht. Deshalb sollten wir niemals den Sirenenklängen
nachgeben und so tun, als ob wir Europa mit einem kleinen Gegengewicht zu Amerika aufbauen könnten.
({6})
Wir müssen nicht der Auffassung sein, dass die amerikanische Administration jedes Mal Recht hat. Auch
Konrad Adenauer und Helmut Schmidt haben sich in
Einzelfragen heftig mit der amerikanischen Führung
auseinander gesetzt. Das ist nicht die Frage. Aber wir
Deutschen müssen genau wissen, wer unsere Sicherheit
am Ende garantiert, mit wem wir Wohlstand erreicht haben und zu wem wir gehören.
({7})
Deshalb ist das Gerüst Europäische Union und transatlantische Partnerschaft so wichtig.
Nun zu den Zielen. Wenn Europa mit seinen Erfolgen,
die es zweifellos hat, Gestaltungsanspruch erheben will,
dann darf es nicht in dieser Lethargie verbleiben, in der
es sich gegenwärtig trotz Verfassungsvertragsentwurfs
befindet.
Wir sind von den Zielen des Lissabon-Unternehmens
weit entfernt. Wir wollten in wenigen Jahren der wirtschafts- und wissenschaftsstärkste Raum der Welt sein.
Wir hatten den Bürgern vorgegeben, dass wir ihnen
mehr Chancen als Risiken anbieten. Aber wir sind noch
nicht einmal auf der Hälfte der Strecke. Herr Kollege
Müntefering, ich bezweifle für meinen Kolleginnen und
Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion, ob wir dieses
Ziel mit einem europäischen Modell, wie Sie es zeichnen, das staatlichen Regelungen einen sehr starken Vorrang einräumt, erreichen.
Lassen Sie mich einmal vorlesen, was uns Alexis de
Tocqueville, der großartige französische Nachbar, schon
1835 ganz erfrischend ins Stammbuch geschrieben hat:
Der Europäer ist gewohnt, ständig einen Beamten
vorzufinden, der sich so ziemlich in alles einmischt …
Der Bürger in den Vereinigten Staaten lernt von
klein auf, dass er sich im Kampf gegen mancherlei
Schwierigkeiten des Lebens auf sich selbst verlassen muss. Er hat für die Obrigkeit nur einen misstrauischen und unruhigen Blick und ruft die Macht
nur zur Hilfe, wenn er es gar nicht vermeiden kann.
Es mag einen Weg zwischen diesen beiden Positionen
geben; aber eine Prise angloamerikanischen Denkens in
Wirtschaftsbeziehungen, in eigener Tatkraft und in der
Vitalität der Gesellschaften täte uns ganz gut.
({8})
Ich glaube nicht, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland mit einem durchregulierten europäischen
Sozialmodell à la Frankreich und Rot-Grün weiterkommen. Nicht ohne Grund schwächeln diese beiden Länder
gegenwärtig am stärksten, obwohl sie als dynamische
Tandemfigur Zugpferde sein müssten. Irgendetwas
stimmt hier also nicht.
Wir brauchen eine Revitalisierung Europas. Aber das
wird nur gelingen, wenn wir die Kraft der Gesellschaften
entfalten und ihnen staatliche Rahmenbedingungen geben, die sie dazu befähigen.
({9})
Wenn wir sie hinwegregulieren, werden wir dazu nicht
kommen.
Meine Damen und Herren, was ist der innere Zusammenhalt Europas? Sloterdijk sagt:
Wer die Äneis von Vergil liest, weiß, wo Europa
liegt. Europa, das ist ein Punkt auf der Karte der
Hoffnung. Wo besiegte Menschen eine zweite
Chance bekommen.
Es gibt dafür keine bessere Ausdrucksform.
Wenn wir an den 8. Mai denken, wissen wir, dass wir
Deutsche diesen Satz dreimal unterstreichen können. Es
ist unstreitig, dass Europa nach den Katastrophen eine
schlichte Überlebensfrage für seine Bürger war. Europa
ist für uns nicht nur Wirtschaft. Europa ist mit der Ideengeschichte der Menschheit, mit Pluralismus, individueller Freiheit, der Aufklärung, der Französischen Revolution und den Bürgerrechten verbunden.
Ob ein Gottesbezug in der Verfassung steht oder
nicht: Europa hat christlich-jüdische Wurzeln. Sie gehören zu uns, ob man nun Mitglied der Evangelischen Kirche oder Katholik ist. Wenn der berühmte Satz: „Vor
Gott sind alle Menschen gleich“ stimmt - ich bin überzeugt, dass er stimmt; dafür muss man nicht jeden
Sonntag in die Kirche gehen -, dann gilt dieser Satz
nicht nur für Katholiken und Protestanten, sondern für
alle Menschen. Er gilt auch für die anderen. Wenn wir
nicht in Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen
leben, wird Europa nicht gelingen.
({10})
Das sind die Wurzeln, die wir ohne Hineinschreiben des
Gottesbezugs in die Verfassung kennen müssen. Sie sind
mehr als katholisch oder evangelisch; sie sind unsere
kulturellen europäischen Wurzeln.
({11})
Wir brauchen, wenn wir Menschen Ziele geben wollen und ihnen sagen wollen: „Die Risiken sind geringer
als die Chancen“, neue Dynamik, neue Vitalität. Nur
wenn wir selbst dies ausstrahlen, werden wir am Ende
ein Europa aufbauen können, in dem die Menschen
gerne leben, das sie nicht ängstlich beschauen und in
dem sie keine neuen Wettbewerber fürchten, sondern in
dem sie sich wohl fühlen und ihre Lebenschancen suchen.
Wir wollen - damit will ich abschließen -, dass Europas Stimme gehört wird. Dann muss man sich aber erst
bei sich selbst Gewicht verschaffen. Die Stimme eines
schwächelnden Kontinents ohne Wachstumsraten, ohne
neue wirtschaftliche Dynamik und ohne internationale
strategische Vorstellungen wird kaum gehört werden. Sie
muss noch viel kräftiger entwickelt werden, sei es nur,
dass wir sagen müssen: Die Nationen, die wie wir und
unsere europäischen Nachbarn in Freiheit leben, haben
eine besondere Verpflichtung den Menschen in der Welt
gegenüber, die weiter in Unfreiheit leben müssen.
Das ist die Aufgabe, die wir wahrnehmen müssen,
und das ist die Botschaft an andere. Das setzt aber voraus, dass wir eine eigene Überzeugung von unserem
Kontinent und seinen Aufgaben haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das Wort Bundesaußenminister Joseph
Fischer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner
letzten Rede vor dem Europaparlament - das war eine
große Rede - hat der bereits vom Tod gezeichnete damalige französische Staatspräsident François Mitterrand in
einem, wie ich finde, bewegenden und zugleich bedenkenswerten Satz den eigentlichen Grund für die Gründung der Europäischen Union zusammengefasst.
François Mitterrand hat damals gesagt: Der Nationalismus, das ist der Krieg. Die Überwindung des Nationalismus durch den Gedanken der europäischen Integration
- der Bundeskanzler hat die Geschichte dieses Gedankens heute noch einmal sehr beeindruckend vor Augen
geführt - bedeutete für Europa die Überwindung des
Kriegs.
Ich war gestern im Wahlkampf für das Referendum in
Lyon. Dort bin ich auf französische Politiker meiner Generation getroffen. Wir sind die erste Generation, die
nicht gegeneinander ins Feld gezogen ist, die nicht gegeneinander gekämpft hat, die sich nicht gegenseitig
umgebracht hat.
({0})
Daran muss sich das europäische Einigungswerk messen.
Es geht nicht nur um die Frage der Vergangenheit, auf
die der Bundeskanzler heute völlig zu Recht hingewiesen hat. Erinnern wir uns doch an den Beginn einer
neuen europäischen Ordnung, an die Rückkehr des
Krieges in Jugoslawien 1990/91! Erinnern wir uns doch
daran, dass in dem Moment, in dem die europäische Integration als Angebot nicht greift, die Gefahr des Rückfalls in einen blutigen, Menschen verachtenden Nationalismus in Europa nach wie vor eine konkrete war und
bleiben wird! Deswegen appelliere ich an alle, noch einmal darüber nachzudenken, wenn jetzt versucht wird, im
Wahlkampf kurzfristig eine populistische Münze zu
schlagen: Die Politik der europäischen Erweiterung war
immer Bestandteil europäischer Friedenspolitik. Das
heißt, das Angebot, zum Europa der Integration zu gehören, ist ein entscheidender friedenspolitischer Ansatz,
den wir seit der Idee der europäischen Integration und
ihrer Umsetzung verfolgt haben und auch in Zukunft
weiter verfolgen müssen.
({1})
Wenn wir ein friedliches Europa wollen, können wir
nicht ein Europa wollen, das sich in ein Europa der Integration und in ein Zwischeneuropa teilt, in dem sich mit
Blick auf Brüssel und die Integration die Gefühle zwischen Sehnsucht und Frustration bewegen. Nein, das
wird nicht funktionieren; das ist die Botschaft, die wir
1991 aus dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu lernen haben. Wenn wir - trotz aller Lösungen bis hin zum
Kosovo - die Perspektive der europäischen Integration
kappen würden, drohten die Probleme, die Konflikte,
aber auch die Barbarei zurückzukehren.
({2})
Die europäische Verfassung ist daher eine der zentralen Konsequenzen der erweiterten Europäischen Union.
All die Probleme, mit denen wir zu tun haben, auf dem
Arbeitsmarkt und in vielen anderen Bereichen, und die
Ängste, die unsere Menschen haben, zum Beispiel, ob
sie das größere Europa noch verstehen werden, sind
nicht die Konsequenz der Erweiterung der Europäischen
Union, sondern die Konsequenz des Falls von Mauer
und Stacheldraht. Die künstliche Teilung Deutschlands
ging am 9. November 1989 zu Ende, auch die künstliche
Teilung Europas ging am 9. November 1989 zu Ende.
Wer ein friedliches Europa will, der wird zum erweiterten Europa Ja sagen müssen, und wer zum erweiterten
Europa Ja sagt, der muss auch zu dieser Verfassung Ja
sagen, weil das erweiterte Europa auf der Grundlage der
alten Verträge schlicht und einfach nicht mehr demokratisch genug und nach außen nicht mehr handlungsfähig
und effizient genug ist.
({3})
Deswegen, meine Damen und Herren, kommt dieser
Verfassung eine überragende Bedeutung zu. Ich freue
mich, dass Vertreter aller Fraktionen breiteste Zustimmung signalisiert haben.
Nun komme ich zu einem entscheidenden Punkt: Die
Frage der Verstehbarkeit europäischer Politik wird
durch einen Verfassungsvertrag natürlich nicht aus sich
heraus gelöst. Die Frage, inwieweit die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland und in den anderen Mitgliedstaaten den europäischen Gesetzgebungsprozess - parteipolitisch orientiert, wie das in einer Demokratie sein
muss - als den ihren verstehen, hängt ganz entscheidend
davon ab, wie diese Verfassung vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat mit Leben erfüllt wird.
Es gibt drei Elemente, die für mich einen entscheidenden Schritt nach vorne bedeuten: Der erste Aspekt ist die
Gemeinsame Außenpolitik. Ich finde, sie ist ein ganz
zentraler Punkt für die Handlungsfähigkeit und die Rolle
unseres Landes in der Welt des 21. Jahrhunderts. Wer
meint, Europa würde uns gefährden und nicht schützen,
der erzählt den Menschen schlicht und einfach die Unwahrheit;
({4})
denn wären wir auf uns allein gestellt, hätten wir in der
Welt der Globalisierung keine Chance mehr.
Der zweite Punkt sind die europäischen Grundrechte. Ich kann nur sagen: Dabei handelte es sich im
Wesentlichen um eine Initiative Deutschlands, die nicht
nur von Rot-Grün, sondern auch von allen anderen Fraktionen getragen wurde. Darin, dass wir die Grundrechte
als Teil II verbindlich in die Verfassung aufgenommen
haben - hinzu kommt noch der gesonderte Teil der sozialen Grundrechte, in dem es unter anderem um die Geschlechtergleichstellung geht -, sehe ich angesichts des
gleichzeitig wachsenden Raums der Freiheit und der Sicherheit in Europa den zweiten ganz großen Erfolg. Ich
sage Ihnen: Als Abgeordneter wäre für mich persönlich
allein der Grundrechtsteil Grund genug, dieser Verfassung zuzustimmen;
({5})
denn dafür, dass dies Wirklichkeit wird, haben viele von
uns weit über ein Jahrzehnt gekämpft.
Das dritte Element ist die Demokratisierung der
Institutionen. Ich wünsche mir - das ist von entscheidender Bedeutung; denn das hieße, Europa auszufüllen -, dass die großen politischen Lager bei der nächsten
Europawahl mit Spitzenkandidaten antreten und Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstellen. Ebenfalls wünsche ich mir - und zwar nicht nur auf
nationaler, sondern auch auf gesamteuropäischer
Ebene -, dass bei der nächsten Europawahl die jeweiligen Politikprogramme vorgelegt werden. Es muss gesagt
werden, welche Politik man betreiben will: eine eher
wirtschafts- bzw. neoliberale, eine eher soziale, eine eher
ökologische oder was auch immer.
Diese Wahl muss auf der Grundlage von Spitzenkandidaturen und einer klaren programmatischen Alternative gesamteuropäisch durchgeführt werden, damit auch
klar wird, dass das Mehr an Rechten des Europäischen
Parlaments - das muss sich in einer Demokratie auch im
Wahlkampf durchsetzen - zu mehr Verantwortung führt,
sodass die Bürgerinnen und Bürger wissen, wen sie an
der Nase zu greifen haben, wenn in Europa gerade wieder einmal etwas nicht sehr Lichtes und Sinnvolles beschlossen wird; denn das kann man dann nicht mehr auf
der nationalen Ebene abladen.
Meine Damen und Herren, genauso entscheidend
wird es auf die Subsidiaritätskontrolle und die Subsidiaritätsklage ankommen. - Das sind furchtbare Wörter;
wer versteht darunter schon etwas? - Das bedeutet, dass
die nationalen Parlamente aufgrund dieser neuen Kontrollbefugnis jetzt Elemente einer zweiten Kammer aufweisen und entscheiden können: Muss und darf Europa
über diese oder jene Frage entscheiden oder gehört die
Kirche in diesem Fall nicht ins Dorf? Diese Entscheidung liegt in Zukunft in den Händen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates. Hier müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern das Mehr an Transparenz in der
Gesetzgebung der nationalen Parlamente sichtbar machen.
Da kann ich Ihnen nur sagen: Man darf sich schon die
Frage stellen, ob die bereits heute existierenden Rechte
immer optimal ausgenutzt wurden oder nicht. Deswegen
hat die Bundesregierung wirklich großes Interesse daran,
dass wir den Teil der europäischen Gesetzgebung, der
auf uns - sowohl auf die Regierung als auch auf die nationalen Parlamente - zukommt, so transparent wie
möglich gestalten und dass wir in diesem Zusammenhang durch das Angebot des Bundeskanzlers, einen Vertrag mit Bundestag und Bundesrat zu schließen, wirklich
zu guten Lösungen kommen.
Entscheidend ist auch die Gleichstellung von Bundestag und Bundesrat bei den Informationsrechten. Ich
denke, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Auf dieser Grundlage können wir wirklich gemeinsam vorankommen.
({6})
Nein, meine Damen und Herren, wenn ich hier höre,
das Parlament sei nicht beteiligt worden, dann kann ich
das nicht nachvollziehen. Ich bitte doch, zu bedenken,
dass dieser Verfassungsvertrag nicht das Ergebnis einer
Regierungskonferenz war - sie war nachgeschaltet -,
sondern dass wir das institutionelle Viereck der Europäischen Union versammelt hatten, und zwar die Mitglieder
der nationalen Parlamente - die im Übrigen die Mehrheit
im Konvent gestellt haben -, die Vertreter des Europaparlaments, die Vertreter der Regierungen und der Kommission. Die Tagungen waren voll transparent. Es gibt
eine Reihe von Initiativen; es gab in den zweieinhalb
Jahren im Europaausschuss permanent Diskussionen
und Informationen. Die Vertreter des Bundestages
- Kollege Altmaier und Professor Meyer, der bereits
rühmend erwähnt wurde; ich möchte mich dem anschließen - waren initiativ, gemeinsam mit anderen Kollegen
aus anderen Parlamenten, aus nationalen wie auch aus
dem Europaparlament. Nein, verehrte Damen und Herren, an Transparenz hat es im Verfahren wirklich nicht
gemangelt. Das hat meines Erachtens diese Verfassung
auch geprägt.
({7})
Deswegen bedeutet diese Verfassung aus meiner
Sicht ein Mehr an Demokratie in Europa. Sie bedeutet
nicht, dass wir Kompetenz abgeben, die nicht irgendwo
im Europäischen Parlament oder im Europäischen Rat
ankommen wird. Die Vorstellung, das Initiativrecht dem
Europäischen Parlament zu geben und es dem Europäischen Rat zu nehmen, dazu - gestatten Sie mir diese Bemerkung - ist es schlicht und einfach zu früh gewesen:
Ich sehe nicht, dass es dazu Mehrheiten in Europa gegeben hätte; es hat sie dafür nicht gegeben. Deswegen - bei
aller grundsätzlichen Sympathie als überzeugter europäischer Integrationist - stand dieses nun wirklich nicht zur
Debatte.
Diese Verfassung wird Europa ein Mehr an Demokratie, ein Mehr an Handlungsfähigkeit bringen. Ich habe
schon vorhin darauf hingewiesen, wie wichtig es ist,
dass wir einen Kontinent des Friedens haben, dass wir
den Erweiterungsprozess mit der Vertiefung, die durch
die Verfassung stattfindet, weiter voranbringen. Wir dürfen nicht darauf verzichten, unseren Menschen zu erklären, dass die Probleme, die sich durch den Fall von
Mauer und Stacheldraht ergeben haben - Gott sei Dank
haben wir diese Probleme und nicht mehr die Probleme,
die es davor gegeben hat; Gott sei Dank müssen wir uns
heute diesen Herausforderungen stellen -,
({8})
nichts mit der Verfassung zu tun haben. Im Gegenteil:
Wir müssen das Erbe, das wir von unseren Vorgängern
übernommen haben, wirklich fortentwickeln, wir müssen uns der historischen Herausforderung, ein Europa
des Friedens, das heißt, ein Europa der Integration, der
Demokratie und der Solidarität, auf unserem Kontinent
zu schaffen, stellen. Wir dürfen nicht in kleine populistische Wahlkämpfe abrutschen. Wir müssen den Menschen zu erklären versuchen, was der Fall ist und was
schlicht und einfach nicht. Es gab ja schon damals Kritiker, die bezüglich Maastricht voller Skepsis waren. Wir
werden wieder „Die Menschen haben Sorgen“ und Ähnliches mehr hören; dabei werden diese Sorgen natürlich
nach oben getrieben.
({9})
Was ist denn aus der ganzen Kritik an der Euroeinführung tatsächlich geworden? Da sollte man sich die Reden von gestern noch einmal anschauen und die Realitäten von heute!
({10})
Wir müssen begreifen, welche Bedeutung Maastricht
hatte. Ich sage: Seien wir doch froh angesichts der weltwirtschaftlichen Verwerfungen und der Herausforderungen der Globalisierung, dass es Maastricht gegeben hat,
dass wir hier eine eindeutige Mehrheit - eine Zweidrittelmehrheit - gehabt haben und dass wir damals eben
nicht auf die Kritiker gehört haben! Dasselbe wird für
die Verfassung gelten.
({11})
Ich möchte Sie alle bitten - auch diejenigen, die sich
vielleicht noch nicht dazu entschließen können, heute
zuzustimmen -, nochmals nachzudenken: Die Alternative zu dieser Verfassung ist der Nizzavertrag. Es wird
nicht irgendeine andere Verfassung geben. Als jemand,
der den Konvent mitbekommen hat - Kollege Altmaier,
da werden Sie mir sicher zustimmen -, kann man sagen:
Wenn es ein Nein bei der Ratifikation gäbe, wird man
nicht zu Verhandlungen zurückkehren und eine bessere
Verfassung bekommen. Die Alternative ist der Nizzavertrag, ein Vertrag, der, wie ich finde, funktioniert hat, um
die Erweiterung zu ermöglichen. Aber das erweiterte,
das größere Europa, ein Mehr an Demokratie, ein Mehr
an Solidarität, ein Mehr an Nachhaltigkeit, ein Mehr an
Handlungsfähigkeit wird der Nizzavertrag niemals leisten, sondern dazu brauchen wir die Verfassung. Ich bitte
Sie alle um Ihre Zustimmung.
({12})
Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Freistaates
Bayern, Edmund Stoiber, das Wort.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Mit
dem Verfassungsvertrag - ich spreche nicht von der Verfassung, sondern von einem Verfassungsvertrag - gibt
sich Europa eine neue Grundordnung. Sie wird für das
politische, das wirtschaftliche und das gesellschaftliche
Zusammenleben der Völker und der Menschen in
Europa von weit reichender Bedeutung sein. Sie berührt
die Menschen in unserem Land bis weit in den Alltag hinein.
Dieser Verfassungsvertrag ist natürlich auch ein
Baustein im großen europäischen Friedenswerk, das
heute oft angesprochen worden ist. Hier gibt es keine
Meinungsverschiedenheiten; das ist ja auch gut so. Die
historische Dimension dieses Verfassungsvertrages ist
unbestritten. Seinen wirklichen Wert für Europa wird
dieser Verfassungsvertrag aber nur entfalten, wenn er
Europa handlungsfähiger macht und die Menschen hierzulande spüren, dass er ihren Interessen entspricht. Die
Menschen müssen spüren: Ihre Probleme, die Probleme
eines Landes in Deutschland und die Probleme Deutschlands - ob sie ökonomischer oder anderer Art sind -,
können zu einem großen Teil nicht mehr allein in
Deutschland und auch nicht mehr allein in Europa gelöst
werden. Deswegen ist es natürlich notwendig, dass in
den globalen internationalen Zusammenschlüssen unsere
Stimme über Europa kommt; denn nur dann können wir
im Konflikt vielleicht mit China oder im Konflikt bzw.
in der Auseinandersetzung mit Indien oder mit den Vereinigten Staaten von Amerika etwas erreichen.
Das ist den Menschen heute sicherlich noch nicht so
bewusst. Es ist uns insgesamt nicht gelungen, den Menschen klar zu machen, dass unsere Position zum Beispiel
bei den WTO-Verhandlungen natürlich nur mit einem
gewissen Nachdruck über Europa eingebracht werden
kann. Es wäre sicherlich schöner, wenn wir sie lupenreiner einbringen könnten, aber wir können sie nur über
Europa einbringen. Deswegen gibt es zum europäischen
Zusammenschluss natürlich keine Alternative. Ich
glaube, darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Das will ich auch von meiner Seite aus sehr deutlich
unterstreichen.
({2})
Europa hat als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
begonnen. Wir haben sie zu einer politischen Union in
einem Staatenverbund - zu mehr aber auch nicht - fortentwickelt. Mit der Aufnahme der Grundrechte-Charta
in dieses Vertragswerk verpflichtet sich die Europäische
Union im Interesse der Menschen auf das große gemeinsame Wertefundament unserer christlich-abendländischen Kultur.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({3})
Der Verfassungsvertrag ist das erste europäische Vertragswerk, das von allen 25 Mitgliedstaaten gemeinsam
gestaltet wurde. Es ist damit ein echtes Bindeglied zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Gleichzeitig ist der Verfassungsvertrag
- darauf möchte ich abheben, weil sich das Bundesverfassungsgericht demnächst damit befassen wird - nicht
die Verfassung eines neu entstandenen Staates. Wäre er
das, wäre er nicht verfassungsgemäß. Das ist er aber
nicht. Einige meinen das; ich bin völlig anderer Meinung. Deswegen sage ich das hier deutlich: Die Europäische Union ist kein Staat
({4})
und soll es nach dem Willen der Bürger in Europa auch
nicht werden.
({5})
Auch künftig bleibt die Europäische Union ein Staatenverbund. Die Mitgliedstaaten - das ist in diesem Verfassungsvertrag entscheidend verankert - bleiben die „Herren der Verträge“. Das heißt, die nationalen Parlamente
entscheiden auch künftig darüber, auf welchen Feldern
die Europäische Union tätig werden darf.
Meine Damen, meine Herren, ich sage ein klares Ja
zu diesem Verfassungsvertrag. Auch die überwältigende
Mehrheit meiner Partei steht nach einer reiflichen Diskussion und Abwägung zu diesem Verfassungsvertrag.
Ich sage aber auch: Es genügt auf Dauer nicht, eine
Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat zu haben.
Hier stimme ich Ihnen völlig zu. Wir müssen auch die
Menschen überzeugen. Dafür reicht es nicht aus, pathetisch an den Idealismus der Menschen, der Bevölkerung,
zu appellieren. Wir müssen die konkreten Auswirkungen
dieses Vertrages auf die Menschen benennen. Sie sind
manchmal gravierend. Wir müssen sie nennen und dann
abwägen, ob wir in der Lage sind, das zu akzeptieren
oder nicht.
Wer die Bürger gewinnen will, darf Fragen der Bürger
nicht mit pathetischer Geste als kleinlich und detailversessen wegwischen oder gar demjenigen, der darauf hinweist, sagen, das sei billiger Populismus. Nein, meine
sehr verehrten Damen und Herren, damit kommen Sie
auf die Dauer nicht zu einer größeren Akzeptanz Europas.
({6})
Inhaltlich wurde mit dem Verfassungsvertrag vieles
erreicht: Die EU wird vor allem durch eine mutige, aber
auch notwendige Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen handlungsfähiger. Die EU wird bürgernäher und
demokratischer; denn die Abstimmung nach Bevölkerungsgröße wird zum Regelfall. Die Kontrollrechte des
Europäischen Parlaments werden gestärkt. Die sehr weit
und allgemein gefassten Ziele des Vertrages begründen
ausdrücklich keine weiteren Handlungskompetenzen der
Europäischen Union.
Mit dem hier bereits angesprochenen Frühwarnsystem und der Subsidiaritätsklage - diese Instrumente
sind natürlich schwer verständlich - erhalten die nationalen Parlamente erstmals unmittelbare Rechte im europäischen Meinungsbildungsprozess.
({7})
Das Recht der Subsidiaritätsrüge bindet die nationalen
Parlamente in den europäischen Gestaltungsprozess ein
und mit der Subsidiaritätsklage können nun auch die
Parlamente ihre eigenen Rechte bei unzulässigen Eingriffen der Europäischen Union schützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage Ihnen noch einmal, warum ich dies für so bedeutsam halte
- darüber haben wir uns oft auseinander gesetzt -: Die
Menschen in Deutschland - dies gilt sicherlich auch für
die Menschen in anderen Ländern - bekommen viele europäische Entscheidungen etwa über Richtlinien, wenn
sie im Rat getroffen worden sind, letzten Endes nicht
mit. Oft gibt es über das Pro und Kontra in Bezug auf
diese Richtlinien nicht den notwendigen öffentlichen
Meinungsstreit. Das entscheidende Problem ist, dass es
eine europäische Öffentlichkeit nicht gibt; das Europäische Parlament wird nie ein klassisches Parlament sein.
Die deutsche Öffentlichkeit kann daher nur über Bundestag und Bundesrat - im besonderen Maße über den
Bundestag - erreicht werden. Hier muss gestritten werden, bevor die Entscheidung getroffen wird, ob einer europäischen Richtlinie zugestimmt oder nicht zugestimmt
wird. Dann bekommen wir auch die Verbände, die Medien und die Menschen in diesen Entscheidungsprozess
hinein. So, wie es gegenwärtig der Fall ist, gelingt uns
dies nicht.
({8})
Der Verfassungsvertrag eröffnet zudem erstmals auch
eine klare Alternative zur Vollmitgliedschaft. Er sieht
ausdrücklich vor, Nachbarstaaten ohne Vollmitgliedschaft an die Europäische Union heranzuführen, beispielsweise über eine privilegierte Partnerschaft. Er
schafft damit unseres Erachtens das richtige Instrument
für die Beziehungen mit der Türkei.
Meine Damen, meine Herren, der Verfassungsvertrag
weist damit im Vergleich zur geltenden Rechtsgrundlage, dem Vertrag von Nizza, erhebliche Fortschritte auf.
Die positiven Elemente wurden von vielen entwickelt;
ich hebe hier Wolfgang Schäuble und Erwin Teufel
hervor. Erwin Teufel hat sich von Anfang an ungeheuer
in diesen Konvent eingebracht. Er hat es fast zu seiner
Lebensaufgabe gemacht, Fragen der Subsidiarität und
der Kompetenzverteilung in die Vertragsdiskussion einzubringen. Ich hätte mir gewünscht, dass vieles von
dem, was er eingebracht hat, vom Bundesaußenminister
aufgegriffen worden wäre.
({9})
- Ja, das ist gar keine Frage. Der Bundesaußenminister
hat die Debatte im Konvent relativ spät verfolgt. Ein
Dreivierteljahr lang war er überhaupt nicht dabei und hat
die Arbeit anderen überlassen; das will ich an dieser
Stelle auch einmal vermerken.
({10})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({11})
Der Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss von
25 Staaten. Kompromiss bedeutet Geben und Nehmen.
Ich bin davon überzeugt, dass beim Verfassungsvertrag
das Ergebnis stimmt, auch wenn ich in aller Offenheit
sage, dass er nicht in allen Punkten unseren Vorstellungen entspricht. Die Grundrechte-Charta ist ein wichtiges
Bekenntnis zu unseren Werten; aber es muss auch darauf
hingewiesen werden, dass sich viele in diesem Haus einen klaren Gottesbezug - zumindest in der Fassung der
polnischen Verfassung - gewünscht hätten.
({12})
Es wäre eine weitaus stärkere Konzentration auf die
eigentlichen Kernaufgaben der Europäischen Union notwendig gewesen. Die Europäische Union macht immer
noch zu viel Überflüssiges und zu wenig Notwendiges.
Es ist ein Unsinn, sich Gedanken zu machen, wie Kellner in Biergärten vor Sonneneinstrahlung geschützt werden können. Also arbeitet man an einer Richtlinie, mit
der dann letzten Endes der Wirt verpflichtet wird, entsprechende Schutzmechanismen in einer bestimmten Art
und Weise zu installieren. Es ist Unsinn, so etwas über
Europa zu lösen.
({13})
Ähnlich verhält es sich mit der Übertragung neuer
Kompetenzen auf die Europäische Union, etwa bei der
Daseinsvorsorge. Es ist in der Tat für viele Kommunen
ein entscheidender Punkt, die Daseinsvorsorge, den Katastrophenschutz, den Fremdenverkehr oder den Sport
plötzlich im europäischen Kompetenzgeflecht zu sehen.
Ich halte das für falsch. Immerhin sind die Kompetenzen
eng begrenzt. Aber es ist dann immer ein Abwägungsprozess.
Besonders wir in der CSU haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Vielleicht haben wir mehr
darüber diskutiert als in anderen Parteien. Wir haben seit
Jahren darüber intensiv diskutiert und damit gerungen.
Ich sage ausdrücklich: Ich komme nach dieser Abwägung zu einem ganz klaren Ja. Ich werbe natürlich auch
für ein ganz klares Ja, für die Zustimmung zu diesem
Verfassungsvertrag. Aber ich respektiere auch, wenn einige Kollegen aus den genannten Gründen heute nicht
zustimmen können. Meine Überzeugung ist: Zur Lösung
der bevorstehenden Herausforderungen ist Europa mit
diesem Verfassungsvertrag besser gewappnet als mit
dem bestehenden Vertrag von Nizza.
({14})
Der Verfassungsvertrag stößt die Tür für eine stärkere
Einbindung der nationalen Parlamente auf. Das ist für
mich der entscheidende Punkt. Der Bürger, aber auch
viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus fühlen
sich von Brüssel bevormundet. Die nationalen Abgeordneten wollen zu Recht gefragt werden, wenn Europa
Vorgaben für ihre Mitgliedstaaten macht. Es muss endlich aufhören, denjenigen oder diejenigen, die auf bestimmte europäische Vorgänge innenpolitischer Art hinweisen und Kritik üben, immer gleich mit dem
Populismusvorwurf oder als Europagegner zu diffamieren.
({15})
Hier in diesem Hause wird oft genug über den richtigen Weg der deutschen Politik gestritten. Aber noch nie
ist jemand auf die Idee gekommen, einem Kritiker der
Steuerpolitik der Regierung vorzuwerfen, er sei gegen
Deutschland. Das ist absoluter Unsinn und deswegen
muss man damit aufhören. Die europäische Politik ist
keine Außenpolitik mehr, sondern europäische Politik ist
klassische Innenpolitik geworden. Deswegen muss hier
in diesem Haus und darüber hinaus über europäische
Entscheidungen ein intensiverer Streit geführt werden.
Wenn wir das nicht schaffen, wird Europa bei aller Pathetik, die man in diesem Zusammenhang aufbringen
kann, scheitern.
({16})
Ich will auf Folgendes hinweisen: Wenn Deutschland
bzw. Sie darüber entscheiden würden, ob beispielsweise
der Bereitschaftsdienst bei Ärzten als Arbeitszeit angesehen wird, dann würde hier darüber eine lebhafte Diskussion stattfinden. Wenn es aber so kommt, wie es der
Europäische Gerichtshof oder das Europäische Parlament haben will, dann bedeutet das für Deutschland die
Einstellung von etwa 20 000 bis 30 000 Ärzten oder die
Versorgung der Kranken muss an den Krankenhäusern
reduziert werden. Über diese Thematik wird in Deutschland nicht diskutiert. Wenn es aber eine Entscheidung
der Regierung wäre, würde sie hier diskutiert werden. Es
müssen künftig Entscheidungen diskutiert werden, damit
die Landräte, die Bürgermeister, die Patienten und die
Krankenkassen wissen, was auf sie zukommt, wenn eine
solche Entscheidung getroffen wird.
({17})
Am Ende kommt es wieder zu einer solchen Diskussion wie bei der Antidiskriminierungsrichtlinie. Sie
wurde 1996 ähnlich wie die Feinstaub-Richtlinie von
1999 von niemandem zur Kenntnis genommen. Als sie
dann aber umgesetzt wurde, gab es Riesenärger. Dieses
Parlament muss der Regierung vorher sagen, was seines
Erachtens richtig ist. Ich gebe allerdings auch zu - Herr
Kollege Fischer, Sie haben völlig Recht -: Das bedeutet
natürlich auch eine gewaltige Arbeit, weil von den
900 Richtlinien mindestens 600 im Laufe der nächsten
Jahre auf dem Tisch liegen werden. Aber es hilft nichts;
denn dazu sind wir und Sie in besonderer Weise da.
({18})
Lassen Sie mich den „Spiegel“ zitieren, der letzte
Woche geschrieben hat: „Das Pathos hat ausgedient.“
Ich bin heute ein bisschen daran erinnert worden. Statt
europapolitischer Sonntagsreden erwartet der Bürger bei
der Ausarbeitung von Gesetzen in Brüssel eine innenpolitische Diskussion. Darum geht es. Deswegen, so
glaube ich, ist das Begleitgesetz, das wir vorgelegt haben, richtig. Ich halte es für eine absolute Notwendigkeit. Ich weiß, dass Sie, Herr Bundeskanzler, anderer
Meinung sind. Wir haben oft darüber geredet. Ich halte
es für notwendig. Wenn wir die Möglichkeit haben, wird
dieser Entwurf Gesetz. Im Moment haben wir nicht die
Möglichkeit, dass er Gesetz wird. Ich wundere mich,
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({19})
dass die SPD-Fraktion sich da so einbinden lässt. Ich
halte es für notwendig, dass die Bundesregierung Stellungnahmen des Bundestages grundsätzlich für verbindlich erachtet.
({20})
Das wäre genau das Recht, das sich der Bundesrat bereits erarbeitet hat. Dort müssen diese Dinge auch berücksichtigt werden.
({21})
Wir haben uns angenähert. Aber ich sage Ihnen auch,
dass dieser wichtige Fortschritt,
({22})
dass die Bundesregierung das Parlament unterrichten
muss, wenn sie von der Stellungnahme des Parlamentes
abweicht, nicht in einer Entschließung abschließend geregelt sein kann. Dazu braucht es eine gesetzlich verbindliche Regelung, wie das auch beim Bundesrat der
Fall ist.
({23})
Ich bedauere es außerordentlich, dass Sie nicht so weit
gehen wollen wie die CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Gesetzesvorschlag.
Lassen Sie mich ein Letztes sagen: Herr Müntefering
hat Herrn Hintze zitiert, der wiederum andere zitiert hat.
Ich glaube, Herr Müntefering, wir müssen über die Frage
der Integrationsfähigkeit der Europäischen Union,
wenn wir sie als eine politische Union mit weit reichenden außenpolitischen und innenpolitischen Kompetenzen haben wollen, intensiv nachdenken, insbesondere
darüber,
({24})
ob die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union gegenwärtig durch die Aufnahme von acht osteuropäischen
Ländern, die ich durchaus begrüße, weil das die Wiedervereinigung Europas ist, gewährleistet ist. Es ist eine viel
größere Schwierigkeit, diese Länder zu integrieren als
vielleicht Schweden, Finnland oder Österreich. Da bedurfte es keiner Anpassungskriterien.
({25})
Ich will die heutige Situation in aller Kürze ansprechen. Es hat lange gedauert, bis man die einheitliche
Meinung hatte, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die
ein Wesensmerkmal der Europäischen Union ist, ausnahmsweise für eine Übergangszeit gegenüber den acht
osteuropäischen Ländern eingeschränkt werden muss.
({26})
- Ja, ich wollte noch mehr. Ich wollte so viel wie die
Österreicher. Die Österreicher haben eine wirklich gute
Regelung erreicht. Ich muss Sie fragen: Warum haben
Sie das nicht erreicht?
({27})
Die Dienstleistungsfreiheit ist auch ein wesentliches
Gut. Die Dienstleistungsfreiheit hätte genauso für eine
Übergangszeit eingeschränkt werden müssen, weil diese
Länder einfach andere Strukturen haben. Wenn Polen
noch nicht einmal 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
der Europäischen Union erwirtschaftet, die Slowakei
50 Prozent und Ungarn beim Beitritt noch nicht einmal
40 Prozent, dann kann man einen bedingungslosen Wettbewerb der Arbeitnehmer nicht zulassen.
({28})
Sie lassen das aber über die Dienstleistungsfreiheit zu.
Sie gehört viel mehr eingeschränkt, genauso wie das die
Österreicher vorgemacht haben.
({29})
Lassen Sie mich ein Letztes zur Frage der Konsolidierung sagen. Sie kennen unsere unterschiedlichen Meinungen hinsichtlich der Türkei. Ich will das jetzt nicht
noch einmal aufbereiten. Wir werden, wenn wir eine
neue Regierung haben, alles im Rahmen der legalen
Möglichkeiten tun, dass der Beitritt zur Vollmitgliedschaft niemals stattfinden wird.
({30})
Ich sage das ganz deutlich.
({31})
Herr Bundeskanzler, Sie hören nicht auf die Opposition und Sie hören nicht auf die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die einen Beitritt der
Türkei als Vollmitglied nicht wollen. Sie sollten dann
wenigstens auf Ihren Vorvorgänger hören. Ich will
Helmut Schmidt zitieren:
Die EU würde sich mit einer Aufnahme der Türkei
und weiterer Staaten ökonomisch und finanziell
übernehmen …
Er fährt fort:
Monnet und Schuman, Adenauer und de Gasperi,
Churchill und de Gaulle waren Staatsmänner von
ungewöhnlichem Weitblick - keiner von ihnen hat
die europäische Integration bis über die kulturellen
Grenzen Europas ausdehnen wollen.
Daran sollten wir uns halten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({32})
Wir sollten diese großen Europäer nicht nur zitieren,
wenn es uns passt, sondern wir sollten sie auch dann
zitieren, wenn es uns nicht passt.
Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich: Wir sind daran interessiert, dass die Europäische Union bürgernäher
wird, dass sie von den Menschen stärker angenommen
wird und der Abwärtstrend bei der Akzeptanz der Europäischen Union in der deutschen Bevölkerung nachlässt.
Dazu beizutragen ist mit unsere Aufgabe.
Ich sage ganz deutlich:
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({33})
Erstens. Es gehört zu unserem Beitrag, leidenschaftliche Debatten in diesem Hohen Hause zu führen, bevor
auf europäischer Ebene darüber entschieden wird. Damit
können wir zu einem Abbau des Demokratiedefizits beitragen und die Situation etwas verbessern.
Zweitens. Wir brauchen eine Phase der Konsolidierung.
({34})
Deswegen meine ich, man sollte hinsichtlich Serbien
und Montenegro relativ zurückhaltend sein. Herr Bundeskanzler, Sie machen den Menschen nur Angst, wenn
gesagt wird, ein Beitritt sei morgen oder übermorgen
möglich.
Drittens. Nicht jedes Problem in Europa muss von
Europa gelöst werden. Ansonsten führt das zu der Regelungssucht, die Europa gegenwärtig hat.
({35})
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Regelungssucht mit diesem Verfassungsvertrag etwas Einhalt geboten werden kann.
Deswegen glaube ich, dass wir heute eine Riesenchance haben, Europa ein Stück nach vorne zu bringen.
Ich werbe für die Zustimmung.
Danke schön.
({36})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Stoiber, ich gebe Ihnen in einigen Punkten
durchaus Recht.
({0})
Aber bei der Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie haben Sie einfach vergessen zu erwähnen, dass es
diese Bundesregierung war, die den Prozess in Brüssel
gestoppt hat, die verhindert hat, dass die Dienstleistungsrichtlinie jetzt in Deutschland so wirksam wird, wie es
ursprünglich vorgesehen war.
Herr Stoiber, ich gebe Ihnen auch Recht, dass das
deutsche Parlament intensiv beteiligt werden muss, und
zwar nicht erst dann, wenn der Europäische Rat bereits
Rahmenbeschlüsse oder andere Beschlüsse gefasst hat.
({1})
- Auch wenn Sie jetzt „Hört! Hört!“ rufen, müssen wir
uns hier allerdings alle, auch ich mich, selbstkritisch fragen: Warum haben wir die Möglichkeiten, die es in diesem Bereich gibt, bisher nicht ausreichend genutzt?
Wieso ist es zu Situationen gekommen wie der, die zur
Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über
den EU-Haftbefehl geführt hat?
Herr Stoiber, Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen,
dass wir die Diskussion in der Bevölkerung aufnehmen
müssen. Wenn es schon keine Volksabstimmung über die
EU-Verfassung gibt, müssen wir doch zumindest die Argumente, die Bedenken, die Kritik und die Probleme, die
in der Bevölkerung geäußert werden, hier im Deutschen
Bundestag diskutieren. Das kann sich aber nicht in der
Diskussion über die Fragen erschöpfen, die Sie angesprochen haben: wer wie lange in welchen europäischen
Gremien anwesend war oder wer wie über Regelungen
beim Einfall von Sonnenlicht in bayerische Biergärten
entschieden hat. Wir müssen die tatsächliche, die fundamentale Kritik, die es in Deutschland genauso wie in
Frankreich gibt und die außerhalb dieses Parlaments an
uns herangetragen wird, aufnehmen und uns intensiv
darüber Gedanken machen.
Wir müssen uns fragen: Was ist an dem Vorwurf dran,
dass die europäische Verfassung eine Pflicht zur Aufrüstung auferlegt? Was ist an dem Vorwurf dran, dass die
europäische Verfassung die Möglichkeit schafft, internationale Militärinterventionen und -missionen auch ohne
UNO-Mandat durchzuführen?
Herr Kollege Ströbele, denken Sie bitte daran, dass
sich eine Kurzintervention von einer Regierungserklärung auch durch die deutlich kürzere Redezeit unterscheidet.
({0})
Herr Präsident, ein letzter Punkt: Was ist an dem Vorwurf dran, dass die europäische Verfassung eine neoliberale Verfassung sein soll,
({0})
die die sozialen Rechte, die soziale Bindung des Eigentums und den Sozialstaat nicht ausreichend berücksichtigt und in den Grundrechten verankert hat? Damit sollten wir uns auch hier auseinander setzen, sonst klinken
wir uns aus der Diskussion in Frankreich und Deutschland aus. Dann hätten wir dieses Thema auch in der heutigen Debatte nicht ernst genug behandelt.
Zur Erwiderung Herr Ministerpräsident Stoiber.
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0}):
Herr Abgeordneter Ströbele, ich gehe davon aus - um
Ihre letzte Frage zu beantworten -, dass Sie den Verfassungsvertrag, dem Sie heute hoffentlich zustimmen werden, sehr sorgfältig gelesen haben. Wenn das der Fall ist,
dann beantwortet sich Ihre Frage: Europa wird nicht
neoliberal; vielmehr wird Europa ein starkes Sozialmodell darstellen.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({1})
Dass die Verfassung eine Pflicht zur Aufrüstung auferlegt, ist absoluter Unsinn. Dazu werden Sie weder in
dem Verfassungsvertrag noch in einer politischen Erklärung irgendeiner Regierung etwas finden. Insofern ist,
glaube ich, die Frage sehr leicht zu beantworten.
Ihre erste Frage hinsichtlich der Dienstleistungen
zeigt - mit Verlaub, nehmen Sie es mir nicht übel -, dass
das alles sehr kompliziert ist. Sie verwechseln die
Dienstleistungsrichtlinie mit der Dienstleistungsfreiheit.
Zwischen beidem besteht ein sehr großer Unterschied.
({2})
Ich habe nicht die Dienstleistungsrichtlinie, sondern die
Dienstleistungsfreiheit angesprochen. Dazu darf ich aber
auch Ihnen gegenüber auf Folgendes hinweisen, Herr
Abgeordneter Ströbele: Die Bundesregierung wollte
- anders als bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit - die
Dienstleistungsfreiheit in keiner Weise einschränken.
Dass die Dienstleistungsfreiheit mit entsprechenden
Auswirkungen für Deutschland in insgesamt drei Bereichen - darunter das Baugewerbe und der Gartenbau eingeschränkt worden ist, verdanken wir allein der Intervention des österreichischen Bundeskanzlers beim entscheidenden Gipfeltreffen. Ich bin froh, dass wir wenigstens das erreicht haben.
Ich hätte erwartet, dass die Bundesregierung - wenn
sie schon die Arbeitnehmerfreizügigkeit wegen der bestehenden Anpassungsschwierigkeiten richtigerweise
einschränkt - dafür eintritt, gleichermaßen die Dienstleistungsfreiheit einzuschränken. Dann wären manche
Probleme mit Scheinselbstständigkeit und anderen Formen von Missbrauch in unserem Lande nicht aufgetreten.
({3})
Deswegen meine ich, dass man diesen Vorwurf aufrechterhalten sollte: In den weiteren Verhandlungen muss
besser verhandelt werden. Gegenüber den Österreichern,
die sich sowieso als die besseren Deutschen empfinden,
sollten wir ein bisschen Nachsicht üben und vielleicht
auch das übernehmen, was sie besser machen als wir.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bitte um Nachsicht, aber ich möchte schnell wieder von
den Sonnenschirmen und bayerischen Biergärten wegkommen und stattdessen das Thema behandeln, das uns
heute Morgen vereinigt.
({0})
Vielleicht sollten wir öfter einmal über die historische
Dimension Europas sprechen; einige haben das offensichtlich noch nicht richtig verstanden. Sie haben natürlich Recht, Herr Ministerpräsident Stoiber: Man muss
der Wirklichkeit ins Auge blicken. Auf der einen Seite
freuen wir uns heute über die europäische Verfassung,
die uns mit Dankbarkeit erfüllt; auf der anderen Seite
müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die
Angst in Europa und vor allem in Deutschland umgeht.
Unsere Antwort kann aber nicht darin bestehen, dass wir
den Kleinkrämern, den Kleinmütigen und den Ängstlichen Europa überlassen; wir müssen uns vielmehr an die
Spitze derjenigen stellen, die aufzuklären versuchen und
die etwas Positives mit Europa verbinden. Denn gerade
für uns in Deutschland ist das vereinigte Europa alternativlos. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, für Aufklärung zu sorgen.
({1})
Heute ist - wie ich meine, zu Recht - viel über die
geschichtlichen Wurzeln der wunderbaren Idee Europa
gesprochen worden. Es sind diejenigen genannt worden,
die der Generation meiner Großeltern oder Eltern angehören. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Schulen besucht und kann feststellen, dass dieses Gefühl der
Dankbarkeit auch in meiner Generation und bei den
noch Jüngeren vorhanden ist. Sie wissen, dass dieses
Europa auf einem Trümmerberg, einem Berg von Millionen Leichen, errichtet wurde und dass wir in Deutschland dafür dankbar sein können, dass dieser Akt der Versöhnung sechs Jahrzehnte lang gelungen ist. Das ist eine
Erfolgsgeschichte, auf die wir zu Recht stolz sein können.
({2})
Altbundespräsident Johannes Rau hat in den vergangenen Tagen gefragt: Haben wir in Deutschland verlernt
zu staunen? Haben wir verlernt, darüber zu staunen, dass
uns dies gelungen ist, dass Frieden und Freiheit herrschen, wozu die Europäische Union maßgeblich beigetragen hat? Ich glaube nicht, dass die europäische Integration alleine eine Frage der Staatsräson ist. Sie
gehört aus meiner Sicht zu unserer nationalen Identität.
Deutsche wissen, dass wir gute Europäerinnen und
Europäer zu sein haben. Gerade meine Generation weiß
das; denn wir haben gelernt, dass Europa grenzenlos ist,
dass man in Europa studieren und sich ausbilden lassen
kann und dass man Partnerschaften und Freundschaften
über nationale Grenzen hinweg pflegen kann.
Natürlich sind manche Sorgen und Ängste der Bürger
berechtigt. Gelegentlich taucht der Vorwurf auf, die Vorherrschaft des Neoliberalismus sei auf der Tagesordnung
in Europa ganz oben. Aus meiner Sicht brauchen wir in
Europa ein neues Leitbild; denn alleine die Friedensmacht Europa hilft uns nicht dabei, das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger zu steigern. Deswegen müssen
wir den Menschen die Angst nehmen und deutlich machen, dass wir in Europa das Sozialmodell verteidigen
und zukunftsfest machen, dass wir soziale und ökologische Standards sichern und dass wir die Menschen
schützen. Dieses Europa kann dafür sorgen, dass die
Globalisierung sozial, menschlich und fair gelingt. Das
schaffen wir allein auf nationalstaatlicher Ebene nicht.
Michael Roth ({3})
Deswegen müssen wir für ein starkes und solidarisches
Europa streiten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Die europäische Verfassung schafft dafür eine Grundlage.
({4})
Ich bitte ebenso um Fairness bei der Beurteilung der
europäischen Verfassung. Das Wesen Europas ist der
Kompromiss. 25 Mitgliedstaaten haben diesen Kompromiss in einem Konvent zustande gebracht. Ich will
nur daran erinnern: Bislang ist es uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen, den Föderalismus, die
bundesstaatliche Ordnung, zu reformieren. Umso dankbarer und respektvoller sollten wir denjenigen gegenüber
sein, die das zumindest auf der europäischen Ebene geschafft haben. Parlamentarierinnen und Parlamentarier
aus 25, 28 Mitgliedstaaten haben sich zusammengesetzt
und ihnen ist ein großer Wurf gelungen, der auf keinem
einzigen Politikfeld einen Rückschritt, sondern ausschließlich Fortschritte darstellt. Dies sollten wir den
Bürgerinnen und Bürgern verständlich machen.
({5})
Ich danke deshalb all denjenigen, die dazu beigetragen haben. Sie mögen es nachvollziehen können: Für
uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies
eine besondere Geschichte, die 1923 mit dem Heidelberger Grundsatzprogramm begonnen hat. Schon damals ist
vom Traum der Vereinigten Staaten von Europa geschrieben und gesprochen worden. Deswegen werden
wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns immer als Sachwalter derjenigen verstehen, die Europa
nach vorne bringen wollen.
Ich will auf den wesentlichen Punkt eingehen, der uns
dazu veranlasst hat, auf das Ergebnis stolz zu sein: Die
europäische Verfassung orientiert sich nicht allein am
Wünschenswerten, sondern vor allem am Machbaren in
der Europäischen Union. Die Grundrechte-Charta beinhaltet mehr soziale Grundrechte als unser deutsches
Grundgesetz. Das macht deutlich, dass Solidarität in
Europa keine Selbstverständlichkeit ist, sondern dass
alle EU-Institutionen dazu verpflichtet sind, der sozialen
Gerechtigkeit und der Solidarität zu dienen.
({6})
Die europäischen Parlamente, nicht allein das Europäische Parlament, sondern auch unsere nationalen Parlamente, sind gestärkt worden. Wir haben etwas auf den
Weg gebracht, wozu wir Sie, Herr Ministerpräsident
Stoiber, wahrlich nicht brauchten. Das Begleitgesetz, das
die Stärkung des Deutschen Bundestages in Europaangelegenheiten vorsieht, ist in der Mitte des Deutschen Bundestages gestaltet worden, und zwar von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen.
Wenn Sie schon versuchen, eine Lanze für den Parlamentarismus zu brechen, dann sollten Sie einmal darüber nachdenken, ob nicht auch die Landtage gestärkt
werden müssten. Ihnen geht es im Hinblick auf den Föderalismus doch nur darum, dass die Ministerpräsidenten nicht nur im Bundesrat sitzen, sondern am besten am
großen europäischen Tisch, um dort mitentscheiden und
mitgestalten zu können. Wo sollen denn da unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landesparlamenten bleiben?
({7})
Ich will aber auch deutlich sagen: Wir sollten mit dieser unsäglichen Jammerei endlich aufhören. Man muss
nicht bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um
sich erklären zu lassen, dass es im Bereich „Justiz und
Inneres“ als dritter Säule der Europäischen Union kein
Vertragsverletzungsverfahren gibt. Das kann man sich
schon von den Europapolitikerinnen und Europapolitikern aller Fraktionen hervorragend erklären lassen.
({8})
Dass wir hier nicht nur uns selber blamieren, sondern
auch dieses Parlament, ist ein Armutszeugnis. Unser
Parlament, der Bundestag, sollte uns so viel wert sein,
dass wir hier keine Legenden stricken.
({9})
Einige selbst ernannte Europapolitiker haben in den
vergangenen Wochen gesagt, hier würden parlamentarische Debatten abgewürgt und der Verfassungsentwurf
werde einfach so durchgewinkt. Hier wird überhaupt
nichts durchgewinkt. Über dieses Projekt wird seit drei
Jahren gestritten und wir haben Übereinstimmung in hohem Maße erzielt. Wir haben Arbeitsgruppen eingerichtet. Wir haben im Plenum des Bundestags mehrfach pro
Jahr gestritten, wir haben Meinungen und Erfahrungen
ausgetauscht. Wir haben mit unseren Konventsdelegierten, Jürgen Meyer und Peter Altmaier, und vielen anderen zusammengesessen. Das, was unsere Konventsdelegierten erarbeitet haben, ist auch unser Erfolg. Darauf
können wir stolz sein. Wir sollten das nicht kleinreden.
({10})
Ich will mich bei allen Fraktionen bedanken, bei Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, bei Herrn Hintze, bei
Herrn Altmaier, bei Rainder Steenblock, bei Günter
Gloser und bei Angelica Schwall-Düren. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass dieses Parlament stärker
wird. Diese neue Härte ist aber kein Blockadeinstrument, sondern verpflichtet uns, die Europagesetzgebung
frühzeitiger und umfassender zu begleiten und mit dem
Geschrei nicht erst dann anzufangen, wenn es zu spät ist.
Wir dürfen die Verantwortung nicht nur bei der Bundesregierung abladen, sondern wir müssen unserer eigenen
Verantwortung gerecht werden. Das nimmt uns keiner
ab.
({11})
Ich möchte noch etwas zum Bundesverfassungsgericht
sagen - alle blicken etwas nervös in diese Richtung -: Der
anerkannte Staatsrechtler Bogdandy hat einen bemerkenswerten Aufsatz geschrieben, in dem er eine Lanze für
die Macht der Parlamente in Europa bricht. Er stellt die
Frage, ob der Deutsche Bundestag durch die zu engen
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in den vergangenen Jahren nicht stärker als durch manche europäische
Michael Roth ({12})
Gesetzgebung beschnitten wurde. Wir sollten auch diese
Frage in den Mittelpunkt rücken und die Bösen nicht immer nur in Brüssel vermuten. Auch die innerstaatliche
Perspektive ist wichtig: Wo bleibt der Bundestag und
welche Vorgaben - zum Teil bis ins Detail - macht uns
beispielsweise das Bundesverfassungsgericht?
Herr Stoiber, Sie haben in den vergangenen Wochen
eine Verschnaufpause für Europa gefordert; das sei jetzt
alles zu viel; wir hätten in den vergangenen Jahren viel
zu viele heiße Eisen angepackt. Ich gebe Ihnen in einem
Punkt Recht: Das, was wir seit der Wiedervereinigung
Europas und Deutschlands auf den Weg gebracht haben,
ist eine ganze Menge.
Aber ist es nicht faszinierend, was sich auf unserem
Kontinent tut? Da wird für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für mehr Wohlstand und für mehr Sicherheit gekämpft. Das erstreiten sich Staaten, die noch vor wenigen Jahren diktatorisch regiert wurden. Wollen wir
denen wirklich sagen: „Wir haben keine Zeit für euch;
wir müssen uns um unsere eigenen Probleme kümmern!“ und die Hände in den Schoß legen? Unsere
Hauptaufgabe muss doch sein, denjenigen in Europa zu
helfen, die zu diesem Kontinent der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sicherheit gehören wollen. Dabei müssen wir uns anstrengen. Wir
müssen die Ärmel hochkrempeln, anstatt uns mit uns
selbst zu beschäftigen. Alles andere wäre verantwortungslos.
({13})
Ist es nicht wunderbar, dass diese Europäische Union,
über die wir gar nicht mehr mit Freude und Dankbarkeit
zu reden in der Lage sind, von außen so fasziniert betrachtet wird? Da sind Menschen, die sich nach dem sehnen, was wir in Jahrzehnten mühsam haben erstreiten
müssen. Sie wollen dazugehören. Sie haben auch einen
Anspruch darauf, finde ich, dass wir ihnen dabei helfen
und dass wir ihnen Perspektiven aufzeigen.
Herr Stoiber, Sie haben des Weiteren gesagt, die Bundesregierung müsse im Hinblick auf ein mögliches,
wenn auch hoffentlich nicht eintretendes Scheitern der
europäischen Verfassung endlich einen Plan B vorlegen.
Ich erwarte von der Bundesregierung und von allen Bundestagsabgeordneten, dass sie sich überall dort in
Europa, wo ein Referendum zu scheitern droht, an die
Spitze der Bewegung stellen und helfen; denn es geht
nicht nur darum, ob die Franzosen oder die Deutschen
scheitern; es geht um uns Europäerinnen und Europäer.
Angesichts dessen sollten wir uns anstrengen, jetzt nicht
fordern, dass ein Plan B oder mehrere solcher Pläne mit
irgendwelchen Krisenszenarien vorgelegt werden, sondern helfen, dass diese europäische Verfassung Wirklichkeit wird.
({14})
Noch etwas zum Föderalismus, weil der Föderalismus nicht nur eine faszinierende Idee für Deutschland,
sondern auch für das Europa ist, wie wir es uns wünschen, wie zumindest ich es mir wünsche. Sie haben mit
einigen, aus meiner Sicht übertriebenen Forderungen
dazu beigetragen - das sage ich in Richtung mancher
Ministerpräsidenten -, dass die Grundlagen des Föderalismus in Deutschland einen dramatischen Vertrauensverlust erlitten haben. Sägen Sie bitte nicht an dem Ast,
auf dem Sie selber sitzen!
({15})
Natürlich bin auch ich darüber enttäuscht, dass in
Deutschland eine öffentliche Debatte über dieses große
Projekt kaum stattgefunden hat. Sind aber wirklich nur
die vermeintlich unwilligen Politikerinnen und Politiker
daran schuld? Tragen dafür nicht auch die Medien Verantwortung, die in der Regel überhaupt nicht bzw. wenig
berichtet haben? Meine persönliche Auffassung dazu ist:
Bei all den Risiken, die damit verbunden sind - ein
Referendum hätte uns zumindest dazu gezwungen, eine
Debatte zu führen.
({16})
Auch nach diesem Tag sollten wir diese Debatte nicht
den Nationalisten, den hinlänglich bekannten Europagegnern und Globalisierungsgegnern überlassen, die mit
falschen Argumenten die Ängste der Menschen schüren.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass es auch hier Menschen gibt, die diese Ängste schüren, die den Vorwurf
des Populismus zwar immer sehr weit von sich weisen,
aber die sich doch in Populismus ergehen. Das finde ich
schade. Da sollte man dann schon ehrlich sein.
({17})
Wenn diese EU-Verfassung scheitert, sind viele in
Frankreich oder auch in Deutschland darüber traurig.
Die ersten Champagnerflaschen werden, glaube ich, geöffnet bei Monsieur Le Pen, bei den Rechtsextremisten,
bei denjenigen in Großbritannien, die von diesem Projekt noch nie viel gehalten haben. Vielleicht wird sich
auch der eine oder andere in den Vereinigten Staaten von
Amerika die Hände reiben und sagen: Die kommen mit
ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik doch
nicht so weit, wie sie es immer wieder eingefordert haben.
Deswegen: Bescheidenheit ist angesagt. Die europäische Verfassung ist keine Eier legende Wollmilchsau, die
auch noch auf alle drängenden Fragen eine ausreichende
Antwort hat. Sie gibt uns hier im Deutschen Bundestag
aber Gelegenheit, diese Antworten zu finden. Wer für
ein demokratischeres und solidarischeres Europa eintritt,
der muss heute für diese Verfassung stimmen und sich in
den nächsten Wochen in die Gruppe derjenigen einreihen, die auch in den anderen Mitgliedstaaten dazu beitragen, dass dieses großartige Verfassungsprojekt gelingt.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
dem Kollegen Roth Recht. Ich habe die Rede von Herrn
Bundeskanzler Schröder nachgelesen - ich habe sie mir
angehört und konnte es kaum glauben - und muss angesichts des Gegenstands der heutigen Debatte - wir debattieren über die Verabschiedung der europäischen Verfassung - sagen, dass ich eine solch inhaltslose und
perspektivlose Rede vom deutschen Bundeskanzler eigentlich nicht erwartet hätte.
({0})
Meine Damen und Herren, ich hätte mir wirklich gewünscht, dass wir alle diese europapolitische Debatte zu
einer großen Stunde des deutschen Parlamentarismus
machen. Sie aber, Herr Müntefering, haben eben die
Fliesenleger in die Debatte eingeführt.
({1})
Es geht bei der europäischen Verfassung schließlich um
ein Projekt, das in der Perspektive der nächsten zehn
Jahre das deutsche Grundgesetz ablösen wird.
({2})
Ich habe in der Kurzintervention die Möglichkeit, auf
ein paar Punkte einzugehen. Einer der Hauptpunkte ist
- der Außenminister nimmt an der Debatte überhaupt
nicht mehr teil -, dass dieser Verfassungsvertrag aus
deutscher Sicht ausgesprochen schlecht verhandelt
wurde. Wir übertragen substanzielle Rechte in 20 weiteren Politikbereichen auf Brüssel und höhlen die Rechte
des Deutschen Bundestages ein Stück weit aus.
({3})
Dies kommt deshalb einer Entparlamentarisierung
gleich, weil nicht das Europäische Parlament diese
Rechte erhält,
({4})
sondern wir die Rechtsetzung auf die Bürokratie und die
Exekutive übertragen und den Parlamenten nicht einmal
ein Gesetzesinitiativrecht geben. Wenn es um europäische Rechtsetzung geht, können in Brüssel Gesetze nicht
aus dem Parlament heraus entwickelt werden. Das ist ein
großes Manko.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag
und die Landtage geben substanzielle Rechte auf. Deshalb haben CDU und CSU das Mitwirkungsgesetz zur
Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages eingebracht. Mit diesem Mitwirkungsgesetz hätten wir europäische Rechtsetzung wieder in die Parlamente zurückgeholt und Gesetze hier legitimiert. Durch einen
Parlamentsvorbehalt, durch Debatten und Entscheidungen des Deutschen Bundestages hätten wir dazu beigetragen, dass mehr Legitimation geschaffen und wieder
eine Brücke zum Bürger gebaut wird. Wenn Sie, meine
Damen und Herren, so feixen, wie es Herr Müntefering
in seiner Rede getan hat,
({5})
dann können Sie doch nicht im Ernst glauben - das ist
sehr bedauerlich für das Projekt Europa -, dass Sie die
Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Ich glaube das
nicht. Ich bedauere es sehr, dass wir ebenso wie auf ein
Referendum auch auf eine breit angelegte Debatte verzichtet haben.
({6})
Herr Kollege Müller, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
Ich komme zum Schluss. - Es hätte uns gut getan,
wenn wir in den Fraktionen und im Deutschen Bundestag versucht hätten, einen breiten und offenen Dialog mit
der Bevölkerung aufzunehmen und zu führen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja begeistert und überrascht davon, wie sich
jetzt, wo es zu spät ist, immer mehr Kolleginnen und
Kollegen für ein Referendum über die europäische Verfassung aussprechen.
({0})
Sie hatten hier mehrere Gelegenheiten, über einen Gesetzentwurf abzustimmen, mit dem das ermöglicht worden wäre.
({1})
Sie haben mit ganz wenigen Ausnahmen - Herr Müller,
ich nehme Sie aus - das abgelehnt, und zwar unisono.
Wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen, Sie wollten ein Volksreferendum, dann ist das einfach unehrlich
und heuchlerisch.
({2})
Ich finde es auch bemerkenswert, dass über die fehlende parlamentarische Beratung geklagt wird. Neunmal
haben wir hier im Plenum des Bundestages über die
europäische Verfassung diskutiert.
({3})
Wir haben im Europaausschuss zweieinhalb Jahre lang
intensiv den gesamten Prozess gestaltend begleitet. Das
heißt, es gab viele Möglichkeiten und Gelegenheiten,
sich einzubringen. Wir haben noch nie bei einem Prozess
der Beratung und der Weiterentwicklung der europäischen Verträge so wie bei diesem die Parlamentarierinnen und Parlamentarier einbezogen.
({4})
Von daher ist es vordergründig und falsch, wenn Sie dem
entgegenstehende, falsche Botschaften von dieser Debatte des Deutschen Bundestages aussenden.
({5})
Es muss auch ehrlicherweise gesagt werden, dass der
Bundestag selbst - das sollten wir sehr selbstkritisch sagen - die bestehenden Rechte, auch die sich aus unserem
Grundgesetz ergebenden Rechte nach Art. 23, viel zu
wenig genutzt hat
({6})
und viele leider gar nicht wissen, dass es sie gibt. Das
finde ich erschütternd. Wenn hier beklagt wird, dass man
sich nicht im Rahmen eines europäischen Gesetzgebungsverfahrens einbringen könne, zeigt das, dass noch
nicht einmal Kenntnis über das Grundgesetz vorhanden
ist. Dann kann ich natürlich auch nicht erwarten, dass
Kenntnis über Grundzüge des europäischen Verfassungsvertrages vorhanden ist, den wir den Bürgerinnen
und Bürgern zu erklären haben. Da kann ich nur froh
sein, wenn diejenigen, die sich hier mit solchem Nichtwissen äußern, nicht die sind, die ihn den Bürgerinnen
und Bürgern erklären. Überlassen Sie das uns, die mit
Herzblut hinter dieser Verfassung stehen, weil es keine
Alternative dazu gibt!
({7})
Denn was wäre die Alternative? Die Alternative wäre,
dass wir uns wieder auf Binnenmarkt und Wettbewerb
reduzieren. Binnenmarkt und Wettbewerb sind wichtig;
aber das ist doch längst nicht alles. Wenn wir die Grundrechte-Charta nicht bekommen, nehmen wir den Bürgerinnen und Bürgern etwas, was ihre Rechte stärken
würde. Außerdem würde das dazu führen, dass wir im
Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik kein stärkeres, handlungsfähiges Europa bekommen, das wir aber dringend brauchen; denn es muss ein
Gleichgewicht hergestellt werden. Es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika als eine handlungsfähige
Macht, als eine Weltmacht. Da muss doch Europa stark
werden - nicht gegen Amerika; aber Europa muss seine
eigenen Aufgaben bei sich selbst und in seiner Nachbarschaft wahrnehmen können,
({8})
natürlich immer vor dem Hintergrund der internationalen Einbettung, des Multilateralismus, den wir wollen,
und auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen.
Von daher warne ich davor, hier mit kurzen Schlagworten ein falsches Licht auf die Inhalte der europäischen Verfassung zu werfen. Dort ist keine Pflicht zur
Aufrüstung und Beteiligung an Kriegen enthalten. Im
Gegenteil, die Krisenprävention mit eigenen Möglichkeiten soll endlich gestärkt und verbessert werden. Das
halte ich für überfällig und dringend notwendig.
({9})
Ein letztes Wort, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte noch einmal betonen, dass es dank der
Nachhaltigkeit der FDP gelungen ist, ein Fraktionsklagerecht zur Durchführung der Subsidiaritätskontrolle
einzuführen. Viele hier waren zu Beginn der Debatte
nicht so sehr davon begeistert. Ich denke, es ist gut, dass
wir uns jetzt, am Ende der Beratungen, im Begleitgesetz
gemeinsam darauf verständigt haben, dass eine Fraktion
als Minderheit geltend machen kann, dass die Subsidiarität verletzt worden ist. Denn wie sieht die Realität aus?
Sie sieht so aus, dass Koalitionsfraktionen im Zweifel
doch wohl kaum klagen werden, wenn ihre Regierungsvertreter im Rat einem Vorhaben zugestimmt haben, das
die Subsidiarität nach Auffassung einer Fraktion im
Bundestag verletzt. Deshalb ist es wichtig, dass es diese
Möglichkeit gibt, von der natürlich verantwortungsbewusst und nicht aus euroskeptischen Gründen, sondern
im Sinne einer Stärkung der Rechte des Parlamentes Gebrauch gemacht werden soll.
Recht herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Diese Woche ist eine wahrhaft historische Woche, eine
bewegende Woche für Deutschland gewesen und der
heutige Tag ist ein guter Tag für Deutschland; denn die
Verfassung für Europa, die wir heute mit großer Mehrheit verabschieden werden, ist ein Meilenstein auch für
unser Land. Ich bin sehr froh darüber, dass wir dem Verfassungsvertrag hier im Deutschen Bundestag mit so
überwältigender Mehrheit zustimmen. Es ist auch aus
unserer historischen Verantwortung ein hervorragendes
Signal, dass keine politische Kraft im Deutschen Bundestag, wie zum Teil in anderen Ländern, versucht hat,
das Thema des Verfassungsvertrages für innenpolitische
Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist ein ausgesprochen positiver Vorgang, auf den wir alle stolz sein können und für den ich mich bei allen Fraktionen bedanken
möchte.
({0})
Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass die
Mehrheit, die sich heute im Bundestag darstellen wird,
keine Eins-zu-eins-Entsprechung in der deutschen Bevölkerung hat. Ich glaube, dass wir alle aufgrund unserer
Verantwortung für die europäische Zukunft aufgerufen
sind, den Menschen in Deutschland sehr genau zu erklären, warum diese Verfassung für Europa alternativlos ist.
Ich möchte dazu gerne ein paar Stichworte nennen.
Diese Verfassung - das ist für mich einer der zentralen Kernpunkte - macht Europa demokratischer. Wer zu
dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem demokratischer werdenden Europa, der sagt Nein
zu mehr Beteiligungsrechten des Europäischen Parlaments und zu mehr Transparenz. Wer zu dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem handlungsfähigeren Europa. Was wir aber brauchen und wollen, ist
ein Europa, das die Entscheidungen schnell und transparent treffen kann. Die Abstimmungsmechanismen, die
wir schaffen, machen dieses Europa handlungsfähiger.
Auch das muss deutlich werden: Wer Nein zu dieser
Verfassung sagt, der sagt auch Nein zum Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt
auch Nein dazu, dass die Europäische GrundrechteCharta für alle Bürgerinnen und Bürger Europas rechtsverbindlich wird, und der beraubt sich einer guten
Grundlage für die Wahrung und Durchsetzung der unveräußerlichen Menschenrechte und der individuellen
Bürgerrechte. Ich kann für meine Fraktion feststellen:
Wir sagen Ja zu Europa, weil wir, was den Schutz der
Grundrechte und der Menschenrechte angeht, diese Verfassung für einen großen Fortschritt halten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang dankbar an den
Kollegen Wolfgang Ullmann erinnern, der als Mitglied
des Europäischen Parlaments für die Entwicklung der
Europäischen Grundrechte-Charta Hervorragendes geleistet hat.
({1})
Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, sagt auch Nein
zu einem sozialeren Europa. Denn in dieser Verfassung
wird zum ersten Mal die Wirtschaft Europas als soziale
Marktwirtschaft und nicht als freie Marktwirtschaft definiert. Auch das ist ein großer Fortschritt. In der Europäischen Union werden jetzt sozialere Ziele angestrebt.
Wir sollten nicht dem plumpen Populismus einiger
Leute auf den Leim gehen, die uns einreden wollen, dass
mit dieser Verfassung Europa unsozialer und kälter wird.
Diese Verfassung bietet die Grundlage dafür, dass das
europäische Gesellschaftsmodell ein soziales Modell ist,
das sich fortentwickelt, blüht, wächst und gedeiht. Diese
Chance haben wir. Aber wir müssen sie wahrnehmen.
({2})
Auch die friedenspolitische Dimension ist in der öffentlichen Debatte häufiger angesprochen worden. Wer
Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein dazu,
dass zivile und militärische Fähigkeiten, die für die
Konfliktlösung eingesetzt werden können, zum ersten
Mal in einer Verfassung nebeneinander gestellt werden.
Wer Nein dazu sagt, der will anscheinend nicht die zivilen Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung einsetzen, die
uns diese Verfassung an die Hand gibt. Daher ist es
wichtig, dass wir zu dieser Verfassung Ja sagen.
({3})
Ich möchte noch ein zentrales Ziel dieser Verfassung
deutlich machen. In der Verfassung wird als Ziel formuliert:
Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität … unter
den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur
Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte …
Ich glaube, eine so progressive nationalstaatliche Verfassung muss erst noch geschrieben werden. Deshalb sind
wir für diese Verfassung.
({4})
Da wir für diese Verfassung sind - das haben heute
alle Redner deutlich gemacht -, haben wir allerdings
auch die Verantwortung, das Bild von Europa, das in der
Öffentlichkeit gezeichnet wird, mit Leben zu erfüllen.
Auch das ist etwas, was mir in dieser Debatte gefehlt
hat - auch in Ihrer Rede, lieber Herr Kollege Stoiber, obwohl ich ansonsten vielen Teilen Ihrer Rede zustimme.
Ich glaube, wir haben die Verantwortung, die Ängste in
der Bevölkerung aufzunehmen. Aber wir haben auch die
Verantwortung, nicht zusätzlich Ängste zu schüren, sondern real und rational über die Herausforderung zu diskutieren.
({5})
Die Erweiterung der EU, die wir alle hier im letzten
Jahr gefeiert haben und über die wir uns gefreut haben,
darf nicht als Instrument genutzt werden, um Ängste in
der Bevölkerung zu schüren.
Denn wir müssen uns immer klar machen: Was ist
denn die Alternative dazu? Was wäre denn, wenn Polen
heute nicht in der EU wäre, oder was wäre, wenn Bulgarien und Rumänien keine Beitrittsperspektive hätten?
Was würde das ökonomisch bedeuten, wenn diese Länder nicht nach den Spielregeln der Europäischen Union
verfasst wären? Es mag sich jeder, der an Wettbewerbsgleichheit interessiert ist, vorstellen, was es bedeuten
würde, wenn wir an unseren Ostgrenzen Länder hätten,
die nach völlig anderen ökonomischen, sozialen, ökologischen und demokratischen Spielregeln funktionieren
würden. Wir haben sozial, demokratisch, aber auch
ökonomisch und natürlich ökologisch ein eigenes Interesse daran, dass die Erweiterung der Europäischen
Union voranschreitet und die Spielregeln, die wir wollen, auch in diesen Ländern greifen. Deshalb sollte man
keine Ängste vor der Erweiterung schüren, sondern realistische Mechanismen einbauen.
Das hat diese Bundesregierung in der Frage der
Dienstleistungsfreiheit getan. Deshalb ist Ihr Hinweis
auf die Dienstleistungsfreiheit völlig falsch, weil die
Bundesregierung hier ihrer Verantwortung nachgekommen ist und Übergangsregelungen eingeführt hat, die
sich vernünftig realisieren lassen.
({6})
Der zweite Teil dieser Diskussion umfasst die Debatte
um unsere nationale Verantwortung im Deutschen Bundestag. Dazu ist von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern vieles gesagt worden. Der Hinweis ist richtig, dass
der Deutsche Bundestag durch die europäische Verfassung und die Subsidiaritätsklage bzw. Subsidiaritätsrüge, wie sie vorgesehen ist, eine deutlich größere Verantwortung bekommt. Wir können jetzt - ob zu Recht
oder nicht - nicht mehr mit dem Finger nach Brüssel zeigen und sagen: Was die da alles für einen Unsinn, für
komplizierte Regelungen, für überflüssigen Quatsch realisieren! Vielmehr sind wir selber in unserem nationalen
Parlament jetzt ein Stück weit mehr verantwortlich. Das
ist ein Riesenfortschritt; aber das ist auch eine riesige
Verantwortung, die wir damit tragen.
Ich glaube, dass wir dieser Verantwortung mit den
Strukturen, so wie wir sie bisher haben, nicht gerecht
werden können. Wir brauchen in diesem Hohen Hause
andere, zusätzliche Arbeitsstrukturen. In dem vorliegenden Entschließungsantrag ist auf eine Fragestunde zu
Themen europäischer Politik hingewiesen worden. Auch
die Arbeit in den Fachausschüssen muss sich sehr viel
stärker an dem, was in Brüssel tatsächlich zur Entscheidung ansteht, orientieren. Wir sollten nicht nur europäische Beschlüsse der Vergangenheit zur Kenntnis nehmen, sondern selber in einem sehr viel umfangreicheren
Maße unsere Initiativrechte nutzen, um uns in die Entscheidungsstrukturen auf der Brüsseler Ebene einzuklinken, und nicht mit Debatten nachklappen, wie sie jetzt
zum Teil über die Verfassung geführt werden. Ich verstehe überhaupt nicht, dass keiner gewusst haben will,
worum es eigentlich geht.
