Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen allen ei-
nen guten Morgen und uns einen erfolgreichen Tag.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige
Tagesordnung um die Beratung eines Antrags zu erwei-
tern, nämlich um die Beratung des Antrags der FDP-
Fraktion „Keine deutsche Beteiligung an MEADS“ auf
der Drucksache 15/5336. Dafür soll der Tagesordnungs-
punkt 23 in Verbindung mit Zusatzpunkt 12 abgesetzt
werden.
Außerdem sollen die Anträge betreffend die Nutzung
der Kyritz-Ruppiner Heide auf den Drucksachen 15/4792,
15/4956 und 15/5047 nachträglich dem Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit sowie dem Ausschuss für Ver-
braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Mit-
beratung überwiesen werden.
Darf ich Ihr Einverständnis mit den gerade vorgetra-
genen Veränderungen feststellen? - Das sieht so aus.
Dann bedanke ich mich dafür herzlich. Es fängt gut an.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan
UNMIS ({1}) auf
Grundlage der Resolution 1590 ({2}) des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom
24. März 2005
- Drucksachen 15/5265, 15/5343 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({3})
Fritz Kuhn
Dr. Werner Hoyer
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5367 Berichterstattung:
Abgeordnete Alexander Bonde
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Dietrich Austermann
Über die Beschlussempfehlung zu diesem Antrag
werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch
dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Brigitte Wimmer für die SPD-Fraktion das
Wort.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach jahrelangen Vermittlungsversuchen der internationalen Gemeinschaft unterzeichneten die sudanesische
Regierung und die Südsudanesische Volksbefreiungsbewegung, SPLM/A, am 9. Januar 2005 in Nairobi einen
Friedensvertrag. Mit diesem Friedensvertrag wurde der
jahrzehntelange schreckliche Bürgerkrieg zwischen der
sudanesischen Regierung und den Rebellen formell beendet. Dieser mehr als 20-jährige Krieg hat circa
2 Millionen Menschen das Leben gekostet und
4 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen bzw.
Flüchtlingen gemacht.
Das Friedensabkommen zwischen sudanesischer Regierung und SPLM/A sieht vor, dass die sudanesischen
Streitkräfte innerhalb von zweieinhalb Jahren aus dem
Gebiet des Südsudans abziehen. Die SPLM/A hat sich
verpflichtet, innerhalb eines Jahres aus den Gebieten der
Nubaberge und des Südlichen Blauen Nils abzuziehen.
Außerdem müssen die zahlreichen Milizenverbände innerhalb eines Jahres entweder entwaffnet oder in die sudanesische Armee oder in die SPLM/A eingegliedert
werden. Nach einer sechsjährigen Übergangsperiode, die
im Juli 2005 beginnen soll, ist für 2011 ein Referendum
der Bevölkerung des Südsudans über den Verbleib in einem Gesamtsudan vorgesehen.
Redetext
Brigitte Wimmer ({0})
Durch den Friedensschluss, für dessen Zustandekommen wir von Bundestag und Bundesregierung uns immer
eingesetzt haben, besteht ein Ansatz für eine friedliche
Entwicklung im gesamten Sudan und - was auch wichtig
ist - für die Rückkehr der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen.
({1})
Die Umsetzung des Friedensabkommens wird in hohem Maße davon abhängen, wie die Unterstützung der
internationalen Gemeinschaft gelingt. Von der Präsenz
einer internationalen Friedenstruppe erhoffen wir uns
insbesondere eine positive Wirkung auf die im Sudan
bestehenden anderen Konflikte.
Wir diskutieren heute über die Entsendung deutscher
Soldatinnen und Soldaten in den Südsudan, nicht aber
- das unterstreiche ich ausdrücklich - nach Darfur. Allerdings vergessen wir auch die Menschen in Darfur, die
unter einer schrecklichen Situation, einer schrecklichen
Bedrohung und schrecklicher Gewalt leiden müssen,
heute Morgen nicht.
({2})
Von einem erfolgreichen Friedensprozess im Südsudan kann eine positive Wirkung auf den Konflikt in
Darfur ausgehen. Ich erinnere daran, dass die Bundesregierung ihr Engagement im Sudan angesichts der dramatischen Situation in Darfur erheblich ausgeweitet hat und
sich immer wieder für eine Beendigung des Darfurkonflikts und anderer schwelender Konflikte einsetzt.
({3})
Insbesondere hat sie die in Darfur tätige Überwachungsmission der Afrikanischen Union, AMIS, finanziell,
politisch und materiell sowie im Dezember 2004 durch
einen von der Bundeswehr durchgeführten Transport
gambischer Soldaten nach Darfur unterstützt.
Auch die Aufgabe von UNMIS ist es, Beratungs- und
Unterstützungsleistungen für AMIS zu erbringen, um
die Koordinierung zwischen beiden Missionen zu erleichtern. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen
wird mit der Resolution aufgefordert, bis zum 23. April
dieses Jahres zu berichten, auf welche Weise dies geschehen kann. Operative Einsätze von UNMIS in Darfur
sind nicht vorgesehen. Ich halte es für ausgesprochen
klug, dass diese Verbindung durch die Resolution der
Vereinten Nationen und den Antrag der Bundesregierung
hergestellt wird. Das macht einerseits deutlich, dass wir
den Friedensvertrag für den Südsudan unterstützen und
zum Erfolg führen wollen, und andererseits, dass wir im
Rahmen von AMIS die Anstrengungen der Afrikanischen Union unterstützen, im Darfurkonflikt selbst Verantwortung zu übernehmen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist noch ein weiter Weg, bis im Sudan tatsächlich Frieden herrscht. Dort
gibt es fast nichts. Der Süden ist noch nie entwickelt
worden. Das wenige, das vorhanden war, ist zerstört, die
Siedlungen ebenso wie Brunnen und Brücken. Es gibt
kaum sauberes Trinkwasser, keine Schulen und keine
Kliniken. Arbeitsgeräte für die Landwirtschaft fehlen.
Was es allerdings überreichlich gibt, sind Minen. Niemand weiß ganz genau, wo sie liegen. Daher drängt das
UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge darauf, dass die
Flüchtlinge langsam zurückkehren. Außerdem hat der
UNO-Generalsekretär darauf hingewiesen, dass innerhalb der nächsten zwei Wochen 2 Millionen Menschen
im Südsudan auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind.
Es ist gut, dass auf der Geberkonferenz in Oslo mehr
als 2 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe zugesagt
wurden. Auch wir beteiligen uns an dieser Hilfe. Ich unterstütze aber ausdrücklich die Aussagen von Frau
Staatsministerin Müller und von Frau Wieczorek-Zeul,
dass wir diese Mittel nicht der Regierung in Khartoum,
sondern Hilfsorganisationen zukommen lassen.
({5})
Solange in Khartoum eine solche Politik betrieben wird,
wie es gegenwärtig der Fall ist, können wir dorthin keine
finanziellen Mittel schicken.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem heutigen Beschluss senden wir bis zu 75 Soldatinnen und Soldaten, vor allem als Militärbeobachter, in den Einsatz im
Sudan. Das tun wir in der Hoffnung, dadurch einen Beitrag zu leisten, den Friedensvertrag abzusichern und mitzuhelfen, dass für die Menschen im Sudan nach
20 Jahren des Bürgerkriegs eine erfahrbare friedliche
Entwicklung möglich wird. Wir wissen, dass diese Entscheidung trotz aller Unterstützung auf dem Prinzip
Hoffnung beruht und nicht ohne Risiko ist.
Ich schließe mit dem herzlichen Wunsch, dass alle zu
entsendenden Soldatinnen und Soldaten ihre Arbeit so
leisten können, wie es notwendig ist, und dass sie vor allem wohlbehalten und gesund wieder zu uns zurückkehren.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Friedensabkommen von Nairobi vom
9. Januar dieses Jahres wurde der älteste und einer der
blutigsten Bürgerkriege in Afrika beendet. Der Vertrag
zwischen der sudanesischen Regierung und der südsudanesischen SPLM/A, der Befreiungsarmee, sieht
verschiedene Stufen vor: Wir haben jetzt einen Waffenstillstand; der Friedensprozess kann damit erst beginnen.
In der ersten Phase, die bis Juli geht, sollen die Truppen
entflochten werden; die Milizen werden entwaffnet und
teilweise in reguläre Armeeverbände überführt. Wir haben bis jetzt sehr wenig Überblick darüber, wie weit das
geschehen ist. Es ist aber Voraussetzung, dass dies bis
zum Juli durchgeführt wird, damit in der sechsjährigen
Übergangsphase, die Anfang Juli beginnen soll, eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden kann.
Die SPLM/A-Vertreter gehen in die Zentralregierung in
Khartoum. Nach drei Jahren, also nach der Hälfte der
Übergangszeit, sind Wahlen vorgesehen. Es ist erforderlich, sofort mit der Vorbereitung dieser Wahlen zu beginnen; denn es wäre ein verheerendes Signal, wenn unter
den Augen einer UN-Mission im Sudan in drei Jahren
Wahlen stattfänden, deren Legitimität ähnlich zweifelhaft wäre, wie wir es zuletzt in Simbabwe und leider
auch in anderen afrikanischen Staaten erlebt haben.
2011, am Ende der Übergangsfrist - Frau Kollegin
Wimmer hat es gesagt -, soll im Süden darüber abgestimmt werden, ob er im Sudan verbleibt oder einen eigenen Staat bildet.