({7})
Über diese Verfassung ist so breit wie über kein anderes
Projekt diskutiert worden.
Lassen Sie uns deshalb die Verantwortung annehmen,
die wir in unserem Parlament haben! Lassen Sie uns die
Arbeit in den Ausschüssen ernsthaft umstrukturieren!
Lassen Sie uns eine neue Fragestunde beschließen, um
hier im Parlament über europäische Themen zu debattieren! Dann werden wir mit Sicherheit einen großen
Schritt vorankommen.
Jacques Delors hat einmal gesagt: „Europa ist nur einer wirklichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr des Stillstandes.“ Wenn wir das, was heute zur Entscheidung ansteht, nicht realisieren würden, dann würden wir uns
dieser Gefahr tatsächlich aussetzen. Diese Verfassung
nicht anzunehmen, die Umsetzung in nationales Recht
nicht zu realisieren wäre nicht nur ein großer Fehler,
sondern für den Deutschen Bundestag auch historisch
verantwortungslos. Dazu wird es nicht kommen.
Robert Schuman hat in seiner historischen Erklärung
vom 9. Mai 1950 gesagt:
Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen
und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, …
Die Tatsachen, die wir heute schaffen, sind im Sinne von
Robert Schumans europäischem Traum ein ganz großer
Schritt, konkret nach vorne zu kommen und unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Europa gerecht
zu werden, insbesondere unserer Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Wenn ich Sie heute fragen würde, wie der erste Satz
der Verfassung für Europa lautet, könnten - da bin ich
mir sicher - die meisten von Ihnen das nicht sagen. Eigentlich müssen Sie diesen Satz auch nicht kennen; denn
er ist bürokratisch, nichtssagend und falsch. Er lautet:
Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die
Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen
Ziele übertragen.
Dieser Satz ist falsch, weil der Wille der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land überhaupt nicht gefragt ist.
({0})
Nur durch eine Volksabstimmung könnte man diesen
Satz und die ganze Verfassung legitimieren.
Meine Damen und Herren, Sie stimmen heute im
Bundestag über die Verfassung Europas ab, die Sie teilweise nicht kennen und die Sie auf keinen Fall in ihrer
Wirkungsmacht einschätzen können. Dazu war die Zeit
zu kurz. Viele haben sich auch nicht ausreichend damit
beschäftigt.
Ich finde, das ist ein sehr schlechter Start für eine Verfassung, die das Zusammenleben der Europäer auf Jahrzehnte bestimmen soll. Sie verweigern sich einem
Volksentscheid zur EU-Verfassung und wollten doch
einmal mehr Demokratie wagen. Sie wollen still und
heimlich, an den Bürgern vorbei, die Verfassung durch
Bundestag und Bundesrat winken. Heute werden Sie
eine Mehrheit für die Verfassung bekommen; doch das
ist ein Pyrrhussieg. Sie tun damit Europa und den Europäern keinen Gefallen. Sie verkennen nämlich, dass
Identifikation mit Europa nur entstehen kann, wenn sich
die Menschen mit Europa auseinander setzen, über Europa diskutieren und leidenschaftlich streiten, wie wir es
jetzt in Frankreich erleben.
({1})
Doch warum sollen sich die Bürger unseres Landes
mit der Verfassung auseinander setzen, wenn ihre Meinung gar nicht gefragt ist? Ich frage all diejenigen, die
heute von ihren Reisen nach Frankreich und ihrem Einsatz dort berichtet haben: Warum haben Sie sich nicht
mit gleichem Einsatz für einen Volksentscheid in der
Bundesrepublik Deutschland eingesetzt?
({2})
Diejenigen Europäer, die sich gegen die europäische
Verfassung aussprechen, als Europagegner zu disqualifizieren ist böswillig und dumm. Laurent Fabius, ehemaliger französischer Premier, sagte gegenüber dem französischen Fernsehen, dass es Millionen Franzosen gebe,
die wie er überzeugte Europäer seien, aber mit Nein
stimmen wollen, einfach deshalb, weil sie ein unabhängiges und soziales Europa wollen.
Die PDS hat vor allem drei gute Gründe, die Verfassung abzulehnen: Erstens. Die Verfassung ist nicht durch
eine Volksabstimmung legitimiert. Zweitens. Die Verfassung setzt auf militärische Stärke, auf Aufrüstung und
weltweite militärische Konfliktlösungen.
({3})
Drittens. Die Verfassung setzt auf freien Markt - nicht
auf soziale Marktwirtschaft -, freien Geldverkehr und
freie Konkurrenz.
Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Konfliktlösungen in Europa nie funktioniert haben.
({4})
Unsere Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa
unter dieser Logik in den letzten tausend Jahren nur gelitten hat. Wir wollen dieser Logik nicht länger folgen.
Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, sondern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt
auf eine, wie es dort heißt, „offene Marktwirtschaft mit
freiem Wettbewerb“. Hat die Europäische Union zusammen mit der Bundesregierung schon in den letzten Jahren alles getan, um - ich zitiere Herrn Müntefering „Heuschrecken“ Tür und Tor zu öffnen, so wird mit der
vorliegenden Verfassung diesen „Heuschrecken“ neue
Nahrung gegeben.
Im Entwurf der Verfassung für Europa gibt es selbstverständlich Aussagen und Passagen, die wir unterstützen, die sinnvoll sind, die eine wirkliche Verbesserung
darstellen würden. Doch die Ablehnungsgründe wiegen
um ein Vielfaches schwerer. Einer Verfassung, die in
diesen drei entscheidenden Punkten hinter den Erwartungen der Bürger zurückbleibt, kann nicht Grundlage
eines zukunftsgerichteten Europas sein.
({5})
Ich bin mir sicher, dass die meisten Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land wissen, dass das Grundgesetz
der Bundesrepublik mit dem Satz beginnt: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein kräftiger und
wirkungsvoller Satz, tausendmal besser als der erste Satz
der europäischen Verfassung. Jeder von Ihnen, meine
Damen und Herren, der noch zum Bücherlesen kommt,
weiß, dass der erste Satz eines Buches sehr viel über das
ganze Buch sagen kann. So ist es auch bei dieser Verfassung.
Wir als PDS werden heute aus den genannten Gründen gegen diese Verfassung stimmen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Martin Hohmann das
Wort. - Wenn er nicht da ist, kann er nur schwer reden.
Dann erteile ich dem Kollegen Dietmar Nietan für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat muss man über Europa streiten. Es muss auch
möglich sein, über die europäische Verfassung sehr hart
miteinander zu ringen und zu streiten; denn sie ist nicht
irgendetwas, sondern eine Verfassung, die zum Wohle
der Menschen Weichen stellen soll.
Erlauben Sie mir diese etwas zugespitzte Bemerkung:
Ich habe den Eindruck, dass viele - ich sage ausdrücklich: nicht alle - Kritikerinnen und Kritiker dieser Verfassung dem Kleinmut verfallen sind.
({0})
Denjenigen, der ernsthaft behauptet, dieser Entwurf eines Verfassungsvertrags, der eine Grundrechte-Charta
- die übrigens mit dem Satz anfängt, dass die Würde des
Menschen unantastbar ist - und auch einen expliziten
Hinweis auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern enthält, sei das Einfallstor des weltweit
operierenden Kapitalismus, frage ich: Wo war er, als der
Vertrag von Nizza verabschiedet wurde? Damals hätten
all die Menschen, die das behaupten, durch unser Land
und durch ganz Europa Demonstrationszüge organisieren müssen; denn der Verfassungsentwurf, der uns jetzt
vorliegt, ist zehn- oder 20-mal besser als der Vertrag von
Nizza. Wo waren all diese Kritiker damals?
({1})
Ich erlaube mir - auch wenn er jetzt nicht mehr auf
seinem Platz sitzt -, Folgendes zu sagen: Eine besondere
Art des Kleinmuts hat der bayerische Ministerpräsident
demonstriert. Ich muss sagen, es ist schon eine Kunst,
sich mit so viel Wehleidigkeit und Missgunst für diese
Verfassung auszusprechen. Ich habe die ganze Zeit, als
ich gehört habe, wie er genörgelt und gekrittelt hat, gedacht, dieser Mann sei gegen die Verfassung.
({2})
Wenn Herr Stoiber seine Sorge um die Fähigkeit der
Europäischen Union, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen, ernst meint - dieses Problem wird zu Recht angesprochen -, dann frage ich mich in der Tat, warum er
heute, wenn wir mit der EU-Verfassung einen weiteren
Schritt unternehmen wollen, um die Aufnahmefähigkeit
der EU sicherzustellen, erklärt, dass er mit der Tradition
von Adenauer bis Kohl bricht, die der Türkei immer eine
Perspektive geboten haben. Sein Ziel ist wohl, bis an
sein Lebensende - koste es, was es wolle - zu verhindern, dass die Türkei der EU beitritt. Das war wahrlich
nicht europäisch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Ich möchte darauf eingehen, dass gesagt wird, die
EU-Verfassung sei militaristisch; denn ich glaube, sie ist
das Gegenteil. Das möchte ich in einigen Punkten erläutern. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir mit dieser
Verfassung die Grundlage für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen, die Grundlage,
um noch viel mehr zu tun, als wir bereits bisher auf dem
Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erreicht haben.
Ich will nur darauf hinweisen: In Art. I-41 des Verfassungsentwurfs wird ausdrücklich unterstrichen, dass
Friedenssicherung, Konfliktverhütung und die Stärkung
der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit
den Grundsätzen der Charta der VN die Leitlinien für die
europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein sollen. Ich finde, das sind deutliche Worte. Wer
das als Militarisierung bezeichnet, der scheint diese Verfassung nach dem Motto zu lesen: Ich lese nur das, was
ich lesen will, und nehme nur das zur Kenntnis, was ich
hören und sehen will. Wer so verfährt, nimmt allerdings
nicht die Realität zur Kenntnis.
({4})
Ich glaube, dass diese Verantwortung für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auch deshalb
so wichtig für uns ist, weil die Menschen in der ganzen
Welt auf das europäische Modell schauen. Ich finde, die
Worte, die der Bundeskanzler gesagt hat, sind richtig:
Wir müssen dankbar sein für die europäische Einigung,
die uns so weit gebracht hat, die dafür gesorgt hat, dass
es in Europa keine Kriege mehr gegeben hat und dass
sich niemand mehr vorstellen kann, dass die Staaten, die
jetzt Mitglied in der Europäischen Union sind, jemals
wieder Krieg gegeneinander führen werden.
Aber wenn dem so ist, brauchen wir nicht nur Dankbarkeit, wir müssen uns auch verantwortlich zeigen für
das, was in der Welt geschieht. Dann darf man nicht wegsehen, dann brauchen wir zivile und - ich betone das auch militärische Fähigkeiten, zur Not denjenigen, die
Menschenrechte missachten, die Völkermord begehen, in
den Arm zu fallen. Wer davor die Augen verschließt und
glaubt, alles nur zivil regeln zu können, lässt die Menschen, die von Unrecht und Verfolgung bedroht sind, im
Stich. Das wollen wir jedenfalls nicht.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen, dass mich die
Kritik von ganz links außen an dem so genannten Militarismus schon etwas wundert, wenn ich mir einmal vorstelle, dass die gleichen Leute, die davon träumen - das
ist nicht mein Traum; ich sage das deutlich -, Europa
müsse ein Gegengewicht zu den USA sein, dass all die
Leute, die sagen, die USA agieren nur unilateral und sie
agieren militaristisch, es sich haben gefallen lassen, dass
es die Amerikaner waren, die uns Europäern in den 90erJahren geholfen haben, die Konflikte auf dem Balkan zu
lösen, weil wir dazu nicht in der Lage waren. Das muss
sich ändern und das müssen wir aus eigener Kraft schaffen. Das aus eigener Kraft schaffen zu wollen ist kein
Militarismus, sondern das ist das Ernstnehmen der Verantwortung, die auch wir für den Frieden in der Welt haben.
({6})
Die europäische Verfassung bietet Instrumente für die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: einen gestärkten Außenminister Europas, der gleichzeitig auch
Vizepräsident der Kommission und Vorsitzender des Außenministerrates ist; eine ständige strukturierte Zusammenarbeit; die Rüstungsagentur, die es uns erlaubt, die
Rüstungsanstrengungen koordiniert und effizient zu gestalten und damit am Ende weniger Geld für Rüstung
einsetzen zu müssen. Das ist keine Aufrüstung, das ist
Effizienz und angesichts der knappen Budgets ist diese
Art von Rüstungskooperation auch richtig.
Wer all dies will, trägt auch zur Festigung der transatlantischen Beziehungen bei. Denn eins habe ich gelernt:
In Amerika ist man es satt, immer wieder von Europäern
zu hören, man wolle endlich mit den Amerikanern auf
gleicher Augenhöhe reden usw. Wir sollten nicht darüber
lamentieren, sondern wir sollten zeigen - indem wir die
Fähigkeiten zu ziviler und militärischer Konfliktprävention, aber auch zur Konfliktlösung haben -, dass wir
nicht nur über die gleiche Augenhöhe reden, sondern sie
auch haben. Ich glaube, das ist wichtig für die transatlantischen Beziehungen.
({7})
Natürlich ist es richtig, dass wir das alles den Menschen in unserem Land besser erklären müssen; ich
schließe mich da ausdrücklich ein. Aber ich glaube
- ohne jetzt dem Unkritischen, Pathetischen das Wort reden zu wollen -, entscheidend ist in einem solchen Prozess, dass die Menschen merken: Derjenige, der ihnen
Europa erklären will, ist nicht jemand, der daran herummäkelt und -nörgelt, sondern jemand, der von Europa
überzeugt ist. Ich finde, da kann der eine oder andere
von uns noch etwas lernen. Man braucht auch etwas
Herzblut und Enthusiasmus, um den Menschen Europa
nahe zu bringen.
({8})
Lassen Sie mich mit der Präambel unseres Grundgesetzes schließen. Dort heißt es:
Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und
den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche
Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Was könnte eindrucksvoller zu dem heutigen Tag passen
als dieser nun wirklich mit viel Weitsicht und Klugheit
formulierte Satz der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes? Denn er macht eins deutlich: Unsere Verfassung,
unser Grundgesetz können wir nur in einem europäischen Zusammenhang sehen. Die Präambel unseres
Grundgesetzes verpflichtet uns, „als gleichberechtigtes
Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt
zu dienen“. Ich bin der festen Überzeugung: Mit der Verfassung für Europa kommen wir auch diesem Auftrag
unseres Grundgesetzes einen großen Schritt näher.
({9})
Ohne die Probleme und Dinge, die im Verfassungsentwurf hätten besser sein können, wegdiskutieren zu
wollen, sage ich deshalb für mich und, wie ich glaube,
auch für meine Fraktion: Heute ist ein guter Tag für
Europa. Weil es ein guter Tag für Europa ist, ist es auch
ein guter Tag für unser Land.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerne knüpfe ich an die Worte meines Vorredners
an und sage: Der heutige Tag ist auch ein guter Tag für
den Deutschen Bundestag.
({0})
Wir sagen Ja zu dem Vertrag über eine Verfassung für
Europa und wir sagen Ja zu einer Stärkung der Rechte
dieses Parlaments. Nie hat der Deutsche Bundestag
mehr Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen, als sie ihm durch diese Verfassung und durch die
gemeinsame Vereinbarung der Fraktionen eingeräumt
werden.
Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kollegen
Gloser und Roth von der SPD, beim Kollegen
Steenblock von den Grünen und bei der Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP bedanken.
Ich bedanke mich auch beim Bundeskanzler - das tue
ich selten - dafür, dass er heute in seiner Regierungserklärung zur Ratifizierung zugesagt hat, die Vereinbarung, die wir zwischen den Fraktionen gemeinsam getroffen haben, umzusetzen und einzuhalten. Herzlichen
Dank dafür!
({1})
Nun hatte ich beschlossen, heute nur freundlich zu
sprechen.
({2})
Der Kollege Müntefering hat aber zwei Fragen gestellt
({3})
und er hat natürlich auch das Recht, die Antworten zu
hören. Ich hoffe, er sitzt jetzt irgendwo am Bildschirm
und bekommt es mit, sonst wird es ihm Herr Benneter
im Zweifelsfall mitteilen.
({4})
Er hat sich hier vorne ans Pult gestellt und unsere
Vorsitzende, Frau Merkel, mit strenger Stimme aufgefordert, wenn denn das mit den Mehrfachanmeldungen
({5})
von Firmensitzen an einer Adresse stimme - es stimme
wahrscheinlich nicht; es sei eine typische Wahlkampfsache -, dann möge sie doch bitte die Adresse nennen.
({6})
- Auch die Hausnummer.
({7})
- Herr Benneter schreibt mit. - Frau Merkel hat gesagt,
es hätten sich 50 Firmen an einer Adresse angemeldet.
Ich muss Ihnen sagen: Das war falsch, es sind nämlich
56 Firmen an einer Adresse. Herr Müntefering bzw. Herr
Benneter, die Adresse zum Mitschreiben: Es ist die Görlitzer Straße 2 in Neuss.
({8})
- Ja, passen Sie auf.
({9})
- Es geht noch weiter, passen Sie mal auf.
Die Handwerkskammer Düsseldorf, die dafür zuständig ist, teilt uns dazu mit: Im Jahre 2004 hat es im Bereich der Handwerkskammer 1799 Registrierungen in
den zulassungsfreien Handwerken gegeben. Das ist
ein Anstieg gegenüber 2003 um 550 Prozent. Von den
1799 Registrierungen entfallen zwei Drittel auf den Fliesenlegerberuf. - Dass da irgendetwas schief läuft, wird
doch jedermann einsehen. Sie haben jetzt die Adresse
und können der Sache nachgehen. Wir erkundigen uns in
einer Woche, ob Sie es getan haben.
({10})
Das war aber erst Teil eins. Sie müssen Herrn
Müntefering noch etwas mitteilen, nämlich den Teil
zwei.
({11})
Es geht um das Thema Rumänien. Es wird noch besser.
({12})
Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung ihren Verhandlungsfehler aus dem Jahre 2005
mit einer Rede von Peter Hintze aus dem Jahre 2001 entschuldigt. Herr Müntefering, es ist ein Unterschied, etwas zu zitieren und das Zitat auch richtig zu verstehen.
Herr Müntefering hat mich richtig zitiert, aber er hat es
falsch verstanden. Ich will es ihm gerne erläutern.
({13})
- Sehen Sie, am Schluss der Debatte werden Sie vielleicht noch einen Erkenntnisgewinn haben.
2001 habe ich vor einem Konstruktionsfehler der Verträge gewarnt, der heute offen zutage tritt. Bei der
Osterweiterung der EU hat die Bundesregierung sehr
lange Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die sofortige Dienstleistungsfreiheit für fast
alle Arbeitsfelder vereinbart. Daraus entsteht ein übergroßer Druck, der sich im Dienstleistungssektor entladen
hat. Jetzt erkennen Sie diesen Konstruktionsfehler. Was
tun Sie? Sie reparieren, wie so oft, an der falschen Stelle.
Sie haben es in den Verhandlungen mit Rumänien und
Bulgarien schlicht vergessen, diese Erkenntnisse aufzunehmen und die Übergangsfristen im Dienstleistungsbereich entsprechend zu ändern. Heute reden Sie stattdessen von Sozialdumping und betreiben die Ausweitung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen.
Damit greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber
wieder voll ins Leere; denn die Dienstleister, die hier antreten - ich habe Ihnen eben die Zahlen der Handwerkskammer Düsseldorf genannt - sind keine Arbeitnehmer,
die unter die Allgemeinverbindlichkeit fallen würden,
sondern Selbstständige, für die es keine Arbeitslöhne mit
Tarifbindung gibt. Sie präsentieren uns also wieder eine
Scheinlösung.
({14})
Ich erwarte ja nicht, dass jeder dies weiß; aber ich kann
es doch vom Fraktionsvorsitzenden der SPD erwarten.
Er hat damit heute ganz unbeabsichtigt die Regierung in
die Bredouille gebracht.
({15})
- Jetzt bekomme ich den freundlichen Zwischenruf
„Scheinselbstständige“. Wer ist denn nach der bundesstaatlichen Ordnung dafür zuständig?
({16})
Wer ist denn für die Missbräuche in den Schlachthöfen
zuständig?
({17})
Zuständig ist die Bundesfinanzverwaltung. Es wäre also
sehr positiv, wenn Sie auch diesen Fehler noch in Ihrer
Regierungszeit ausräumten. Darum bitte ich.
({18})
Herr Ströbele - auch er hat versucht, uns aufzuklären;
der bayerische Ministerpräsident hat darauf bereits präzise geantwortet - hat davon gesprochen, dass die Bundesregierung die Dienstleistungsrichtlinie gestoppt
habe, womit quasi alles im grünen Bereich sei. Mein
Kollege Arnold Vaatz nennt so etwas, wenn die Dinge
komplett durcheinander geworfen werden, normalerweise eine kategoriale Verwirrung. Mit der Dienstleistungsrichtlinie verhält es sich nämlich vollkommen anders. Der Herr Bundeskanzler, der im Moment leider
nicht anwesend sein kann, feierte sie noch im Dezember
als das wichtigste Instrument für mehr Wachstum und
Beschäftigung in Europa. Jetzt hat er sie angeblich aus
dem Verkehr gezogen. Das, worüber wir uns unterhalten,
geschieht aber gar nicht auf dem Boden dieser Richtlinie, die ja noch nicht in Kraft getreten ist, sondern auf
dem Boden der bestehenden Verträge und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Alle Fehler, die
sich dort eingeschlichen haben, sind zum einen Verhandlungsfehler, die Sie bei den Beitrittsverträgen begangen
haben, und zum anderen Aufsichtsfehler der Verwaltung,
für die Sie Verantwortung tragen.
({19})
Die Verfassung, die wir heute verabschieden, ist ein
Schlüssel für ein starkes Europa im 21. Jahrhundert. In
den letzten Tagen bin ich oft gefragt worden, ob ich verstehen könnte, dass man gegen diese Verfassung sei.
Auch wenn es vielleicht den einen oder anderen Kollegen schmerzt, sage ich: Ich kann es nicht verstehen, weil
ich diese Verfassung wirklich als einen Fortschritt empfinde. Gerade das, was uns an Europa zu schaffen macht
- dass es nämlich neben den vielen guten und erfolgreichen Dingen immer wieder auch unsinnige Rechtsetzungen gibt, gegen die wir hinterher mit Mühe ankämpfen
müssen und die durch unsere Bundesregierung manchmal noch unsinniger gemacht werden -, überwinden wir
dadurch, dass wir, die Parlamentarier, nach In-Kraft-Treten dieser Verfassung früher eingeschaltet werden. Diese
Parlamentarisierung Europas stellt den großen Fortschritt in dieser Verfassung dar.
({20})
In mancher Zeitung ist jetzt zu lesen, dass zu wenig
über die Verfassung gesprochen worden sei. Ich unterrichte die Journalisten hiermit davon, dass wir in diesem
Saal sehr oft darüber gesprochen haben, wenn auch zugegebenermaßen in einem sehr überschaubaren Kreis
von Kolleginnen und Kollegen. Manche, die sich heute
erregen - nicht alle; ich nehme einen Kollegen, der eine
Kurzintervention gemacht hat, ausdrücklich aus, er war
immer dabei -, haben die Möglichkeiten zur Erörterung
des Verfassungsvertrags überhaupt nicht wahrgenommen. Dies bedauere ich sehr.
({21})
Ich spreche jetzt hoffentlich für alle Fraktionen dieses
Hauses: Die beiden Vertreter des Bundestages im Konvent, Jürgen Meyer von der SPD und Peter Altmaier von
der CDU/CSU, haben uns über zweieinhalb Jahre in
Ausschüssen und anderen Gremien, aber auch hier im
Plenum so unterrichtet, dass jeder, der guten Willens ist,
wirklich voll in der Materie sein und sich auch einbringen konnte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({22})
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Wertebezug sagen, der den allermeisten in diesem Hause sehr am Herzen liegt. Diese Verfassung ist von einem klaren Wertebezug geprägt. Was anderes ist es denn, wenn die
unverletzliche Würde des Menschen, so wie wir sie im
Grundgesetz beschreiben, auch hier in dieser neuen Verfassung beschrieben ist? Was ist denn ein besserer Ausdruck des christlichen Verständnisses vom Menschen
als die unverletzliche Würde des einzelnen Menschen?
({23})
Was ist denn anderes Ausdruck unserer Werte als die
rechtsstaatliche Ordnung, die wir uns auch für dieses
Europa wünschen? Diese Verfassung hat mehr Wertebezug als jede europäische Vertragsgebung zuvor.
({24})
Dem ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, einem großen Liberalen, verdanken wir den wunderschönen Gedanken, dass Europa auf drei Hügeln errichtet ist.
Er nannte die Akropolis in Athen, das Kapitol in Rom
und Golgatha bei Jerusalem. Das geistige Fundament
Europas ist die griechische Philosophie, das römische
Recht und das jüdisch-christliche Erbe. Von diesem
Geist - ich nehme alle Mütter und Väter dieser Verfassung in Schutz, die sie vorbereitet haben - ist die Verfassung für Europa geprägt. Wir können stolz sein, als
Abgeordnete heute darüber entscheiden und diese Verfassung auf den Weg bringen zu können.
({25})
Was unterscheidet sie noch von den bisherigen Vertragswerken? Wir haben in Deutschland und in Europa
gute und fähige Diplomaten. Sie haben das Geschäft in
der Vergangenheit gemacht. Aber diese Verfassung - das
kann man ihr ansehen - ist zum ersten Mal das Werk der
Parlamentarier in Europa. Deswegen hat die Verfassung
ein ganz deutliches parlamentarisches Plus. Das macht
sie demokratischer. Eben hat hier eine Kollegin den
Art. I zitiert; es lohnt sich immer wieder, ihn zu hören
und auch zu lesen. Dieser Art. I leitet nach der Präambel
eine Verfassung ein, die mehr Transparenz, mehr Effizienz, mehr Demokratie und mehr Beteiligung des Europaparlaments und auch des Deutschen Bundestages sichert als jede Verfassung zuvor. Dieses Plus an
Demokratie und parlamentarischer Beteiligung verdanken wir denen, die diese Verfassung vorbereitet haben. Dass wir heute zu ihr Ja sagen können, ist eine gute
Sache.
({26})
Ich freue mich, dass es uns in intensiven Gesprächen
gelungen ist - diese haben die Beteiligten in vielen Stunden genervt und haben vielleicht auch die eine oder andere Diskussion zu Hause mit sich gebracht, sodass man
Tag und Nacht nichts anderes machen konnte -, diesem
Anspruch der neuen Verfassung gerecht zu werden und
unsere Mitwirkung als Bundestag im Rahmen dieser
neuen Verfassung gut vorzubereiten. Es gibt eine Idee in
der europäischen Verfassung, die den europäischen Verträgen bisher fremd war, nämlich die Idee, dass die Kontrolle über das Subsidiaritätsprinzip nicht bei denen
verbleibt, die für die Rechtsetzungsakte selbst verantwortlich sind, sondern bei denen liegt, die als Parlamentarier in den Nationalstaaten die Verantwortung für die
Auswirkungen europäischer Rechtsetzungsakte zu tragen haben. Das ist ein ganz großes Plus.
Wir haben die Chance, am Beginn eines europäischen
Rechtsetzungsaktes seine Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit zu unterstreichen oder entsprechende Änderungen zu verlangen. Dieses Instrument wollen wir wahrnehmen. Dazu sind wir gut gerüstet.
({27})
Ich freue mich, dass der Vorsitzende des Europaausschusses, Matthias Wissmann, bei uns ist. Wir haben uns
im Europaausschuss - damit meine ich auch die vielen
anderen Kollegen aus allen Parteien - darauf verständigt, dass wir als Europaausschuss die Last auf uns
nehmen, auch in den sitzungsfreien Zeiten dafür zu sorgen, dass im Rahmen der Fristen, die die europäische
Verfassung setzt, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde das
volle Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestages
gewährleistet ist. Das haben wir Kollegen uns im Europaausschuss auferlegt. Das werden wir auch tun. Wir
werden das Plenum auch rechtzeitig unterrichten.
({28})
Wir brauchen ein Weiteres. Wir brauchen das Thema
der europäischen Rechtsetzungsakte, der europäischen
Gesetzgebung auch hier in der Mitte unseres Plenums.
Wir wünschen uns regelmäßige Fragestunden mit dem
Schwerpunkt Europa. Wir wünschen uns, dass in all den
Fachausschüssen dieses Deutschen Bundestages die großen Europathemen nicht an den Schluss der Tagesordnung geschoben werden, wo die Erschöpfung eintritt
und wo man dann unter „ferner liefen“ eine Sammelliste
abhakt, sondern wir wünschen uns, dass sich jeder Kollege und jede Kollegin bei der Arbeit über die europäische Dimension des eigenen Handelns klar ist und sie
auch mit einbringt.
({29})
Wir treffen diese Entscheidung heute unter zwei Flaggen, unter der Flagge der Bundesrepublik Deutschland
und unter der Flagge Europas, die zwölf Sterne trägt, um
die Verschiedenheit der europäischen Völker und die
wachsende Zahl der Mitgliedstaaten auszudrücken. Wir
tun das als nationales Parlament in einer europäischen
Verantwortung. Wir tun das für uns, wir tun das für unsere Kinder und für zukünftige Generationen.
Danke schön.
({30})
Das Wort erhält nun der Kollege Martin Hohmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Gegen den Verfassungsvertrag sprechen
drei große Bedenken. Zum Ersten: Es entscheidet nicht
der Souverän, das deutsche Volk. Bei ihm aber muss die
unmittelbare Letztentscheidung liegen. Gewiss kann
man einwenden, das sehe unser Grundgesetz nicht vor.
Andererseits schließt Art. 20 Abs. 2 diese Entscheidung
gerade nicht aus. Der Respekt vor dem Willen des deutschen Volkes hätte es verlangt, eine Entscheidung von
solch eminenter Wichtigkeit für die Zukunft des gesamten politischen Lebens unmittelbar in die Hände der
Wahlbürgerschaft zu legen. Außerdem zeigt die Terminierung dieser Sitzung, mit welchem relativen Unernst
das Verfahren betrieben wird. Die heutige vorgezogene
Bundestagsentscheidung muss nach dem Willen des
Bundeskanzlers als Lockmittel für die als widerspenstig
eingeschätzten Franzosen herhalten.
Zum Zweiten: Es wurde versprochen, die Zuständigkeiten innerhalb der Gemeinschaft klar, durchsichtig
und insbesondere nach dem Subsidiaritätsprinzip zu
regeln. Gehalten wurde das nicht. Zur Frustbekämpfung
der EU-Bürger wäre es aber sehr wichtig gewesen; denn
viele Bürger fühlen sich von anonymen Mächten und
nicht greifbaren Verantwortlichkeiten geradezu bedroht.
({0})
Europa wirkt für sie nicht mehr wie eine politische Verheißung, wie das in der Nachkriegszeit und lange danach
war, sondern wie ein undurchschaubarer Moloch, geradezu wie eine Bedrohung. Viele Menschen haben nicht
mehr den Eindruck, dass Europa ihnen dient, sondern
empfinden sich als Spielmaterial für weit entfernte, anonyme Bürokraten. Gegen das Gefühl des Ausgeliefertseins hätte eine glasklare Kompetenzverteilung geholfen. Diese Chance wurde weitgehend ausgeschlagen.
Die EU weitet stattdessen ihre Kompetenzen aus. Keiner
beschreibt die Methode besser als Jean-Claude Juncker.
Er sagt:
Wir beschließen etwas, stellen das dann in den
Raum und warten einige Zeit ab, was passiert.
Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine
Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen,
was da beschlossen wurde, dann machen wir
weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr
gibt.
Wenn zukünftig 80 Prozent der Entscheidungen in Brüssel und Straßburg fallen, dann sollte der Bundestag daraus Konsequenzen ziehen. Er könnte sich entsprechend
verkleinern, er könnte 80 Prozent seiner Kosten einsparen. Vielleicht könnte man
({1})
ihn in eine Beschäftigungsgesellschaft für entmachtete
Abgeordnete umwandeln. Mit drastisch reduzierten Befugnissen bei gleichem Aufwand weiterzuarbeiten, das
ist politische Hochstapelei.
Zum Dritten: Es fehlt ein klarer Gottesbezug. Europa
ist ohne seine christlichen Wurzeln nicht denkbar.
Europa braucht mehr denn je ein Wertegefüge. Dieses
kann aufgrund der zweitausendjährigen europäischen
Geschichte und Kultur nur die Botschaft von Jesus
Christus sein.
Aus dieser Botschaft erwuchsen die Aufklärung und die
Tugend der Toleranz. Zur Stärkung und Rückbindung
der Toleranz sind christliche Werte unabdingbar, für die
der Gottesbezug symbolisch steht. Ohne Gott geht
Europa zum Teufel. Die riesige Aufgabe, rund 30 europäische Völker zu einem harmonischen und friedlichen
Zusammenleben zu einen, übersteigt menschliches Vermögen. Dazu braucht es Gottes Segen.
({2})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Axel
Schäfer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Beitrag zum Thema „Fundamentalismus“
jetzt ein Beitrag zum Thema „Europa - in Vielfalt geeint“.
({0})
Wenn wir heute die Verfassung ratifizieren, dann haben
wir in der EU die Demokratisierung durch Parlamentarisierung im hohen Maße erreicht. Ich erinnere an das,
worum es geht:
„Als wir vor sieben Jahren hier die Römischen Verträge ratifizierten, wussten wir, dass die parlamentarische Institution der zu schaffenden Gemeinschaften unAxel Schäfer ({1})
terentwickelt sein würde und dass auf dem Weg von den
nationalen Parlamenten zu den europäischen Institutionen parlamentarische Rechte verloren gehen würden.“
So Karl Mommer, Vizepräsident des Bundestages, bei
der Einbringung eines Gesetzentwurfes der SPD für die
Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1964.
Die Direktwahlakte wurde schließlich 1976 in der EG
beschlossen. Bundeskanzler damals: Helmut Schmidt,
SPD. Die Forderung nach „einer europäischen Föderation mit demokratischer Verfassung“ steht im Wahlprogramm von 1978. Spitzenkandidat: Willy Brandt. Der
europäische Konvent, der erst zur Grundrechte-Charta
und dann zum „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ führte, wurde von Gerhard Schröder als EU-Ratspräsident auf den Weg gebracht. So viel zum besonderen
Beitrag der deutschen Sozialdemokratie zum Gelingen des heutigen Tages.
({2})
Was heißt „Demokratisierung durch Parlamentarismus in Europa“ konkret? Das Europäische Parlament
entscheidet bei circa 95 Prozent aller Gesetze gleichberechtigt mit dem Rat. Nur zur Erinnerung: Bis 1999 hatte
bei allen strittigen Gesetzen der Ministerrat immer das
letzte Wort, heute haben wir gleiche Augenhöhe erreicht.
Das Europäische Parlament hat, entgegen vielen Äußerungen von Europaskeptikern und -gegnern, natürlich
auch das Initiativrecht. Lieber Kollege Müller, lesen Sie
in den Art. 330 und 332 nach.
({3})
Das Europäische Parlament wählt die Kommission und
hat schon vor der Investitur 2004 gezeigt, was das bedeutet. Die Mitgliedstaaten werden niemals mehr Kandidatinnen oder Kandidaten vorschlagen, bei denen die
Abgeordneten in Straßburg nur aufstehen und klatschen.
Alle künftigen Kommissare werden vor der Wahl einer
Anhörung unterzogen und dann beurteilt - eine Möglichkeit der Volksvertretung, von der wir in Deutschland
allerdings nur träumen können.
Die Parlamentarisierung Europas geht einher mit der
Europäisierung des Bundestages. Sie bedeutet andere
Verfahren und erfordert von uns allen eine andere Mentalität. Europa ist nicht mehr nur ein großes Haus mit
Büro und Telekommunikation. Europa, das sind wir,
Idee und Realität einer Gemeinschaft, die in unseren
Köpfen denkt und in unseren Herzen lebt. Deshalb müssen wir schneller und besser werden, wenn es um die Beteiligung an der europäischen Rechtsetzung geht, und
gründlicher, was die Umsetzung auf nationaler Ebene
anbelangt. Deshalb müssen wir die Subsidiaritätskontrolle verantwortungsbewusst handhaben. Das bedeutet
eben nicht, dass wir künftig möglichst viele EU-Initiativen strikt anhalten und konsequent einwenden, sondern
wir wollen europäisches Gemeinschaftsrecht strikt einhalten und konsequent anwenden. Wir müssen auch als
Bundestag in Brüssel stärker präsent sein.
Als Abgeordneter weise ich in diesem Zusammenhang selbstkritisch darauf hin, dass wir in Deutschland
noch von Elementen europäischer Demokratie lernen
können. Das Bürgerbegehren ist ein neues Instrument
auf EU-Ebene, das auf nationaler Ebene fehlt. Den
Ombudsmann gibt es in der Europäischen Union und in
zahlreichen Mitgliedstaaten; bei uns ist er hingegen
weitgehend unbekannt. Öffentliche Ausschusssitzungen, wie sie im Europäischen Parlament selbstverständlich sind, gehören im Bundestag leider und unverständlicherweise heute noch zur Ausnahme.
Es gibt also noch viel zu tun. Aber - das merke ich
nur deshalb kritisch an, weil ich selber früher Mitglied
des Europäischen Parlaments war - unsere Kolleginnen
und Kollegen in Brüssel und Straßburg müssen sich fragen, ob es auf Dauer zu verantworten ist, 40 Sitzungswochen im Jahr durchzuführen. Das entspricht nicht mehr
den heutigen Notwendigkeiten. Europaabgeordnete
müssen stärker hier vor Ort präsent sein.
({4})
Als Bundestagsfraktion betonen wir heute unsere europäische Identität, als Angehörige von europäischen
Parteifamilien können wir in EU-Angelegenheiten deshalb nicht mehr nationalstaatlich argumentieren. Lassen
Sie mich ein Beispiel anführen - an dieser Stelle ist die
CDU/CSU gefordert -: Der tschechische Präsident
Václav Klaus, Mitglied der christdemokratisch-konservativen Parteifamilie Europas und der ODS, beurteilt die
EU-Verfassung - ich zitiere wörtlich - als „leer und
schlecht“ und preist zugleich „die größtmögliche Erweiterung: Türkei, Marokko, Ukraine, Kasachstan - je
mehr, desto besser“.
Ich erwarte jetzt von der CDU/CSU, dass sie mit dieser Position in der Öffentlichkeit kritisch umgeht und
ihre heute von der Kollegin Dr. Merkel und von Ministerpräsident Stoiber dargelegte Position nicht nur in diesem Hause, sondern auch in ihrer eigenen Parteifamilie
deutlich macht.
({5})
Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an der Geschichte,
und zwar an Helmut Schmidt, dem früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler. Er hat auf dem Parteitag der
Labour Party 1977, als es in Großbritannien um die
Frage „Europa - ja oder nein?“ ging, eine begeisternde
und fulminante Rede gegen die Europaskeptiker und Europakritiker in der Labour Party gehalten. Das war mutig
und es war keine Einmischung in innere Angelegenheiten; es war vielmehr eine praktizierte - wenn auch
schwierige - sozialdemokratische „Familienpolitik“.
Diese Form von öffentlicher Rede und Gegenrede ist
wichtig, weil über die EU-Verfassung in Tschechien bekanntlich vom Volk abgestimmt wird. Bei uns ist das leider nicht der Fall. Viele in der SPD-Fraktion betrachten
dies als schwerwiegenden Fehler. Ich sage noch einmal,
an die Kollegin Dr. Merkel und Herrn Ministerpräsident
Stoiber gewandt: Es lag im vergangenen Oktober in Ihren Händen, die Initiative von SPD und Rot-Grün aufzugreifen,
({6})
um gemeinsam mit der FDP und uns zu einer Lösung zu
kommen, auch hier plebiszitäre Elemente in die Verfas16382
Axel Schäfer ({7})
sung aufzunehmen. Sie haben das nicht gewollt, weil Sie
intern zerstritten waren.
({8})
Den meisten - selbst den Gegnern von Referenden in
Deutschland - ist heute klar, wie wichtig es gewesen
wäre, eine breite Debatte zu führen. Wir hätten die deutsche Gretchenfrage beantworten müssen: Wie hältst du
es mit der Integration? Spanien war ein gutes Beispiel
für eine freiwillige, nicht bindende Abstimmung.
Gerhard Schröder hat sich dort erfolgreich für ein Ja eingesetzt, wie er es auch zurzeit in Frankreich tut. Dieser
deutsche Bundeskanzler agiert als Europäer. Dafür sollte
ihm der gesamte Bundestag ausdrücklich danken.
({9})
Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen
Mauern und die anderen Windräder. Wir wollen hier
Windräder bauen. Wir bauen an einem offenen, demokratischen, freien und solidarischen Europa. Nur Nationalisten bauen noch Mauern, und zwar in den Köpfen.
Die reale Mauer in Europa ist am 9. November 1989 gefallen. Wir wollen heute dazu beitragen, dass Europa
auch durch unsere Entscheidung in Deutschland in Vielfalt geeint wird.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der Debatte.
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, teile ich
mit, dass zwei Kollegen nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung um das Wort zu einer mündlichen Erklärung zu ih-
rem Abstimmungsverhalten gebeten haben. Das sind die
Kollegen Dr. Peter Gauweiler und Manfred Carstens, de-
nen ich anschließend das Wort erteile. Darüber hinaus
liegen etwa 80 persönliche Erklärungen zur Abstim-
mung vor, die zu Protokoll genommen werden.1)
Ich gebe nun das Wort dem Kollegen Dr. Peter
Gauweiler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Ich gebe gemäß § 31 der Geschäfts-
ordnung des Bundestags folgende Erklärung zu meinem
Abstimmungsverhalten ab. Mit dem Gesetzentwurf soll
ein Verfassungsvertrag in Kraft gesetzt werden, der in
Art. I-6 folgende Regelung enthält:
Die Verfassung und das von den Organen der Union
in Ausübung der der Union übertragenen Zustän-
digkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem
Recht der Mitgliedstaaten.
Damit wird erstmalig - und erstmalig zu einer entspre-
chenden 40-jährigen Rechtsprechung des Europäischen
1) Anlagen 2 bis 5
Gerichtshofs, der die Bundesrepublik Deutschland bis
zum heutigen Tage immer widersprochen hat - mit Zustimmung des Deutschen Bundestages kraft Zustimmungsgesetzes nicht nur der Vorrang des neuen Verfassungsvertrags als solcher, sondern ausdrücklich und
uneingeschränkt auch der Vorrang des von den EU-Organen erlassenen Sekundär- und Tertiärrechts vor allem
deutschen Recht einschließlich des Grundgesetzes mitsamt den Grundrechten postuliert. Es bestehen erhebliche
Zweifel, ob die Mitglieder des Deutschen Bundestags berechtigt sind, das Grundgesetz wie die Landesverfassungen zur Disposition der EU-Organe zu stellen.
Namhafte Verfassungsrechtler haben in den letzten
Wochen eingehend darauf hingewiesen, dass die mit der
Verabschiedung des Gesetzes vom Bundestag ausgesprochene Zustimmung zur europäischen Verfassung nicht
mehr als normale Grundgesetzänderung bewertet werden
darf, sondern als Ersetzung und Verdrängung des Grundgesetzes durch ein anders strukturiertes und verfasstes
System angesehen werden muss. Dafür gibt das Grundgesetz den Bundestagsabgeordneten keine Handreiche.
Vielmehr bestimmt das Grundgesetz, dass Änderungen
des Grundgesetzes, die seine Basis auch nur „berühren“,
unzulässig sind. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gibt
dem Bundestag nicht das Recht, sich im Namen der und
unter Berufung auf die grundgesetzliche Legitimation
über das Grundgesetz hinwegzusetzen. Das Grundgesetz
hat die Verfahrensweise für den Fall, dass eine neue, dem
Grundgesetz übergeordnete Verfassung in Kraft treten
soll, in Art. 146 ausdrücklich und klar geregelt. Dort
heißt es:
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte
deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem
Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von
dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Damit besteht heute die begründete Gefahr, dass
durch das soeben zur Abstimmung vorgelegte Gesetz
das demokratische Fundamentalprinzip verletzt wird,
dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Ein derartig
weit reichendes Verfassungsgesetz kann nur auf einem
Referendum des deutschen Volkes über ein neues Verfassungsgesetz beruhen. Dass der Bundestag, der unserer
Bevölkerung eine Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag ausdrücklich verweigert, mit seiner heutigen Abstimmung auch noch auf unser Nachbarland
Frankreich Einfluss nehmen will, wo in wenigen Tagen
eine Volksabstimmung stattfindet, wirkt vor diesem Hintergrund besonders unangebracht.
Es gibt eine Reihe vielfältiger inhaltlicher Einwendungen gegen den Verfassungsvertrag, die mich an der
Zustimmung hindern und die ich im Einzelnen schriftlich zu Protokoll gebe. Diese Einwände gegen das Zustimmungsgesetz machen eine Verfassungsbeschwerde
und eine Organklage unumgänglich, um dem Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit zu geben, nach Maßgabe seines Beschlusses vom 28. April 2005 die Verfassungsmäßigkeit dieses Zustimmungsgesetzes und der
mit der Verabschiedung verbundenen Vorgänge in einem
Hauptsacheverfahren zu überprüfen. Dies wird geschehen.
Ich erteile dem Kollegen Manfred Carstens das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meiner Fraktion gegenüber habe ich bereits
dargelegt, was ich jetzt noch vor dem Deutschen Bundestag sagen möchte:
({0})
weswegen ich mich nicht imstande sehe, dem Vertrag
über eine Verfassung für Europa zuzustimmen. Ich
möchte zum Ausdruck bringen, dass dieses Vertragswerk nach meiner Einschätzung eine Verbesserung des
Vertrages von Nizza, also ein Fortschritt, ist. Daher
möchte ich mich bei denen bedanken, die über diesen
Vertrag verhandelt haben.
Dass ich gegen diesen Verfassungsvertrag stimme,
liegt nicht daran, dass ich irgendetwas gegen Europa
habe. Mir liegt sehr an einer gedeihlichen Weiterentwicklung Europas. Es gibt aber einen Aspekt, der für
mich so bedeutsam ist, dass ich nicht zustimmen kann.
Obwohl man sich sehr bemüht hat, hat man nach all den
Beratungen in dem Verfassungsvertrag keinen Platz für
Gott und die Verantwortung vor ihm gefunden. Damit
meine ich Gott den Dreifaltigen, den Vater, den Sohn
und den Heiligen Geist.
Man könnte sagen: Auch in vorherigen europäischen
Verträgen war die Bezeichnung „Gott“ nicht enthalten,
also ist es nicht schlimm, wenn sie auch in diesen Vertrag nicht aufgenommen ist. Wer das sagt, der hat nicht
die Bedeutung dieses Verfassungsvertrages vor Augen:
Es ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass man
sich durch einen Vertrag eine Verfassung gibt. Diese
Verfassung ist von besonderer Bedeutung.
Hinzu kommt, dass der Begriff „Gott“ nicht versehentlich nicht aufgenommen wurde; man hat IHN also
nicht vergessen. Vielmehr hat es erhebliche Anstrengungen gegeben, nicht zuletzt seitens der CDU/CSU-Fraktion, hier im Deutschen Bundestag und auf europäischer
Ebene, das nachträglich zu heilen. Diejenigen aber, die
sich dagegengestellt haben, Gott in das Verfassungsgesetz aufzunehmen, haben sich durchgesetzt, sodass Gott
- aus welchen Gründen auch immer - wissentlich und
gewollt nicht in die Verfassung gekommen ist. Aufgrund
dieses Tatbestandes kann ich diesem Verfassungsgesetz
nicht zustimmen.
Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass ich zuinnerst davon überzeugt bin, dass das große Werk, Europa
in den nächsten Jahrzehnten - und hoffentlich länger in Frieden und Freiheit, in gegenseitiger Rücksichtnahme und partnerschaftlich zusammenzuführen, ohne
Gottes Hilfe nicht zu vollbringen ist. Da das, was in diesem Vertrag fehlt, derartig nachhaltig ist, kann ich meine
Zustimmung einfach nicht geben.
Ich wünsche diesem Europa, zu dem wir alle gehören,
eine gute Zukunft, obwohl ich hier jetzt Nein sagen
muss.
Danke schön.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zur Abstimmung über den von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom
29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa.
Hierbei handelt es sich um die Drucksachen 15/4900
und 15/4939. Der Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5491, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich weise darauf hin, dass nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3
in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur
Annahme dieses Gesetzentwurfs bei der zweiten Beratung und der Schlussabstimmung die Zustimmung von
zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt
mindestens 401 Stimmen, erforderlich ist.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Haben die
Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen
Plätze eingenommen? - Das scheint der Fall zu sein.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich darf während dieser namentlichen Abstimmung
darauf hinweisen, dass unmittelbar im Anschluss daran
weitere, mit diesem Verfassungsvertrag verbundene Entscheidungen zu Begleitgesetzen und zu einem Entschließungsantrag anstehen. Ich bitte um entsprechende Präsenz.
Gibt es noch einen Kollegen oder eine Kollegin, der
oder die die Stimme nicht abgeben konnte? - Das
scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung.
Ich unterbreche die Sitzung bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung. Unmittelbar
nach Bekanntgabe des Ergebnisses führen wir die weiteren Abstimmungen zu diesem Tagesordnungspunkt
durch.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem
Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für
Europa bekannt. Abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 569,
({0})
mit Nein haben gestimmt 23; es gibt zwei Enthaltungen.
Damit ist der Gesetzentwurf mit der erforderlichen
Mehrheit angenommen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 594;
davon
ja: 569
nein: 23
enthalten: 2
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({1})
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({2})
Klaus Barthel ({3})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({4})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({5})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Elvira Drobinski-Weiss
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Martina Eickhoff
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Rainer Fornahl
Hans Forster
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({8})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({9})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Iris Hoffmann ({12})
Frank Hofmann ({13})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Heinz Köhler ({14})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({15})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({16})
Christian Müller ({17})
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({18})
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Rene Röspel
Karin Roth ({19})
Michael Roth ({20})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({21})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({22})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
({23})
Ulla Schmidt ({24})
Silvia Schmidt ({25})
Dagmar Schmidt ({26})
Wilhelm Schmidt ({27})
Heinz Schmitt ({28})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Brigitte Schulte ({29})
Reinhard Schultz
({30})
Swen Schulz ({31})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({32})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({33})
Gunter Weißgerber
({34})
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({35})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({36})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({37})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({38})
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Carl-Eduard von Bismarck
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
({39})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({40})
Cajus Julius Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Roland Dieckmann
Vera Dominke
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({41})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({42})
Dirk Fischer ({43})
Axel E. Fischer ({44})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Siegfried Kauder ({45})
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({46})
Norbert Königshofen
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({47})
Dr. Karl A. Lamers
({48})
Helmut Lamp
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({49})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({50})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({51})
Stephan Mayer ({52})
Dr. Conny Mayer ({53})
Dr. Martin Mayer
({54})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({55})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({56})
Bernward Müller ({57})
Bernd Neumann ({58})
Michaela Noll
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({59})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({60})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({61})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Angela Schmid
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({62})
Andreas Schmidt ({63})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({64})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({65})
Gerald Weiß ({66})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({67})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({68})
Volker Beck ({69})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({70})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Jutta Krüger-Jacob
Renate Künast
Undine Kurth ({71})
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({72})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({73})
Krista Sager
Christine Scheel
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({74})
Werner Schulz ({75})
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({76})
FDP
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({77})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({78})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({79})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Günther Friedrich Nolting
({80})
Eberhard Otto ({81})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Nein
CDU/CSU
Manfred Carstens ({82})
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Albrecht Feibel
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({83})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Rudolf Kraus
Barbara Lanzinger
Doris Meyer ({84})
Franz Obermeier
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Johannes Singhammer
Fraktionslose Abgeordnete
Dr. Gesine Lötzsch
Enthalten
SPD
Dr. Hermann Scheer
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns allen ist bewusst, dass dies keine Routineentscheidung gewesen ist.
({85})
Mit dieser überwältigenden Zustimmung zum europäischen Verfassungsvertrag setzt der Deutsche Bundestag
die Serie seiner eindrucksvollen Voten zum europäischen Integrationsprozess und zur Rolle Deutschlands in
Europa fort.
({86})
Ich will für die Besucher dieser Plenarsitzung, aber auch
für die Fernsehzuschauer und Rundfunkzuhörer darauf
hinweisen, dass mit dieser Entscheidung ein monatelanger Beratungs- und Abwägungsprozess zum Abschluss
gebracht worden ist, dem Dutzende von Sitzungen in
Ausschüssen des Deutschen Bundestages, in Arbeitsgruppen, in den Fraktionen und in Fachkonferenzen und
eben nicht nur im Plenum des Deutschen Bundestages
vorausgegangen sind.
({87})
Wir kommen nun zu den weiteren Abstimmungen in
Verbindung mit Tagesordnungspunkt 4 b. Abweichend
von der in der Tagesordnung vorgesehenen Reihenfolge kommen wir zunächst zur Abstimmung über den
Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4716 zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte
des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5492,
diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf über die Ausweitung und
Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union auf
Drucksache 15/4925. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5492, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
({88})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Der Gesetzentwurf ist einstimmig vom Deutschen Bundestag angenommen.
({89})
Wir stimmen nun über den interfraktionellen Entschließungsantrag auf Drucksache 15/5493 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch dies ist
einstimmig so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union auf Drucksache 15/5492 fort. Unter
Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4936 zur
Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der
Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer
Gesetzgebung durch die getroffenen Entscheidungen für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich
der Stimme? - Diese Empfehlung ist einstimmig so angenommen.
Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4937 mit dem Titel
„Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei
der Rechtsetzung der Europäischen Union nach InKraft-Treten des Verfassungsvertrags“ ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Damit sind wir am Schluss dieses Tagesordnungspunktes. Ich bedanke mich bei allen für die disziplinierte
Mitwirkung.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ute
Granold, Siegfried Kauder ({90}), Dr. Jürgen Gehb, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 232 a, 233 c StGB
({91})
- Drucksache 15/5326 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({92})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Ute Granold für die CDU/CSUFraktion.
({93})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben bereits im letzten Jahr das Thema
Menschenhandelsdelikte im Deutschen Bundestag beraten und darüber abgestimmt. Dabei haben wir im Wesentlichen den Rahmenbeschluss der EU vom Juli 2002
zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt. In
den Beratungen konnte die Union wesentliche Verbesserungen gegenüber dem Entwurf der Koalition erreichen.
Wir hatten schon damals einen Antrag eingebracht,
die Freier von Zwangsprostituierten unter Strafe zu stellen. Mit Rücksicht auf die bereits abgelaufene Umsetzungsfrist und im Hinblick auf die Zusicherung der Bundesregierung, unseren Antrag ergebnisoffen zu beraten,
waren wir einverstanden, unseren Antrag abzukoppeln.
Heute ist unser Gesetzentwurf, der noch um die Überwachung der Telekommunikation erweitert wurde - hier sehen wir weiteren Handlungsbedarf -, in der Beratung.
Die jüngst durchgeführte Sachverständigenanhörung
zu den Menschenhandelsdelikten hat ergeben, dass der
Menschenhandel typischerweise konspirativ verübt
wird. Deshalb kommt der Telefonüberwachung nicht nur
bei den schwersten Fällen des Menschenhandels höchster Stellenwert zu.
Menschenhandel - das heißt im Kern: Frauen- und
Mädchenhandel - war und ist für die Union ein Thema,
das ständig auf der Agenda ist. Ich kann beim besten
Willen die Aufgeregtheit von Bündnis 90/Die Grünen
nicht verstehen.
({0})
Offenbar geht es Ihnen mehr um die Bekämpfung der
Union als um die Rechte der geschändeten Frauen.
Dank des Visa-Untersuchungsausschusses steht der
Menschenhandel im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Da
besteht Betroffenheit. Es geht um die Verletzung der
Menschenrechte und um die Verletzung der Menschenwürde in übelster Form. Die Union fordert die Bekämpfung des Menschenhandels - konsequent mit allen Mitteln und in allen Bereichen. Dazu gehören nicht nur die
jüngst beschlossene Verschärfung der Gesetze gegen
Menschenhändler und die notwendige Verbesserung des
Opferschutzes, sondern auch die Bestrafung der Freier
von Zwangsprostituierten. Sie sind die wahren Ausbeuter. Erst die Kunden schaffen den Markt. Ohne Nachfrage kein Angebot und damit auch kein Leid der
Frauen! Die Frauen-Union hat bereits auf ihrem Bundesdelegiertentag 2003 ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Menschenhandels beschlossen und dabei ebenfalls gefordert, dass die Freier von Zwangsprostituierten
bestraft werden.
({1})
Ich war im Mai letzten Jahres mit meinem Kollegen
Siegfried Kauder - er wird unseren Gesetzentwurf
gleich im Detail erläutern - in Tschechien im Grenzgebiet zu Bayern. Wir haben die Situation in Domazlice,
einem kleinen Landkreis mit dem größten Bordell
Europas - 40 Bordelle mit 800 Prostituierten -, angesehen und Gespräche mit der dortigen Polizei und auch mit
Hilfsorganisationen geführt. Frauen und Mädchen vornehmlich aus Tschechien, der Ukraine, Rumänien, der
Slowakei und Moldawien werden hier gesammelt, eingearbeitet und dann quer durch Europa verkauft.
Deutschland ist dabei sowohl Transit- als auch Zielland.
Das ist Sklavenhandel im 21. Jahrhundert - mitten in
Europa, mitten unter uns.
({2})
Nach Schätzungen der UN werden allein in Europa
Jahr für Jahr 500 000 Frauen und Mädchen verschleppt
und zur Prostitution gezwungen. Damit werden etwa
10 Milliarden Euro umgesetzt. Weltweit sind es 60 Milliarden Euro und etwa 4 Millionen Frauen, die als Ware
gehandelt werden. Frauenhandel ist heute das lukrativste, das expansivste und das risikoärmste Geschäft der
organisierten Kriminalität und hat längst den Waffenund Drogenhandel abgelöst.
Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Berlin ist
längst - so der Bundesaußenminister im Oktober 2001
auf der OSZE-Konferenz „Europa gegen den Menschenhandel“ - zur Drehscheibe des internationalen Menschenhandels geworden. Es gibt unterschiedliche Zahlen. Als gesichert gilt, dass in Deutschland etwa
250 000 Prostituierte leben und arbeiten. 80 Prozent davon sind Migrantinnen. Jede zweite davon ist in der
Zwangsprostitution. Das heißt, bei uns sind etwa
100 000 Frauen in der Zwangsprostitution und dabei ist
jede Frau eine Frau zu viel. Es wird weiter davon ausgegangen, dass von etwa 34 Millionen männlichen Volljährigen in Deutschland täglich bis zu 1,2 Millionen die
Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen.
Ich habe dieser Tage die Diplomarbeit einer Studentin
der Sozialwissenschaften der FH Potsdam erhalten. Sie
ist vom März 2005 und befasst sich mit der Prostitution,
einer Bestandsaufnahme und einer Handlungsaufforderung - auch an die Politik. Ich habe die Arbeit sehr interessiert, aber auch erschüttert gelesen. Sie endet mit den
Worten:
Es ist, wenn wir Glück haben, fünf vor zwölf.
Das sind klare Worte.
Wir alle sind aufgefordert, den Opfern von Menschenhandel, den Zwangsprostituierten mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Dies betrifft im
Übrigen Frauen aus allen Bevölkerungsschichten mit
den unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen.
Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt. Das heißt,
nur durch polizeiliche Razzien können Zwangsprostituierte überhaupt gefunden und befreit werden. Ich erinnere an die jüngste Großrazzia im Raum Hannover mit
230 Einsatzkräften und 31 Festnahmen. Dabei konnten
15 Zwangsprostituierte aufgegriffen werden.
Frau Schewe-Gerigk, auch wenn Sie es immer wieder
heftigst bestreiten: Das Prostitutionsgesetz aus dem
Jahre 2002 hat dazu geführt, dass kaum noch erfolgreiche Razzien
({3})
durchgeführt werden können. Ihr Verweis auf die polizeiliche Generalklausel in den Ländern hilft da wenig.
Geldnot und mancherorts auch der fehlende politische
Wille spielen sicherlich eine Rolle, aber Hauptgrund ist
das Prostitutionsgesetz.
({4})
Mit dem Prostitutionsgesetz wurde die Prostitution,
für die in den Medien stark geworben wird, hoffähig gemacht. Sie ist eine legale Dienstleistung wie jede andere
geworden und führt bei konsequenter Anwendung von
Hartz IV sogar so weit, dass Leistungskürzungen bei
Verweigerung der Arbeitsaufnahme entstehen können.
({5})
Den Frauen wurde damit nicht geholfen, ganz im Gegenteil: Kaum eine hat sich zwischenzeitlich sozialversichern lassen. Die Förderung der Prostitution ist nicht
mehr strafbar. Die Polizei spricht hier sogar von einem
Zuhälterschutzgesetz.
({6})
Sie wissen, dass sich der Bundesrat derzeit auf Initiative Bayerns ebenfalls mit der Bestrafung der Freier bei
Zwangsprostitution befasst und darüber hinaus das Prostitutionsgesetz auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir
werden über dieses unsägliche Gesetz noch zu reden haben.
({7})
Ich empfehle im Übrigen die Lektüre der eingangs erwähnten Diplomarbeit. Prostitution ist ein Verstoß gegen
die Menschenwürde. Sie ist keine Dienstleistung wie
jede andere. Das zu meinen oder zu verbreiten ist meines
Erachtens zynisch. Die Diplomandin war - ich zitiere „über die Abgründe des Themas fassungslos“. In ihrem
Anschreiben an mich heißt es unter anderem:
Die Recherche hat mich in meinen politischen
Grundfesten erschüttert - denn bis dato war ich
treue Grünen- und PDS-Wählerin.
Ich erwähne an dieser Stelle auch Alice Schwarzer, sicherlich keine Sympathisantin der Union. Sie äußerte
sich gleich lautend. Ich könnte die Reihe beliebig fortsetzen.
Viele Zwangsprostituierte - zu 80 Prozent Migrantinnen, wie eingangs erwähnt - sind in den vergangenen
Jahren nicht mehr über die grüne Grenze, sondern mittels Visa vermeintlich legal nach Deutschland gekommen.
({8})
Die „Lageberichte Menschenhandel“ des BKA von 1999
bis 2003 bestätigen dies. Für die Schlepper bestand
keine Gefahr mehr, aufzufliegen; der Preis für die
Schleusung konnte erhöht werden und die Gewinne wurUte Granold
den noch satter. Der Handel blühte und blüht, solange
ihm nicht Einhalt geboten wird.
Der EU-Justizkommissar Frattini ist bekanntlich mit
der Überprüfung der Visapraxis befasst; denn davon ist
der gesamte Schengen-Raum betroffen. Nach einer ersten Bewertung liegt ein Verstoß Deutschlands gegen EURecht vor.
({9})
Da Menschenhandel ein Delikt ist, das keine Grenzen
kennt, und die mafiosen Verbrecher weltweit agieren,
muss nicht nur auf europäischer, sondern auch auf internationaler Ebene eng zusammengearbeitet werden. Dazu
gehört auch, dass die entsprechenden Rechtsvorschriften
zeitnah umgesetzt werden. Hier bestehen in Deutschland
erhebliche Defizite: Der EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels wurde erst nach Ablauf
der Umsetzungsfrist verabschiedet. Die Richtlinie zur
Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise ist trotz Fristablaufs bis heute nicht umgesetzt. Die
UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie die Zusatzprotokolle gegen
Menschenhandel und Schleusungen von Migranten aus
dem Jahr 2000 sind ebenfalls noch nicht umgesetzt.
({10})
Wenn die Bekämpfung des Menschenhandels und der
Zwangsprostitution ganz oben auf der Agenda steht,
dann ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass die
Rechtsetzung zeitnah erfolgt.
Das gilt auch in diesem Fall. Die strafrechtliche Bekämpfung der Zwangsprostitution kann erst dann ihre
volle Wirkung entfalten, wenn sie nicht länger allein auf
Zuhälter und Menschenhändler ausgerichtet ist. Diese
Drahtzieher haben erst durch die Freier die Basis für
ihre Verbrechen, die die Notlage der Frauen schamlos
ausnutzen. Das sieht nicht nur die Union so. Auch die
Kirchen und die Opferschutzorganisationen sehen das
Erfordernis, die Freier von Zwangsprostituierten unter
Strafe zu stellen. Die Union hat erst vor einigen Tagen
ein Symposium zur Situation der Zwangsprostituierten
durchgeführt, auf dem insbesondere die Freierbestrafung
diskutiert wurde.
Der von uns eingeschlagene Weg hat sich als der richtige erwiesen. Es besteht eine Gesetzeslücke. Dies wird
im Übrigen von namhaften Professoren bestätigt; Professor Renzikowski war Sachverständiger bei der Anhörung zur Verschärfung der Vorschriften zur Bekämpfung
des Menschenhandels. Die Versuche gerade vom Bündnis 90/Die Grünen, die Unionsinitiative mit dem Hinweis auf bestehende Gesetze zu Fall zu bringen, sind untauglich. Ich erwähne hier die unterlassene Hilfeleistung,
die Vergewaltigung oder die Nichtanzeige einer geplanten Straftat; all diese Vorschriften sind nicht einschlägig,
um die Verhinderung von Zwangsprostitution und die
Freierbestrafung auf den Weg zu bringen.
({11})
Meine Damen und Herren Kollegen der Koalitionsfraktionen, Ihre Kollegin Helmhold hat im November 2004 im
Niedersächsischen Landtag gesagt: Auch für die Freierbestrafung wird in Kürze eine Regelung gefunden. Sie
selbst haben in den vergangenen Wochen in verschiedenen Presseerklärungen geäußert: Über die Strafwürdigkeit eines solchen Verhaltens besteht für uns kein Zweifel. Geben Sie sich einen Ruck! Zwar steht auf dem
Antrag „CDU/CSU“, aber dennoch ist er richtig und
wichtig. Die geschändeten Frauen warten auf ein Zeichen.
Dr. Lea Ackermann hat in ihrer 20-jährigen Tätigkeit
bei Solwodi mit vielen Zwangsprostituierten gesprochen, sie betreut und bei Prozessen begleitet. Sie hat sie
nach einer möglichen Bestrafung ihrer Freier befragt.
Die Frauen haben ausnahmslos gesagt, dass sie sich eine
Bestrafung dieser Freier wünschen. Recht haben sie.
({12})
Natürlich muss mehr getan werden, als die Freier zu
bestrafen; das allein reicht nicht. Der Opferschutz muss
ausgebaut werden. Beim Bundesfrauenministerium wurde
1997 die Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet, die
gute Arbeit geleistet hat und weiter leisten wird. Mit
dem Zuwanderungsgesetz wurden Möglichkeiten geschaffen, den Aufenthaltsstatus der leidgeprüften Frauen
zu verbessern. Es gibt eine EU-Richtlinie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatenangehörige,
die nur umgesetzt werden muss. Die Opfer und auch die
Opferhilfsorganisationen brauchen dringend finanzielle
Unterstützung. Die Profite aus den Straftaten müssen abgeschöpft, die Telefonüberwachung muss ausgeweitet
und die internationale Zusammenarbeit muss intensiviert
werden.
Ich appelliere abschließend an alle Fraktionen in diesem Hause, an die Opfer von Zwangsprostitution zu denken und die anstehenden Diskussionen nicht mit ideologischen Scheuklappen zu führen. Dieses Thema ist zu
wichtig und das Leid der vielen Frauen ist zu groß. Es
gibt in Deutschland über 100 000 Frauen, die wie Tiere
gehalten werden, die keine Freiheit und keine Menschenwürde mehr haben. Wir würden uns freuen, wenn
den Frauen, die schon hier sind, geholfen wird und wenn
durch die Gesetzgebung erreicht wird, dass keine Frauen
hinzukommen, sodass ihnen dieses Schicksal erspart
bleibt.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Simm von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Granold, wenn man Ihnen zuhört, hat man das Gefühl, dass Sie hier zwar über vieles, nicht aber über den
Anlass der heutigen Aussprache, den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf, geredet haben.
({0})
Ich allerdings werde mich bemühen, das, soweit es in
der mir zur Verfügung stehenden Zeit möglich ist, zu
tun. Allerdings kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren - vielmehr wird er durch einiges von dem, was
Sie gesagt haben, noch bestätigt -, dass es der Union bei
diesem Thema eher darum geht, den unbewiesenen Vorwurf zu untermauern, dass durch die so genannte Visaaffäre massenhaft Frauen in die Zwangsprostitution getrieben worden seien, statt darum, eine angemessene
gesetzliche Regelung zu finden.
({1})
- Ich habe mir die Mühe gemacht, im Protokoll des Bundesrates die Rede von Frau Merk nachzulesen, die auch
in diese Richtung ging.
Ich selbst komme aus Ostbayern und kenne die Probleme mit dem Sextourismus, die es dort seit der Grenzöffnung gibt. Unsere Polizei schätzt, dass täglich etwa
2 000 Freier die Grenze überqueren, um in Tschechien
die Dienste von Prostituierten zu nutzen. Ständig gibt es
auch entsprechende Veröffentlichungen in regionalen
Zeitungen. Man kann davon ausgehen, dass die Freier
aufgrund dieser Veröffentlichungen wissen, dass unter
diesen Prostituierten auch eine ganze Reihe von Frauen
sind, die Opfer eines Menschenhandels geworden sind
und Prostitution nur unter Zwang ausüben.
Auch können wir davon ausgehen - hier gebe ich Ihnen Recht -, dass es das Angebot der Prostitution - jedenfalls das der Zwangsprostitution - ohne die Nachfrage
der Freier nicht in dem Ausmaß gäbe, wie es gegenwärtig
der Fall ist. Ich persönlich unterstütze - auch aufgrund
meiner Antipathie gegen diese zum Teil biederen Bürger, die dort regelmäßig hinfahren - Bestrebungen, nach
einem Weg zu suchen, wie wir Freier - zumindest diejenigen, die erkennbar nach Zwangsprostituierten suchen - strafrechtlich belangen können.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie Ihren Antrag im Rahmen der Beratungen über die neuen
Menschenhandelstatbestände erst sehr spät eingebracht haben. Dabei waren wir übereingekommen, dass
es doch nicht ganz so einfach ist, diesen Straftatbestand
praktikabel auszugestalten, dass wir dieses Vorhaben daher zurückstellen und uns um gemeinsame Lösungen bemühen werden.
Nun sind Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgeprescht.
Er ist so gestrickt, dass ich nicht das ernsthafte Bemühen
erkennen kann, zu einer Lösung dieses Problems zu
kommen.
({2})
Ich kann das nicht in allen Details begründen. Wir werden darüber im Ausschuss beraten und sicherlich auch
Anhörungen dazu durchführen. Aber sehen Sie sich allein die Konstruktion des Grundtatbestandes in § 232 a
Abs. 1 des Strafgesetzbuches an: Die Vorsatztat setzt
eine Vortat nach § 232 des Strafgesetzbuches voraus.
Die Frau muss also Opfer eines Menschenhandels geworden sein. Das Gericht muss das als erwiesene Vortat
feststellen. Inwieweit muss das Gericht dann eigentlich
die Vortat erforschen? Die Vortat muss vom Vorsatz des
Täters umfasst werden. Aufgrund meiner Strafrechtspraxis beurteile ich diese Regelung als in der Praxis nicht
handhabbar. Sie wird zu keinen Verurteilungen führen.
({3})
Sie haben das Problem auch erkannt - wir hatten ja
im Vorfeld darüber geredet - und haben in einem Fahrlässigkeitstatbestand Ausflucht gesucht, wonach ein
Täter auch strafbar ist, wenn er sexuelle Beziehungen zu
einem solchen Opfer eines Menschenhandels aufnimmt
und leichtfertig die Lage des Opfers nicht erkennt. Ich
sage Ihnen aus meiner Erfahrung heraus: Leichtfertigkeit
ist im Strafrecht mitnichten einfacher nachzuweisen als
einen Vorsatz oder gar einen bedingten Vorsatz. Leichtfertigkeit ist ein gesteigertes Maß an Sorgfaltspflichtverletzung, das Außer-Acht-Lassen all dessen, was man jemandem im Auge zu haben und bei einem bestimmten
Vorgang zu beachten zumuten kann. Sie werden - das
sage ich Ihnen voraus - auch damit zu keinen Verurteilungen kommen, machen aber gerade für die Freier ein
breites Feld von Ausflüchten auf. Möglicherweise werden geschickte Verteidiger Gutachten beantragen, um
den Beweis zu führen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Vorbildung nicht intelligent genug war zu erkennen,
in welcher Situation er sich befindet. In meinen Augen
ist das völlig untauglich.
Der Bundesrat hat diesen Teil Ihrer Strafvorschrift,
die insoweit identisch ist mit dem Gesetzentwurf von
Bayern im Bundesrat, in seinen Beratungen zu Recht gestrichen. Aber Sie sind unbeeindruckt; es geht Ihnen in
Wahrheit wohl nicht um eine sachgerechte Lösung.
Denn unverdrossen haben Sie das hier trotzdem so eingebracht und halten es erkennbar aufrecht.
Mir ist noch einiges aufgefallen, auf das Sie hinzuweisen ich der Boshaftigkeit halber nicht unterdrücken
kann, weil es für mich ein Hinweis darauf ist, dass Sie
Ihren Gesetzentwurf nicht mit letzter Konsequenz zu
Ende gedacht haben, dass Sie insbesondere die Konsequenzen aus diesem Fahrlässigkeitstatbestand nicht bedacht haben. Das hat nun zur Folge, dass plötzlich in § 5,
in dem die Auslandstaten aufgelistet sind - Taten, die
nach unserem Recht bestraft werden können, auch wenn
sie im Ausland begangen worden sind -, ein Fahrlässigkeitstatbestand auftaucht, nämlich mit § 232 a Abs. 2.
Ferner ist nach Ihrer Konstruktion künftig eine Fahrlässigkeitstat mit einer Kronzeugenregelung bedacht und
auch eine Telekommunikationsüberwachung kann wegen einer Fahrlässigkeitstat anordnet werden. Ich bitte,
noch einmal zu überlegen, ob Sie da nicht ein Stück weit
über das hinausgeschossen sind, was - unter Juristen jedenfalls - diskutabel ist. Denn alle diese Dinge - Auslandsstrafbarkeit, Kronzeugenregelung, Telekommunikationsüberwachung - sehen wir in unserem Strafgesetz
bisher nur bei schweren Taten, bei Vorsatztaten und auch
dabei nur bei solchen mit einigem Gewicht vor. Sie sehen das alles jetzt für eine Fahrlässigkeitstat vor, die Sie
im Höchstmaß mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedrohen
- das heißt im Regelfall: Geldstrafe - und die Sie damit
selber am untersten Rand der Strafbarkeit überhaupt angesiedelt haben. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorhabens
bitte ich noch einmal zu bedenken.
({4})
Wir haben uns dem Thema seriös genähert: Wir haben
eine Expertenanhörung durchgeführt. Wir sind durch die
Expertenanhörung noch nicht so ganz schlau geworden;
da gibt es noch eine ganze Reihe Fragen zu beantworten.
Wir werden aber weiter an dem Thema bleiben und uns
um eine angemessene Lösung bemühen.
({5})
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Jörg van Essen von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon mehrfach daran erinnert worden: Wir hatten bei
der gemeinsamen Verabschiedung der verschärften Bestimmungen zum Menschenhandel verabredet, das
Thema der Bestrafung von Freiern anzugehen. Wir haben heute die erste Lesung. Erste Lesung bedeutet, dass
man einen Vorschlag vorläufig bewertet und dass man
deutlich macht, wo man Fragezeichen sieht und wie die
eigene Position am Beginn der Beratungen im Plenum
ist.
Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich auf
zwei Gesichtspunkte hinweisen, die mir außerordentlich
wichtig sind:
Die erste Bemerkung. Viel bedeutender noch als mögliche strafrechtliche Änderungen ist für mich, dass wir
ein allgemeines gesellschaftliches Klima schaffen,
durch das wir deutlich machen, dass wir Zwangsprostitution nicht akzeptieren.
({0})
Ich will in diesem Zusammenhang nicht verschweigen,
dass es mich ganz außerordentlich ärgert, dass uns eine
prominente Person, die dadurch aufgefallen ist, dass sie
auf entsprechende Anzeigen sexuelle Dienstleistungen
in Anspruch genommen hat, nach kürzester Zeit schon
wieder auf dem Bildschirm begegnet, dass es keinen
Protest dagegen gibt
({1})
und dass es ganz offensichtlich als selbstverständlich
hingenommen wird, dass jemand, der sich so verhalten
hat, wieder durch Fernsehsendungen führen kann. Ich
halte das für nicht erträglich.
({2})
Die zweite Bemerkung. Zu den Dingen, die wir in der
letzten Zeit feststellen mussten und durch die die Situation von Zwangsprostituierten nach meiner Meinung zynisch aufgegriffen wurde, gehörten auch die Bemerkungen der nordrhein-westfälischen Ministerin Bärbel
Höhn, die aus ihrer Sicht deutlich gemacht hat, dass
Zwangsprostituierte mit Visum besser dastehen als ohne.
Auch das bagatellisiert das Unrecht, das es in diesem
Bereich gibt. Auch das halte ich für nicht hinnehmbar.
({3})
Wir haben uns verabredet, dass wir die Probleme
sorgfältig prüfen werden. Dass wir sie sorgfältig prüfen
müssen, haben insbesondere die Staatsanwälte bei den
bisherigen Beratungen deutlich gemacht. Die Staatsanwälte kennen die Situation, die Frau Kollegin Granold
geschildert hat und die auch Frau Simm in ihrem Beitrag
aufgezeigt hat. Sie haben uns deutlich gemacht, wie
schwierig es ist, in diesem Bereich zu ermitteln. Ich
denke, dass wir dies berücksichtigen müssen. Es hilft
nicht, dass wir hier im Bundestag eine Bestimmung verabschieden, die hinterher in der Praxis nicht wirklich
tauglich ist.