Die Vertragspartner des Nairobier Abkommens haben
heute völlig unterschiedliche politische Vorstellungen
darüber, was nach 2011 geschehen soll. Der Chef der
Rebellenorganisation, John Garang, wird Mitglied der
Regierung in Khartoum. Er wird voraussichtlich auch
bei den Wahlen in drei Jahren antreten und könnte sich
vorstellen, Staatspräsident eines integren Gesamtsudans
zu werden. Seine Stellvertreter und die übrige Führungsschicht der SPLM/A erklären aber bis zum heutigen
Tage, dass es das ausschließliche Ziel dieser Übergangsfrist sein kann, am Ende einen unabhängigen Staat zu
haben. Deswegen wird es ganz erheblich darauf ankommen, wie dieser Prozess in den nächsten Jahren gestaltet
wird. Es ist ein Präzedenzfall für Gesamtafrika. In dem
Friedensabkommen steht nämlich, dass in dieser Übergangszeit die Rebellen im Süden dort die Verantwortung
für die Verwaltung übernehmen. Es kommt jetzt darauf
an, dass diese Zeit genutzt wird, die Lebensbedingungen
der Menschen zu verbessern.
Das Friedensabkommen ist unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft zustande gekommen. Jetzt
muss die internationale Gemeinschaft auch helfen,
dass sich die Standards wesentlich verbessern, dass eine
funktionierende Verwaltung aufgebaut wird, dass eine
funktionierende Justiz entsteht, dass die Infrastruktur
verbessert wird, dass die Lebensmittelversorgung der
Bevölkerung ohne permanente Nothilfe gewährleistet
werden kann. Bei der Geberkonferenz, die kürzlich in
Oslo stattgefunden hat, hat sich die internationale Gemeinschaft auf die Instrumente der hergebrachten
Finanzhilfe beschränkt. Das wird nicht ausreichen, um
den politischen Prozess in den nächsten Jahren erfolgreich zu begleiten.
({0})
Da die neue Regierung für das gesamte Land zuständig ist, ist es logischerweise konsequent, dass sich auch
das Mandat der Vereinten Nationen, mit dem die Umsetzung des Friedensabkommens unterstützt werden soll,
auf das ganze Land erstreckt. Die neue Regierung der
nationalen Einheit muss auch das Problem in Darfur bewältigen. Deswegen ist es richtig, dass in dem Mandat
der Vereinten Nationen und in dem Antrag der Bundesregierung auch eine Unterstützung für die AMIS-Mission in Darfur explizit genannt wird. Die Bundesregierung hat gesagt, das mandatierte Gebiet sei der gesamte
Sudan und das Einsatzgebiet sei das durch den NordSüd-Konflikt betroffene Territorium. Sie hat uns noch
einmal versichert, die Obleute des Auswärtigen und des
Verteidigungsausschusses vorab zu unterrichten, wenn
Soldaten außerhalb des Schwerpunktgebietes des UNMISEinsatzes tätig werden sollen. Gleichzeitig sichert sie
uns zu, dass sie einem solchen Einsatz nicht zustimmen
werde, wenn es erhebliche Bedenken im Kreise der Obleute und der Vorsitzenden der Ausschüsse gebe. Wir
halten das ausdrücklich für richtig und begrüßen diese
Protokollnotiz.
Die AMIS-Mission, die wir mandatiert haben, hat
bisher sehr schwache Ergebnisse gezeigt. Wir haben uns
alle gewünscht, dass die Afrikanische Union nicht das
gleiche Schicksal erleidet wie vorher die OAU und dass
sie bei Menschenrechtsverletzungen und schweren humanitären Katastrophen eingreift. Sie ist dazu bisher nur
sehr unzulänglich in der Lage. Im Rahmen des von uns
erteilten Mandates hat die Bundeswehr bisher einen
Transportflug durchgeführt und dabei 196 gambische
Soldaten transportiert. Es wird in den nächsten Jahren
auch darauf ankommen, ob die Gemeinschaft der afrikanischen Staaten in der Lage ist, Konflikte auf ihrem
Kontinent mit regionalen Mitteln zu lösen. Auch dabei
müssen wir sie unterstützen.
({1})
Wir haben ein humanitäres Interesse daran, dass der
Friedensprozess im Sudan friedlich verläuft. Wir haben
aber auch ein Sicherheitsinteresse. Der Sudan liegt am
Seeweg zwischen Europa und dem südlichen und östlichen Asien, also an einer strategisch ganz entscheidenden Verkehrsverbindung. Wenn dort ein zerfallener Staat
entstünde - ähnlich wie in Somalia -, dann hätte das auf
unsere Versorgungssicherheit, angesichts des Terrorismusproblems aber auch auf die Gesamtsicherheit der
Europäer erhebliche Auswirkungen. Wir wünschen uns
deshalb, dass es im Sudan künftig nicht nur eine bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und der neuen Regierung im Sudan
gibt, sondern dass auch die Europäische Union dort stärker sichtbar wird. Der jetzt entstehende europäische diplomatische Dienst muss gerade in den Regionen der
Welt, in denen es gesamteuropäische Interessen gibt,
stärker operativ tätig und sichtbar werden.
({2})
Angesichts der Laufzeit des Friedensvertrages ist dort
mit einem sehr langen Einsatz zu rechnen. Wir stimmen
der Mandatierung des Einsatzes auf zunächst sechs
Monate zu und unterstützen die Bundesregierung auch
bei der politischen Begleitung dieser militärischen Mission.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
heute über das Mandat zur Entsendung von Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Mission der Vereinten Nationen UNMIS zu entscheiden.
Durch UNMIS soll die Einhaltung des am 9. Januar
dieses Jahres in Nairobi beschlossenen Friedensvertrages zwischen Nord- und Südsudan überwacht werden.
Dieser Friedensvertrag ist in der Tat ein historischer
Schritt. Durch ihn wird einer der längsten und blutigsten
Bürgerkriege Afrikas beendet. Ich bin im Februar im
Südsudan gewesen. Man kann nur sagen, dass die Menschen dort nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges wirklich
bei null anfangen. Es fehlt an allem: Infrastruktur, Schulen und Gesundheitsversorgung. Die Menschen hoffen,
dass es gelingt, den Frieden zu sichern. Sie erwarten
nach einem so langen Krieg, den sie durchlitten haben,
die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.
Wir haben ein Interesse und eine Verantwortung, diesen Frieden zu stabilisieren. Dazu ist eben nicht nur der
Wiederaufbau nötig, sondern auch die Überwachung
des Friedensvertrages durch die Vereinten Nationen.
Eine Sicherung des Friedens im Südsudan ist nicht nur
wegen der Menschen im Süden wichtig, die einen der
schlimmsten Bürgerkriege durchlitten haben, sondern sie
ist auch im Hinblick auf die anderen Krisen im Sudan
entscheidend, vor allem in Darfur.
Ich will das einmal erläutern: Dieses umfassende
Friedensabkommen, das viele Bereiche regelt, ist wirklich eine gute Grundlage für eine politische Lösung auch
anderer Krisen im Sudan, vor allen Dingen in Darfur.
Wenn es also gelingt, diesen Frieden zu sichern, wird
dies mit Sicherheit eine Signalwirkung auf die anderen
Krisen im Sudan haben. Das heißt, die Mission der Vereinten Nationen spielt damit für die Zukunft dieses Landes insgesamt eine wichtige Rolle.
Trotz dieses wichtigen Schritts wird es einen Frieden
im gesamten Sudan erst dann geben, wenn auch die anderen Krisen gelöst sind, allen voran die in Darfur. Dort
wird immer noch gemordet und vertrieben, Frauen und
Mädchen werden vergewaltigt. Die Bundesregierung
setzt sich seit langem auf allen Ebenen der internationalen Politik für ein Ende der Gewalt in Darfur ein.
({0})
Während unserer Präsidentschaft im Sicherheitsrat haben wir das Thema Darfur auf die Tagesordnung gesetzt.
Wir haben seit langem die Verhängung von Sanktionen
gegen Kriegsverbrecher und ein Ende der Straflosigkeit
durch die Überweisung der Verbrecher an den Internationalen Strafgerichtshof gefordert. Ende März hat nun der
Sicherheitsrat drei Resolutionen verabschiedet, die unsere Forderungen aufnehmen. Damit hat sich der Sicherheitsrat handlungsfähig gezeigt. Ich hoffe wirklich, dass
es so gelingt, dem Frieden in Darfur näher zu kommen.
Auch dort muss die Gewalt beendet werden. Auch dort
brauchen wir eine politische Lösung.
({1})
Ich versichere Ihnen noch einmal: Die Bundesregierung
wird weiterhin alles dafür tun, damit der internationale
Druck auf die Konfliktparteien nicht nachlässt.
Die UN-Mission UNMIS soll, wie gesagt, das Nairobi-Friedensabkommen zwischen Nord- und Südsudan
überwachen und ist daher eine klassische Beobachtermission. Die VN-Beobachter werden durch eine Schutztruppe mit Zwangsbefugnissen geschützt. Darüber hinaus
soll die Schutztruppe den Schutz des UN-Personals, der
vor Ort tätigen Hilfsorganisationen sowie der direkt von
Gewalt bedrohten Zivilbevölkerung sicherstellen. Die
militärische Komponente von UNMIS umfasst circa
10 000 Soldaten, einschließlich 750 Militärbeobachtern.
Daneben sollen auch zivile Anteile, einschließlich
700 Polizisten, beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen zum Einsatz kommen.
Der Kabinettsbeschluss vom 13. April dieses Jahres
sieht eine Entsendung von bis zu 75 deutschen Soldaten
in die UN-Mission vor. Die deutschen Soldaten sind im
Wesentlichen für die Wahrnehmung von Militärbeobachteraufgaben und die Verwendung in UNMIS-Stäben und
-Hauptquartieren vorgesehen. Das operative Einsatzgebiet umfasst den Süden des Sudans, die Hauptstadt
Khartoum sowie die Region um Kassala im Osten. Das
Mandat ist zunächst bis zum 24. September 2005 befristet.
Ich will sehr deutlich sagen - wir haben das in den
Ausschüssen ausführlich diskutiert -: UNMIS hat keine
operativen Befugnisse in Darfur, da diese Region nicht
Bestandteil des Nord-Süd-Friedensabkommens ist. Mit
der Beobachtung der Lage in Darfur wurde die Afrikanische Union durch die Resolution 1556 des Sicherheitsrates beauftragt. Im Einzelfall können VNExperten von UNMIS zum Zwecke von Beratungs- und
Verbindungsaufgaben bei der Darfur-Mission der AU
eingesetzt werden. Das kann auch deutsche Soldaten betreffen. Deshalb hat die Bundesregierung in den Ausschüssen zugesichert: Sollten deutsche Soldaten außerhalb des Schwerpunktgebietes des UNMIS-Einsatzes
tätig werden, so wird die Bundesregierung die Obleute
des Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschusses dieses
Hauses vorab unterrichten. Sie wird einem solchen Einsatz nicht zustimmen, wenn es im Kreise der Obleute
und der Vorsitzenden dieser Ausschüsse erhebliche Bedenken gibt.
Die internationale Gemeinschaft muss jetzt mithelfen,
die durch das Friedensabkommen errungenen Fortschritte abzusichern. Die Präsenz von UNMIS als neutralem Stabilitätsfaktor ist dabei ein unverzichtbares Element. Ich würde mich sehr freuen, wenn der Antrag der
Bundesregierung zur Entsendung deutscher Soldaten im
Rahmen von UNMIS die breite Unterstützung dieses
Hauses finden würde und wir damit unseren Beitrag zu
diesem historischen Prozess leisten könnten.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Heinrich für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach über 20-jähriger kriegerischer Auseinandersetzung mit über 2 Millionen Todesopfern und
ebenso vielen Flüchtlingen wurde am 9. Januar 2005 ein
Friedensvertrag zwischen den Rebellen im Süden des
Sudans und der Regierung in Khartoum unterzeichnet.
In unserer heutigen Debatte geht es darum, die Voraussetzungen zu schaffen, diesen Friedensvertrag zu sichern, unterstützen und umsetzen zu helfen. Die Resolution 1590 des UN-Sicherheitsrats vom 24. März dieses
Jahres ist die Grundlage dafür. Dabei wird der Entflechtung der sudanesischen Regierungstruppen und der
südsudanesischen Befreiungsbewegung eine besondere
Bedeutung zukommen. Aber vor allem soll die vollständige Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration
ehemaliger Kämpfer erreicht werden, weil dies die Voraussetzung dafür ist, dass es überhaupt zu der Einhaltung
des Friedensvertrags kommt. Ebenso wird der Aufbau
einer Zivilpolizei eine der Aufgaben der UNMIS sein.
Die Mission soll insgesamt 10 000 Soldaten umfassen. Dabei handelt es sich um einen kombinierten Einsatz mit einem Mandat nach Kapitel 6 und Kapitel 7 mit
integrierten Kommandostrukturen aus Beobachter- und
Schutztruppe. In diese Truppe sollen bis zu 75 deutsche
Soldaten als Beobachter integriert werden. Leider umfasst das Mandat auch die Möglichkeit - verschiedene
Redner sind schon darauf eingegangen -, UNMIS-Soldaten als Beobachter in die Krisenregion Darfur in den
Westen des Sudans zu entsenden, die derzeit unter der
von der Afrikanischen Union geleiteten Mission AMIS
steht. Genau dies kritisieren wir. Dies haben wir auch in
den Ausschüssen kritisiert. Dass es zu dieser Protokollerklärung gekommen ist, Frau Staatsministerin Müller,
ist ganz sicherlich diesem Parlament zu verdanken.
({0})
Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Bundesregierung
keinen Spielraum hat, das Mandat des UN-Sicherheitsrates unterschiedlich auszulegen. Aus diesem Grund war
für uns, für die FDP-Fraktion, die Protokollnotiz die
Grundlage und Voraussetzung für eine Zustimmung zu
diesem Einsatz. Die FDP unterstützt generell den Antrag
zur Entsendung von Bundeswehrsoldaten als Beobachter, spricht sich aber energisch gegen einen Automatismus aus, der, wie von Ihnen, Herr Bundesverteidigungsminister Struck, bereits mehrmals angedeutet wurde, in
einen Kampfeinsatz in Darfur münden könnte. AMIS ist
eine Mission der Afrikanischen Union. Wir sollten nicht
über diese Hintertür versuchen, mit einer entsprechenden Beteiligung eine UN-Mission daraus zu machen.
({1})
Die AMIS-Mission ist die erste derartige Operation,
die die AU eigenständig mit 3 000 afrikanischen Soldaten durchführt. Wir sollten der AU die Verantwortung
lassen. Sie muss diese Mission auch in Zukunft selbstständig durchführen.
Wir in Deutschland und wir in der Europäischen
Union sollten aber bereit sein, auf ausdrückliches
Ersuchen der AU Hilfe in logistischer, beratender und
beobachtender Funktion zu gewähren und so unseren
Anteil beizutragen.
({2})
Ich habe bereits früher immer wieder die Bemühungen der AU unterstützt,
({3})
die Probleme Afrikas eigenständig aufzugreifen und zu
lösen, und die Meinung vertreten, dass nur dann Hilfe
von außen gewährt werden sollte, wenn direkte logistische oder beratende Unterstützung benötigt wird,
({4})
nach dem Motto: Afrika den Afrikanern. An diesen
Grundsatz müssen wir uns hier ganz klar halten.
({5})
Deshalb möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten in
Darfur nicht infrage kommt.
({6})
Dies gilt sowohl für den vorliegenden Beschluss 1590
des Sicherheitsrates als auch für einen eventuellen zukünftigen Beschluss, der im Sicherheitsrat gefasst werden könnte. Auch dann sind wir gegen einen Kampfeinsatz deutscher Soldaten. Das möchte ich hier ganz klar
und deutlich unterstreichen.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung hat nun der Bundesminister
der Verteidigung, Peter Struck, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erlauben Sie mir, zunächst zu einem völlig anderen Thema etwas zu sagen. Ich war gestern auf einem
der beiden größten Schiffe der Bundeswehr, dem Einsatzgruppenversorger „Berlin“, der auf der Fahrt in
seinen Heimathafen Wilhelmshaven ist und heute um
10 Uhr dort anlegen wird. Dieses Schiff war fünf Monate im Einsatz, davon zwei am Horn von Afrika und
drei vor Banda Aceh. Ich denke, dass ich auch in Ihrem
Namen gesprochen habe, als ich gestern den Soldaten
auf dem Schiff für ihren Einsatz gedankt habe, den sie
für die Bevölkerung in Indonesien geleistet hat. Wir können stolz sein auf das, was unsere Soldatinnen und Soldaten leisten.
({0})
Herr Kollege Heinrich, Sie haben eben davon gesprochen, ich hätte Kampfeinsätze in Afrika geplant. Ich
wüsste nicht, wo ich das gesagt hätte. Das ist ja auch Unsinn; darüber reden wir überhaupt nicht. Wir reden jetzt
über den UN-Sicherheitsratsbeschluss und den Kabinettsbeschluss. Das Kabinett hat beschlossen, bis zu
75 Soldaten für diese Beobachtermission zur Verfügung zu stellen. Wir gehen davon aus, dass es im Wesentlichen bis zu 50 sein werden. Aber mit Blick auf
Wechsel müssen wir natürlich eine gewisse Flexibilität
haben; deshalb liegt die Obergrenze bei 75.
Diese Soldaten können bei Bedarf auch als Einzelexperten für Beratungs- und Verbindungsaufgaben, Herr
Heinrich, im Rahmen der Darfur-Mission der Afrikanischen Union eingesetzt werden. Wir werden das auch
tun. Eine derartige Unterstützung ist natürlich auch im
Mandat der Vereinten Nationen vorgesehen. Sollte dieser
Einsatz deutscher Soldaten erforderlich werden, das
heißt, sollten wir in die Region Darfur, zum Beispiel
nach al-Faschir, gehen, um Verbindungsaufgaben mit zu
erfüllen, dann werden wir das nicht tun, bevor wir nicht
die Obleute des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses informiert haben oder wenn es
von Ihrer Seite erhebliche Bedenken gibt. Ich werde das
nicht gegen Ihren Willen tun; das will ich hier deutlich
festhalten.
({1})
Meine Damen und Herren, das UNMIS-Operationskonzept entspricht guten Erfahrungen aus anderen Einsätzen der Vereinten Nationen. Die Militärbeobachter
sind unbewaffnet. Das war auch im Verteidigungsausschuss gerade ein Thema. Ihr Schutz wird durch die mit
einem robusten Mandat versehenen Kräfte der Schutztruppe der 10 000 Soldaten aus den anderen Nationen
gewährleistet. Die deutschen Soldaten in den Stäben,
Hauptquartieren oder im Experteneinsatz werden natürlich - das ist üblich - auch mit entsprechender Selbstschutzausrüstung ausgestattet.
Wir haben schon über Darfur gesprochen. Die Vorrednerinnen und Vorredner haben es angesprochen: Die
Lage bleibt dort weiterhin dramatisch. Von daher ist es
richtig, dass die Vereinten Nationen die Koordinierung
beider Operationen unterstützen wollen.
({2})
Das Bundestagsmandat zur Unterstützung von
AMIS - bei uns stand es bisher konkret für Lufttransportunterstützung für Truppenverlegung afrikanischer
Truppen nach Darfur - endet am 2. Juni. Wir haben im
Dezember 2004 196 gambische Soldaten transportiert.
Andere Staaten der EU haben ebenfalls Transportleistungen erbracht. Gegenwärtig gibt es keine weiteren Transportersuche. Durch einen Ausbau von AMIS durch die
Afrikanische Union kann sich das jedoch deutlich ändern. Die Situation in Darfur - Kollegin Wimmer hat das
ausgeführt - gibt Anlass zur Sorge. Die Truppe der Afrikanischen Union bedarf afrikanischer Verstärkung. Wir
appellieren an alle afrikanischen Staaten, das angestrebte
Ziel, über 3 000 Soldaten in Darfur zu stationieren, auch
zu erreichen.
({3})
Wir hoffen, dass sich die Situation im Sommer ändern
wird, dass es also mehr Transportersuche geben wird. Im
Mai werde ich daher eine Verlängerung des Mandats für
AMIS, also Lufttransportunterstützung, vorschlagen. Ich
glaube, wir sind uns einig, dass wir nicht wegsehen dürfen, wenn auf diesem ohnehin benachteiligten und geschundenen Kontinent Menschen verfolgt und ermordet
werden.