({4})
Eine praxistaugliche Bestimmung ist für mich ein ganz
wichtiges Ziel, das wir erreichen müssen.
Auch bezogen auf einen zweiten Punkt möchte ich
die Position der Freien Demokraten deutlich machen.
Frau Granold, Sie haben sich sehr kritisch zum Prostitutionsgesetz geäußert. Wir halten es für richtig, dass wir
dieses Gesetz verabschiedet haben.
({5})
Wir bleiben dabei. Es wird für uns kein Zurück geben.
Auch das ist in diesem Zusammenhang eine wichtige
Markierung.
Bei Ihrem Gesetzentwurf, den Sie heute vorstellen,
gibt es sehr viele rechtliche Fragezeichen. Frau Simm
hat ein Thema angesprochen, das mir persönlich sehr
wichtig ist. Sie wissen, dass ich mich den Telefonüberwachungen, deren Zahl immer mehr zunimmt, widme.
Wir müssen dort zu einer Neuordnung kommen. Ich fordere die Bundesregierung nachdrücklich auf, ihre Vorstellungen in diesem Bereich endlich vorzulegen.
Es kann aber nicht sein, dass wir dann, wenn wir alle
wissen, dass wir in diesem Zusammenhang nachsteuern
müssen, auf einmal den Bereich der Fahrlässigkeitstaten
mit aufnehmen. Das kann nicht sein.
({6})
Insgesamt bin ich im Übrigen sehr skeptisch. Wir haben
im Bereich der Sexualdelikte bisher zu Recht keine
Fahrlässigkeitstaten. Wenn Ihr Vorschlag Gesetz werden
würde, wäre das der Einstieg dafür, dass es auch hier
Fahrlässigkeitstaten gäbe. Ich bin dort sehr zurückhaltend.
Insgesamt werden wir eine Lösung finden müssen.
Das ist auch der Wille der Freien Demokraten. Ich erkläre ausdrücklich die Bereitschaft, dass wir uns an den
Gesprächen beteiligen. Ich habe aber das Gefühl, dass
das, was Sie bisher vorgelegt haben, eher mehr Fragezeichen aufwirft als Antworten gibt. Damit möchte ich meinen Beitrag heute hier schließen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über eines sind wir uns hier im Hause einig: Menschenhandel ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung, ein Verbrechen an der Würde und der Freiheit der
Opfer, das mit allen Mitteln und auf allen Ebenen bekämpft werden muss.
({0})
Bei den Opfern handelt es sich größtenteils um
Frauen, die meist mit falschen Jobversprechen als Aupairmädchen oder Bardame nach Deutschland geholt
und zur Prostitution gezwungen werden. Hier werden ihnen die Pässe abgenommen, sie werden verkauft und
physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Diesem
Menschen verachtenden Geschäft, das für die Menschenhändler nicht nur lukrativ, sondern auch risikoarm
ist, müssen wir den Boden entziehen.
Darum hat Rot-Grün eine Vielzahl von Gesetzen zum
Schutz der Opfer, aber auch zur besseren Verfolgung der
Täter beschlossen. Die Situation, die wir 1998 vorgefunden haben, war für die Frauen katastrophal: Wurden sie
bei Razzien ohne Papiere angetroffen, behandelte man
sie nicht etwa als Opfer von Menschenhandel, sondern
als Täterinnen, die gegen das Ausländerrecht verstoßen
hatten. Abschiebehaft oder sofortiger Rückflug war die
Folge. Die Täter blieben unerkannt, weil die Opfer nicht
mehr aussagen konnten, und konnten ihr schmutziges
Geschäft weiterführen. Sogar jetzt noch gibt es CDU-regierte Länder, die den vierwöchigen Abschiebeschutz
nicht gewähren und damit eine Aufklärung der Verbrechen verhindern. Ich nenne dies Täterschutz.
({1})
Auch heute habe ich das Gefühl, dass es Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
nicht wirklich um die Opfer geht, sondern um ein
Thema, das sich wunderbar zu einer höchst emotionalisierenden und polemischen Hetze gegen die Regierungsparteien missbrauchen lässt. Frau Granold, ich wollte es
nicht ansprechen. Aber heute sind die Zeitungen voll davon, dass die ILO gestern in ihrem Jahresbericht mitgeteilt hat, dass es keinen Zusammenhang zwischen der
Visapraxis und einem erhöhten Anteil von Opfern des
Frauenhandels gebe. Sie aber wollen dieses Problem instrumentalisieren. Ihnen ist dies im Ausschuss nicht gelungen; jetzt tragen Sie es hier in den Bundestag hinein.
({2})
Zu dieser Annahme führen mich vor allem die Unsachlichkeit und Undifferenziertheit, mit der einige - ich betone: einige - an dieses Thema herangehen.
Das beste Beispiel dafür - wir haben es vorhin schon
wieder gehört - ist die anhaltende Vermischung des
Frauenhandels mit dem Prostitutionsgesetz. Dieses
Gesetz verbessert die Situation der Prostituierten, die
freiwillig und legal in Deutschland tätig sind. An den
polizeilichen Ermittlungsmöglichkeiten hat es überhaupt
nichts geändert. Noch gestern habe ich vom LKA Berlin
gehört, dass die Razzien in gleicher Intensität weitergeführt werden, wie es vor dem In-Kraft-Treten des Prostitutionsgesetzes der Fall war.
({3})
Wie häufig Razzien durchgeführt werden, liegt also allein in der Länderzuständigkeit. Daher bitte ich Sie,
diese bewusste Täuschung zu unterlassen und keine Verbindung zwischen Prostitutionsgesetz und Ermittlungstätigkeit mehr herzustellen.
Aber nun zu Ihrem Antrag: Schon im Vermittlungsausschuss hatten wir Ihnen zugesagt, einen Straftatbestand für jene Freier zu prüfen, die die Zwangssituation
von Menschenhandelsopfern vorsätzlich ausnutzen. Für
mich ist das ein strafwürdiges Verhalten; ich stehe daher
einer solchen Strafbarkeit offen gegenüber. Aber, liebe
Kolleginnen und Kollegen, gut gemeint ist ja oft nicht
gut.
({4})
Selbst unter den Opferverbänden, der Polizei und der
Rechtswissenschaft gibt es keine einheitliche Bewertung.
Nach einer intensiven Anhörung, die wir gemeinsam
mit der SPD durchgeführt haben, habe ich viel mehr Fragen als vorher: Führte ein Straftatbestand dazu, dass die
Schleuser die Mauern um die Opfer erhöhen und diese
dadurch für die Außenwelt noch weniger sichtbar werden? Könnte auch weiterhin jede fünfte Frau durch Hinweise eines Freiers als Opfer von Frauenhandel identifiziert werden - so ist es jetzt; 20 Prozent der Freier geben
den Behörden eine Nachricht - oder würden die Männer
schweigen, weil sie sich strafbar machen? Käme es möglicherweise wie im Jahre 2003 in Schweden, wo ja alle
Freier bestraft werden, zu keiner Verurteilung?
Für mich steht nur eines fest: Eine gesetzliche Regelung könnte durch ein klares Verbot die wichtige Signalwirkung entfalten, dass dieses menschenverachtende
Verhalten vom Staat nicht toleriert wird. Wir müssen
also darüber nachdenken, wie wir zu einer solchen
Generalprävention gelangen können. Ihr Antrag ist für
uns aber in der hier vorliegenden Form nicht zustimmungsfähig. Wir sehen auch, dass es schwer ist, einem
Freier nachzuweisen, dass er um die Zwangssituation eines Menschenhandelsopfers wusste. Es ist allerdings
kein gangbarer Weg, dies dadurch aufzufangen, dass
auch fahrlässiges Nichterkennen bestraft werden soll.
Viel zu umstritten ist unter Fachleuten die Frage, ob
die Zwangssituation der Opfer für die Freier erkennbar
ist. Wenn Sie dann auch noch als einen der Umstände,
die auf Opfer von Menschenhandel hindeuten, die fehlende Arbeitserlaubnis oder Drogenabhängigkeit nennen, dann macht das wirklich deutlich, dass Sie diese
Problematik nicht verstanden haben. Auch wenn es nicht
in Ihr Bild passt: Außer der Zwangssituation des Menschenhandels kann es noch ein paar andere Umstände
geben, die Migrantinnen dazu bringen, ihren Lebensunterhalt und vielleicht auch den ihrer Familie mit Prostitution zu verdienen.
Sie fordern weiterhin eine Kronzeugenregelung für
Menschenhandelsdelikte. Das lehnen wir auch in diesem speziellen Deliktbereich ab. Eine solche Regelung
würde doch geradezu dazu einladen, die Zwangslage eines Opfers von Menschenhandel zunächst auszunutzen,
die Tat erst danach zur Anzeige zu bringen und dafür
auch noch straffrei zu bleiben.
({5})
Selbst auf Ihrem eigenen Symposium hat die Staatsanwältin Leister die Frage gestellt, warum die CDU/CSU
die Freier besser stellen möchte als die Opfer. Darüber
können Sie ja einmal nachdenken. Im Übrigen ist eine
solche Regelung auch nicht nötig, da die Gerichte bereits
nach dem geltenden Recht die Bereitschaft zur Aufklärung bei der Strafzumessung der Tat berücksichtigen
können.
Handlungsbedarf sehen wir wie Sie bei der Telekommunikationsüberwachung, wenn es sich um Verbrechen handelt. Auch wir halten es bei der Strafverfolgung
für wichtig, die Strukturen organisierter Kriminalität
durch geeignete Ermittlungsmethoden aufzubrechen.
Dies werden wir im Rahmen der Reform der Telefonüberwachung, an der die Koalition derzeit arbeitet, berücksichtigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU:
Bei all Ihren Vorschlägen zum Frauenhandel fällt mir
immer wieder auf, dass strafrechtliche und polizeiliche
Instrumente in einem absolut unausgeglichenen Verhältnis zu Opferschutz und Opferrechten stehen.
({6})
Den Frauenhandel werden wir nur wirksam bekämpfen
können, wenn wir auf Prävention, Opferschutz und
Strafverfolgung setzen.
({7})
Ich habe die große Sorge, dass die Maßnahmen, die
den Frauen wirklich helfen, wie sichere Unterkünfte, ein
besserer Aufenthaltsstatus, qualifizierte Betreuung in
spezialisierten Beratungsstellen, die Sie in Ihren Ländern mit Ihrer Mehrheit beschließen können, nicht
durchgeführt werden, auch weil sie Geld kosten, und
dass man sein Gewissen dadurch entlasten will, dass
man lediglich im Strafrecht etwas ändert. Das finde ich
scheinheilig.
({8})
Einen kleinen Vorgeschmack hat uns die bayerische
Justizministerin gegeben, die sagt, sie wisse gar nicht,
woher sie das Geld für die Beratungsstellen nehmen
solle. Ich frage Sie: Wie wäre es mit einem Opferfonds
- Herr Kauder, wir haben gestern Abend darüber diskutiert - à la Rheinland-Pfalz?
Herr Kauder, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Sie wissen, Rot-Grün hat im Bundesrat keine
Mehrheit, kann also keine aufenthaltsrechtlichen Änderungen durchsetzen, die als Opferschutz dringend notwendig sind. Die CDU/CSU hat im Bundestag keine
Mehrheit und kann keine Strafrechtsänderung durchsetzen. Wir sollten uns zu einem Berichterstatter- und Berichterstatterinnengespräch zusammensetzen und beides
machen, nämlich in einem Paket einen gemeinsamen
Antrag sowohl zum Aufenthaltsrecht als auch zum Strafrecht. Dann könnten wir den Menschenhandel wirkungsvoll bekämpfen.
Ich freue mich schon auf die Debatte.
({9})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat hat in der letzten Woche beschlossen, einen Gesetzesantrag des Landes
Bayern unter der Überschrift „Bekämpfung des Menschenhandels“ mit einigen Änderungen einzubringen.
Diesen Entwurf wird der Bundestag in Kürze beraten.
Die Union legt nun heute einen Gesetzentwurf vor, der
mit dem bayerischen Entwurf weitgehend identisch ist.
Ich verstehe nicht ganz, was das soll. Ich kann es mir
eigentlich nur so erklären, dass Sie meinen, ausgerechnet
mit diesem Thema Wahlkampf machen zu müssen.
({0})
Wenn das so ist, wofür viel spricht, dann instrumentalisieren Sie die Not und das Elend der Opfer von Menschenhändlern für Ihre Kampagnen gegen uns, die Regierung und die Koalition.
({1})
Es wird Ihnen aber nichts nützen. Ihre Aufgeregtheit
zeigt mir, dass ich Recht habe.
({2})
In einem Punkt geht Ihr Entwurf sogar über die Vorlagen des Freistaates Bayern und des Bundesrates hinaus,
nämlich bei der Freierstrafbarkeit auch bei Fahrlässigkeit. Diesen Vorschlag hat schon der Bundesrat gestoppt.
Wie gestern der Presse zu entnehmen war, wird er auch
von Opferverbänden und der Gewerkschaft der Polizei
kritisch gesehen. Zu Recht. Ich gehe davon aus, dass dieser Vorschlag auch im Bundestag abgelehnt wird. Das,
was Sie da machen, ist nichts anderes als vordergründiger gesetzgeberischer Aktionismus.
Das gilt letztlich auch für den Vorsatztatbestand, wie
Sie ihn vorschlagen. Der Vorschlag ist vielleicht gut gemeint, den Kern des Unrechts trifft er aber nicht. Eine
Strafe ist doch nur dann berechtigt, wenn ein Freier eine
gegenwärtige, also eine noch wirksame Zwangslage ausnutzt. Ihr Entwurf stellt ebenso wie der Gesetzentwurf
des Bundesrates nicht auf die gegenwärtige Situation des
Opfers ab, sondern knüpft an ein vorgelagertes Geschehen an, also an eine Zwangslage, die möglicherweise
zum Tatzeitpunkt gar nicht mehr besteht.
({3})
Damit Sie sich aber jetzt nicht aufregen müssen, lasse
ich keinen Zweifel an folgender Feststellung: Wenn ein
Freier bewusst die Zwangslage einer Frau ausnutzt, ist
das nicht hinnehmbar. Das sollten wir nicht dulden. Das
werden wir nicht dulden und da werden wir gemeinsam
mit der Koalition ein deutliches Zeichen setzen.
({4})
- Dann, wenn wir es vernünftig beraten haben, aber
nicht mit Schnellschüssen, wie Sie das zu machen pflegen.
({5})
- Bevor Sie jetzt HB-Männchen spielen, beruhigen Sie
sich etwas.
Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat mit
dem Bündnis 90/Die Grünen auch in Erfüllung einer
Prüfzusage aus dem Vermittlungsverfahren zum
37. Strafrechtsänderungsgesetz vor kurzem eine Expertenanhörung durchgeführt. Über das Ergebnis haben
Frau Schewe-Gerigk und Frau Simm bereits berichtet.
Es ist nicht richtig, wenn Sie, Frau Granold, sagen, Sie
hätten das zurückgezogen, weil wir über die Frist hinaus
gewesen seien.
({6})
Wir haben die Frist auch deshalb überschritten, weil Ihre
konservativ geführten Regierungen den Vermittlungsausschuss angerufen haben und dadurch eine weitere
Verzögerung eingetreten ist.
({7})
Wenn Sie ein bisschen Vernunft hätten, dann wüssten
Sie, dass wir vereinbart haben, dass wir die Praxis befragen wollen. Wir haben die Praxis noch nicht befragt, Sie
schon ganz und gar nicht.
({8})
- Das überlassen Sie einmal mir, Herr Kauder, jedenfalls
nicht bei Nacht und Nebel und nicht im Schlafanzug,
wie Sie das machen.
({9})
Wenn man nicht nur symbolische Gesetzgebung betreiben möchte, dann muss man sich auch mit den möglichen Folgen eines solchen Straftatbestandes auseinander
setzen. Es kommt gar nicht so selten vor - auch das ist
schon erwähnt worden -, dass Freier Anzeige erstatten
und damit den Frauen aus der Zwangslage heraushelfen.
({10})
Diese Anzeigebereitschaft hätte sicher ein Ende, wenn
die Freier selbst eine Bestrafung befürchten müssten.
Daran wird auch keine Kronzeugenregelung etwas ändern. Die Freierstrafbarkeit - vor allem, wenn sie, wie
Sie das wollen, schon bei Fahrlässigkeit eintreten soll könnte dazu führen, dass sich die Szene in der Illegalität
abschottet. Gerade das würde den Opfern nicht helfen.
Erstaunlich und erfreulich finde ich, dass Sie das urbayerische Anliegen, das Prostitutionsgesetz wieder abzuschaffen, wenigstens heute nicht auf die Tagesordnung
gebracht haben.
({11})
- Ich wollte Sie gerade loben und sagen, dass das zeigt,
dass Sie doch nicht die kleine Filiale des bayerischen
Justizministeriums sind.
({12})
Aber die Rede von Frau Granold lässt mich da schweigen. Sie sind die Filiale des bayerischen Justizministeriums.
({13})
- Ich freue mich, dass Sie sich aufregen.
Ich muss jetzt noch auf die Kronzeugenregelung eingehen. Sie schlagen eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung für Menschenhandelsdelikte vor, nachdem
Sie in den vergangenen Jahren gebetsmühlenartig frühere Vorschläge des Bundesrates mit weiteren Kronzeugenregelungen als eigene Ideen verkauft haben. Wenn
ich richtig gezählt habe, wären wir jetzt bei der
24. Kronzeugenregelung angelangt:
({14})
drei bereits bestehende, 20 weitere aus der konservativen
Ecke in den Vorjahren und nunmehr dieser Vorschlag eines § 233 c StGB. Über die Schwächen dieser Unmenge
von bereichsspezifischen Regelungen sind wir uns eigentlich einig. Diese Schwächen bestehen nach wie vor.
Sie sollten langsam einmal erkennen, dass Sie hier nicht
auf dem richtigen Weg, sondern vielmehr auf dem Holzweg sind, und auf einem morschen noch dazu. Ich verpflichte mich hier: Wenn im nächsten Jahr Ihre
25. Kronzeugenregelung kommt, werde ich hier Weinessig und Zitronen spendieren.
({15})
- Nein, nur für die.
Auch bei der Telekommunikationsüberwachung
setzen Sie auf den alten Hut konservativer Denkweise.
Wir haben für die Fälle, in denen es richtig ist, bereits
eine Telefonüberwachung und wir werden - das ist angesprochen worden - die Probleme der Telekommunikationsüberwachung anders regeln müssen als durch eine
ständige Erweiterung des Straftatenkatalogs.
({16})
Kommen wir also auf den Kern des Anliegens, das
Sie hier mit treuem Augenaufschlag vorgetragen haben
und welches Herr Kauder jetzt noch in allen Einzelheiten
erläutern wird, zurück.
({17})
- Nein, das war nicht persönlich. Sie alle haben mich mit
treuem Augenaufschlag angeguckt. - Kommen wir darauf zurück: Im Kern lautet Ihr Anliegen, dem auch wir
uns nicht verschließen werden, sondern das wir genauso
aktiv verfolgen werden und zu dem wir vernünftige Regelungen vorlegen werden: Schutz der Frauen, die gegen ihren Willen zur Prostitution gezwungen werden. Es
kann nicht lauten, so wie es Frau Granold gesagt hat, die
meint, man würde damit einen Sumpf austrocknen:
Strafbarkeit der Freier um jeden Preis. Das, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, hat schon der biblische König David nicht gewollt.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Emotionalität, mit der diese Debatte teilweise geführt wurde,
hat mich erschüttert. „Ich werde dir Europa zeigen. Du
wirst in Deutschland für mich arbeiten. Du wirst eine
wundervolle Zukunft haben.“ So wurde eine ukrainische
Frau vom Schleuser Boris B. mit einem gefälschten Reisepass und einem erschlichenen Visum nach Berlin verbracht.
({0})
Dort wandelte sich das Gesicht von Boris B. sehr
schnell. „Ab jetzt bin ich dein Direktor, dein Vater und
dein Gott“ - und auf dem Schreibtisch lag eine Sexpostille als Anweisung für die zukünftige Berufstätigkeit.
({1})
Irina C. wurde mit drei weiteren Damen in einem EinZimmer-Appartement untergebracht; zwei schliefen in
Stockbetten, eine auf dem Sofa, eine auf dem Boden. Sie
waren kaserniert.
({2})
In einschlägigen Postillen wurde angeboten: „Naturgeile
ukrainische junge Frau, zu allem bereit.“ Bei Boris B.
fand man 3 500 Adressen, an die diese Mädchen verschachert worden sind. Meine Damen und Herren, einen
solchen Zustand kann man nicht anstehen lassen.
({3})
Irina C. wurde auf der Straße angetroffen, sie wurde
bei der Polizei vernommen. Sie wurde angeklagt und
wegen Urkundenfälschung und eines Verstoßes gegen
Siegfried Kauder ({4})
das Ausländergesetz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
({5})
Boris B. wurde ebenfalls - und er zu Recht - zu einer
Haftstrafe verurteilt. Der Freier läuft frei herum, auch
wenn er die Situation des Mädchens erkannt hat.
Das hat dieses Hohe Haus im Jahr 1993 besser gemacht. Damals ging es um eine Änderung der Vorschriften zur Kinderpornographie. Fraktionsübergreifend war man zu Recht der Meinung, auch der Besitz
von kinderpornographischen Schriften solle unter Strafe
gestellt werden,
({6})
weil nämlich der Besitz von Kinderpornographie mittelbar den sexuellen Missbrauch von Kindern begünstigt.
Nicht anders ist es beim Freier.
Nun kann man sich natürlich fragen: Hat es einen
Sinn, ein Gesetz zu beschließen, das den Besitz von Kinderpornographie bestraft? Wie will ich denn den Besitz,
der zu Hause stattfindet, nachweisen? Es gelingt der
Polizei immer wieder, denn der Besitz von Kinderpornographie ist ein Kontrolldelikt. Nicht anders ist es beim
Menschenhandel und beim Missbrauch von Frauen.
Auch dort handelt es sich um Kontrolldelikte.
({7})
Meine Damen und Herren, entsprechend haben wir
den Straftatbestand der Freierstrafbarkeit ausgebaut.
Der Freier, der die durch Menschenhandel geschaffene
Situation entweder erkennt oder sie leichtfertig - das ist
die höchste Stufe der Fahrlässigkeit - nicht erkennt und
der diese Situation ausnützt, macht sich strafbar.
Nun wird der Einwand erhoben: Wo gibt es denn so
etwas wie die Bestrafung von Fahrlässigkeit bei Sexualdelikten? Das ist im System nicht bekannt. Dieses Argument hat ein Professor aufgebracht; es ist aber falsch. Ich
empfehle, in § 178 des Strafgesetzbuches nachzulesen:
Verursacht der Täter durch … Vergewaltigung …
wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, so ist
die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.
({8})
Wir haben es also mit einer Kombination aus Vorsatz
und Fahrlässigkeit zu tun. Das macht deutlich, dass der
formale Einwand nicht richtig ist.
({9})
Wir haben uns sehr wohl auch Gedanken darüber gemacht, wie eine Tataufklärung möglich sein soll. Das ist
zweifellos ein Problem. Wir haben uns entschlossen,
eine Kronzeugenregelung einzuführen, deren Sinnhaftigkeit von der Regierungskoalition offensichtlich nicht
erkannt worden ist. Der Freier, der eine Frau in ihrer Situation missbraucht, wird in aller Regel diese Kronzeugenregelung nicht in Anspruch nehmen müssen. Ihm
kann man schon nach derzeitigem Recht mit den §§ 153
oder 153 a der Strafprozessordnung helfen.
Wir wollen aber auch, dass der Menschenhändler die
Chance hat, sich zu offenbaren und eine Strafmilderung
zu bekommen; denn nur so bekommt man Zugang zu einem mafiosen System. Beim Betäubungsmittelrecht ist
es auch nicht anders. Dort können wir entsprechende Erfolge zeitigen.
({10})
Wie Sie sehen, haben wir zu unserem Gesetzentwurf
durchaus sinnvolle Überlegungen angestellt.
Nun darf ich Sie persönlich ansprechen, Frau
Schewe-Gerigk. Wir haben gestern gemeinsam eine Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte
besucht. Sie wissen sehr wohl, dass es derzeit auf europäischer Ebene schon Überlegungen gibt, ob nicht genau
das, was wir in unserem Gesetzentwurf vorsehen, auf
europäischer Ebene festgelegt werden sollte, nämlich
dass der Missbrauch von Menschenhandelsopfern durch
den Freier unter Strafe gestellt wird.
({11})
- Also darf ich festhalten: Bei der Bestrafung vorsätzlichen Handelns machen Sie mit. Es geht Ihnen um die
Leichtfertigkeit. Darüber können wir im Ausschuss diskutieren. Damit kommen wir zu unserem Thema. Wenn
Sie die Regelungen zu vorsätzlich begangenen Taten
mittragen, dann müssen Sie das hier auch gegenüber der
Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen. Darüber können
wir reden.
Nun lässt sich einwenden, wie man dem Freier nachweisen soll, dass er die Situation des Menschenhandelsopfers erkannt oder leichtfertig verkannt hat. Diese
Frage höre ich allerdings überwiegend von Männern; das
könne man doch gar nicht belegen. „Frauenrecht ist
Menschenrecht e.V.“ hat einen Zwölfpunktekatalog entwickelt, nach dem man indiziell die Zwangssituation eines Menschenhandelsopfers feststellen kann: Sie kann
zum Beispiel kein Deutsch; sie kann die sexuelle Dienstleistung und deren Dauer nicht selbst aushandeln; sie
nimmt das Geld nicht in Empfang; sie hat möglicherweise Verletzungsspuren. Die Indizien insgesamt ermöglichen sehr wohl einen Tatnachweis.
Siegfried Kauder ({12})
Auch Ihre Kritik an der Kronzeugenregelung ist
nicht berechtigt. Lesen Sie nach, was der Vorsitzende der
Gewerkschaft der Polizei dazu sagt. Er ist ebenso wie
wir der Meinung, dass dies eine sehr gute Möglichkeit
ist, Zugang zu der Struktur des meist mafios durchgeführten Menschenhandels zu bekommen.
({13})
Sie sehen also, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Eines fällt bezeichnenderweise auf. Sie bringen außer der
Kritik hinsichtlich der Leichtfertigkeit keine sachliche
Kritik an unserem Gesetzentwurf vor, weil Ihnen offenkundig nichts einfällt.
({14})
Sie sind aber auch nicht bereit - obwohl Sie das Problem
erkannt haben -, aktiv und zum Schutz dieser Opfer daran mitzuarbeiten.
({15})
Ich hätte mir vorgestellt, dass Sie in die heutige Diskussion Vorschläge zum Bleiberecht dieser Opfer einbringen. Wir müssen uns dieses Themas zweifellos annehmen. Es geht aber nicht an, dass Sie sagen: Wir machen
schon beim ersten Schritt nicht mit; dann müssen wir
uns den zweiten nicht überlegen. Das Bleiberecht ist ein
Thema, das wir sehr wohl gemeinsam diskutieren können. Wir müssen uns aber erst darüber einig werden, ob
die Freierstrafbarkeit eingeführt werden soll oder nicht.
Dieses Thema, das Frauen, die nach Deutschland eingeschleust werden, auf der Seele liegt und auf das Frauenverbände zu Recht beharrlich und beständig hinweisen, haben Sie gar nicht im Blickfeld. Wir haben gestern
bei der Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte auch gehört, dass wir nicht länger warten
dürfen. Wir sehen einen Sachverhalt, der kriminogen ist,
den wir aber schleifen lassen, weil Sie nichts tun und
noch nicht einmal bereit sind, den ersten Schritt mitzumachen. Das ist - ich sage bewusst nicht: eine Schande schade. Ich hoffe, dass wir in der sachlichen Zusammenarbeit im Ausschuss doch noch einiges bewegen.
Vielen Dank.
({16})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun das Wort die Kollegin Angelika Graf von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Damen und Herren! In der
14. Legislaturperiode, also vor knapp vier Jahren, haben
wir von den Regierungsfraktionen einen Antrag eingebracht, der sich mit der Situation von Frauen beschäftigt,
die als Opfer von Menschenhandel vorwiegend aus den
Ländern des ehemaligen Ostblocks hierher verschleppt
werden. Der Titel dieses Antrags lautet „Prävention
und Bekämpfung von Frauenhandel“. Wir haben ihn
hier im Dezember 2001 einstimmig verabschiedet. In
diesem Antrag wird sehr genau die Tatsache beschrieben
- das hat Frau Granold schon wiedergegeben -, dass
etwa 120 000 Frauen zum Zweck der sexuellen Ausbeutung nach Westeuropa verbracht werden und dass der
Jahresgewinn aus diesem „Geschäft“ höher ist als aus
dem Drogenhandel.
In diesem Antrag werden aber auch die Ziele unserer
gemeinsamen Politik in diesem Bereich beschrieben.
Wir beschritten damit - ich spreche für diejenigen, die
diesen Antrag damals erarbeitet haben - keineswegs
Neuland. Es gab bereits damals aus der Ära Kohl den
runden Tisch „Frauenhandel“ und den Bundesweiten
Koordinierungskreis. Ich kann mich gut erinnern, dass
die Recherchen zu diesem Antrag trotzdem mühsam waren. Ich hätte mir gewünscht, dass nicht so viel von den
Bundesländern geregelt werden muss. Das betrifft insbesondere den Opferschutz. Ich habe damals oft mit geringem oder sogar fehlendem Problembewusstsein meiner
Gesprächspartner aus den Bundesländern zu kämpfen
gehabt.
Ich rate Ihnen allen sehr zur Lektüre des Antrags;
denn er hat in den letzten vier Jahren an Aktualität, was
die Situation der Opfer betrifft, nichts verloren. Noch
heute gibt es zu wenige Beratungsstellen für Opfer von
Menschenhandel in den Bundesländern. Infolge der Mittelkürzungen in den Bundesländern - auch das ist schon
angesprochen worden - werden existierende Beratungsstellen nicht mehr bezuschusst und müssen oft geschlossen werden. Noch heute fehlen dort oft die Mittel für die
Betreuung der Opfer von Menschenhandel. Einzig
Rheinland-Pfalz hat - auch das ist schon angesprochen
worden - einen Opferfonds eingerichtet.
({0})
Noch heute wird jungen Frauen, die als illegale Prostituierte bei einer Razzia oder einer Kontrolle aufgegriffen werden, trotz der Aufklärungsarbeit des BKA und
der Beratungsstellen oft nicht die Vierwochenfrist eingeräumt, die ihnen bis zu einer freiwilligen Ausreise eigentlich zusteht. Das fördert bedauerlicherweise nun
wieder den Drehtüreffekt und verhindert oft Ermittlungen gegen die Schlepper. Noch heute erhalten sehr wenige Frauen, die großen Mut bewiesen haben und durch
ihre Aussage zur Aufdeckung und Zerschlagung der
Netze der Schlepperbanden beigetragen haben, Abschiebeschutz oder sogar ein Bleiberecht oder eine neue Identität.
Wie grau der Themenbereich noch immer ist, zeigt
die Tatsache, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf die Vorschläge nicht mit den entsprechenden Zahlen unterlegen
konnten, mit Zahlen, die für den Beweis zum Beispiel
der Nützlichkeit des Unterfangens der Freierbestrafung
wichtig wären.
Angelika Graf ({1})
Seit der Verabschiedung unseres Antrags im Jahr
2001 haben wir vonseiten des Bundes eine Reihe der darin enthaltenen Forderungen erfüllt. Ich denke dabei zum
Beispiel an die jüngste, schon öfter angesprochene Änderung des Strafrechts in §§ 232 und 233. Dies wird das
Vorgehen gegen die Täter, die Schlepper, erleichtern.
Aber auch die Opferrechtsreform möchte ich in Erinnerung rufen. Sie hat die Situation der Opfer von Menschenhandel deutlich verbessert. Ich erwähne außerdem
noch einmal den runden Tisch und möchte bitten, die Arbeit des BMZ bei der Bekämpfung der Armut in den
Herkunftsländern nicht zu vergessen.
Wurde damit das Problem an sich bekämpft? Es ist
richtig: Ohne die Kunden, die Männer, die Sex möglichst billig kaufen wollen, gäbe es das Phänomen der
Ausbeutung der illegalen Prostituierten bei uns nicht.
Man muss natürlich nicht erst seit dem Fall Friedman
fragen, welche Mittel wir haben, um denen, die als Kunden diese Frauen wissentlich ausbeuten, das Handwerk
zu legen.
Wie groß der „Bedarf“ an derart billigem Sex ist, beschreibt die Aussage einer bayerischen Polizistin aus
dem Gebiet der Grenze zu Tschechien - auch Frau Simm
hat das zitiert -, die von täglich 2 000 Freiern aus
Deutschland berichtet, die auf der anderen Seite der
Grenze billige Sexdienstleistungen einkaufen. Da geht
es wohl noch billiger und noch einfacher als bei uns.
Frauenhandel ist also ein transnationales Problem.
Ich rate jedem, sich die armen jungen Frauen auf dem
tschechischen Straßenstrich hinter dem Grenzübergang
Philippsreut anzusehen, die dort ihre Dienste freiwillig
oder nicht freiwillig anbieten, um zu überleben. Man begreift, dass Frauenhandel mit der Armut in den Herkunftsländern direkt zu tun hat. Man erkennt aber auch,
wie schwach entwickelt das Mitleid und das Schuldbewusstsein vieler Kunden offensichtlich ist. Ich denke, da
packt einen zu Recht die Wut. Ich verstehe deswegen,
dass man sich über die Bestrafung von Freiern Gedanken
macht.
Wir haben uns bei dem fraktionsübergreifenden Berichterstattergespräch damals im Zusammenhang mit der
Änderung des StGB bezüglich Menschenhandels darauf
geeinigt, den Punkt Freierstrafbarkeit mit der nötigen
Sorgfalt zu prüfen. Fest steht für mich: Nichts wäre
- auch im Hinblick auf die Situation und die Gefühlslage
der Opfer, die wir bei aller Diskussion über die Täter
nicht aus dem Auge verlieren dürfen - fataler als Regelungen, die in Wahrheit nicht greifen, die Situation der
Opfer eher verschlechtern
({2})
oder die illegale Prostitution noch mehr in den Untergrund verdrängen
({3})
und damit die Lage der betroffenen Frauen noch unerträglicher und noch auswegloser machen. Das soll heißen: Ich will keine mit heißer Nadel gestrickte Änderung
des StGB, die sich populistisch gut vermarkten lässt,
sondern eine Regelung, die insbesondere die Situation
der Opfer im Blick hat.
({4})
Dabei sollte man bedenken, dass in Italien - Frau
Schewe-Gerigk, dort sind die aufenthaltsrechtlichen Regelungen für die Opfer von Frauenhandel nämlich wesentlich besser als bei uns und dort ist das Netz der
Beratungsstellen dichter - 20 Prozent aller registrierten
Fälle von illegaler Prostitution von den Freiern aufgedeckt werden, die sich an die Beratungsstellen wenden.
Zur Polizei gehen in Italien wie hier in Deutschland
die wenigsten der Freier. Eine Ermittlung der Polizei
würde nämlich aufdecken, dass der Mann eine Prostituierte aufgesucht hat - ein Umstand, der bei Frau oder
Freundin sicherlich nicht unbedingt auf Gegenliebe oder
Verständnis stößt. Ich denke, da ist der logische Fehler in
Ihrem Ansatz. Eine Kronzeugenregelung würde nicht
helfen.
Herr Kauder, zu der von Ihnen ins Spiel gebrachten
Kronzeugenregelung für Schlepper möchte ich sagen:
Darüber müssen wir noch intensiv reden. Ich persönlich
bin im Augenblick eher dagegen.
({5})
Eine Freierstrafbarkeit, die sich auch auf die Fahrlässigkeit erstreckt, würde zudem nach Ansicht der Beratungsstellen jede präventive Arbeit im Freiermilieu zunichte
machen.
({6})
Das Ziel sollte meines Erachtens nicht sein, die Freier
generell zu kriminalisieren - sie würden generell kriminalisiert, wenn dieser Vorschlag umgesetzt wird -, sondern ihnen zu helfen, zu erkennen, wann eine Frau in die
Prostitution gezwungen wurde, und dann richtig zu handeln.
({7})
Wir weisen Ihre Angriffe auf das Prostitutionsgesetz
deutlich zurück. Dazu ist schon im Vorfeld vieles gesagt
worden.
Ich möchte auf den eingangs erwähnten Antrag der
Regierungsfraktionen aus dem Jahre 2001 zurückkommen. In ihm wird dieses Thema unter dem Aspekt der
Menschenrechte der Opfer behandelt. Eines der großen
Ziele, die mit der Verabschiedung des Antrages verbunden waren, war die Verbesserung des Opferschutzes.
Bei aller Diskussion über die Freier wäre es gut, wenn
wir dieses Ziel nicht aus dem Auge verlören.
({8})
Wirken Sie doch bitte auf die von Ihnen regierten Länder
ein, das Ihre in diesem Bereich zu tun und zum Beispiel
die Beratungsstellen weiterhin entsprechend zu finanzieren! Wenn das geschieht, wäre schon viel gewonnen.
Angelika Graf ({9})
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/5326 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 c sowie
Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
30 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 ({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der
internationalen Sicherheitspräsenz ({1})
und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien ({2}) vom 9. Juni 1999
- Drucksache 15/5428 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({4}), Eduard Oswald, Dr. Klaus
W. Lippold ({5}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Bürgernähe durch Vereinfachung des Kfz-Zulassungsverfahrens
- Drucksache 15/4505 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({7}), Eduard Oswald, Dr. Klaus
W. Lippold ({8}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Bereitstellung von Informationen über Allgemeine Betriebserlaubnisse ({9}) und EGTypgenehmigungen auch für nationale und internationale Behörden
- Drucksache 15/4930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 2 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 15/5444 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christa Reichard ({12}), Dr. Christian
Ruck, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Trinkwassermanagement in Entwicklungsund Schwellenländern durch die verstärkte
Einbeziehung der Privatwirtschaft verbessern
- Drucksache 15/5451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsame Position der Europäischen
Union zum Waffenembargo gegenüber der
Volksrepublik China
- Drucksache 15/5467 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 m sowie Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Novellierung des Verwaltungszustellungsrechts
- Drucksache 15/5216 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16})
- Drucksache 15/5475 16400
Abgeordnete Siegmund Ehrmann
Stephan Mayer ({0})
Gisela Piltz
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5475, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Verordnung ({1})
Nr. 805/2004 über einen Europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen ({2})
- Drucksache 15/5222 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 15/5482 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Thomas Silberhorn
Jerzy Montag
Sibylle Laurischk
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5482, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2003/105/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der
Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen
- Drucksache 15/5220 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
- Drucksache 15/5443 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Schmitt ({7})
Dr. Antje Vogel-Sperl
Birgit Homburger
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5443, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hochbaustatistikgesetzes
- Drucksache 15/4738 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({9})
- Drucksache 15/5241 Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Kranz
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/5241, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- und
FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 31 e:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August
1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik über die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4978 ({10})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. März
2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Nigeria über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4980 ({11})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Guatemala
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4981 ({12})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Angola über
die Förderung und den gegenseitigen Schutz
von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4982 ({13})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Volksrepublik China
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4983 ({14})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Januar
2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik
Äthiopien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4984 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Wirtschaft und Arbeit ({16})
- Drucksache 15/5362 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({17})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nrn. 1 bis 6 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5362, die Gesetzentwürfe anzunehmen.
Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die
sechs Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Dazu
erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({18}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer
({19}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutschland beibehalten
- Drucksachen 15/1876, 15/2374 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1876 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({20}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({21}),
Sibylle Laurischk, Joachim Günther ({22}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gesamtverkehrskonzept Südbaden - Bündelung von Schiene und Straße im Rheingraben
- Drucksachen 15/2470, 15/4015 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2470 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDPFraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({23}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Gero Storjohann, Dirk Fischer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({24}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Führerscheinbürokratie verhindern - Führerscheintourismus beenden
- Drucksachen 15/3716, 15/4484 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3716 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 31 i bis 31 m.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 201 zu Petitionen
- Drucksache 15/5349 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 201 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 202 zu Petitionen
- Drucksache 15/5350 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 202 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 203 zu Petitionen
- Drucksache 15/5351 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 203 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 204 zu Petitionen
- Drucksache 15/5352 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 205 zu Petitionen
- Drucksache 15/5353 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union
- Drucksache 15/4233 ({30})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Übereinkommens vom
29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union
- Drucksache 15/4232 ({31})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen
über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4230 ({32})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({33})
- Drucksache 15/5487 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder ({34})
Jerzy Montag
Sibylle Laurischk
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen vom
29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union,
Drucksache 15/4233. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 auf Drucksache 15/5487, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in
Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Drucksache 15/4232. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Nr. 2 auf Drucksache 15/5487, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vom
16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen über die
Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union, Drucksache 15/4230. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 3 auf Drucksache
15/5487, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({35}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Verordnung
über genehmigungsbedürftige Anlagen und
zur Änderung der Anlage 1 des Gesetzes über
die Umweltverträglichkeitsprüfung
- Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, 15/5483 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/5218 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als Zusatzpunkte 14 a und 14 b aufgerufen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Zusatzpunkt 14 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({36}) zu dem Gesetz zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und
zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG
({37})
- Drucksachen 15/3441, 15/4119, 15/4236,
15/4501, 15/4540, 15/4922, 15/5479 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Michael Müller ({38})
Berichterstatter im Bundesrat:
Senator Dr. Roger Kusch
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Ist
das richtig? - Wir kommen dann zur Abstimmung. Der
Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgende Beschlussempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5479? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 14 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({39}) zu dem Gesetz zur Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau
und Deregulierung aus den Regionen
- Drucksachen 15/4231, 15/4673, 15/4938,
15/5178, 15/5480 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Berichterstatter im Bundesrat:
Staatsminister Geert Mackenroth
Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5480? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/4533 zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zur akustischen
Wohnraumüberwachung.
({40})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5486, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen.
({41})
- Bitte.
Das muss ein Irrtum sein. Die Debatte soll heute
Abend gegen 17 Uhr noch geführt werden.
Ich bestätige, dass das ein Irrtum ist, und stelle das
zurück.
({0})
Dann kommen wir jetzt gleich zum Zusatzpunkt 4:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Kritik des FDP-Vorsitzenden an Gewerkschaftsfunktionären in Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Klaus Uwe Benneter von der SPD-Fraktion das
Wort.
Ich sehe, es sind alle vollständig.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns ist
mit Interesse aufgefallen, dass die FDP nach vielen Jahren das Thema Bürgerrechte, das sie lange Jahre offensichtlich vernachlässigt hatte, wieder entdeckt hat. Dies
ist gut so; denn die Wahrung der demokratischen Rechte
der Bürgerinnen und Bürger ist ein ganz wichtiges
Thema.
({1})
Sie wissen am besten, dass dies für die FDP früher ein
sehr wichtiges Thema war, zu dem sie damals mehr zu
sagen hatte als heute.
({2})
Der Haken ist nur: Ihr Bekenntnis zu den Bürgerrechten ist dann unglaubwürdig, wenn Sie im gleichen Atemzug einen ganz wichtigen Bereich dieser Bürgerrechte,
nämlich die demokratische Selbstorganisation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den deutschen
Gewerkschaften, als - Herr Westerwelle, ich darf Sie zitieren - „Plage“ bezeichnen. Das ist unglaubwürdig. Damit werden Sie dem Anspruch nicht gerecht, den Sie
hinsichtlich der Wahrung der Bürgerrechte an sich selber
stellen.
Ihre Haltung ist auch deshalb unglaubwürdig, weil
Sie, wie Herr Niebel sagte, die Gewerkschaften, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammengeschlossen sind, entmachten wollen. Das ist Ihr neues
Konzept.
({3})
- Gut, Sie machen da einen feinen Unterschied zwischen
den Gewerkschaften einerseits und den Gewerkschaftsfunktionären andererseits.
({4})
Auch ich weiß, dass die Vertreter von Verbänden nicht
immer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben.
({5})
Ich denke dabei an die plumpen Attacken des Herrn
Hundt. Auch über manche Äußerungen von Interessenverbänden der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber ärgere
ich mich gelegentlich.
Die Art und Weise, wie Sie Ihre grundsätzliche Kritik
an demokratisch gewählten Repräsentanten formulieren, ist ganz schön nahe an einem wirklich antidemokratischen Populismus.
({6})
Dazu gehört auch die Behauptung, die demokratischen
Parlamentarier würden nicht die Interessen des Volkes
repräsentieren.
({7})
Walter Scheel, ein großer Liberaler und ehemaliger
Vorsitzende der FDP, hat als Bundespräsident auf dem
DGB-Bundeskongress 1975 noch formuliert, freie Gewerkschaften, freie Wirtschaft und freier Staat würden
einander bedingen. Ginge die Freiheit in einem dieser
Bereiche verloren, bräche das sorgsam Ausgewogene ineinander und miteinander zusammen.
({8})
Von diesem freiheitlichen Gesellschaftsverständnis ist
die FDP heute weit entfernt.
({9})
Diese Agitation gegen die demokratischen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer ist Ausdruck einer neuen
Geisteshaltung der FDP, die letztlich auf die Verachtung
des gesamten Sozialstaates hinausläuft.
({10})
Sie, Herr Westerwelle, sind noch bemüht, diese Geisteshaltung mit faulen Bekenntnissen zum Gemeinwohl ein
wenig zu kaschieren. Die wahre Geisteshaltung der FDP
kommt aber bei Ihrer Parteijugend zum Ausdruck. Die
Überschrift „Alte, gebt den Löffel ab!“ einer entsprechenden Veröffentlichung zeigt dies deutlich.
({11})
Diese Geisteshaltung spiegelt sich in all Ihren Programmschriften, Diskussionsbeiträgen und Parteitagsbeschlüssen wider. Ich will nur einige Punkte nennen: Sie
fordern die Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit.
Sie fordern die Privatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie fordern außerdem die Einführung eines einheitlichen Einkommensteuersatzes für Normalverdiener und für Spitzenverdiener.
Was Sie so flott als „Flat Tax“ in Ihrem Wahlprogramm in Nordrhein-Westfalen fordern, hat - das müssten Sie eigentlich wissen - ganz üble Konsequenzen. Sie
sagen aber noch nicht einmal, wie hoch dieser einheitliche Steuersatz sein soll. Weil Sie behaupten, er müsse in
der Größenordnung des Körperschaftsteuersatzes liegen,
gehen wir einmal von 25 Prozent aus. Die Konsequenz
daraus wäre, dass die Normalverdiener diese Entlastung
der Spitzenverdiener bezahlen müssten.
({12})
Ganz konkret: Für Verheiratete mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro würde das eine zusätzliche Steuerbelastung von 4 000 Euro bedeuten.
({13})
Ein Ehepaar mit einem Einkommen von 1 Million Euro
würde mit 150 000 Euro entlastet werden. Das sind die
Berechnungen der Länderfinanzminister zu diesem
Punkt. Die massiven Steuerausfälle, die hierdurch zweitens zu verzeichnen wären, würden sich auf
42 Milliarden Euro summieren. Auch das sind, wie gesagt, Zahlen und Berechnungen der Länderfinanzminister dazu. Das sind die Konsequenzen Ihrer - frei übersetzt - „Flach-Steuer“, ein Name, der passt, soweit dies
Ihren ökonomischen Sachverstand betrifft.
Mit politischem Liberalismus hat diese Verachtung
des Sozialstaates jedenfalls nichts mehr zu tun.
({14})
Da sind Sie in guter Gesellschaft mit der Union. Die fordert im Gesundheitswesen eine Kopfpauschale und Sie
fordern eine Kopfsteuer auf Einkommen.
({15})
Sie wollen alles durchökonomisieren. Das ist Ihr Programm.
Die Menschen müssen wissen: Die FDP schickt sich
an, mit ihrem Spitzenkandidaten Florida-Wolf in Nordrhein-Westfalen die Regierung übernehmen zu wollen und das mit einem Programm, das den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft bekämpft und nur noch
den Reichen dienen soll.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Der Kampf gegen die Gewerkschaften, gegen die demokratisch gewählten Repräsentanten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer richtet sich gegen die Grundfesten unserer sozialen Ordnung. Weil das so ist,
Herr Kollege Benneter, Sie sind fast zwei Minuten
über Ihrer Redezeit.
- gehe ich davon aus, dass Sie in Nordrhein-Westfalen die Quittung dafür bekommen werden.
({0})
Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich persönlich finde es, um es ganz klar zu sagen, schon ein bisschen beschämend,
({0})
dass wir heute eine Aktuelle Stunde zum Thema Klassenkampf haben,
({1})
von dem ich eigentlich geglaubt hätte, dass wir ihn nach
fast 60 Jahren sozialer Marktwirtschaft überwunden hätten.
({2})
Schauen Sie, da gibt es einen Herrn Müntefering, der
von Heuschreckenschwärmen redet. Da kontert die FDP,
Gewerkschaftsfunktionäre seien die wahre Plage, und
sagt dann sofort: Wir haben natürlich nichts gegen Gewerkschaften.
({3})
Wir müssen zugeben: Verbände sind natürlich ohne
Funktionäre nicht denkbar. Selbst die FDP wäre ohne
Funktionäre nicht denkbar.
({4})
Stellen Sie sich einmal vor, wir würden sagen: Die FDP
ist eigentlich ganz nett, aber ihre Funktionäre!
({5})
Was ich damit sagen will: Ich glaube, dass uns eine
solche Debattenlage überhaupt nicht weiterbringt. Wenn
es in Deutschland eine Plage gibt, dann ist es die
Heimsuchung in unserem Land, dass über 5 Millionen
Menschen arbeitslos sind.
({6})
Das ist die wahre Plage, die wir in diesem Land haben.
Deswegen kann ich nur an alle Seiten appellieren,
keine Nebelkerzen zu werfen und sich nicht im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf auf Nebenkriegsschauplätzen auszutoben, sondern sich damit auseinander zu setzen, wie wir in unserem Land zu mehr
Beschäftigung und zu einer Politik kommen können, die
sich schlicht und ergreifend an dem Grundsatz orientiert:
Vorfahrt für Arbeitsplätze!
({7})
Das ist das Wichtigste, das wir tun müssen.
Wir alle wissen doch - ich weiß, dass dies auch in der
FDP nicht anders gesehen wird -, dass zu dieser Gesellschaft natürlich auch Gewerkschaften gehören, und zwar
starke.
({8})
Die Gewerkschaften haben sehr viel mit dem Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland zu tun.
({9})
Das wird in unserer Verfassung durch die grundgesetzliche Absicherung der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie festgeschrieben und von niemandem in diesem
Hause infrage gestellt.
({10})
An die Adresse der SPD gerichtet - denn in Nordrhein-Westfalen wird viel erzählt -: Dies wird auch nicht
von einer CDU/FDP-Regierung - weder in NordrheinWestfalen noch auf Bundesebene - infrage gestellt; das
ist doch völlig klar.
({11})
Auch eine CDU/FDP-Regierung weiß, dass die soziale
Partnerschaft in unserem Land ihren Ausdruck in der Tarifautonomie, der Mitbestimmung und im Betriebsverfassungsgesetz findet. Dies steht im Grundsatz für niemanden infrage. Deswegen sollten Sie mit dieser
Debatte aufhören.
Wir haben schon das Problem, dass sich Gewerkschaftsfunktionäre, wenn sie auf großen Gewerkschaftsveranstaltungen mit Massenmedien kommunizieren, anders artikulieren, als es vor Ort gehandhabt wird.
({12})
In Nordrhein-Westfalen gibt es doch ganze Gebiete, in
denen die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie in
der Realität nicht mehr vorhanden ist und wir uns
aufgrund des Konkurrenzdrucks mächtig in Richtung
40-Stunden-Woche bewegen. Die Wahrheit ist - das
habe ich auch in einem Artikel für die „Wirtschaftswoche“ so geschrieben -, dass die Gewerkschaften erheblich an Glaubwürdigkeit gewännen, wenn es zwischen
den Reden der Funktionäre und dem Handeln vor Ort
nicht einen so großen Unterschied gäbe.
({13})
Ich gehöre seit 30 Jahren der IG Metall an. Ich sage
Ihnen eines: Für das Titelblatt der IG-Metall-Mitgliederzeitschrift in dieser Woche schäme ich mich.
({14})
Ein solches Titelblatt ist nicht Stil einer normalen politischen Artikulation. Solche Titelblätter hat es zu ganz anderen Zeiten gegeben, die der Grund waren, warum wir
vor einigen Tagen den 60. Jahrestag des Endes einer
Diktatur gefeiert haben.
({15})
- Das ist schon wahr und damit muss man auch umgehen.
Ich sage Ihnen: Ich schäme mich dafür, dass ein solches Titelblatt entworfen, vervielfältigt und unter die
Leute gebracht worden ist, und das finanziert durch Gewerkschaftsgelder. Das ist nicht in Ordnung.
({16})
Ich glaube - damit will ich dann auch schließen -,
dass es mehr Glaubwürdigkeit gäbe, wenn das Handeln
und die Reden der Gewerkschaftsfunktionäre mehr zusammenpassen würden und wenn die Funktionäre zu
dem stünden, was vor Ort vereinbart worden ist. Dann
würden sie an Attraktivität gewinnen
({17})
und so manche Debatte über die Tarifautonomie würde
in diesem Hause anders geführt, als sie zurzeit geführt
wird.
Schönen Dank.
({18})
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht, wer oder was in Deutschland die wahre Plage ist.
Ich weiß nur, was hier eine Plage ist: die permanente Absenkung des Niveaus der politischen Debatte durch Sie,
Herr Westerwelle,
({0})
dies weniger wegen Ihrer aggressiv-vulgären Rhetorik,
sondern wegen des ideologischen Zerrbilds, das hinter
dieser Wortwahl steckt. Sie vermitteln das Zerrbild: Es
gibt die treue Belegschaft und den braven Betriebsrat,
die sich nach nichts anderem sehnen als nach Lohn- und
Urlaubsverzicht. Auf der anderen Seite steht der finstere
Funktionär der Gewerkschaft, der auf die Einhaltung der
Flächentarifverträge pocht und die Unternehmen zu Entlassungen zwingt.
({1})
Diese ideologische Konstruktion entspricht erstens nicht
der Realität und ist zweitens ökonomischer Unfug.
({2})
Erstens. Innerhalb des Systems der Flächentarifverträge - das haben Sie gerade auch gesagt, Herr
Laumann - existiert eine Vielfalt von abweichenden Lösungen. Sie wissen, dass es Sanierungstarifverträge, Beschäftigungssicherungsverträge, Öffnungsklauseln, Revisionsklauseln und die Pforzheimer Lösung vom
Februar 2004 gibt. All dies wirkt wie ein Ventil, über das
der Druck von Tarifnormen entweichen kann, wenn die
Tarifverträge nicht der wirtschaftlichen Lage der Betriebe entsprechen. Ich weiß nicht, wie oft wir von diesem Pult aus in letzter Zeit Karstadt und Opel als Beispiele angeführt haben, um darzustellen, wozu
Gewerkschaften bereit und willens sind, wenn es die
Lage der Unternehmen erfordert. Man fragt sich schon,
woran es liegt, dass Sie diese Realität nicht zur Kenntnis
nehmen. Vielleicht nehmen Sie ein geheimes Medikament zu sich, das zu selektivem Gedächtnisschwund
oder dergleichen führt.
({3})
Zweitens: zur ökonomischen Wirklichkeit. Gerade
aus Unternehmersicht bietet ein Flächentarifvertrag mit
flexiblen Lösungen unschätzbare Vorteile. In Zeiten, in
denen die Zahl der Risikoquellen ständig wächst - Rohstoffpreise, Kapitalbeschaffung unter Basel II, Innovationswettbewerb -, wollen die Unternehmen zumindest
auf der Seite der Lohnkosten Sicherheit und Verlässlichkeit, Sicherheit und Planbarkeit haben. Das betrifft auch
die Mittelständler. Das wird von diesen Unternehmern
- fragen Sie sie einmal - nicht bestritten. Planbarkeit ist
für Unternehmen nicht nur auf der betrieblichen Ebene
von Bedeutung. In diesem Falle könnte man ja sagen,
dass das unter Umständen auch ein Firmentarifvertrag
erfüllen könnte. Aber für die Branchenstabilität einer
vernetzten Wirtschaft sind der Flächentarifvertrag und
funktionierende Gewerkschaften enorm wichtig.
Jetzt zitiere ich Hans Werner Busch, den Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall:
In einem weit verzweigten Netz von Lieferbeziehungen, wie es die deutsche Industrie darstellt, ist
die ökonomische Friedenssicherung besonders
wertvoll. Ein Mehrfaches an Kapitalbindung und
Zinskosten wäre nämlich fällig, wenn beispielsweise die Automobilhersteller zu einer Lagerhaltung gezwungen würden, die das Risiko eines
zweiwöchigen Arbeitskampfes ihrer Zulieferer ausschalten sollte.
({4})
- Genau, das ist jetzt auf der Autobahn.
({5})
Würden die Zulieferer allerdings unkontrolliert streiken
- gäbe es also keine Friedenspflicht -, müsste wiederum
von der Autobahn in die Betriebe verlagert werden.
Dann müssten Lager geschaffen werden und dann wäre
eine zweiwöchige Lagerhaltung notwendig.
({6})
Sie haben keine Ahnung von der betriebswirtschaftlichen Realität und den Abläufen.
Ein letztes ökonomisches Argument:
({7})
- Hören Sie lieber zu, statt so zu brüllen, Herr Niebel.
Das können Sie. ({8})
Die Eingrenzung des Lohnwettbewerbs und die Verringerung der Transaktionskosten durch Verträge schätzen
Unternehmen sehr. Wenn man sich das einmal ansieht,
stellt man fest: Selbst Firmen, die nicht tarifgebunden
sind, sondern Haus- und Firmentarifverträge abschließen, orientieren sich an den Flächentarifverträgen. Diese
Unternehmer haben nämlich gar keine Lust, in jedem individuellen Fall eine Auseinandersetzung im Betrieb zu
führen und den Betriebsfrieden zu riskieren, sondern sie
nehmen den Tarifvertrag als Mustertarifvertrag und weichen lediglich in dem einen oder anderen Punkt davon
ab.
Je differenzierter die tarifliche Wirklichkeit wird - je
mehr Alterssicherungsmodelle und Langzeitkonten eingebaut werden und je mehr Qualifizierung Bestandteil
von Tarifverträgen ist, wie es in der Chemieindustrie der
Fall ist -, desto wichtiger sind kompetente Verhandlungspartner, die das vernünftig abwickeln können; das
sind die Gewerkschaften. Vor diesem Hintergrund sollte
es uns eher Sorgen machen, dass der Organisationsgrad
sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite
sinkt.
Kurzum, Herr Westerwelle, kann das Fazit dieser
kleinen Reise in die Wirklichkeit nur lauten: Wer behauptet, dass Gewerkschaften in Deutschland die wahre
Plage sind, kennt weder die betriebliche Realität noch
die Erfolgsfaktoren des Standorts Deutschland.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erstens bedanken wir Freien Demokraten uns bei
Ihnen, der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion,
dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben;
({0})
das war eine kluge Entscheidung. Und: Herr Kollege
Benneter, in Ihrer Einführung in diese Debatte haben Sie
uns in weiten Teilen aus dem Herzen gesprochen.
({1})
Zweitens. Herr Kollege Kurth, wir bedanken uns
außerordentlich bei Ihnen, dass Sie uns aus der betrieblichen Praxis des wahren Arbeitslebens berichtet haben.
({2})
Daraufhin habe ich gemeinsam mit dem Kollegen
Laumann in Ihrem im Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages veröffentlichten Lebenslauf nachgeschaut und festgestellt: Das Einzige, was Sie bisher mit
dem normalen Arbeitsleben zu tun hatten, war Ihre Zivildiensttätigkeit beim Caritasverband.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir an dieser Stelle zur Sache. Wir halten es für einen unmöglichen Vorgang, dass die Gewerkschaften in ihrer Politik
zunehmend eine funktionärische Sicht einnehmen. Damit stehen wir gar nicht allein. Vielmehr ist das auch die
Meinung der Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Nur noch 23 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind überhaupt in Gewerkschaften organisiert.
({4})
Allein in den letzten Jahren sind über 800 000 Mitglieder aus den Gewerkschaften ausgetreten.
({5})
Genau darum geht es. Wir als Freidemokraten wollen
starke Gewerkschaften. Aber wir sagen: Gewerkschaften
sind dann stark, wenn sie die Interessen der Arbeitnehmer, nicht aber dann, wenn sie die Interessen ihrer Funktionäre vertreten.
({6})
Ich nenne Ihnen zwei aktuelle Beispiele. Vor einiger
Zeit haben wir hier im Deutschen Bundestag eine Debatte darüber geführt, dass der Streik für die 35-StundenWoche in Ostdeutschland, in Sachsen und Brandenburg,
von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären vom
Zaun gebrochen wurde. Dieser Streik für die 35-Stunden-Woche - von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären ersonnen; mit westdeutschen Bussen wurden die
Streikposten herüber nach Sachsen gefahren - ist nicht
an Arbeitgebern zusammengebrochen. Er ist zusammengebrochen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
die es sich nicht länger bieten lassen wollten, so bevormundet zu werden - zulasten ihrer eigenen Arbeitsplätze.
({7})
Dasselbe haben wir derzeit wieder: Im sicheren öffentlichen Dienst - wo kein Arbeitsplatzrisiko besteht
wie für Millionen andere - holt Verdis grüner Chef
Bsirske jetzt wegen 18 Minuten längerer Arbeitszeit die
Streikkeule heraus. Das ist eine Politik, die die Arbeitslosigkeit in Deutschland vergrößert und die wir Freien
Demokraten immer und immer wieder kritisieren werden, weil wir Arbeitnehmerinteressen wahrnehmen und
es für falsch halten, wenn das nur noch funktionärisch
gesehen wird.
({8})
Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, kommen wir zu den konkreten Dingen: Wir wollen nicht anstelle von Gewerkschaften mehr entscheiden, sondern
wir wollen, dass die Arbeitnehmer selbst mehr entscheiden können. Das ist unsere Politik: Wenn 75 Prozent
einer Belegschaft sich in einer geheimen Abstimmung
darauf verständigen, vom Flächentarifvertrag abzuweichen, dann soll das auch gelten, ohne dass ein Funktionär - sei es auf der Gewerkschaftsseite, sei es auf der Arbeitgeberseite - dagegen ein Veto einlegen kann. Nicht
mehr wollen wir, aber auch nicht weniger.
({9})
Wir halten es für eine Groteske unserer Zeit, dass ausgerechnet der stellvertretende Aufsichtsratschef der Lufthansa, Herr Bsirske, den Streik gegen das Unternehmen
organisiert, für dessen Wohl er in dieser Funktion eigentlich arbeiten sollte.
({10})
Das akzeptieren wir nicht länger und das wird von uns,
wenn wir Regierungsverantwortung bekommen, in die
Verhandlungen eingebracht werden, weil es notwendig
ist, die Arbeitnehmerinteressen und die Interessen von
Betriebsräten und von betrieblichen Bündnissen zu stärken.
Das ist die Realität heute: Diese IG-Metall-Zeitschrift, die ich Ihnen hier zeige, wird von Herrn Peters
offiziell herausgegeben - Herr Müntefering ist Mitglied
der IG Metall -; die Ausgabe ist von diesem Monat, vom
Mai. Investoren werden als Aussauger und Blutsauger,
mit Goldzahn und mit einem Hut in den Farben der amerikanischen Flagge dargestellt.
({11})
Wir Liberale sind gegen jede Form von Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie von links kommt, meine sehr geehrten Damen und Herren!
({12})
Das schadet unseren wirtschaftlichen Interessen massiv;
auch darauf muss hingewiesen werden. Das ist keine Petitesse, das ist ein kapitaler Vorgang, der Arbeitsplätze in
Deutschland kostet, weil Investoren wegbleiben. Denn
dieses Bild ist nicht nur in Deutschland erschienen, sondern es ist millionenfach in der Weltpresse verbreitet
worden.
Das, was ich Ihnen nun zeige, ist die neue Ausgabe
von „BusinessWeek“, einer der wichtigsten international
erscheinenden Wirtschaftszeitungen, allgemein in diesem Hause bekannt. Allein über 1 Million Mal wird
diese Zeitschrift in den Vereinigten Staaten von Amerika
verkauft. Darin finden Sie das Titelblatt mit der Heuschrecke abgedruckt. Wir werden „Bloodsuckers“ genannt; das ist es, worum es geht. Dazu sage ich: Es ist
ein Fehler, wenn man die Investoren beschimpft, die hier
Arbeitsplätze durch ihre Investitionen schaffen sollen.
Wir wollen eine Politik zugunsten von Arbeitnehmern,
zugunsten von betrieblichen Bündnissen. Deswegen sind
wir für weniger funktionärische Fremdbestimmung
durch die Gewerkschaftsfunktionäre und für mehr
Selbstbestimmung in den Betrieben; und das werden wir
auch durchsetzen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ditmar Staffelt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einige kurze Vorbemerkungen. Herr
Kollege Westerwelle, ich finde, es ist kein guter Stil,
wenn man einen Kollegen hier auf diese Weise diffamiert, der im Übrigen - auch ich habe jetzt einmal im
Volkshandbuch nachgeschaut - sehr viel mehr in seinem
Berufsleben getan hat, als Sie ihm hier mit seinem Zivildienst beim Caritasverband zugebilligt haben.
({0})
Wissen Sie, wenn wir auf dieser Ebene miteinander diskutieren, dann machen wir das, was das Parlament ausmacht, gemeinsam kaputt. Das sollten wir wirklich vermeiden.
({1})
Punkt zwei. Herr Westerwelle, Sie haben mit der Zuspitzung Ihrer hier ausgebreiteten Position sicherlich
dazu beigetragen - das war ja wohl auch beabsichtigt -,
eine Diskussion über Sinn und Unsinn von Gewerkschaften in unserem Lande loszutreten.
({2})
- Oh ja, so ist es von den Medien übrigens auch allenthalben verstanden worden. - Ich finde, dass wir auch
hier nur mit differenzierten Bildern weiterkommen.
Ihr Fraktionsvorsitzender in Schleswig-Holstein hat
in der Chemnitzer „Freien Presse“ Ihre Äußerungen ja
nicht umsonst als „postpubertäre Äußerungen“ bezeichnet.
({3})
Im Übrigen ist in „Spiegel Online“ nachzulesen, er habe
gesagt, Westerwelle habe der FDP keinen Gefallen getan. Die Debatte um den Arbeitsmarkt und die Zukunft
der sozialen Sicherungssysteme müsse mit dem Kopf
und nicht mit dem Kehlkopf gewonnen werden. - Auch
da hat der Mann in Schleswig-Holstein absolut Recht.
({4})
Weil ich Ihre Parteitagsrede verfolgt habe,
({5})
erinnere ich mich darüber hinaus daran, dass der von uns
allen sehr geschätzte Freidemokrat Burkhard Hirsch auf
Ihre Intervention, die er eben auch so versteht wie viele
im Land, klar gesagt hat: Wir brauchen, um den sozialen
Frieden in diesem Lande aufrechtzuerhalten und die soziale Marktwirtschaft auszubauen, starke Gewerkschaften. - Ich höre mit Befriedigung, dass sich viele in diesem Hause wieder auf diese Basis zurückbegeben haben.
Insofern sind wir durch diese Debatte beim Selbstverständnis vielleicht schon ein Stückchen vorangekommen.
Ich sage darüber hinaus, dass der Vorsitzende der
IG Bergbau, Chemie, Energie, Herr Schmoldt, ja nicht
umsonst gesagt hat: Mit solchen diffamierenden Äußerungen schaden Sie der demokratischen Kultur in
unserem Lande. Wir müssen einfach aufpassen, dass wir
mit derartig platten Argumentationen und Zuspitzungen
am Ende nicht tatsächlich etwas heraufbeschwören, was
wir nicht gebrauchen können, nämlich die Verhärtung
der Fronten gerade im Bereich von Wirtschaft und Arbeitsmarkt, obwohl wir eigentlich das Aufeinanderzugehen als das Konzept verstehen, das wir brauchen, um
diesen Standort Deutschland zu modernisieren.
({6})
Es gibt viele Beispiele - ich denke, wenn Sie ehrlich
sind, dann müssen Sie dem auch Ihre Zustimmung
geben -, die wir hier anführen könnten, bei denen Gewerkschaften wesentlich dazu beigetragen haben, die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessern zu helfen. Im Bereich der Luft- und Raumfahrt hatten wir
kürzlich N3 Engine Overhaul Services, eine Investition
von Rolls-Royce Deutschland und Lufthansa Technik.
Wettbewerber war ein Standort in Tschechien. Es ist
ganz ausdrücklich den Gewerkschaften zu danken, die
sich auf langfristige Vereinbarungen mit den Investoren
verständigt haben, dass die Entscheidung zur Investition
nicht zugunsten von Tschechien, sondern eben von Ostdeutschland getroffen wurde. Dies muss man bei solchen
Debatten doch auch einmal sagen. Das waren Entscheidungen von so genannten Gewerkschaftsfunktionären, in
diesem Falle der IG Metall.
({7})
Nichts anderes hat sich zum Beispiel auch bei Opel
ereignet. Der gesamte Zukunftsvertrag ist am Ende neben den Betriebsräten auch von den hauptamtlichen Mitstreitern der IG Metall gestaltet worden. Ich denke, es
hat eine tragfähige Lösung gegeben, die gezeigt hat, dass
die Gewerkschaften sehr wohl verstanden haben, dass
wir unsere Tarifpolitik in diesem Lande nicht mehr sozusagen in einem abgeschotteten Raum miteinander gestalten können, sondern dass wir heute in globalen Zusammenhängen denken und unsere Unternehmen auch durch
eine sinnvolle Politik der Gewerkschaften selbst wettbewerbsfähig im globalen Sinne halten müssen. Das muss
doch unser gemeinsames Bestreben sein. So verstehe ich
jedenfalls viele in den Gewerkschaften.
Meine Damen und Herren, im Übrigen zeigen doch
gerade auch die Entwicklungen in der Tarif- und Lohnpolitik, wo wir stehen. Es gibt doch nicht einen aus irgendeinem wirtschaftswissenschaftlichen Institut, der
etwa den Gewerkschaften vorwerfen würde, sie hätten
an der Tariffront und an der Lohnpolitikfront Fehler gemacht. Nein, wir sind hier auf einem außerordentlich
niedrigen Niveau. Als Folge dessen sind wir bei den
Lohnstückkosten hoch wettbewerbsfähig. Auch hier ist
ein Stück Verantwortung von den Gewerkschaften und
den Arbeitgebern gemeinsam getragen worden.
({8})
Das ist der Weg, der in unserem Lande in die richtige
Richtung führt.
An dieser Stelle weise ich auf die Vereinbarungen
ganz moderner Art hin, die letztendlich schwere Einschnitte in den Besitzstand der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer gebracht haben. Dies gilt etwa für Siemens, Daimler-Chrysler, Karstadt-Quelle, Opel und
Volkswagen.
Meine Damen und Herren, niemand wird sagen, die
Gewerkschaften hätten einen Heiligenschein. Auch dort
werden mit dem einen und anderen in manchen Fällen
wichtige Diskussionen zu führen sein; das ist gar keine
Frage. Aber viele in den Gewerkschaften haben verstanden, dass die Zeiten hart und Bewegung und Flexibilität
gefordert sind. Dies zeigen übrigens auch die Arbeitszeitmodelle: 50 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in unserem Lande sind in einem System
flexibler Arbeitszeiten beschäftigt, 40 Prozent arbeiten
auf der Basis von Arbeitszeitkonten.
Auch diese Schritte in die richtige Richtung zeigen,
dass das System in Ordnung ist. Wir müssen es weiterentwickeln, weiter modernisieren und weiter an die Herausforderungen anpassen. Dann werden wir unsere
volkswirtschaftlichen Daten verbessern können. Dies
wird sich dann auch an der Front auswirken, die Sie,
Herr Laumann, zu Recht benannt haben: beim Abbau
von Arbeitslosigkeit und der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Hier sitzen wir am Ende alle wieder in einem
Boot.
Ich persönlich - dies darf man als frei gewählter Abgeordneter einmal sagen - empfinde als IG-Metall-Mitglied die vorhin gezeigte Karikatur auf der ersten Seite
der Zeitung als - ich drücke es mit aller Vorsicht aus nicht gelungen.
({9})
Auch die Gewerkschaft sollte einmal darüber nachdenken, ob uns solche Kampfpositionen wirklich weiterbringen. Mich mobilisieren sie jedenfalls nicht; eher ist
das Gegenteil der Fall. Vor diesem Hintergrund müssen
wir solche Diskussionen führen, allerdings innerhalb eines Rahmens, der uns in die Lage versetzt, miteinander
zu reden, und nicht dazu führt, dass wir sprachlos werden. Wir dürfen nicht dazu beitragen, dass eine gute Basis gemeinschaftlichen Handelns, die sich 50 Jahre lang
bewährt hat, aufgekündigt wird. Dies kann und darf
nicht Sinn einer solchen Diskussion sein.
Die Damen und Herren der FDP sollten mit ihrem
Vorsitzenden noch einmal hart ins Gericht gehen. Jedenfalls sollte er seinen sehr zugespitzten Vorwurf relativieren und ihn auf die Sachkritik zurückführen, die ihm am
Herzen liegt.
Danke.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welch eine gespenstische Debatte führen wir hier
eigentlich? Der Vorsitzende der größten Partei in
Deutschland, Müntefering, spricht von Heuschreckenplage und meint damit amerikanische und andere ausländische Investoren.
({0})
- Nein, die SPD ist in Nordrhein-Westfalen lange nicht
mehr die größte,
({1})
aber auf Bundesebene ist sie es noch.
Die IG Metall, eine der größten Gewerkschaften in
Europa und in der Welt, stellt die Amerikaner in dem Titelbild ihrer Zeitschrift als einen hässlichen Blutsauger
mit amerikanischem Hut dar.
({2})
Die FDP nennt die Gewerkschaften, die wir in unserer
sozialen Marktwirtschaft brauchen, eine Plage.
({3})
Diese Kombination ist in der Tat eine große Plage. All
das können wir nämlich nicht gebrauchen. Das ist so
überflüssig wie ein Kropf. Wir sind keine Bananenrepublik und hier muss auch nicht die Revolution ausgerufen
werden. Wir müssen keine alten Lagerkämpfe auffrischen, sondern wir müssen Lösungen für seit langem bekannte Probleme anbieten. Genau das passiert aber nicht.
Zur FDP kann ich nur eines zur Entschuldigung sagen: Sie hat als Echo auf das reagiert, was Müntefering
erklärt hat. Aber wer auf ein falsches Signal Echo spielt,
vergrößert das Problem, Herr Westerwelle. Besser ist,
man lässt es sein und kehrt zur Sacharbeit zurück. Die
Union ist bei dieser künstlichen Art, die Dinge so hochzutreiben, dass sich die Menschen verwundert die Augen
reiben und sich fragen, in welchem Land sie eigentlich
leben, nicht dabei und lässt sich dafür in keiner Weise in
die Pflicht nehmen. Wir lehnen diese Art von Diskussion
als Ersatz zur Lösung schwerwiegender volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Probleme entschieden ab.
({4})
Ich empfehle allen Dreien: Entschuldigen Sie sich für
diese Art der Diskussion, sodass wir wieder zur sachlichen Arbeit zurückkommen können. Das wäre in Ordnung und ein tolles Zeichen. 5 Millionen Menschen suchen eine Arbeit und wir führen solche Debatten! Diese
Menschen müssen sich doch wirklich auf den Arm genommen fühlen. Überlegen Sie einmal, ob Sie sich nicht
in einem Spitzentreffen einigen können, diese Debatte
zurückzuziehen, um zur Sachlichkeit zurückzukehren,
die dringend nötig ist.
Auch der Wahlkampf rechtfertigt das nicht. Sie stehen
in Nordrhein-Westfalen mit dem Rücken an der Wand.
Das, was Müntefering losgetreten hat, ist erkennbar ein
wirklicher Rohrkrepierer und hat ihn selber beschmutzt.
({5})
- Nein, Ihre Umfragewerte für die Wahl in NordrheinWestfalen sind gerade gestern noch einmal um
1 Prozentpunkt gesunken. Sie sind weder stabil geblieben noch haben sie sich erhöht. Das ist ein Rohrkrepierer. Schade um der Sache willen!
Wissen Sie, wo die Probleme wirklich liegen?
({6})
- Ich kann es auch noch vertiefen. - Ich kann Ihnen vorlesen, was Ihre Ministerien in Ihrer Regierungszeit an so
genannte Aussaugerunternehmen verkauft haben.
({7})
Auf diesem Gebiet sind Sie Weltklasse, Spitze. Den ersten großen Geschäftsabschluss, der mit Apax gemacht
worden ist, hat Herr Müntefering persönlich unterschrieben.
({8})
Es geht um Milliardenunternehmen. Sie haben sogar
Pensionsansprüche der Post an diese angeblich so unsozialen und unvernünftigen internationalen Finanzierungsgruppen verkauft. Machen Sie damit Schluss! Das
hilft nicht weiter. Das Problem ist ein anderes. Wir brauchen Antworten auf die Frage nach der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit. Sie machen mit dieser Art von verbaler
Aufrüstung Folgendes: Die Investoren, die wir nach
Deutschland holen wollen, schrecken Sie ab. Die Investoren, die wir in Deutschland haben, vertreiben Sie zusätzlich. Es geht schief, wenn Sie so weitermachen.
Was ist nötig? Wir brauchen Politik, die zum Beispiel
den Verkaufsdruck vermindert. Häufig wird ja aus der
Not heraus verkauft. Was machen Sie diese Woche, Herr
Wend? Wir wollten morgen über Steuersenkungen im
Unternehmensbereich diskutieren.
({9})
- Wir sind gerade beim Jobgipfel; das ist nämlich die
Antwort. Wir wollten die Körperschaftsteuer senken.
Das können wir morgen nicht diskutieren. Ich befürchte
Schlimmes nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen.
({10})
Sie haben heute nicht umsonst gewarnt. Ich vermute,
dass Sie selber vermuten, dass in Ihren eigenen Reihen
versucht wird, diese Sache gänzlich zu stoppen.