({4})
Das Mandat, das der Bundestag heute beschließen
soll, wird für uns, für meine Bundeswehr nicht einfach
werden. Mit sechseinhalb Jahren ist ein langer Zeitraum
ins Auge gefasst worden. Außerdem ist die Entwicklung
im Sudan überhaupt nicht vorhersehbar. Der Friedensvertrag kann sich als brüchig erweisen. Dem müssen
wir im Rahmen der Vereinten Nationen entgegenwirken.
Die internationale Gemeinschaft muss jetzt die Chance
nutzen, die dieser Friedensvertrag bietet. Ich appelliere
deshalb an viele andere europäische Länder, sich noch
stärker an UNMIS zu beteiligen, als das bisher geplant
ist.
({5})
Mit bis zu 75 Militärbeobachtern stellen wir von allen
europäischen Staaten das größte Kontingent. Andere,
auch große Nationen jenseits des Atlantiks beteiligen
sich an diesem Mandat überhaupt nicht. Es ist erforderBundesminister Dr. Peter Struck
lich, dass andere Länder ihre Bereitschaft erklären, in
dem Maße zu helfen, wie wir es tun. Dieses Land, dieser
Kontinent hat das verdient.
({6})
Zum Schluss bedanke ich mich bei allen Fraktionen
des Deutschen Bundestages für die übereinstimmende
Genehmigung dieses Mandats. Die Soldatinnen und Soldaten, die wir schicken werden - im Wesentlichen werden es wohl Soldaten sein -, haben einen Anspruch darauf, zu wissen, dass der Deutsche Bundestag diese
Aufgabe unterstützt. Ich will noch einmal das sagen, was
ich zu jedem Auslandseinsatz sagen muss: Niemand
weiß, ob alle gesund nach Hause kommen. Wir haben
eine große Verantwortung, wenn wir einen solchen Beschluss fassen. Deshalb herzlichen Dank an Sie alle, dass
Sie diesen Beschluss mittragen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Rauber,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister Struck, der Beifall von unserer
Seite hat gezeigt, dass auch wir uns bei den Soldaten bedanken, die nicht nur im Indischen Ozean, sondern in allen Krisenherden der Welt wesentlich auch zu unserer
Sicherheit beitragen.
({0})
In den letzten Tagen hörte ich oft die Frage: Was sollen unsere Soldaten denn im Sudan? Anders ausgedrückt: Was geht uns Afrika an, ein Kontinent, auf dem
laut einer Studie der Boston University nur 14 der
53 Länder als demokratisch einzustufen sind, der in Bürgerkrieg und Elend zu versinken droht und wo Korruption und die organisierte Kriminalität blühen.
Das Schicksal Afrikas ist in weiten Teilen auch unser
Schicksal. Zonen der Instabilität und der Ordnungslosigkeit sind der Nährboden für den internationalen Terrorismus und die Gewalt an sich. In Afrika entspringende
Migrationsströme reichen bis tief nach Europa. Deshalb
lautet nicht von ungefähr der Kerngedanke der neuen
NATO-Strategie, Konflikte auf Distanz zu halten.
Genau um dies geht es auch bei dieser UN-Mission,
aber es geht um mehr. Nur ein wirtschaftlich stärkeres
Afrika schafft attraktive Absatzmöglichkeiten für unsere Güter und Dienstleistungen. Nur stabile, auf demokratischen Grundsätzen beruhende Regierungen erlauben uns eine vernünftige und auch faire Nutzung der
Rohstoffe. Im Sudan geht es auch um das Öl, mit allen
innerstaatlichen und außerstaatlichen Implikationen.
Auch der für uns so überlebensnotwendige Schutz der
Ökosysteme und der Artenvielfalt lässt sich nur mit politisch und wirtschaftlich stabilen Nationen erreichen.
({1})
Trotz all dieser Gründe hat der Westen in den letzten
Jahren weggeschaut, wenn sich grausame Völkermorde
ereigneten. Der Sudan - das haben mehrere Vorredner
schon betont - ist kein neuer Konfliktherd. Seit 1983
herrscht in diesem Land ein Bürgerkrieg, der 2 Millionen Menschen das Leben kostete und 4 Millionen
Menschen zu Flüchtlingen machte. Ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen wurden immer wieder als
Durchbruch gefeiert und ebenso oft, wie sie geschlossen
wurden, auch gebrochen. Die Trennungslinie verläuft
zwischen dem christlichen Süden und dem muslimischen Norden bzw. - was Darfur anbelangt - zwischen
schwarzafrikanischen und arabischen Bevölkerungsgruppen.
Als der Bürgerkrieg in Somalia 1993 18 amerikanische Soldaten das Leben kostete, hat der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton der UNO geraten, zu
lernen, Nein zu sagen. Es war diese Kultur der Zurückhaltung der Weltgemeinschaft, die Millionen von
Menschen Tod und Elend brachte.
({2})
Die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung hat für das letzte Jahr, also für 2004,
42 Kriege und bewaffnete Konflikte aufgelistet. Wir als
Deutsche können weder den Weltpolizisten spielen noch
können wir den Hunger in der Welt, der 850 Millionen
Menschen quält, alleine besiegen. Wir dürfen aber auch
nicht wegschauen. Bei AMIS und auch bei dieser Mission leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Wir brauchen unter dem Dach der UNO regionale Sicherungssysteme unter jeweils regionaler Beteiligung.
Wir stellen - das ist auch schon gesagt worden - bei
dieser Mission keine Kampfsoldaten, sondern bis zu
75 Beobachtungssoldaten, die in erster Linie die Aufgabe haben, die Konfliktparteien zu trennen. Die Hauptlast, wie auch bei der vorangegangenen und parallel laufenden UN-Mission AMIS, trägt nicht der Westen,
sondern - trotz aller Unzulänglichkeiten - Afrika. Es
sind keine Hurra-Gefühle, mit denen wir diesem Einsatz
zustimmen.
Die CDU/CSU hatte sich mit insgesamt 10 Fragen an
die Bundesregierung gewandt, wobei der Schutz unserer Soldaten und die mögliche medizinische Versorgung in Notfällen im Vordergrund standen. Es gibt keinen Einsatz, der ungefährlich ist. Der Einsatz aller UNSoldaten - das können wir bedauern oder auch nicht erfolgt unbewaffnet. Deshalb müssen wir auf den Schutz
der UNMIS vertrauen.
Dass unsere Soldaten von militärischen Kräften beider ehemaliger Konfliktparteien begleitet werden, erhöht
ihre Sicherheit, wiewohl die Bundesregierung selbst eingesteht, dass unsere Beobachter durchaus zwischen die
Fronten rivalisierender Gruppen geraten können. Wir gehen aber davon aus - darauf vertrauen wir -, dass
sowohl die militärische wie auch die politische Führung
alles tun, die Risiken zu minimieren und notfalls - wenn
die Gefahr eskaliert - unsere Soldaten bzw. Beobachter
abzuziehen.
Zur Sicherheit zählt auch ein System von flächendeckenden Sanitätseinrichtungen und flächendeckenden
Regelungen zur Verwundetenevakuierung. Zudem können unsere Beobachter auf minengeschützte Fahrzeuge
zurückgreifen. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte halten wir diesen Einsatz nicht für ungefährlich,
aber unter dem Schutzaspekt für vertretbar.
Ich komme zu meiner Ausgangsfrage zurück: Was
geht uns Afrika an? Bei Völkermorden mit all ihren
schrecklichen Begleiterscheinungen wegzuschauen
heißt, Partei für die Willkür des Starken zulasten der
Hilflosen zu ergreifen. Dies ist weder eine christliche
noch eine humanistische Grundhaltung. Weil wir nicht
wegschauen, sondern vermutlich 50 Militärbeobachter
in den Sudan senden - wir hoffen, dass sie alle heil zurückkehren -, stimmen wir dem vorliegenden Antrag zu.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Der Friedensvertrag vom 9. Januar 2005 zwischen der sudanesischen
Regierung und der südsudanesischen Volksbefreiungsbewegung ist ein kleiner Schritt zum Frieden. Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg, der 2 Millionen Menschen
das Leben gekostet und 4 Millionen zu Binnenvertriebenen bzw. Flüchtlingen gemacht hat, scheint ein Friede in
Sicht.
Die UNO hat die Bundesregierung gebeten, sich an
der UN-Mission im Sudan durch die Entsendung von
Stabspersonal und Militärbeobachtern zu beteiligen. Die
Bundesregierung will nach Kap. VI der UN-Charta bis
zu 75 deutsche Soldaten im Rahmen der Mission
UNMIS als Beobachter in den Sudan entsenden. Kernaufgabe von UNMIS ist es, für zunächst sechs Monate
die Implementierung der Friedensvereinbarung von
Nairobi zu überwachen und das Programm zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger
Kämpfer sowie UN-Programme in dieser Region zu unterstützen.
Wir als PDS haben uns schon im Jahre 2000 auf unserem Parteitag in Münster dafür ausgesprochen, friedliche Missionen der UNO nach Kap. VI zu unterstützen.
({0})
Wir haben uns immer gegen UN-mandatierte Militärinterventionen unter Berufung auf Kap. VII der UNCharta ausgesprochen. Die Menschen im Sudan sehnen
sich nach Frieden und wünschen sich nichts dringlicher
als das Ende des Mordens, Plünderns und Vergewaltigens. Die PDS teilt diesen Wunsch; allerdings sehen wir
auch, dass es ganz klare wirtschaftliche Interessen einiger Länder und Unternehmen gibt, die den Frieden nur
als Zwischenstation sehen, um dann - um einmal ein
Wort von Herrn Müntefering zu gebrauchen - wie „Heuschrecken“ über das Land herzufallen.
Wir sehen die Auswirkungen des Krieges und wir sehen die Auswirkungen dieser Heuschreckenschwärme
und würden uns gern für das kleinere Übel entscheiden.