({11})
Ich will ein weiteres Beispiel nennen, die Erbschaftsteuerreform. Wenn wir bei der Erbschaftsteuerreform
nicht die Probleme lösen, die wir uns vorgenommen haben und die verabredet waren, bleibt die Frage: Was passiert dann? Bevor die Erbschaftsteuer gezahlt wird, wird
das Unternehmen an solche Institutionen verkauft, die
Sie in Deutschland nicht haben wollen.
({12})
- Natürlich, wir haben den Vorschlag doch eingebracht.
Sie haben doch den bayerischen Gesetzentwurf abgeschrieben. Wir sind mit Edmund Stoiber völlig einer
Meinung.
({13})
- Sie haben das gleiche Problem wie ich an dieser Stelle.
Das Ganze muss solide finanziert sein. Deswegen haben
Sie wohl die Diskussion über diese Reform zum zweiten
Mal verschoben.
({14})
Machen wir eine konkrete Politik zur Verhinderung
eines Verkaufs von Unternehmen in Deutschland. Am
besten ist es, die Unternehmen bleiben im Familienbesitz. Am besten ist, die Arbeitsplätze bleiben hier. Machen wir eine Modernisierung unseres Landes und rüsten
wir verbal ab! Alles andere ist nur schädlich und vergiftet das Klima. Unsere Probleme in Deutschland sind
wahrlich zu groß, als dass wir auf solche Nebenkriegsschauplätze, die peinlich sind, ausweichen dürfen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Petra Selg von Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Westerwelle, Ausführungen über Ihre
beruflichen oder auch gewerkschaftlichen Berührungspunkte oder Ihr Engagement möchte ich mir ersparen.
Aber die Art und Weise, wie Sie die Debatte hier geführt
haben, nämlich polemisch, persönlich verletzend und
ohne ein Wort zur Sache, spricht für sich.
({0})
Herr Westerwelle, Sie bezeichnen die Gewerkschaften und damit auch Menschen wie mich - ich bin seit 25
Jahren bei Verdi - als wahre Plage, als Totengräber des
deutschen Wohlstands und als Verräter der Arbeiterklasse.
({1})
Das ist ein abenteuerliches Kraftsprüchesammelsurium,
das Sie uns hier anbieten, das mich zutiefst erschreckt.
Sie haben vorhin auch gesagt, dass es im öffentlichen
Dienst Arbeitsplatzsicherheit gibt. Dazu möchte ich Ihnen meine Erfahrungen nennen. Ich habe vor über drei
Jahren ein Krankenhaus schließen und einen Sozialplan
erstellen müssen. Das war die bitterste Erfahrung in meinem beruflichen Leben. 120 Menschen waren von Arbeitslosigkeit bedroht und ohne Verdi hätten wir keinen
vernünftigen Sozialplan zustande gebracht.
({2})
Sie betonen, wo Sie gehen und stehen, die Bürgerrechte. Sie prügeln auf uns, auf Rot-Grün, ein und behaupten, dass wir diese einschränken wollten.
({3})
Wie verträgt sich denn das mit Ihrer Forderung, die Parität in der betrieblichen Mitbestimmung abzuschaffen
und zu einer Drittelparität zu kommen?
({4})
Wie verträgt sich das mit Ihrer Forderung nach betrieblichen Bündnissen, von denen Sie eigentlich wissen müssten, dass es sie längst gibt? Ich frage Sie auch: Enden
denn die Bürgerrechte für Sie an den Betriebstoren? Die
Gewerkschaften, sehr geehrter Herr Westerwelle, sind
mit der verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie
zutiefst Ausdruck der Wahrnehmung dieser Bürgerrechte. Ihre Vorschläge aber sprechen eben diesen Bürgerrechten Hohn. Seien Sie lieber so ehrlich und sagen
Sie, dass Sie nur auf sozialen Kahlschlag aus sind. Bekennen Sie sich dazu, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und somit auch ihre Interessenvertreterinnen
und Interessenvertreter für Sie keine vollwertigen Bürgerinnen und Bürger sind.
({5})
Ein anderes Thema, nämlich dass sich auch die Gewerkschaften wandeln müssen, hat Herr Laumann vorhin angesprochen. Ich bestreite das gar nicht. Kein Gewerkschafter wird das heute mehr bestreiten. Viele
haben es bereits getan. Deshalb, sehr geehrter Herr
Westerwelle, sollten Sie sehr vorsichtig sein, was Ihre
Ignoranz und Arroganz gegenüber den Leistungen der
Gewerkschaften betrifft.
({6})
Wir haben und wir brauchen weiterhin starke Gewerkschaften in Deutschland. Sie sollten nicht vergessen,
welch ungeheuren Beitrag die Gewerkschaften beim
Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute geleistet haben: die geordnete friedliche Organisation der
Arbeiterschaft, gerade eben die Vermeidung einer zersplitterten Gewerkschaftsstruktur, wie wir sie vor der faschistischen Diktatur in Deutschland hatten, die Moderation des industriellen Wandels zum Beispiel im
Ruhrgebiet oder die Vermeidung von Streiks und möglichen Unruhen. Der Abschluss in der Stahlindustrie zeigt
dies.
Ihr eigener Parteifreund Burkhard Hirsch hat Sie auf
dem FDP-Parteitag vor einem allzu scharfen Ton gegenüber den Gewerkschaften gewarnt und deren unverzichtbares Verdienst für den sozialen Frieden Deutschlands
ausdrücklich gewürdigt. All das ignorieren Sie nun und
tun so, als wäre in Deutschland alles ohne diese „lästigen“ Gewerkschaften besser. Das zeigt einmal mehr,
dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden.
({7})
- Lieber Herr Niebel, was heißt es denn dann, wenn Sie
sagen: Das hat er nie gesagt, dass die Gewerkschaften
eine wahre Plage, Totengräber des deutschen Wohlstands und Verräter der Arbeiterklasse sind? Hören Sie
bitte einmal zu, was Ihr Vorsitzender sagt, und sagen Sie
nicht: Das hat er nicht gesagt.
({8})
Was glauben Sie eigentlich, wie Deutschland heute
ohne die Leistungen der Gewerkschaften aussähe? Ihre
Antworten kann ich mir denken. Das wäre ein Deutschland nach Ihrem Geschmack. Sie haben es vorhin gesagt.
Aber ich möchte es mir nicht vorstellen. Ich muss es mir
auch nicht vorstellen; denn unter Rot-Grün - da können
Sie sicher sein - wird es das nicht geben.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich muss schon zugeben: Ich habe lange mit mir
gerungen, ob ich meine Redezeit vielleicht dem Kollegen Benneter zur Verfügung stellen sollte.
({0})
Das war ein bemerkenswerter Vortrag, den wir hier gehört haben. Vielleicht kann ich meinen Vorsitzenden davon überzeugen, dass wir diese Rede als Wahlwerbespot
für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen bringen.
({1})
Nur unterscheidet die Aktuelle Stunde, die Sie hier beantragt haben, natürlich leider nicht zwischen Ursache und
Wirkung.
({2})
- Das hier ist aus dem Inhaltsverzeichnis des „Focus“
dieser Woche.
({3})
Die Frage nach Ursache und Wirkung hat etwas damit zu
tun, wer zuerst biblische Vergleiche gezogen hat. Es war
Ihr Vorsitzender, der Investoren in diesem Land mit Tieren verglichen hat.
({4})
- Die Heuschrecken sind hier aus künstlerischen Gründen rot. Eigentlich wissen wir: Heuschrecken sind grün.
Das ist keine Frage.
({5})
Es war Ihr Vorsitzender, der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der eine Debatte vom Zaun gebrochen, in der man
auf den groben Klotz auch mit einem groben Keil reagieren muss, weil dieses Land sonst das Problem von fast
5 Millionen registrierten Arbeitslosen niemals überwindet.
({6})
Ihre Parteizeitung „Vorwärts“, Herr Benneter - ich
glaube, Sie sind der Herausgeber -, titelt: „Nackte Profit-Maximierung gefährdet die Demokratie.“
({7})
Das Bild aus der Zeitschrift der IG Metall ist hinreichend bekannt und ausreichend verwendet worden. Sie
müssen sich vorwerfen lassen, dass Sie unhistorisch und
geschichtslos sind. Was wäre aus der Bundesrepublik
Deutschland geworden, wenn vor 60 Jahren nicht amerikanisches Investitionskapital in dieses Land gekommen
wäre?
({8})
Heute werden noch gerade einmal knapp 20 Prozent
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Gewerkschaften vertreten. Die Gewerkschaftsfunktionäre tun allerdings so, als seien sie in der Lage und legitimiert, die
Richtlinien der Politik zu bestimmen. Wir wissen: Das
müsste eigentlich der Herr Bundeskanzler tun; aber offenkundig regiert der ja schon gar nicht mehr.
Gewerkschaftsfunktionäre drangsalieren den deutschen Mittelstand mit immer neuen Ideen. Ich möchte
hier als Beispiel das Gesetz zur Ausbildungsplatzumlage
nennen, das immer noch in der Schublade liegt und in
dem eine Ausbildungsquote von 6 Prozent festgeschrieben ist.
({9})
Beim DGB betrug die Ausbildungsquote im letzten Jahr
0,3 Prozent, bei Verdi 0,4 Prozent, bei der IG Metall
0,9 Prozent. So viel zu Anspruch und Wirklichkeit.
({10})
Nun wollen wir alle nicht, dass unsere jungen Menschen nur bei Gewerkschaften ausgebildet werden. Aber
wenn Funktionäre eine gewisse Messlatte vorgeben,
dann müssen sie sich auch selbst danach richten. Wir alle
wissen, dass gerade die Gewerkschaftsfunktionäre nicht
die besten Arbeitgeber sind. Was bei Verdi im Zuge des
Personalabbaus passiert, wird von den Mitgliedern der
Gewerkschaft, die keinen eigenen Betriebsrat haben dürfen, weil sie sich ja quasi selbst vertreten, zu Recht massiv kritisiert.
Es kann nicht sein, dass Sie so tun, als würden betriebliche Bündnisse für Arbeit längst bestehen.
({11})
Es gibt Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Ich kann Ihnen auch erklären, weshalb die Funktionäre der Arbeitgeberverbände und die der Gewerkschaften so sehr gegen eine gesetzliche Regelung sind: weil dadurch die
Verbändemacht eingeschränkt werden würde zugunsten
der Möglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb.
({12})
Die Öffnungsklauseln in Tarifverträgen greifen nämlich
immer nur dann, wenn die Funktionäre der einen oder
der anderen Seite zustimmen. Überall dort, wo Betriebsrätinnen und Betriebsräte auf der einen Seite und Unternehmerinnen und Unternehmer oder die Geschäftsleitung auf der anderen Seite in freier Selbstbestimmung, in
freier und geheimer Wahl mit 75 Prozent der Belegschaft
etwas anderes entscheiden, als im Flächentarifvertrag
steht, kommt die Keule des Verbändestaates dazwischen,
um die Verbändemacht zu sichern.
({13})
Wir haben das mehrfach gesehen, zum Beispiel bei
Viessmann und bei Burda. Mit der Fahne der Tarifautonomie in der Hand sind die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit gegangen, weil einige Gewerkschaftsfunktionäre verhindert haben, die Betriebe zukunftssicher zu
gestalten.
({14})
Wir müssen in diesem Land dafür sorgen, dass es
gute, funktionsfähige Gewerkschaften gibt. Kein
Mensch, ganz besonders nicht in der FDP, möchte, dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebeutet werden. Wir müssen aber verhindern, dass Funktionäre ihre
eigenen Funktionärsinteressen vertreten auf Kosten der
Menschen, deren Interessen sie eigentlich vertreten sollten.
({15})
Wenn in 29 von 30 DAX-Unternehmen Gewerkschaftsfunktionäre im Aufsichtsrat sitzen, haben die etwas mit
der wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu tun.
({16})
Spätestens dann, wenn sich der grüne Vorsitzende von
Verdi, Herr Bsirske, als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Lufthansa selbst bestreikt, müssen Sie
doch zur Kenntnis nehmen, dass hier etwas falsch läuft.
({17})
Herr Benneter hat vorhin bestimmte Formulierungen
kritisiert. Herr Benneter ist für andere Formulierungen
einmal aus der SPD ausgeschlossen worden.
({18})
Herr Benneter, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass
Ihr Parteivorsitzender Tank & Rast an Apax verkauft
hat. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Ihr Finanzminister die Bundesdruckerei an Apax verkauft hat, an eine
Firma, die auf Ihrer „Heuschrecken-Liste“ steht. Und Sie
sollten zur Kenntnis nehmen, dass Frau Schmidt die
Wohnungen der BfA ebenfalls an eine Fondsgesellschaft
verkauft hat. Seien Sie doch nicht so scheinheilig und
streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen!
({19})
Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Wenn
Multifunktionäre so tun, als seien sie in der Lage und befugt, dieses Land an sich zu reißen, dann muss es einen
geben, der sich dagegen erhebt. Das werden die Freien
Demokraten sein.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Riester.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich war nicht überrascht über das Anpöbeln des Herrn
Westerwelle gegenüber gewählten Vorsitzenden einzelner Gewerkschaften. Das stand in einer Kontinuität zu
seinen sonstigen Äußerungen. Ich glaube auch nicht,
dass sie bei den Gewerkschaften große Überraschung
ausgelöst haben.
Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass seine Äußerung große Ängste auslöst, wenn er von der Opposition
befreit sei, dann wolle er Gewerkschaftsfunktionäre entmachten. Denn die Gewerkschaftsvorsitzenden werden
in demokratischen Prozessen gewählt; sie werden nicht
vom Vorsitzenden der FDP eingesetzt. Darin sehe ich
nicht das Problem.
Das Problem liegt vielmehr in den Inhalten, die er
vertreten hat. Er hat gesagt: Wenn wir an die Macht
kommen, dann werden wir das Tarifrecht aufbrechen.
({0})
- Im „Focus“ sagt er: das Tarifrecht aufbrechen.
({1})
Was er unter „Aufbrechen“ versteht, hat er hier erläutert. Er möchte nicht, dass die letzte Entscheidung bei
den Gewerkschaften liegt, sondern dass die Vorgabe der
Geschäftsleitung in geheimer Abstimmung von den Beschäftigten akzeptiert werden muss.
Als Jurist müsste er eigentlich wissen, dass das Tarifvertragsgesetz noch vor der deutschen Verfassung geschaffen worden ist. In Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz wurde
die Koalitionsfreiheit bewusst so stark verankert,
({2})
weil man wusste, wie erpressbar Menschen in bestimmten Situationen sind.
({3})
Es kann durchaus sein, dass Ihnen in diesem Zusammenhang der allgemeine Hintergrund fehlt. Ich will Ihnen deshalb die aktuelle Situation eines großen, renommierten Unternehmens, nämlich Siemens, schildern.
({4})
- Ich rede nicht mit Ihnen, sondern ich schildere jetzt die
Situation von Siemens, einem Unternehmen, das auch
Handys fertigt. Der Anteil der Lohnkosten bei der Fertigung eines Handys schwankt inzwischen zwischen
2 Prozent und 6 Prozent der Fertigungskosten. Trotzdem
ist die Belegschaft hier erpresst worden: Bei Zugeständnissen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie bei der
Anhebung der Arbeitszeit könne die Fertigung dort weitere zwei Jahre gehalten werden. Der Belegschaft blieb
nichts anderes übrig, als sich zu fügen.
Das ist die Erpressungssituation. Wissen Sie, warum
das zurzeit geradezu tödlich ist? Wir werden morgen
über das Entsenderecht diskutieren. Dabei geht es um
die Frage, wie sich Menschen verhalten müssen, für die
es keine Tarifverträge gibt, und welche Konkurrenzsituation in unserem Land auftritt. Es geht nicht darum,
ob weitere Zuwanderung gewollt ist; wenn Ihr Vorhaben
verwirklicht wird, dann wird dies zur Basis in Deutschland.
Werfen Sie einen Blick in die Bereiche in Ostdeutschland, in denen es schwache Strukturen gibt.
({5})
- Da spricht jemand von einem „Klassenkämpfer“, der
keine Ahnung hat, dass inzwischen Menschen bereit
sind, sich für 3 bis 4 Euro zu verdingen, weil ihnen
nichts anderes übrig bleibt.
({6})
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Er erklärt, dass
die Mitbestimmung abgeschafft werden soll.
({7})
- Herr Westerwelle. Das ist im „Focus“ nachzulesen. Er
möchte, dass die Mitbestimmung abgeschafft wird.
({8})
- Das können Sie ja nachlesen. Sie müssen das nicht mit
mir diskutieren; das sind die Fakten. Ich habe in der Praxis erlebt - von dieser haben Sie wahrscheinlich keine
Ahnung -,
({9})
wie es in deutschen Aufsichtsräten zugeht, und kenne
die Kompetenz beider Seiten. Ich kann Ihnen deshalb sagen: Die dort vertretenen Gewerkschafter und Betriebsräte stehen den Vertretern, die für eine Bank oder eine
Versicherung in drei oder vier Aufsichtsräten miteinander konkurrierender Unternehmen sitzen, in der sachlichen Kompetenz in nichts nach. Sie sind insbesondere
näher an der Praxis dran.
({10})
Nun tut es mir Leid, dass Herr Westerwelle aus Zeitgründen, wie er mir gesagt hat, nicht weiter an der Debatte teilnehmen kann.
({11})
Aber ich finde, dass er sehr viel Chuzpe bewiesen hat;
denn das, was er Ihnen gesagt hat, entspricht genau dem,
was er sonst offen erklärt. Er erklärt: Wir leben im Sozialismus, über 50 Prozent Staatsquote! Vergisst er, dass
seine Partei diejenige ist, die die längste Zeit in dieser
Republik an der Regierung war, und dass die Staatsquote
1998, als die FDP aus der Regierung ausgeschieden ist,
bei 52 Prozent lag? Das sagt uns jemand, der die meiste
Zeit seines Lebens in staatlichen, mit Steuermitteln finanzierten Schulen und Hochschulen gelernt hat
({12})
und nun seit drei Legislaturperioden - finanziert mit
Steuergeld - Politikfunktionär ist.
({13})
Da verstehe ich die Menschen, die sagen: Mit vollen Hosen ist gut stinken!
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes
Singhammer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Welches ist die wahre Plage in Deutschland?
Die wahre Plage ist, dass - offiziell gemeldet - 5 Millionen Arbeitsplätze in diesem Land fehlen und dass tatsächlich 8 Millionen Arbeitsplätze benötigt werden. Die
wahre Plage ist, dass wir jeden Tag 1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland verlieren,
und zwar auch heute, am 12. Mai 2005. Die wahre Plage
in unserem Land ist, dass die rot-grüne Bundesregierung
kein Rezept findet, um diesen Untergang von Arbeitsplätzen nachhaltig zu stoppen.
Diese Aktuelle Stunde ist sicherlich überflüssig. Aber
auch in einer überflüssigen Aktuellen Stunde dürfen
Selbstverständlichkeiten gesagt werden. Selbstverständlich haben die Gewerkschaften ihren Anteil am Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland und ihrer
Geschichte. Selbstverständlich brauchen wir auch
Funktionäre, genauso wie bei jedem anderen Verband.
Selbstverständlich wollen wir ernsthaft, gut und eng zusammenarbeiten. Selbstverständlich gibt es auch Meinungsunterschiede.
Welches ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde? Sie
wollen eigentlich das enge Verhältnis zwischen den Regierungsfraktionen und dem DGB sowie ein eher distanziertes Verhältnis zu den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag demonstrieren. Nun wäre ich mir darin
nicht so ganz sicher. Ich habe den Eindruck gewonnen,
dass sich gerade die Regierungsfraktionen sehr plagen
- zumal in ihrem Verhältnis zum DGB -, als ich vor kurzem gelesen habe: DGB-Chef Sommer attackiert den
Bundeskanzler. Schröder versuche, mit einer Mischung
„aus Zuckerbrot und Peitsche Gunst und Ehre zu verteilen, Menschen unter Druck zu setzen“. So „Stern.de“
vom 24. August 2004. Oder der Chef des DGB in seiner
Rede zum 1. Mai 2005 in Mannheim: Es ist
ein Unding, dass der Vorsitzende der größten Regierungspartei … die inhumanen Auswüchse des
Ellenbogenkapitalismus beim Namen nennt und der
stellvertretende Parteivorsitzende und Wirtschaftsminister dazu lapidar erklärt, die Kritik seines Vorsitzenden habe keinerlei Auswirkungen auf das
konkrete Regierungshandeln.
({0})
Schließlich - wieder „Stern.de“ vom 24. August 2004 werde es mit ihm „keine Wahlauftritte, keine Wahlaufrufe und keine Wahlempfehlungen geben“. Denn die
SPD habe „viele Positionen geräumt und wir sind heute
schlauer als 1998 und 2002“.
Uns ist an einer guten, konstruktiven Zusammenarbeit
gelegen. Es gibt eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten. Eine davon nenne ich: Anders als Sie fordern wir
betriebliche Bündnisse für Arbeit. Diese Bündnisse sind
umstritten. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir hier
vorankommen und dass wir mehr Rechte auf die betriebliche Ebene verlagern. Sie selbst haben davon gesprochen, dass dies teilweise mit großem Erfolg geschieht.
Wir sollten übereinkommen, dass dieser Weg fortgesetzt
wird.
({1})
In den Zusammenhang mit den sieben Plagen biblischen Ausmaßes gehört die Geschichte von den sieben
fetten und den sieben mageren Jahren.
({2})
Angesichts der letzten fast sieben Jahre unter dieser rotgrünen Bundesregierung kann niemand in diesem Hohen
Hause behaupten, es seien sieben fette Jahre gewesen. Es
waren für die Arbeitnehmer sieben magere Jahre; sie haben Einkommens- und Wohlstandsverluste hinnehmen
müssen.
({3})
Wir wollen, dass für die Arbeitnehmer und für die Wirtschaft sieben fette Jahre folgen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Doris Barnett.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind in der Tat an einer Art Scheideweg. Herr
Westerwelle hat zum letzten Gefecht aufgerufen: Er will
die Arbeitnehmerschaft in Deutschland endlich so kurz
und klein schlagen, dass sie in sein Weltbild der Marktwirtschaft passt. Das ist bei ihm - nebenbei gesagt, auch
bei der CDU - die Ordnung der Freiheit.
({0})
Deshalb steht für ihn und seine Partei die Freiheit über
der Gleichheit. Die Gleichheit ist zwar im Grundgesetz
festgeschrieben; aber sie gilt für ihn eben nur vor dem
Gesetz. Nach ihm herrscht in der Wirtschaft aber die
Freiheit und wer das nicht versteht, den muss man mit
Gewalt zu seinem Glück zwingen.
Diese Beglückung soll dann - wenn die FDP je wieder in Regierungsverantwortung kommt ({1})
durch die Zerschlagung der Gewerkschaften erfolgen.
Die CDU/CSU soll da mitmachen und sie wird es wohl
auch; denn außer einem Bekenntnis zur Gewerkschaft
als solcher haben wir keine wirkliche Distanzierung zu
Westerwelles Ausfällen gehört.
({2})
Die zerschlagenen Gewerkschaften müssen nach
Westerwelles Lesart von ihren Hauptamtlichen befreit
werden, weil sie die Arbeitnehmerschaft angeblich verraten mit ihren Tarifabschlüssen, die in der Fläche gelten
und somit auch den anständigen Mittelständler vor Dumpingkonkurrenz schützen. Offensichtlich ist es der FDP
und den Arbeitgeberfunktionären lieber, die Tarifkonflikte zukünftig in die Betriebe hineinzutragen; schließlich können die Arbeitnehmer vor Ort und allein doch
viel freier entscheiden.
Die FDP ist bestimmt überzeugt, dass der einzelne
freie Betriebsrat bzw. der einzelne freie Arbeitnehmer
stark genug ist, seine berechtigten Forderungen auf den
Tisch des Arbeitgebers zu legen und sie auch durchzusetzen. Herr Westerwelle zweifelt sicherlich keine Sekunde daran, dass der Betriebsrat ebenso wie der einzelne Mitarbeiter „im global agierenden Multi“ auf
gleicher Augenhöhe mit seinem Chef verhandelt.
Nun, von ausgeprägtem Realitätssinn bleibt die FDP
in letzter Zeit sowieso verschont. Dafür hat sie das Zerschlagungssyndrom befallen. Ich erinnere nur an die
Zerschlagungsgelüste von Ihnen, Herr Niebel, bezüglich
der Bundesagentur für Arbeit.
({3})
Durch Regierungsabstinenz offensichtlich blackoutgeschädigt hat die FDP vergessen, welche Kraftanstrengungen die Gewerkschaften und ihre Repräsentanten in
den Jahren seit Kriegsende geschultert haben, um dieses
Land nach vorne und zu Wohlstand zu bringen: vom
Strukturwandel über Mehrarbeit, betriebliche Bündnisse,
Vorruhestand mit und ohne Wiederbesetzungsgarantie
bis hin zu Lohnzurückhaltung, Verzicht auf Urlaubsgeld,
Weihnachtsgeld usw., und das alles, um Arbeitsplätze zu
sichern, um Unternehmen vor der Insolvenz dank unfähiger Manager zu retten,
({4})
um den sozialen Frieden zu wahren, um als Investitionsstandort attraktiv zu bleiben und um Ausbildungs- und
Arbeitsplätze schaffen zu können.
({5})
Leider ist es aber auch wahr, dass die ganzen Anstrengungen von der anderen Tarifvertragsseite so gut wie
nicht honoriert wurden: Arbeitsplätze wurden abgebaut;
Ausbildungsplätze fallen weg bzw. werden nicht in ausreichender Anzahl angeboten; Unternehmen verlagern
den Standort wegen kurzfristig höherer Gewinne.
({6})
Für die FDP geht das wohl in Ordnung; denn schließlich haben wir Marktwirtschaft und leben in der Ordnung der Freiheit. Wer wagt, das als unsozial anzuprangern, wird als Plage in der Wertewelt der FDP
abgestempelt. Ich sage: Wer so wie Herr Westerwelle argumentiert, hat nicht nur eine verquere Wertewelt, der
hat sich selbst als regierungsunfähig und -unwürdig disqualifiziert.
({7})
Seine - angebliche - Neutralität stellt Herr
Westerwelle und mit ihm die FDP her, indem sie nicht
nur die hauptamtlichen Gewerkschafter, sondern auch
die Funktionäre der Unternehmensverbände abschaffen
wollen. Nun frage ich mich, wie zukünftig - das wurde
schon gesagt - Tarifvertragsverhandlungen zwischen
zwei Organisationen, die nur noch als leere Hüllen bestehen würden, funktionieren sollen. Gar nicht! Das ist ja
auch das Ziel. Dass das den Unternehmen wirklich nutzt,
bleibt die Behauptung von Herrn Westerwelle. Lassen
wir es dabei.
Allerdings mache ich mir schon Gedanken darüber,
welches Menschenbild und welche Menschenwürde in
die Vorstellung von Freiheit von Herrn Westerwelle gehören. Da prangert er an, dass die Gewerkschaften in den
unteren Lohngruppen prozentual bessere Lohnzuwächse
erzielt haben. Nebenbei gesagt: Den gleichen Vorwurf
gibt es in einer nicht unbedeutenden Rede vom 15. März
dieses Jahres.
({8})
In der Ordnung der Freiheit scheint der Mensch nur
als Kostenfaktor betrachtet zu werden, weil Vertragsfreiheit, Wettbewerb, offene Märkte, freie Preisbildung
wichtiger zu sein scheinen als Menschenwürde. Deshalb
passen auch die Gewerkschaften und ihre Vertreter, die
nicht nur Löhne und andere Arbeitsbedingungen bundesweit vereinbaren, nicht in dieses Bild.
({9})
Kündigungsschutz, Tarifvertragsrecht, Mitbestimmung,
Betriebsverfassung, Jugendschutz - das alles sind Störfaktoren in dieser Ordnung der Freiheit. Spätestens da
bekommt die FDP auch kräftigen Beifall von der CDU/
CSU,
({10})
die das alles schon selbst aufgeschrieben hat.
Zu Recht haben unsere Altvorderen begriffen, welch
wichtige Rolle Gewerkschaften in einer Demokratie mit
sozialer Marktwirtschaft spielen. Sie wären auch nie auf
die Idee gekommen, Gewerkschaften oder ihre Vertreter
als Verräter der Arbeitnehmerschaft zu bezeichnen; im
Gegenteil.
Lassen Sie mich zum Schluss ein Zitat bringen:
Ich halte es für sehr gefährlich, die großen Zusammenschlüsse der gesellschaftlichen Elemente als
Vermassung, als anonyme Mächte, die den einzelnen manipulieren, zu bezeichnen. Es ist das grundgesetzlich verbriefte Recht jedes Bürgers, die Vertretung seiner Interessen einer Vereinigung seiner
Wahl zu übertragen. Und das Urteil darüber, ob die
beauftragten Führer dieser Vereinigung mit ihren
Aktionen die Interessen der Mitglieder vertreten,
kann man getrost den Vertretenen überlassen.
So Bundespräsident Walter Scheel 1975.
({11})
Dem ist nichts hinzuzufügen, selbst 30 Jahre danach
nicht.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Weiß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin eigentlich an dieses Rednerpult getreten,
um den Kollegen Westerwelle in dem konkreten Punkt
der Gewerkschaftsschelte - bei ansonsten viel Übereinstimmung - maßvoll zu kritisieren. Frau Barnett, angesichts dessen, wie Sie hier als Münteferings Maschinengewehr aufgetreten sind,
({0})
die Intentionen der FDP und des Vorsitzenden der FDP
dargestellt haben und gesagt haben: „Man will die Zerschlagung der Gewerkschaften; man will die Tarifautonomie zerstören“, muss ich aber zunächst feststellen:
Das war so starker Tobak, dass es ans Verleumderische
grenzt. Was Sie ausgeführt haben, muss man wirklich
zurückweisen.
({1})
Wenn man im Interesse größerer Dezentralisierung
und Flexibilisierung, die diese Volkswirtschaft, diese
Wirtschaftsgesellschaft brauchen, betriebliche Bündnisse für Arbeit will, wenn man dafür bei Aufrechterhaltung der Schutzrechte für die Arbeitnehmerinnen und die
Arbeitnehmer und der Tarifautonomie, die wir brauchen,
gewisse Regeln will, dann legt man doch nicht die Axt
an die Grundlagen dieses Sozialstaats. Was Sie dargestellt haben, war wirklich sehr überzogen, Frau Kollegin.
Das diente nicht der Klarstellung politischer Positionen.
Das war, glaube ich, auch nicht die Absicht und nicht die
Funktion dieser Debatte.
Diese Debatte, die den Wettbewerb in der polemischen Überbietung in Sachen Heuschrecken wie eine alttestamentarische Plage nun leider auch über den Deutschen Bundestag gebracht hat, hatte nur einen einzigen
politischen Zweck, nämlich den, von der Arbeitsmarktmisere abzulenken, wie sie im Jahr sieben der SchröderRegierung, der rot-grünen Regierung, besteht.
({2})
Es war ein Ablenkungsmanöver und ein kläglich gescheitertes dazu.
Das ändert allerdings nichts daran - das sage ich bei
viel Übereinstimmung ansonsten, Herr Niebel -, dass die
Art und Weise, in der Herr Westerwelle über die Gewerkschaften gesprochen hat, nach Form, Stil und Inhalt
nicht akzeptabel war.
Ich sage noch einmal: Wir brauchen die Gewerkschaften. Alfred Dregger hat einmal gesagt: Wenn wir
sie nicht hätten, müssten wir sie erfinden. Recht hat er.
Wir brauchen starke Gewerkschaften. Ich glaube, wir
brauchen diese starken Gewerkschaften in einer europäisierten und globalisierten Welt mehr denn je. Wir brauchen sie in der offenen Gesellschaft so notwendig, wie
wir die Verbände der Wirtschaft, die Arbeitgeberverbände, brauchen. Die Gewerkschaften sollen und müssen
- das ist wohl wichtiger als jemals zuvor - die Interessen
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten - die
Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
nicht parteipolitische Interessen; das muss man allerdings manchen Gewerkschaftlern auch ins Stammbuch
schreiben.
({3})
Schauen wir uns einmal an, wie viele Streiktage wir
in Deutschland hatten: im Zeitraum von 1993 bis 2002
im Durchschnitt pro 1 000 Beschäftigte fünf Arbeitstage. Im Vergleich dazu waren es in Großbritannien
25 Arbeitstage, in den Vereinigten Staaten 45 Tage, in
Frankreich 92 Tage. Da muss man doch sagen, das Modell der entwickelten Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist gelungen. Das zeigt sich gerade
an diesen Benchmarkwerten, dass wir uns hier sehen lassen können.
({4})
Herr Staffelt hat vorhin auf Opel in meiner Heimatstadt Rüsselsheim hingewiesen. Da ist es doch nicht nur
zusammen mit den Betriebsräten - das war ein wahres
Co-Management, ein modernes Management -, sondern
auch im engstem Schulterschluss mit den Gewerkschaften gelungen, Erhebliches zur Sicherung und Schaffung
von Arbeitsplätzen beizutragen.
({5})
Das war nicht nur das Werk der Betriebsräte, sondern
auch das Werk der Gewerkschaften.
Man muss noch eines zu Herrn Westerwelle sagen:
Die Leute an der Spitze der Gewerkschaften wie Frank
Bsirske und Ursula Engelen-Kefer haben sich nicht an
die Spitze geputscht, sondern sind in ihr Amt gewählt
worden.
Gerald Weiß ({6})
({7})
Auch wenn man manche Aussagen und gewisse politische Inhalte in den Programmen der Gewerkschaften
kritisieren muss, darf es nicht dazu kommen, dass diese
Kritik in persönliche Hetze ausartet. Das gilt aber natürlich wechselseitig: im Verhältnis der Politik zu den Gewerkschaften wie auch der Gewerkschaften zur Politik.
Die Art und Weise, Frau Barnett, wie Sie eben heuschreckenartig über Herrn Westerwelle hergezogen sind,
({8})
ist nicht anders als persönliche Hetze zu bezeichnen. Das
ist nicht zu akzeptieren und nicht zu vertreten. Das muss
man wirklich sagen.
({9})
Wir sollten die persönliche Integrität und die Lauterkeit
der Motive
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!
- wechselseitig nicht infrage stellen.
Insbesondere sollten wir uns wieder um die Hauptfrage kümmern. Hauptproblem sind nicht die Heuschrecken auf dieser oder jener Seite des Arbeitsmarktes, sondern die Hauptsache ist die Bekämpfung der elenden
Arbeitslosigkeit in Deutschland. In diesem Bereich waren Sie extrem erfolglos. Diesen Misserfolg versuchen
Sie deshalb durch solche Debatten wie heute zu bemänteln.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Wend.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
Partei- und Fraktionsvorsitzender, Franz Müntefering,
wurde mehrfach angesprochen.
({0})
Ich möchte zu dieser Thematik zwei Sätze vorab sagen,
weil ich davon ausgehe, dass Sie inzwischen ein gewisses Differenzierungsvermögen besitzen. Es geht um Folgendes: Mit ihm stimme ich völlig in der Auffassung
überein, dass wir privates Beteiligungskapital, übrigens
auch von Kapitalbeteiligungsgesellschaften - die Frage,
ob aus dem Inland oder dem Ausland, ist dabei völlig
gleichgültig -, in Deutschland nicht nur gut gebrauchen
können, sondern sogar froh sein können, wenn sie hier
investieren. Sie haben manches Unternehmen, das sich
in einer schwierigen Situation befand, übernommen,
nach fünf bis acht Jahren, als es am Markt wieder besser
positioniert war, wieder veräußert, damit Arbeitsplätze
gerettet bzw. sogar noch geschaffen. Eine solche Vorgehensweise kann - das will ich mit aller Deutlichkeit sagen - durchaus vernünftig sein.
({1})
Es gibt aber auch eine andere Seite: Dieser Frage weichen Sie aus. Ich werde sehr konkret und nenne die
Firma Grohe. Die Firma Grohe, Hersteller von Sanitärinstallationen - Sie kennen sie alle -, wurde im letzten
Herbst zum zweiten Mal von Finanzinvestoren übernommen. Sie haben als Erstes McKinsey eingesetzt
- das ist modern und üblich - und Folgendes festgestellt:
Grohe hat eine Gewinnmarge von 20,8 Prozent. Das
reichte den neuen Eigentümern nicht; sie hätten gerne
28 Prozent Gewinnmarge gehabt. Um diese zu erreichen,
um kurzfristig statt 20,8 Prozent Rendite 28 Prozent zu
haben, müssen Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland abgebaut und verlagert werden.
An der Stelle sage ich: Diese Auswüchse des Kapitalismus, die ausschließliche Fixierung auf kurzfristige
Gewinne, sind wir nicht bereit zu akzeptieren.
({2})
Das ist die Debatte, die wir führen; da werden Sie nicht
ausweichen können. Das ist keine pauschale Kritik, sondern eine sehr konkrete Kritik bezüglich der Auswüchse.
Alles andere ist hochwillkommen.
Die Gewerkschaften: Meine Damen und Herren, ich
bin ganz sicher, dass sich die, die auf der linken Seite in
diesem Raum sitzen, über die Gewerkschaften teilweise
mehr geärgert haben als Sie; denn wenn die eigenen
Freunde einen hart und, wie ich finde, oft auch ungerecht
kritisieren und Dinge tun, die nicht akzeptabel sind
- darüber ist hier schon gesprochen worden -, dann trifft
einen das am meisten. Darüber muss man kritisch diskutieren.
Aber wir diskutieren heute über etwas viel Grundsätzlicheres, Herr Niebel, und das werfe ich Ihnen vor. Sie
waren so freundlich, eben an diesem Pult zu sagen, es
gehe nicht nur um bestimmte Funktionäre; auch dazu ist
schon etwas gesagt worden. Sie haben gesagt - ich habe
es mir extra aufgeschrieben -: Wir wollen die Verbändemacht, wenn wir an die Regierung kommen, beschränken. Es geht also doch um die Verbände, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände. Damit diskutieren
wir über etwas Konstitutives, was unsere Nachkriegsordnung und unsere Verfassung betrifft.
Ich möchte aus dem Grundgesetzkommentar von
Maunz-Dürig-Herzog-Scholz - alle bekanntlich keine
der Sozialdemokratie nahe stehenden Verfassungsrechtler und Politiker - zitieren. Dort heißt es:
Denn das Grundgesetz betraut Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände … mit zentralen Zuständigkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsordnung sowie der rechtlichen Arbeitsverfassung.
Weiter:
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit dient … der
Aufgabe, im Verein mit dem sozialen Gegenspieler
das Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben durch
die Verfassung den Auftrag erhalten, unser Arbeitsleben
zu ordnen und zu befrieden.
({3})
Deswegen kann es vernünftigerweise nicht Ziel sein, den
Einfluss dieser Verbände zu beschränken, sondern wir
müssen das Ziel haben, diese Verbände stark zu halten,
damit sie unser Arbeitsleben auch in Zukunft ordnen und
befrieden. Eine verfassungsrechtliche Aufgabe, zu der
wir stehen, meine Damen und Herren!
({4})
Mein Vorwurf an Sie ist, dass Sie diese Dimension
der Rolle der Verbände, der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, bei der Befriedung unserer Gesellschaft nicht verstehen.
Aber es ist noch mehr. Ich darf noch ein Zitat bringen,
Herr Niebel:
Die aus der Kritik des kapitalistischen Systems entsprungene Arbeiterbewegung und die zunächst von
liberaldemokratischer wie später von sozialdemokratischer Seite initiierte Gewerkschaftsbewegung
hat das … Verdienst, die Perversion des kapitalistischen Systems nicht nur aufgehalten, sondern in
einen evolutionären Prozess der ständigen Steigerung … umgekehrt zu haben. Arbeitsschutzgesetzgebung, Arbeitslosenversicherung, Lohnvereinbarung der Sozialpartner und … Mitbestimmung des
Arbeitnehmers sind die Stadien dieser stetigen Systemreform.
Freiburger Thesen der FDP von 1971, Herr Niebel.
({5})
Deswegen behaupte ich: Sie sind nicht nur dabei, sozusagen Säulen unserer Verfassung infrage zu stellen,
sondern Sie entkleiden sich an der Stelle auch Ihrer eigenen Geschichte, Herr Niebel. Das ist etwas, worüber Sie
noch einmal ganz in Ruhe nachdenken sollten.
({6})
Die Gewerkschaften - ich sage es noch einmal - machen es einem nicht immer ganz leicht. Gleichwohl ist,
wie ich finde, eine Menge Bewegung eingetreten. Deswegen zum Abschluss noch ein Zitat, diesmal von
Berthold Huber, dem stellvertretenden Vorsitzenden der
IG Metall. Ich zitiere:
Die IG Metall hat sich Mitte der 80er Jahre gegen
Leiharbeit und Befristungen gewandt, weil sie der
Erosion der so genannten Normalarbeitsverhältnisse entgegentreten wollte. … Jetzt sind wir 15,
20 Jahre weiter und die Frage von Flexibilität, Ungesichertheit und Sicherheit stellt sich neu. Unser
Problem scheint mir mit zu sein, dass die Gewerkschaften und ihre prägenden Meinungsträger eher
aus Normalarbeitsverhältnissen kommen und sich
mit der Gestaltung dieser neuen Arbeitsverhältnisse
schwer tun. Die existieren aber. Deswegen hat es
keinen Zweck, sentimental an dem Vertrauten festzuhalten. Man muss den Blick auf die Zukunft der
Arbeitswelt richten. Sie gilt es im Interesse der Beschäftigten zu gestalten und zu zivilisieren. ... Wir
müssen bereit sein, auf die vielfältige Arbeitswelt
zu reagieren und differenzierte Antworten zu geben.
Herr Kollege!
„Differenzierte Antworten“ ist richtig. Wenn Sie bei
den differenzierten Antworten auf schwierige Fragen so
weit wären wie die IG Metall und ihr stellvertretender
Vorsitzender, wären wir alle ein Stück weiter.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c sowie
Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
6 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe
- Drucksache 15/4575 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
am öffentlichen Leben konsequent sichern
- Drucksache 15/4927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Sexuelle Übergriffe gegen Menschen mit Behinderung wirksam unterbinden und Hilfsangebote für Betroffene verbessern
- Drucksache 15/4928 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Erfolge in der Politik für behinderte Menschen nutzen - Teilhabe und Selbstbestimmung weiter stärken
- Drucksache 15/5463 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({4}), Dr. Karl Addicks, Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beim Fahrkarten- und Ticketkauf verhindern - Teilhabe ermöglichen
- Drucksache 15/5460 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute den Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe. Der Bericht ist im Dezember
des letzten Jahres vorgelegt worden. Aber er hat nichts
an Aktualität verloren. Er beschreibt die Politik für Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren und zeigt
deutlich, dass es seit 1998 in einem erheblichen Umfang
neue Grundlagen für die Politik für Menschen mit Behinderung gegeben hat.
Gemeinsam mit Organisationen und Verbänden der
Behinderten sowie mit Selbsthilfegruppen hat der
Gesetzgeber - in vielen Bereichen mit breiter Zustimmung dieses Hauses - einen Paradigmenwechsel vollzogen: weg von der allumfassenden Fürsorge und hin zu
einer Politik, die mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördert und die die Möglichkeiten schafft,
dass Behinderte besser in die Gesellschaft integriert werden. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn wir
die behinderten Menschen dabei unterstützen, Barrieren
aus dem Weg zu räumen, und wenn wir ihnen helfen, ihr
Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Dies waren im Kern gute Reformentscheidungen. Der Paradigmenwechsel war richtig und wichtig.
Aber es bleibt eine ständige Aufgabe von uns allen, die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Ziele erreicht werden.
({0})
Grundstein war und ist das SGB IX mit einem bürgernahen Rehabilitations- und Teilhaberecht, mit der
Einführung gemeinsamer Servicestellen, mit kürzeren
Bearbeitungsfristen, mit der Verhinderung von Mehrfachbegutachtungen, mit dem Auftrag an die Rehabilitationsträger, gemeinsame Empfehlungen zu verabschieden, und mit der Einführung des persönlichen Budgets.
Letzten Endes geht es um die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Denn die gesetzlichen Regelungen sind das
eine. Sie aber im täglichen Leben umzusetzen und dafür
zu sorgen, dass entsprechend dem Willen des Gesetzgebers vor Ort gehandelt wird, ist die Aufgabe von uns allen.
Natürlich gibt es Probleme bei der Umsetzung. Natürlich gibt es ein Beharrungsvermögen - auch im Behördenbereich -, weil der eine oder andere die Umstellung
nicht will. Wir müssen den Verantwortlichen klar
machen, dass es darum geht, eigenständigen Persönlichkeiten zu helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu
finden und ein selbstständiges Leben zu führen. Wir
müssen auch mithelfen, vorhandene Barrieren
einzureißen - nicht nur Barrieren im Alltag, sondern
manchmal auch Barrieren in den Köpfen.
An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen,
dass der Gesetzgeber und die Bundesregierung eine
Vielzahl von Brücken geschaffen haben, die es den Menschen ermöglichen, den Weg in Richtung eines selbstbestimmten Lebens zu gehen. Neben dem SGB IX gibt es
das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter, das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen und das Behindertengleichstellungsgesetz, das wir
gemeinsam geschaffen haben und das die Barrierefreiheit gewährleisten soll.
Mit diesen Gesetzen und Regelungen wurden die Verbände und Organisationen der Behinderten - ich will in
diesem Zusammenhang auf drei Punkte hinweisen - viel
stärker in den Gesetzgebungsprozess und in die Umsetzung einbezogen. Ich erinnere an die Vorbereitung gemeinsamer Empfehlungen, an die Arbeit der gemeinsamen Servicestellen, an verbesserte Anhörungsrechte und
an die zusätzliche Beteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss, als es um die Modernisierung des Gesundheitswesens ging, sowie die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung in den Betrieben. Ferner sind in diesem
Zusammenhang der Beirat für Teilhabe von behinderten
Menschen und der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung zu nennen.
Das SGB IX hat mit dazu beigetragen, dass die Möglichkeiten, die die Leistungen zur Teilhabe bieten, mithilfe des persönlichen Budgets erheblich verbessert worden sind. Das gibt den Menschen die Chance, die
Leistungen, die sie bislang sehr kompakt bekommen haben - ich nenne beispielsweise eine ambulante, teilstationäre oder stationäre Unterbringung in einer Einrichtung -, nun eigenverantwortlich in Anspruch zu nehmen.
Damit erhalten sie mehr Autonomie und können die
Hilfe nach ihren persönlichen Wünschen gestalten. Auch
das ist Teilhabe, auch das ist Eigenverantwortung, auch
das ist mehr Integration.
({1})
Wir haben für diesen Fall 16 Modellregionen vorgesehen. Modelle brauchen wir aber nicht mehr, wenn es
darum geht, mehr Arbeit für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Denn dabei geht es im Kern um die
Einstellung, und zwar nicht nur um die Einstellung an
sich, sondern auch um die Einstellung in den Köpfen.
({2})
Wenn es darum geht, jemanden zu beschäftigen, darf die
Frage nicht lauten: Behindert oder nicht behindert? Die
Frage muss vielmehr lauten: Geeignet oder nicht geeignet?
An dieser Stelle will ich an die guten Ergebnisse erinnern, die wir gemeinsam errungen haben: Die Arbeitslosigkeit konnte im Zeitraum von 1998 bis 2003 um gut
13 Prozent gesenkt werden.
({3})
- Danach ist sie wie in anderen Bereichen auch gestiegen.
({4})
Das stellt uns überhaupt nicht zufrieden.
Deswegen haben wir bei den Mitteln zur Integration
in Beschäftigung auch nicht nachgelassen. Wir haben
von 1998 bis 2004 dazu beigetragen, dass die besonderen Leistungen und die allgemeinen Leistungen zur Förderung der Teilhabe an Arbeit bei der Bundesagentur für
Arbeit um 68 Prozent erhöht worden sind.
({5})
Wir haben dazu beigetragen, dass die Pflichtleistungen
zur beruflichen Rehabilitation von 1999 bis 2004 um
40 Prozent gestiegen sind. Dieser Kurs wird heute mit
einem Volumen von 2,7 Milliarden Euro fortgesetzt,
wenn es darum geht, Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation zu finanzieren.
Die Initiative „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“
war nicht ohne Erfolg. Sie war von der Gemeinsamkeit
der Wirtschaft, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften
geprägt, zu handeln. Genau diesen Kurs setzen wir jetzt
fort, wenn es darum geht, jungen Menschen und Schwerbehinderten eine Möglichkeit zur Integration in das Arbeitsleben zu verschaffen.
Wir haben vor einiger Zeit im Rahmen unserer Jobinitiative „Jobs ohne Barrieren“, die wir gemeinsam
mit den Behindertenverbänden, den Gewerkschaften, der
Wirtschaft und den Unternehmen ergriffen haben - organisiert vom Unternehmensforum, also einem Zusammenschluss von Unternehmen in Frankfurt -, eine Veranstaltung durchgeführt. Dabei hat es mich sehr
beeindruckt, wie uns ein Besitzer eines kleinen Unternehmens im EDV-Bereich erklärt hat, wie ein blinder
junger Mensch in diesem Unternehmen zum EDV-Kaufmann bzw. Programmierer ausgebildet wird. Es war faszinierend, zu erleben, wie jemand, der blind ist, einen
Laptop bedient. Das, was wir mit den Augen sehen, sieht
er mithilfe technischer Unterstützung. Bei ihm sind bestimmte Kompetenzen durch andere Sinneswahrnehmungen stärker ausgebildet. Da beweist sich: Er ist für
diesen Beruf, für diese Ausbildung geeignet.
Diese Beispiele weiterzuführen und deutlich zu machen, dass das geht, ist ein wesentliches Ziel dieser Initiative. Es geht darum, mit daran zu arbeiten, dass Unternehmen und Personalverantwortliche dies wahrnehmen
und den Menschen eine Chance geben, sich entsprechend ihren Fähigkeiten in die Arbeitswelt einzubringen
und die Brücken, die wir gebaut haben, zu nutzen, um in
Arbeit und Beschäftigung zu kommen.
Wir haben mit der Initiative „Jobs ohne Barrieren“
mit dazu beigetragen, dass sich nun eine Vielzahl von
Unternehmen an Projekten und Initiativen beteiligt, mit
denen vor Ort Beispiele praktischer Beschäftigung und
Ausbildung geschaffen werden. Die 90 000 Broschüren,
die wir hergestellt haben, sind mittlerweile abgerufen
worden. Diese gezielte Information, dieser Abbau von
Vorurteilen und teilweise von Berührungsängsten tragen
dazu bei, die Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen, die Behinderungen haben, erheblich zu verbessern.
Aber es geht nicht allein darum, Gesetze zu verabschieden, sondern auch darum, dass die Gesetze vor Ort
mit Leben erfüllt werden müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir alle gemeinsam mit denjenigen, die vor Ort,
bei den Sozialhilfeträgern, in den Kommunen, in Vereinen und Verbänden, im Familienbetrieb, im weltweit
agierenden Konzern oder im Bürgeramt, Verantwortung
tragen, daran arbeiten, dass auf die Pfeiler, die wir hier
setzen, Brücken kommen, die den Menschen den Übergang zur Teilhabe an Arbeit und zur Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft ermöglichen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der vorliegende
Bericht und unsere Arbeit mit dazu beitragen können,
dass dann, wenn wir dies vor Ort kooperativ umsetzen,
Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit
Behinderungen nicht nur als Gesetzesziel formuliert
werden, sondern auch schrittweise in der Alltagspraxis
Realität werden.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Hüppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer gerade die Rede von Herrn Thönnes gehört und wer den
Bericht ausführlich gelesen hat, der müsste eigentlich
den Eindruck gewonnen haben: Alles ist gut; es gibt
noch ein paar Umsetzungsprobleme, ansonsten aber ist
die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gesichert.
({0})
- Es gibt, wie gesagt, vielleicht noch ein paar Umsetzungsprobleme.
Wer aber die Realität sieht, der weiß, dass sich die Situation für Menschen mit Behinderungen vor allem in
der Arbeitswelt verschlechtert hat. Die Bundesregierung
spricht in ihrem Bericht von einem modernen und leistungsfähigen System der Teilhabe, von Chancengleichheit und sozialer Integration, von der Eröffnung beruflicher Perspektiven für behinderte Menschen und von
freier Selbstbestimmung. Rot-Grün beschwört immer
wieder - Herr Thönnes hat das gerade wieder getan den so genannten Paradigmenwechsel. Abgesehen davon, dass wir uns vielleicht einmal die Einfachsprache
angewöhnen sollten, können angesichts der realen Situation viele Menschen dieses Wort nicht mehr hören und
empfinden es eher als Hohn.
Wenn ich mit den Betroffenen spreche, stellt sich mir
ein dramatisches Bild dar: Immer mehr Menschen mit
Behinderungen haben keinen Arbeitsplatz. Selbst
Rechtsansprüche werden vor Ort nicht eingelöst, weil
kein Geld vorhanden ist.
({1})
Eltern mit behinderten Kindern haben Angst vor der Zukunft. Die medizinische und pflegerische Versorgung bekommt immer mehr Risse, die nur notdürftig gekittet
werden. Einrichtungen der Behindertenhilfe kämpfen
um ihre Standards und um ihre Existenz.
Wenn wir heute über die gesellschaftliche Teilnahme
von Menschen mit Behinderungen sprechen, dann unterscheiden wir uns in diesem Hause nicht im Ziel. Viele
gesetzliche Grundlagen wie das SGB IX und das Bundesgleichstellungsgesetz haben wir gemeinsam im Bundestag beschlossen.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich es gut
finde, dass wir bei diesen Themen über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Es ist richtig, dass
wir diese Menschen vor Augen haben und ihnen in allen
Bereichen Chancengleichheit eröffnen wollen.
({3})
Das größte Hindernis bei der Umsetzung dieses Ziels
- das müssen Sie nun einmal zugeben - ist allerdings die
katastrophale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der
Bundesregierung; denn sie trifft gerade die Benachteiligten am härtesten. Das zeigt wieder einmal, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Ohne wirtschaftlichen
Aufschwung, ohne mehr Beschäftigung wird es immer
schwieriger, unser vergleichsweise immer noch gutes
Sozialsystem zu sichern und Menschen mit Behinderungen in das Arbeitsleben zu integrieren. Deswegen müssen wir jedes, aber auch wirklich jedes Gesetz - das gilt
auch für das Antidiskriminierungsgesetz - daraufhin
prüfen, ob es zu mehr oder weniger Arbeitsplätzen führt.
Das ist die entscheidende, auch soziale Frage.
({4})
Der Bericht der Bundesregierung vermittelt die Weigerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Natürlich finden sich im SGB IX gute Ansätze. Deswegen
haben wir ihm im Jahr 2001 zugestimmt. Heute aber,
vier Jahre später, muss festgestellt werden, dass die Umsetzung in vielen Bereichen nicht gelungen ist. So
spricht die Bundesregierung - Herr Thönnes hat dies
auch getan - gleich auf der ersten Seite ihres Berichts
von den eingerichteten so genannten gemeinsamen Servicestellen, die zwischen den verschiedenen Reha-Trägern vermitteln und so den behinderten Antragstellern zu
einem schnelleren Verfahren verhelfen sollen. Wer aber
in der Anlage des Berichts die Zusammenfassung über
die wissenschaftliche Begleitforschung zur Einrichtung
dieser Stellen liest, muss eine ernüchternde Bilanz ziehen. Die Studie beweist, dass diese Stellen kaum bekannt sind und deswegen auch kaum genutzt werden.
Mehr als die Hälfte der Servicestellen, die geantwortet
haben, hatte im Jahr 2003 - im ganzen Jahr 2003! - weniger als 13 Beratungsfälle. Da 30 Prozent der Servicestellen gar nicht geantwortet haben, muss laut der Studie
im schlimmsten Fall davon ausgegangen werden, dass
fast ein Drittel gar keinen Fall hatte. Was nutzt es, wenn
im Bericht stolz darauf verwiesen wird, dass fast in allen
Kreisen Deutschlands Servicestellen eingerichtet wurden, aber keiner weiß, dass es diese überhaupt gibt?
({5})
Ein weiteres Beispiel für die mangelhafte Umsetzung
der Regelungen des SGB IX ist die Frühförderung von
Kindern. Der Frühförderung im Kindesalter muss aus
meiner Sicht - ich glaube, da stimmen wir überein - die
größte Bedeutung zukommen; denn je früher die Förderung von Kindern mit Beeinträchtigungen erfolgt, desto
größer ist der Erfolg.
({6})
Deswegen wurde die Frühförderung als Komplexleistung in das SGB IX aufgenommen. Es ist aus meiner
Sicht eine Katastrophe, wenn die Hilfe für Kinder zu
spät oder gar nicht einsetzt, weil sich die Kostenträger
nicht einigen können.
({7})
- Ja, gleichzeitig müssen Sie aber auch sagen, dass in
Nordrhein-Westfalen alle Mittel für die Frühförderung in
den gegenwärtigen Haushalt eingestellt worden sind.
({8})
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({9})
Das ergibt sich aus der Antwort auf die Anfrage der
CDU-Landtagsfraktion. Auf dieses Thema war ich vorbereitet und bin dankbar, dass Sie es angesprochen haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schmidbauer?
Gern.
Herr Kollege Hüppe, ist Ihnen entgangen, dass die
Bundesregierung bei der Umsetzung hilfreich war, indem sie in diesem Fall eine Rechtsverordnung auf den
Weg gebracht hat, und ist Ihnen entgangen, dass es ausgerechnet das Land Bayern war, das diese Rechtsverordnung entkernt hat, damit sich ihre Wirkung ja nicht entfalten kann?
Herr Schmidbauer, ich bin dankbar, dass Sie diese
Frage stellen. Tatsächlich ist die Frühförderungsverordnung seit dem 1. Juli 2003 in Kraft. Seitdem sind fast
zwei Jahre vergangen. Wenn wir diesen Bereich gesetzlich hätten regeln können, dann hätten die Kinder einen
Anspruch auf Förderung und dann wüssten auch die
Kostenträger, was sie zu zahlen haben.
({0})
Wir dürfen nicht noch länger warten;
({1})
denn, liebe Kollegin, inzwischen sind bereits fast zwei
Jahre vergangen. Das bedeutet, dass viele Kinder, die eigentlich einer Frühförderung bedurft hätten, heute schon
in der Schule sind und deswegen leider Gottes vielleicht
sogar auf eine Sonderschule gehen müssen.
Meine Damen und Herren, der größte Teil des Berichts der Bundesregierung beschäftigt sich - ich sage:
zu Recht - mit der Teilhabe behinderter Menschen am
Arbeitsleben. Dort heißt es - ich zitiere -: „Teilhabe am
Arbeitsleben ist … von elementarer Bedeutung“ und ist
„Grundlage für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“. Dieser
Aussage wird wohl jeder hier im Hause zustimmen;
denn wer im Arbeitsbereich ausgesondert ist, wird
zwangsläufig auch in allen gesellschaftlichen Bereichen
wie Wohnen, Bildung, Kultur und Freizeit ausgesondert.
({2})
Was dann in Ihrem Bericht erfolgt, ist allerdings eher
peinlich. Anstatt sich den aktuellen Problemen der
Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu stellen - das ist auch heute leider nicht erfolgt -, wird hauptsächlich Selbstbeweihräucherung betrieben. Wer die
Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen will, sollte nicht den
Bericht der Bundesregierung, sondern den Mikrozensus 2003 des Statistischen Bundesamtes lesen. Ihm
kann man entnehmen, dass die Erwerbsquote erwerbsfähiger Menschen mit Behinderungen wesentlich niedriger
ist als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Nur etwas
mehr als die Hälfte der behinderten Menschen zwischen
25 und 45 Jahren können ihren Lebensunterhalt durch
Erwerbstätigkeit finanzieren.
Anstatt diese Situation, die sich in den letzten zwei
Jahren noch dramatisch zugespitzt hat, selbstkritisch zu
hinterfragen, stellen Sie in Ihrem Bericht fest, dass die
Bundesregierung sehr erfolgreich gewesen sei. Sie
rühmt sich, den Trend der steigenden Arbeitslosigkeit
schwerbehinderter Menschen nicht nur gestoppt, sondern sogar umgekehrt zu haben. Sie schwärmt uns jetzt
seit Jahren - wie auch Herr Thönnes das gerade wieder
getan hat - von der Kampagne „50 000 Jobs für
Schwerbehinderte“ vor, durch die die Zahl arbeitsloser
Schwerbehinderter in der Zeit von Oktober 1999 bis
Oktober 2002 um 24 Prozent gesenkt worden sei.
Ich muss die Bundesregierung wirklich einmal fragen: Wie lange wollen Sie uns das eigentlich noch erzählen? Sie mussten diese 24 Prozent erreichen - eigentlich
hätten Sie sogar 25 Prozent erreichen müssen -, weil Sie
die Beschäftigungspflichtquote für Betriebe sonst nicht
von 6 Prozent auf 5 Prozent hätten senken können.
Längst ist bewiesen, dass Sie in diesem gesamten Zeitraum keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen haben,
sondern dass diese Zahlen einzig und allein durch Bereinigungen der Statistik entstanden sind.
({3})
Das wird in Ihrem eigenen Bericht bewiesen.
Warum diese statistische Zahl gesunken ist, steht dort
nämlich: Die Abgänge aus der Statistik waren Abgänge
in die Nichterwerbstätigkeit. Das heißt, dass die Menschen in die Frührente gingen oder als Hausmann bzw.
Hausfrau aus der Statistik herausfielen. Dieser Trend
stieg konsequent bis auf 62 Prozent der Abgänge. Von
1998 bis 2003 - nur so weit reicht Ihr Bericht - stieg die
Zahl der Abgänge in die Nichterwerbstätigkeit damit um
37 Prozent. Das, meine Damen und Herren, ist der „Erfolg“ der Bundesregierung.
Interessanterweise gab es ausgerechnet im Stichjahr 2002 einen sprunghaften Anstieg der Zahl der Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen. Der
Zuwachs an Werkstattmitarbeitern - hören Sie genau zu ist 2002 mit über 25 000 Personen mehr als dreimal so
hoch gewesen wie in den Vorjahren. Nach 2002 wurde
dieser Zuwachs nie wieder erreicht; Gleiches gilt übrigens auch für die Berufsförderungsmaßnahmen. Ich
halte es, nicht für richtig - weder volkswirtschaftlich
noch menschlich -, nur um diese Zahlen zur erreichen
Menschen in Einrichtungen zu stecken, die eigentlich
nicht dahin gehören.
({4})
- Das sind die Zahlen von der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen; Sie können
sie gern von mir bekommen.
Die Kampagne war ein Strohfeuer, bei dem viel Geld
verbrannt wurde, das wir heute dringend bräuchten. Ich
hoffe, dass die neue Aktion „Jobs ohne Barrieren“ nicht
ebenso ein Strohfeuer wird. Heute steht die Bundesregierung im Bereich beruflicher Teilhabe für Menschen
mit Behinderung vor einem Scherbenhaufen: Mit über
194 000 arbeitslosen Schwerbehinderten im April halten
wir uns auf Rekordhöhe.
Was die berufliche Reha und die Vermittlung behinderter Menschen angeht, ergibt sich ein katastrophales
Bild: Zahlreiche Betroffene und Träger der beruflichen
Reha haben sich an mich gewandt - ich weiß: an andere
Kollegen auch - und über Missstände informiert. Die
Kassen der Bundesagentur für Arbeit sind im Rehabereich leer, und das, obwohl noch nicht einmal ein halbes
Jahr vergangen ist. Der Vater eines behinderten Sohnes
hat mir noch vor zwei Wochen gesagt, dass ihm die örtliche Bewilligungsbehörde gesagt hat: Ja, sein Sohn habe
zwar einen Rechtsanspruch auf einen Platz, aber im Gesetz stehe nicht, wann dieser erfüllt werden müsse.
Meine Damen und Herren, das ist das zynische Ergebnis
der Politik der Bundesregierung.
({5})
- Das ist so.
Die Wirklichkeit ist: Eingliederungszuschüsse an Arbeitgeber, die behinderte Menschen beschäftigen wollen,
werden kaum noch bewilligt. Integrationsprojekte und
Firmen bangen um ihre Existenz. Träger von Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken melden, dass immer weniger Anmeldungen von der BA getätigt werden,
obwohl der Bedarf eher höher als niedriger ist. Die berufliche Reha im Rahmen von Hartz IV wird erst gar
nicht betrieben. Bei den optierenden Gemeinden ist die
Lage noch völlig ungeklärt.
({6})
Werkstätten für behinderte Menschen schlagen Alarm,
da zwar der Rechtsanspruch auf einen Werkstattplatz
von der BA anerkannt wird, aber keine Kostenzusage für
dieses Jahr mehr erteilt wird. Es ist klar - und da stimmen wir mit den Regierungsparteien überein -, dass berufliche Reha wirtschaftlich und effizient sein muss.
Aber die BA hat nach eigenen Angaben ja nicht einmal
- das steht auch in ihrem Bericht - gesicherte Erkenntnisse über die Wirkung von Teilhabemaßnahmen.
Wir als CDU/CSU-Fraktion haben durch verschiedene Initiativen versucht, hier zur Aufklärung beizutragen. Wir haben vor drei Wochen eine Kleine Anfrage gestellt, in der es um berufliche Teilhabe geht. Man hat für
die Antwort um Fristverlängerung gebeten und diese haben wir auch erteilt: um eine Woche. Die Antwort sollte
gestern kommen. Noch gestern wurde mir mitgeteilt, sie
komme spät abends. Sie war auch spät abends nicht da.
Ich habe heute Morgen noch einmal anrufen lassen: Sie
ist immer noch nicht da.
({7})
Man hat mir aber zugesichert: Zwei Stunden nach der
Debatte werden wir die Zahlen bekommen. Meine Damen und Herren, wer so lange Zeit braucht, nur damit
die Zahlen nicht mehr rechtzeitig zu dieser Debatte vorliegen, der hat etwas zu verschweigen.
({8})
Unsere Kleine Anfrage zur Zukunft der beruflichen
Ersteingliederung und Wiedereingliederung gesundheitlich beeinträchtigter und behinderter Menschen hat ans
Licht gebracht, dass die Bundesagentur für Arbeit die
Stellenzahl für Mitarbeiter im Rehabereich von 2003 auf
2004 halbiert hat, und zwar nicht nur auf Bundesebene,
sondern auch auf Landesebene. Trotzdem geht die Bundesregierung in ihrer Antwort davon aus, dass schon alles in Ordnung sei - ich zitiere -:
Die Bundesregierung geht davon aus, dass eine Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben auch im Bereich
der Förderung der beruflichen Teilhabe behinderter
Menschen personell sichergestellt ist.
Meine Damen und Herren, ich habe in verschiedenen
Podiumsdiskussionen erlebt, wie Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Bündnisgrünen so taten, als hätten sie damit nichts zu tun
({9})
und als würden sie ja auch bedauern, dass das bei der BA
alles so falsch laufe. Aber so kommen Sie nicht davon.
Sowohl das Gesundheitsministerium als auch das Bundeswirtschaftsministerium haben gemeinsam die Fachaufsicht über die BA. Wenn sogar Rechtsansprüche nicht
erfüllt werden, dann reicht kein Lamentieren, dann reicht
auch kein Entschließungsantrag, sondern dann muss
endlich durchgegriffen werden, damit den Menschen geholfen werden kann.
({10})
Ich möchte nun noch auf das Schul- und Bildungssystem eingehen. Auch ich bin der Meinung, dass wir
hier mehr tun müssen, und zwar nicht erst in der Schule,
sondern, wenn möglich, schon in den Tageseinrichtungen für Kinder. Ich glaube, darin sind wir uns auch einig.
Viel zu selten gibt es heute noch einen gemeinsamen Unterricht und eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern. Ich glaube - das zeigen übrigens auch alle Studien -, dass viele Vorurteile
abgebaut werden könnten, wenn behinderte Menschen
schon von klein auf mit nicht behinderten Menschen zusammenleben könnten.
({11})
- Ja, gut, wir können darüber reden. Sehen Sie sich die
Statistik an. Ihr Land ist da auch nicht viel besser.
({12})
- Ich meine, Nordrhein-Westfalen ist auch nicht viel besser.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es nutzt doch
nichts, dass wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen.
({14})
- In dieser Frage, meine ich. - Wichtig ist doch, dass wir
in Zukunft das verhindern, was in der Vergangenheit geschehen ist, dass nämlich, so Ihr Bericht, die Zahl der
Sonderschüler von 1994 bis 2002 um 12 Prozent gestiegen ist. In meinem Wahlkreis Unna ist die Zahl um
8 Prozent in einem Jahr gestiegen. Das dürfen wir einfach nicht akzeptieren. Wir müssen zusehen, dass wir es
gemeinsam schaffen, dass diese Kinder gemeinsam mit
nicht behinderten Kindern leben und lernen können.
({15})
Es gibt noch viele Punkte, die man erläutern könnte.
Wir werden weiter mit Ihnen zusammenarbeiten. Zum
Schluss bitte ich Sie aber einfach: Seien Sie wenigstens
etwas selbstkritischer und kommen Sie nicht mit irgendwelchen Dingen, die Jahre zurückliegen; denn nicht das
Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.
({16})
Wenn wir wieder dazu kommen, dann werden wir die
Dinge gemeinsam anpacken, wie wir es in der Vergangenheit auch getan haben.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Hüppe, eigentlich wollte ich meine Rede ja
mit einem Loblieb auf das Sozialgesetzbuch IX beginnen. Das, was Sie jetzt hier abgeliefert haben, und die
Art, mit der Sie sämtliche Mängel, die ja unstreitig auch
in der Gesetzesumsetzung bestehen,
({0})
der Regierungskoalition und der Bundesregierung anlasten wollen, bringt mich aber schon dazu, bereits zu Beginn der Rede mal zu schauen, wer von denjenigen, die
das Gesetz umsetzen müssen, das überhaupt tut und wie
er es tut.
({1})
Schichten wir das mal Stück für Stück ab.
({2})
- Nein, wir fangen mit dem Bundesland Bayern und der
Frühförderung, über die Sie geredet haben, an. - Wer hat
denn die Rechtsverordnung, die schließlich kommen
musste, abgelehnt? Das war das Land Bayern, das von
der CSU regiert wird.
({3})
Schauen wir mal, wer noch in der Verantwortung
steht. Die überörtlichen Sozialhilfeträger stehen in der
Verantwortung, das mit umzusetzen. Darauf haben wir
nicht ohne weiteres einen direkten Zugriff. Wir haben
mit dem Sozialgesetzbuch IX den gesetzlichen Rahmen
geschaffen. Was macht jetzt etwa der Bezirk Schwaben
im Zuge der Änderung des Bundessozialhilfegesetzes?
Er streicht den Werkstattbeschäftigten das Mittagessen.
Das wäre auch ein Punkt.
({4})
Schauen wir uns mal Hessen an, das von der CDU regiert wird. Die Sozialministerin Lautenschläger stellt
sich hin und sagt, die Optionskommunen hätten überhaupt nichts mit Reha zu tun.
({5})
Dabei muss man doch nur einmal im Gesetz nachlesen,
was da steht. Hessen ist eine rehafreie Zone.
({6})
Auch hier: Sie reden von Optionskommunen und versuchen, uns als Regierungskoalition das aufs Butterbrot zu
schmieren.
({7})
- Der Kollege Stöckel gibt das Stichwort Niedersachsen. - Ich nenne als ein weiteres Beispiel das Blindengeld in Niedersachsen und Thüringen. Auch das
sind CDU-geführte Landesregierungen.
Als ob das Ganze nicht genug wäre: Schauen wir uns
mal etwas an, was über den Bundesrat, und zwar indirekt wiederum über die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg kommt, nämlich das so genannte
Kommunale Entlastungsgesetz.
({8})
Was finden wir darin? Dort finden wir eine Finanzkraftklausel, durch die die Leistungen für Menschen mit Behinderungen von der aktuellen Kassenlage abhängig gemacht werden sollen.
({9})
Das sind der Hintergrund, vor dem das Ganze stattfindet,
und die Orchestrierung.
Einen Moment. - Das müssten Sie auch mit erwähnen, bevor es hier losgeht und Sie anfangen, alles zusammen, einschließlich der Schulpolitik, die Sie in der Föderalismuskommission doch so krampfhaft in den Händen
der Länder halten wollten, in den großen Sündensack der
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen zu schippen. So läuft es nicht.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heiderich?
Ja, gerne.
Herr Kollege Kurth, da Sie eben auf die Bundesländer
Bezug genommen und das Land Hessen genannt haben,
frage ich zurück, ob Ihnen bekannt ist, dass in Hessen
die Bundesagentur für Arbeit und damit letztlich auch
die verantwortliche Bundesregierung zurzeit nicht mehr
in der Lage sind, für behinderte und benachteiligte Jugendliche die berufliche Ausbildung und Qualifizierung zu gewährleisten, und dass ausweislich der Antworten auf meine gestrigen Fragen hier im Plenum die
Bundesregierung offensichtlich auch nicht bereit ist, hier
nachzusteuern und die den Jugendlichen gesetzlich zustehenden Leistungen zu erbringen.
Mir ist natürlich bekannt, dass wir im Bereich der berufsvorbereitenden Maßnahmen sowie der Zuweisungen
an Berufsbildungswerke und Berufsförderungswerke im
Moment Mängel auch bei der Bundesagentur für
Arbeit zu verzeichnen haben. Dies streite ich überhaupt
nicht ab. Ich habe hier aber gerade von den Optionskommunen geredet. Die Probleme speziell im Bereich
der Berufsförderungswerke rühren daher, dass die Optionskommunen keine Zuweisungen in diese Richtung
mehr vornehmen.
({0})
- Natürlich. Ich war erst in der letzten Woche beim Berufsförderungswerk Dortmund, zu dessen Einzugsbereich allein drei Kreise gehören, die optiert haben. Von
ihnen kommen überhaupt keine Zuweisungen mehr.
Die Bundesagentur für Arbeit steht, wie Sie wissen,
aufgrund der Arbeitsmarktreformen derzeit in einem
schwierigen Umbauprozess. Auch wir kritisieren es
natürlich, wenn dort die Mittel, die für Eingliederung
einzusetzen sind und die zum Teil aus der Ausgleichsabgabe stammen, nicht zweckentsprechend verwandt werden. Selbstverständlich kritisiere auch ich, wenn dort so
getan wird, als reiche statt einer berufsvorbereitenden
Maßnahme eine Trainingsmaßnahme. Im Hinblick auf
diese Kritik gehen wir doch Hand in Hand.
Aber die Bundesagentur für Arbeit ist schließlich ein
Organ der Selbstverwaltung, wo je zu einem Drittel Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesregierung, auch
das Bundeswirtschaftsministerium, sitzen.
({1})
- Hier greife ich den Appell von Herrn Hüppe gern auf,
dass wir auf diesem Gebiet möglichst gemeinsam politisch handeln müssen, damit die gesetzlichen Leistungen
auch erbracht werden. Das ist ganz klar.
Was das Land Hessen angeht, so agiert es nicht in der
Weise, dass dort die Optionskommunen mit gutem Beispiel vorangingen. Wir haben ihnen ja noch gesondert
Steuergelder zur Verfügung gestellt, damit in Hessen die
Aufgabe der beruflichen Rehabilitation bewältigt werden kann. Jetzt behaupten Optionskommunen, dass sie
dafür einfach kein Geld hätten.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Ja.
Mit Blick auf unsere irrsinnig lange Tagesordnung
bitte ich die Kollegen, dann aber etwas zurückhaltend zu
sein.
Die Frage kann man auch mit Ja oder Nein beantworten.
Das geht meistens schief.
({0})
Das glaube ich. - Ich will den Kollegen Kurth auch
gar nicht in seinem Bericht über die Länder unterbrechen, sondern ihn nur fragen, ob er zur Kenntnis nimmt,
dass die Finanzkraftklausel keine Idee der Länder ist,
({0})
sondern dass die Bundesregierung bereits im SGB XII
diese Finanzkraftklausel selbst eingeführt hat und dass
diese Klausel erst nach vielen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss herausgenommen worden ist.
({1})
Ich verstehe diese Darstellung nicht. Im SGB XII gibt
es keine Finanzkraftklausel. Können wir uns darauf verständigen? Sie steht aber sehr wohl im Kommunalen
Entlastungsgesetz, das jetzt von den Ländern BadenWürttemberg und Bayern eingebracht worden ist. Das
sind die Fakten, auf die wir uns doch wohl verständigen
können.
({0})
Nun möchte ich die mir verbleibende Redezeit dazu
nutzen, die Leuchttürme darzustellen, die im Gefolge
des SGB IX aufgewachsen sind. Man muss auch erwähnen, dass, obgleich noch viel zu tun ist, eine Menge
erreicht worden ist: Wir haben eine Stärkung der ambulanten Versorgungsstrukturen zu verzeichnen, die beispielsweise vom Landschaftsverband Rheinland in
vorbildlicher Weise umgesetzt werden. Dort gibt es mittlerweile fast flächendeckend Kontakt-, Koordinierungsund Beratungsstellen für Menschen mit geistiger Behinderung, die diese gezielt auf das Leben in der eigenen
Wohnung statt im Heim vorbereiten und ihnen bei der
Wohnungssuche, aber auch bei Verrichtungen des täglichen Lebens helfen. Wir haben die Möglichkeit der persönlichen Assistenz geschaffen.
Trotz der Defizite, die Sie angesprochen haben, gehören zu den Leuchttürmen zweifellos auch die Instrumente zur Verbesserung der Integration in den Arbeitsmarkt. Wir haben die Informationsfachdienste mit dem
Beratungsangebot für Arbeitnehmer und Arbeitgeber
aufgebaut und das Förderinstrumentarium für Arbeitgeber verbessert. Weiterhin besteht die Möglichkeit, Eingliederungszuschüsse bis zu 70 Prozent in Anspruch zu
nehmen. Wenn das die BA nicht macht und diese Möglichkeit nicht nutzt, dann ist das zu kritisieren. Aber wir
als Gesetzgeber haben einen hervorragenden Rahmen
geschaffen. Dann gibt es noch die Arbeitsassistenz, die
es vielen Menschen mit Behinderung überhaupt erst ermöglicht, eine Arbeit aufzunehmen.
({1})
An dieser Stelle darf auch das ganze Engagement der
Arbeitgeber gerade in Großbetrieben nicht verschwiegen
werden. Das setzt sich mit der Kampagne „job - Jobs
ohne Barrieren“ auch in den Betrieben des Mittelstandes
fort. Bemerkenswert ist auch der Boom der Integrationsbetriebe. Nach nur wenigen Jahren sind es jetzt
500 Integrationsbetriebe mit 15 000 Beschäftigten, die
am ersten Arbeitsmarkt tätig sind. Das Instrument des
gezielten finanziellen Nachteilsausgleichs für die Arbeitgeber in solchen Integrationsprojekten hat sich derart bewährt, dass ich der Ansicht bin, man müsste einmal darüber nachdenken, dies auch auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt anzuwenden.
({2})
All diese Anstrengungen, die auf diesen verschiedenen Feldern gebündelt sind, verfolgen ein Ziel: Schluss
mit den Sonderwegen! So weit wie möglich soll mit dem
Verstecken in Heimen, dem Verfrachten in Werkstätten
oder Sonderschulen Schluss sein, quasi mit der Existenz
einer Parallelgesellschaft, die sich de facto teilweise immer noch behauptet. Das immer noch verkrampfte Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und denjenigen,
die die Mehrheitsgesellschaft als Behinderte bezeichnet,
wird sich nicht ändern, wenn wir nicht auf dem Weg, den
wir eingeschlagen haben, voranschreiten und Menschen
mit psychischen, körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen oder Sinneseinschränkungen die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben ermöglichen.
({3})
Davon profitiert auch die Mehrheitsgesellschaft.
Wir haben bereits weiter gehende Schritte eingeleitet,
etwa mit dem persönlichen Budget. Damit haben wir
eine entscheidende sozialpolitische Neuerung auf den
Weg gebracht, die noch in der Modellphase steckt, aber
ab 2008 dann endlich einen Anspruch darauf darstellen
wird, dass Menschen die verschiedenen Einzelleistungen
als ein Budget erhalten und sich als Arbeitgeber die
Dienstleistungen einkaufen können, die sie brauchen,
und zwar in der Zusammensetzung, die sie für sinnvoll
halten. Dieses persönliche Budget wird auch einen ganz
neuen Markt an ambulanten Dienstleistungen hervorbringen und dazu führen, dass der Kostenanstieg bei der
Eingliederungshilfe gedämpft wird.
Im Zusammenhang mit dem persönlichen Budget
muss ich am Schluss noch einen Kritikpunkt ansprechen.
Wir wissen, dass sich dieses Budget aus vielen verschiedenen Einzelleistungen zusammensetzt: hier etwas von
der Krankenkasse und dort etwas von der Kommune.
Dabei hat sich gezeigt, dass die einzelnen Leistungsträger, also diejenigen, die die Leistungen zur Verfügung
stellen, besser zusammenarbeiten müssen. Im Moment
besteht das Problem, dass die einzelnen Reha-Träger immer noch versuchen, nur ihr Feld zu bestellen, und nicht
bereit sind, übergreifend zusammenzuarbeiten und sich
miteinander zu verzahnen.
Das beste Beispiel sind in der Tat die Servicestellen,
die nicht so funktionieren, wie sie sollen. Das liegt aber
nicht daran, dass etwa die Regierung oder der Gesetzgeber versagt hätte. Wir als Gesetzgeber haben vielmehr
ausdrücklich die Selbstverwaltung respektiert und die
Träger gebeten, sich untereinander zu einigen. Wir haben das gesetzliche Instrumentarium geschaffen. Wir
wollten aber nicht jedes Detail regeln und jede Einzelheit vorschreiben, sondern die Servicestelle sollte zu einer Anlaufstelle für alle Leistungen werden, die auch die
Reha-Leistungen bündelt. Der Betroffene sollte auf diese
Weise die Leistungen aus einer Hand erhalten und nicht
von Pontius zu Pilatus laufen müssen.
Man muss jedoch sagen: Die Selbstverwaltung hat an
dieser Stelle zwar nicht überall, aber weitgehend versagt; vieles lässt noch zu wünschen übrig. Aber das sprechen wir ganz offen an. Sie hätten doch die Zahlen über
die Servicestellen gar nicht nennen können, wenn es die
wissenschaftliche Begleitforschung des Bundes nicht gegeben hätte, wenn kein offener Bericht vorläge, wenn
wir als Koalitionsfraktionen und Regierung das Ganze
nicht von vornherein als Prozess der lernenden Gesetzgebung angelegt hätten. Das haben wir extra gemacht,
um eventuelle Mängel aufzudecken und Verbesserungen
möglich zu machen. Diese sind in dem Antrag, den die
Koalitionsfraktionen begleitend eingebracht haben, dargelegt. Das zeigt, dass auf diesem Wege noch eine
Menge zu tun ist, aber dass wir in den letzten vier Jahren
einen richtigen Quantensprung bei der Beteiligung von
Menschen mit Behinderung getan haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Anfang eine Anregung geben: Ein
solcher Bericht wie der, der hier vorliegt, lebt von dem
großen Detailwissen der Verbände. Das ist unverzichtbar, um ein aussagekräftiges Bild der Situation von Menschen mit Behinderungen zu zeichnen. Wir bedauern daher, dass den Verbänden nur eine zweiwöchige Frist
eingeräumt wurde, um den Arbeitsentwurf zum vorliegenden Bericht der Bundesregierung zu kommentieren
und eine Stellungnahme abzugeben. So stellt der Deutsche Schwerhörigenbund zu Recht fest, dass es angesichts des Umfangs von immerhin 220 Seiten ein zu großes und schweres Unterfangen sei, eine fundierte
Stellungnahme binnen zwei Wochen zu erstellen. Ich
möchte deshalb ganz konkret anregen, dass man diese
Frist verlängert und sich den Sachverstand der Verbände für diesen Bericht holt.
({0})
Eines, lieber Kollege Kurth, fand ich toll, nämlich
dass Sie sagten, uns allen seien die Probleme von Menschen mit Behinderungen bekannt. Wenn ich mir aber
den Bericht von 220 Seiten anschaue, dann habe ich den
Eindruck, dass das eine reine Lobhudelei und Selbstbeweihräucherung ist,
({1})
weil die Probleme, die Sie zu Recht ansprechen und die
wir hier diskutieren, in dem Bericht gar nicht enthalten
sind.
({2})
Eines der Fehlkonstrukte in diesem Bericht ist doch im
Gegensatz zum Altenbericht der Bundesregierung, der
von einer unabhängigen Kommission erstellt wird, dass
die wirklichen Probleme, die hier bestehen, in dem Bericht gar nicht auftauchen, sondern dass häufig im Jahr
2003, wie auch in der Rede des Staatssekretärs, geendet
wird, obwohl ab dem Jahr 2003 zum Beispiel auf dem
Arbeitsmarkt die wirklichen Probleme erst entstanden.
Deswegen möchte ich mich zu Anfang auf die Probleme auf dem Arbeitsmarkt konzentrieren. Es fehlt
eine kritische Betrachtung und ein Anprangern von
Missständen in diesem Bericht. So ist im Abschnitt „Arbeitsmarktpolitik und Bundesagentur für Arbeit“ zu lesen, dass sich die Bundesagentur nochmals nachdrücklich zur Förderung der Teilhabe behinderter und
schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben bekannt
habe. Natürlich ist dies sehr erfreulich. Allerdings sieht
die Realität anders aus. Ich denke, keine Fraktion würde
es Ihnen verübeln, wenn nicht nur Erfolge, sondern auch
Schwierigkeiten klar benannt würden. So fehlt mir eine
kritische Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten,
die es bei der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2003 gab.
({3})
Zwar habe ich keinerlei Zweifel daran - wir kennen die
Äußerungen der Ministerin, des Staatssekretärs und vieler anderer -, dass die Bundesregierung diese Schwierigkeiten genauso gesehen und sie auch kritisiert hat, aber
das Verhalten der Bundesagentur ist weiterhin kritikwürdig und gehört in diesen Bericht hinein.
({4})
Dieser Tage erreichen mich nämlich wieder Zuschriften, die befürchten lassen, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund fehlender Mittel in diesem Jahr nicht mehr
in das Eingangsverfahren für den Berufsbildungsbereich
bzw. berufsvorbereitende Maßnahmen übernommen
werden.
({5})
Daniel Bahr ({6})
Auch gibt es Berichte, dass die Bundesagentur teilweise
versucht, sehr schwer vermittelbare Arbeitsuchende mit
Handicaps, die nichts mit Behinderung im eigentlichen
Sinne zu tun haben, in die Werkstätten für Behinderte
abzuschieben. Vielen Werkstätten sind solche Fälle bekannt und damit werden vermeintliche Einzelfälle zu einem echten Problem, vor allem aus Sicht der Werkstätten. Ich erwarte, dass die Bundesregierung ein solches
Verhalten nicht duldet. Allerdings frage ich mich, warum
ein solcher Bericht nicht als Plattform genutzt wird, das
Verhalten der Bundesagentur kritisch zu beleuchten und
die interessierte Öffentlichkeit darauf hinzuweisen.
({7})
Es steht auch in Ihrer Verantwortung, der Verantwortung
der Bundesregierung, die Einfluss auf das Handeln der
Bundesagentur nehmen kann, dazu etwas in diesen Bericht aufzunehmen.
Auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter sucht man im Bericht
vergebens. Alle hier im Hause vertretenen Parteien waren sich Anfang 2003 darüber einig, die Beschäftigungspflichtquote schwerbehinderter Menschen bei
5 Prozent zu belassen und nicht auf 6 Prozent zu erhöhen, weil der Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter fast punktgenau die politische Zielvorgabe von
25 Prozent erreicht hatte. Nur, die Meldungen, die uns
ab Mitte 2003 erreichten, hörten sich doch ganz anders
an. Plötzlich war von einem erschreckenden Anstieg der
Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter die Rede und seitens
des Ministeriums wurden hierfür die Arbeitgeber verantwortlich gemacht. Die Ministerin ist lautstark an die Öffentlichkeit getreten. Dem vorliegenden Bericht wiederum können Sie nur entnehmen, dass dieser Anstieg
„im Zuge des Anstieges der allgemeinen Arbeitslosigkeit“ erfolgte, was die Frage aufwirft, warum die Arbeitgeber derart heftig attackiert wurden.
({8})
Der Anteil Schwerbehinderter an der Gesamtarbeitslosigkeit betrug im Oktober 2004 4,1 Prozent. Das
ist im Bericht enthalten. Die eigentlich interessante Vergleichszahl nennt der Bericht aber nicht. Diese können
Sie allerdings in einem älteren Bericht der Bundesregierung gemäß § 160 SGB IX finden. Im Januar 2003 betrug diese Zahl 3,6 Prozent, was belegt, dass die spezifische Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in diesem
Zeitraum weit überproportional gestiegen ist. Es sollte
uns doch bedenklich stimmen, dass die Arbeitslosigkeit
von Schwerbehinderten weit über der normalen Arbeitslosigkeit liegt.
({9})
Statt nur Erklärungsversuche oder Entschuldigungsgründe für diese bedauerliche Entwicklung zu suchen,
hätte ich mir klare Aussagen zu Handlungsoptionen gewünscht. Die Lage ist erkannt, aber wie soll sie behoben
werden? Interessant ist, dass die Erstellung des Berichts
auf der Grundlage des § 66 SGB IX basiert. Der Paragraph sieht unter anderem vor, dass die Bundesregierung
in ihrem Bericht „zu treffende Maßnahmen“ vorschlägt,
die im Zusammenhang mit der Umsetzung des SGB IX
stehen, wenn dies erforderlich ist.
Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen müssen wir über zu treffende Maßnahmen und nicht nur über eine Feststellung in diesem
Bericht diskutieren. Mir fehlen in dem Bericht vollkommen die Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreifen
will, um die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter wieder
zu senken.
({10})
Ich weiß - es war ja auch der Presse zu entnehmen -,
dass im Ministerium über Maßnahmen diskutiert wurde,
um Einstellungshemmnisse für Schwerbehinderte zu
beseitigen. Dazu zählte das Ministerium den besonderen
Kündigungsschutz für Schwerbehinderte sowie den Zusatzurlaub für diesen Personenkreis. Das Ministerium
scheint nach sehr negativen Rückmeldungen von Gewerkschaften und Verbänden von der Diskussion über
diese Vorstellungen vollkommen abgerückt zu sein. Ich
habe mir ebenso wie die FDP-Fraktion keine abschließende Meinung hierzu gebildet, bin aber der Meinung,
dass wir hier im Deutschen Bundestag eine Diskussion
über Maßnahmen zur Verminderung von Einstellungshemmnissen brauchen, um die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter senken zu können. Nur so können wir
Schwerbehinderten wieder einen Zugang zum geregelten
Arbeitsmarkt bieten. Aussagen dazu fehlen im Bericht
vollkommen. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung will sich dieser Diskussion angesichts der nahenden
Bundestagswahl nicht mehr stellen. Ich finde das bedauerlich, denn immerhin bleibt noch ein Jahr Zeit, hier etwas zu tun.
({11})
Gleiches gilt für die Eingliederungshilfe. Zu Beginn
der Legislaturperiode habe ich das Thema hier im Bundestag angesprochen und die Bundesministerin hat erklärt, sie wolle die steigenden Fallzahlen bei der Eingliederungshilfe in diesem Jahr thematisieren und über
Lösungswege diskutieren. Mittlerweile sind drei Jahre
dieser Legislaturperiode vergangen und wir haben vonseiten der Bundesregierung bis heute noch nicht gehört,
wie sie den steigenden Fallzahlen bei der Eingliederungshilfe begegnen will. Ich kann kein Konzept erkennen, wie sie die finanziell klammen Kommunen und
Bundesländer bei diesem Problem unterstützen will. Wir
werden weiterhin warten müssen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silvia Schmidt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Bahr, ich hoffe
nicht, dass wir hier im Deutschen Bundestag über die
Aufhebung des Kündigungsschutzes und des ZusatzSilvia Schmidt ({0})
urlaubs für behinderte oder schwerbehinderte Menschen
diskutieren müssen. Mit mir wird es eine Diskussion
darüber jedenfalls nicht geben.
Zwei weitere Bemerkungen zu Ihren Ausführungen:
Sie sagten unter anderem, wir hätten mit diesem Bericht
Schönfärberei betrieben.
({1})
Bei den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs hatte
ich nicht das Gefühl. Sie haben auch gesagt, der Bericht
würde einiges verschleiern. Im Gegensatz zu Ihnen hat
Herr Hüppe hier versucht - wie er es getan hat, kann
man infrage stellen -, die Aussagen des Berichts sehr lebendig darzustellen. Das sollte man nicht vergessen und
deshalb sind Ihre Aussagen für mich sehr schwer nachzuvollziehen.
Der zweite Bereich: Sie sprachen über den Einsatz
von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen wie
beispielsweise Werkstätten. Wenn Sie die Statistiken
verfolgt haben, wissen Sie wahrscheinlich, dass jetzt
verstärkt auch ältere behinderte Menschen in diesen Einrichtungen aufgenommen werden. Auch über diese Aussage sollte man einmal nachdenken.
Herr Kurth hat die Schwierigkeiten mit der Bundesagentur angesprochen. In Teilen stimme ich den Ausführungen zu, aber so gravierende Probleme, wie Sie sie
darstellen, sehe ich nicht. Ich hatte vorgestern ein Gespräch mit dem Regionaldirektor von Sachsen-Anhalt/
Thüringen, Herrn Dähne, in dem er mir ausdrücklich gesagt hat, man komme dieser Pflichtaufgabe sehr gewissenhaft nach.
({2})
Wenn es in dem einen oder anderen Bereich Schwierigkeiten geben sollte - ich weiß, dass es sie gibt -, werden
wir den Problemen nachgehen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
verschiedene Bereiche aufgezählt und gesagt: Hier werden Leistungen gekürzt. Ich mache es heute einmal etwas anders, als Sie es gewohnt sind, und sage einfach:
Da haben Sie Recht.
({4})
Allerdings muss ich hier auch die Länder ansprechen,
die teilweise ihren Aufgaben beim Paradigmenwechsel
bzw. beim Umkehrgedanken in der Behindertenpolitik
nicht nachkommen. Auch sie haben eine Pflicht und eine
Verantwortung. Zwischen den einzelnen Ländern gibt es
deutliche Unterschiede. Wir müssen feststellen, dass der
politische Wille des Bundesgesetzgebers von den CDU/
CSU-geführten Landesregierungen einfach gebrochen
wird. Dafür gibt es hervorragende Beispiele.
Ich möchte aber positive Beispiele nennen: Das sozialdemokratisch geführte Rheinland-Pfalz hat als erstes
Bundesland Modellprojekte zum persönlichen Budget
durchgeführt und zur Barrierefreiheit ist von den sozialdemokratisch geführten Ländern auch einiges getan
worden. In Brandenburg gibt es trotz knapper Kassen
- das möchte ich besonders betonen - bis zu maximal
10 000 Euro für die behindertengerechte Anpassung von
Wohnraum. Ebenfalls in Brandenburg ist die Barrierefreiheit auch für Behördenneubauten der Kommunen
Pflicht.
({5})
Anders in Hessen: Hier zeichnet sich die Barrierefreiheit dadurch aus, dass sie für die Kommunen nicht verpflichtend ist. Behindertengerechte Schwimmbäder in
Hessen sind also nicht verpflichtend.
Bei der Frühförderung gab es - das wurde auch
schon mehrmals erwähnt - immer wieder Abstimmungsprobleme. Hier hat Nordrhein-Westfalen - auch dank
Regina Schmidt-Zadel, die dabei Vorreiter war - vorbildlich reagiert. Dort wurde die bundesweit erste Landesrahmenempfehlung zur Umsetzung der Frühförderungsverordnung geschaffen. Dabei ist es zu keinerlei
finanziellen Einbußen gekommen. Das war eine Falschaussage, Herr Hüppe, die man nicht so stehen lassen
kann.
Das SGB IX hat zu vielen spürbaren Verbesserungen
für Menschen mit Behinderungen geführt. Ich möchte
Ihnen hier nur einige positive Beispiele nennen. Wir
können zwar alles schlechtreden, aber das bringt uns
nicht weiter. Wir müssen auch aufzeigen, was das
SGB IX bewirkt hat.
Frauen sind doppelt belastet und behinderte Frauen
dreifach. Das wissen wir und das will sicherlich niemand
bestreiten. Aber § 9 im SGB IX fordert, die Bedürfnisse
der Mütter und Väter zu berücksichtigen. So hat eine
beinamputierte Mutter gegen ihre Krankenkasse geklagt,
die sich geweigert hatte, bessere, gangsichere Prothesen
zu finanzieren. Schließlich bekam die Mutter zweier
Kinder vor dem Bundessozialgericht Recht. Das Gericht
bezog sich ausdrücklich auf die „Bedürfnisse behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages“ im Sinne des SGB IX. Das Wunsch- und
Wahlrecht des § 9 SGB IX beinhaltet auch das Recht
auf Pflegekräfte des eigenen Geschlechts, das gerade
von Frauen immer wieder gefordert wird.
Das Wunsch- und Wahlrecht wirkt sich auch bei der
Kinderbetreuung aus. Dadurch bekam eine behinderte
Mutter vom Sozialamt Jena ein höhenverstellbares Kinderbett mit Schiebetüren finanziert, das sie mit dem
Rollstuhl unterfahren kann. Das von Bayern in den Bundesrat eingebrachte Kommunale Entlastungsgesetz
- KEG - würde dazu führen, dass dieses Wunsch- und
Wahlrecht unter einem Finanzierungsvorbehalt steht.
Wer will der Mutter die Erfüllung dieses Wunsches verwehren?
Auch über § 54 SGB IX, der vorsieht, dass Kinderbetreuungskosten berücksichtigt werden, ist vom Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern positiv berichtet worden. Der Verband hat aber auch die
Silvia Schmidt ({6})
Erfahrung gemacht, dass die Behörden SGB IX entweder nicht kennen oder nicht kennen wollen. Die Förderung von Frauen und Familien ist aber wichtig.
Wir haben einiges gewollt und auch sehr gut gemacht
und wir haben alles gemeinsam beschlossen. Sie von der
CDU/CSU weisen stets auf Ihr behindertenpolitisches
Engagement hin. Das ist auch richtig. Aber dann sorgen
Sie bitte dafür, dass dieser Paradigmenwechsel auch in
den CDU/CSU-regierten Ländern umgesetzt wird!
Damit möchte ich noch einmal auf das KEG zurückkommen, das in Bayern ganz großgeschrieben wird. Mit
der Einführung der so genannten generellen Finanzkraftklausel findet aber praktisch keine Sozial- und Behindertenpolitik mehr statt. Denn wie Sie zu Recht erwähnt haben, gibt es in den Kommunen und auch in den
Ländern große Haushaltslöcher.
Obwohl selbst die Fachausschüsse des Bundesrates
gegen den Gesetzentwurf waren, haben ihre Länder zugestimmt. Das ist ein Rückschlag für die gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Er bedeutet - das ist sogar noch schlimmer - einen
Rückschritt auf den Stand vor dem In-Kraft-Treten des
Bundessozialhilfegesetzes 1962.
Die Rückverlagerung des § 35 a vom KJHG in das
Sozialhilferecht wollen Sie ebenfalls. Das würde bedeuten, dass seelisch behinderte Kinder und Jugendliche erneut zwischen die Leistungsträger geraten. Sie wissen
auch, was das bedeutet: Keiner übernimmt die Kosten
und das geht zulasten der Kinder.
Nun komme ich zu meinem eigenen Bundesland
Sachsen-Anhalt, dessen Sozialminister sein Amt mit Sicherheit verfehlt hat. Sozusagen über Nacht wurden die
Eltern behinderter Kinder darüber in Kenntnis gesetzt,
dass der Umfang der vom Arzt festgesetzten ambulanten
Fördereinheiten gekürzt wird. Damit dürfen die Einrichtungen nur noch 90 Minuten statt bisher 150 Minuten für
Vorbereitung, Anfahrt, Therapie und Elternberatung abrechnen. Die Kosten sollten von circa 85 Euro auf
50 Euro reduziert werden. Abgesehen davon, dass die
ambulante Frühförderung geschwächt wird, handelt das
Land gegen die Frühförderungsverordnung.
Dass der Sozialminister, Herr Kley, das Kürzen der
Vorbereitungszeit mit dem Vergleich abtat, dass man
auch bei einer Autoreparatur nur die Reparaturkosten
und nicht die Vorbereitungszeit zahlen müsse, ist erschreckend. Herr Kley hat sich mit diesem Vergleich für
das Amt des Sozialministers disqualifiziert. Ich kann
deshalb nur seinen Rücktritt fordern.
In Sachsen-Anhalt wurde aber auch der Tagessatz für
ambulant betreute Wohnformen auf 10,96 Euro reduziert. In der Lutherstadt Eisleben bekam ein freier Träger
vorher 15 Euro, nun nur noch knapp 11 Euro. Damit ist
die Existenz des Trägers bedroht, ebenfalls der Grundsatz: ambulant vor stationär. Diesen Grundsatz wollen
wir aber alle hier im Deutschen Bundestag. Die einseitige, ohne Verhandlungen mit den Trägern vorgenommene Sparpolitik zeigt, was CDU/CSU-Behindertenpolitik heißt. Es wurde bereits erwähnt, dass
Weihnachten 2004 in Niedersachsen blinden Menschen
der Beitrag zu ihren Mehraufwendungen vollständig gestrichen worden ist.
Ich kann Sie nur auffordern, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU: Bleiben Sie bei der
Wahrheit und fordern Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen
vor Ort auf, Behindertenpolitik tatsächlich zu betreiben
und für eine entsprechende Umsetzung zu sorgen! Ich
glaube, nur so kommen wir ein Stück weiter.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje
Blumenthal.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute nicht nur über den Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und
die Entwicklung ihrer Teilhabe, sondern auch über zwei
Anträge meiner Fraktion, deren Ziel es ist, genau diese
Lage zu verbessern.
({0})
Als wichtigste Aufgabe der Behindertenpolitik werden
im Bericht die Teilhabe, die Eigenverantwortlichkeit und
die Selbstbestimmung genannt. Bei der Selbstbestimmung denken wir - hier schließe ich mich nicht aus noch immer zuerst an Bereiche wie Arbeit, gesundheitliche Versorgung und Bildung. Erst ganz allmählich werden auch Themenbereiche angesprochen, die in Verbindung mit Menschen mit Behinderung lange Zeit tabu
waren: Partnerschaft und Sexualität. Gerade hier handelt
es sich um Erfahrungen, die ganz wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Identitätsfindung und auch zur
Selbstbestimmtheit beitragen können. Aber gerade im
Bereich der sexuellen Selbstbestimmung klaffen Lücken, die von der Bundesregierung offenbar noch nicht
einmal erkannt, geschweige denn auch nur in Ansätzen
geschlossen worden sind. Das wird an der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zum Thema „sexuelle Gewalt gegen Menschen mit
Behinderung“ deutlich.
Menschen mit Behinderung werden deutlich häufiger
Opfer sexueller Gewalt als nicht behinderte Menschen.
Besonders betroffen davon sind geistig behinderte Menschen. Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu
50 Prozent der behinderten Frauen einmal oder mehrmals Opfer sexueller Gewalt wurden. Erst seit wenigen
Jahren wird dieses Thema überhaupt im Zusammenhang
mit sexueller Selbstbestimmung erwähnt. Weitgehend
jedoch wird es nach wie vor tabuisiert, und zwar sowohl
in der Forschung als auch in der öffentlichen Diskussion.
Dementsprechend existieren zu diesem Problem kaum
aussagefähige Studien, erst recht nicht in Bezug auf die
Situation in Deutschland.
Die rot-grüne Bundesregierung selbst hat überhaupt
keine Ahnung, weder von den Ausmaßen und den Folgen noch von den Ursachen und den Präventionsmöglichkeiten bei sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung. Kein Wort hierzu von Ihnen, meine Damen
und Herren von Rot-Grün, jedenfalls nicht in Ihren bisherigen Reden, und kein Wort hierzu von Staatssekretär
Thönnes!
({1})
Das eine möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:
Wenn Sie sich die Antworten auf unsere Kleine Anfrage
durchlesen, die Sie aus gutem Grund sogar in Ihrem Bericht zitieren, werden Sie buchstäblich bei jeder zweiten
Antwort sinngemäß den Satz finden: Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. Angesichts
dieser massiven Unkenntnis trauen Sie sich heute mit einem hastig zusammengeschusterten Antrag ins Plenum,
in dem zwar großspurig von Erfolgen geredet wird, in
dem dieses Thema aber nicht mit einem Wort erwähnt
wird. Ich frage Sie: Wie gehen Sie mit unseren Anträgen
bzw. mit den Problemen der betroffenen Menschen um?
({2})
Dieser Schande können Sie eigentlich nur dadurch entgehen, dass Sie unseren Anträgen zustimmen.
({3})
In der Tat ist es so, dass die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage ganz erhebliche Defizite
in den Bereichen „Erkennung“, „Therapie“ und „Prävention von sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung“ offenbart hat. Das, was über die Situation bekannt
ist, wissen wir entweder durch ausländische Studien, die
in Bezug auf die hiesigen Verhältnisse natürlich nur sehr
begrenzt aussagefähig sind, oder aus Kontakten zu Interessenvertretungen und Institutionen. Wissenschaftlich
fundierte Studien existieren schlicht und ergreifend
nicht. Offenbar hat Rot-Grün dieses Informationsdefizit
zumindest erkannt, aber, wie so oft, nicht angemessen
reagiert. Das einzige Modellprojekt zum Umgang mit
sexueller Gewalt in Wohneinrichtungen hatte eine Laufzeit von 1999 bis 2003. Auf den Abschlussbericht warten wir allerdings noch heute.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, wenn Ihnen
dieses Thema so am Herzen liegt, dann hätten Sie Druck
machen müssen, damit uns dieser Bericht endlich vorliegt. Wir haben das Jahr 2005!
({4})
Es sind aber nicht nur die fehlenden wissenschaftlichen Daten und Untersuchungen, die dieses erschreckende Bild kennzeichnen, sondern es ist auch die offensichtliche Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung im
Hinblick auf die Bereiche „Therapie“ und „Prävention“,
in denen es wirklich katastrophal aussieht. Kenntnisse
der Bundesregierung über die Verfügbarkeit und Qualität
niedrigschwelliger Betreuungsangebote für Menschen
mit Behinderung, die Opfer sexueller Gewalt geworden
sind - Fehlanzeige. Kenntnisse der rot-grünen Regierung über Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote
für Mitarbeiter von Beratungs- und Betreuungseinrichtungen, um den Umgang mit den Opfern zu verbessern Fehlanzeige. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen.
Man könnte natürlich denken, dass die Bundesregierung zumindest beabsichtigt, in Zukunft geeignete Maßnahmen zu fördern. Aber auch diesbezüglich gilt ganz
offensichtlich: Fehlanzeige. Es ist wirklich bedauerlich,
dass im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Menschen
mit Behinderung ein solch eklatanter Mangel an Informationen und Konzepten vorzufinden ist.
Skandalös ist allerdings, dass Rot-Grün offenbar kein
Interesse zeigt, hier Abhilfe zu schaffen. Aus diesem
Grund haben wir unseren Antrag eingebracht. Wir wollen die Situation von behinderten Menschen, die Opfer
eines sexuellen Übergriffs geworden sind, verbessern.
Wir fordern, dass wissenschaftliche Studien in Auftrag
gegeben werden, die den Umfang, die Besonderheiten
und die Folgen sexueller Übergriffe repräsentativ analysieren und aus den Erkenntnissen Ansatzpunkte für Prävention und Therapie entwickeln.
Die Betreuer und in der Behindertenhilfe tätige Personen müssen endlich besser über den Umfang, die Besonderheiten und die Erkennungs-, Präventions- und
Therapiemöglichkeiten in Bezug auf sexuelle Gewalt,
insbesondere in familiären Strukturen, informiert werden, sei es durch Seminare und Schulungen oder zunächst durch Informationsmaterialien und Veranstaltungen. Das Bewusstsein dafür muss geschärft werden, wo
sexuelle Übergriffe gegenüber behinderten Menschen
beginnen, welche Folgen sie haben und welche strafrechtlichen Konsequenzen den Tätern drohen. Aber Sie
von der Koalition haben schon im Rechtsausschuss versagt, als Sie sich weigerten, den sexuellen Missbrauch
widerstandsunfähiger Menschen als Verbrechen einzustufen.
({5})
Sie haben das dringend notwendige Signal an die Täter
nicht gesetzt. Sie haben damit nicht nur die behinderten
Menschen enttäuscht.
({6})
Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zu weiteren Aspekten der Selbstbestimmung sagen, mit denen
wir uns in unserem zweiten Antrag befassen.
Zum einen: die Mobilität im öffentlichen Nahverkehr. Die Schwerbehindertenausweisverordnung
sieht zurzeit noch vor, dass Menschen, die das Recht auf
unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr
haben, über einen Ausweis verfügen, auf dem ein Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Notwendigkeit ständiger
Begleitung ist nachgewiesen“ aufgedruckt sind. Der Satz
deutet damit die Notwendigkeit im Gegensatz zum
Recht an, Begleitpersonen mitzuführen. Worauf es hierbei aber ankommt, ist das Recht und nicht die Notwendigkeit.
Wir sind keineswegs kleinkariert, wenn wir feststellen: Diese Formulierung führt zu solchen Missverständnissen, dass den Betroffenen ohne Begleitperson die Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Teil
verwehrt wird.
({7})
- Sie sollten darüber nicht hämisch lachen, sondern Sie
sollten sich mit den behinderten Menschen unterhalten,
die zurückgewiesen werden, zum Beispiel weil sie keine
Begleitperson bei sich haben.
({8})
Der zweite Aspekt der selbstbestimmten Lebensführung, den wir in unserem Antrag aufgreifen, ist die
Gewährung von Parkerleichterungen unter bestimmten festgelegten Kriterien auch für schwerbehinderte
Menschen, die nicht als außergewöhnlich gehbehindert
gelten, die aber aufgrund der Schwere ihrer Behinderung
solchen Personen hinsichtlich der Notwendigkeit von
Parkerleichterungen gleichgesetzt werden sollten. Dazu
zählen zum Beispiel contergangeschädigte Ohnarmer
und Morbus-Crohn-Kranke. Eine bundeseinheitliche Regelung für alle Schwerbehinderten, die wir in unserem
Antrag fordern, ist im Sinne dieser Menschen daher
dringend angezeigt.
Meine Damen und Herren, Sie haben einen eigenen
Antrag vorgelegt, der sehr viel Lob für die von Ihnen getragene Bundesregierung enthält, der aber ansonsten
sehr schwammig ist und keine konkreten Forderungen
enthält. Wir haben Ihnen konkrete und praktikable Vorschläge für die Verbesserung der Situation behinderter
Menschen vorgelegt.
({9})
Deshalb bitten wir Sie herzlich um Ihre Zustimmung
bzw. darum, dass das in Ihre Beratungen Eingang findet.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete und Beauftragte
der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karl Hermann Haack.
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen:
Guten Tag! Meine sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin der
Letzte in dieser Runde. Ich habe mir einiges aufgeschrieben, will meine Rede aber zunächst zur Seite legen.
Als Erstes möchte ich etwas sagen, was uns gemeinsam betrifft. Ursprünglich war die Debatte angesetzt auf
Donnerstag, Kernzeit, 14 Uhr. Wir haben uns gedacht:
Wir wollen einmal richtig über dieses Thema reden und
die Menschen in der Republik sollen die Möglichkeit haben zuzusehen. - Das wurde sehr ernst genommen.
Mich rief dann jemand an, der nicht hören kann, und
fragte: Wird diese Debatte durch einen Gebärdendolmetscher begleitet? Darauf habe ich geantwortet: Nein. Mehrfach habe ich als Behindertenbeauftragter die Bundestagsverwaltung aufgefordert und aus unterschiedlichen Fraktionen wurden ebenfalls Anträge gestellt, dies
in der Kernzeit zu gewährleisten. Dem ist bis heute nicht
entsprochen worden.
({0})
Daraufhin sagte er zu mir: Warum machen Sie eigentlich
Gesetze, die für Sie nicht gelten?
({1})
Ich habe noch eine schöne Botschaft bekommen. Er
sagte: Ich sehe fern. Inzwischen gucke ich mir Cowboyfilme an. Die werden durch einen Gebärdendolmetscher
begleitet. Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie doch einmal
auf das Niveau von Cowboyfilmen!
({2})
Da fiel mir die Kinnlade herunter.
Egal wie diese Debatte heute ausgeht, sollten wir uns
auf einen gemeinsamen Antrag an die Bundestagsverwaltung verständigen mit dem Ziel, den Bundestag barrierefrei zu machen.
({3})
Das war der gemeinsame Teil.
({4})
Jetzt kommt das Trennende. Frau Blumenthal, da
möchte ich mit Ihnen anfangen.
({5})
Sie haben einen Bereich sehr deutlich dargestellt, der zu
den erschütterndsten zählt und sehr respektvoll zu behandeln ist. Darum sage ich sehr respektvoll: Wir haben
gemeinsam mit dem Weibernetz, der Interessenvertretung behinderter Frauen, einiges in das SGB IX hineingeschrieben. Als Ergebnis ist am 1. Januar 2004 das Sexualstrafrecht in dem Sinne, wie Sie es hier beklagt
haben, geändert worden. Das Weibernetz war mit der
Formulierung einverstanden gewesen.
Des Weiteren gibt es Kurse für behinderte Frauen und
Mädchen zur Selbstverteidigung und zur Stärkung des
Selbstvertrauens auch in dieser Richtung.
({6})
Diese Kurse werden nach dem SGB IX finanziert und
entsprechend gut angenommen.
Ebenso gilt das für die Selbsthilfegruppenförderung.
Das Weibernetz e.V. erhält ebenfalls entsprechende Fördermittel. Ich denke, dass wir uns in dieser Hinsicht
nichts vorwerfen lassen müssen.
({7})
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
Kollege Hüppe, wenn es 2006 für die rot-grüne Koalition schief geht, werden Sie eventuell mein Nachfolger.
Da würde ich an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtiger
sein. Ich sage Ihnen auch, warum. Es war Ihre Fraktion
auf Bundesebene, die in der gemeinsamen Beratung zunächst die Positivliste abgelehnt und dann in das Gesundheitsmodernisierungsgesetz hineingeschrieben hat:
Alle OTC-Mittel, also alle nicht verschreibungspflichtigen Mittel, müssen zu 100 Prozent vom Betreffenden
selber bezahlt werden. Es gibt keine Ausnahmeregelung
für Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke
usw.
({8})
Wenn wir das nicht mitgemacht hätten, wäre das Ganze
geplatzt.
Der Herr Stoiber und der Herr Teufel, jetzt Oettinger
genannt, haben uns ein Kommunales Entlastungsgesetz
vorgelegt. Zur Eingliederungshilfe heißt es dort: je nach
Kassenlage.
In Baden-Württemberg hat eine Kommunalreform
stattgefunden.
({9})
Die Regierungspräsidien wurden abgeschafft. Zuständig
sind die Landratsämter. Ich war kürzlich in verschiedenen Kommunen und Einrichtungen in Baden-Württemberg. Dort wurde mir geschildert, dass behinderte Menschen je nach dem Verständnis, das der Landrat für sie
aufbringt, ihre Eingliederungshilfe und andere Leistungen erhalten. Das haben wir nicht gewollt.
Wir haben doch gemeinsam auch mit Ihnen gegen den
Irrsinn gekämpft, den Herr Stoiber vorhatte, sowohl die
Kinder- und Jugendhilfe als auch die Eingliederungshilfe zu 100 Prozent auf die Landesebene zu verlagern,
({10})
weil wir nicht wollten, dass die Lebenssituation von
Menschen mit Behinderungen je nach Kassenlage der
Länder bis zu 16-mal unterschiedlich gestaltet wird.
Stellen Sie sich einmal vor, im Saarland, in Brandenburg, in Thüringen, in Nordrhein-Westfalen oder auch in
Bayern würde jeder nach seinem Gusto darüber entscheiden. Das haben wir verhindert.
({11})
Wenn wir jetzt beklagen, was Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt erleben, dann ist doch zu
fragen, wer den Irrsinn mit den Optionsmöglichkeiten
für die Kommunen und der Gründung von Arbeitsgemeinschaften angefangen hat, was dazu führte, dass dort,
wo Kommunen optiert haben oder Arbeitsgemeinschaften gegründet wurden, die Bundesagentur für Arbeit sich
quasi nur noch um den Restbestand kümmern darf. Das
war doch Herr Koch. Schauen Sie sich das doch einmal
an! Die Kommunen, die optiert haben, erzählen Ihnen,
dass sie für die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen nicht zuständig seien. Auch die Arbeitsgemeinschaften sagen, dass sie dafür nicht zuständig seien.
Wenn man sie aber dann darauf hinweist, dass ihnen dafür das entsprechende Budget zugewiesen wurde und sie
dieses Geld erhalten haben, streiten sie das ab. Ich
denke, dass wir an diesem Punkt noch einmal ganz gewaltig nachzuarbeiten haben.
Herr Hüppe, ich mache Ihnen ein Angebot: Wenn Sie
das verstanden haben, was ich Ihnen hier erzählt habe,
und sich daher in Zukunft vorsichtiger ausdrücken, erkläre ich mich bereit, Ihre Rede, die Sie hier gehalten haben, zehnmal in Schönschrift abzuschreiben.
({12})
Ich sage das, weil ich denke, dass wir Abstand von
Schuldzuweisungen nehmen sollten, die ja nur deswegen
vorgenommen werden, weil, wie jetzt in NordrheinWestfalen, eine Wahl ansteht. Das im SGB IX enthaltene
Bundesgleichstellungsgesetz haben wir gemeinsam mit
den Betroffenen, insbesondere mit den Behindertenverbänden, erarbeitet und im Bundestag und im Bundesrat
einstimmig verabschiedet. Wir haben somit auch gemeinsam dafür zu sorgen, dass es in unserem Land umgesetzt wird. In diesem Zusammenhang komme ich zu
den drei wichtigsten Problemen:
({13})
Es gibt das operative Geschäft. Bezüglich der Bundesagentur haben wir das schon beredet.
In der Frühförderung wird das Hilfsangebot derzeit
von 15 der 16 Bundesländer nicht realisiert, weil es
keine Rahmenvereinbarungen gibt. 40 000 junge Menschen sind betroffen. Nur weil sich örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger und Krankenversicherungen nicht
verständigen können und die Länder nicht entsprechend
handeln und sie zwingen, etwas zu tun, bekommen
40 000 junge Menschen die ihnen zustehenden Leistungen nicht.
Ähnliches gilt für die Servicestellen. In der Anhörung
saßen doch die Vertreter der Reha-Träger und sangen das
Hohelied der Selbstverwaltung und haben davon geredet, dass sie innovativ seien und in diesem Bereich mithelfen würden. Was haben sie denn gemacht? Mit den
Servicestellen geschah das Gleiche wie damals im Zuge
des Reha-Angleichungsgesetzes. Man lässt sie austrocknen, stellt sich aber gleichzeitig hin und sagt, sie funktionierten nicht. Das ist die Strategie. In diesem Bereich
werden wir also nachzuarbeiten haben.
Es gibt auch ein positives Beispiel; das habe ich mitgebracht: das „Programm der Deutschen Bahn AG“. Die
Deutsche Bahn AG legt in Kürze ein Programm vor, in
dem sie beschreibt, wie das Behindertengleichstellungsgesetz in den nächsten zehn Jahren in ihrem Bereich eins
zu eins umgesetzt werden soll. Wenn das die Deutsche
Bahn kann, die einen Strukturwandel durchmacht und
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
finanzielle Schwierigkeiten hat, frage ich mich, warum
das die Bundesagentur für Arbeit, die Rentenversicherungsträger und die Träger der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfe usw. nicht umsetzen können.
Herr Kollege Haack, denken Sie ein bisschen an die
Zeit.
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen:
Sofort. - Wenn die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben“ ein Netzwerk von Nutzern des persönlichen Budgets gründet, warum können dann nicht auch
die Reha-Träger etwas Ähnliches machen?
Mein Ziel ist: Wir müssten - da ist Zivilcourage gefordert - eine Enquete-Kommission „Institutionelle Reformen sozialer Sicherungssysteme“ einsetzen, die die
Aufgabe haben sollte, das operative Geschäft von Bund,
Ländern und Gemeinden sowie der sozialen Sicherungssysteme zu durchleuchten.
Danke.
({0})
Wir sind ja alle Zeuge einer interessanten Wette geworden. Aber, Herr Kollege Haack, Sie waren nicht der
Letzte in der Reihe der Rednerinnen und Redner, sondern das ist die Kollegin Petra Pau.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über zweierlei: über den Bericht
der Bundesregierung zur Lage behinderter Menschen,
also über Politik, und über den Alltag von Menschen mit
Behinderungen, also über das richtige Leben. Dass beides nicht dasselbe ist, belegt auch der vorliegende Bericht: Er ist lang, anspruchsvoll und zielt auf Verbesserungen, aber er trifft nicht die reale Lebenssituation.
Das beginnt schon mit der Einleitung. Die Bundesregierung schreibt, sie habe einen politischen Paradigmenwechsel eingeleitet, und lobt, dass ihre Agenda 2010
neue Chancen für Menschen mit Behinderungen eröffne. - Eines stimmt: Die Agenda 2010 ist ein Paradigmenwechsel; denn sie ist der Gegenentwurf zu einem
modernen, bürgerrechtlichen Sozialstaat.
({0})
Gerade Menschen mit Behinderungen aber brauchen den
Sozialstaat besonders. Sie haben ein Recht auf demokratische Teilhabe und auf aktive Solidarität.
Damit spreche ich überhaupt nicht gegen Einzelerfolge, die im Bericht ebenfalls aufgeführt sind. Ich spreche auch nicht gegen einzelne Vorhaben, die aufgelistet
wurden. Aber ich widerspreche Ihrer Generaleinschätzung.
Fördern und Fordern, so nennen Sie ein zentrales Element Ihrer Politik, auch in diesem Bericht. Nur mal ganz
nebenbei: „Fördern und Fordern“ ist eine literarische
Anleihe bei Makarenko, einem sowjetischen Pädagogen.
({1})
Machen wir den Praxistest: Bundesweit sind
17 Prozent aller Menschen mit Behinderungen arbeitslos. Das sind überdurchschnittlich viele. Sie spüren also
noch stärker: Das rot-grüne Fordern greift, aber das rotgrüne Fördern nicht.
Dieselben Defizite zeigen sich bei der so genannten
Gesundheitsreform. Diese trifft vor allem Menschen,
die ganz besonders auf medizinische Leistungen angewiesen sind. Menschen mit Behinderungen gehören
dazu. Deshalb ein Wort an den Kollegen Haack: Da können Sie sich nicht allein mit der Union und ihren Vorschlägen herausreden; Sie von der Koalition hätten
- nach einem Jahr so genannter Gesundheitsreform alle Möglichkeiten gehabt,
({2})
Novellierungen vorzuschlagen, die beispielsweise beinhalten, Kinder von 13 bis 17 Jahren oder eben auch
Menschen mit Behinderungen von der Medikamentenbezahlung zu befreien.
Wir sind immer noch beim Praxistest. Sie kennen die
Kritik der PDS an der Steuerpolitik. Diese geht unter anderem zulasten der Kommunen. Vieles, was Menschen
mit Behinderungen vor Ort helfen könnte, scheitert auch
daran.
Zum Schluss ein Erlebnis aus der vergangenen Woche. Ich war im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und
lernte dort eine engagierte Frau kennen. Sie war vor Jahresfrist von Bundespräsident Horst Köhler zur „Tafel der
Demokratie“ eingeladen worden und fand bei ihrem ersten Berlin-Besuch, dass Rollstuhlbewegte es hier viel
leichter als bei ihr zu Hause in Herne hätten. Ich weiß,
dass Menschen mit Behinderungen aus Berlin, von denen einige auch heute hier der Debatte folgen, das sehr
viel kritischer sehen. Aber sie berichtete mir, dass sie zu
Hause an keinen Geldautomaten herankomme, dass das
neu errichtete Gerichtsgebäude für Menschen wie sie
kaum erreichbar sei, dass der Nahverkehr neue Hürden
aufbaue und die viel gelobten Servicestellen überlastet
seien.
Kurzum: Die PDS im Bundestag erwartet von der
Bundesregierung einen realistischen Bericht und keine
Schönfärberei. Vor allem aber fordern wir einen Politikwechsel - auch im Sinne der Menschen mit Behinderungen.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4575, 15/4927, 15/4928, 15/5463
und 15/5460 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/4927 und 15/4928 sollen zusätzlich an den
Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
40 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und Israel Im Wissen um die Vergangenheit die Zukunft
gestalten
- Drucksache 15/5464 Da ich den Herrn Botschafter Stein auf der Tribüne
gesehen habe, möchte ich ihn im Namen von uns allen
zu dieser Debatte begrüßen.
({0})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der „dunkelsten aller dunklen Nächte“ dämmerte
der Morgen. Mit diesem Bild hat Zalman Shazar, damals
Staatspräsident Israels, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern
gekennzeichnet.
David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, beide hatten mit eigenen Augen gesehen, wie Deutsche die dünne
Haut der Zivilisation aufbrachen und dem Willen Hitlers
folgten. Die Schoah ist präsent in Israel und auch in
Deutschland. Der Holocaust war der monströse Riss, den
die Nationalsozialisten in die Zivilisation und zugleich
in die Zeit mit ungeheuerlichem Einsatz von Terror geschlagen haben. Hitler - das muss immer wieder vergegenwärtigt werden - wollte die Juden dazu verdammen,
in diesem Riss zu verschwinden. Für immer sollte es für
die Juden keine Zukunft geben, keinen Ort - nirgends.
Diese Vergangenheit und die Erinnerung daran werden
nicht vergehen. Die Nazidiktatur und mit ihr alle, die sie
gestützt haben, haben in den Namen Deutschland ein
Mal eingebrannt und dieses Mal heißt Holocaust. Es
wird bleiben bis an das Ende aller Zeiten.
Amos Oz hat es vor zwei Tagen gesagt, als er Ihnen,
sehr geehrter Herr Außenminister, zur Verleihung des
Leo-Baeck-Preises gratulierte. Seinen Worten schließe
ich mich ausdrücklich an. Er sagte:
Sie verdienen diese Ehre, lieber Joschka Fischer,
für Ihre Integrität und Ihre Vision, für Ihre Phantasie und für Ihren Mut, für Ihre tiefe Empathie mit
allen Opfern von Ungerechtigkeit und, nicht zuletzt, für Ihre warme, unbeirrbare Empathie für das
jüdische Volk und für Israel.
Wir schließen uns dieser Gratulation an, lieber Joschka
Fischer.
({0})
Noch einmal Amos Oz in der gleichen Rede:
Das jüdische Volk hat … ein langes und schmerzvolles historisches Gedächtnis.
Das Gedenken an den Holocaust, die Eröffnung des
Mahnmals wenige Schritte von hier - das haben wir alle
miterlebt - und die Debatte darüber, wie der, der es begeht, beim Gehen in ihm seinen Sinn aufschließt, machen deutlich - jeder wird es in seinem Gedächtnis bewahren -: Vom Holocaust geht eine ungeheure Macht
aus. Sein Schrecken schwindet nicht. Diese Wunde wird
die Zeit nicht heilen.
Schimon Perez hat heute in der „Welt“ geschrieben:
Je mehr wir über den Mord an den Juden erfahren,
desto weniger wissen wir über ihn.
Er fordert heraus, auf die Frage „Warum?“ eine Antwort
zu finden: Warum konnten Deutsche das banal Böse verkörpern? Warum haben sie den Nachbarn verraten? Warum haben sie sich zu wenig aufgebäumt?
Diese Fragen werden nie ein Ende nehmen und sie
dürfen kein Ende nehmen. Denn sie zwingen uns immer
wieder neu, genau das zu tun, worauf es ankommt, nämlich Tugenden zu festigen, die jeder Einzelne braucht
und die wir alle in jenem Moment brauchen, in dem sich
das Böse zeigt. In diesem Augenblick müssen wir als
Einzelne und als Kollektiv, als Deutsche und als Europäer den Mut und die Kraft haben, uns gegen das neu
entstehende Böse, in welcher Gestalt auch immer es erscheint - ob in altem oder in neuem Antisemitismus -,
zu wehren. Das ist das historische Vermächtnis. Gerade der Bundestag muss darüber wachen. Dies darf nie
vergessen werden.
({1})
Es werden neue Fragen hinzukommen: Wird die Erinnerung ausreichen, um die Beziehungen neu zu festigen?
Wie verändert sich das Geschichtsverständnis, wenn es
dereinst einmal keine Zeitzeugen mehr geben wird? Was
müssen wir, Israelis und Deutsche, gemeinsam tun, damit die Zeugenschaft weitergegeben wird?
({2})
Manche von uns waren dabei, als in der letzten Woche March of the Living daran erinnerte, wie die Überlebenden von Auschwitz damals ihren Weg in die Freiheit
angetreten haben. Zum ersten Mal durften Deutsche
Gert Weisskirchen ({3})
Juden auf diesem Weg begleiten. Das war, liebe Kollegin
Müller und alle anderen, die dabei waren, ein wunderbares Zeichen der Zuneigung und des Vertrauens in uns
Deutsche. Dieses Vertrauen müssen wir bei uns und in
uns bewahren.
({4})
Aber was wird eigentlich - das ist eine wichtige
Frage - in 20, 30 Jahren geschehen? Was werden dann
die Inhalte des historischen Bewusstseins sein? Driften
dann die Verständnisse auseinander, beispielsweise in Israel das fast partikulare Wissen darum, dass die Schoah
mit der Judenheit zu tun hat, und in Deutschland der immer wieder stattfindende Versuch, dieses Gedenken zu
universalisieren? Besteht dann nicht die große Gefahr,
dass etwas auseinander driftet, was doch zusammengehört?
Ich würde herzlich darum bitten, dass in das Kulturabkommen, das hoffentlich bald unterzeichnet wird, der
Gedanke aufgenommen wird, die Historiker darum zu
bitten, genau diesen Punkt gemeinsam zu erörtern, um
uns Hinweise zu geben, wie ein gemeinsames Gedenken,
das Wissen und das Bewahren des Wissens um den Holocaust und die Schoah uns Deutsche auch künftig in einem kulturellen Gedächtnis verbinden könnten. Ich
finde, das wäre eine gute Aufgabe für Historiker. Es gibt
viele Historiker, die an diesem Thema arbeiten. Es wäre
klug, wenn beide Regierungen die Historiker bitten würden, gemeinsam an diesem großen Projekt zu arbeiten.
({5})
Wenn Normalität hieße, das einzigartig Herausragende unserer Beziehungen werde eingeebnet, dann
muss dem Einhalt geboten werden. Wenn Normalität allerdings heißen soll - das hoffe ich -, Israelis und Deutsche sollten einander besser verstehen lernen und häufiger das jeweils andere Land besuchen, dann sollten wir
dazu aufrufen. Die praktische Zusammenarbeit in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer und
übrigens auch in sicherheitspolitischer Hinsicht hat sich
erstaunlich rasant und positiv entwickelt. Deutschland
ist für Israel der wichtigste Partner in der Europäischen
Union und der zweitwichtigste Partner nach den USA.
Auch das ist ein wunderbares Zeichen für das Vertrauen,
das Israel in uns setzt.
Die kulturellen Verbindungen sind außerordentlich
fest. Der Wunsch, die deutsche Sprache zu lernen, wird
immer stärker, besonders bei jungen Menschen. Viele
Projekte stiften Freundschaft und helfen, dass Vertrauen
gefestigt wird. Ich will ein solches Projekt nennen und es
herausheben: Aktion Sühnezeichen. Diese Aktion arbeitet an den Werken, die uns versöhnen helfen. Sie lindern
Schmerzen. Sie bauen an einer gemeinsamen Zukunft.
Ich möchte darüber hinaus eine Initiative nennen, die
fast im Verborgenen arbeitet. Sie ist wunderbar. Rudi
Pahnke - der eine oder andere wird ihn kennen kämpfte schon in der DDR als evangelischer Pfarrer für
die Freiheit. Seit einigen Jahren widmet er sich dem
Austausch deutscher und israelischer Jugendlicher, bis
Ende letzten Jahres vom Jugendministerium, jetzt durch
die Mittel für das Civitas-Programm gefördert. Das sind
wunderbare Beispiele. Diese müssen wir mehren, erweitern und verstärken, damit junge Menschen einander
kennen lernen und Missverständnisse, die es bei manchen Selbstverständnissen zwischen Israel und Deutschland gibt, abgebaut werden können. Was wir beide,
Deutschland und Israel, brauchen, ist genau das, was
Schimon Stein von uns erwartet, fordert und wünscht:
Lassen wir uns das Trennende überwinden und wir werden feststellen, dass uns viel mehr vereint als trennt.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war ein
gutes, ein ermutigendes Ereignis. Wir sind als Deutscher
Bundestag aufgerufen, diese Kontinuität fortzusetzen
und zu verstärken. Das wünsche ich mir. Ich bin auch sicher, dass der Bundestag das tun wird.
({6})
Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vor vier Tagen haben wir des Endes des Zweiten
Weltkrieges und der Befreiung Deutschlands und Europas von der Nazibarbarei vor 60 Jahren gedacht. Vor
zwei Tagen wurde in eindrucksvoller Weise das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet. Heute
erinnern wir an die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Staat Israel, die am 12. Mai 1965 bekannt gegeben
wurde.
Wer durch das von Peter Eisenman gestaltete Stelenfeld geht und wer am „Ort der Information“ die Namen
und Schicksale der von Deutschen ermordeten jüdischen
Kinder, Frauen und Männer hört, der kann etwas erahnen von der Größe jener Staatsmänner - ich nenne die
Namen Nahum Goldmann und David Ben Gurion -, die
trotz allen Schmerzes, tiefer Zweifel, ja verständlicher
Empörung im eigenen Land Schritte auf die junge westdeutsche Demokratie zugingen.
({0})
In der Bundesrepublik Deutschland hatte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 27. September 1951 unmissverständlich und
mit einhelliger Zustimmung des gesamten Deutschen
Bundestages zur Verantwortlichkeit Deutschlands für die
nationalsozialistischen Verbrechen sowie zur Pflicht moralischer und materieller Wiedergutmachung gegenüber
den Vertretern des Judentums und dem Staat Israel bekannt. Nach der Unterzeichnung des Luxemburger
Wiedergutmachungsabkommens von 1952 markiert
die Begegnung von Ben Gurion und Adenauer 1960 in
New York einen weiteren entscheidenden Schritt auf
dem Weg zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
Die Bereitschaft israelischer Staatsmänner, über den
Abgrund der Schoah, jenes in der Menschheitsgeschichte einzigartigen Verbrechens, Brücken zu bauen,
war, wie Schimon Peres einmal formulierte, „kein Sieg
des Vergessens über die Erinnerung, sondern ein Sieg
der Hoffnung über die Verzweiflung, ein Sieg des Vertrauens“.
({1})
So wie uns der kalt und perfektionistisch ins Werk gesetzte Mord an 6 Millionen Juden sowie der Massenmord an Hunderttausenden anderer Opfer des NS-Regimes die niedrigste Gesinnung vor Augen führt, zu der
Menschen fähig sind, Angehörige unseres Volkes fähig
waren, so führt uns diese Haltung der Hoffnung und des
Vertrauens die höchste Gesinnung vor Augen, zu der
Menschen fähig sind. Beides dürfen wir nicht vergessen.
({2})
Ich denke, in den Worten von Sabine van der Linden, jener Holocaust-Überlebenden, die heute in Australien
lebt und die vorgestern bei der Denkmaleröffnung
sprach, war etwas von dieser Größe, von dieser höchsten
Gesinnung zu spüren.
Wahr ist aber auch, dass die Transparente, auf denen
am 8. Mai auf dem Alexanderplatz gegen eine angebliche Befreiungslüge und einen vermeintlichen Schuldkult
gewettert wurden, zeigen: Der Ungeist, der so unermessliches Leid über ganz Europa und in besonderer Weise
über die Juden Europas brachte, ist nicht verschwunden.
Er muss täglich aufs Neue und mit ganzer Entschiedenheit bekämpft werden.
({3})
Meine Damen und Herren, in unserem gemeinsamen
Antrag ist beschrieben, in welcher Weise die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel in den letzten vier
Jahrzehnten gewachsen sind, sodass Deutschland heute
engere Beziehungen zu Israel unterhält als zu jedem anderen Land außerhalb Europas und Nordamerikas. Kein
verantwortlicher Mensch in Deutschland will einen
Schlussstrich unter die Erinnerung an die NS-Vergangenheit ziehen. Zu Recht hat Bundespräsident Horst
Köhler am 2. Februar dieses Jahres vor der Knesset erklärt, dass die - ich zitiere ihn - „Verantwortung für die
Schoah Teil der deutschen Identität“ ist.
Gerade deshalb konnten den Beziehungen zum Judentum und damit auch den Beziehungen zum Staat Israel neue Kapitel hinzugefügt werden. Viele Menschen
in Deutschland wie in Israel haben in zahllosen Partnerschaften in allen Bereichen des gesellschaftlichen
Lebens tatkräftig an diesen Kapiteln mitgeschrieben. In
diesem dichten Netz, das unter anderem über 100 Städtepartnerschaften, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Bildungseinrichtungen, Sportvereine, die Freiwilligen von
„Aktion Sühnezeichen“ und „Pax Christi“ sowie zahllose Künstler und Wissenschaftler miteinander geknüpft
haben, entstanden zahllose Freundschaften.
Mit Israel verbinden uns gemeinsame demokratische
Überzeugungen sowie Werte, die im Judentum und im
Christentum, im Humanismus und in der Aufklärung
verankert sind. Der eindrucksvoll entwickelte Forschungsstandort Israel ist für uns ein wichtiger Partner
bei der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Wir wollen einen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts leisten. Israels Bevölkerung muss endlich ohne Angst vor
Terror leben können.
({4})
Zugleich bekennen wir uns zum Recht des palästinensischen Volkes auf einen demokratischen und lebensfähigen Staat. Aufgrund des historischen Erbes haben die
deutsch-israelischen Beziehungen bleibend einen besonderen Charakter.
Dankbar denken wir an das in den letzten vier Jahrzehnten Erreichte. Zur Selbstzufriedenheit besteht indes
kein Anlass. Denn wenn bei einer Allensbach-Umfrage,
die im März 2005 durchgeführt wurde, 25 Prozent der in
Deutschland Befragten Israel als größte Bedrohung für
den Frieden in der Welt nannten und wenn Deutschland
bei jugendlichen Israelis in der Beliebtheitsskala der
Staaten auf den hinteren Rängen - in der Nachbarschaft
von Russland, Iran und Syrien - rangiert, dann zeigt
dies: Die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten
zu vertiefen und in den Herzen und Köpfen der Menschen, gerade der jüngeren Menschen, zu verankern ist
eine bleibende Aufgabe.
Auch dazu verpflichten wir uns mit unserer heutigen
Beschlussfassung, die erneut eindrucksvoll belegt, welch
hohen Stellenwert alle Fraktionen dieses Hauses den Beziehungen zwischen Deutschland und Israel einräumen
und auch in Zukunft beimessen werden.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutsche haben 6 Millionen europäische Juden mit der
kalten, industriellen Logik der Konzentrationslager ermordet. Der Tod war für diese Menschen „ein Meister
aus Deutschland“, wie es in dem berühmten Gedicht
„Todesfuge“ von Paul Celan heißt. Aus diesem Grund ist
heute, 40 Jahre, nachdem Israel und Deutschland bzw.
Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen zueinander aufgenommen haben, nichts normal und selbstverständlich. Ich sage klar: Wir hatten auf das, was wir
in diesen 40 Jahren erleben und aufbauen konnten, keinen wirklichen Anspruch.
Wenn es stimmt - wir teilen diese Auffassung -, dass
die Verantwortung für die Schoah, wie es Bundespräsident Köhler sagte, „Teil der deutschen Identität“ ist,
dann möchte ich klar sagen: Verantwortung ist für mich
ein Begriff, der nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit
Wirkungskraft hat. Wenn Verantwortung nicht auch auf
Gegenwart und Zukunft wirkt, bleibt sie eine leere
Phrase.
({0})
Deswegen möchte ich mich mit der Frage beschäftigen,
was diese Verantwortung in Bezug auf unsere heutige
politische Gegenwart eigentlich ausmachen kann.
Der erste Punkt ist: Wir haben eine Mitverantwortung
dafür, dass der Staat Israel in international anerkannten
Grenzen existiert und dass seine Menschen ohne Angst,
Sorge und Terror leben können.
Der zweite Punkt, den ich nennen möchte, ist, dass
wir eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der
Erinnerungskultur haben. Das schreckliche Morden an
den europäischen Juden muss auch weiterhin erinnert
werden, und zwar umso mehr, je weniger Zeitzeugen
- Menschen, die uns etwas erzählen können - noch leben. Es geht um die Frage, wie wir die Erinnerung tatsächlich praktizieren und wie wir an die heute 40- oder
50-Jährigen weitergeben, wie sie diese Erinnerung für
ihre Kinder oder Enkel tradieren können. Geschichte
und gerade so grausame Geschichte besteht übrigens
nicht nur aus Episoden und den Erzählungen von Einzelschicksalen, sondern wir müssen uns auch immer wieder
- auch in 20, 30 Jahren - analytisch die Frage stellen,
was die Ursachen für diese Entwicklung waren. Ich sage
dies ganz bewusst, weil ich gegenwärtig sehen kann,
dass manche in Deutschland doch eine Neigung haben,
die Geschichte in Einzelschicksale und Einzelgeschichten aufzulösen. Diese gehören dazu - ich will es nicht
negieren -; oft wird Geschichte plastischer und transparenter, wenn man dies tut. Aber wir müssen auch die
Frage nach den Ursachen, die weiter zurückreichen können als bis 1933, weiter stellen; auch das ist für mich ein
Aspekt einer aktiven und vernünftigen Erinnerungskultur.
({1})
Der dritte Punkt - was Verantwortung heute heißen
kann -: Sinnvollerweise heißt Verantwortung für mich,
dass wir in der Gegenwart Antisemitismus und Rassismus in unserem Land und überall auf der Welt, wo wir
es können, aktiv bekämpfen müssen.
({2})
Ich glaube, dass dies eine Selbstverständlichkeit ist; niemand wird sagen: Nein, das ist nicht so. Aber wir müssen uns schon fragen, ob wir dies politisch auch wirklich
ausreichend tun, ob - ich will ein willkürliches Beispiel
nehmen - die von den Ländern finanzierten Programme
für Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene gekürzt
werden sollen oder nicht. Das sind Fragen, an denen
deutlich wird, wie ernst wir es mit der Bekämpfung von
Rassismus und Antisemitismus meinen. Damit will ich
sagen: Das kann nicht nur am Sonntag stattfinden oder in
Parlamentsdebatten dieser Art, sondern es entscheidet
sich überall - kommunal, auf der Ebene der Länder und
natürlich auch des Bundes -, ob wir wirklich bereit sind,
diesen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aufzunehmen.
An die CDU und die FDP eine Bemerkung zum
Nachdenken: Ich fand es nicht so gut, dass am Montag
bei der Veranstaltung des Zentralrates der Juden zur
Übergabe des Leo-Baeck-Preises an Joschka Fischer
von der Unionsfraktion und von der FDP-Fraktion - soweit das sichtbar war - niemand da war. Sie müssen sich
überlegen: Sie haben da nicht nur Joschka Fischer boykottiert - was Ihr politisches Recht ist -, sondern Sie haben eine Veranstaltung des Zentralrates der Juden nicht
besucht. Frau Merkel, vielleicht war es nur eine Panne,
aber ich finde, Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob es klug ist, in Deutschland bei solchen Preisverleihungen als Fraktion nicht vertreten zu sein.
({3})
Es war jemand von der Konrad-Adenauer-Stiftung da,
aber niemand von Ihren Fraktionen; darüber sollten Sie
nachdenken.
({4})
Ich möchte noch einen weiteren Punkt nennen, der
mit Verantwortung zu tun hat. Vielleicht haben wir auch
eine politische Mitverantwortung - ich bin sicher, dass
wir sie haben - dafür, den heutigen Konflikt zwischen
den Israelis bzw. dem Staat Israel und den Palästinensern, die noch keinen eigenständigen Staat haben, mit zu
entschärfen. Ich finde, es gehört zu unserer Verantwortung, dabei zu helfen - mit den Mitteln der Politik, mit
den Mitteln der wirtschaftlichen Unterstützung und mit
den Mitteln der Diplomatie -, diesen Konflikt zu entschärfen. Der Weg ist mit der Roadmap, mit der Vorstellung der Völkergemeinschaft, dass wir zwei Staaten
brauchen, die auch lebensfähig sind, vorgezeichnet. Ich
finde, dass vieles, was von dieser Regierung in der Vergangenheit getan wurde, aber auch, was in den nächsten
Monaten und im nächsten Jahr zu tun ist, in diese Richtung weisen muss.
Da sind wir bei der spannenden Frage, ob Deutsche
heute eigentlich - Johannes Rau hat gestern etwas dazu
gesagt - israelische Politik kritisieren dürfen. Ich will
meine klare Antwort geben, von der ich weiß, dass viele
in meiner Fraktion sie teilen: Aus der Perspektive von
Freundschaft und aus der Perspektive der genannten Verantwortung kann man dies tun - aber als Deutscher nicht
mit dem Gestus der Anklage, sondern als jemand, der
Fragen stellt, der Besorgnisse artikuliert, der eben genau
hinschauen will und am Existenzrecht Israels und der Sicherheit seiner Menschen orientiert Vorschläge macht.
Wenn ich zur aktuellen Situation in Israel und in Palästina etwas sagen sollte, würde ich sagen: Es gibt eine
neue Chance für Frieden dort. Das ist eine ganz zarte
Pflanze und wir müssen einen Beitrag leisten, dass sie
wachsen und gedeihen kann. Es gibt so etwas wie einen
Waffenstillstand. Es gibt den Gaza-Rückzug, den man
als positives Zeichen sehen kann. Ich habe die Hoffnung,
dass weitere Zeichen auf beiden Seiten folgen werden,
auf der israelischen wie auch auf der palästinensischen
Seite, die uns endlich konsequent auf den in der
Roadmap vorgezeichneten Weg bringen werden.
Ich habe Verständnis dafür, dass Zäune - ich denke an
die Zäune, die jetzt in der Westbank errichtet werden wirklich vor Terror schützen können. Deshalb verstehe
ich, dass solche Zäune aufgebaut werden. Ich möchte
aber doch die Warnung bzw. Besorgnis zum Ausdruck
bringen, dass die Zäune so liegen müssen, dass sie die
Entfaltungsmöglichkeiten der Palästinenser nicht so einschränken, dass ein möglicher künftiger palästinensischer Staat insgesamt nicht lebensfähig ist.
Ich finde, in dieser Spannung kann die deutsche Politik mit aller Vorsicht, also nicht mit dem Gestus der Anklage, auch dazu beitragen, dass der Weg zum Frieden
dort wirklich gegangen wird. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die meine Fraktion hat. Ich glaube, das ganze
Haus teilt diese Hoffnung, dass wir jetzt am Neuanfang
eines friedlichen Weges stehen. Er wird schwierig sein
und viele Rückschläge bringen, aber 40 Jahre deutschisraelische diplomatische Beziehungen sollten natürlich
auch von der Hoffnung der Menschen in Israel und Palästina auf Stabilität, Frieden und Sicherheit in der ganzen Region für die Zukunft getragen sein.
Wir müssen die Beziehungen zu Israel vertiefen. Sie
sollen sich nicht automatisieren, routinisieren oder normalisieren. Die Besonderheit muss bestehen bleiben. Ich
hoffe, dass ein solches Gedenken bzw. eine solch erinnernde Debatte, wie wir sie heute führen, ein Beitrag
dazu ist, dass dies bestätigt wird und dass wir die Beziehungen in den nächsten Jahren vertiefen können, sodass
wir in zehn Jahren mit einem noch positiveren Bild als
heute dastehen können.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind einzigartig und sie werden es auch immer bleiben. Es war in den letzten 40 Jahren nicht vorbestimmt,
dass sie sich so entwickeln würden, wie sie es taten.
20 Jahre nach Ende der Schoah hatten wir das große
Glück, zwei Staatsmänner zu haben, Konrad Adenauer
und David Ben Gurion, die die mutige Entscheidung getroffen haben, dass unsere Länder aufeinander zugehen.
Von daher glaube ich gar nicht mal, dass es heute ein Tag
des Erinnerns sein sollte, sondern ein Tag, um in die Zukunft zu schauen.
({0})
Ich war damals zwei Jahre alt und mich interessieren eigentlich mehr die nächsten 40 Jahre der deutsch-israelischen Beziehungen, die auf uns zukommen.
Man muss hier auch sagen, dass heute nicht nur über
40 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen debattiert wird, sondern heute ist auch Yom
Ha’atzma’ut. Herr Botschafter, 57 Jahre Unabhängigkeit des Staates Israels: Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich dazu.
({1})
Das bedeutet aber auch 57 Jahre, in denen man immer
wieder um das Existenzrecht des Staates Israels kämpfen
musste: in fünf Nahostkriegen, in einer Situation, in der
noch lange nicht alle islamischen Staaten das Existenzrecht Israels anerkennen, in einer Situation, in der wir
auf einem guten Weg sind, die aber noch lange nicht gesichert ist, in einer Situation, in der durchaus auch militärische Stärke vonnöten ist, um das uneingeschränkte
Existenzrecht des Staates Israel als jüdischer Staat in sicheren Grenzen ohne Angst und ohne Terror für die Zukunft zu gewährleisten.
Den Zusatz „als jüdischer Staat“ hätte ich mir auch in
dem gemeinsamen Antrag gewünscht; denn die Feierlichkeiten der vergangenen Tage zeigen, dass es notwendig ist, dass Israel als jüdischer Staat in den nächsten
40 Jahren und darüber hinaus Existenzmöglichkeiten in
Sicherheit hat.
({2})
Deswegen hätten wir auch hier darauf eingehen sollen.
Nichtsdestotrotz ist vieles genannt worden, was richtig ist, zum Beispiel gute wirtschaftliche Beziehungen
zwischen Deutschland und Israel - der zweitwichtigste
Handelspartner für Israel ist die Bundesrepublik
Deutschland - und hervorragende wissenschaftliche Beziehungen. Ich hatte das Glück, im Februar mit dem
Bundespräsidenten in Israel sein zu dürfen. Wir haben
eine zukunftsgerichtete Reise gemacht. Der Bundespräsident hat insbesondere die Themen Forschung, Zukunftsentwicklung und Jugendaustausch angesprochen
und sich entsprechende Projekte angeschaut. Wir haben
hier ein ungeahnt großes Gebiet von Möglichkeiten, auf
dem wir uns gegenseitig befruchten und voneinander lernen können.
Ich glaube, wir sollten überlegen, wie wir unsere gemeinsamen Interessen in den nächsten 40 Jahren neu definieren.
Unser gemeinsames Interesse liegt darin, Forschung
voranzutreiben, weil beide Länder in der globalen Welt
niemals über Niedriglöhne, sondern nur über die besseren Ideen, Produkte und Dienstleistungen konkurrieren
können. Da gibt es Bereiche, in denen wir Deutsche
schon die Lernenden geworden sind. Dies haben wir in
Israel auf den Feldern Nanotechnologie, Hirnforschung,
Stammzellenforschung und Gentechnik erlebt. Es gibt
aber auch Bereiche, in denen Israel sehr gut von uns lernen kann. Beides zusammen führt zu zukunftssicheren
Arbeitsplätzen in beiden Ländern.
Auch können wir von Israel lernen, wie Integration
gelingt. Integration wird eines der Zukunftsthemen der
deutschen Innenpolitik werden. Es täte uns gut, wenn
wir uns vergegenwärtigten, wie es dieses kleine, mutige
Land geschafft hat, so viele unterschiedliche Kulturen
und so viele unterschiedliche Menschen aus vielen
Ländern zu integrieren und dazu zu bringen, für den
Fortschritt und den Wohlstand aller in diesem Lande zu
arbeiten.
Des Weiteren haben beide Länder ein gemeinsames
Interesse daran, zu diskutieren, wie wir den Terrorismus
in der Welt und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bekämpfen können und wie wir es schaffen,
in einer friedlicheren Zukunft zu leben. Über diese Themen sollten wir uns in den nächsten 40 Jahren der
deutsch-israelischen Beziehungen unterhalten.
Ich freue mich, dass die Bundesrepublik Deutschland
und Israel nach der schwierigen Geschichte einen Weg
gefunden haben, in Kenntnis dessen, was passiert ist,
nach vorn zu schauen. Ich freue mich, dass der Bundespräsident deutlich gemacht hat, dass wir dies für die
kommenden Jahre vorhaben. Deswegen bin ich Ihnen,
Herr Botschafter, sehr dankbar, dass Sie uns immer als
kritischer Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Gestern hat Professor Lahnstein bei der Verleihung des Friedenspreises der Deutsch-Israelischen Gesellschaft gesagt, Sie machten es sich und auch uns nicht immer
leicht. Dies ist wohl wahr. Aber nur so kommt man zu
einem guten Dialog. Freunde müssen miteinander im
Wettstreit der Meinungen über das Beste für die Zukunft
gemeinsam entscheiden können. Hier sind wir für die
nächsten 40 Jahre deutsch-israelischer Beziehungen auf
einem guten Wege.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein bedeutender Tag. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Art und Weise, in der wir hier
auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrags debattieren, zeigen, dass allen Fraktionen in diesem Hause und
allen demokratischen Parteien Israel im wahrsten Sinne
des Wortes am Herzen liegt.
({0})
Willy Brandt, der 1973 als erster
Was insbesondere diese deutsch-israelischen Beziehungen angeht, so wird jedermann verstehen, wenn
ich auch hier sage, dass sie einen besonderen Charakter haben. Diese Charakteristik bleibt unangetastet. Für uns kann es zumal keine Neutralität des
Herzens und des Gewissens geben.
Besser kann man, wie ich glaube, diese Beziehungen
nicht beschreiben.
Dirk Niebel hat Recht: Wir müssen so, wie es auch in
unserem Antrag steht, im Wissen um die Vergangenheit
eine Brücke schlagen, um gemeinsam mit Israel die
Zukunft zu gestalten. Dies ist mir auch als ein Vertreter
der jüngeren Generation in diesem Hause ein großes Anliegen. Es ist wichtig, dass jede Generation ihren Weg
findet, die Vergangenheit zu verinnerlichen und Verantwortung für sie zu übernehmen. Ich werde es nie vergessen, wie ich mit einer Gruppe von jungen Kolleginnen
und Kollegen des Bundestages im Mai 1999 in Yad
Vashem ein Gespräch mit dem großen Yehuda Bauer
hatte, der uns immer wieder Mut zusprach und uns sagte,
wir sollten uns nicht schuldig fühlen, aber auch nie vergessen, dass wir Verantwortung trügen. Dies gilt es zu
verinnerlichen und in die Tat umzusetzen.
({0})
Hier ist viel zum weiteren Ausbau der bilateralen Beziehungen gesagt worden. Ich erinnere an den deutschisraelischen Jugendaustausch, der eine hervorragende
Arbeit leistet. Es ist auch schon viel zu unserer Verantwortung bei der Bekämpfung des Antisemitismus gesagt
worden. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, zu sagen, dass
unser Haus stolz darauf sein kann, dass wir mit Gert
Weisskirchen einen Kollegen haben, der zusammen mit
dem Congressman Chris Smith in der OSZE dafür gesorgt hat, dass Antisemitismus ganz oben auf die
Agenda gesetzt worden ist. Herzlichen Dank dafür.
({1})
Die Förderung jüdischer Kultur und jüdischen
Lebens in unserem Land muss uns am Herzen liegen;
denn der Vernichtungsfeldzug der Nazis, der Holocaust,
hat mit der jüdischen Kultur einen Teil unserer eigenen
europäischen Kultur auszuradieren versucht. Was gibt es
Schöneres zu sehen, als dass jetzt in Deutschland wieder
jüdisches Leben blüht? Das sollten wir mit allen Mitteln
unterstützen.
({2})
Wenn wir in die Zukunft schauen, heißt das auch,
heute, an dem Tag, an dem wir mit großer Mehrheit die
EU-Verfassung ratifiziert haben, konkret zu überlegen:
Was kann Deutschland in der Europäischen Union tun,
um Israel und Europa stärker zusammen zu bringen?