Doch die Bundesregierung macht eine Zustimmung zu
dem Mandat für uns unmöglich. Die Bundesregierung ist
in ihrer Beschreibung der Aufgaben der Soldaten zu
ungenau.
({1})
Die Bundesregierung macht es uns unmöglich, diese
Mission zu kontrollieren.
({2})
Die Regierung erklärt zum Beispiel, dass sie, wenn Soldaten außerhalb des Schwerpunktgebietes des UNMISEinsatzes tätig werden sollen, vorab die Obleute des
Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses unterrichten will. Das klingt nach Geheimniskrämerei. Die PDS wäre nach diesem Verfahren von jeder Kontrolle ausgeschlossen. Das können wir nicht
akzeptieren. Die PDS wird sich aus den genannten Gründen der Stimme enthalten.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist für
die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Egon Jüttner.
Danach stimmen wir namentlich ab. Ich bitte bis dahin
noch um ein bisschen Konzentration.
Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrzehntelang hat die Bevölkerung des Sudan unter
dem längsten und wohl blutigsten Bürgerkrieg Afrikas
gelitten. Noch vor einigen Monaten kam es zu Massenvertreibungen und Massentötungen im Westen des
Sudan. Noch immer gibt es Morde und Vergewaltigungen. Die Überwachungsmission der Afrikanischen
Union hat dennoch zu einer leichten Beruhigung der Situation geführt. Deutschland hat mit der Durchführung
von Truppentransporten einen wichtigen Beitrag dazu
geleistet. Dafür danken wir den Soldaten der Bundeswehr.
({0})
Ein Lichtblick für die Menschen im Sudan ist der am
9. Januar dieses Jahres unterzeichnete Friedensvertrag
zwischen der sudanesischen Regierung und der südsudanesischen Volksbefreiungsbewegung. Vertreter der Menschenrechts- und Hilfsorganisation „Hoffnungszeichen“,
die erst kürzlich im Südsudan waren, berichten, wie jetzt
die Menschen im Süden des Sudan aufatmen und hoffen,
dass sich durch das Friedensabkommen ihre Lebenslage
verbessert.
22 Jahre Bürgerkrieg haben tiefe Spuren hinterlassen. Schulen und Krankenhäuser sind zerstört, sofern sie
überhaupt vorhanden waren. Es gibt kaum staatliche
Strukturen und nahezu keine Infrastruktur. Gerade jetzt,
zu Beginn der Regenzeit, werden befahrbare Pisten zu
unpassierbaren Schlammrinnen. Es gibt kein Eisenbahnnetz und kein Gesundheitssystem, das diesen Namen
verdient. Blutiger Durchfall ist die Haupttodesursache
bei Kleinkindern. Frisches Trinkwasser ist Mangelware.
Es gibt keine systematische Schulbildung. Nach Angaben des katholischen Bischofs der Diözese Rumbek,
Caesar Mazzolari, liegt im Südsudan die Analphabetenrate der Frauen bei 97 Prozent, die der Männer bei
84 Prozent. Mit Recht haben bereits im vergangenen
Jahr sudanesische Bischöfe bei ihrem Besuch in Berlin
Bundestag und Bundesregierung aufgefordert, dringend
zu helfen.
Die Menschenrechtslage im Sudan ist weiterhin desolat. Im Norden weigert sich Präsident Baschir, Menschenrechtsverletzer an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Im Südsudan agieren sich
streitende, von Khartoum mit Waffen versorgte Milizen,
die zum Zwecke persönlicher Bereicherung die Bewegungsfreiheit der Zivilbevölkerung einschränken. Sie erpressen Wegezölle und erheben unrechtmäßig Steuern.
Sie gefährden die Sicherheitslage der Zivilbevölkerung
ebenso wie deren Nahrungsmittelselbstversorgung.
Ich fordere deshalb die sudanesische Regierung in
Khartoum auf, nicht erst Anfang 2006, wie im Friedensabkommen vorgesehen, sondern schon jetzt die ihr unterstehenden Milizen zu entwaffnen und in die regulären
sudanesischen Streitkräfte zu integrieren. Es kann nicht
sein, dass Schusswaffen zur lukrativen Einnahmequelle
werden.
({1})
Die Menschen im Sudan wollen und brauchen Frieden. Sie schöpfen erst wieder Hoffnung, wenn sie sichtbar und greifbar erleben und erfahren, wie sich ihre Lebensbedingungen verbessern. Deshalb muss gleichzeitig
die humanitäre Lage der Flüchtlinge und der Binnenflüchtlinge sowohl im Norden als auch im Süden des
Landes verbessert werden. Im Süden muss mit dem Aufbau und Wiederaufbau infrastruktureller und administrativer Bereiche begonnen werden. Auch die Defizite bei
der Basisgesundheitsversorgung und im Bildungssektor
müssen abgebaut werden. Deshalb begrüßen wir die an
Bedingungen geknüpften Zusagen, die kürzlich bei der
Geberkonferenz in Oslo gegeben wurden.
({2})
Auf keinen Fall darf die internationale Gemeinschaft
die Versuche der sudanesischen Regierung tolerieren,
die Stabilisierung und den Wiederaufbau des Südsudans
zu verzögern oder gar zu hintertreiben.
({3})
Nicht nachvollziehbar ist, dass die Regierungspartei im
Norden die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
geforderte Ahndung der Menschenrechtsverbrechen in
Darfur als einen Angriff auf den Islam bezeichnet.
({4})
Wir begrüßen, dass gestern die UN-Menschenrechtskommission beschlossen hat, einen Sonderberichterstatter für den Sudan einzusetzen, und die schweren
Menschenrechtsverletzungen in Darfur, im Westsudan
verurteilt hat. Wir begrüßen die Mission der Vereinten
Nationen und wir stimmen zu, dass zur Erfüllung dieses
Auftrags bis zu 75 deutsche Soldaten eingesetzt werden.
Die Menschen im Sudan brauchen die Hilfe der internationalen Gemeinschaft.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 15/5343 zu dem Antrag der Bundesregie-
rung zur Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Frie-
densmission der Vereinten Nationen in Sudan. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5265
anzunehmen. Hierzu ist namentliche Abstimmung ver-
langt.
Ich bitte um ein Signal, ob alle Plätze an den Urnen
besetzt sind. - Das sieht so aus. Dann eröffne ich hiermit
die namentliche Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist offensicht-
lich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung
und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-
mung wird später bekannt gegeben.1)
Ich darf noch darauf hinweisen, dass dem Präsidium
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung der Kollegen Jürgen Koppelin und
Wolfgang Börnsen sowie der Kollegin Verena
Wohlleben vorliegen.2)
Wir setzen die Beratungen fort.
1) Seite 16233 D
2) Anlage 2
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Merz,
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ein modernes Steuerrecht für Deutschland Konzept 21
- Drucksachen 15/2745, 15/5176 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Frechen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
die Debatte über diesen Tagesordnungspunkt nicht mitverfolgen können oder wollen, ihre dringenden Staatsgespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen, damit
wir für die an der Debatte beteiligten Kolleginnen und
Kollegen die nötige Aufmerksamkeit sicherstellen können.
({1})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Dr. Michael Meister für die CDU/CSUFraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen diese Debatte über die steuerpolitischen Grundsätze in unserem Land im Einsteinjahr. Ich
darf mit einem Zitat von Albert Einstein beginnen:
Um eine Einkommensteuererklärung abzugeben,
muss man Philosoph sein;
({0})
es ist zu schwierig für einen Mathematiker.
({1})
Ich bin Mathematiker. Auch wenn wir einige Jahrzehnte
später leben, kann ich feststellen: Der Schwierigkeitsgrad des Steuerrechts ist leider nicht geringer geworden.
Deshalb geht es vielen Menschen in unserem Land wie
Albert Einstein: Sie plagen sich wegen Aufwand und
Schwierigkeit mir ihrer Steuererklärung herum.
({2})
Die Steuerzahler sind die Hauptbetroffenen. Sie sind
kaum noch in der Lage, ihre Einkommensteuererklärung
in angemessener Zeit selbst anzufertigen. Sie verstehen
kaum noch den Sinn der sich zum Teil widersprechenden
Vorschriften. Durch den Vollzug wird die Komplexität
weiter gesteigert. Es gibt eine Vielzahl von Aufzeichnungspflichten. Die Belegsammlungen, die gefordert
werden, werden immer dicker. Deshalb muss ein Steuerberater herangezogen werden. Leider sind auch die Steuerberater wegen der ständigen Rechtsänderungen in unserem Land kaum noch in der Lage, steuerrechtlich
korrekte Aussagen zu machen.
Die Vielzahl der Änderungen führt zu einer weiteren
Verkomplizierung und zu weiterer Unsicherheit. Damit
werden Leistung und Motivation in unserem Land letztendlich massiv behindert. Ich glaube, wir müssen einen
Kurswechsel einleiten. Wir müssen den Menschen ihre
Freiheit zurückgeben. Wir müssen Leistung honorieren.
Wir müssen Vertrauen, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit in der Steuerpolitik schaffen.
({3})
Schauen wir uns den Kurs der Regierungskoalition
der vergangenen Jahre an; ich will auf einige Gesetzgebungsmaßnahmen hinweisen.
Die so genannte Gesellschafterfremdfinanzierung ist
ein erstes treffendes Beispiel dafür, wie man Tatbestände
unzulänglich regelt.
Ein zweites Stichwort: Man spricht von mehr Investitionen und von mehr Leistung in unserem Land, aber die
Vorschläge zur Mindestbesteuerung und zur Verschärfung der Abschreibungsregeln sind wahrlich keinerlei
Anreiz für mehr Investitionen am Standort Deutschland.
Ein drittes Beispiel: Durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz sollte die Unternehmensgründung erleichtert werden und sollte es einfacher werden, die Startphase zu überwinden. Was ist gekommen? - Ein
Formular „Einnahmenüberschussrechnung“, das heißt
mehr bürokratischer Aufwand, mehr Formalismus.
({4})
Ein weiterer Punkt ist die Umsatzsteuer. Wir haben
die Wirtschaft und die am Wirtschaftskreislauf Tätigen
mit umsatzsteuerlichen Pflichten gesegnet, deren Wirkung zweifelhaft ist und die die Finanzverwaltung gar
nicht alle kontrollieren kann. Durch Regulierung und
Bürokratie bringen wir den Standort Deutschland nicht
voran.
({5})
Oder nehmen wir Ihren Vorschlag einer Steueramnestie: Sie sollte Menschen dazu bewegen, in die Legalität
zurückzukehren, und Ihrer Erwartung nach 5 Milliarden
Euro einspielen. Im Ergebnis hat sie nur etwa 20 Prozent
davon eingebracht. Das heißt, diese Maßnahme war erfolglos. Aber es wurden erhebliche Zweifel geschaffen,
dass der Gesetzgeber tatsächlich dem Legalitätsprinzip
folgt und dass der Ehrliche am Ende nicht der Dumme
ist. Wir müssen darüber nachdenken, ob eine solche
Steuerpolitik sinnvoll ist.
Ein letztes Beispiel: die neu konzipierte Entfernungspauschale. An diese Pauschale haben Sie im Jahr 2001
einen Verwaltungserlass geknüpft, der siebeneinhalb
DIN-A5-Seiten umfasst. Ich frage mich schon, ob ein
normaler Mensch solch umfangreiche Verwaltungsanweisungen zu einer einzelnen Bestimmung überhaupt
zur Kenntnis nehmen und verstehen kann. Ich glaube,
das geht in die falsche Richtung. Deshalb müssen wir
dringend eine Umkehr zu einem einfacheren und dann
auch als gerechter empfundenen Steuersystem finden.
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben
das Steuerrecht in Deutschland komplizierter, unüberschaubarer, unsystematischer und ungerechter gemacht.
({6})
Die Menschen in unserem Land verstehen Ihre Gesetze
nicht mehr. Sie akzeptieren Ihre Gesetze nicht mehr.
Deshalb ist auch das Vertrauen in Ihre Steuerpolitik verloren gegangen. Ständig wird von Ihnen als Gesetzgeber
- wir erleben das aktuell wieder bei der Frage der
Fonds - in Dispositionen, die bereits getroffen sind, im
Nachgang eingegriffen. Das muss ein Ende haben.
Deutschland braucht eine Politik, die verlässlich ist und
Vertrauen schafft. Vertrauen ist die Basis von Investitionen, von Leistungsbereitschaft, von Wachstum und
neuen Arbeitsplätzen.
Vertrauen können wir nur gewinnen, wenn wir in der
Steuerpolitik wieder einem klaren Fahrplan folgen. Der
Weg, den Sie eingeschlagen haben - der Weg der ständigen Reparaturen, des kleinen Karos ohne konzeptionellen Entwurf -, führt in die Irre. Man muss einen Neubeginn machen. Wir müssen uns entscheiden, endlich
einmal mit den Reparaturen am alten Auto, das schrottreif ist, aufzuhören, dieses alte, schrottreife Auto auf den
Abstellplatz zu bringen und uns einen Neuwagen zu beschaffen. Wir brauchen in der Steuerpolitik in Deutschland einen neuen Start.
({7})
Das ist unser Ansatz, das ist unser Vorschlag.
({8})
- Lieber Herr Kollege Poß, wir sind uns darüber einig,
dass wir den Menschen zu einfacheren Steuererklärungen verhelfen wollen; aber wir sind uns leider nicht über
den Weg, auf dem das geschehen soll, einig.
Wir sind der Meinung, einfachere Steuererklärungen
werden wir nur erreichen, wenn wir auch die zugrunde
liegenden Gesetze vereinfachen. Es ist ein absoluter Irrglaube, dem Sie anhängen, wenn Sie behaupten, man
könne mit einfacheren Steuererklärungen arbeiten, solange die Gesetze kompliziert sind. Nein, wir müssen
tiefer gehen: Wir müssen das Recht deutlich vereinfachen. Herr Poß, Ihnen fehlen der Mut und die Kraft
dazu, die Grundlagen zu reformieren.
({9})
Wir wollen die Einkunftsarten zusammenlegen. Das
ist kein Selbstzweck; denn an die Frage der Einteilung in
sieben Einkunftsarten knüpft sich eine Menge von
Rechtsstreitigkeiten. Ich möchte das an einem Beispiel
deutlich machen: Nehmen Sie einen EDV-Berater und
die Frage, ob er nun Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit hat oder ob er der Gewerbesteuer unterliegt. An dieser Frage hängt sich eine Menge von Gerichtsverfahren
auf. Wir sind der Auffassung: Wenn wir die Einkunftsarten zusammenführen, werden solche Gerichtsprozesse
überflüssig. Wir wollen weniger Gerichtsentscheidungen; wir wollen mehr Klarheit. Deshalb sagen wir: weniger Einkunftsarten, weniger Gerichtsverfahren, weniger
Bürokratie!
({10})
Wir sind der Auffassung, dass die Abzugsmöglichkeiten durch Einschränkung und Pauschalierung auf das
notwendige Maß zurückgeführt werden sollen. Diese
Rücknahme der Abzugsmöglichkeiten, die das Steuerrecht deutlich vereinfacht, wollen wir im Gegensatz zu
Ihnen erreichen. Ich nenne das Beispiel Steuervergünstigungsabbaugesetz: Sie wollten Ausnahmen streichen
und die Einsparungen einfach als Mehreinnahmen im
Haushalt verbuchen, sprich: Steuern erhöhen. Wir sind
der Meinung, dass wir die Ausnahmeregelungen zurückführen und die Einsparungen über den Tarif an die
Menschen zurückgeben sollten, um damit zu einem einfacheren Recht mit einer niedrigeren Belastung zu kommen.
({11})
Unser Steuerkonzept ist familienfreundlich. Wir
schlagen vor, für jeden Menschen in diesem Land einen
Grundfreibetrag, ein Existenzminimum, von 8 000 Euro
einzuführen. Das heißt, wir wollten nicht in die Lebensdisposition der Menschen eingreifen. Eine vierköpfige
Familie soll 32 000 Euro im Jahr steuerfrei vereinnahmen können. Das ist ein Beitrag zu einer familienfreundlichen Steuerpolitik.
({12})
- Lieber Herr Poß, es geht hier nicht um unsystematische Einzelmaßnahmen, sondern es geht darum, dass wir
tatsächlich die Basis finden, mit einem einfacheren
Recht etwas für die Familienförderung zu tun. Wir sagen
deshalb: im Bereich der Kinderbetreuung Abzugsmöglichkeiten in vollem Umfang zulassen!
({13})
Das ist ein riesiger Schritt voran für die Familien in
Deutschland. Das schlägt die Union Ihnen hier und heute
vor. Stimmen Sie doch einfach zu, anstatt zu schreien!
Dann tun wir gemeinsam etwas für die Familien in
Deutschland. Das wäre doch einmal eine Leistung am
heutigen Vormittag.
({14})
Aktuell führen wir eine Diskussion über die Frage der
Senkung des Körperschaftsteuersatzes. Ich halte die
Tatsache, dass wir diese Frage der Senkung des Körperschaftsteuersatzes mit dem Begriff „Unternehmensteuerreform“ etikettieren, für hochgradig anspruchsvoll. Die
Veränderung eines Steuertarifs ist noch keine Reform.
An dieser Stelle springen wir zu kurz. Wir müssen uns
dringend fragen: Wie kommen wir auch im Bereich der
Unternehmensteuer zu einem einfacheren Recht?
({15})
Sie brauchen die Kraft und den Mut, Frau Scheel, um zu
sagen: Wir wollen die Gewerbesteuer in die Einkommen- und Körperschaftsteuer integrieren und damit auf
Substanzbesteuerung verzichten.
({16})
Nur so können wir Investitionen begünstigen und Bürokratie abbauen. Der Unsinn, dass wir die Einnahmen aus
der einen Steuer mit denen einer anderen Steuer, nämlich
der Einkommensteuer, verrechnen, muss ein Ende haben. Das, was wir da treiben, ist doch hochgradig unsinnig. Solange Sie nicht die Einsicht haben, von diesem
Unsinn Abstand zu nehmen, werden wir es auch nicht
schaffen, zu einem einfachen Steuerrecht in Deutschland
zu kommen. Von diesen Vorschlägen findet sich bei Ihnen nichts.
Ich hoffe, dass die Pressemeldungen vom heutigen
Vormittag zutreffen, wonach die Bundesregierung auf
den unanständigen Griff in die kommunalen Kassen
durch eine Anhebung der Gewerbesteuerumlage verzichtet. Herr Bundesfinanzminister, ich würde mich sehr
freuen, wenn Sie dies heute früh klarstellten, und in
diese Richtung an Sie appellieren. Es kann nicht sein,
dass den Kommunen virtuelle Einnahmen zugerechnet
werden, obwohl ihnen real etwas entzogen wird. Das
wäre unanständig. Ich würde mich freuen, wenn wir das
in der Debatte heute Morgen abräumen könnten und die
Debatte darüber dann beendet wäre.
({17})
Wenn wir über die Unternehmensteuerreform diskutieren, dann müssen wir uns endlich auch einmal fragen:
Wie gehen wir mit dem Europarecht um? Wir können
doch nicht immer defensiv bleiben und warten, was der
Europäische Gerichtshof in Luxemburg entscheidet, um
dann kleinere Nachbesserungsmaßnahmen vorzunehmen.
({18})
Wir brauchen endlich Anstrengungen unter Federführung unserer Bundesregierung, um zu einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage in Europa zu kommen und
damit eine strategische, offensive Antwort auf die Herausforderungen des europäischen Binnenmarktes zu
finden. An dieser Stelle haben Sie uns als Partner.
({19})
Aber wir müssen vorangehen. Wir müssen die Diskussion vorantreiben, um den Standort Deutschland zu stärken.