Israel gehört für mich zur euro-atlantischen Gemeinschaft! Deshalb sind die Vorschläge im Rahmen der
neuen Nachbarschaftspolitik, die wir auf dem Tisch liegen haben, gute Vorschläge. Ich finde es bemerkenswert,
dass der israelische Botschafter bei der EU, Oded Eran,
diese Vorschläge nicht nur sehr positiv aufgenommen,
sondern auch deutlich gemacht hat, dass Israel bereit ist,
darüber hinaus mit der Europäischen Union zu kooperieren. Da sollten wir den israelischen Botschafter in Brüssel beim Wort nehmen und ihn gerade als Deutschland in
der EU auf diesem Weg zu einer engeren Kooperation
mit Europa unterstützen.
({3})
Aber auch die Unterstützung und Ausweitung der
Kooperation zwischen Israel und der NATO über das
Mittelmeerdialogprogramm und über die Istanbul-Initiative hinaus sind wichtig. Dirk Niebel hat es gesagt: Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung, der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen, maritime
Kooperation oder auch Kooperation in Bereichen wie
Search and Rescue bieten sich hier einfach aufgrund gemeinsamer Interessen und großer Fähigkeiten Israels auf
diesen Gebieten an.
Deshalb begrüße ich in diesem Zusammenhang die
vielen Initiativen, die es in Israel gibt. Ich nenne die Initiative von Uzi Arad, der Berater des Auswärtigen Ausschusses der Knesset ist und langjähriger Sicherheitsberater von Herrn Netanjahu war, der deutlich gemacht hat,
dass auch in diesem Teil des politischen Spektrums in Israel das Interesse an einer Zusammenarbeit mit Europa
und auch mit der NATO wächst. Ich finde, wir sollten
das unterstützen und zeigen, dass wir als Deutsche nicht
nur in der EU, sondern auch in der NATO ein Motor für
diese stärkere Zusammenarbeit sind.
({4})
Ich sage das auch deshalb, weil wir mit Blick auf den
Nahost-Friedensprozess - wir lassen uns den Optimismus nicht nehmen - für die Zeit, wenn es dort Frieden
gibt, ein Angebot haben müssen, und zwar nicht nur für
Israel und die Palästinenser in Bezug auf die konkrete
Arbeit in diesem Friedensprozess und die Zeit danach,
sondern auch für Israel, damit es weiß, dass es sich weiterhin in unserer Gemeinschaft aufgehoben fühlen kann.
Auch aus diesem Grund sind solche Initiativen der verstärkten Zusammenarbeit zwischen der Europäischen
Union, der NATO und Israel eine Chance, die Kräfte in
Israel zu stärken, die den Mut finden, für Israel schmerzhafte Konzessionen auf dem Weg zum Frieden zu machen. Da sollten wir sie nicht alleine lassen.
Wir müssen unsere Rolle bei der Gestaltung des
Nahost-Friedensprozesses ernst nehmen. Wir müssen
die Chance, die sich jetzt durch den Abzugsplan im
Gazastreifen ergibt, nutzen. Auch hier müssen wir als
Europäer dafür sorgen, dass der Abzug aus dem Gazastreifen nicht in eine Sackgasse führt, sondern ein Erfolgsmodell ist: über die Roadmap hin zu einem lebensfähigen Zweistaatenmodell für Israel in Sicherheit, aber
auch für Palästina mit gesicherten Perspektiven.
Unser Botschafter Rudolf Dreßler hat gesagt: Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse unseres Landes. Sie ist somit ein Teil unserer Staatsräson.
Ich möchte das ergänzen und ausdrücklich unterstreichen, was Dirk Niebel gesagt hat: Ich hätte mir gewünscht, dass in diesem gemeinsamen Antrag auch stehen würde, dass sich die Sicherheitsgarantie für Israel
auf Israel als einen Staat mit jüdischem Charakter bezieht.
({5})
Ich stelle fest - ich hoffe, die Kollegin Hildegard
Müller verzeiht mir das, weil Hildegard Müller, Dirk
Niebel, ich und auch andere jüngere Kolleginnen und
Kollegen mit dieser Formulierung keine Probleme
haben -, dass dies vielleicht eine Frage von politischen
Generationen ist. Vielleicht steht diese Formulierung
zum 45. Jahrestag unserer Beziehungen im Antrag, weil
dann eine andere Generation politische Verantwortung
trägt.
Zum Schluss möchte ich unseren ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau zitieren. Er hat, so glaube ich,
das gezeigt, worauf es ankommt, wenn wir an die nächsten Generationen denken. Er hat zum Abschluss seiner
Rede vor der Knesset im Februar 2000 gesagt:
Ich bin überzeugt davon: Wenn wir der Jugend die
Erinnerung weitergeben und sie zu Begegnungen
ermutigen, dann brauchen wir uns um die Zukunft
der Beziehungen zwischen Israel und Deutschland
nicht zu sorgen.
Ich wünsche Ihnen und uns diese Zuversicht. Das
beginnende Jahrhundert soll ein Jahrhundert des
Friedens werden: für die Söhne und Töchter
Abrahams und für unsere Welt.
Ich finde, wir sollten uns diese Worte von Johannes
Rau zu Herzen nehmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer hätte es angesichts der Verbrechen, die von
Deutschen und im deutschen Namen millionenfach an
Juden begangen worden sind, für möglich gehalten, dass
Deutschland und Israel heute als Partner und Freunde
miteinander verbunden sind? Nach der Gründung des
Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland gab
es anfangs nur wenige Kontakte zwischen beiden Staaten. Die Initiativen in den 50er-Jahren scheiterten noch
und es war sehr schwierig in den Anfangsjahren. Doch
Konrad Adenauer und David Ben Gurion setzten den
Weg einer offiziellen Wiederannäherung zwischen
Deutschland und Israel gegen Widerstände in beiden
Ländern durch.
Betrachtet man die Beziehungen heute, kann man zu
der Auffassung gelangen, die Beziehungen seien normal.
Junge Israelis besuchen in großer Zahl das Goethe-Institut. Sie lernen Deutsch, weil sie in Deutschland studieren
wollen, sich beruflich etwas davon versprechen oder geschäftliche Kontakte pflegen, die vertieft werden sollen.
Die Zahl der israelischen Aussteller auf Messen wächst,
die Zahl der Kooperationen und Joint Ventures auch. Gleiches gilt für das Engagement von Deutschen in Israel.
Doch trotz dieser erfreulichen Entwicklung gilt es,
vor der Begrifflichkeit „normal“ zu warnen, auch wenn
wir uns noch so sehr danach sehnen. Normal im Sinne
von „der Norm entsprechend“ oder - anders ausgedrückt - „üblich“ oder „durchschnittlich“ können die
deutsch-israelischen Beziehungen niemals sein. Die
Beziehungen werden stets durch die Singularität der
Schoah gekennzeichnet sein. Es ist zugleich wichtig,
dass nachwachsende Generationen das Bewusstsein und
den Wunsch nach besonderen Beziehungen zu Israel entwickeln. Dies erscheint umso dringlicher, wenn die Opfer und Zeitzeugen des Holocausts, der Aussöhnung und
des Neubeginns die besondere Qualität der Beziehungen
zwischen Deutschland und Israel zukünftig nicht mehr
mit Leben erfüllen und gestalten können.
Ein besonderes Augenmerk müssen wir stets dem
Kampf gegen jegliche Form des Antisemitismus widmen, ob er aus rechtsextremen, islamistischen, antiamerikanischen oder antizionistischen Motiven heraus
entsteht. Antisemitismus ist ein Verbrechen gegen die
Menschenwürde und hat keinen Platz in Deutschland.
({0})
Es ist und bleibt unsere Verpflichtung, ihn in allen Ausprägungen gesellschaftlich zu ächten und mit der ganzen
Härte des Gesetzes zu verfolgen. Deutschland muss in
diesem Sinne auch eine starke Stimme in die Europäische Union einbringen.
Vielen Menschen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern fällt es schwer, zu begreifen,
in welcher Gefahr die Menschen in Israel seit Jahrzehnten leben. Wir kennen nicht diese Erfahrung, jederzeit
auf dem Weg zur Arbeit, im Café oder Restaurant Opfer
eines Terroranschlags werden zu können. So trauern wir
mit unseren israelischen Freunden um die Opfer des
Terrors. Auch ist uns fremd, dass die Existenz unseres
Staates ernsthaft infrage gestellt wird. Israel hat seit seiner Gründung 1948 immer wieder seine Existenz verteidigen müssen. Bis zum heutigen Tage haben etwa
21 000 Soldaten ihr Leben gelassen. Ihrer hat Israel gestern am Gefallenengedenktag Yom Hazikaron gedacht.
Bis zum heutigen Tag wird Israels Existenz von den
meisten seiner Nachbarländer nicht akzeptiert. Deshalb
ist für Israel die militärische Stärke zur Sicherung seiner
Existenz unverzichtbar.
({1})
Deutschlands Beziehungen zum jüdischen Staat gründen auf unserer Verantwortung für die Schoah und deshalb sind unsere Beziehungen durch unser unerschütterliches Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel
und die Sicherheit seiner Bürger bestimmt. Israel wird
sich in dieser Hinsicht stets auf Deutschland als Freund
und Partner verlassen können. Die besondere Verantwortung, die wir für die Sicherheit Israels haben, werden wir
auch in der internationalen Staatengemeinschaft immer
einsetzen.
({2})
Israel ist die einzige Demokratie im Nahen
Osten - ein Rechtsstaat, eine starke Wirtschaft und eine
westliche Zivilgesellschaft, die unsere Werte teilt.
Deutschland und Israel sind Partner, die wesentliche gemeinsame Interessen teilen. Das ist eine gute und belastbare Grundlage für eine gemeinsame Zukunft.
Für diese Zukunft denke ich neben dem Ausbau der
politischen Beziehungen - dazu ist heute schon vieles
gesagt worden - an einen Ausbau der Partnerschaften
zwischen Städten, Vereinen und Schulen, an eine Vertiefung des Jugendaustauschs und der Jugendbegegnung
sowie an eine Intensivierung der Zusammenarbeit im
Bereich Wissenschaft und Forschung.
Im Februar durfte auch ich den Bundespräsidenten
auf seiner Israelreise begleiten. Durch die Besuche im
Weizmann-Institut, im Technion in Haifa oder in dem
Entwicklungslabor eines deutschen Softwareherstellers
habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir von Israel,
das in der europäischen Forschung und im HightechBereich eine wichtige Rolle spielt, sehr viel lernen können. Als rohstoffarme Länder sollten wir daher verstärkt
gemeinsame Forschungsvorhaben in der Bio- und Nanotechnologie und zwischen Unternehmen aus der Informations- und Kommunikationstechnik sowie der Pharmazeutik und Medizintechnik anstoßen.
({3})
Über die Jahre sind in Wissenschaft und Forschung
sowie in Wirtschaft und Kultur auf gemeinsamen Interessen beruhende nachhaltige, enge, ja, ich darf sagen,
freundschaftliche Beziehungen entstanden. Sie sind lebendig, belastbar und zukunftsorientiert.
Meine Damen und Herren, es mag unter diesen Partnern auch tagespolitische Meinungsverschiedenheiten
geben, jedoch lassen beide Partner keinen Zweifel an der
Integrität und Verlässlichkeit des anderen aufkommen.
Beide Seiten stellen den anderen nicht infrage und die
Beziehungen müssen sich auch in Krisenzeiten weiter
verlässlich zeigen.
Ich würde mich freuen, wenn mehr Deutsche Israel
besuchen würden. Es ist ein wunderbares Land. Stellt
doch ein persönlicher Kontakt die unvoreingenommenste Möglichkeit einer engeren Beziehung zwischen
Deutschen und Israelis dar.
Für die Zukunft sollten wir die besondere Beziehung
zu Israel neu beleben. Wir sollten es als unsere gemeinsame Aufgabe betrachten und Bereiche und Projekte
identifizieren; denn unseren Beziehungen nützen weder
Sonntagsreden noch Lippenbekenntnisse an solchen Tagen, meine Damen und Herren. Oder, um es mit dem
französischen Sprichwort auszudrücken: Rien n’est jamais acquis - nichts ist jemals endgültig erreicht und gesichert.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Das Ereignis, das wir heute würdigen
wollen, ist nicht dem politischen Alltagsgeschäft entsprungen. Es lag nicht in der Logik der Dinge. Diplomatische Beziehungen mit Deutschland schienen für viele
Israelis in den Jahren nach Kriegsende undenkbar zu
sein. 1949 rief der Herausgeber der israelischen Zeitung
„Ha’aretz“, Gershon Schocken, dazu auf, alle gesellschaftlichen Kontakte zu Deutschland abzubrechen.
Hier wiederum gab es jahrelang keine intensive Auseinandersetzung mit der Schoah. Ewig und endgültig
schien der Graben zwischen Israel und dem Land des
Holocaust zu sein. Ihn zu überwinden, dazu bedurfte es
des Mutes, der Führungsstärke und nicht zuletzt des historischen Verantwortungsbewusstseins zweier herausragender Staatsmänner: Konrad Adenauer und David Ben
Gurion; sie wurden schon erwähnt. Bei ihrem legendären Treffen im New Yorker Hotel „Waldorf Astoria“ im
Jahre 1960 gelang es ihnen, gegen große Widerstände in
ihren Heimatländern
({0})
- ja, Sie haben Recht - einen Weg fortzusetzen, der 1952
mit dem Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen
begonnen hatte und bis zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen 1965 führen sollte. Ben Gurion war
überzeugt davon, dass zwar die Schuldigen zu bestrafen
seien, aber nicht deren Kinder.
Es war allerdings ein Weg - auch daran muss erinnert
werden -, den der sozialistische Teil Deutschlands nicht
mitging. Die DDR Ulbrichts und Honeckers folgte vielmehr einem demonstrativ antiisraelischen Kurs und
wurde dafür mit der offiziellen diplomatischen Anerkennung durch Ägypten 1967 belohnt.
({1})
Die einzige Auslandsreise Walter Ulbrichts außerhalb
des Ostblocks führte ihn nach Kairo.
Im Westen jedoch begann eine zaghafte Annäherung
zwischen der Bundesrepublik und dem jüdischen Staat,
die bald alle Ebenen umfasste. Selbst Adenauer und Ben
Gurion hätten sich nicht träumen lassen, dass Deutschland heute mit kaum einem Land so viele Kontakte unterhält wie mit Israel. Davon zeugt die außerordentliche
Dichte politischer Besuche - beispielhaft seien nur die
hervorragenden Beziehungen zwischen Franz Josef
Strauß und Schimon Peres genannt. Davon zeugen auch
mehr als hundert Städtepartnerschaften, zahlreiche Jugendaustauschprogramme sowie ein enger wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Austausch.
Wir wollen aber nicht vergessen, dass die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Israelis auch
weiterhin sehr komplex ist und bleibt und - das wurde
schon festgestellt - vielleicht nie ganz normal werden
wird.
Paradoxerweise ist es gerade die Erlebnisgeneration
der aus Deutschland nach Israel eingewanderten Juden,
die - trotz anfangs größter Vorbehalte - Wegbereiter der
Beziehungen wurde. Sie wussten, wie sehr sich Deutschland gewandelt hat. Bei allen guten Kontakten ist die
Einstellung jüngerer Israelis gegenüber Deutschland fast
skeptischer als die der älteren.
Mit Sorge werden in Israel zu Recht antisemitische
Tendenzen jeglicher Art und ein sich verschlechterndes
Bild Israels in der deutschen Öffentlichkeit registriert.
Forderungen nach der Existenz eines Palästinenserstaates müssen genau abgewogen werden, damit nicht übersehen wird, dass radikale Palästinensergruppen nicht für
einen Staat neben Israel, sondern für einen eigenen Staat
anstelle Israels kämpfen. Aus diesem Grund kommt es
auch zu Terrormaßnahmen. Viele Israelis fühlen sich so
als Bürger eines demokratischen Staates im Kampf gegen undemokratische Systeme um sich herum manchmal
auch von uns im Stich gelassen.
({2})
Diesen Anzeichen einer Entfremdung gilt es entschieden zu begegnen. Wer die deutsch-israelischen Beziehungen bereits für selbstverständlich hält, sollte bedenken: Die besonderen Bedingungen, unter denen sie
bestehen, verbieten es, aus Nachlässigkeit Stereotypen
Vorschub zu leisten. Dass die NPD ihren Aufmarsch in
Berlin am vergangenen Sonntag absagen musste, weil
die Bürger ihn durch Zivilcourage verhinderten, sollte
dabei genauso bedacht werden wie der Mut, den die
israelische Regierung in letzter Zeit bei ihren friedensstiftenden Maßnahmen nach innen aufbringt.
({3})
Am 27. September 1951 sagte Konrad Adenauer im
Deutschen Bundestag:
Es ist die vornehmste Pflicht des deutschen Volkes,
im Verhältnis zum Staat Israel und zum jüdischen
Volk den Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden zu lassen.
Dieser Satz verpflichtet niemanden, Fehler der israelischen Politik zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Ich
möchte mich ausdrücklich dem anschließen, was Sie,
Herr Kollege Kuhn, ausgeführt haben: Es kommt dabei
vor allen Dingen auf die Form an. Es kann durchaus
auch Mahnung sein, sich zuverlässig den aus der eigenen
Geschichte erwachsenden Verantwortlichkeiten zu stellen. Die CDU/CSU wird sich diesen Verantwortlichkeiten auch in heutiger Zeit und in Zukunft stellen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/5464 mit
dem neu gefassten Titel „40 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Israel - Im Wissen um die Vergangenheit die Zukunft
gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 ({0})
- Drucksache 15/4533 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 15/5486 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Olaf Scholz
Hans-Christian Ströbele
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Es gibt im Moment wohl kein anderes Gesetzgebungsverfahren - zumindest nicht im
Bereich des Strafprozessrechts -, das auf so unterschiedliche Beurteilungen stößt. Auf der einen Seite wird gefordert, dass man die Wohnraumüberwachung nunmehr
ganz sein lassen solle. Auf der anderen Seite wird gefordert, dass man die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 3. März 2004 gemacht hat, nun doch nicht allzu wörtlich nehmen solle
und ruhig einmal ein bisschen darüber hinausgehen
könne. Lassen Sie mich deshalb vorweg auf zwei Voraussetzungen hinweisen, von denen ich meine, dass sie
der Beratung des Gesetzentwurfes zugrunde liegen sollten.
Erstens. Die akustische Wohnraumüberwachung ist
ein Instrument zur Bekämpfung schwerer Formen von
Kriminalität, auf das wir nicht verzichten können.
({0})
Das belegt nicht nur das von der Bundesregierung in
Auftrag gegebene Gutachten des Max-Planck-Instituts,
mit dem nachgewiesen wurde, dass zum Beispiel
87 Prozent der Fälle aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, in denen bisher eine Wohnraumüberwachung angeordnet war, der organisierten Kriminalität
zuzurechnen sind. Das erhellt sich vielmehr auch aufgrund der Tatsache, dass sich Kriminelle nicht in der Gewissheit wiegen dürfen, dass sie nur eine Wohnung aufsuchen müssen und ihnen dann in diesem Staate nichts
mehr geschehen kann. Ich glaube nicht, dass das ein Signal ist, das wir senden sollten.
({1})
Die zweite Prämisse ist, dass die Wohnraumüberwachung selbstverständlich die Gefahr schwerer Grundrechtseingriffe birgt. Deshalb sind wir als Gesetzgeber
verpflichtet, die Maßnahmen in dem Maße zu begrenzen, wie es die Wahrung der Grundrechte erfordert.
Die Einsicht in diese beiden Voraussetzungen scheint
nicht von allen in diesem Hohen Hause geteilt zu werden. Ich habe den Eindruck, dass sich die FDP nicht
ganz schlüssig ist, welche Position sie eigentlich beziehen soll.
({2})
Ich habe nicht verstanden, warum Sie, meine Damen und
Herren von der FDP, nach Ihrer Entscheidung auf dem
Bundesparteitag, auf dem Sie erklärt haben, wir bräuchten das alles gar nicht mehr und die Wohraumüberwachung sei ganz abzuschaffen, gestern im Rechtsausschuss einen Änderungsantrag gestellt haben, der im
Vergleich zu unserem Gesetzentwurf sogar Erweiterungen vorsieht. Aber das können Sie nachher noch aufklären.
({3})
Vielleicht ist das auch nur ein Missverständnis.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit der schon
erwähnten Entscheidung wertvolle Orientierungshilfen
gegeben, an denen wir uns bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfes ausgerichtet haben. Wir haben intensiv
über die Frage diskutiert, wie man es richtig macht, wie
man den Ansprüchen sowohl der Strafverfolgungsbehörden als auch der Grundrechtsträger Rechnung tragen
kann. Ich meine jedenfalls, dass wir einen Gesetzentwurf
vorgelegt haben, der über alle unterschiedlichen Meinungen hinweg einen Kompromiss darstellen kann.
({4})
Das hat die Sachverständigenanhörung meiner Meinung
nach ergeben.
Im Zentrum des Gesetzentwurfes stehen zwei Regelungen, die für das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen, sinnfällig sind. Das ist zum einen die negative
Kernbereichsprognose als Anordnungsvoraussetzung
und das ist zum anderen die Unterbrechungsregelung,
zu der, wie ich gerade erfahren habe, die CDU/CSUFraktion einen Änderungsantrag eingebracht hat.
Die negative Kernbereichsprognose ist Anordnungsvoraussetzung jeder Überwachungsmaßnahme. Mit ihr
muss nämlich erst einmal prognostiziert werden, dass
nicht die Gefahr eines Eingriffs in die unantastbare Privatsphäre besteht. Diese Kernbereichsprognose gewährleistet damit, dass die Strafverfolgungsbehörden jeden
Einzelfall sehr sorgfältig prüfen. Auch Sie wissen, dass
das Gericht darüber entscheiden muss.
Diese Prüfung muss im Anordnungsbeschluss dokumentiert werden, damit bei einer späteren Überprüfung
im Wege des Rechtsschutzes durch das erkennende Gericht die gemachten Erwägungen nachvollziehbar sind.
Wir haben damit sichergestellt, dass der Rechtsschutz,
den auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gefordert hat, nicht im Einzelfall durch den Hinweis auf
praktische Bedürfnisse ausgehebelt werden kann.
Die mit dieser Kernbereichsprognose verbundenen
Anforderungen an die Praxis sind hoch. Ich glaube aber
nicht, dass sie deshalb dazu führen, dass man die Wohnraumüberwachung künftig als unpraktikabel verwerfen
und nicht mehr anwenden wird. Eine automatische Aufzeichnung bleibt weiterhin möglich, beispielsweise
- diese Fälle sind zahlreich - beim Abhören von Geschäfts- und Betriebsräumen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Unterbrechungsregelung. Wir meinen, dass wir dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts lediglich mit der von uns vorgeschlagenen Regelung wirklich Folge leisten können; denn nur so
stellen wir sicher, dass der Kernbereich nicht angetastet
wird. Es wurde eindeutig festgestellt, dass eine Aufzeichnung nicht stattfinden darf, sobald der Kernbereich
berührt wird.
Das heißt konkret: Wenn man künftig mithört und
feststellt, dass ein Gespräch die Privatsphäre berührt,
dann muss man die Aufzeichnung beenden. Man darf
dann also nicht sagen - ich beziehe mich auf den Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion -: Das nehmen wir
jetzt einmal auf ein Tonband auf; später dürfen das der
Richter und im Zweifel auch der Dolmetscher, der das
Ganze übersetzen muss, abhören; über die Rechtmäßigkeit der Aufzeichnung wird hinterher entschieden.
Der Kern der Karlsruher Entscheidung - wenigstens
ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Entscheidung
nur so verstanden werden kann, auch im Hinblick auf die
abweichenden Meinungen - besteht darin, dass in die
Privat- und Intimsphäre nicht eingegriffen werden darf,
auch nicht durch den Richter.
({5})
- Herr Abgeordneter, wieder einschalten darf man dann,
wenn man Anhaltspunkte dafür hat, dass sich die Situation geändert hat.
({6})
- Das ist natürlich nicht ganz einfach; deswegen habe
ich eingangs festgestellt, dass die Frage der Unantastbarkeit des Kernbereichs ein echtes Problem ist.
Aber es gibt natürlich Anhaltspunkte: Die Freundin
hat die Wohnung verlassen; es sind neue Personen in die
Wohnung gekommen; vielleicht veranlasst einen auch
nur der Zeitablauf, anzunehmen, dass ein Gespräch beendet sein könnte, um dann die Entscheidung zu treffen,
die Aufzeichnung wieder fortzusetzen. Ich gestehe Ihnen
zu: Diese Entscheidung zu treffen ist nicht einfach. Aber
aus dieser Tatsache kann man nicht die Schlussfolgerung
ziehen, es generell anders zu machen
({7})
und auf eine vollständige Aufzeichnung zurückzugreifen, die in einer großen Anzahl von Fällen von mindestens zwei Personen abgehört werden muss.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
können deshalb Ihrem Änderungsantrag - Sie haben ihn
von den Ländern inhaltlich übernommen -, nicht zustimmen. Was da geplant ist, kann nicht funktionieren.
Gerade in Bezug auf diese beiden Punkte möchte ich
deutlich machen, dass unser Gesetzentwurf ein ausgewogenes, ein in sich geschlossenes und auch ein insgesamt vernünftiges Regelungskonzept enthält. Das gilt
nicht nur für die angesprochenen Fragen, sondern - sicherlich zur Freude des ganzen Hauses - auch für die
Regelung zum Schutz der Berufsgeheimnisträger. Das
gilt für die Verwendung der erlangten Daten zur Gefahrenabwehr - wir haben festgestellt, dass man solche Erkenntnisse zur Gefahrenabwehr nutzen darf - und auch
für die datenschutzrechtlichen Vorschriften. Schließlich
gilt es für die Pflicht, dem Parlament Bericht zu erstatten. Mit der Tatsache, dass diese Berichtspflicht konkretisiert und verstärkt wird, geht die Möglichkeit des
Parlaments einher, rechtzeitig zu kontrollieren, ob die
Strafverfolgungsbehörden keinen unbotmäßigen Gebrauch machen.
Vor allem im Hinblick auf den Zeitablauf und darauf,
dass das Gesetz außer Kraft tritt und wir bis zum Juni
eine Regelung haben müssen, würde ich mich freuen,
wenn die Tonbandalternative verworfen werden könnte
und wenn auch die Oppositionsfraktionen bei den Ländern für die Auffassung werben könnten, dass das Richterband nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen
entspricht und dass es deshalb keinen Sinn macht, in diesem Punkt den Vermittlungsausschuss anzurufen, um zu
versuchen, da noch etwas zu erreichen; es käme nur zu
einer Zeitverzögerung, die uns allen nichts nützt.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, erneut und sicherlich auch abschließend
debattieren wir heute die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 3. März 2004 zur akustischen
Wohnraumüberwachung. In diesem Urteil wurde zwar
der Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes als Grundlage für
die akustische Wohnraumüberwachung für verfassungsgemäß erklärt, jedoch hielt das Gericht die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen in der Strafprozessordnung für zum Teil grundgesetzwidrig. Es normiert einen
absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung. Ein Abhören des gesprochenen Wortes soll dort
zukünftig nur noch unter äußerst engen Voraussetzungen
möglich sein.
Wie ich schon in der ersten Lesung betont habe, kann
ich nicht nachvollziehen, weshalb das Gericht derartige
Einschränkungen bei der akustischen Wohnraumüberwachung überhaupt für notwendig gehalten hat.
({0})
Wir alle wissen - das kam bereits in der ersten Lesung
sowie in der Sachverständigenanhörung danach zum
Ausdruck -, dass Abhörmaßnahmen in Privaträumen
schon bisher immer nur als allerletztes Mittel eingesetzt
wurden, um Ermittlungen zum Abschluss zu bringen
oder anderweitig nicht zu erlangende Erkenntnisse zu erhalten. Dies geschieht stets - die Frau Ministerin hat es
in ihrem heutigen Interview in der „taz“ ausgeführt - im
Bewusstsein dessen, dass mit dem Abhören in Privaträumen natürlich auch immer in das Persönlichkeitsrecht
eingegriffen wird und eine umso sensiblere Handhabung
des Instruments notwendig ist. Wir alle wissen auch,
dass genau daraus die seltene Anwendung in der Praxis
resultiert.
Das Horrorszenario, das damals bei der Einführung
des so genannten großen Lauschangriffs an die Wand gemalt wurde, dass nun ständig irgendwelche privaten
Räume von angeblich unbescholtenen Bürgern verwanzt
würden,
({1})
ist ganz offensichtlich und Gott sei Dank nicht eingetreten; etwas anderes, Herr Ströbele, ist mir nicht bekannt.
Vor diesem Hintergrund fällt es mir nach wie vor schwer
- das muss man in diesem Rahmen auch sagen dürfen -,
das Urteil des Verfassungsgerichts zu verstehen und umzusetzen.
Es liegt aber nun in unserer Verantwortung als Gesetzgeber, das Beste aus diesen engen Voraussetzungen
zu machen. Zunächst zu § 100 c Abs. 5 der Strafprozessordnung in der Fassung Ihres Gesetzentwurfs; darum
geht es in unserem Änderungsantrag. Wir sind der Meinung, dass Sie insoweit nicht das Beste daraus machen.
Hier gelangen wir, Frau Ministerin, leider zu unterschiedlichen Interpretationen des Verfassungsgerichtsurteils, obwohl wir uns in der Beurteilung der einzelnen
Vorschriften sonst relativ nahe sind.
Nach Ihrem Entwurf ist das Abhören und Aufzeichnen unverzüglich abzubrechen, soweit sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Äußerungen aus dem
Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Natürlich mag es Situationen geben, in denen der
lauschende Beamte auf eine Verletzung dieses Kernbereichs schließen kann, so zum Beispiel, wenn der Verdächtige mit engen Vertrauten oder Familienangehörigen
über eigene Erkrankungen, über seine Gesundheit oder
gar über sein Liebesleben spricht. In diesen Fällen kann
der Beamte natürlich sofort abschalten und muss es auch
nach unserer Meinung tun. Was wäre aber, wenn der
Verdächtige - das wurde uns in der Sachverständigenanhörung mehrfach vorgetragen - in Kenntnis der neuen
Rechtslage unter Anwendung seiner sämtlichen kriminellen Energie jedes Gespräch zunächst mit einem privaten Inhalt beginnt, um das Abschalten sozusagen zu provozieren und um dann zum wirklich Wichtigen zu
kommen, was die Polizei dann leider nicht mehr mithören kann?
({2})
Die Erfahrungen im Bereich der Telefonüberwachung
haben gezeigt, dass Straftäter mit Überwachungsmaßnahmen rechnen und sich Gegenstrategien überlegen.
Also ist das nicht von allzu weit hergeholt. Gerade Verdächtigen aus der organisierten Kriminalität sind die Ermittlungsmethoden und deren rechtliche Grenzen durchaus bekannt.
Stellen Sie sich weiter bitte Folgendes vor: Häufig
werden in einer Wohnung mehrere Räume überwacht.
Natürlich werden dort mehrere Gespräche geführt; es
sind auch mehrere Gesprächsteilnehmer anwesend. Die
Tonqualität der Aufnahmen ist oftmals mäßig oder gar
ganz schlecht. Dadurch ist es schwierig, die Gesprächsteilnehmer eindeutig zu identifizieren und die Redebeiträge überhaupt zuzuordnen.
Gänzlich unpraktikabel wird es dann, wenn die abgehörte Unterhaltung in einer oder mehreren fremden
Sprachen geführt wird. Es kann im Einzelfall dann nämlich sehr schwierig oder unmöglich sein, über Tage hinweg einen Dolmetscher an der Hand zu haben, der abgehörte Gespräche simultan übersetzt.
({3})
Die Wertung, ob der Kernbereich betroffen ist, würde
dann entscheidend von der Qualität der Übersetzung abhängen.
All das erschwert zusätzlich die Entscheidung der Beamten vor Ort, eine Aktion sofort abzubrechen oder vielleicht unter Kenntnis der schwierigen Rechtslage dennoch weiterzuführen, weil sie wissen, dass
beweiserhebliches Material nach dem Abbruch verloren
gehen kann.
All das hat uns bewogen, unseren Änderungsantrag
einzubringen. Wir sind der Meinung, dass er die verfassungsrechtlichen Grenzen noch nicht überschreitet und
das Beste aus der Sache herausholt. Ich teile leider nicht,
Frau Ministerin, Ihren Optimismus, dass es vielleicht
trotzdem in der Praxis halbwegs vernünftig weitergehen
würde, wenn wir Ihrem Entwurf folgten. Auch wir fordern natürlich, das Abhören unverzüglich zu unterbrechen, sobald Äußerungen aus dem höchstpersönlichen
Lebensbereich erfasst werden. Wir sagen jedoch, dass
die Aufzeichnungsgeräte weiterlaufen dürfen und nur
die Ermittlungsbeamten nicht mehr zuhören sollen.
({4})
Diese technische Aufzeichnung wird dann dem zuständigen Gericht vorgelegt, dieses prüft die Aufzeichnung auf
ihre Zulässigkeit hin und entscheidet über den Fortgang
der Überwachungsmaßnahme. So stellen wir uns das
vor. Damit wird unserer Ansicht nach sichergestellt, dass
der Schutz des Kernbereichs weiterhin erhalten bleibt.
Sollte der Richter nämlich entscheiden, dass kernbereichsrelevante Äußerungen enthalten sind, sind diese
unverzüglich zu löschen.
({5})
Wir nehmen so - das wissen wir aus der Sachverständigenanhörung - den Druck von den Ermittlungsbeamten vor Ort. Auch das ist für uns ein entscheidender
Punkt. Ihr Entwurf, meine Damen und Herren, fordert
diesen nämlich wirklich schier hellseherische Fähigkeiten bezüglich der Frage ab, wann die Fortsetzung der
Überwachung wieder zulässig ist.
Unsere Lösung steht auch nicht - das habe ich soeben
schon gesagt - im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat
nämlich ausdrücklich das Abhören des Gesprächs zum
Zweck der Überprüfung zugelassen, ob eventuell eine
Verletzung der Menschenwürde nach Art. 1 des
Grundgesetzes zu befürchten ist. Das Gericht sagt zwar,
bereits die Ermittlungspersonen vor Ort sollen diese
hoch qualifizierte Entscheidung treffen, wir aber sagen,
das ist nicht der einzig mögliche Weg, das könnte auch
ein Richter tun. Ich denke, eine Entscheidung dieses
Ausmaßes gehört nun einmal auch in richterliche Hände.
({6})
So ist zumindest sichergestellt, dass keine beweisrelevanten Daten verloren gehen.
Uns als Unionsfraktion ist durchaus bewusst, dass den
übrigen Fraktionen in diesem Hohen Haus das Verfassungsgerichtsurteil gerade recht kommt.
({7})
Die akustische Wohnraumüberwachung war noch nie die
Sache von Rot-Grün.
({8})
Auch die FDP schleicht sich nun, flankiert von einem
entsprechenden Parteitagsbeschluss, rückwärts wieder
aus der Geschichte heraus. Die akustische Wohnraumüberwachung sollte nach ihrem Willen wieder komplett
abgeschafft werden.
Wohltuend hebt sich hier die Meinung der Frau
Ministerin ab, die heute ausdrücklich in dem von mir
schon zitierten Interview gesagt hat, dass sie die akustische Wohnraumüberwachung nicht abschaffen würde
und sich auch dagegen wehrt, die Erfolge dieses Mittels
kleinzureden. In diesem Punkt stehen wir voll auf ihrer
Seite.
({9})
Wir sind der Meinung - die Statistiken, die die Frau
Ministerin bereits angeführt hat, belegen das zuverlässig -, dass sich die akustische Wohnraumüberwachung
bewährt hat, dass sie in den Fällen, in denen sie angewandt wurde, zu guten Erfolgen geführt hat und oftmals
den entscheidenden Hinweis geben konnte und dass sie
auch wirklich nur da eingesetzt wurde, wo es kein anderes Mittel gab. Im Sinne einer effizienten Verbrechensbekämpfung und Verbrechensvorbeugung wollen wir, im
Gegensatz zu Ihnen, die akustische Wohnraumüberwachung praktikabel halten. Dem soll unser Änderungsantrag dienen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass wir uns hier erneut wie schon vor Jahren mit dem
großen Lauschangriff und der akustischen Wohnraumüberwachung beschäftigen, verdanken wir unter anderem der Freien Demokratischen Partei. Sie hat nämlich
seinerzeit dieses Gesetz in ihrer großen Mehrheit mit
verabschiedet, auch unter Mitwirkung des Kollegen
Funke. Das soll man nicht vergessen, wenn er sich gleich
mannhaft dafür einsetzen wird - so vermute ich -, den
Beschluss des Parteitages der FDP umzusetzen, der ja
diesen großen Lauschangriff insgesamt ablehnt.
({0})
Ebenso verdanken wir aber - auch das wollen wir
nicht vergessen; das meine ich durchaus lobend - einzelnen Abgeordneten der FDP, dass sie nach dem damals
beschlossenen großen Lauschangriff vor das Bundesverfassungsgericht gezogen sind - da hatten Sie Recht, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger - und die Änderungen des
Grundgesetzes und der Strafprozessordnung angegriffen
haben. Das Bundesverfassungsgericht hat ihnen zu einem erheblichen Teil Recht gegeben.
Jetzt können wir - das ist das Positive - aus diesem
Gesetz, das damals verabschiedet und lange Jahre angewandt worden ist, ein verfassungskonformes Gesetz
machen. Wir dürfen dabei natürlich nicht vergessen, dass
schon all die Jahre abgehört worden ist und Wohnraumüberwachung stattgefunden hat und dass davon sehr
viele - der ganz überwiegende Teil offensichtlich - betroffen waren, die nichts ausgefressen hatten. Es heißt ja
immer, wer nichts gemacht habe, brauche das auch nicht
zu fürchten. Es waren aber offenbar viele Menschen solchen Angriffen des Staates ausgesetzt, die entweder nie
Beschuldigte oder Verdächtige waren - sie haben sich lediglich in einer solchen Wohnung aufgehalten oder die
Wohnraumüberwachung wurde auch auf sie angewendet - oder bei denen sich später herausstellte, dass sie
nicht die Täter waren und zu Unrecht verdächtigt worden sind. So etwas gibt es ja auch.
({1})
Das heißt, sehr viele waren betroffen, wahrscheinlich
auch in der Form, Herr Gehb, dass sich eine normale
Unterhaltung aus ihrem ganz persönlichen Kernbereich
auf Tonbändern wiedergefunden hat.
Wenn ich mir diese Eingriffe in den Intimbereich von
sehr vielen Menschen über Jahre hinweg vor Augen
führe, dann kann ich nur sagen: Das Gesetz, wie Sie es
damals gemacht haben, war falsch. Die Grünen hatten
damals, sowohl in ihrer Fraktion als auch in ihrer Partei,
zu Recht gefordert, diesen großen Lauschangriff nicht
ins Gesetz zu schreiben.
Die Wohnung ist etwas Besonderes. In England sagt
man: My home is my castle. Das soll zum Ausdruck
bringen: Da hat kein anderer etwas zu suchen, da will ich
ungestört sein. - Ich kann Ihnen ein anderes Beispiel
nennen. Als ich einmal, unmittelbar nachdem dort die
Militärdiktatur zu Ende gegangen war, in Griechenland
war, habe ich eine große Demonstration erlebt, bei der es
auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Anschließend hat die Polizei einige Demonstranten verfolgt, mehrere Straßen entlang, wie man sehen konnte,
bis sie plötzlich vor einem Haus stand. Aber sie ging
nicht durch die Tür. Ich habe mich gewundert und gedacht: Wenn die verdächtigt sind, strafbare Handlungen
begangen zu haben, warum verfolgt die Polizei sie dann
nicht weiter? Mir wurde gesagt: Wir haben gerade eine
Diktatur überwunden und für uns ist die Wohnung ein
heiliger Raum. Wenn die Polizei jetzt, nach den Erfahrungen, die wir mit der Verletzung des Rechts auf den
Schutz der eigenen Wohnung gemacht haben, hier hineingehen würde, dann gäbe das einen Riesenskandal in
der Gesellschaft und die Polizeibeamten, die das tun
würden, würden entlassen.
({2})
Aus diesem Grunde steht in Art. 13 unseres Grundgesetzes der Schutz der Wohnung, übrigens auch ein besonderer Schutz vor Durchsuchungen und Eindringen
staatlicher Gewalt.
({3})
Das ist der Hintergrund. Wissen Sie, Herr Kollege
Gehb, ich habe hin und wieder, wenn ich mit Betroffenen zu der Behörde gegangen bin oder im Rahmen von
Strafprozessen, die nicht immer angenehme Beschäftigung gehabt, alte Stasiakten zu lesen. Mit das Unangenehmste und Abscheulichste darunter waren Berichte
und Protokolle über staatliche Eingriffe in den Kernbereich der Familien, des Privaten, sei es, dass das Berichte
von Verwandten, Verlobten oder Ehepartnern waren, sei
es, dass es Berichte über Eingriffe waren, die mit technischen Mitteln erfolgten. Weil das nicht sein darf und
weil möglichst viele Menschen in Deutschland sicher
sein sollen, dass sie sich in ihrer Wohnung ungestört
über persönliche Probleme und über ihre intimsten Bereiche austauschen können, ist der Schutz der Wohnung
so wichtig. Das Bundesverfassungsgericht hat ein neues
Grundrecht hinzugefügt, indem es gesagt hat: Auch die
Würde des Menschen ist zusätzlich erheblich beeinträchtigt, wenn der Staat in den Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung eingreift. - Dies ist ein Fortschritt.
Diesen wichtigen Satz sollten wir uns für andere Gesetzgebungsvorhaben merken.
({4})
Wir haben nach einigen Diskussionen ein Gesetz vorgelegt, das deutliche Einschränkungen des bisherigen
großen Lauschangriffs darstellt. Viele beklagen - darunter auch die Union -, dass damit die Arbeit der Polizei in
einzelnen Fällen schwieriger wird. Es wird eine ganze
Reihe von Fällen geben, in denen ein Richter in der Vergangenheit eine Wohnraumüberwachung anordnen
konnte, in denen das in Zukunft aber nicht der Fall sein
wird. Der Richter darf in Zukunft eine Anordnung zur
Wohnraumüberwachung nicht treffen, wenn es keine
Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Kernbereich privater
Lebensgestaltung nicht betroffen ist.
Es wird natürlich auch die Fälle geben, in denen der
Richter eine Wohnraumüberwachung anordnet, weil er
der irrigen Meinung ist, dass es Anhaltspunkte dafür
gibt, dass es sich nur um geschäftliche Gespräche oder
möglicherweise um Gespräche, die kriminelle Handlungen betreffen, handelt. Die Gespräche werden dann aufgenommen; die Aufnahme muss anschließend aber vernichtet werden.
Wir haben in diesem Gesetzentwurf - das finde ich
richtig - über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, eine Festlegung getroffen - sie war auch
in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes enthalten;
wir haben sie sozusagen gerettet -, dass die Berufsgeheimnisträger, also die Rechtsanwälte, die Ärzte, die
Geistlichen, aber auch die Journalisten, besonders geschützt werden und dass in ihren BerufsausübungsbeHans-Christian Ströbele
reich der Staat nicht eingreifen darf, sodass sie ihren Beruf wirksam ausüben können.
Wir haben eine weitere wichtige Marke, die das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, gerettet. Wir wollen
nämlich auch nicht, dass die Strafzumessung erhöht
wird, nur damit ein Straftatbestand weiterhin im Katalog
dieses Gesetzes enthalten ist. Ich nenne beispielsweise
§ 129 Abs. 4 des Strafgesetzbuches. Man kann also eine
Höchststrafe von fünf Jahren nicht auf zehn Jahre heraufsetzen, um Lauschangriffe anordnen zu können. Wir
haben verhindert, dass es eine entsprechende Regelung
gibt.
Jetzt liegt ein Gesetz vor, das verfassungskonform
und rechtlich in Ordnung ist. Dieses Gesetz garantiert
weitgehend den Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Die
Bereiche, in denen das Gesetz noch angewendet werden
kann, sind einigermaßen vertretbar, auch wenn ich mich
persönlich weiterhin dafür einsetzen werde - ich denke,
diese Position ist bei den Grünen nach wie vor zu
Hause -,
({5})
dass wir irgendwann aufgrund weiterer Fakten und Evaluierungen zu dem Ergebnis kommen, dass wir eine solche Strafvorschrift überhaupt nicht brauchen, und dass
wir sie deshalb aus dem Gesetz und dem Grundgesetz
streichen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Dazu brauchen wir aber eine Zweidrittelmehrheit, die
wir erst noch erkämpfen müssen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
13. Legislaturperiode haben wir heftig um geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität
und anderer besonders schwerer Formen von Kriminalität
gerungen. Mit großer Mehrheit hat der Deutsche Bundestag dabei die akustische Wohnraumüberwachung beschlossen und das Grundgesetz entsprechend geändert.
Aufgrund der grundrechtssensiblen Auswirkungen
dieser Maßnahmen hat sich keine Fraktion des Bundestages die Entscheidung leicht gemacht. Insbesondere
meine Partei hat sich sehr intensiv mit den Argumenten,
die für und gegen die Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung sprechen, auseinander gesetzt.
Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen
Jahr in einem Aufsehen erregenden Urteil die Änderungen des Grundgesetzes zur Einführung der akustischen
Wohnraumüberwachung für grundsätzlich verfassungsgemäß anerkannt. Eine andere Bewertung hat das Gericht bezüglich der Ausführungsbestimmungen in der
Strafprozessordnung vorgenommen. Diese wurden vom
Gericht überwiegend als verfassungswidrig angesehen.
Das Gericht hat daraufhin dem Gesetzgeber aufgegeben,
eine Novellierung der Ausführungsbestimmungen bis
zum 30. Juni 2005 herzustellen.
Frau Ministerin, es ist zunächst anzuerkennen, dass
man sich grundsätzlich bemüht, die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts in die neue Gesetzesfassung aufzunehmen.
({0})
Aus Sicht der FDP gehen die Bemühungen der Bundesregierung jedoch nicht weit genug.
({1})
Wir haben uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
sehr genau angesehen und den Gesetzentwurf anschließend daraufhin überprüft, ob die klaren und eindeutigen
Aussagen des Bundesverfassungsgerichts Eingang in
den Gesetzentwurf gefunden haben. Dabei sind wir zu
der Überzeugung gekommen, dass dies in zentralen Fragen nicht der Fall ist.
({2})
Eine ganz zentrale Forderung an den Gesetzgeber ist,
dass die akustische Wohnraumüberwachung von vornherein dort unterbleiben muss, wo das Abhören des nicht
öffentlich gesprochenen Wortes mit Wahrscheinlichkeit
zur Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung führen wird. Dieses absolute Erhebungs- und
Überwachungsverbot findet sich in dem Gesetzentwurf
in dieser Klarheit leider nicht.
({3})
Nach dem Willen der Bundesregierung kann die Überwachungsmaßnahme grundsätzlich in jedem Fall angeordnet werden, soweit und solange sie vermutlich den
Kernbereich privater Lebensführung nicht erfasst. Eindeutig ist dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
auch zu entnehmen, dass regelmäßig eine Vermutung dafür besteht, dass Gespräche in Privatwohnungen grundsätzlich dem Kernbereich privater Lebensgestaltung
zuzurechnen sind. Auch diese Aussage lässt der Gesetzentwurf offen.
Des Weiteren benennt das Urteil konkret die Art der
Verhältnisse der Personen, die eine kernbereichsrelevante Kommunikation indizieren können. Dazu führt das
Urteil aus:
Eine solche Wahrscheinlichkeit ist typischerweise
beim Abhören von Gesprächen mit engsten Familienangehörigen, sonstigen engsten Vertrauten und
einzelnen Berufsgeheimnisträgern gegeben.
Diese ausdrückliche Vermutung einer Kernbereichsrelevanz bei Gesprächen unter Familienangehörigen kommt
in dem Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck.
({4})
Besonders wichtig sind aus Sicht der FDP die Ausführungen des Gerichts zur Zuständigkeit der Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass es
zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes einer Regelung bedarf, nach der eine Verwertung von Informationen, die durch eine akustische Wohnraumüberwachung erlangt worden sind, nur dann zulässig ist,
wenn die Verwertbarkeit der Informationen zuvor von
einem Gericht überprüft worden ist. Das Bundesverfassungsgericht verlangt damit die Überprüfung jeder Verwertung einer Aufnahme.
({5})
Diese Vorgabe wird in dem Gesetzentwurf schlicht übergangen.
({6})
Unsere Änderungsanträge haben wir den Berichterstattern bereits am 19. April zur Verfügung gestellt. Die
aktuelle Beschlusslage des vergangenen FDP-Bundesparteitages, die angesprochen worden ist, hat nicht zu einer Umkehr unserer bisherigen Meinung geführt. Dies
ist auch nicht notwendig.
In den letzten Tagen ist von rot-grüner Seite Kritik an
unseren Vorschlägen geübt worden: Einmal seien sie zu
weitgehend; einmal seien sie zu restriktiv.
({7})
Um es klar zu sagen: Uns geht es bei diesen Änderungsanträgen einzig und allein darum, den Gesetzestext zu
präzisieren und ihn so eng wie möglich an den Wortlaut
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts anzulehnen.
({8})
Mehr ist damit nicht gewollt - ich komme gleich dazu -,
({9})
aber auch nicht weniger. Wenn Sie das Urteil sorgfältig
gelesen hätten, würde Ihre Kritik an unseren Vorschlägen schnell verstummen. Herr Kollege Ströbele, Sie haben zu Recht gesagt: Die Vorschläge der FDP gefallen
mir sehr gut.
Für die FDP darf es mit der heutigen Entscheidung
des Bundestages keinen Schlussstrich unter die Debatte
um die akustische Wohnraumüberwachung geben.
Herr Kollege Funke, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja, sofort. Zwei Sätze, bitte. - Wir werden rechtzeitig
eine Evaluierung des Gesetzes verlangen, um feststellen
zu können, ob und inwieweit die neuen Eingriffsbefugnisse sich in der Praxis bewährt haben.
Die gesetzlichen Hürden für die Anordnung einer
Überwachungsmaßnahme sind künftig sehr hoch. In der
Vergangenheit ist mit der akustischen Wohnraumüberwachung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden,
wie die geringe Zahl der Maßnahmen deutlich zeigt.
Herr Kollege Funke, es tut mir Leid. Sie müssen jetzt
wirklich zum Ende kommen.
Ja, komme ich auch. - Dennoch ist es rechtspolitisch
berechtigt, die Frage nach der Zukunft der akustischen
Wohnraumüberwachung zu stellen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Ströbele.
({0})
Herr Kollege Stünker, ich möchte doch nur etwas
klarstellen. Ich habe nicht gesagt: Der Vorschlag der
FDP ist der richtige. Vielmehr habe ich gesagt, das höre
sich schlüssig an, nachdem Sie, Herr Kollege Funke, zu
der Auffassung des Bundesjustizministeriums, die dahin
ging, dass Ihr Vorschlag den großen Lauschangriff weiter öffne als der Regierungsentwurf, gesagt hatten, sie
scheine Ihnen schlüssig zu sein.
({0})
Daraufhin habe ich gesagt, dass Ihr Vorschlag schlüssig
gewesen ist. Sie müssen das vollständig berichten, damit
ich hier nicht in ein falsches Licht komme.
({1})
Herr Kollege Funke, Sie können antworten.
Herr Kollege Ströbele, Sie haben, glaube ich, doch etwas unvollständig berichtet.
({0})
Es kommt im Ergebnis auch nicht darauf an.
Wir haben uns in der Tat die Auffassung des Bundesjustizministeriums angehört. Da habe ich gesagt, wir
würden sie gerne schriftlich haben. Das haben wir bekommen. Dann haben wir festgestellt, dass dieser Vorschlag des Bundesjustizministeriums sich eben nicht an
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiert und sich insbesondere nicht restriktiv an dem
Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts orientiert. Dann sind wir auch bei unserer Meinung verblieben.
Man muss bei diesen schwierigen Rechtsfragen die
Möglichkeit haben, sich den Text anzusehen und dann
seine Meinung zu bilden. Das haben wir getan. Wir arbeiten in dieser Fraktion eben so gründlich.
({1})
Das Wort hat der Kollege Hermann Bachmaier, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Funke, die Versuchung wäre groß, den Disput, den wir
schon im Rechtsausschuss hatten, fortzusetzen. Ich
dachte, Sie hätten einmal darüber nachgedacht, ob das
alles seine Richtigkeit und auch seine juristische Stimmigkeit hat, was Sie uns da vorgelegt haben.
Eines ist auf jeden Fall klar: Mit Ihrem jüngsten Parteitagsbeschluss hat das, was Sie uns im Rechtsausschuss vorgelegt haben, herzlich wenig zu tun.
({0})
Aber die Anträge waren ja auch schon vor dem Sonntag
geschrieben. Sie wurden da halt überrascht.
({1})
Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde … gehört
die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung.
Mit diesem Leitsatz in seinem Urteil vom März vergangenen Jahres hat uns das Bundesverfassungsgericht einen Kerngedanken des Grundgesetzes wieder nachhaltig
ins Gedächtnis gerufen. Die Entscheidung ist auch für
uns eine deutliche Mahnung. Deshalb ist es richtig und
notwendig, dass wir uns immer wieder der Grenzen
staatlicher Eingriffsmöglichkeiten vergewissern.
({2})
Wir sind auch in gefährlichen Situationen und bei der
Bekämpfung schwerer und schwerster Kriminalität nicht
frei in der Wahl unserer Mittel, sondern begrenzt durch
unsere Verfassung und durch das unantastbare und unveräußerliche Gebot, die Menschenwürde zu achten
und zu schützen. Wir alle brauchen Räume, in denen wir
unbehelligt sind. Wir brauchen Orte, an denen wir unsere Ruhe haben können, jedenfalls unsere Ruhe vor
dem Staat, und an denen unsere private Lebensgestaltung und unsere persönliche Entfaltung vom Staat unbedingt und uneingeschränkt beachtet werden.
({3})
Dazu hätte ich auch von der CDU/CSU gerne einen Satz
gehört; aber dazu hört man von Ihnen gar nichts.
({4})
Viele von Ihnen wissen, dass ich nie ein Freund der
akustischen Wohnraumüberwachung, also des so genannten großen Lauschangriffs, war. Als Bundestag und
Bundesrat im Jahr 1998 nach langjährigen Auseinandersetzungen das Grundgesetz geändert haben, um die
akustische Wohnraumüberwachung zur Verfolgung besonders schlimmer Straftaten und zur Abwehr besonders
großer Gefahren zu ermöglichen, gehörte ich zu den
Mitgliedern der SPD-Fraktion, die dieser Verfassungsänderung nicht zugestimmt haben.
({5})
Ich habe nicht daran geglaubt, dass wir dieses Instrumentarium zur effektiven Bekämpfung der organisierten
Kriminalität wirklich benötigen. Wenn ich ehrlich bin,
habe ich daran nach wie vor meine Zweifel.
Manfred Kanther, der 1998 Bundesminister des Innern war - man mag es heute fast nicht glauben -, hat
seinerzeit wahre Schreckensszenarien vor uns ausgebreitet: Nur mithilfe des großen Lauschangriffs könne das
organisierte Verbrechen wirksam bekämpft werden.
Manfred Kanther glaubte offensichtlich zu wissen, wovon er sprach. Heute verstehen wir das.
({6})
- Herr Funke, ich verbitte mir, dass Sie unseren geschätzten Innenminister mit Herrn Kanther vergleichen.
Das verbitte ich mir wirklich. - Aufgrund der mittlerweile vorliegenden Erfahrungen und der begrenzten
Zahl der erfolgreichen Lauschangriffe wird dieses Ermittlungsinstrument inzwischen etwas nüchterner bewertet.
Nun komme ich zu unserer heutigen Aufgabe. Die
Verfassungsänderung vom März 1998 wurde im
Mai 1998 durch die Strafprozessordnung umgesetzt. Dabei ging es vor allem um den damals neuen § 100 c der
Strafprozessordnung. Die entsprechenden Regelungen
wurden später mehrfach geändert.
Heute haben wir ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahr umzusetzen, das
dankenswerterweise unter anderem von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger und unserem ehemaligen
Kollegen Burkhard Hirsch als Einzelkämpfern erstritten
worden ist. Dabei habe ich keine große Unterstützung
durch die FDP-Fraktion festgestellt.
Wir müssen die Regelungen der Strafprozessordnung
diesem Urteil zufolge nachbessern und sie verfassungsfest machen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
hierzu folgende Vorgaben gemacht: Der große Lauschangriff ist nur dann verfassungsrechtlich möglich, wenn
es um die Aufklärung besonders schwerer Straftaten
geht, wobei sich die besondere Schwere aus dem angedrohten Strafmaß ergeben muss. Deshalb haben wir den
Straftatenkatalog des § 100 c Abs. 2 der Strafprozessordnung überarbeitet.
Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass diese Maßnahme nur dann angeordnet werden darf, wenn dadurch Äußerungen aus dem so genannten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht
erfasst werden, wie es jetzt in § 100 c der Strafprozessordnung wörtlich heißt, einem Paragraphen, den Sie,
Herr Funke, noch immer nicht verstanden haben oder
nicht verstehen wollen.
({7})
Meine Damen und Herren, wenn sich während der
Überwachung entsprechende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Äußerungen aus dem Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung erfasst werden, dann ist das Mithören
und Aufzeichnen sofort zu unterbrechen. Wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine nicht abhörfähige Situation eintreten könnte, dann darf kein Mitschnitt des
Gesprächs erfolgen. Dann muss live, in so genannter
Echtzeit - erforderlichenfalls unter Herbeiziehung eines
Dolmetschers -, mitgehört werden, damit die Aufzeichnung jederzeit abgebrochen werden kann. Frau Raab,
das ist der Inhalt des Urteils, nicht aber das, was Sie versuchen, in Ihrem Interesse in das Urteil hineinzulesen.
({8})
Aufzeichnungen über solche Äußerungen, die dennoch
erfolgen, müssen gelöscht werden; Erkenntnisse daraus
dürfen nicht verwertet werden ({9})
ein sicherlich in der Praxis schwieriges Verfahren; das
will ich nicht leugnen. Schließlich bewegen wir uns ja
im sensiblen Grenzbereich des verfassungsrechtlichen
Schutzes der Privatsphäre und der Bekämpfung schwerer Kriminalität, was zum Beispiel die Amerikaner in ihrer Regelung schon lange verstanden haben. Sie aber
weigern sich hartnäckig, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Sehr wichtig war uns, dass der Schutz der in
§ 53 Strafprozessordnung - die Frau Ministerin und Herr
Ströbele haben es erwähnt - aufgezählten Berufsgeheimnisträger - also Ärzte, Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälte, Verteidiger, Journalistinnen und Journalisten, Geistliche - unangetastet bleibt. Darauf haben wir
großen Wert gelegt; das war uns ein großes Anliegen.
Deshalb ist mit § 100 c Abs. 6 Strafprozessordnung geregelt, dass in den Fällen des § 53 Strafprozessordnung
das Abhören und Aufzeichnen von Gesprächen in Wohnungen grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn es um
diese Berufsgeheimnisträgerinnen und Berufsgeheimnisträger geht, weil sie den absoluten Vertrauensschutz benötigen wie die Luft zum Atmen - sonst können sie
diese Berufe nicht ausüben und ihren jeweiligen Gesprächspartnern nicht die Sicherheit gewähren, die notwendig ist.
({10})
Deshalb haben wir diese Regelung so getroffen. Auch
wenn sich ein Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern in Bezug auf ein Gespräch erst während
des Gesprächs ergibt, muss abgeschaltet werden.
Schließlich ist mit § 100 d Abs. 4 Strafprozessordnung eine laufende Unterrichtung des anordnenden Gerichts über den Verlauf und die Ergebnisse der Wohnraumüberwachung vorgeschrieben, sodass ständig
korrigierend eingegriffen werden kann.
Zusammenfassend darf ich festhalten: Der Rechtszustand, den wir heute schaffen, ist eine eindeutige Verbesserung gegenüber der Rechtslage, die wir vor dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts hatten.
({11})
Dabei möchte ich es aber heute nicht belassen. Lassen
Sie mich deshalb abschließend noch auf die in § 100 e
Strafprozessordnung verankerten Berichtspflichten der
Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag
eingehen. Alle Verfahren, in denen es zu einer akustischen Wohnraumüberwachung gekommen ist, sind nach
dieser neuen Regelung detailliert auszuwerten. Anzugeben ist zum Beispiel jeweils, ob ein Bezug zur organisierten Kriminalität besteht, anzugeben sind die Anzahl
der überwachten Personen und die Anzahl von betroffenen nicht beschuldigten Personen, angegeben werden
muss, wie häufig eine Maßnahme unterbrochen werden
musste, weil der Kernbereich privater Lebensgestaltung
berührt wurde usw. Es ist eine Fülle von Daten auszuwerten, denen wir uns danach zu widmen haben, um
dann zu evaluieren, welche Abhilfemaßnahmen getroffen werden müssen. Ich meine, wir können uns von diesen Kriterien aussagefähige Berichte erhoffen, mit denen
wir uns auseinander zu setzen haben.
Akustische Wohnraumüberwachung, das klingt relativ abstrakt und technisch. Wenn man aber näher hinschaut, muss man feststellen, dass sich hinter diesem Begriff ein Staat verbirgt, der sich - bisweilen fast wie ein
Einbrecher - heimlich Zutritt zu fremden Wohnungen
verschafft und dort Wanzen installiert, um abzuhören
- Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss -, ein
nicht gerade schöner Vorgang, auf den wir uns nur in äußerster Not einlassen sollten.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass die
Erkenntnisse, die wir in Zukunft gewinnen, uns auch irgendwann einmal die Kraft geben - wenn die Verhältnisse so sind -, dass wir auf dieses schwierige InstruHermann Bachmaier
ment, das wir unseren Bürgerinnen und Bürgern und
auch vielen Unbeteiligten zumuten, auch wieder verzichten können.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Wir debattieren heute in der Tat über
ein verfassungsrechtlich hoch brisantes Thema. Wir befinden uns mitten in einer Verfassungskontroverse zwischen dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht.
Aber als gewählte Volksvertreter müssen wir zu allererst
bei einer solchen Diskussion auch einmal festhalten, worum es dem Bundestag 1998 gegangen ist und worum es
hoffentlich auch heute der Mehrheit dieses Hauses noch
geht: nämlich um eine effektive Bekämpfung schwerster
Kriminalität. Die wirklich überschaubare Zahl der Fälle,
in denen die Wohnraumüberwachung stattgefunden hat,
belegt ja auch: Es waren Fälle schwerer organisierter
Kriminalität, Mord, Totschlag und Völkermorddelikte,
Taten, die in ganz besonderem Maße den Rechtstaat und
seine Strafverfolgungsbehörden auf den Plan rufen müssen.
Wenn wir das effektiv tun wollen, haben wir zur
Kenntnis zu nehmen, dass organisierte Gewaltkriminalität und terroristische Verbrechen eben nicht nur in Büroräumen, sondern auch schon mal im Wohnzimmer verabredet werden. Wer die Opfer solcher Verbrechen nicht
nur beklagen will, sondern diese Verbrechen möglichst
verhindern und die Täter ausfindig machen will, der
muss auch bereit sein, im mutmaßlich privaten Bereich
abzuhören.
({0})
Schauen wir uns den Gesetzentwurf der Koalition
an, so müssen wir leider feststellen, dass dieser Gesetzentwurf den Strafverfolgungsbehörden, den Staatsanwälten, den Polizisten, Steine statt Brot gibt.
({1})
Nach der vorgeschlagenen Regelung des § 100 c Abs. 5
Strafprozessordnung muss das Tonband praktisch schon
beim ersten intimen Wort während einer Unterhaltung
abgeschaltet werden. Mit dieser Vorschrift ist die akustische Wohnraumüberwachung faktisch erledigt und tot.
({2})
- Zum Urteil komme ich gleich noch.
Rot-Grün liest das Urteil offenbar so, dass schon das
bloße Laufenlassen eines Tonbandes - das ist ja wohl
Ihre Aussage - eine Verletzung der Menschenwürde darstellen kann. Meines Erachtens muss man das keineswegs so lesen. Ich finde, das ist eine viel zu weitgehende
Interpretation dieses Urteils.
({3})
Wenn Sie diesen Ansatz konsequent zu Ende denken,
dann erkennen Sie, dass deutsche Behörden zumindest
im Bereich der Überwachung ausländischer Straftäter
überhaupt nicht mehr tätig werden können. Der Dolmetscher muss ständig mit in der Abhörkabine sitzen. Fehlt
er oder wird auf einmal eine Sprache gesprochen, für die
er nicht ausgebildet worden ist, muss schon vorsorglich
abgeschaltet werden, weil ja irgendetwas Privates in einer fremden Sprache gesprochen werden könnte.
({4})
Man kann das keinesfalls nachvollziehen. Nur weil etwas Privates gesprochen werden könnte, ohne dass man
Anhaltspunkte dafür hat, muss nach Ihrer Lösung abgeschaltet werden.
({5})
Das ist, wenn man so will, eine Fremdsprachenprivilegierung. Ich finde, das ist ein fatales Signal bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der
grenzüberschreitenden Kriminalität.
({6})
Der linken Seite dieses Hauses kann ich die mitunter
herauskommenden Krokodilstränen für diese angeblich
unumgängliche Gängelung der Strafverfolger nicht so
ganz abnehmen. Das wurde auch in den Debattenbeiträgen gerade deutlich. Die Wahrheit ist eben, dass die Grünen 1998 gegen die Wohnraumüberwachung waren,
({7})
dass weite Teile der SPD dagegen waren und dass der
Rest der SPD zähneknirschend zugestimmt hat, weil der
Druck durch die Bevölkerung gewachsen war. Die Menschen in diesem Land wünschen und wollen eben eine
effektive und wirksame Bekämpfung von Straftaten. Die
Menschen in diesem Lande haben es eben nicht verstanden, dass die Verabredung zu schwersten Verbrechen im
Ergebnis durch ein Grundrecht geschützt werden soll.
Nachdem man vor sieben Jahren unter diesem Druck
eingebrochen ist - im positiven Sinn; das befürworte ich
im Nachhinein natürlich sehr -, versuchen Sie jetzt, die
Wohnraumüberwachung auf kaltem Wege wieder auszuhebeln.
({8})
Sie wollen das wieder rückgängig machen, wozu Sie
sich damals unter dem öffentlichen Druck bereit erklärt
haben.
Herr Bachmaier, es gab gestern noch ganz erfreulich
offene Worte von Ihnen. Sie haben gesagt, Sie seien
nicht enttäuscht über das Urteil.
({9})
Herr Stünker hat gesagt, man hätte das Urteil besonders
eng - wörtlich haben Sie „sehr eng“ gesagt - umgesetzt.
Wenn das so ist, dann muss man sich die Frage stellen,
ob es nicht auch eine andere Möglichkeit gegeben hätte.
Wenn man es sehr eng umgesetzt hat - so haben Sie es
gestern gesagt -, dann frage ich mich, warum man es
denn so eng umsetzen muss. Das sind in der Tat keine
beruhigenden Töne für die Menschen, die zu Recht
Sorge haben, dass die Kriminalität in dieser Form in
Deutschland weiter um sich greift.
Das genau ist der Punkt, an dem sich die CDU/CSUBundestagsfraktion bei der akustischen Wohnraumüberwachung von den übrigen Fraktionen dieses Hauses unterscheidet. Wir sind enttäuscht über das Karlsruher
Urteil,
({10})
wir halten es in seiner Tendenz für höchst problematisch
und wir wollen seine Vorgaben eben nicht eng umsetzen,
({11})
sondern im Interesse der Sicherheit aller Bürger wollen
wir alle Handlungsspielräume, die hier verbleiben - ich
gebe gern zu, dass das nicht viele sind -, konsequent und
intensiv ausnutzen, um möglichst im Zweifelsfalle für
die Sicherheit einzustehen und den Handlungsspielraum
für die Sicherheit im Interesse der Menschen in diesem
Lande auszunutzen.
({12})
Ich glaube, dass es sich alle übrigen Fraktionen dieses
Hauses zu leicht machen, wenn sie sich diesen Handlungsspielraum als Gesetzgeber selbst absprechen.
Bundestag und Bundesrat haben 1998 den Art. 13 unseres Grundgesetzes um den Abs. 3, über den wir hier
sprechen, ergänzt, durch den die akustische Wohnraumüberwachung dezidiert zugelassen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil selbst klargestellt,
dass dieser Art. 18 Abs. 3 Grundgesetz nicht der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes widerspricht bzw. zuwiderläuft.
({13})
- Genau, Art. 13 Abs. 3 Grundgesetz. Danke schön für
diesen Hinweis! - Er widerspricht eben nicht der Ewigkeitsgarantie von Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz. Es wäre
geradezu grotesk, anzunehmen, dass das Verfassungsgericht nur eine leere Hülle übrig lassen, also ein Instrument im Grundgesetz belassen wollte, das gar nicht
mehr handhabbar ist. Die Entscheidung des Verfassungsgebers und ihre prinzipielle Bestätigung durch das Verfassungsgericht sollten wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages selbst ernst nehmen.
Auch die Strafprozessordnungsregelungen, die aufgrund des Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes -
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stünker?
Ja, gerne.
Herr Kollege Krings, vor drei, vier Wochen bin ich in
Washington gewesen und habe einem amerikanischen
Obersten Richter, der sich täglich mit diesen Problemen
beschäftigt, die Frage gestellt, ob es nach der amerikanischen Verfassung erlaubt wäre, ein Band mitlaufen zu
lassen, damit hinterher ein Richter die Aufzeichnung abhören könnte. Diese Lösung wollen Sie hier ja ins Gesetz hineinschreiben. Er hat kurz nachgedacht und gesagt, er hielte dies nach der amerikanischen Verfassung
für undenkbar. Wie beurteilen Sie dies?
({0})
Lieber Herr Kollege Stünker, ich empfinde es immer
als sehr erfrischend, wenn sich auch die SPD-Fraktion
gelegentlich einmal auf amerikanisches Recht und im
weitesten Sinne auch auf amerikanische Politik beruft.
Das ist ein guter Beitrag.
({0})
- Dann lassen Sie mich jetzt in der Sache antworten.
Wir haben ein Gesetz im Lichte unseres Grundgesetzes zu beschließen. Die amerikanische Verfassung ist
hier nicht maßgeblich. In unserem Land hat der Verfassungsgeber die akustische Wohnraumüberwachung ausdrücklich in Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes hineingeschrieben.
({1})
In der letzten Entscheidung des Verfassungsgerichts
finden Sie keine Aussage, dass Art. 13 Abs. 3 GG gegen
Art. 1 oder Art. 79 GG verstieße. Das Gegenteil ist der
Fall; es wurde in diesem Urteil ausdrücklich festgehalten, dass Art. 79 GG nicht betroffen sei. Dies sollten Sie
bitte zur Kenntnis nehmen, anstatt hier nur amerikanisches Verfassungsrecht heranzuziehen.
({2})
Ich komme zu einem letzten Aspekt. Auch die Strafprozessregelungen, die aufgrund des Art. 13 Abs. 3 GG
ergehen konnten und die wir heute diskutieren, sind
nicht aus einer politischen Laune heraus entstanden. Sie
sind Ausfluss und Ausfüllung der grundrechtlichen
Schutzpflicht unseres Parlaments, des Gesetzgebers.
Wir haben auch gegenüber den Opfern eine Schutzpflicht. In der Debatte wird oft vergessen, dass Grundrechte nicht nur Täter, sondern auch Opfer schützen sollen. Auch dies sollten wir beachten.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Dies war bereits mein Schlusssatz. Ich muss zum
Ende kommen, aber leider ist nach dem heutigen Tag
auch die akustische Wohnraumüberwachung am Ende.
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bürgerrechtsorganisationen, Rechtsanwälte und Initiativen registrieren seit langem, dass die Überwachungspraxis in Deutschland rasant zunimmt. Dies ist kein Zufall,
es war gewollt: von der CDU/CSU ohnehin, aber auch
von SPD und Grünen. Die PDS hat vor einer solchen
Entwicklung gewarnt und sie abgelehnt.
({0})
Inzwischen hat sogar das Bundesverfassungsgericht die Überwachungspraxis gerügt und rechtliche
Änderungen angemahnt. Es hat unmissverständlich klargestellt, dass es einen Kernbereich privater Lebensführung gibt, in dem weder der Staat noch seine Dienste etwas zu suchen haben: die Wohnung. Ausnahmen müssen
wohl begründet und genehmigt sein. Darum geht es in
der laufenden Debatte.
Nun hat Rot-Grün ein geändertes Gesetz vorgelegt.
Heute stellt sich daher die Frage, ob es den Auflagen des
Bundesverfassungsgerichts entspricht. Für die PDS
muss ich diese Frage leider mit Nein beantworten.
({1})
Rot-Grün versucht, sich am Urteil des Gerichts vorbeizumogeln. Aus dem Bayerischen Wald hallt sogar der
Ruf nach noch mehr Überwachung. Genau dies wollen
wir aber nicht.
In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass die
Antiterrorgesetze aus dem Jahre 2001, die so genannten
Otto-Pakete, nach zwei, spätestens drei Jahren überprüft werden sollten. Darauf warten wir im Bundestag
und die interessierte Öffentlichkeit noch immer.
({2})
Stattdessen durften wir gestern hören, dass Bundesinnenminister Schily ihre Entfristung, also unbefristete
Gültigkeit, anstrebt. Bündnis 90/Die Grünen signalisierten schon einmal Kompromissbereitschaft. Auch dafür
hat die PDS im Bundestag kein Verständnis.
({3})
Nun hat die FDP-Fraktion einige Änderungen beantragt. Sie zielen darauf, mit dem Gesetz zur Wohnraumüberwachung wenigstens den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu genügen. Das ist uns als PDS zu
wenig; denn wir sind weder für den großen noch für den
kleinen Lauschangriff.
({4})
Nun noch eine Schlussbemerkung. Die FDP hat auf
ihrem jüngsten Parteitag einen Beschluss zu Bürgerrechten gefasst. Die Vorsitzende der Grünen, Claudia
Roth, hat danach gefrotzelt, die FDP wolle sich plötzlich
ein bürgerrechtliches Image zulegen. Sie wissen: Ich bin
in vielen Fragen mit der FDP über Kreuz. Aber eine Erfahrung habe ich in den letzten zweieinhalb Jahren sammeln müssen: Immer wenn es hier um den Schutz der
Bürgerrechte und auch die Abwehr in ihre Eingriffe
ging, standen FDP und PDS allein gegen eine Allianz
von CDU/CSU bis hin zu den Grünen.
({5})
Das ist nicht gut für die Bürgerinnen und Bürger, nicht
gut für die Demokratie und, wie ich finde, auch nicht gut
für die Zukunft Deutschlands.
({6})
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Krings hat mich
durch seinen Beitrag daran erinnert, wie das 1997/98
war. Auch damals gab es Leute, die eine Situation aufgezeigt haben, um dann zu sagen: Wir brauchen zum
Schutze der Bevölkerung und zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität unbedingt den großen Lauschangriff.
Ich bin dankbar, dass wir heute in einer anderen Situation sind. Diese Bundesregierung und die Koalition
aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben als verantwortliche Politiker auf einer sachlichen Grundlage und
in einer sachlichen Atmosphäre das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt. Ich glaube, wir haben
eine gute Grundlage für eine sachgerechte Beurteilung.
Diese war 1997/98, als Sie Verantwortung trugen, nicht
gegeben.
({0})
Man fragt sich wirklich, wie Herr Krings damit umgeht. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden,
dass es einen Bereich der privaten Intimsphäre gibt, der
sich jedem staatlichen Eingriff entzieht. Er aber stellt
sich hier hin und erklärt: Eigentlich gilt für mich diese
Entscheidung nicht, ich würde sie völlig anders umsetzen.
({1})
Ich erinnere an den Beitrag von Herrn Norbert Geis im
Ausschuss. Dazu kann ich nur sagen: Norbert Geis ist im
Vergleich zu dem, was Sie gesagt haben, eine „lame
duck“.
({2})
Der Änderungsantrag der CDU/CSU nimmt aus meiner Sicht wesentliche Teile des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht zur Kenntnis. Ihr Änderungsantrag ist
verfassungsrechtlich mehr als bedenklich. Ihm kann man
sicherlich nicht zustimmen. Ich muss Sie fragen: Wollen
Sie, dass der Gesetzgeber ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet? Haben Sie aus der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nichts gelernt?
({3})
Die FDP hingegen verfällt in das genau andere Extrem. Ihr geht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht weit genug. Herr Funke, ich möchte Sie
bitten: Schauen Sie sich § 100 c Abs. 4 StPO an. Dort
wird nicht der Begriff „Privatwohnung“ verwendet. Ich
halte diesen Begriff auch für falsch. Wie soll im Einzelfall beurteilt werden, was eine Privatwohnung ist? Wird
ein Arbeitszimmer in einer Privatwohnung auch zur Privatwohnung?
({4})
- Das habe ich gelesen. - Oder wie sieht es mit der
LKW-Kabine aus, die teilweise zum Privatraum werden
kann? Ihr Änderungsantrag ist zwar plakativ, aber nicht
handhabbar.
({5})
Er ist auch nicht notwendig. Gerade unter sicherheitspolitischen Aspekten darf der Gesetzgeber aus meiner
Sicht dieses Feld nicht völlig räumen.
Mit dem Antrag der Regierungskoalition erfüllen wir
die Ansprüche, die die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts für notwendig erachtet. Die akustische Wohnraumüberwachung ist im Einzelfall weiterhin möglich.
Sie ist aus meiner Sicht auch notwendig und sie ist praktikabel.
({6})
Trotz hoher Anforderungen wird sie in den wirklich herausragenden Fällen erfolgreich eingesetzt werden können.
Die Exekutive hat die akustische Wohnraumüberwachung angewandt und muss jetzt vom Bundesverfassungsgericht hören, dass es so nicht weitergeht. Dass
dann Kritik aus der Exekutive kommt, ist etwas völlig
Normales. Ich hätte mich gewundert, wenn keine Kritik
gekommen wäre. Nur, wir sollten uns vielleicht auch
einmal vergegenwärtigen, dass wir seit 1998 die Instrumente für die Strafverfolgung erweitert und modernisiert
haben. Es gibt ein Arsenal, gerade zur Bekämpfung der
Schwerstkriminalität, das wir seit 1998 neu geschaffen
haben. Dieses Arsenal wird von der Polizei verantwortungsvoll, nicht ausufernd, sondern zurückhaltend und
effizient eingesetzt.