Ein weiterer Punkt betrifft die Frage der Rechtsformneutralität. Ich möchte auf die aktuelle Debatte dazu
eingehen. Ich frage mich: Inwiefern berücksichtigen Sie
in Ihrem aktuellen Vorschlag, den Körperschaftsteuersatz zu senken, eigentlich die Personengesellschaften?
Selbstverständlich - das erkennen wir an - soll die Gewerbesteuer zu einem höheren Grad mit der Einkommensteuer verrechnet werden können. Dem widerspreche ich nicht, auch wenn, wie ich vorhin gesagt habe,
das eigentliche Übel Gewerbesteuer mit dem Vorschlag
nicht angegangen wird. Ich will aber gleich dazusagen:
Das ist doch angesichts von 20 Prozent Kapital- und
80 Prozent Personengesellschaften kein adäquater Ausgleich, zumal Sie daran denken müssen, dass es vom
Hebesatz in der einzelnen Kommune abhängt, ob das
Unternehmen überhaupt einen Vorteil von dieser Maßnahme hat.
({20})
Deshalb verlangen wir nach diesem einen Schritt in
die richtige Richtung - das war ja unsere Anregung; wir
haben die Jobgipfel gefordert - noch in dieser Wahlperiode weitere Maßnahmen, um unseren Standort besser zu
positionieren.
({21})
- Herr Poß, es ist doch aber wichtig, dass wir nicht nur
einseitig die Kapitalgesellschaften im Blick haben.
({22})
- Ich weiß nicht, ob Sie sich einmal mit Ihrem Fraktionsvorsitzenden abgesprochen haben, der scheint - nach
dem, was ich den letzten Tagen gehört habe - eine ganz
andere Auffassung zu vertreten. Der eine spricht von
Heuschrecken, der andere will die Heuschrecken füttern.
Das irritiert mich etwas und ich kann es nicht ganz zuordnen.
Aber ich will einmal sagen: Unsere Forderung ist,
dass wir zu einer Gleichbehandlung der Personen- und
Kapitalgesellschaften kommen. Deshalb fordern wir in
unserem Reformentwurf die Rechtsformneutralität des
Steuerrechts. Zur aktuellen Frage sagen wir: Wenn wir
eine Entlastung der Kapitalgesellschaften durchführen,
dann muss es eine entsprechende Leistung für die Personengesellschaften geben.
({23})
Wir wollen auch eine entsprechende Regelung im
Erbschaftsteuerrecht. Wir sagen: Wenn Familienunternehmen ihr Unternehmen in der nächsten Generation
weiterführen, dann soll die Erbschaftsteuerschuld zunächst einmal gestundet werden. Im Falle der Fortführung des Unternehmens, des Erhalts der Arbeitsplätze
und der Weiterführung der wirtschaftlichen Aktivitäten
soll die Erbschaftsteuerschuld abgearbeitet werden können und letztendlich nach zehn Jahren ganz entfallen.
Wenn wir dies gemeinsam vereinbaren können, dann
sind wir dazu bereit. Herr Poß, ergreifen Sie unsere
Hand. Machen wir das gemeinsam! Dann tun wir tatsächlich etwas für den Standort Deutschland, für mehr
Beschäftigung und für mehr Wachstum.
({24})
Ich möchte mich am Ende meiner Rede noch kurz mit
zwei weiteren Argumenten auseinander setzen. Zum einen geht es mir um die Frage: Was ist das Ergebnis dessen, was Sie bisher als Steuerreform verkauft haben? Sie
tun immerzu so, als seien die gesamten Reformen am
Standort Deutschland schon erledigt. Aber haben Ihre
Reformen denn zu weniger Arbeitslosen geführt?
6,5 Millionen sind bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet. Haben sie zu weniger Unternehmensinsolvenzen
geführt? Wir haben jährlich knapp 40 000 Unternehmensinsolvenzen.
({25})
Haben sie zu mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen geführt? Wir verlieren jeden
Werktag 1 500 davon. - Deshalb sage ich: Was Sie bisher als Reform bezeichnen, war nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen einen Neuanfang mit Struktur und
klarem Fahrplan.
({26})
Eine letzte Bemerkung, und zwar zur Gegenfinanzierung, weil Herr Poß diesen Punkt mit Sicherheit ansprechen wird. Solange Sie nur mit Einzelmaßnahmen arbeiten, Herr Poß, wobei keine Verzahnung der Steuerpolitik
mit Arbeitsmarkt, Bildung, Innovation, Entbürokratisierung und Sozialsystemen stattfindet und wobei auch innerhalb des Steuersystems nur Einzelmaßnahmen betrachtet werden, bekommen Sie keine wirtschaftliche
Dynamik am Standort und müssen seriös und voll gegenfinanzieren. Wenn Sie aber einmal einen großen Entwurf präsentieren würden, der psychologische Wirkung
entfaltet und dafür sorgt, dass im Lande Aufbruchstimmung und Hoffnung generiert werden, dann würden sich
Wachstumskräfte entwickeln und dann könnten Sie auch
auf einen gewissen Selbstfinanzierungseffekt vertrauen.
Deshalb werbe ich dafür, dass wir das aufgreifen, was
unsere Parteivorsitzenden Angela Merkel und Edmund
Stoiber im Kanzleramt angeboten haben, nämlich einen
umfassenden Reformentwurf mit 32 Punkten zu den verschiedenen Feldern, um den Standort Deutschland jetzt
besser zu positionieren, und nicht mit einigen wenigen
isolierten Einzelmaßnahmen den Menschen den Glauben
geben, hier werde etwas getan, mit dem Ergebnis, dass
sie am Ende aufwachen und feststellen: Es hat nicht geholfen.
Wir brauchen mehr. Ihnen fehlt die Kraft zu mehr.
({27})
Geben Sie sich einen Ruck! Fassen Sie mehr Mut! Entwickeln Sie mehr Kraft! Bewegen Sie sich nach vorn
({28})
und halten Sie sich mit Polemik etwas mehr zurück!
Vielen Dank.
({29})
Bevor wir die Debatte fortsetzen, kommen wir zum
Tagesordnungspunkt 17 zurück. Ich gebe Ihnen das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum
Antrag der Bundesregierung zur Beteiligung deutscher
Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan bekannt. Abgegebene Stimmen 565. Mit Ja
haben gestimmt 552, mit Nein haben gestimmt 3, Enthaltungen gab es 10. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung sind angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 565;
davon
ja: 552
nein: 3
enthalten: 10
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Siegmund Ehrmann
Martina Eickhoff
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Rainer Fornahl
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({5})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({6})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Karl Hermann Haack
({7})
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({8})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({9})
Iris Hoffmann ({10})
Frank Hofmann ({11})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({12})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({13})
Christian Müller ({14})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({15})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({16})
Michael Roth ({17})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({18})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({19})
Gudrun Schaich-Walch
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({20})
Ulla Schmidt ({21})
Silvia Schmidt ({22})
Dagmar Schmidt ({23})
Wilhelm Schmidt ({24})
Heinz Schmitt ({25})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Brigitte Schulte ({26})
Reinhard Schultz
({27})
Swen Schulz ({28})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Dr. Gerald Thalheim
Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({29})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis ({30})
Reinhard Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({31})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Jürgen Wieczorek ({32})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({33})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({34})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({35})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({36})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({37})
Cajus Julius Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({38})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({39})
Dirk Fischer ({40})
Axel E. Fischer ({41})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({42})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Siegfried Helias
Michael Hennrich
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Dr. Peter Jahr
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({43})
Volker Kauder ({44})
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({45})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({46})
Dr. Karl A. Lamers
({47})
Helmut Lamp
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({48})
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Stephan Mayer ({49})
Dr. Conny Mayer ({50})
Dr. Martin Mayer
({51})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({52})
Doris Meyer ({53})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({54})
Bernward Müller ({55})
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({56})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({57})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({58})
Anita Schäfer ({59})
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Angela Schmid
Christian Schmidt ({60})
Andreas Schmidt ({61})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({62})
Ingo Wellenreuther
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({63})
Volker Beck ({64})
Cornelia Behm
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({65})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Jutta Krüger-Jacob
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({66})
Monika Lazar
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({67})
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({68})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({69})
Werner Schulz ({70})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Marianne Tritz
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({71})
FDP
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({72})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({73})
Eberhard Otto ({74})
Gisela Piltz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Fraktionslose Abgeordnete
Martin Hohmann
Nein
FDP
Joachim Günther ({75})
Klaus Haupt
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Carstens ({76})
Herbert Frankenhauser
Susanne Jaffke
FDP
Horst Friedrich ({77})
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Das Wort hat nun für die Bundesregierung der Bundesfinanzminister Hans Eichel.
({78})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Meister, positiv finde ich den unpolemischen Ton, den Sie gewählt haben - das will ich ausdrücklich anmerken -; das unterscheidet Ihren Beitrag
ein Stück von dem, was vielleicht Herr Merz an dieser
Stelle gesagt hätte.
({0})
Ich will in der Sache entsprechend reagieren.
({1})
Sie haben allerdings nur ein paar Grundsätze gesagt
und über das Konzept 21 zum Steuerrecht, das der Debatte heute zugrunde liegt, so gut wie kein Wort verloren.
({2})
Das hat auch seinen Sinn, glaube ich, verehrter Herr
Meister; denn das Konzept 21 ist der Verschnitt aus
merzschem intellektuellem Radikalismus - übrigens mit
gewaltigen Kollateralschäden ({3})
und bayerischem Pragmatismus von Herrn Faltlhauser.
Heraus kommt dabei Flickschusterei.
({4})
Insofern darf man über dieses Konzept nicht allzu deutlich reden.
Vereinfachung, Herr Meister, ist eine wunderbare
Sache - welcher Finanzminister wäre nicht dafür? -,
schon um Gestaltungsmöglichkeiten auszuschließen,
schon um den Vollzug wesentlich einfacher zu machen;
alles richtig. Aber wenn Vereinfachung mit einer wesentlich verschärften Ungerechtigkeit bei der Steuerbelastung bezahlt wird - deswegen der Hinweis auf die
Kollateralschäden -, was wir bei all den Grundsatzkonzepten feststellen mussten, was auch die Finanzminister
der Länder einvernehmlich festgestellt haben, dann ist
sie nicht in Ordnung. Also: Man muss das zusammen betrachten.