In der Gesamtschau der rechtsstaatlichen Möglichkeiten hat sich die Situation der Strafverfolgungsorgane
verbessert und sie wird sich weiter verbessern, wie diese
Koalition mit dem Gesetzentwurf zum vereinfachten
DNA-Test unter Beweis stellen wird.
({7})
Wenn ich mir vorstelle, dass nach Ihrer Aussage auf
dem FDP-Parteitag, Herr Funke, eine gemeinsame
Koalition mit der CDU/CSU gebildet werden soll, dann
kann ich nur sagen: Für den Bereich der Innen- und
Rechtspolitik wird das niemals zu schaffen sein.
({8})
Oder Sie müssen im Prinzip alles über den Haufen werfen.
({9})
Ich sage Ihnen: Dieser Gesetzentwurf ist in einer guten
und sachlichen Atmosphäre entwickelt worden. Er vermeidet die Extrempositionen der CDU/CSU und der
Frank Hofmann ({10})
FDP. Er ist gut für die Bürgerrechte und gut für die Sicherheit.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Norbert Geis, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Arbeitsgruppe, die den Gesetzentwurf 1998
vorbereitet hat, gehörten der damalige und der heutige
Innenminister an, der damalige Justizminister und seine
Nachfolgerin. Es gehörten ihr auch Herr Körper, ich und
einige andere an. Es war damals eine gemeinschaftliche
Anstrengung und diese gemeinschaftliche Anstrengung
ist von der ganz großen Mehrheit dieses Hauses getragen
worden. Davon wollen wir nicht abgehen; das wollen
wir heute einmal festhalten.
({0})
Zweite Vorbemerkung: Ich wende mich gegen den
Begriff „Lauschangriff“. Der Verbrecher greift an und
der, der versucht, die Tat zu ermitteln und den Verbrecher bloßzustellen, der verteidigt die Rechtsordnung.
({1})
Deshalb ist „Lauschangriff“ ein falscher Begriff und wir
sollten ihn nicht verwenden.
({2})
Die Unverletzlichkeit der Wohnung hat in unserer
Kultur eine lange Tradition. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Gestaltung der privaten Lebenssphäre
und der Wahrung der menschlichen Würde. Darauf hat
auch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen hingewiesen. Es hat dies in seiner Entscheidung vom 3. März 2004 noch einmal klargestellt und gesagt, dass die Wohnung als Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung den absoluten Schutz genießt.
Aber wie jedes Grundrecht wird auch das Grundrecht
des Art. 13 des Grundgesetzes nicht schrankenlos gewährt. Die Wohnung ist kein exterritorialer Raum. Die
Hausdurchsuchung ist möglich, wenn der Richter sie anordnet und wenn sie auf gesetzlicher Grundlage geschieht. Sie trifft sehr oft den engsten, den intimsten Bereich des jeweils Betroffenen, des Wohnungsinhabers.
Wenn es darum geht, Gefahren für das Leben abzuwenden, haben wir überhaupt keine Hemmung und dürfen auch gar keine Hemmung haben, den privatesten Bereich mit technischen Mitteln zu überwachen und dazu
akustische und sogar visuelle Mittel einzusetzen. Da gibt
es keine Schranken. Insofern ist dieses Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung sehr aufgedröselt, wenn man
das von dieser Seite sieht. Das gibt es heute schon und
das Verfassungsgericht hat mitnichten daran gerüttelt. Es
wäre auch schlimm, denn es geht darum, durch akustische oder visuelle Wohnraumüberwachung rechtzeitig
eingreifen zu können und einen Verbrecher zum Beispiel
davon abzuhalten, ein entführtes Kind zu Tode zu bringen.
Auch im Rahmen der Strafverfolgung besteht die
Möglichkeit, jetzt auch vom Verfassungsgericht bestätigt, akustische Mittel zur Überwachung des Wohnraumes einzusetzen. Das bestreitet niemand. Das Verfassungsgericht hat Art. 13 Abs. 3 noch einmal
ausdrücklich als verfassungskonform gekennzeichnet.
({3})
Als wir 1998 darangegangen sind, die Wohnraumüberwachung im Falle der Strafverfolgung durch eine
Verfassungsänderung zu ermöglichen, ging es uns darum, in den innersten Bereich der organisierten Kriminalität vorzudringen. Wir wollten endlich die Drahtzieher,
wir wollten die Finanziers, wir wollten an die Verbrecher
im feinen Anzug und im teuren Auto herankommen, die
sich selber die Hände nicht schmutzig machen, aber andere beauftragen, zu morden und zu töten. Das war unser
Anliegen.
({4})
Natürlich wollten wir den Wohnraum selbst nicht verletzten.
({5})
- Das war nicht unsere Absicht. - Uns ging es damals
nicht um reine Strafverfolgung, uns ging es nicht um die
Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches, sondern
uns ging es darum, durch eine konsequente Strafverfolgung künftig Verbrechen zu vermeiden. Der Verbrecher
richtet sich nicht nach dem geschriebenen Gesetz; er
kümmert sich nicht um das, was im Strafgesetzbuch
steht.
({6})
Für ihn ist allein die Frage entscheidend: Wird meine Tat
entdeckt oder nicht? Deswegen haben wir versucht, auch
mithilfe der Wohnraumüberwachung eine bessere Aufklärung von Schwerstverbrechen zu ermöglichen. Das
gilt für alle Länder um uns herum - für Frankreich, für
England - und das gilt auch für die USA.
({7})
Es war richtig, dass wir damals die Wohnraumüberwachung eingeführt haben.
({8})
Weil meines Erachtens Strafverfolgung und Gefahrenabwehr nicht scharf voneinander zu trennen sind,
sondern in engem Zusammenhang stehen, halte ich die
scharfe Unterscheidung des Verfassungsgerichts, welches bei der Abwehr von Strafen alles ermöglicht, aber
die Strafverfolgung eng begrenzt, für sehr bedenklich.
Das muss hier einmal in Ruhe gesagt werden dürfen,
denn hier ist nichts sakrosankt. Wir dürfen auch dem
Verfassungsgericht sagen, dass wir bestimmte Entscheidungen nicht voll akzeptieren.
({9})
Ich akzeptiere diese Entscheidung insoweit nicht. Obwohl das Verfassungsgericht in seinem Urteil deutlich
sagt, die Wohnraumüberwachung solle auch im Bereich
der Strafverfolgung möglich sein, schafft es gleichzeitig
Begrenzungen, die der Bundesregierung praktikable und
handhabbare gesetzliche Regelungen dieses Instruments
schier unmöglich machen.
Dennoch meine ich, Frau Ministerin, dass eine Regelung in unserem Sinne möglich gewesen wäre. Vielleicht
hätten Sie die Vorschläge, die aus dem Bundesrat gekommen sind, mehr beachten sollen, vielleicht hätten Sie
auch die Vorschläge der Sachverständigen in der Anhörung des Bundestages aufnehmen sollen, zum Beispiel
den Vorschlag, in den Katalog der Anlasstaten die
schwere Form der kriminellen Vereinigung nach § 129
Abs. 4 mit aufzunehmen. Man hätte den Strafrahmen für
diese schwere Form auf zehn Jahre erhöhen können, wie
es ein Sachverständiger ausdrücklich vorgeschlagen hat.
Es wäre möglich gewesen, diese klassische OK-Tat mit
in den Katalog der Anlasstaten aufzunehmen.
Auch die schweren Bestechungsdelikte hätte man mit
aufnehmen müssen,
({10})
denn alle Praktiker sagen uns: Gerade in Fällen von Bestechung ist die akustische Wohnraumüberwachung ein
wichtiges Mittel, weil die Täter sich so abschotten, dass
eine Aufklärung anders nicht möglich ist. Ich bedaure
sehr, dass diese schweren Bestechungsdelikte nicht darin
enthalten sind.
({11})
- Nein, sie sind nicht darin enthalten. Der Sachverständige schlägt das ja ausdrücklich vor.
Lassen Sie mich abschließend etwas zu der im Gesetzentwurf vorgesehenen Unterbrechung der Abhörmaßnahmen anmerken. Es ist richtig, was Herr Krings
und Frau Raab ausgeführt haben: Die Unterbrechung ist
jetzt in einer Weise geregelt, dass die akustische Wohnraumüberwachung praktisch ad nullum geführt wird. Sie
wird nicht mehr möglich sein. Denn wie soll der abhörende Beamte, wenn die Überwachung abgestellt worden ist, wissen, wann die private Unterhaltung wieder
beendet ist und wann unter Umständen die Chance besteht, dass die Abzuhörenden über ein Verbrechen reden? Das ist nicht vorstellbar. Er müsste schon hellseherische Fähigkeiten haben.
Deswegen meine ich, dass der Vorschlag der CDU/
CSU-Fraktion, zwei Bänder zu ermöglichen - nämlich
ein Richterband und eines, das der ermittelnde Beamte
abhört -, durchaus einer genauen Prüfung wert wäre.
({12})
Der Beamte schaltet aus, sobald ein Gespräch den privatesten Kernbereich berührt. Das Richterband wird dem
Richter vorgelegt und ein unabhängiger Richter entscheidet darüber, ob der Inhalt verbrecherischen Gehalt
hat und in die Ermittlungen einbezogen wird oder ob das
abgehörte Band vernichtet werden muss.
Ich bin der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf ein
Vermittlungsverfahren durchlaufen muss. Ich hoffe sehr,
dass wir im Vermittlungsausschuss eine vernünftige Lösung finden. Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen sind nicht praktikabel. Dann können wir das Vorhaben auch gleich lassen.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/4533 zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zur akustischen
Wohnraumüberwachung. Der Rechtsausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5486,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5489? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung
der CDU/CSU-Fraktion.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Kollegin Pau
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Koschyk, Thomas Strobl ({0}), Bernhard
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kaster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der
Großstädte in Deutschland sichern
- Drucksache 15/5332 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Heute existieren weltweit 40 so genannte
Megastädte. Dabei handelt es sich um Städte mit jeweils
über 10 Millionen Einwohnern. In den nächsten zehn
Jahren wird erwartet, dass die Zahl dieser Städte auf insgesamt 60 steigen wird.
In Deutschland haben wir - das ist historisch und
strukturell begründet - keine Megacitys und wir werden
sie auch nicht bekommen. Das bedeutet: Wir haben zwar
nicht die riesigen Probleme der Megastädte, wir haben
allerdings auch nicht die sich aus diesen Metropolen ergebenden Chancen. Gleichwohl muss sich der Standort
Deutschland in einer globalisierten Welt mit seinen Bedingungen in den großen Städten dem harten Wettbewerb mit den Weltmetropolen stellen. Aktuell findet in
Berlin eine Tagung des Städtenetzwerkes „Metropolis“
mit 500 Teilnehmern aus aller Welt statt. Hier geht es genau um die angesprochenen Fragen. Dies ist ein Wettbewerb um Wirtschaftsinvestitionen, Konzernzentralen
und damit auch um Arbeitsplätze und attraktive Lebensbedingungen. Wir konkurrieren mit europäischen und
weltweiten Metropolen und Metropolregionen.
Kern der heutigen Krise unserer Großstädte ist das im
europäischen wie im weltweiten Vergleich viel zu niedrige Wirtschaftswachstum.
({0})
Was für die Volkswirtschaft insgesamt gilt, trifft erst
recht auf die Großstädte zu: Geht es ihnen schlecht, leidet das ganze Land. Und umgekehrt: Was unseren Großstädten gut tut, das hilft auch unserem Land. Fehlentwicklungen, Fehlentscheidungen und Fehlsteuerungen
rot-grüner Bundespolitik haben dazu geführt, dass sich
gerade in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen für
die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte
in Deutschland zunehmend verschlechtert haben.
({1})
Augenblicklich kumuliert sich in unseren Städten eine
Vielzahl unserer wirtschaftspolitischen, haushaltspolitischen und gesellschaftspolitischen Probleme. Die kommunalfeindliche Politik der letzten Jahre hat viele Städte
an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Dringend
notwendige, das Stadtbild prägende und infrastrukturelle
Investitionen bleiben auf der Strecke. Landauf, landab
entsteht ein Investitionsstau ohnegleichen. In ganz
Nordrhein-Westfalen etwa kommen in diesem Jahr von
23 Großstädten ganze drei ohne ein Haushaltssicherungskonzept aus.
({2})
Von den übrigen 20 müssen mindestens 14 sogar mit einer vorläufigen Haushaltsführung vorlieb nehmen, weil
ihr Sicherungskonzept erst gar nicht genehmigt wurde.
Hier bleiben nicht nur Investitionen auf der Strecke.
Nein, hier steht viel mehr auf der Kippe, und zwar auch
das, was großstädtische Lebensattraktivität erst ausmacht, wie Bibliotheken, Theater oder Kulturzentren,
also das, was für die Menschen vor Ort wichtig ist.
Soziale Brennpunkte hat es schon immer in unseren
Städten gegeben. Heute sprechen wir aber nicht nur von
sozialen Brennpunkten. Nein, wir müssen vielmehr
vom „Kippen“ ganzer Stadtteile sprechen. Wir erleben
regelrechte Wanderungsbewegungen, beispielsweise in
Berlin oder in Köln - viele Städte wären hier zu nennen -, von einem zum anderen Stadtviertel: Flucht vor
drastisch sinkenden Eigentumswerten, Flucht vor Kriminalität, Flucht auch vor den Folgen einer fehlgeschlagenen Integrationspolitik und mangelnder Integrationsbereitschaft. Das muss als Wahrheit ausgesprochen
werden.
Jeder spricht gerne von Entbürokratisierung. Aber
gleichzeitig beraten wir über ein Antidiskriminierungsgesetz oder wir reagieren auf die Feinstaubdebatte mit
Vorschlägen wie der Citymaut. Politisches Handeln ist
vielmehr dort angesagt, wo die Städte keine oder nur geringe Handlungsmöglichkeiten haben, etwa bei der Bekämpfung des Graffitiunwesens - was tut man sich hier
schwer! - oder in einer die Integration und die Integrationsbereitschaft fördernden Ausländerpolitik.
Unsere Großstädte stellen sich dennoch kreativ und
dynamisch der Situation, um Impulsgeber von Wirtschaft und Gesellschaft zu bleiben, seien es die alternativen Finanzierungswege für Großprojekte wie den Jungfernstieg in Hamburg, sei es eine vorbildliche
Finanzpolitik wie in Düsseldorf, sei es die beispielgebende Kooperation einer Großstadtregion wie der Region Stuttgart oder sei es die Vorreiterrolle vieler Städte
im Hinblick auf E-Government, betriebswirtschaftliche
Haushaltsführung oder innovative Kooperationsmodelle.
Unsere großen Städte versuchen trotz großer Probleme,
aus eigener Initiative und Kraftanstrengung noch vieles
zu realisieren. Hier gilt: Not macht eben erfinderisch.
Im Mittelalter hieß es „Stadtluft macht frei“. Jeder
kennt diesen Ausspruch. Seit 1998 müssen wir ihn ergänzen: Rot-Grün drückt diese Luft ab.
({3})
Frei atmen in unseren Städten, das heißt, endlich wieder
die Finanzspielräume zu geben, damit die Städte die notwendigen Investitionen nach eigener Prioritätensetzung
in Angriff nehmen können. Bitte nicht schon wieder die
alte Leier von zinsverbilligten KfW-Krediten anstimmen!
Frei atmen in unseren Städten, das heißt auch, keine
einseitigen Vorgaben für die bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu machen. Haben wir hier doch den
Mut, örtliche, das heißt auch ganz unterschiedliche Varianten - ob Kinderbetreuung im Quartier oder ob Tagesmüttermodelle - sich frei entwickeln zu lassen!
Frei atmen, das heißt auch, dass die europäische
Ebene nicht immer neue Überregulierungen schafft. Unsere Städte müssen im Einklang mit dem Wettbewerbsprinzip und im Sinne echter Verantwortung weiterhin
selbst entscheiden können, wie sie ihre Aufgaben erfüllen.
({4})
Unsere Städte müssen deshalb im Vorfeld europapolitischer Entscheidungen an der nationalen Willensbildung
auch institutionell beteiligt werden. Das ist ganz wichtig.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist fünf vor
zwölf. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, die Chancen
und Entwicklungsmöglichkeiten, das heißt die Zukunftsund Wettbewerbsfähigkeit unserer Großstädte viel stärker als bisher auch in den bundespolitischen Blick zu
nehmen. Unser heutiger Antrag weist dazu den Weg.
Stimmen Sie ihm daher zu! Geben Sie den Großstädten
die notwendige Luft zum Atmen zurück!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marga Elser von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Zeitpunkt Ihres Antrages, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, verwundert mich sehr. Wenn ich mir
Ihre Forderungen so anschaue, dann habe ich schon den
Eindruck, dass Sie so manches, was bereits in den letzten
Jahren auf den Weg gebracht wurde, überhaupt nicht
mitbekommen haben.
({0})
Die Bundesregierung hat die Probleme, die Sie schildern, bereits vor Jahren erkannt und sie arbeitet sehr
konsequent an ihrer Lösung.
Einige Maßnahmen waren bereits erfolgreich.
({1})
Es ist mir unverständlich, warum sich Ihr Antrag nur auf
Großstädte konzentriert. Wir haben mehr als
13 000 Kommunen. Es ist absolut unseriös, große gegen
kleine Städte auszuspielen.
({2})
Sie fordern, Großstädte finanziell zu entlasten.
Nur mit einer umfassenden und durchgreifenden
Gemeindefinanzreform kann die kommunale Finanzkrise bewältigt werden.
({3})
So der Wortlaut in Ihrem Antrag. Ich frage Sie: Wer hat
denn verhindert, dass die Gemeindefinanzreform 2003
umfassend verabschiedet wird, so wie wir es wollten?
Die rot-grüne Bundesregierung hatte eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingesetzt.
({4})
Diese hat im Wesentlichen zwei Maßnahmen in den Vordergrund gestellt: die Reform der Gewerbesteuer und die
Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Der
Bundesrat hat dieses Vorhaben blockiert. Im Vermittlungsausschuss war es dann möglich, wenigstens einen
Teil dieser Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
({5})
Den Anstieg der kommunalen Schulden haben wir
damit insgesamt stark abgebremst. Dazu beigetragen haben im Wesentlichen die Gewerbesteuerumlage und die
Änderung der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer, zum Beispiel durch die Mindestgewinnbesteuerung. Die Steuereinnahmen der Gemeinden und der Gemeindeverbände erhöhten sich im Jahr 2004 um
9,4 Prozent auf 51 Milliarden Euro.
Hier wird auch klar, dass Ihr Antrag alles andere als
aktuell ist. Sie hantieren mit veralteten Zahlen: Sie beziffern das Defizit der Kommunen 2003 auf fast
9 Milliarden Euro. Diese Zahl ist nur fast richtig. Es waren 8,5 Milliarden Euro. Im Übrigen liegen auch schon
die Zahlen für 2004 vor. Diese müssten Sie eigentlich
kennen. Die waren bei der Abfassung Ihres Antrags bereits bekannt. Offensichtlich kennen Sie sie aber nicht.
Deshalb freut es mich umso mehr, dass ich Ihnen hier
eine gute Nachricht überbringen kann. Der Schuldenberg
der Kommunen hat sich innerhalb eines Jahres halbiert,
und zwar von 8,5 auf 3,8 Milliarden Euro.
({6})
Sicherlich sähe die Finanzlage noch besser aus, wenn
auch die freien Berufe im Rahmen einer Gemeindewirtschaftsteuer ihren Anteil leisten würden. Eine umfassende Reform, so wie wir sie gefordert haben, wurde von
Ihnen damals leider blockiert.
Frau Kollegin Elser, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Götz?
Bitte.
Bitte schön, Herr Götz.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die kommunalen Kassenkredite in Ihrer Regierungszeit von
5,8 Milliarden auf den Höchststand von 20 Milliarden
Euro im vergangenen Jahr gestiegen sind? Wenn Sie das
als Erfolg betrachten, dann muss ich Sie wirklich fragen,
ob Sie auf dem richtigen Weg sind.
({0})
Wir haben in der Gemeindefinanzreform getan, was
wir tun konnten,
({0})
was Sie uns haben machen lassen. Weder der Anstieg
noch das Absinken dieser Schulden sind, denke ich, allein vom Bund zu verantworten. Daran sind noch viele
andere Bereiche beteiligt.
({1})
Dazu kann ich Ihnen auch einiges vorrechnen. So kommen wir nicht weiter, denke ich.
({2})
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung. Nach der Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland sind
die Länder für die finanzielle Ausstattung der Kommunen zuständig. Die Adressierung Ihres Antrags verwundert mich deshalb.
In diesem Jahr werden die Kommunen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe entlastet.
({3})
Ich möchte das nicht weiter ausführen;
({4})
das wissen wir alle.
Ihre Vorschläge zur Lösung der kommunalen Finanzkrise sind also offensichtlich bereits umgesetzt.
Sie fordern weiter, dass die Städte darin unterstützt
werden sollen, sich an die Veränderungen durch den
demographischen Wandel anzupassen. Auch hierzu hat
die rot-grüne Bundesregierung bereits viele Maßnahmen
ergriffen. Sie haben das offensichtlich übersehen.
({5})
Wir kennen die Daten. Immer mehr älteren Menschen
stehen immer weniger junge Menschen gegenüber. Die
Potenziale der älteren Menschen müssen in Zukunft besser genützt werden.
({6})
Das ist in der Wirtschaft so - dazu vermisse ich Anträge
von Ihnen allerdings -; das ist aber auch beim bürgerschaftlichen Engagement so.
Ich darf daran erinnern, dass wir in unserer Regierungszeit schon einiges getan haben. Ich nenne nur das
Programm „Soziale Stadt“.
({7})
Städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen, städtebaulicher Denkmalschutz, Stadtumbau Ost,
Stadtumbau West - alles das haben wir in Gang gesetzt.
({8})
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Die Kommunen
sind voll gerüstet. Sie können die Herausforderungen annehmen.
Sie fordern kinder- und familienfreundliche Strukturen. Sie fordern, die Familien einzubeziehen und einen kommunalen Familientisch zu gründen. Dieser Vorschlag freut mich natürlich außerordentlich; denn damit
greifen Sie nichts anderes auf als die Initiative unserer
Familienministerin zu lokalen Bündnissen für Familie.
({9})
Seit Januar 2004 sind 145 solcher Bündnisse geschlossen worden, vor Ort angepasst usw. Es ist also alles bereits gemacht.
({10})
Wir haben zum 1. Januar 2005 das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Auch das wollte der
Bundesrat nicht haben.
({11})
Mit diesem Gesetz haben wir nicht nur guten Willen bekundet, sondern auch Geld für die Kommunen gegeben.
Wenn die Länder die Gelder nicht an die Kommunen
weitergeben,
({12})
dann ist das nicht unsere Sache. Ich weiß, dass das Land
Baden-Württemberg nur einen Bruchteil des Geldes an
die Kommunen weitergegeben hat.
Für den Ausbau von Ganztagsschulen haben wir
4 Milliarden Euro an die Kommunen weitergegeben. Ich
bin nicht wie die Frau Kultusministerin Schavan der
Meinung, dass dieses Geld nur für Schulen an sozialen
Brennpunkten ausgegeben werden soll. Ich finde, jede
Schule müsste profitieren.
({13})
Damit entspräche man auch dem Wunsch der Väter und
Mütter nach intensiver Betreuung ihrer Kinder. Wir helfen den Kommunen, kinder- und familienfreundliche
Strukturen zu schaffen. Dieses Ganztagsschulprogramm
({14})
ist aber noch aus einem anderen Grund sehr wichtig.
Dort, wo Familien gerne leben, steigen nicht nur die
kommunalen Steuereinnahmen. Nein, sie sind auch deshalb ein wichtiger Faktor, weil durch sie die Investitionsdynamik und die Wettbewerbsfähigkeit der Städte steigen.
Deutschland spielt mit seinem Halbtagsschulsystem
international eine Sonderrolle. Wenn wir im Wettbewerb
standhalten wollen, müssen wir diese Sonderrolle ablegen. Die Initiative „Zukunft Bildung und Betreuung“ ist
für uns deshalb der beste Weg.
Sie fordern, dass die bundespolitischen Rahmenbedingungen für Sicherheit und Ordnung geschaffen werden. Sie fordern, dass soziale Spannungsfelder gelöst
werden. Dazu gehört natürlich auch - das ist schon von
Ihnen gesagt worden - die Bekämpfung des Graffitiunwesens. Wir wissen doch - wir diskutieren darüber ja
schon viele Jahre -, dass dieses Problem nicht mit einer
Änderung im Strafgesetzbuch erledigt werden kann. Die
Schwierigkeit besteht doch darin, dass die Sprayer auf
frischer Tat ertappt werden müssen. Das ist doch das
Problem.
({15})
Sie fordern eine bessere Integration. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Ihnen wirklich entgangen,
dass wir gerade mit dem Zuwanderungsgesetz eine bessere Integration von Auswanderern und Zuwanderern erreicht haben?
({16})
Wir haben die Grundlagen dafür geschaffen, dass Ausländer und Zuwanderer sprachlich, beruflich und auch
sozial integriert werden. Der Grundstein ist gelegt. Die
Integration selbst kann letztendlich jedoch nur dadurch
erreicht werden, dass die Zuwanderer selbst und die
deutsche Bevölkerung aufeinander zugehen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Satz dazu sagen,
dass Sie von der Bundesregierung einen jährlichen Bericht zur Lage und zur Entwicklung der Zukunfts- und
Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte fordern. Auf der
einen Seite schimpfen Sie immer über die Bürokratie.
Hier fordern Sie nun ein Mehr an Bürokratie. Da frage
ich Sie schon: Wie passt dies zusammen?
({17})
Insgesamt bleibt mir nur eines übrig, nämlich Ihnen
von der CDU/CSU zu danken. Mit Ihrem Antrag haben
Sie wunderbar, wenn auch etwas unstrukturiert, dargestellt, was die rot-grüne Bundesregierung in den letzten
Jahren für die kommunalen Haushalte getan hat.
({18})
Noch viel mehr machen Sie mit Ihrem Antrag deutlich,
dass Sie selbst keine besseren Ideen haben.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
von der FDP-Bundestagsfraktion freuen uns außerordentlich, dass auch die Kollegen von der Union jetzt die
Kommunalpolitik entdeckt haben. Man freut sich immer
über Mitstreiter auf diesem Gebiet.
({0})
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass es wichtig
ist, die Kommunen hier im Haus wichtiger zu nehmen
und auch besser zu behandeln, wenn entsprechende
Dinge beraten werden. Aus unserer Sicht sollte sich der
Antrag aber nicht nur mit Großstädten beschäftigen,
auch wenn das ein wichtiges Thema für uns alle ist, sondern mit den Kommunen insgesamt. Das Problem trifft
nämlich Großstädte und die normalen Städte gleichermaßen.
({1})
Ich freue mich auch darüber, dass Sie in Ihrem Antrag
einen Bericht zur Lage der Großstädte fordern; denn die
FDP hat schon vor längerer Zeit hier einen Antrag eingebracht, in dem ein Bericht über die Lage der Kommunen eingefordert wurde. Nach der Diskussion im Innenausschuss habe ich eine dunkle Ahnung davon - das hat
Frau Elser hier jetzt auch bestätigt -, dass sich die Koalitionsfraktionen diesem Antrag verweigern werden.
Wenn Sie einmal die Berichtsliste 2004 zur Hand nehmen, dann sehen Sie, dass es 158 Berichte gibt, darunter
- ich möchte jetzt keinem Kollegen zu nahe treten - so
spannende wie den Bericht über die Möglichkeit des
weiteren Ausbaus der Nord-Süd-Schienenverbindung
unter Wahrung der Verkehrsbedürfnisse des Freistaates
Thüringen und auf möglichst kostengünstige Weise - ich
will das Deutsch gar nicht kommentieren - oder auch
den Bericht über das gesamte Saatgutrecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
mal ganz im Ernst: Wir diskutieren hier über die dritte
Säule unseres Staates, über das, was Bürgerinnen und
Bürger jeden Tag erfahren, und Sie sagen angesichts von
158 Berichten, das bedeute zusätzliche Bürokratie und
Sie wollten sich nicht darum kümmern. Das finde ich einen Skandal, ehrlich gesagt.
({2})
Wenn man davon absieht, dass der Antrag der CDU/
CSU vom Antidiskriminierungsgesetz über Graffiti bis
hin zum Zebrastreifen alles an Politikfeldern abräumt,
dann unterstützen wir Sie in der Zielsetzung Ihres Antrages. Ohne eine Gemeindefinanzreform wird es den
Städten und Gemeinden - das ist ja der Kern Ihres Antrages - langfristig niemals besser gehen können.
({3})
Die finanzielle Ausstattung funktioniert nicht, wenn wir
nicht endlich eine ordentliche Gemeindefinanzreform
auf den Weg bringen. Auch daran ändern die heute vorgelegten Zahlen des Arbeitskreises Steuerschätzung
nichts. Denn selbst wenn es den Gemeinden besser gehen sollte: Der Patient ist krank und nur weil es ihm ein
wenig besser geht, ist er noch nicht geheilt.
({4})
Deshalb mein Appell: Bringen Sie endlich eine Gemeindefinanzreform auf den Weg! 20 Milliarden Euro
Kassenkredite sind ein Unding; davon können die Städte
und Gemeinden nicht leben.
Eines allerdings fehlt uns - das vielleicht noch als
Hinweis -: das Konnexitätsprinzip. Wenn Sie es mit
den Kommunen ernst meinen, dann müssen Sie auch dafür sorgen, dass wir hier nicht länger etwas beschließen,
was die Gemeinden auszubaden haben. Deshalb würde
ich mich freuen, wenn Sie das noch aufnehmen.
({5})
- Das ist in fast allen Ländern beschlossen worden; aber
ich rede vom Bundestag. Wir sind hier im Bundestag
und Sie haben sich dieser Abstimmung verweigert.
Ich hoffe, dass wir einen Weg finden, den Kommunen
zu helfen. In diesem Sinne würden wir Sie gerne unterstützen, wenn Sie uns da ein Stück entgegenkommen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Erstes, lieber Kollege Kaster und Frau Kollegin Piltz:
Anfang Juni führt unsere Fraktion eine große Konferenz
zum Thema „Stadt Aktiv“ durch.
({0})
Sie sind herzlich eingeladen. Kommen Sie; ich glaube,
da können Sie einiges lernen.
({1})
Ich muss sagen: An sich finde ich es toll, dass die
CDU/CSU das Thema aufgegriffen hat, egal ob mit dem
Schwerpunkt Großstädte oder Städte generell; denn ich
glaube schon, dass es wichtig ist, dass wir hier intensiver
und öfter über Kommunalpolitik generell und durchaus
auch über die stadtspezifischen Probleme reden. So weit
bin ich absolut d’accord.
({2})
Ich fand es aber schon eine Enttäuschung, dass wir diese
knappe halbe Stunde
({3})
- nein, da muss ich schon in Ihre Richtung zeigen -, die
hier zur Diskussion zur Verfügung steht und eigentlich
zu wenig ist, für Polemik nutzen; denn das ist dem
Thema überhaupt nicht angemessen. Die Städte haben
tatsächlich eine Reihe von Problemen, die nicht mit einer Verschärfung von Graffitigesetzen, Strafgesetzen generell oder dem Thema Antidiskriminierung zu lösen
sind.
({4})
Insofern wünsche ich mir, dass das Thema intensiver
aufgegriffen wird.
({5})
Ich möchte ein paar Punkte ansprechen. Einige sind
von Ihnen aufgegriffen worden, aber leider sehr unsystematisch.
({6})
Der Antrag ist leider sehr inkonsistent, obwohl er auch
Richtiges enthält. Ich glaube schon, dass das Thema Deindustriealisierung und Globalisierung - enorme wirtschaftliche Umbrüche, mit denen die Städte zu tun
haben - ein ganz wichtiger Punkt ist, bei dem wir alle
keine Lösung haben, dem wir uns aber in der Auseinandersetzung stellen müssen.
({7})
- Deswegen sage ich ja, dass einiges Richtige drinsteht.
Sie haben ja auch einiges von unserer Fachkommission
bei der Böll-Stiftung abgeschrieben.
({8})
Insofern kenne ich einige Sätze sogar im O-Ton. Aber
egal.
Wichtige Themen sind: demographischer Wandel, Alterung, Kinderlosigkeit, Singularisierung, das zunehmende soziale Auseinanderdriften unserer Gesellschaft,
Migration und Integration. Über die Herausforderungen,
vor denen die Städte angesichts des multikulturellen und
multiethnischen Zusammenlebens stehen, ist schon im
Rahmen des Zuwanderungsgesetzes intensiv diskutiert
worden.
({9})
Wir haben schon erste Schritte zur Unterstützung eingeleitet. Wir wissen alle, dass die Städte in diesem Bereich
mehr Hilfe brauchen.
Was Sie überhaupt nicht gerne diskutieren, ist das
Thema Suburbanisierung. Die Städte werden dadurch
geschwächt, dass der Einzelhandel in die Außenbereiche
abwandert. In diesem Zusammenhang muss man erwähnen, dass Sie mit großer Lust für das Wohnen an der Peripherie eintreten.
({10})
Die Städte können nicht gestärkt werden, wenn bei stagnierenden Bevölkerungszahlen nur die Umlandgemeinden profitieren. Sie wissen auch, welche großen finanziellen Probleme für die Städte damit verbunden sind.
({11})
Auch mit Blick auf die Ökologie und auf den Flächenverbrauch ist es nicht sinnvoll, diese Entwicklung
weiter zu fördern. Ich nenne in diesem Zusammenhang
die Stichworte Eigenheimzulage und Entfernungspauschale.
({12})
- Ja, auch das gehört dazu.
Ich erwähne weiterhin die Herausforderungen in Bezug auf den Klima- und Umweltschutz und auf die Gesundheit. Damit sind die Stichworte Feinstaub, Lärm,
Motorisierung und Belastung der Städte verbunden. Ich
sage ganz klar: Wer eine kinderfreundliche Stadt will
- dafür engagieren wir uns im hohen Maße; die Kollegin
Elser hat eben ein Beispiel aus unserem Kinderbetreuungs- und Ganztagsschulenkonzept vorgestellt -,
({13})
der muss auch dafür eintreten, dass die Mobilität stadtverträglich wird.
({14})
Dieser großen Herausforderung muss sich Ihre Fraktion
genauso stellen wie wir.
({15})
Weil meine Redezeit begrenzt ist, möchte ich nur
ganz kurz über das sprechen, was getan werden muss.
Die Städte selbst müssen mehr Mut zur Innovation haben
({16})
und die Fähigkeit zur Kommunikation mit der ansässigen Wirtschaft und den Hausbesitzern entwickeln. Ohne
die Mithilfe der Hausbesitzer werden wir keine kinderfreundlichen Wohnungen und kein kinderfreundliches
Wohnumfeld schaffen können.
Aber auch die Länder - ich nenne nur die Stichworte
Raumordnung und Regionalplanung - müssen sich angesichts des demographischen Wandels und der wirtschaftlichen Umbrüche um dieses Thema intensiv kümmern. Die Wirtschaftsförderung darf nicht immer nur die
Regionen an der Peripherie stärken und die Städte außen
vor lassen. Auch auf der Länderebene ist also viel zu tun.
Als letzten Punkt will ich die Finanzfrage erwähnen.
Wir unterstützen nach wie vor eine Gemeindefinanzreform,
({17})
aber in der Form, wie sie von den Kommunen gefordert
wurde, und nicht in der Form, wie Sie das wollen. Sie
bewirken eine Schwächung der Städte, indem Sie die
Gewerbesteuer abschaffen wollen.
({18})
Das kann nicht die richtige Form einer Gemeindefinanzreform sein. Im Gegenteil: Was an Vorschlägen vorliegt
und von uns unterstützt wird, muss vom Bundesrat mitgetragen werden. Das hilft den Kommunen weiter. Dann
können wir die Finanzfragen anders angehen, als Sie das
bisher wollen.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in
Deutschland sichern: Warum sollte uns das überhaupt interessieren, wo doch nur die wenigsten Menschen in
Deutschland in großen Städten leben? Es geht dabei
nicht nur um die Zukunft großer Städte, sondern im
Grunde um Ballungsräume, Regionen oder Metropolen,
in deren Zentren sich große Städte befinden. In Deutschland sind das zum Beispiel die Metropolregion Berlin/
Brandenburg, Frankfurt/Rhein-Main oder die Metropolregion Rhein-Ruhr mit dem Ruhrgebiet. Hier konzentrieren sich Wirtschaft, Verwaltung und Kultur.
In diesen Metropolen wird unter Mithilfe der Informations- und Kommunikationstechnologie die Weltwirtschaft gemacht. Mit anderen Worten: Die Metropolregionen konkurrieren weltweit miteinander um die besten
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Standortbedingungen. Aufgrund dieser Entwicklung gilt es, die Metropolen in Deutschland zu unterstützen. Genau dazu fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag „Die
Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in
Deutschland sichern“ auf.
({0})
Die Herausforderungen, vor die wir in Deutschland
und Europa im Zeitalter der Wissens- und Informationsgesellschaft gestellt sind, lauten daher: Wie schaffen wir
gute Rahmenbedingungen? Welches ManagementKnow-how brauchen wir, das es einer Metropolenregion
ermöglicht, weltweit gut aufgestellt zu sein, um damit
seinen Bürgern und den ansässigen Unternehmen die
besten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen bieten zu können?
({1})
Am Beispiel der modernen Informationstechnologie
wird deutlich, wie wichtig die Metropolen für die Ansiedlung von Unternehmen geworden sind. Dazu hat
eine Ökonomengruppe des Kieler Instituts für Weltwirtschaft analysiert, wo in Deutschland junge börsennotierte Technologieunternehmen ihren Sitz haben bzw.
ihren Sitz nehmen. Das Ergebnis ist eindeutig: Junge, innovative Technologiefirmen konzentrieren sich deutlich
stärker auf einzelne Standorte als Unternehmen aus traditionellen Branchen. Rund die Hälfte der betrachteten
Unternehmen hat ihren Sitz in München, Berlin, Hamburg oder im Rhein-Main-Gebiet.
Der mit Abstand wichtigste Standort ist dabei München. Dort sind fast so viele junge börsennotierte Technologiefirmen zu Hause wie in den drei anderen Metropolregionen zusammen. Das bedeutet: Hightechfirmen
sind räumlich stark konzentriert. Hauptgrund dafür ist:
Je mehr Unternehmen aus dem Bereich der modernen
Informationstechnologie in einer Stadt angesiedelt sind,
desto attraktiver wird diese für andere Firmen aus dieser
Branche. Denn die Unternehmen sind auf einen informellen Know-how-Transfer angewiesen. Zudem benötigen gerade Technologiefirmen einen großen und gut
funktionierenden Arbeitsmarkt ebenso wie eine breite
Infrastruktur an unternehmensnahen Dienstleistern. Außerdem spiele die Nähe zu Kunden und Kapitalgebern
bei Firmen aus dem Bereich der modernen Informationstechnologie eine wichtige Rolle.
Die Internetrevolution bzw. der Wandel zur Informationsgesellschaft ist folglich nicht spurlos an den Städten
vorbeigegangen - auch nicht am Immobilienmarkt.
Denn wissensintensive Tätigkeiten drängen stärker ins
Zentrum, während die einfache Arbeit an die Peripherie
verlagert wird. Hieraus resultiert zum Beispiel eine Zunahme der Nachfrage nach qualitativ hochwertigem
Wohnraum in den Großstädten. Allein dieses Beispiel
zeigt bereits, wie wichtig ein gut funktionierendes Management für eine Metropolenregion ist und in Zukunft
sein wird.
Meine Damen und Herren, um die Zukunfts- und
Wettbewerbsfähigkeit von Großstädten und Metropolen
im globalen Wettbewerb zu erhalten, ist es daher unerlässlich, erstens zu entbürokratisieren, um Genehmigungsverfahren zu beschleunigen,
({2})
zweitens für familiengerechte Wohn- und Arbeitsplätze
sowie kinder- und familienfreundliche Strukturen zu sorgen
({3})
und drittens die Kommunen finanziell und organisatorisch - Stichwort Gemeindefinanzreform - in die Lage
zu versetzen, über ihre eigene Grundversorgung selbst
zu entscheiden. Das heißt, selbst zu entscheiden, ob sie
Leistungen in kommunaler Eigenverantwortung anbieten möchten oder ob sie zusammen mit privaten Anbietern eine öffentlich-private Partnerschaft eingehen wollen.
({4})
Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung
unter anderem auf, erstens entsprechende Managementkonzepte zu unterstützen, zweitens Investitionsentscheidungen im weltweiten Wettbewerb der Metropolen um
Arbeitsplätze zu fördern,
({5})
drittens die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Kommunen
zu ermöglichen und viertens den Bundestag jährlich über
die Entwicklung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte zu informieren.
Unterstützen Sie daher diesen Antrag, um die Zukunftsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in Deutschland zu sichern!
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5332 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Reinhold Robbe, Gerd Andres,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Michaele Hustedt, Albert Schmidt
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Maritimen Standort Deutschland stärken Innovationskraft nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({2}), Dirk Fischer ({3}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
„Meer für morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({4}), Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutschland stärken
- Drucksachen 15/4862, 15/5099, 15/4847,
15/5417 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Beckmeyer
Wolfgang Börnsen ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Annette Faße von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seeschifffahrt und Globalisierung, das sind zwei Begriffe, die unzertrennlich zusammengehören. Denn sprechen wir über Seeschifffahrt, dann sprechen wir immer
auch über Globalisierung. Global denken ist nicht neu
für die Seeschifffahrt. Globaler Wettbewerb, globales
Denken, das sind Themen, an die sich so mancher Wirtschaftszweig in Deutschland erst gewöhnen muss. Die
Seeschifffahrt dagegen kennt die Herausforderungen
und den harten Wettbewerb.
Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dieser
Wettbewerb gerecht geführt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass internationale Wettbewerbsverzerrungen, aber
auch Harmonierungsdefizite auf europäischer Ebene abgebaut werden. Das gilt für die Seeschifffahrt ebenso
wie für die deutsche Werftindustrie, für die Meerestechnik und für die Seehafenwirtschaft. Deshalb setzen wir
uns mit allen Mitteln dafür ein, den maritimen Standort
Deutschland zu sichern und zu stärken, um für die kommenden Herausforderungen gut gewappnet zu sein.
({0})
272 Millionen Tonnen haben die deutschen Seehäfen
2004 umgeschlagen - eine Rekordzahl. Das ist ein Umschlagsplus von 8 Prozent. Rund 300 000 Arbeitsplätze
hängen direkt oder indirekt an der deutschen Seeschifffahrt. Damit sind die deutschen Häfen Verkehrsdrehscheibe und Jobmaschine zugleich.
Auf der 4. Nationalen Maritimen Konferenz in Bremen Ende Januar haben die Teilnehmer eine umfassende
Bestandsaufnahme in vier Workshops vorgenommen.
Sie haben konkrete Handlungsempfehlungen für alle Beteiligten des maritimen Bündnisses erarbeitet. Das Ziel
ist klar benannt worden: Es geht um die weitere Stärkung des maritimen Standortes Deutschland; es geht
darum, einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der
Wettbewerbsfähigkeit unserer gesamten Wirtschaft zu
leisten.
Hafenpolitik und die maritime Wirtschaft sind keine
regionalen, norddeutschen Themen. Die Häfen sind im
interkontinentalen Warenaustausch die Schnittstellen
zwischen Land- und Seeverkehr. 90 Prozent der Waren,
die wir exportieren, gehen über unsere Häfen. Viele Unternehmen in Bayern und Baden-Württemberg profitieren davon. Das sollten alle Mitglieder dieses Hauses
nicht vergessen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wasserweg
wird in Zukunft eine wichtigere Rolle einzunehmen haben. Den maritimen Standort zu stärken bedeutet SicheAnnette Faße
rung von Wertschöpfung, Beschäftigung und Ausbildung.
In diesem Zusammenhang müssen wir allerdings feststellen, dass die gestiegenen Ausbildungszahlen immer
noch nicht ausreichen. In der aktuellen Ausgabe der
„DVZ“ war zu lesen, dass die deutschen Reeder wieder
mehr Ausbildungsplätze anbieten. Sie werben auch
pressewirksam für die Berufssparte. Jahrelang hatten wir
Defizite in der Ausbildung zu verzeichnen. Das hat eindeutig zu einem Mangel an Leitungskräften, aber auch
an Schiffsmechanikern geführt. Auch der Anstieg von
über 41 Prozent im Vergleich zu 2003 reicht noch nicht
aus, um den künftigen Bedarf der Seeschifffahrt, aber
auch der Landbetriebe decken zu können.
Um Anreize zur Steigerung der Ausbildungsbereitschaft in den Reedereien zu schaffen, fördert der Bund
seit Jahren jeden Ausbildungsplatz. Auch die Reeder haben Geld in die Hand genommen, weil sie erkannt haben, dass wir die Ausbildung unbedingt verstärken müssen. Verdi stimmte einer so genannten konditionierten
Öffnungsklausel zur Schiffsbesetzung mit ausländischen
Seeleuten als Übergangsregelung zu. Es ist ganz klar
mehr Einsatz gefragt. Es muss mehr ausgebildet werden,
damit der Nachwuchs gesichert wird. Auch die Schulen
sind hier gefordert.
({2})
Im Bereich Schifffahrt haben die Tonnagesteuer, der
Lohnsteuereinbehalt, die Ausbildungsplatzförderung, die
neue Schiffsbesetzungsverordnung und die Schiffsicherheitsanpassung für den Schifffahrtsstandort Deutschland positive Wirkungen gezeigt. Bei Rückflaggung von
netto mindestens 100 Schiffen bis Ende 2005 müssen die
Finanzhilfen des Bundes fortgeschrieben werden. Das
fordern wir in unserem Antrag. Auch erwarten wir, dass
die Reeder bis Jahresende ihr Versprechen einlösen, sodass dann insgesamt 400 Handelsschiffe unter deutscher
Flagge sein werden. Zum jetzigen Zeitpunkt beläuft sich
der Bestand auf rund 380 Schiffe.
Bei den Seehäfen konnten insbesondere im Containerbereich deutliche Marktanteile hinzugewonnen werden. Wichtig ist für uns der gezielte und koordinierte
Ausbau der land- und seeseitigen Zufahrt zu unseren
Seehäfen.
Ich appelliere noch einmal an Sie alle, Fragen der
Deichsicherheit und des Schutzes der Küste nicht hintanzustellen. Wir wissen, dass von der Planungsvereinfachung insbesondere die Hinterlandanbindungen und damit die deutschen Seehäfen profitieren werden. Auch
wissen wir, dass von den für dieses Jahr zusätzlich bereitgestellten Mitteln in Höhe von 2 Milliarden Euro bereits 500 Millionen Euro auf dem Konto der VIFG sind.
Auch davon werden unsere Seehäfen profitieren.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zwar stimmen wir in vielen Punkten, die Annette Faße
vorgetragen hat, überein, aber als Opposition sehen wir
das ein wenig anders und setzen andere Schwerpunkte;
({0})
dafür müssen Sie Verständnis haben.
Mit unserem Antrag „Meer für morgen“ - Impulse für
die maritime Verbundwirtschaft“ wollen wir das Augenmerk aller politisch Verantwortlichen - aller Handelnden, aber auch der Bundesregierung - auf das Können,
die Kraft und die Kompetenz dieses bedeutenden Wirtschaftsbereichs lenken. Ob in den Häfen, dem Schiffbau,
der Schifffahrt oder der Aquakultur, überall stecken
hoffnungsvolle Perspektiven für die Zukunft.
({1})
Das setzt jedoch voraus, dass die maritime Verbundwirtschaft konzeptionell, umfassend und nachhaltig betrieben wird. Sie muss aus ihrer sektoralen Betrachtung
und Bedeutung herausgeführt werden und darf nicht auf
drei Ministerien verteilt sein. Sie muss langfristig, vernetzt, europäisch und noch internationaler angelegt werden, als es bisher geschehen ist. Maritime Konferenzen
allein bringen noch keinen Frühling in der Meerespolitik. Aber sie schaffen dem Kanzler - ganz in Wallenstein-Manier - eine passende Plattform. So heißt es bei
Friedrich Schiller: „Ich hab hier bloß ein Amt und keine
Meinung.“
({2})
Konferenzen sind Schlaglichter einer durchaus bemühten Branchenpolitik. Fast 5 Millionen Menschen in
Deutschland sind ohne Arbeit. Pro Jahr kommt es zu fast
40 000 Betriebsinsolvenzen. Die Staatsverschuldung hat
einen Umfang von über 1,4 Billionen Euro. Seit Anfang
dieses Jahrhunderts haben wir eine Wirtschaftskrise, wie
wir sie in dieser Form in den letzten 60 Jahren nicht
mehr hatten. Das sind klare Versäumnisse der amtierenden Regierung. Zugleich ergibt sich daraus für alle politisch Verantwortlichen aber auch die Herausforderung,
diesen Abwärtstrend zu stoppen und für einen Aufschwung zu sorgen. Arbeit zu schaffen muss unsere zentrale Aufgabe sein.
({3})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt dafür ein
20-Punkte-Konzept vor. Darin beschreiben wir nicht nur
die Chancen, die in der maritimen Verbundwirtschaft
Wolfgang Börnsen ({4})
stecken. Vielmehr schaffen wir die Voraussetzungen für
konkretes Handeln.
Unser Antrag unterscheidet sich von dem der Regierungskoalition, obwohl beide Anträge in manchen Sachgebieten durchaus deckungsgleich sind, darin: Während
SPD und Grüne von Wünschen und Erwartungen an die
maritime Politik ausgehen, sagen wir, was erforderlich,
notwendig und entscheidungsreif ist.
({5})
Allein das Wort „prüfen“ kommt im Antrag von RotGrün fünfmal vor; denn Handeln funktioniert bei Ihnen
nicht.
({6})
Zugegeben, als Opposition haben wir es auch leichter,
Klartext zu sprechen. Doch wir entziehen uns mit unseren 20 Festlegungen nicht der gemeinsamen Verantwortung. Wir wollen, dass die maritime Verbundwirtschaft
einen Schub für die Zukunft erhält. Wir wollen, dass die
gesamte Palette der maritimen Verbundwirtschaft in
Meeren, Ozeanen und Küsten entwickelt wird, das heißt
der Seeverkehr, die Fischerei, Aquakulturen, die Öl- und
Gasförderung, Wind- und Gezeitenkraftwerke, der
Schiffbau, der Tourismus und die Meeresforschung. Wir
wollen, dass Küstenschutz, Gefahrenabwehr auf See,
aber auch der Schutz des maritimen Ökosystems und die
Fischereiressourcen eine europäische Dimension erhalten. Wir wollen eine abgestimmte, langfristige Steuerpolitik für die Kernbereiche der maritimen Verbundwirtschaft und eine Entrümpelung der vielen Vorschriften,
Richtlinien und Auflagen. Lassen Sie uns mit einer maritimen Taskforce beginnen, die die Kräfte bündelt, Vernetzung schafft und Reglementierung abbaut! Auch die
EU plant eine solche Eingreiftruppe.
Doch neben den Strukturfragen sind auch Untiefen zu
umschiffen. Untiefe Nummer eins: Wettbewerbsnachteile. Einen Leuchtturm in der maritimen Wirtschaft stellen - noch - unsere Häfen, die Beschäftigungszentren
von über 300 000 Menschen, dar: steigende Zahlen im
Güterumschlag seit über zehn Jahren, das Resultat zuverlässiger und kompetenter Mitarbeiter und eines qualifizierten Managements. Das Wasser aber, auf dem die
Seehafenpolitik treibt,
({7})
ist flach und voller Untiefen. Von den Ostseehäfen berichten nur Lübeck, Sassnitz und Rostock von Wachstum. Die Krise unserer Wirtschaft hat die anderen Häfen
voll erfasst. Nur der Nordseehafen Hamburg befindet
sich unter den sechs größten Häfen Europas. Allein Rotterdam schlägt jährlich 70 Millionen Tonnen mehr um
als alle deutschen Häfen zusammen.
Der Kostendruck wächst, weil der faire Wettbewerb
innerhalb Europas fehlt. Das gilt für die Trassenentgelte,
für die Auswirkungen der Maut und für die Mineralölsteuer. Die Bundesregierung - das ist unsere Auffassung - nutzt nicht die vorhandenen Harmonisierungspläne, sie nutzt nicht die Möglichkeit, hier einzugreifen.
Für Herrn Stolpe besteht Handlungsbedarf: Dieser Stolperstein muss weg.
({8})
Die Zögerlichkeit des Bundesverkehrsministers zeigt
sich auch beim Ausbau des Hinterlandverkehrs. 15 notwendige Ausbaumaßnahmen warten auf ihre Finanzierung. Die Seehafenwirtschaft geht von 900 Millionen
Euro Kosten aus.
({9})
Wir gehen davon aus, dass alle Häfen-, Hinterland- und
Ausbaggerungsprojekte in das angekündigte 2-Milliarden-Sonderprogramm übernommen werden. Doch dafür
muss die Bundesregierung ihre Pläne auf den Tisch legen.
Untiefe Nummer zwei: die Selbstblockade. Noch immer uneinig ist die Bundesregierung über den Ausbau
der deutschen Nordseehäfen, um der neuen Containergeneration gerecht zu werden. Während der Verkehrsminister für Hamburg plädiert, setzt der Umweltminister
auf Wilhelmshaven, den Jade-Weser-Port. Während
Stolpe den notwendigen Ausbau von Außenelbe und Außenweser erwartet, verlangt Trittin ein Gutachten über
die Naturverträglichkeit, will mehr FFH und ein nationales Hafenkonzept. Er bremst, er blockiert, er spielt auf
Zeit und die Zeit läuft uns davon. Andere europäische
Großhäfen laufen Hamburg, Bremen und Wilhelmshaven den Rang ab. Absichtserklärungen des Kabinetts
helfen nicht weiter, sondern klare Entscheidungen; auch
dieser Stolperstein muss weg.
({10})
Untiefe Nummer drei ist die Lange-Bank-Politik.
Hier komme ich zunächst zum Teil eins: Von nationaler,
aber auch von weltweiter Bedeutung ist der notwendige
Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals, mit über
54 000 Schiffen pro Jahr die meistbefahrene Wasserstraße der Welt. Aber auch die Schiffsgrößen nehmen zu,
Teile des Kielkanals werden zum Nadelöhr. Für die neue
Generation der Post-Panamax-Containerschiffe wird es
eng. Der zuständige Staatssekretär aus dem Bundesverkehrsministerium, der leider jetzt nicht mehr dabei ist,
hat sich im Januar dazu vor Ort geäußert. Der „shz“-Verlag zitierte den von mir geschätzten Ralf Nagel wörtlich:
Diese Bundesregierung sitzt mit dem Gesicht zur
Küste, nicht zuletzt deshalb, weil der Bundeskanzler aus Niedersachsen kommt.
Einen konkreteren Zeitplan für den Ausbau dieser Wasserstraße könne er nicht nennen, weil es für diese komplizierte Sache keine gesetzliche Grundlage gebe.
Mögliche Maßnahmen müssten zuvor sehr genau ausgearbeitet werden.
Abgesehen davon, dass die Bayern, Anhaltiner und
Baden-Württemberger nur mit der Rückseite des Kanzlers vorlieb nehmen müssen, da er ja ständig die Küste
im Auge behält, ist die Feststellung des Staatssekretärs
zugespitzt eine Bankrotterklärung an eine zukunftsgeWolfgang Börnsen ({11})
wandte maritime Politik: kein Gesetz, kein Ausbau,
keine Finanzierungsvorschläge. Die Folge: Die Schiffe
werden die Route über den Skagerrak nehmen, weil der
NO-Kanal im Wettbewerb der Wasserstraßen ins Hintertreffen gerät. Dazu darf es nicht kommen. Der Kiel-Kanal braucht eine Perspektive.
({12})
Untiefe Nummer vier: die Lange-Bank-Politik Teil 2.
Offen, ungeklärt und doch seit Jahren mit Absichtsbekundungen garniert, dümpelt ein weiteres maritimes
Projekt der Bundesregierung im Brackwasser: die feste
Fehmarnbeltquerung. Sie wurde 1991 in einem Vertrag zwischen Dänemark und Schweden angestoßen und
Ende der 90er-Jahre durch eine Machbarkeitsstudie präsentiert. Doch erst im Frühjahr 2000 begann das Interessenbekundungsverfahren. Kopenhagen drängt, Berlin
schiebt auf die lange Bank. Obwohl die Beltquerung seit
Jahren Bestandteil des transeuropäischen Verkehrsnetzes
ist und Brüssel dem Projekt strategische Bedeutung beimisst, tritt das Vorhaben weiter auf der Stelle; denn es
hat nicht den Segen der Bündnisgrünen; die mauern wieder mal. Die Bundesregierung ist auch hier zerstritten.
Seit Jahren kommt man nicht zu Potte, verärgert unsere
dänischen Nachbarn und schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland, der auf gute Verkehrswege angewiesen
ist.
({13})
Untiefe Nummer fünf: die Lange-Bank-Politik Teil 3.
Mehr Courage wünschen wir uns auch vonseiten des
Wirtschaftsministers in Sachen Erdöl- und Erdgasförderung im deutschen Teil der Nordsee. Die größte Energiequelle unseres Landes ist in Gefahr, trockengelegt zu
werden, weil Umweltminister Trittin gerade hier Naturschutzbelangen eine Zukunft geben will. England, Dänemark und die Niederlande fördern im gleichen Territorium, doch die Bundesregierung hat Teile ihres Gebietes
als Schutzfläche nach Brüssel gemeldet.
({14})
Dort schmort die Sache. 5 Millionen Arbeitslose und
hohe Energiekosten scheinen noch nicht Mahnung genug für wirtschaftliches Handeln oder, um mit Schiller
zu sprechen: Ein Augenblick gelebt im Paradiese wird
nicht zu teuer mit dem Tod gesühnt.
({15})
Die deutschen Werften sind Flaggschiffe der maritimen Wirtschaft. Bedingt durch Tüchtigkeit, Technik und
Tatkraft aller Beteiligten stehen deren Schiffe trotz hoher
Kosten hoch im Kurs. Deutsche Reeder haben von
500 Aufträgen, die sie in diesem Jahr weltweit geordert
haben, 80 in Deutschland geordert.
({16})
Die Umstellung von Wettbewerbshilfe auf Innovationsmittel halten wir für richtig. Dabei machen wir mit.
Das ist eine europäische Lösung bei all den Auflagen,
die wir inzwischen für die Schiffbaufinanzierung haben,
und ein vertretbarer Teil. Wir sehen nur Probleme darin,
({17})
dass man 6 Millionen Euro ausgewiesen hat, einschließlich der IG Metall aber der Auffassung ist, dass man
60 Millionen Euro für die Innovationsförderung benötigt.
Bei uns in Schleswig-Holstein,
({18})
auf der schönen Halbinsel Eiderstedt, steht eine alte Tafel mit der Aufschrift: Gott schuf das Meer, der Friese
die Küste. Welch ein Gottvertrauen, aber auch welch ein
Glaube an die Gestaltungsfähigkeit, den Mut, die Tatkraft und die Tüchtigkeit von uns Menschen stecken dahinter!
An die hier beschriebene Zuversicht sollte die maritime Politik anknüpfen. Sie sollte das Meer noch mehr
für die Menschen nutzen, ohne es zu missbrauchen,
({19})
und sie muss richtige Rahmenbedingungen dafür setzen.
Unser Antrag geht dafür in die richtige Richtung.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Wolfgang Börnsen, wer versucht hat, durch die
Irrungen und Wirrungen dieser Rede hindurch zu finden,
({0})
der muss doch feststellen: Der Küste, dem maritimen
Standort Deutschland, geht es ausgezeichnet. Die maritime Wirtschaft in Deutschland ist ein erfolgreicher,
hightechorientierter Wirtschaftszweig, ein Wirtschaftszweig mit hoher Innovationskraft, ein Wirtschaftszweig,
der die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Volkswirtschaft insgesamt stärkt und ein wesentlicher Faktor
für Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen ist.
Trotz aller Versuche, etwas Negatives herauszufinden, muss man, lieber Wolfgang Börnsen, doch sagen:
An der Küste - sei es im Bereich Windenergie, sei es in
den Häfen, sei es in den Werften - brummt es,
({1})
im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen unserer Wirtschaft. Es ist doch absurd, zu sagen, diese Bundesregierung habe gerade im maritimen Bereich versagt. Ganz
im Gegenteil: Hier haben wir einen Wirtschaftsbereich,
auf den wir stolz sein können, über den wir alle positiv
reden könnten.
({2})
Ein unverzichtbarer Bestandteil der maritimen Wirtschaft - das ist überhaupt keine Frage - sind die deutschen Seehäfen. Sie dienen als Drehscheibe des nationalen, insbesondere des internationalen Güterverkehrs.
Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und weiter
auszubauen, haben wir den gezielten und koordinierten
Ausbau der land- und seeseitigen Zufahrten zu diesen
Seehäfen durchzuführen. Das haben wir zu einem zentralen Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans gemacht. Nicht Ihre Regierung, unsere Vorgängerregierung, sondern diese rot-grüne Regierung hat dies zum
zentralen Bestandteil ihrer Politik gemacht.
({3})
Die Seehäfen - darin sind wir uns alle einig - mit ihren unterschiedlichen Profilen müssen kooperieren; das
ist überhaupt keine Frage. Dies ist auch im Rahmen der
„Gemeinsamen Plattform des Bundes und der Küstenländer zur deutschen Seehafenpolitik“ festgehalten worden. Wir setzen uns dafür ein, dass dies umgesetzt wird.
Ein anderer wichtiger Bereich sind die Werften. Der
Welthandel boomt und die Globalisierung im Bereich
des Warenaustausches findet im Wesentlichen auf den
Meeren statt. Die Nachfrage nach Schiffen ist exorbitant
hoch. Lieber Wolfgang Börnsen, als Schleswig-Holsteiner müsstest du wissen, dass die deutschen Werften
- Lindenau in Kiel oder HDW mit dem Marineschiffbau - durch die hohe Kompetenz, die in ihnen steckt, in
Europa führend sind. Im Spezialschiffbau sind wir sogar
weltweit führend. Das ist keine Branche, die niedrig gehängt werden müsste.
({4})
- Ja. Im Spezialschiffbau haben wir aber viele Arbeitsplätze, die sicher, zukunftsorientiert und hightech sind.
Auf diese Arbeitsplätze sind wir durchaus stolz. Wir
wollen sie erhalten und ausbauen.
({5})
Ein weiterer Bereich, der von uns massiv unterstützt
worden ist, in dem auch und gerade an der Küste sehr
viele Arbeitsplätze geschaffen worden sind, ist die
Windenergie. Deutschland ist dank der Politik dieser
rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden
Koalition in diesem Bereich weltweit führend. „Erneuerbare Energien - made in Germany“ ist ein weltweit anerkanntes Siegel. Deutschland ist nicht umsonst der mit
Abstand größte Markt und Anbieter für die Nutzung der
Windenergie. Die Bundesregierung hat mit ihrer Strategie zur Förderung der Windenergienutzung neue Maßstäbe in Sachen umweltfreundlicher Stromerzeugung gesetzt.
({6})
Wir werden diese Strategie weiter fortführen. Offshoreenergie hat ein enormes Potenzial.
({7})
Das, was wir auf der See an Megawatt installieren können, hat ein Investitionsvolumen von 45 Milliarden
Euro.
({8})
- Das rechnet sich mittlerweile von selbst. Die Investitionen, die Sie in die Atomkraft gesteckt haben und noch
stecken können, sind ein Klacks gegen das, was hier an
Anschubfinanzierung geleistet wurde. Sie wissen doch
ganz genau, wie die Finanzierung von Windenergie geregelt ist. Die Windenergie ist im Gegensatz zu anderen
Energien, die Sie massiv unterstützt haben, volkswirtschaftlich ausgesprochen sinnvoll.
({9})
- Aufgrund von Zwischenrufen werden wir unsere Politik mit Sicherheit nicht ändern. Mit den Rahmenbedingungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wurde der
Einstieg in diese innovative Technologie geschaffen.
Alle Länder Europas sind dabei, ihren Anteil an regenerativen Energien auszubauen. Der Bau von Windkraftanlagen auf hoher See ist die konsequente Fortsetzung einer nachhaltigen Energiepolitik, die an der deutschen
Küste sehr viele Arbeitsplätze schaffen wird.
Wenn Sie die vorliegenden Anträge vergleichen, dann
werden Sie feststellen, dass der Antrag von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen die richtigen Fragestellungen
aufgreift und Lösungsvorschläge anbietet, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Küste zu erhalten bzw. auszubauen. Gleiches gilt für die Zahl der Arbeitsplätze. Das
ist in unserem Antrag beispielhaft dargestellt. Ich bitte
Sie alle, diesem Antrag zuzustimmen. Damit hat die
Küste eine Zukunft.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eberhard Otto von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Mensch von der Küste aus Mecklenburg-Vorpommern
und ehemaliger Seemann - ich bin mehrere Jahre als
Boots- und Steuermann zur See gefahren ({0})
ist mir dieses Thema natürlich besonders wichtig.
({1})
Die Schifffahrt und die Häfen sind für uns Nordländer
von elementarer Bedeutung. Sie sind die Lebensader und
die wirtschaftliche Zukunft unserer Region. Beispielsweise wäre ein Mecklenburg-Vorpommern ohne maritime Entwicklung und ohne die Entwicklung der Werften unvorstellbar; das würde eine große wirtschaftliche
Schwächung bedeuten. Ohne einen leistungsfähigen und
kostengünstigen Seeverkehr gibt es keine wirtschaftliche
Entwicklung und keine Sicherheit der Handelsverbindungen. 95 Prozent des interkontinentalen Handels und
62 Prozent des innereuropäischen Handels werden über
die See abgewickelt. Ein freier und ungestörter Seeverkehr ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich
die deutsche Wirtschaft weiterentwickeln kann.
({2})
Jeder, der schon einmal im Norden war, weiß, wie
schön unsere Region ist. Städte wie Rostock, Wismar
und Lübeck sowie endlose Strände sind einzigartig. Die
Küstenländer haben ein besonderes Flair. Sie haben
große Chancen, aber sie sind auch besonders bedroht.
Schutz tut Not. Ohne Not wurde das öffentliche Seeamtsverfahren abgeschafft, und zwar gegen alle Widerstände von unseren Küsten. Noch heute leiden wir unter
dieser falschen Entscheidung.
({3})
So haben wir bei der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs auf See ein echtes Problem, da der Sofortvollzug des Patententzuges abgeschafft wurde. Wir fordern
die Bundesregierung deshalb auf, die Verhandlungen mit
der Russischen Föderation über mehr Seeverkehrssicherheit in der Ostsee zu intensivieren.
({4})
Die deutschen Reeder gehören zu den weltweit erfolgreichsten. Sie besitzen circa ein Drittel der weltweiten Containerkapazität. Die 1998 von der FDP durchgesetzte Tonnagesteuer
({5})
wurde von der Bundesregierung weitergeführt. Auch bezüglich der Lohnnebenkosten und der Ausbildungsförderung hat es gute Regelungen gegeben. Durch diese
Maßnahmen wird die deutsche Flagge gestärkt. Es erfolgte bereits - das wurde vorhin schon gesagt - eine
Rückflaggung von 100 Schiffen. Ich hoffe und gehe davon aus, dass weitere noch in diesem Jahr hinzukommen
werden.
({6})
Ich möchte noch zur Problematik der Notfallschlepperausschreibung kommen. Es muss kritisch hinterfragt werden, warum der Steuerzahler für den Schutz
von Havaristen in Nord- und Ostsee in Zukunft mehr als
das Doppelte bezahlen soll. Dies ist nur zu rechtfertigen,
wenn mit den neuen Schleppern auch ein deutliches Plus
an Sicherheit verbunden ist. Aber genau das ist nicht der
Fall. Die Leistungsfähigkeit der neuen Schlepper würde
kaum über der der alten liegen. Das rechtfertigt nicht
eine Ausgabensteigerung von mehr als 120 Prozent.
Herr Kollege Otto, kommen Sie bitte zum Schluss.
Letzter Satz: In diesem Zusammenhang möchte ich
abschließend noch werten, dass durch eine erhöhte Präsenz von Einsatzkräften im Bereich der so genannten
Kadetrinne in der Ostsee die Häufigkeit von Unfällen,
auch von Beinaheunfällen, bis zum heutigen Tage deutlich zurückgegangen ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Uwe Beckmeyer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
Ich wollte den beiden Kollegen von der Opposition ein
Werk zeigen, von dem ich meine, dass sie es vorher hätten lesen sollen, und zwar die Dokumentation der Vierten Maritimen Nationalen Konferenz aus Bremen. Man
hat aber an ihren Reden gemerkt, dass sie nicht ein einziges Mal hineingeschaut haben,
({1})
um nachzulesen, was dort von der gesamten Küste inklusive aller Länder und der dort ansässigen Wirtschaft gefordert worden ist.
({2})
Insofern darf ich einfach einmal ein Zitat aus dem Verkehrsausschuss, dem Fachausschuss, dem werten Publikum vorlesen. Da heißt es, man lehne die Anträge der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP aufgrund von
Qualitätsmängeln ab.
({3})
In diesen Anträgen würden Vorschläge unterbreitet, die
bereits in Angriff genommen oder bereits abgearbeitet
worden seien bzw. es seien Vorschläge, die in die falsche
Richtung gingen. Ich denke, dieser fachlichen Wertung
ist nichts entgegenzusetzen.
({4})
Sie schildert genau das, was wir hier eben gehört haben.
Ich möchte etwas in Erinnerung rufen - eigentlich ist
es nicht meine Art zurückzublicken, Herr Börnsen, aber
Sie sind schon etwas länger in diesem Parlament als
ich -: 1996 haben Sie Ihre Regierung in einer Großen
Anfrage gefragt, wie sie es mit der maritimen Wirtschaft
hält. Was hat diese Regierung damals geantwortet? Ein
umfassendes maritimes Konzept, so lautete seinerzeit
die Devise der Kohl-Regierung, sei wegen der Heterogenität der maritimen Wirtschaft nicht möglich.
({5})
Das Argument: Wesentliche Bestimmungsfaktoren der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit entzögen sich dem
staatlichen Einfluss. Stattdessen verfolgte die damalige
Bundesregierung nach eigener Aussage im Wesentlichen
eine sektorübergreifende Strukturpolitik, die die Wettbewerbsfähigkeit der Gesamtwirtschaft stärkt.
({6})
Was war die Folge? Den Werften ging es schlecht, der
Schifffahrt ging es schlecht und bei den Häfen hatten wir
Mühe, dagegenzuhalten.
({7})
Was ist seitdem passiert?
({8})
Seitdem Rot-Grün regiert, haben wir jetzt zum vierten
Mal eine nationale Konferenz, initiiert durch den Bundeskanzler.
({9})
Wir haben einen maritimen Koordinator des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit. Wir haben 15 prioritäre Projekte bei den Hafenzufahrten im neuen Bundesverkehrswegeplan verankert und wir haben ein
Maßnahmenpaket zur Stärkung der maritimen
Standorte vorgelegt. Ich denke, mehr als das, was hier
jetzt auch mit der Wirtschaft verabredet worden ist, kann
man gar nicht für die maritime Wirtschaft tun.
Die Erfolge liegen auf der Hand. Die Kollegin Faße
hat gesagt, 272 Millionen Tonnen seien 2004 in den
deutschen Seehäfen umgeschlagen worden. Das ist ein
Rekordergebnis.
({10})
Das haben wir in der Geschichte Deutschlands nie gehabt.
({11})
Deutsche Reeder disponieren von deutschen Standorten
2 580 Handelsschiffe mit rund 41 Millionen Bruttoregistertonnen modernster Tonnage. Das hat es niemals in
Deutschland gegeben. Das ist ein Erfolg von Rot-Grün,
der in der maritimen Konferenz erarbeitet wurde. Die
Werften, also die deutschen Schiffbauer, haben 2004
zum ersten Mal ein geschätztes Auftragsvolumen von
3,4 Milliarden Euro gehabt.
({12})
Das ist ein Erfolg, der für die Branche Gold wert ist,
weil er Stabilität in die Aufträge bringt. Herr Börnsen,
Herr Otto, das sind Trümpfe, an denen Sie nicht vorbeireden können.
Ihr Antrag mit dem Titel „Meer für morgen“ ist ein
Meer von Tränen, weil Sie im Grunde nichts anderes
kennen als Schlechtreden, Schlechtreden, Schlechtreden.
Das lassen wir hier nicht durchgehen.
({13})
Die Beispiele in der zusammen mit der deutschen maritimen Wirtschaft erarbeiteten Dokumentation zeigen,
({14})
dass Sie mit allem, was Sie hier aufführen, völlig hinter
dem Mond sind.
({15})
Ich möchte noch etwas zu drei aktuellen Punkten sagen, die neben den bereits angesprochenen Bereichen
wichtig sind: Infrastrukturpolitik, Ordnungspolitik sowie
Förderung innovativer technischer Entwicklung.
In der Infrastrukturpolitik haben wir es geschafft,
die Weichen neu zu stellen.
({16})
Ich nenne als Beispiele die Maßnahmen Rostock-Berlin
und Hamburg-Lübeck
({17})
sowie die Hinterlandanbindungen und die seewärtigen
Zufahrten.
({18})
Wir sind in diesen Bereichen im Konsens mit der maritimen Wirtschaft einen Riesenschritt vorangekommen.
Das lasse ich mir auch von Ihnen nicht klein reden.
({19})
In der Ordnungspolitik haben wir bei der Schifffahrt
mit der Tonnagesteuer - Frau Faße hat es erwähnt -,
({20})
mit dem Lohnsteuereinbehalt, mit der Ausbildungsplatzförderung, mit der Schiffsbesetzungsverordnung und mit
der Schiffssicherheitsanpassung eine komplett neue
Struktur erarbeitet. Die Kohl-Regierung hat während ihrer 16-jährigen Amtszeit nicht einmal daran gedacht,
dass so etwas zustande kommen könnte.
({21})
Ich komme zum Bereich Häfen, zu dem schon einiges
gesagt wurde.
({22})
Hier wollen wir vor allen Dingen die Konkurrenzfähigkeit unserer deutschen Seehäfen erreichen, indem wir
Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Markt beseitigen. Wir haben dazu passende Vorschläge gemacht.
({23})
Wir haben im Bereich Werften die Exzellenzstrategie
mit der entsprechenden Branche erarbeitet. Wir werden
uns auf die Fortsetzung der strategischen Allianz für die
Meerestechnik und auf die weitere Unterstützung des
Short Sea Promotion Centers konzentrieren.
Der Kollege Steenblock hat bereits auf unser Engagement im Bereich der Windenergie hingewiesen. Ich will
dazu nichts weiter ausführen, weil er es ausreichend erklärt hat.
Herr Kollege Beckmeyer, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ich glaube, am Ende des Tages kann man sagen, dass
wir einige Zeit gebraucht haben, um die Fehler der KohlRegierung zu korrigieren und den Standortinteressen gerade der maritimen Wirtschaft im Norden unserer Republik, die keine Regionalfrage darstellen, sondern für die
gesamte Ökonomie unseres Staates von höchster Wichtigkeit sind, wieder die Bedeutung beizumessen, die sie
verdienen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/5417. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4862 mit dem Titel „Maritimen
Standort Deutschland stärken - Innovationskraft nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/5099 mit dem Titel „Meer für morgen - Impulse für
die maritime Verbundwirtschaft“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4847 mit dem
Titel „Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutschland
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU- und der FDP-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Hans-Joachim Otto ({0}), Daniel
Bahr ({1}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes
- Drucksache 15/3097 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hans-Joachim Otto von der FDPFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe nicht maritime Kolleginnen
und Kollegen! Die Freiheit und die Unabhängigkeit der
Hans-Joachim Otto ({0})
Medien sind Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Demokratie. Ohne Pressefreiheit ist eine freiheitliche Demokratie nicht vorstellbar. Es ist eine der zentralen Aufgaben der Presse, die Politik und die Parteien zu
kontrollieren. Jeder von uns weiß, wie zentral wichtig
diese Kontrollfunktion ist. Nicht umsonst gibt es den Begriff der vierten Gewalt. Diese wichtige Kontrollfunktion schließt aus, dass diejenigen, die kontrolliert werden
sollen - nämlich die politischen Parteien -, wirtschaftliche Macht auf die Kontrolleure - nämlich die Presse ausüben können.
({1})
Geschieht dies dennoch, liegt eine strukturelle Störung
der demokratiestaatlichen Funktion der Presse vor.
Wir sind der Überzeugung, dass sich die Parteien zur
Sicherung der Unabhängigkeit der Medien eine wirtschaftliche Selbstbeschränkung auferlegen müssen.
Daher sieht unser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Parteiengesetzes vor, dass Parteien zukünftig nicht
mehr an Rundfunk- und Presseunternehmen beteiligt
sein dürfen. Bis zum Jahr 2009 sind Übergangsregelungen für den Abbau bestehender Beteiligungen - diese
gibt es nur bei einer Partei - vorgesehen.
Neben diesen grundsätzlichen demokratietheoretischen Erwägungen sehen wir eine spezifische Problematik, über die wir heute sprechen müssen. Die Übernahme der „Frankfurter Rundschau“ durch die SPDeigene Beteiligungsgesellschaft DDVG, die vor fast genau einem Jahr erfolgte, ist dabei nur der bekannteste
Fall.
({2})
Die SPD ist zurzeit an immerhin 14 Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen und 27 Hörfunksendern beteiligt.
({3})
Hinsichtlich der „Frankfurter Rundschau“ mögen vielleicht noch manche Leser wissen, dass zwar das Wort
„unabhängig“ vorne draufsteht, dass die „FR“ aber tatsächlich zu 90 Prozent von der 100-prozentigen SPDTochter DDVG abhängig ist.
({4})
- Lieber Herr Tauss, Sie sollten Ihre Zwischenrufe ein
bisschen besser dosieren. Ich will Sie an Ihren Parteifreund Michael Naumann erinnern, der Ihnen noch gut
bekannt ist. Er hat nämlich kürzlich in seiner Wochenzeitung „Die Zeit“ geschrieben: „Eine Partei kauft sich
ihre Leser.“ Ich meine, die eine Partei kauft sich auch
ihre Wähler, und das halte ich für eine sehr problematische Entwicklung.
({5})
Bei vielen anderen Zeitungen, Zeitschriften und auch
Radiostationen sind die Eigentumsverhältnisse nicht so
bekannt und ich bin davon überzeugt, dass viele Leser
und Hörer nicht wissen, dass die SPD an der Zeitung, die
sie jeden Tag lesen, oder an dem Radiosender, den sie jeden Tag hören, in einem erheblichen Maße beteiligt ist.
Die von der SPD mit herausgegebenen Zeitungen erreichen eine tägliche Auflage von rund 2 Millionen.
({6})
Das Problem ist, dass eine ganze Reihe von Zeitungen in
Gebietsmonopolen dazugehört.
Es geht meiner Ansicht nach auch nicht darum, ob in
der täglichen Redaktionsarbeit Einfluss ausgeübt wird.
({7})
Aber ich erinnere an ein altdeutsches Sprichwort, lieber
Herr Tauss, das sogar bei Ihnen in Karlsruhe bekannt ist:
Man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Insofern ist
die Befürchtung schon sehr groß.
({8})
- Liebe Freunde von der SPD, die lauten Zwischenrufe
beweisen, dass hier ein getroffener Hund bellt.
({9})
Sie sollten sich in dieser Debatte ein bisschen zurückhalten. Mir fällt auf, dass sich die Grünen in dieser Sache
sehr klug zurückhalten. Das ist offenbar ein Spezifikum
der SPD.
Es ist unbestreitbar, dass die Gefahr besteht, dass auf
Personalentscheidungen Einfluss genommen wird. Die
SPD hat nämlich direkten Einfluss nicht nur auf den Geschäftsführer der jeweiligen Organe, sondern sie besetzt
auch den Chefredakteursposten. Es ist ja bekannt, welchen starken Einfluss man auf dieser Position auf die
tägliche Arbeit hat. Wir Liberale haben zwar generell
nichts gegen eine wirtschaftliche Betätigung von Parteien.
({10})
Wenn sie dabei erfolgreich sind, dann sei es ihnen gegönnt. Aber es ist nicht einzusehen, warum sich Parteien
ausgerechnet in der Branche betätigen müssen, die eine
überaus wichtige Kontrollfunktion hat. Die historische
Begründung, die Sie nachher wahrscheinlich anführen
werden, ist jedenfalls inzwischen obsolet geworden.
({11})
Wir verkennen nicht - auch das wird wahrscheinlich
gleich von Ihnen angeführt werden -, dass es hier verfassungsrechtlich schwierige Fragen gibt. Ich schlage Ihnen
deshalb vor: Lassen Sie uns im federführenden Ausschuss und in den mitberatenden Ausschüssen eine Anhörung zu den verfassungsrechtlich relevanten Fragen
durchführen! Ich will Ihnen aber eines sagen: Es gibt ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in welchem das
Verbot von Rundfunkbeteiligungen der Parteien in Niedersachsen für verfassungsgemäß erklärt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat das interessanterweise wie
folgt begründet: Die Notwendigkeit dieser Beschränkung liegt darin, dass die Staatsferne und die Überparteilichkeit des Rundfunks gesichert werden müssen. Es ist
überhaupt nicht einzusehen, dass diese Entscheidung des
Hans-Joachim Otto ({12})
Bundesverfassungsgerichts betreffend den Rundfunk
nicht in gleicher Weise für die Presse gelten soll.
({13})
Abschließendes Wort. Ich appelliere an Sie, die Sozialdemokraten: Wenn Sie Ihre Beteiligungen an den
Presseunternehmen freiwillig veräußerten, dann könnten
wir uns den ganzen Spaß hier sparen. Sie sind diejenigen, die einer problematischen Entwicklung weiterhin
Vorschub leisten. Ich fordere Sie auf, selbst zu erkennen,
welches Problem in der Beteiligung der SPD an Zeitungen besteht.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP unternimmt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum wiederholten Mal den Versuch,
({0})
die SPD und ihre erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit
zu diffamieren,
({1})
die Chancengleichheit der Parteien mit ihren historisch
gewachsenen Strukturen der Finanzierung abzuschaffen
({2})
und die SPD erneut zu enteignen.
({3})
Die Novellierung des Parteiengesetzes infolge des CDUSchwarzgeldskandals wurde mithilfe von Sachverständigen vorgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat
- auch hier stimmt Ihre Aussage nicht - keine Einwände
gegen die Unternehmensbeteiligungen der Parteien
und damit auch nicht gegen die der SPD erhoben. Die
SPD befolgt die Vorgaben des Parteiengesetzes. Sie hat
in ihren Finanzen die größtmögliche Transparenz. Die
Rechenschaftsberichte, die Finanzberichte und die Geschäftsberichte der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft, also jenes Unternehmensbereichs der SPD, legen
alle Einnahmen und Ausgaben sowie die Beteiligungen
uneingeschränkt offen.
Die FDP scheint hingegen kein Verfechter der Transparenz zu sein; denn vor Ort in den Bundesländern sind
Sie es, die sich weigern, im Impressum von Tageszeitungen die Eigentumsverhältnisse und somit die Beteiligungen offen zu legen.
({4})
Sie haben außerdem wenig Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Sie suggerieren, dass
die SPD über ihre Beteiligungen Einfluss auf die Medienberichterstattung nimmt. Dafür können Sie aber
keine Beweise oder Belege vorlegen.
({5})
Da Sie wissen, dass Sie für Ihren Gesetzentwurf keine
Mehrheit im Bundestag finden, versuchen Sie über die
Bundesländer und eine Änderung der Landesmediengesetze - darauf bezieht sich das angesprochene Urteil des
Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Beteiligung
an Rundfunkanstalten -, die SPD erneut zu schädigen.
Dagegen läuft ein Normenkontrollverfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht, das bislang nicht entschieden
ist.
In der 14. Wahlperiode wurde eine Kommission zur
Reform der Parteienfinanzierung vom Bundespräsidenten einberufen. Diese überparteiliche Kommission
und ihr Beirat waren mit Personen besetzt, die sich mit
diesem Thema auskannten, praktisch und rechtlich. In
den abschließenden Empfehlungen dieser Kommission
zu den Beteiligungen von Parteien im Medienbereich
heißt es - ich zitiere -:
Die Kommission empfiehlt keine gesetzlichen Regelungen zur Begrenzung der unternehmerischen
Tätigkeit von Parteien, auch nicht im Medienbereich. Ein etwaiger beherrschender Einfluss von
Parteien auf die Presse aufgrund von Beteiligungen
im Bereich der Printmedien wäre im Übrigen vorrangig mit den Mitteln und nach den allgemeinen
Maßstäben des Kartellrechts und des Presserechts
einzudämmen. Dass ein solcher Zustand derzeit
von irgendeiner Partei in Deutschland erreicht
wäre, ist nicht ersichtlich. Die Möglichkeit der Parteien, an der Entwicklung der neuen Medien teilzunehmen, insbesondere des Internets, sollte nicht beschnitten werden.
Daran hat sich auch in der 15. Legislaturperiode nichts
geändert. Falls Sie an diesem Thema ernsthaft und objektiv interessiert sind, können und sollten Sie die Ergebnisse der Kommissionsarbeit nachlesen.
({6})
Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die das
Grundrecht auf Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit ebenso ausüben wie ihr Grundrecht auf Eigentum.
Mit Ihrem Gesetzentwurf schaffen Sie nicht mehr
Presse- und Meinungsfreiheit;
({7})
vielmehr wollen Sie damit gezielt eine Partei schädigen,
die in ihrer 140-jährigen Geschichte gerade für Meinungsfreiheit, für die Vielfalt und für die Unabhängigkeit der Presse gekämpft hat.
({8})
Ihr Gesetzentwurf ist ein untauglicher Vorschlag,
mehr Transparenz, Meinungsvielfalt und Unabhängigkeit in den Medien zu schaffen. Er richtet sich einseitig
gegen die SPD und ist ein durchsichtiger Versuch, die
Chancen der SPD im Parteienwettbewerb massiv zu
schädigen. Wir lehnen diesen verfassungswidrigen Gesetzentwurf ab.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Mantel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hält
Anteile an 14 Verlagen, an 30 Tageszeitungen, an 40 Anzeigenblättern und an knapp 30 Hörfunkstationen. Damit
erreicht sie mit einer Gesamtauflage von über 6 Millionen Exemplaren 12 Millionen Leser. Um Ihnen dieses
Schreckensszenario zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen
eine Übersicht zeigen:
({0})
Die pink markierten Felder zeigen die Beteiligungen der
SPD.
({1})
- Statt hier herumzuschreien, könnte Herr Tauss diese
Übersicht halten. Das wäre eine gute Idee.
({2})
- Ja, das wäre einmal eine tragende Rolle für Herrn
Tauss.
Um dieser Manipulation ein Ende zu setzen, hat die
FDP einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die CDU/CSUFraktion unterstützt diesen FDP-Gesetzentwurf einstimmig.
({3})
Ein Verbot von Medienbeteiligungen von Parteien ist nur
zu befürworten.
({4})
- Herr Tauss, schauen Sie es sich nur genau an, damit
Sie wissen, woran die SPD überall beteiligt ist.
Ich darf Sie einen Moment unterbrechen.
Herr Tauss, setzen Sie sich bitte hin und legen Sie das
weg!
({0})
Bitte schön, Frau Mantel.
Aber Sie wissen es ja eigentlich, Herr Tauss, weil bei
Ihnen alles angeblich so wahnsinnig transparent ist. Ich
muss ganz ehrlich sagen: Jetzt haben Sie es gesehen und
jetzt kann die SPD ihre Medienbeteiligungen aufgeben.
({0})
So witzig das Ganze von Ihnen gerade gemeint war: Dieses Thema ist leider viel zu ernst.
({1})
Wie aktuell die Debatte ist, die wir heute führen,
konnte man am Montag im „Focus“ lesen. Demnach
musste der Chefredakteur der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ nach 16 Jahren vorzeitig seinen Platz
räumen, da er mit der Berufung seines Nachfolgers nicht
einverstanden war. Das ist auf den ersten Blick vielleicht
keine ungewöhnliche Nachricht. Das kann vorkommen.
Spannend wird diese Tatsache erst dann, wenn man
weiß, dass die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ zu
einem Fünftel der SPD-eigenen Deutschen Druck- und
Verlagsgesellschaft gehört, der so genannten DDVG.
({2})
Die DDVG griff massiv in die Entscheidung über einen
neuen Chefredakteur ein. Sie besetzte den Posten mit einem SPD-nahen Redakteur.
({3})
Der Mitbewerber galt als zu CDU-nah und hatte deshalb
keine Chance.
Das ist ein völlig inakzeptabler Eingriff in die Entscheidungshoheit einer Redaktion und zeigt, dass die
SPD bei Personalentscheidungen gezielt manipuliert.
Die Redaktionen werden systematisch so besetzt, dass
da nur Genossen sitzen.
({4})
Wie direkt die SPD über die DDVG in die Redaktionen der Zeitungen hineinregiert, zeigt sich auch darin,
dass Redakteure in ihren Arbeitsverträgen dazu verpflichtet werden,
({5})
SPD-freundlich zu berichten.
({6})
Die sozial-liberale politische Einstellung, die explizit in
jedem Redakteursvertrag der „Frankfurter Rundschau“
steht, ist so ein Beispiel.
({7})
Unsere Demokratie lebt von Meinungsvielfalt und
Pressefreiheit. Die SPD zerstört diese durch ihre unsäglichen Unterwanderungen.
({8})
Berühmtestes Beispiel ist die „Frankfurter Rundschau“, an der die DDVG im vergangenen Jahr eine
Mehrheitsbeteiligung von 90 Prozent übernommen hat;
der Kollege Otto hat es bereits angesprochen.
({9})
So ist die „Frankfurter Rundschau“ zu einem Kampfblatt
der SPD geworden.
({10})
Kann es richtig sein, dass in einem demokratischen
Rechtsstaat eine Partei umherzieht und Zeitungen aufkauft, gerade wie es ihr gefällt?
({11})
Ich meine: Nein.
({12})
Eine weitere Strategie der SPD zielt darauf ab, regionale Meinungsführerschaften zu gewinnen. Anfang
2003 kaufte die DDVG beispielsweise dem Süddeutschen Verlag seinen Anteil von 70 Prozent an der „Frankenpost“ in Hof ab und besaß somit 100 Prozent. Wer
wie ich aus Franken kommt, der weiß, dass die „Frankenpost“ in der Stadt und im Landkreis Hof die einzige
lokale Tageszeitung ist.
({13})
Gemeinsam mit der „Neuen Presse“, Coburg, kommt die
SPD bei den Lokalzeitungen in Oberfranken auf einen
Marktanteil von über 70 Prozent. Dadurch werden gezielt Monopolregionen gebildet.
Die Realität ist doch bereits heute so, dass es in vielen
unserer Landkreise nur noch eine einzige lokale Tageszeitung gibt. Wenn diese einzige lokale Tageszeitung der
SPD gehört, dann besitzt diese nicht nur das Zeitungs-,
sondern auch - das finde ich viel schlimmer - das Meinungsmonopol in dieser Region.
({14})
Die Freiheit von Rundfunk und Presse ist ein Wert,
der nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist. Das
ist etwas, was wir in Deutschland Gott sei Dank wieder
haben. Die Freiheit von Rundfunk und Presse bedeutet
auch Kontrolle staatlichen Handelns. Kontrollieren
kann aber nur, wer unabhängig ist.
({15})
Finanzielle Abhängigkeit von einer Partei zerstört die
Kontrollfunktion. Übernimmt eine Partei eine Zeitung
auch noch in einer finanziell angeschlagenen Situation,
wie das beispielsweise bei der „Frankfurter Rundschau“
war, ist die Abhängigkeit natürlich unermesslich.
Ich erinnere mich noch gut an den 3. August im letzten Jahr. Da hat die „Frankfurter Rundschau“ an einem
einzigen Tag einmal ihre Maske fallen lassen. Da stand
nämlich statt „Unabhängige Tageszeitung“ „Abhängige
Tageszeitung“ als Unterüberschrift. Ich möchte mich
heute bei dem bedanken, der das veranlasst hat.
({16})
Er hat die Wahrheit in Druck gegeben und hat den Mut
bewiesen, die SPD-Repressalien nicht länger stillschweigend zu erdulden.
({17})
Da wir schon beim Thema Wahrheit sind: Es mutet,
gelinde gesagt, schon etwas merkwürdig an, wenn sich
ausgerechnet die rot-grüne Regierung, die die Kennzeichnungspflicht bis zum Exzess betreibt, weigert, ihre
roten Produkte zu kennzeichnen.
({18})
Angeblich ist Ihrer Regierung der Verbraucherschutz so
wichtig. Alle Lebensmittelprodukte müssen über Gebühr
gekennzeichnet sein. Verträge müssen bis ins Letzte so
gekennzeichnet sein, dass sie nicht diskriminieren. Sie
haben also eine wahre Kennzeichnungswut. Nur rot gefärbte Informationen müssen nicht gekennzeichnet sein.
({19})
Hier möchte ich dringend an den von Ihnen so viel beschworenen Verbraucherschutz appellieren. Auch hier
zeigt sich mal wieder: Sonntagsreden der rot-grünen Regierung in jedem Politikbereich.
({20})
Woher beziehen die Bürger in unserem Land ihre Informationen? Natürlich aus den Medien und besonders
aus den Printmedien. Unsere Bürger verlassen sich auf
die Informationen. Das müssen sie auch. Wenn man früh
die Zeitung liest, hat man nicht die Möglichkeit, jeden
Artikel noch einmal gegenzuprüfen.
({21})
Nicht umsonst sagt man: Das habe ich schwarz auf weiß
gelesen.
Wenn die Bürger aber nur auf Medien zurückgreifen
können oder zurückgreifen müssen,
({22})
die von Parteien über verwobene Beteiligungen gehalten
werden, dann kann man doch nicht allen Ernstes davon
sprechen, dass hier noch freie Meinungsbildung gewährleistet wird. Denn das ist doch der springende Punkt in
dieser Debatte: Darf jemand eine Zeitung besitzen, der
eigentlich der Kontrolle durch die Presse ausgesetzt sein
müsste?
({23})
Die SPD missbraucht so das Vertrauen der Leser, die
sich in einer Zeitung informieren wollen und darauf vertrauen, dass die Informationen in ihrer Zeitung stimmen.
({24})
Ein besonderes Vertrauen haben die Menschen in ihre
Lokalzeitung. Die Lokalzeitungen sind die meistgelesenen Presseprodukte. Deshalb finde ich es besonders perfide, dass sich die SPD hauptsächlich in Lokalzeitungen
einkauft.
({25})
Sie geben ja auch offen zu, dass Sie mit Ihren Beteiligungen den Inhalt bestimmen. Ihre Schatzmeisterin - sie
werden wir ja nachher noch hören -, Frau WettigDanielmeier,
({26})
sagt - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -:
({27})
Auch dort, wo wir nur 30 oder 40 Prozent haben,
kann in der Regel nichts ohne uns passieren.
Ich glaube, diese Aussage spricht für sich, Frau WettigDanielmeier.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen Tipp geben, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie auch ohne
finanziellen Einsatz die Titel aller Tageszeitungen beherrschen können. Geben Sie einfach eine Pressemitteilung heraus, in der steht: SPD trennt sich von all ihren
Medienbeteiligungen.
Herzlichen Dank.
({28})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich
aufgewachsen bin, bin ich, als ich einmal in Berlin war,
auf die Straße gegangen mit dem Slogan: Enteignet
Springer! Es gab einen guten inhaltlichen Grund dafür.
({0})
Angesichts der Medienlandschaft, die Sie in Ihrem
Antrag beschreiben, habe ich mich gefragt, welche Zeitung ich jeden Tag lese und wo ich überhaupt lebe.
({1})
Die Frau Kollegin Mantel aus Bayern, CSU-Mitglied
und auch irgendwie Journalistin,
({2})
möchte mir hier offensichtlich erläutern, dass die Medienvielfalt in Bayern sichergestellt sei. Ich könnte hier
genauso wie Sie eine Liste aufstellen und Ihnen darlegen, in wie vielen Bereichen das nicht stimmt.
({3})
Dass hier der „Bayernkurier“ als Organ der Pressefreiheit dargestellt wurde,
({4})
zeigt doch, wie absurd diese Debatte ist.
({5})
Herrn Kollegen Otto möchte ich sagen: Wir haben
hier in diesem Hause einmal eine seriöse Debatte über
das Problem der Medienbeteiligungen von Parteien geführt. An dieser Debatte war unter anderem Herr HansDietrich Genscher beteiligt. Vielleicht sollten Sie einmal
nachlesen, welch kluge Dinge Herr Genscher damals zu
dieser Problematik gesagt hat
({6})
und zu welcher Empfehlung er damals gekommen ist.
({7})
Wir setzen uns - darin sind wir uns einig - für eine vielfältige Presselandschaft und für Vielfalt in den Medien
ein. Herr Genscher hat damals zu Recht angeregt, im
Kartellrecht etwas zu ändern. Es ist damals zu Recht anSilke Stokar von Neuforn
geregt worden, dass im Impressum der Zeitung alle Beteiligungen, also nicht nur Beteiligungen von Parteien,
sondern auch wirtschaftliche Verflechtungen, öffentlich
und transparent gemacht werden. Aber diese Form von
Transparenz, die wir damals gefordert haben, ist hier unter anderem auch von der FDP-Fraktion abgelehnt worden.
({8})
Ich will hier auch gar nicht darüber reden - obwohl
ich mich sehr gut daran erinnere -, dass es eine Freundschaft zwischen einem Herrn Bundeskanzler Kohl und
einem Leo Kirch gegeben hat. In diesem Fall konnte
man doch von Medienkonzentration sprechen.
({9})
Lassen Sie mich hier auch etwas zur historischen Entwicklung der Sozialdemokratie ({10})
ich denke, das ist ein sehr ernstes Thema - und der Medienlandschaft in Deutschland sagen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Otto?
Nein.
({0})
Meine Damen und Herren, es gab Zeiten in diesem
Deutschland, da hatten Abgeordnete aus der Sozialdemokratie nicht den Hauch einer Chance, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit in einem bürgerlichen Beruf oder
in der Wirtschaft zu verdienen.
({1})
Mit diesen Journalisten und Schriftstellern begann die
Verflechtung von Sozialdemokratie und Medien.
Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass nach dem
Ende des Faschismus - wir haben hier viele Reden dazu
gehalten - die Alliierten sehr bewusst Widerstandsleute
aus der SPD geholt haben, dass sie diesen Leuten zugetraut haben, in Deutschland eine demokratische Presse
aufzubauen.
({2})
Das sind die historischen Gründe für die besondere Verflechtung zwischen der Sozialdemokratie und den
Medien,
({3})
Gründe, die damals, als seriös in einer Kommission über
das Thema geredet wurde, gewürdigt worden sind.
Ich nehme die SPD in Schutz, weil die Sozialdemokratie einen Beitrag dazu geleistet hat, gegen die rechte
Pressekonzentration ein inhaltliches Gegengewicht zu
setzen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie ihr
vorzuwerfen versuchen. Die SPD hat einen großen Beitrag in Deutschland dazu geleistet, dass wir in der Presselandschaft eine demokratische Vielfalt haben.
({4})
Und die FDP stellt sich hier hin und fordert ein Totalverbot der Beteiligung von Parteien an Medien. Sie wissen doch, dass es entsprechende Verfassungsgutachten
gibt, dass damals in der Kommission - unter Ihrer Beteiligung - Gutachten erstellt worden sind. Wenn Sie hier
heute einen Antrag auf Totalverbot stellen, dann ist das
purer Populismus.
({5})
Ihnen geht es darum, die SPD anzugreifen; Ihnen geht es
nicht um Pressefreiheit. Sie wissen sehr wohl, dass Ihr
Antrag verfassungswidrig ist.
({6})
Wir sind bereit - ich muss zum Schluss kommen -,
eine Anhörung dazu zu machen, wie wir Medienvielfalt,
Medienfreiheit und Pressefreiheit in Deutschland weiter
stärken können. Dazu gehört auch, dass die Journalisten,
die zum Beispiel für große Zeitungen als freie Journalisten arbeiten, offen legen, von wem aus der Wirtschaft sie
sonst noch bezahlt werden. Wir haben zum Beispiel eine
Rußfilterdebatte in den Medien gehabt, die gezielt zur
Verhinderung einer wichtigen Innovation geführt hat.
({7})
Die Journalisten, die sich an der Diffamierung von Rußfiltern wesentlich beteiligt haben, hatten auch Verbindungen zu Autokonzernen.
({8})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das Thema haben Sie verfehlt. Pressefreiheit und
Pressevielfalt sind mit uns zu machen, aber nicht auf
diese populistische Art und Weise, wie Sie das hier heute
versuchen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge WettigDanielmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie ernst
sind politische Initiativen einer Partei und einer Parlamentsfraktion zu nehmen, die wenige Tage nach einem
Parteitag offen gegen Erklärungen dieses Parteitags verstoßen?
({0})
Die FDP hat sich auf ihrem Parteitag zur Rechtsstaatspartei ernannt.
({1})
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Parteiengesetzes verstößt sie ohne jedes Bedenken gegen eine wichtige Bestimmung des Grundgesetzes.
({2})
- Nein, wir haben Grundrechte, wie Sie auch.
({3})
Sie verletzen das Grundrecht, dass kein Eigentum auf
der Grundlage eines Einzelfallgesetzes entzogen werden
kann.
({4})
- Dies ist ein Einzelfallgesetz. Es gehört viel verfassungsrechtliche Blindheit dazu, ausschließlich unsere
Grundrechte im Feld wirtschaftlicher Tätigkeit beseitigen zu wollen
({5})
und dabei völlig zu übersehen, dass das nur mit einem
Einzelfallgesetz möglich ist.
Ich möchte es nicht bei diesem prinzipiellen, verfassungsrechtlichen Einwand belassen. Ich möchte ebenfalls den politischen Hintergrund ausleuchten, auch
wenn Sie sich darüber mokieren. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen des Hauses zu
verstehen, dass wir Sozialdemokraten auf jeden offenen
und versteckten Enteignungsversuch empfindlich reagieren.
({6})
- Das gilt für jede Partei. Aber wir wollen Sie ja auch
nicht enteignen.
Wir sind dreimal enteignet worden. Die deutschen
Sozialdemokraten sollten mit dem Sozialistengesetz wegen ihres Kampfes für politische und soziale Grundrechte im Kaiserreich vernichtet werden. Die Partei ist
damals nicht untergegangen. Aber sie verlor ihr Eigentum - entschädigungslos.
Noch härter trafen sie die Verfolgung und das Verbot
durch das nationalsozialistische Deutschland.
({7})
Es ist richtig: Es hat dafür nach 1945 Wiedergutmachung
gegeben. Aber diese Entschädigung hat bei weitem nicht
die verloren gegangenen Werte ersetzt.
({8})
Durch die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD
zur SED wurde uns die Nutzung unseres Eigentums in
der SBZ bzw. in der DDR für 50 Jahre entzogen. Es gab
also eine dritte Enteignung in einem Teil Deutschlands.
Der finanzielle Ausgleich, der geflossen ist, konnte die
tatsächlichen Verluste bei weitem nicht ersetzen.
({9})
Es mag sein, dass für eine Partei, die erst knapp
60 Jahre besteht, diese Argumente unbeachtliche historische Reminiszenzen sind.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
({0})
Ja, bitte.
Frau Kollegin Wettig-Danielmeier, würden Sie mir
bestätigen, dass ein Großteil der Beteiligungen, die uns
vorhin durch unsere Kollegin Mantel auf dem Transparent vorgestellt worden sind, genau die Beteiligungen
umfassen, die nach der Zeit des nationalsozialistischen
Unrechts und nach dem Ende der SED-Diktatur zurückgegeben wurden?
({0})
Ich konnte diese Übersicht leider nicht genau studieren. Sie enthält eine Reihe von Fehlern. Ich kann Ihre
Aussage im Moment weder bestätigen noch dementieren.
({0})
- Wenn Sie das so genau gelesen haben, dann wird es
schon stimmen.
({1})
Wir hatten in unserer 142-jährigen Geschichte immer
Medien. Wir haben unser Medieneigentum über die Katastrophen der deutschen Geschichte hinaus bewahrt.
Wir waren in der Lage, uns unternehmerisch dem wirtschaftlichen und technologischen Wandel im Mediensektor anzupassen.
({2})
Wir haben - das müssen Sie sich auch einmal sagen
lassen - durchweg Minderheitsbeteiligungen.
({3})
- Lassen Sie mich darauf antworten. Wir haben keine
Beteiligungen in Höhe von 100 Prozent. Die haben wir
nur beim „Vorwärts“ und nirgendwo anders. Sie sollten
sich genauer informieren, ehe Sie Ihre Reden halten.
({4})
Wir haben die journalistische Freiheit immer gewahrt
und ihre Chancen gefördert.
({5})
Das tun wir auch in Frankfurt, und zwar kontrolliert
durch die hessische Landesregierung,
({6})
die uns durch die Stiftungsaufsicht des Landes Hessen
- das ist einmalig unter unseren Beteiligungen - auferlegt hat, eine unabhängige linksliberale Zeitung zu garantieren.
({7})
Das tun wir sonst nirgends.
({8})
Wir haben, wie Sie sehr wohl wissen, eindeutig gesagt, dass wir nach der Sanierung die Minderheitsbeteiligung an der „Frankfurter Rundschau“ anstreben und
nicht bei der 90-prozentigen Beteiligung bleiben wollen.
Sie haben sich auch in Bezug auf Hof nicht sorgfältig
genug erkundigt. Wir haben für die Zeitung in Hof - da
haben Sie Recht - für zwei Jahre eine Beteiligung von
100 Prozent übernommen, weil die „Süddeutsche Zeitung“ in Schwierigkeiten gekommen war und kartellrechtliche Probleme sie daran gehindert haben, einen
zusätzlichen Gesellschafter aufzunehmen, der die Sanierung hätte garantieren können.
({9})
Wir haben die Beteiligung in Hof inzwischen wieder zurückgegeben. Das ist kartellrechtlich ein Problem; das
wissen Sie genauso gut wie ich.
Sie werden natürlich lebhaft bestreiten, dass Sie den
Entwurf eines Enteignungsgesetzes vorgelegt haben.
({10})
Wer die in diesem Gesetzentwurf genannten Fristen betrachtet - sie sind zum Teil schon abgelaufen -, wird mir
zustimmen: In diesen Zeiträumen können Unternehmensbeteiligungen nur unter hohen Verlusten verkauft
werden.
({11})
Ich nehme an, dass einige Freie Demokraten dies auch
so wollen.
({12})
Die deutliche finanzielle Schwächung der SPD ist ein
beabsichtigter Kollateralschaden.
({13})
Ich kann auch nicht ausschließen, dass Sie verdeckt Interessen von Medienkonzernen verfolgen,
({14})
die unser Medieneigentum seit langem interessiert umkreisen. Müssten wir verkaufen, könnten diese Interessenten zugreifen; sie müssten es sogar. Ihren Gesetzentwurf könnten wir deshalb durchaus wie ein verdecktes
Pressekonzentrationsfördergesetz wirken lassen.
({15})
Den i-Punkt auf Ihre verdeckten Absichten setzt Ihre
Behauptung in der Gesetzesbegründung, dass durch die
Annahme Ihrer Vorschläge keine Mehrkosten entstehen.
Selbstverständlich müssten die Enteignungen entschädigt werden;
({16})
denn nach wie vor, geschätzte Fraktion einer Rechtsstaatspartei, gilt Art. 14 des Grundgesetzes.
({17})
Wir werden also die Ausschussberatungen zu einem
- ich weiß nicht, wievielten - historischen und verfassungsrechtlichen Repetitorium benutzen.
({18})
Vielleicht hilft Ihnen dies, von der selbst ernannten zur
realen Rechtsstaatspartei zu werden. Diese Mühen würden wir nicht scheuen, um Ihnen dabei zu helfen, sich
von der Spaßpartei endlich zu einer Nachdenkpartei zu
entwickeln.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 15/3097 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung auch so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-
wie Zusatzpunkt 7 auf:
12 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Berg, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika Lazar, Volker
Beck ({1}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Kooperation von Bund und Ländern in der
Hochschulpolitik verstärken - Umsetzung des
Bologna-Prozesses in Deutschland beschleuni-
gen
- Drucksache 15/5465 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Realisierung der Ziele des Bologna-Prozesses
- Drucksache 15/5286 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewährleisten Länderkompetenzen beachten
- Drucksache 15/5449 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
Vormittag hatten wir eine wichtige Stunde für Europa.
Die europäische Verfassung ist eindrücklich durch den
Deutschen Bundestag bestätigt worden.
Heute Abend beschäftigen wir uns wieder mit einem
europäischen Thema. Allerdings ist meine Sorge, dass
wir an die Qualität des Vormittags nicht heranreichen
werden, weil der Antrag, der uns von der Union vorliegt,
nur in einem Satz zu unterstützen ist. Diesen darf ich zitieren. In dem Antrag der Union zum Bologna-Prozess
wird formuliert:
Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses und
der enge Zeitrahmen zur Umsetzung erfordern …
auch in Zukunft eine vertiefte Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern. Diese Zusammenarbeit kann nur auf der Basis gegenseitigen Vertrauens geschehen.
Ich will an dieser Stelle sagen: Diese Position unterstützen wir ausdrücklich. Allerdings macht der dann folgende Text des Antrages nicht so recht deutlich, ob der
eben zitierte Satz auch wirklich ernst gemeint ist, weil
dieser Text in eine andere Richtung geht.
Der Bologna-Prozess ist eines der wichtigsten Themen für unsere Hochschulen. 1999 haben die Minister in
Bologna diesen Prozess in Gang gesetzt. Die Universitäten in Europa befinden sich seitdem in dem wahrscheinlich größten Veränderungsprozess ihrer Geschichte.
Wichtig ist: Deutschland begreift zunehmend, wie ich
hoffe, dass die Umstellungen unserer Universitäten und
Hochschulen im Rahmen des Bologna-Prozesses eine
wirklich nationale Aufgabe sind und von kleinstaatlichem Denken nicht wirklich befördert werden. Es ist
eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern
notwendig.
Wir stehen unmittelbar vor der Bergen-Konferenz,
einer Folgekonferenz, die eine Zwischenbilanz ziehen
wird. Über diese Zwischenbilanz gibt ein Bericht AusParl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
kunft, der interessanterweise und, wie ich finde, erfreulicherweise gemeinsam von Bund und Ländern formuliert
worden ist.
({0})
Es ist gelungen, diesen Zwischenbericht gemeinsam zu
erstellen. Ich habe selber Gelegenheit gehabt, bei der
Bildungsministerkonferenz in Brüssel, bei der ich
Deutschland zu vertreten hatte, diese Position zu überreichen. Das war eine schöne Situation, weil die anderen
europäischen Staaten wahrgenommen haben, dass Bund
und Länder in dieser wichtigen Frage auch einmal gemeinsam agieren können.
Wichtig ist, dass wir an dieser Zusammenarbeit festhalten. Wir machen uns allerdings große Sorgen, ob
diese große Gemeinsamkeit, die wir im Bologna-Prozess
bisher hatten, auch künftig gehalten werden kann. Sie
wissen, dass der Bund die Universitäten bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses unterstützen wollte. Es gibt
leider zurzeit Klagen aus Hessen. Die Eilklage ist abgewiesen. Die Begründung der neuen Klage haben wir
noch nicht gelesen. Das Ziel dieser Veranstaltung besteht
offensichtlich darin, den Bologna-Prozess zu verlangsamen.
({1})
Das kann nicht im Interesse Deutschlands sein.
Im Übrigen wundert mich, Herr Rachel, wie sich in
diesem Antrag Bundespolitiker als Landespolitiker gerieren.
({2})
Bundespolitiker stellen hier einen Antrag im Interesse
der Länder. Ich weiß nicht recht, wo Sie sich selber
politisch einordnen. Wenn Sie Landespolitik machen
wollen, dann sollten Sie das im Landtag tun, aber nicht
im Deutschen Bundestag.
({3})
Wenn wir über ein so wichtiges Thema wie den Bologna-Prozess reden, wünschte ich mir - ich bin da mit den
Mitarbeitern im Hause und mit der Fraktion sehr einig -,
dass wir an dem guten Stand, den wir in den gemeinsamen Bemühungen von Bund und Ländern im BolognaProzess bisher hatten, im Interesse unserer Hochschulen
festhalten.
({4})
Ich kann überhaupt nicht verstehen, weshalb Sie neuerdings diese Rolle rückwärts versuchen, indem Sie sagen,
möglicherweise sollen sogar die Länder in Europa verhandeln. Ich kenne diese Verhandlungen. Ich wünsche
da viel Glück. Sie haben zwei Minuten Redezeit für
16 Länder. Da werden Sie ausführlich argumentieren
können.
Wir kommen glücklicherweise in Deutschland voran.
Ich will Ihnen kurz ein paar Reformen nennen, die im
Zusammenhang mit der Internationalisierung wichtig
sind.
Wir haben mit der BAföG-Reform sichergestellt, dass
Studierende den Schritt ins Ausland leichter gehen können. Im Jahr 2003 haben 16 000 BAföG-Empfänger ein
Auslandssemester eingelegt.
({5})
Das ist ein Anstieg von 70 Prozent innerhalb von drei
Jahren. Das ist der richtige Weg. Wir wollen, dass junge
Leute sich selbstverständlich in Europa ausbilden lassen.
Die OECD-Studie „Education at a glance“ zeigt, dass
Deutschland in Europa mittlerweile den zweiten Platz
als Zielland für Studierende belegt. Eine viertel Million
Studierende aus dem Ausland waren im Wintersemester
2003/2004 an deutschen Hochschulen eingeschrieben.
Deutschland wird international attraktiver. Dem soll
auch die Exzellenzinitiative dienen. Wir wollen unsere
Hochschulen noch attraktiver machen. Wir wollen die
Spitzenleistungen, die wir haben, in Europa noch sichtbarer machen. Deswegen appelliere ich an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich an die Länder, endlich ihre unsägliche Blockadehaltung bei diesem Projekt aufzugeben.
({6})
Bei Studienleistungen und -abschlüssen sind wir gut
vorangekommen. Die Akkreditierungssysteme funktionieren. Wir sind darauf angewiesen, dass wir noch an
Tempo zulegen. Dazu ist - Herr Rachel, da appelliere ich
einfach an Ihre Vernunft als Forschungspolitiker;
({7})
ich weiß, dass das zu später Stunde bei diesem Thema
ein schwieriges Unterfangen ist - eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern erforderlich, um den
hohen Standard, den wir in Europa haben, halten und
ausbauen zu können.
({8})
Verlassen Sie den Weg der Kleinstaaterei! Ziehen Sie Ihren Antrag zurück!
({9})
Der Kollege Rachel erhält jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Woche vor der in
Bergen stattfindenden Bologna-Nachfolgekonferenz
stellen wir fest: Insgesamt ist der Bologna-Prozess eine
Erfolgsgeschichte. Insbesondere die unter der christlich16486
liberalen Regierung begonnene Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge ist auf gutem Wege.
Mittlerweile machen diese Studiengänge über ein Viertel
des gesamten Studienangebots aus. Ich denke, über die
Ziele der Schaffung eines einheitlichen europäischen
Wissenschaftsraums und einer größeren Mobilität der
Studierenden in Europa besteht zwischen allen Fraktionen Einigkeit.
Verantwortlich für die Umsetzung der Bologna-Ziele
sind die Bundesländer. Die meisten von ihnen haben die
Bachelor- und Masterstudiengänge bereits in ihren Landeshochschulgesetzen verankert. Förderprogramme und
Modellversuche wurden bislang einvernehmlich zwischen Bund und Ländern in der BLK begleitet.
Nun jedoch hält Bundesbildungsministerin Bulmahn
den Ländern einen vergifteten Apfel hin:
({0})
Mit Bundesmitteln in Höhe von 4 Millionen Euro will
sie über die Hochschulrektorenkonferenz ein Konferenzzentrum für die Bologna-Reform einrichten.
Auch wenn dieser Vorschlag auf den ersten Blick verführerisch erscheint, ist er ein klarer Verstoß gegen die
Aufgabenverteilung des Grundgesetzes.
({1})
Eine Rücksprache mit den Bundesländern ist nicht erfolgt. Dabei sind gerade die Einrichtung und Ausgestaltung von Studiengängen und Studienabschlüssen sowie
die Finanzierung dieser Vorhaben eine Kernaufgabe der
Bundesländer.
({2})
Wieder plant Bildungsministerin Bulmahn, die Länderzuständigkeit im Hochschulbereich auf kaltem Wege
auszuhebeln.
({3})
Dabei sind Sie gerade erst mit dem Verbot von Studiengebühren und bei der Einführung der Juniorprofessur vor
dem Bundesverfassungsgericht gescheitert.
({4})
Nun droht Ihnen die nächste Niederlage. Das Land
Hessen hat gegen Ihr Bundesprogramm Klage eingereicht.
({5})
Ich will klarstellen: Die Landesregierung von Hessen hat
sich damit nicht gegen die Einführung von Bachelorund Masterabschlüssen gewandt.
({6})
Im Gegenteil: Das Bundesland Hessen hat die meisten
akkreditierten Bachelor- und Masterstudiengänge. Ihre
Anzahl hat sich in Hessen von 1999 bis 2003 versechsfacht. Da werden Sie blass.
Aber wie sieht die Realität im rot-grün regierten Land
Nordrhein-Westfalen aus? Die dortige Wissenschaftsministerin Kraft hat im Februar 2002 einen Erlass herausgegeben, in dem sie eindeutig festlegt, dass künftig
nur noch ein Anteil von 20 Prozent des Lehrangebots an
Universitäten und ein Anteil von 10 Prozent an den
Fachhochschulen für das konsekutive Masterstudium zugelassen werden sollen.
({7})
Folge dessen ist: Nur etwa 50 Prozent der Bachelorstudenten werden zum Masterstudium zugelassen, an den
Fachhochschulen sogar nur ein Drittel. Das verstehen
Sie unter Durchlässigkeit. Meine Damen und Herren,
das ist - gelinde gesagt - eine Frechheit. Anders kann
man das nicht bezeichnen.
({8})
Die von Frau Kraft in diesem Erlass der nordrheinwestfälischen Landesregierung vorgesehene Quotierung,
ja Kontingentierung der Masterstudiengänge war und
ist im Bologna-Prozess nicht vorgesehen und schon gar
nicht gefordert.
({9})
Dieser Erlass, in dem die rot-grüne Landesregierung in
Düsseldorf derartige Kontingente festlegt, widerspricht
eindeutig der Hochschulautonomie.
Diese Einschränkung der Wahlfreiheit erfolgt ohne
erkennbare Rechtsgrundlage. In § 19 des Hochschulrahmengesetzes sind die neuen Studiengänge keinen Einschränkungen unterworfen. Die Möglichkeit der Weiterqualifizierung darf dem Bachelor nicht entzogen
werden. Das müssen wir ernst nehmen. Durch Ihr Vorgehen sinkt die Attraktivität der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge. Das verträgt sich überhaupt nicht mit
den Leitlinien des Bologna-Prozesses, nach denen bis
zum Jahre 2010 alle Studiengänge in Bachelor- und
Masterstudiengänge überführt werden sollen.
Wer den Masterstudiengang kontingentiert, der zerschlägt den Aufbau der neuen, modularisierten Studienstruktur. Das wollen wir nicht.
({10})
Aber so sieht die Realität aus. Das ist die Konsequenz
der rot-grünen Hochschulpolitik, sowohl in NordrheinWestfalen als auch in anderen rot-grün regierten Bundesländern.
({11})
Meine Damen und Herren, wir müssen für die Bachelor- und Masterstudiengänge gemeinsam noch einiges
tun.
({12})
Es gibt noch Probleme im Bereich der Studienangebote
- hier sind die Unternehmen gefordert - und hinsichtlich
der Akzeptanz der Studierenden. Immerhin haben sich
83 Prozent der Unternehmen, der Konzerne in Deutschland bei einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft dafür ausgesprochen, Bachelorabsolventen einzustellen. Die Stimmungslage bei den kleinen und
mittelständischen Unternehmen ist allerdings noch diffus. Dies kann uns nicht zufrieden stellen. Auch war bei
einem Viertel der Studienanfänger im Jahre 2004 der
Studienwunsch in Richtung Bachelor noch nicht vorhanden. Dies zeigt: Wir brauchen eine strategische Allianz
zwischen Hochschulen, Berufs- und Arbeitgeberverbänden sowie öffentlichen und privaten Arbeitgebern, um
ein gemeinsames Bündnis für Bachelor und Master zu
schmieden.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Die CDU/CSUBundestagsfraktion begrüßt den Bologna-Prozess. Wir
fordern, dass er weiter vorangetrieben wird, dass aber
auch die Qualität der neuen Studienfächer und Studiengänge abgesichert wird. Deshalb fordern wir von der
Bundesregierung eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
und eine Abstimmung mit den Bundesländern. Hier können Bundesländer und Bundesregierung nur gemeinsam
arbeiten. Was wir nicht brauchen, ist ein Dirigismus und
eine Profilierungssucht der Bundesregierung auf Kosten
der Länder. Wir brauchen Gemeinsamkeit und dazu fordern wir Sie hiermit auf.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Lazar.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wissen macht nicht an Landesgrenzen Halt. International, flexibel, mobil, so soll unsere Studienlandschaft
aussehen. Qualität, Modernisierung, Transparenz, das
macht unsere Hochschulen wettbewerbsfähig in der
Welt. Zusammen mit unseren europäischen Nachbarn
wollen wir mit dem Bologna-Prozess bis 2010 einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum schaffen.
Wettbewerb um die besten Köpfe bedeutet nicht,
Marktinteressen über alles andere zu stellen.
({0})
Bildung ist ein öffentliches Gut. Vorbei sind glücklicherweise die Zeiten der Klassentrennung, als sich arme Familien für ambitionierte Kinder die Bildung vom Mund
absparen mussten. Wissen darf nicht wieder zur Ware
werden, die keinen anderen Wert als den Geldwert
kennt. Nicht dass Sie mich missverstehen: Wir begrüßen
neue, internationale Angebote und Ansätze im deutschen
Bildungssystem. Wir treten grundsätzlich für die Öffnung des Bildungssektors für private Anbieter ein: So
kann viel Innovatives ins Rollen gebracht werden. Dabei
steht aber für Bündnis 90/Die Grünen Qualitätssicherung im Vordergrund.
({1})
Qualität kann nur gesichert und gesteigert werden, wenn
das Akkreditierungssystem für die Studiengänge noch
verbessert wird. Ohne verbindliche qualitative Standards können Studienleistungen nicht verglichen werden. Die verbesserte Vergleichbarkeit von Studienleistungen sollte zu erhöhter Durchlässigkeit führen, nicht
nur im Hochschulbereich allein, sondern im gesamten
Bildungssystem. Wer von uns würde schon für einen
Bildungsabschnitt ins Ausland gehen, wenn er keine Zusage hätte, dass diese Phase auch in Deutschland anerkannt wird? Würde Herr Koch das tun? Wahrscheinlich
nicht. Dennoch machen Sie sich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, mit Ihrem Antrag zum Erfüllungsgehilfen von Roland Koch.
({2})
Ich sage Ihnen, wohin das führt: zu Kleinstaaterei statt
Europa. Der Föderalismusstreit ist ein großes Hindernis auf dem Weg zu einer attraktiven europäischen Wissenschaftslandschaft.
Dass dadurch auch moderne Arbeitsplätze entstehen
würden, interessiert Sie bei Ihren machttaktischen Spielchen wohl weniger. Bei Arbeitgebern und Studienabgängern führt diese Haltung zu Verunsicherung. Für Bachelor- und Masterstudiengänge beispielsweise fehlen
verbindliche Qualitätsrichtlinien. Die gegenseitige Anerkennung dieser Studiengänge wollen wir sicherstellen.
Außerdem zeigt ein Blick auf die Qualifikationsstufen,
dass die Zahl der Frauen auf dem Weg nach oben immer
geringer wird.
({3})
Deshalb müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass die
Stufe zwischen Bachelor und Master nicht zu einer weiteren Hürde wird. Das Gleiche gilt für finanziell schwächere Studierende. Das bringt mich zur sozialen Dimension des Bologna-Prozesses: Weshalb nehmen viele
Studierende heute kein Auslandsstudium auf? Weil ihnen die finanzielle und soziale Absicherung fehlt. Im
Bologna-Prozess sollen solche Barrieren verschwinden.
Wir wollen die Mobilität von der europäischen Ebene
aus für alle Studierenden sichern, ganz egal, aus welchem Land sie kommen.
Die Bundesregierung hat mit der BAföG-Reform in
der letzten Legislaturperiode die Weichen bereits richtig
gestellt. Deutsche Studierende können ihr BAföG viel
leichter als früher mit ins Ausland nehmen.
({4})
Jede Form von sozialer Auslese im Bildungssystem
muss endlich beseitigt werden. Alle Menschen, nicht nur
die Besserverdienenden, sollen die Chance haben, ihre
Talente zu verwirklichen.
({5})
Wir müssen so viele Akademikerinnen und Akademiker
in Deutschland ausbilden, wie unser Land braucht. Das
wird aber erst möglich, wenn die Hürden für den Hochschulzugang geringer werden.
Mit unserem Koalitionsantrag werden die notwendigen Schritte klar benannt. Wir wollen Vergleichbarkeit
und Transparenz im europäischen Hochschulraum
schaffen, ohne die Vielfalt an akademischen Bildungsmöglichkeiten einzuschränken. Dazu gehört auch die
fachkundige Beratung, die das Bologna-Kompetenzzentrum anbieten soll. Mit großem Interesse und reger
Nachfrage haben Hochschulen und Universitäten bei der
Umstellung auf die gestufte Studienstruktur auf diese
Hilfe reagiert. Wir bekräftigen unser Interesse an bundesweiter Koordination auch mit finanzieller Unterstützung aus dem Bundeshaushalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bologna-Prozess ist eine riesige Chance für alle deutschen Hochschulen und Studierenden. Wenn wir uns den globalen Herausforderungen der Wissensgesellschaft stellen, können
wir im europäischen Verbund wieder Weltspitze werden.
({6})
Das Modell der Kleinstaaterei hat ausgedient. Die Zukunft der Bildung liegt in Europa.
({7})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Hinblick auf die dritte Bologna-Nachfolgekonferenz am 19. und 20. Mai 2005 in Bergen ist es sinnvoll,
dass sich der Bundestag mit dem Stand und dem weiteren Fortgang des Bologna-Prozesses beschäftigt.
Ich will hier einmal festhalten: Ich finde, die Tatsachen, dass dies heute der letzte Tagesordnungspunkt ist
({0})
und dass ich, Herr Küster, für meine Fraktion nur drei
Minuten zu diesem Thema reden darf, sind keine guten
Zeichen für Europa und für das Thema Bildung und Forschung.
({1})
Ich denke, wir sollten uns einig darin sein, dass das
Thema Bildung und Forschung die Zukunftsfähigkeit
unseres Landes unter Beweis stellen wird. Deswegen
müssten wir das eigentlich zum Kernthema dieser Bundestagssitzung machen.
({2})
- An Ihrem lauten Schreien höre ich schon, dass es Ihnen gar nicht mehr um die Sache geht.
({3})
Meine Damen und Herren, der Bologna-Prozess ist
wichtig. Ziel war die Schaffung eines europäischen
Hochschulraums - den wir natürlich unterstützen -, in
dem die verbindliche Einführung der gestuften Bachelor- und Masterstudiengänge und ein europaweit gültiges
Punktesystem für erbrachte Leistungen, für die freie
Wahl des Studienortes und die Anerkennung der Abschlüsse für alle europäischen Studierenden gewährleistet werden.
Deutschland hat aufgeholt.
({4})
Fast 3 000 Bachelor- und Masterstudiengänge werden
nun angeboten. Dies entspricht gegenüber dem Vorjahr
einer Steigerung von circa 60 Prozent. Das ist eine positive Entwicklung. Das darf man an dieser Stelle doch
auch mal deutlich machen.
({5})
Trotzdem habe ich heute bei dieser Debatte große
Bauchschmerzen. Ich finde es nämlich beschämend,
dass wir angesichts der Herausforderung, vor der wir
stehen, einen europäischen Bildungsraum zu schaffen,
immer noch die alten ideologischen Grabenkämpfe des
vergangenen Jahrhunderts führen.
Was meine ich damit?
({6})
- Herr Tauss, bitte schreien Sie nicht so laut.
({7})
Ich denke, dass auch Sie einen ideologischen Grabenkampf führen.
({8})
In dem Antrag der Regierungskoalition führen Sie unnötigerweise wieder die Diskussion um Studiengebühren, sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge. Mit
der für uns an sich völlig selbstverständlichen Forderung, dass auch im Hochschulbereich die emanzipative
Funktion von Bildung gewahrt sein muss, wird unterstellt, dass dies bei sozialverträglichen Studiengebührenmodellen nicht gegeben sei. Wir sind dafür, dass es sozialverträgliche Studiengebührenmodelle gibt. Wir
werden dafür sorgen, dass Studierende aus allen sozialen
Schichten ein Studium antreten können.
({9})
Meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, ich finde es falsch - das will ich betonen -, dass in
Nordrhein-Westfalen bezüglich der Quotierungsversuche beim Übergang vom Bachelor zum Master unseren
Vorstellungen von der Autonomie der Hochschule zuwider gehandelt worden ist. Da gebe ich dem Kollegen
Rachel durchaus Recht.
Gerichtet zur Union muss ich sagen: Ich finde, dass
wir die ideologischen Grabenkämpfe, das ständige Gerangel um Bund- und Länderkompetenzen, beenden sollten.
({10})
Darüber lachen sich die anderen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union doch wirklich kaputt. So kommen
wir auch nicht voran. Herr Gaehtgens, der Präsident der
Hochschulrektorenkonferenz, hat zu Herrn Koch ganz
klar gesagt:
Der Föderalismuskonflikt wird hier an der absolut
falschen Stelle ausgetragen. Koch torpediert ein
sinnvolles Programm aus Gründen, die mit den
Hochschulen nichts zu tun haben.
({11})
Ich gebe Herrn Dr. Gaehtgens durchaus Recht.
Meine Forderung an die SPD, die Grünen, aber auch
an die Union lautet: Lassen wir endlich die ideologischen Grabenkämpfe
({12})
bei der Bildung, bei der Forschung beiseite.
({13})
Wir wollen den Wettbewerb gewinnen. Wir wollen als
deutsche Nation in den Bereichen Bildung und Forschung wieder an die Spitze. Nur so kommt Europa
voran.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter
Rossmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die letzte Bologna-Nachfolgekonferenz fand
am 18. und 19. September 2003 in Berlin statt. Dieses
Parlament hat es damals fertig gebracht, ein paar Tage
nach der Konferenz eine Debatte zum Thema zu führen.
Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Wir
haben uns damals vorgenommen, dass das Parlament vor
der nächsten Bologna-Nachfolgekonferenz, die in Bergen stattfinden wird, zusammenkommen soll, um zu sagen, was es will. Das ist Parlamentarismus im besten
Sinne. Es wäre gut gewesen, wenn wir auch von der
FDP, die bemerkenswerterweise mit einer Person anwesend ist, uns aber vorwirft, dass wir mit zu wenig Abgeordneten vertreten seien - die CDU sagt im Übrigen, sie
will es konstruktiv begleiten -, Vorschläge gehört hätten:
Was will man in Bezug auf Bergen erstens, zweitens,
drittens, viertens, fünftens? Was erwartet dieses Parlament von der Bundesregierung, von der Bundesministerin als einer der Beteiligten? Was soll dort im Sinne des
Parlaments vertreten werden und was nicht?
({0})
Deshalb machen wir es diesmal besser. Wir sagen vor
der Konferenz in Bergen, was dieses Parlament will. Das
ist übrigens schon die Umsetzung dessen, was wir heute
mit großem Getöse im Rahmen der Debatte über die EUVerfassung beschlossen haben: Wenn man Subsidiarität
und demokratische Beteiligung will, dann müssen wir
uns die Sache auch zu Eigen machen, müssen wir unserer Regierung etwas mitgeben. Ansonsten nehmen wir
uns als Parlament nicht ernst.
({1})
Nun drei Feststellungen zur Sache. Der erste Punkt:
Es ist gut, wenn wir zusammen Erfolge verzeichnen
können. Wir stehen gar nicht an zu sagen, dass das immer gemeinsame Erfolge sind. An erster Stelle sind es
die Erfolge der Hochschulen ({2})
die setzen das nämlich um -; an zweiter Stelle sind es die
Erfolge der Länder; an dritter Stelle Erfolge des Bundes.
Lassen Sie uns das in dieser Gemeinsamkeit festhalten,
({3})
denn dadurch gewinnt man mehr Studiengänge, mehr
Studenten in diesen Studiengängen, mehr ausländische
Studierende bei uns und mehr deutsche im Ausland.
Auch die Akkreditierungsagentur, die jetzt auf eine
Stiftungsbasis umgestellt worden ist, ist ein großer Erfolg. Das Bündnis für Akkreditierung bedeutet die
Fortführung des Bologna-Prozesses. Es gibt eine Reihe
von Erfolgen, die wir fantastisch finden. Man muss aber
immer die Reihenfolge beachten: Hochschulen, Länder,
Bund. Sie setzen sich gemeinsam ein.
Die zweite Bemerkung: Wir setzen klare Ziele. Ich
nenne für unsere Seite - SPD und Grüne - fünf Punkte.
Zum Ersten: In Bergen muss darauf gedrungen werden,
dass es Anstrengungen für noch mehr wechselseitige
Anerkennungen von Studienleistungen gibt. In Deutschland muss die Lissabon-Konvention endlich - nachdem
die Justizminister grünes Licht gegeben haben - verabschiedet werden. Wir machen den Vorschlag, dass man,
wenn man schon Akkreditierungssysteme hat, vor allem
einen Austausch der daran Beteiligten braucht. Sie müssen sich zusammenfinden können, damit sie ein Handlungsniveau, ein Qualitätsniveau verabreden können.
Zum Zweiten wünschen wir uns: Die soziale Dimension des Bologna-Prozesses wird immer wichtiger, je
mehr Teilnehmerstaaten es gibt und je mehr Studierende
teilnehmen; deshalb muss die soziale Dimension in
Bergen intensiver behandelt werden, als es in Berlin
noch der Fall war. Wir fordern, erst einmal eine Datenbasis zu schaffen, damit auf dieser Grundlage Förderprogramme wie BAföG, ERASMUS, ERASMUS Mundus
und die anderen Förderprogramme der EU endlich an die
Menschen herangeführt werden können. Das wird im
Übrigen auch mehr Mittel erfordern.
({4})
Drittens. Wenn es in diesem gestuften System zu verstärkter Mobilität von Studierenden kommt, was wir
wollen, müssen auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter
mithalten können. Wir wünschen uns für die Konferenz
in Bergen eine Initiative, bei der auch für das wissenschaftliche Personal im europäischen Hochschul- und
Forschungsraum ein erkennbarer klarer Handlungsrahmen für mehr Mobilität und Austausch gefunden wird.
Viertens. Die duale Struktur setzt sich bisher aus Bachelor- und Masterstudiengang zusammen. Aber sie erstreckt sich auch auf Promotionen; das haben wir schon
in der damaligen Debatte im September 2003 gesagt.
Auch für den Promotionsraum muss es eine Strukturierung geben, die in Deutschland mit rund 400 Einrichtungen dieser Art in Form von Graduiertenkollegs bis hin zu
Research Schools gefunden ist. Aber das muss sich auch
im Bologna-Raum abspielen.
Fünftens. Wir sehen einen neuen Gedanken darin,
dass auch die Anerkennung von beruflicher Qualifikation, von Vorleistungen, Zertifikaten und Diplomen,
die erreicht worden sind, im Hochschulsystem stärker
berücksichtigt werden muss.
Hierzu eine kleine Anmerkung: Der Kollege
Schummer und ich waren neulich beim Technikertag in
Deutschland. Die Techniker haben Sorge, wo in der gestuften Bachelor- und Masterstruktur ihre Qualifikation
bleibt. Das ist eine hohe Qualifikation. Wenn wir das
nicht national thematisieren und international möglich
machen, versündigen wir uns an einem ganz wichtigen
Qualifikationsweg.
({5})
Damit komme ich zum dritten und letzten Teil. Dies
können und sollten wir hoffentlich gemeinsam konstruktiv weiterdiskutieren. Alles, was man zu Herrn Koch sagen kann, ist schon gesagt worden. Ich bitte um eines:
Wenn sich dieses Parlament ernst nimmt, dann kann es
mit dem Antrag der CDU/CSU in fairer Abstimmung so
umgehen, dass wir ihn wegstimmen. Dann findet er Platz
in der Chronik polemisch-parlamentarischer Anträge.
Wir bitten umgekehrt darum: Stimmen Sie dem Antrag
von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu, in dem
wirklich konkrete Forderungen für die Konferenz von
Bergen genannt sind.
Denn der Unterschied zwischen unseren Anträgen ist:
Ihren Antrag könnte man auf der Konferenz in Bergen
nicht auf den Tisch legen, weil ihn niemand verstehen
und sich jeder fragen würde: Was spielen sich in
Deutschland für Krähwinkeleien, für Rangeleien ab?
({6})
Niemand der 40 Teilnehmerstaaten würde nachvollziehen können, was wir uns da parlamentarisch leisten. Der
Antrag von SPD und Grünen würde dagegen als ein Dokument des Parlaments aufgenommen werden, das im
Vorwege der Regierung klar macht, was auf der Konferenz in Bergen vertreten werden soll. Das ist guter Parlamentarismus. Je breiter die Zustimmung zu diesem Antrag ist, desto mehr Nachdruck gibt es für das, was auf
der Konferenz in Bergen für die Studierenden in
Deutschland und in 40 anderen Ländern erreicht werden
muss.
({7})
In diesem Sinne hoffen wir auf Sachlichkeit, Konstruktivität und ein gutes Arbeiten für die Konferenz von Bergen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! An deutschen Hochschulen vergeht
kaum eine Woche, in der nicht eine Tagung zum Thema
Bologna-Prozess stattfindet. Das macht deutlich, welche
Stellung der Bologna-Prozess in Deutschland mittlerweile einnimmt.
Wie kaum ein anderes Schlagwort hat der BolognaProzess die Debatte um die Reform der deutschen Hochschulen mitbestimmt. Die Nachfolgekonferenz in Bergen in gut einer Woche bietet nun die Gelegenheit, ein
Resümee zu ziehen und die Aufgaben für die nächsten
zwei Jahre bis zur Nachfolgekonferenz in London abzustecken. Geplant ist, dass weitere fünf Länder am Bologna-Prozess teilnehmen sollen. Mit der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Moldawien werden
sich dann 45 Staaten am Bologna-Prozess beteiligen.
Hier kann ich nur meine Skepsis wiederholen, die ich
bereits vor zwei Jahren vorgebracht habe. Die Heterogenität der Bologna-Staaten nimmt erheblich zu, verstärkt damit die Anpassungsschwierigkeiten und stellt
den langfristigen Erfolg infrage. Wir müssen auch in Zukunft aufpassen, dass der Bologna-Prozess und damit die
Idee eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes
nicht durch ungeeignete Teilnehmerstaaten verwässert
werden.
Wenn wir heute über die Umsetzung des BolognaProzesses in Deutschland debattieren, dann geht es vor
allem um zwei Dinge: die erfolgreiche Einführung des
gestuften Systems und den Aufbau der Qualitätssicherung in Form des Akkreditierungswesens. Über
2 900 Studiengänge werden im Sommersemester 2005
an den deutschen Hochschulen angeboten. Dies entspricht einem Viertel des gesamten Studienangebotes.
Allerdings gibt es noch ein ganz erhebliches Akzeptanzproblem - auch Sie haben davon gesprochen - bei der
gestuften Studienstruktur.
Die letzten verfügbaren Zahlen aus dem Wintersemester 2003/2004 weisen nur 5,3 Prozent der Studierenden in den neuen Studiengängen aus. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Diskussion über den
Bologna-Prozess lange Zeit nur ein Erfahrungsaustausch
unter Experten war, der am Parlament vorbeilief und von
der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Dieses Versäumnis ist nur schwer wieder aufzuholen.
Die Unsicherheit ist an vielen Stellen groß, sowohl bei
den Studierenden und Professoren als auch bei den Arbeitgebern.
Mit der Bundestagsanhörung zum Bologna-Prozess
im vergangenen Jahr haben wir einen wichtigen Beitrag
geleistet, auf diese Unsicherheit einzugehen und die Öffentlichkeit auf die anstehenden Umwälzungen hinzuweisen. Der Aufklärungsbedarf bleibt allerdings groß.
In den vergangenen Jahren gab es daher zahlreiche einvernehmliche Modellversuche von Bund und Ländern, die sich mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses beschäftigten. Darüber hinaus unterstützen
zahlreiche Bundesländer die Umsetzung der BolognaZiele durch eigene Programme und Fördermaßnahmen.
Bayern beispielsweise hat im vergangenen Jahr eine
breit angelegte Informationsoffensive zu Bachelor und
Master gestartet.
({0})
Angesichts des bisherigen Modus Vivendi ist das
Handeln des BMBF mehr als befremdend. Ohne Absprache und Einverständnis der Länder unterstützt das
Ministerium mit Bundesmitteln die Bologna-Servicestelle bei der Hochschulrektorenkonferenz.
({1})
Bei aller Begeisterung für den Bologna-Prozess müssen
wir die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes beachten.
({2})
Eine Neuordnung der Kompetenzen durch die Hintertür
ist mit uns nicht zu machen.
({3})
Deswegen auch die Klage der Länder Hessen und Bayern vor dem Bundesverfassungsgericht. Wir sind nicht
bereit, nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“ stillzuhalten und den Geldfluss contra legem an die
HRK zu dulden. Denn die Methode der rot-grünen Bundesregierung hat System. Seit 1998 versuchen Sie unentwegt, mit einer Politik des goldenen Zügels Abhängigkeiten zu schaffen und die Länder zu hintergehen. So
erreichen Sie keine beschleunigte Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland.
({4})
Ich kann die Bundesministerin nur auffordern: Kehren
Sie wieder auf den Weg einer geordneten Kooperation
zurück.
Die Achillesferse für eine reibungslose Umsetzung
der Ziele des Bologna-Prozesses ist und bleibt
({5})
die Qualitätssicherung der neuen Studienabschlüsse.
Erst dann, wenn Bachelor und Master mindestens den
gleichen, wenn nicht sogar einen höheren Standard als
die bisherigen Abschlüsse aufweisen, verschwindet die
Skepsis.
({6})
Diesem Anliegen muss die Akkreditierung in vollem
Umfang Rechnung tragen. Wenn wir heute über die Beschleunigung des Bologna-Prozesses debattieren, dann
müssen wir auch ganz klar herausstreichen: Das bisherige Akkreditierungsverfahren erwies sich in den letzten
Jahren als Flaschenhals. Sechs Agenturen stehen
12 000 Studiengängen gegenüber.
({7})
Momentan sind erst 800 Studiengänge akkreditiert.
1 300 befinden sich im laufenden Verfahren. In wenigen
Jahren steht die Reakkreditierung der Studiengänge an.
Selbst mit der verstärkten Clusterakkreditierung von
Studiengängen kann dieser Andrang nicht dauerhaft bewältigt werden. Ebenso stellt sich die Frage, woher eigentlich die vielen Sachverständigen kommen sollen, die
die Begutachtung vor Ort durchführen können und müssen.
Einen richtigen Lösungsansatz bietet hier die institutionelle Akkreditierung ganzer Hochschulen. Der
Wissenschaftsrat praktiziert dieses Verfahren bereits seit
einigen Jahren bei privaten Fachhochschulen mit Erfolg.
Die in dieser Woche gelaufene Anhörung zu den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften hat ganz eindrucksvoll bestätigt, dass die institutionelle Akkreditierung in diesen Fächern von erheblichem Vorteil wäre.
Ich appelliere deshalb an alle Verantwortlichen, diesen
Weg zu forcieren und damit den Geisteswissenschaften
Bürokratieabbau und damit Zeit zu gewähren. Das sind
Dinge, die dort vorrangig benötigt werden.
Mit der Überführung des Akkreditierungsrates in
eine Stiftung des öffentlichen Rechts zum 1. Januar
2005 haben die Länder einen wichtigen Eckstein zur
Etablierung eines anerkannten Akkreditierungssystems
gesetzt. Zusammen mit den Akkreditierungsagenturen
kann der umstrukturierte Akkreditierungsrat dazu beitragen, die neue Studienstruktur in Deutschland zu verankern, die Akkreditierungsverfahren effizienter zu gestalten und in der Öffentlichkeit die Akzeptanz der neuen
Abschlüsse zu verstärken. Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses und der enge Zeitrahmen zur Umsetzung erfordern auch in Zukunft eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern.
Besten Dank.
({8})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen. Zunächst kommen wir zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 15/5465, mit dem Titel
„Kooperation von Bund und Ländern in der Hochschulpolitik verstärken - Umsetzung des Bologna-Prozesses
in Deutschland beschleunigen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU
bei Enthaltung der FDP angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5286 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5449 mit
dem Titel „Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewährleisten - Länderkompetenzen beachten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Die FDP hat
sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Peter H. Carstensen ({0}),
Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Ländliche Räume durch eine moderne und innovative Landwirtschaft stärken und damit
Arbeitsplätze sichern
- Drucksache 15/5249 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Die Abgeordneten Drobinski-Weiß, Wolff, Mortler,
Schulte-Drüggelte, Ostendorff und Happach-Kasan ha-
ben gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) -
Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so und kön-
nen gleich zur Überweisung kommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5249 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
1) Anlage 8
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und
des Holzabsatzfondsgesetzes
- Drucksache 15/4641 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3})
- Drucksache 15/5468 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gustav Herzog
Bernhard Schulte-Drüggelte
Cornelia Behm
Dr. Christel Happach-Kasan
Hier haben die Abgeordneten Hiller-Ohm, Herzog,
Caesar, Schulte-Drüggelte, Behm und Happach-Kasan
gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.2) - Sie
sind einverstanden.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatz-
fondsgesetzes, Drucksache 15/4641. Der Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5468, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit dem eben festge-
stellten Stimmenverhältnis angenommen: SPD und
Bündnis 90/Die Grünen dafür, CDU/CSU und FDP da-
gegen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/5468 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan-
zen Hauses einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Dr. Maria Flachsbarth, Dr. Klaus W.
2) Anlage 9
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Lippold ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Langfristiges Gesamtkonzept zur Reduzierung der Schadstoffbelastung in der Luft notwendig
- Drucksache 15/5330 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Hier bitten die Abgeordneten Klug, Flachsbarth,
Hermann, Homburger und der Staatsminister Dr. Werner
Schnappauf aus Bayern, die Reden zu Protokoll geben
zu dürfen.1)
({6})
Wir verfahren so. Trotz geäußerten Bedauerns erkenne
ich Zustimmung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5330 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“
- Drucksache 15/4998 ({7}) ({8})
a)Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
- Drucksache 15/5485 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
b)Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5490 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({11})
Walter Schöler
Otto Fricke
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
1) Anlage 10
Hier haben die Abgeordneten Weis, Blank, Sowa,
Otto und der Staatssekretär Großmann gebeten, die Re-
den zu Protokoll zu nehmen.2) - Mit Ihrer Zustimmung
verfahren wir so.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5485,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Auch das scheint das ganze Haus zu sein. - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig in der dritten
Beratung angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5495. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen von SPD, vom
Bündnis 90/Die Grünen und von der CDU/CSU gegen
eine Stimme aus der FDP und bei Enthaltung der beiden
Abgeordneten Pau und Lötzsch.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Stefan
Müller ({12}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Einführung von Real Estate Investment Trusts
in Deutschland
- Drucksache 15/4929 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
Es ist keine Aussprache vorgesehen. Die Abgeordneten Hauer, Müller ({14}), Krüger-Jacob und
Fricke bitten, ihre Reden zu Protokoll3) zu nehmen. - Sie
sind einverstanden. Dann verfahren wir so.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4929 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
2) Anlage 11
3) Anlage 12
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und
Anwartschaftsüberführungsgesetzes
- Drucksache 15/5314 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({16})
- Drucksache 15/5488 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Die Abgeordneten Lotz, Michalk und Bender haben
gebeten, ihre Reden zu Protokoll1) zu nehmen. Wir verfahren auch so.
Die Abgeordnete Pau wird aber sprechen und erhält
damit jetzt das Wort.
({17})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 23. Juli 2004 hat das Bundesverfassungsgericht
geurteilt: Das geltende Recht für zahlreiche Bürgerinnen
und Bürger der DDR in der Bundesrepublik ist verfassungswidrig. Das Ganze hat eine Vorgeschichte, an der
alle bisherigen Bundesregierungen beteiligt waren. Der
gewollte Kardinalfehler war: Das Rentensystem sollte
als Strafsystem missbraucht werden. Die PDS hat immer
gemahnt, dass das sachfremd und politisch falsch ist.
({0})
Es ist auch rechtlich falsch, wie das Verfassungsgericht
festgestellt hat.
Nun soll es erneut geändert werden. Aber auch mit
der heute zur Abstimmung stehenden Vorlage bleibt der
Kardinalfehler erhalten. Auch das neue Gesetz bricht
nicht mit dem eingeführten Rentenstrafrecht. Es verschärft es sogar. Mit dem von Ihnen eingefügten Stichtag
sollen auch Mitglieder der so genannten Regierung der
nationalen Verantwortung, der Modrow-Regierung, wie
auch die DDR-Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil oder
posthum der unbequeme bündnisgrüne Demokrat
Wolfgang Ullmann und übrigens auch der Kollege
Eppelmann mit Rentenentzug bestraft werden. Wer so
etwas vorlegt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er
als inkompetent und unsozial kritisiert wird.
({1})
Aber es geht heute nicht nur um Inkompetenz. Es geht
auch um Vorsatz und um Unrecht. Im aktuellen Ände-
1) Anlage 13
rungsgesetz steht die Rente aus staatsnahen Versorgungssystemen der DDR und für damalige Abteilungsleiter im Staatsapparat zur Diskussion. Das muss
geändert werden. Aber das verfügte Unrecht geht viel
weiter. So haben zum Beispiel Ingenieure und weitere
Beschäftigte der Interflug - der DDR-Luftfahrtgesellschaft - Beiträge für eine Zusatzrente gezahlt, die ihnen
nach der Vereinigung schlicht aberkannt wurden.
({2})
Ich könnte weitere Beispiele zum Rentenunrecht nennen. Sie erinnern sich vielleicht, dass sich Balletttänzerinnen und -tänzer in der DDR versichern konnten, weil
ihre Berufsperspektive überschaubar und altersbegrenzt
war. Es ging dabei nie um unangemessene Reichtümer.
Es ging vielmehr um bezahlte soziale Sicherheiten im
Alter.
({3})
Auch diese wurden nach der Wiedervereinigung getilgt.
Alle, die das Rentenunrecht nicht hinnehmen wollten,
mussten sich durch die Instanzen klagen. Die PDS hat
sie dazu ständig ermutigt. Zumeist haben sie vor dem
Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Das
spricht gegen die Politik der Bundestagsmehrheit; denn
fast alle Fraktionen in diesem Haus haben das Rentenstrafrecht befürwortet. Die PDS war und ist dagegen,
weil wir es ablehnen, dass ein Versicherungssystem politisch missbraucht wird.
({4})
Ich bin ebenfalls dagegen, dass DDR-Bürger länger diskriminiert werden, nur weil sie Bürger der DDR waren.
So wird zum Beispiel in Bayern auf Fragebögen noch
immer als verfassungsfeindlich verdächtigt, wer zu
DDR-Zeiten Bienen gezüchtet hat oder mit Mitmenschen solidarisch war.
Deshalb abschließend: Ich verteidige hier heute
Abend nicht die DDR, sondern ich rede gegen den Blödsinn, der nun in der Bundesrepublik verzapft wird.
({5})
Das Rentenstrafrecht gehört dazu; es ist Unrecht. Deshalb bin ich dagegen.
({6})
- Noch so viel zu Ihren Zurufen: Reden Sie einmal mit
den Opferverbänden! Sie werden sich vielleicht erinnern, dass wir den Anträgen der konservativen Opposition auf eine angemessene und erleichterte Entschädigung von Opfern der SED stets zugestimmt und hier
selber entsprechende Anträge eingebracht haben. Aber
man kann nicht eines gegen das andere aufrechnen. Das
sind zwei unterschiedliche Dinge.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Die Abgeordneten Hacker und Lohmann haben nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung zur Ab-
stimmung zu Protokoll gegeben1).
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/5488, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die
Stimmen der Abgeordneten Lötzsch und Pau angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Conny Mayer ({0}), Dr. Christian Ruck,
Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Frauen in den Krisenregionen SubsaharaAfrikas stärken
- Drucksache 15/4390 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Abgeordneten Schmidt ({2}), Groneberg,
Eymer, Mayer ({3}) und Heinrich sowie die Par-
lamentarische Staatssekretärin Uschi Eid haben gebeten,
ihre Reden zu Protokoll zu nehmen2). Wir verfahren so.
Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4390 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({4})
1) Anlage 7
2) Anlage 14
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Cornelia Behm, Volker Beck ({5}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wälder naturnah bewirtschaften - Waldschäden vermindern - Gemeinwohlfunktionen sichern und Holzabsatz steigern
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cajus Julius Caesar, Peter H.
Carstensen ({6}), Gerda Hasselfeldt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Waldzustandsbericht 2004
- Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Daniel Bahr ({7}), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Bessere Rahmenbedingungen für die
Charta für Holz
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Waldzustandsbericht 2004
- Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni-
torings -
- Drucksachen 15/4516, 15/4502, 15/4431,
15/4500, 15/5356 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Cajus Julius Caesar
Cornelia Behm
Dr. Christel Happach-Kasan
Hier haben die Abgeordneten Hiller-Ohm,
Auernhammer, Caesar, Behm und Happach-Kasan ge-
beten, ihre Reden zu Protokoll zu nehmen3). Wir verfah-
ren mit Ihrer Zustimmung so.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er-
nährung und Landwirtschaft, Drucksache 15/5356. Unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
schuss in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2004 der
Bundesregierung auf Drucksache 15/4500 die Annahme
des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4516 mit dem
Titel „Wälder naturnah bewirtschaften - Waldschäden
vermindern - Gemeinwohlfunktionen sichern und Holz-
absatz steigern“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
3) Anlage 15
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/
CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
Waldzustandsberichts 2004 die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/4502 zum genannten Waldzustandsbericht. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des
Waldzustandsberichtes 2004 die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP, Drucksache 15/4431, mit dem Titel „Bessere Rahmenbedingungen für die Charta für
Holz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung
der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf
gesundheitliche Auswirkungen
- Drucksache 15/4604 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Abgeordneten Jäger, Braun, Wittlich, Kauch und
die Parlamentarische Staatssekretärin Probst haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4604 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 15/5408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Hier nehmen wir mit Ihrer Zustimmung die Reden der
Abgeordneten Rehbock-Zureich, Lintner, Schmidt
({10}), Friedrich ({11}) und des Parlamenta-
rischen Staatssekretärs Großmann zu Protokoll1).
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta
Connemann, Marlene Mortler, Ursula Heinen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Mehr Verbraucherschutz durch eindeutigere
Kennzeichnung und sendungsbezogene Rückstandsuntersuchungen von Geflügelfleischimporten in die EU aus Drittländern
- Drucksache 15/5247 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Die Abgeordneten Zöllmer, Connemann, Höfken und
Goldmann haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll ge-
ben zu dürfen.2) - Mit Ihrer Zustimmung verfahren wir
so.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wenn wir eine Aussprache zu sämtlichen Tagesordnungspunkten durchgeführt hätten, wären wir ungefähr
um 3.30 Uhr fertig gewesen. So sind wir nun am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.
({13})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Mai - nicht vergessen! -, 9 Uhr, ein. Ich wünsche den Kollegen einen
schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.