({5})
Wenn Vereinfachung sozusagen mit Unfinanzierbarkeit bezahlt wird, weil weitere riesige Einnahmeausfälle
entstehen, dann ist das ebenfalls ein nicht hinnehmbarer
Kollateralschaden und dann taugt das ganze Konzept
nichts.
Die Wahrheit ist - darüber müssen wir uns klar sein;
das haben einige der Radikalreformer vielleicht übersehen -: Wir machen Umbau unter Betriebsbedingungen.
Man kann im Elfenbeinturm ein völlig neues Konzept
entwickeln. Man könnte bei einer Staatsneugründung
ganz von vorn anfangen. Ich habe dafür viel Sympathie.
Das ist aber nicht die Situation, in der wir uns befinden.
Das konnte in den Ländern Osteuropas gemacht werden,
als dort ein vollständiger Umschwung stattfand. Sie sollten ganz vorsichtig sein, weil Sie an der Unüberschaubarkeit, die Herr Meister beklagt hat, einen riesigen Anteil haben; denn Sie waren diejenigen, die für viele
Steuersubventionen gekämpft haben.
({6})
Ich weiß, wovon ich rede.
({7})
Wenn ich den Versuch unternommen habe, Steuersubventionen abzubauen, habe ich Ihre Reaktionen gesehen.
Der wesentliche Grund für die Komplizierung des Steuerrechts liegt in den vielen Ausnahmetatbeständen für
jede kleine Gruppe.
({8})
Jede Lobby setzt sich durch, wenn man versucht, diese
Subventionen abzubauen. Ich sage ganz allgemein: Die
jeweilige Opposition stellt sich immer vor die entsprechende Lobby und sagt: Da machen wir nicht mit. Wenn
die Opposition dann noch eine Mehrheit im Bundesrat
hat, verhindert sie jede konsequente Vereinfachung des
Steuerrechts; das ist leider wahr.
Herr Dr. Meister, diese Erfahrung ist wohl allgemeiner Natur: Jeder Finanzminister hat den Versuch, Steuersubventionen abzubauen, mit seiner jeweiligen Mehrheit
unternommen. Dann hat man festgestellt, wie stark die
Lobby ist.
({9})
Für die Opposition - das will ich gar nicht einfach
abtun - ist es eine besondere Versuchung, der Lobby
nachzugeben.
({10})
Zurzeit geschieht das ganz massiv.
({11})
Dieses Vorhaben blockieren Sie jetzt schon seit vielen
Jahren über den Bundesrat.
Ihr Konzept, Herr Dr. Meister, kann in der Tat nicht
akzeptiert werden.
({12})
Es stellt gegenüber all den Vorschlägen, die Sie in der
Vergangenheit auf den Tisch gelegt haben, eine Komplizierung dar und ist noch immer ungerecht. Die AbsenBundesminister Hans Eichel
kung des Eingangssteuersatzes auf 12 Prozent und des
Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent macht die ganze soziale Schieflage deutlich. Sie selbst sagen, Ihr Konzept
führe - das bestätige ich - zu einem Einnahmeausfall in
Höhe von 10 Milliarden Euro,
({13})
in den ersten beiden Jahren sogar zu einem Einnahmeausfall von 15 bis 16 Milliarden Euro.
({14})
Hinzu kommt Ihr Kindergeld-Versprechen, das weitere
17,5 Milliarden Euro kostet.
({15})
Wir haben es hier also mit einem Konzept zu tun, das
nachhaltig 27,5 Milliarden Euro kostet. Meine Damen
und Herren, Ihre Vorschläge sind nicht von dieser Welt.
({16})
Dass in Ihrem Gesamtkonzept eine Finanzierungslücke in Höhe von 100 Milliarden Euro besteht, hat Ihnen Horst Seehofer vorgerechnet. Mit anderen Worten:
Ihr Konzept, das hier auf dem Tisch liegt, ist nicht wirklichkeitstauglich. Deswegen haben Sie Ihre Vorschläge
auch nicht im Einzelnen angesprochen.
Um es wirklichkeitstauglich zu gestalten, muss man
zu allererst fragen: Wie sieht der Finanzrahmen aus?
Denn die Finanzminister haben festgestellt: Wenn ein
Konzept nicht finanzierbar ist, ist es nicht tauglich. Was
heißt das? Ich sage, damit das klar ist, ganz freimütig: Es
kann nicht so weitergehen, dass wir den Bundeshaushalt
nur dadurch verfassungsgemäß gestalten können, dass
wir in großem Umfang Privatisierungserlöse einsetzen.
Das wollte ich nicht tun.
({17})
Ich wollte sie zum Abbau alter Schulden, nicht aber zur
Finanzierung laufender Ausgaben verwenden.
Inzwischen gibt es fünf Länder in Deutschland, die,
anders als der Bund, bereits in der Vorlage verfassungswidrige Haushalte haben.
({18})
- Auf Bayern komme ich noch zu sprechen, Herr
Michelbach. - Im reichen Land Hessen,
({19})
in Niedersachsen und im Saarland wurden verfassungswidrige Haushalte vorgelegt; es müsste Ihnen übrigens
auffallen, dass in all diesen Länder Ministerpräsidenten
von der CDU regieren.
({20})
Hinzu kommen die Länder Bremen und Berlin. Hessen
zum Beispiel veräußert allein in diesem Jahr für
850 Millionen Euro Verwaltungsgebäude und Ministerien und mietet sie zurück. Trotzdem ist der hessische
Haushalt nicht verfassungsgemäß.
({21})
Baden-Württemberg ist haarscharf an der Verfassungswidrigkeit vorbeigeschrammt. Dort werden die Zinseinnahmen bis zum Jahr 2017 für die stille Einlage in der
Landesbank auf die Jahre 2005 und 2006 vorgezogen,
sodass man gerade noch einen verfassungsgemäßen
Haushalt vorlegen kann.
({22})
Bayern behauptet, nächstes Jahr einen Haushalt ohne
Kredite vorzulegen. Die Wahrheit ist, dass dies durch die
Verwendung von Privatisierungserlösen und Entnahmen
aus alten Rücklagen, die aus alten Kreditermächtigungen
gebildet worden sind, realisiert wird. Das ist allerdings
nicht gemeint, wenn in der bayerischen Verfassung von
einem ausgeglichenen Haushalt die Rede ist.
Das ist die Lage, in der wir uns in Deutschland gegenwärtig befinden.
({23})
- Seien Sie ganz vorsichtig, Herr Meister; denn hier unterliegen auch Sie einem Irrtum. In meinen Gesprächen
mit den CDU-Finanzministern hört sich das schon ganz
anders an.
Unsere Steuerquote ist die zweitniedrigste innerhalb
der Europäischen Union. Sie liegt ungefähr 3 Prozent
unter dem langjährigen Mittel der Bundesrepublik
Deutschland. Unsere Abgabenquote liegt auf der Höhe
der Abgabenquote Großbritanniens und unterhalb des
Durchschnitts der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. In der gegenwärtigen Situation können wir weder
den Abbau der Finanzhilfen und die Einschränkungen
im konsumtiven Bereich, die wir massiv vorgenommen
haben, noch den Abbau von Steuervergünstigungen für
einzelne Gruppen, die dadurch etwas verlieren, durch
allgemeine Steuersenkungen gegenfinanzieren, weil die
Finanzlage der öffentlichen Haushalte das nicht zulässt.
Das ist die Wirklichkeit, Herr Dr. Meister.
({24})
Sie macht alles zur Makulatur, was Sie bisher programmatisch an Versprechungen in diesem Bereich gemacht
haben. Deswegen sind Ihre Vorschläge nicht wirklichkeitstauglich. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf nicht ersparen. Denn gleichzeitig stellen Sie, insbesondere Herr
Stoiber, sich wieder hin und fordern den Abbau von
Schulden und die Einhaltung der Maastricht-Kriterien.
Beide Forderungen sind natürlich richtig. Doch
17,5 Milliarden Euro von den 26 Milliarden Euro an
Steuervergünstigungen, die ich seit 2002 zum Abbau
vorgeschlagen habe, sind im Blockadegestrüpp des Bundesrates hängen geblieben. Im vorigen Jahr - das kann
man den Statistiken entnehmen - hätten wir, wenn Sie
nicht blockiert hätten oder wenn wir dieses Volumen
durch andere Maßnahmen mit gleicher fiskalischer Wirkung ersetzt hätten, die 3-Prozent-Grenze bereits eingehalten und wir hätten uns manche Debatte sparen können. Also, meine Damen und Herren: Was hier
genehmigt ist und im Bundesrat hängen bleibt, liegt in
Ihrer Verantwortung und nicht in unserer; das muss klar
zugewiesen werden.
({25})
Vorgeschlagen habe ich ja jede Menge. Das Problem
ist - darauf komme ich gleich noch zurück -, wie Sie auf
so etwas reagieren.
({26})
Das wird so nicht weitergehen. Herr Dr. Meister, das
Problem mit dem von Ihnen vorgelegten Konzept ist
- Sie wissen es selbst; der Sachverständigenrates hat das
richtig gesagt; ich zitiere nur den einen Satz aus seinem
Gutachten -:
Alles in allem sind die von CDU/CSU und FDP
vorgelegten Konzepte in der derzeitigen Fassung
als Grundlage einer Unternehmenssteuerreform
nicht geeignet.
({27})
Das ist die zentrale Botschaft.
Eine Einkommensteuerreform haben wir gemacht,
mit ganz massiven Einschnitten. Auch eine Unternehmensteuerreform haben wir eingeleitet. Deren erste
Stufe war das Halbeinkünfteverfahren. Dazu kann ich
nur sagen: Ein Glück, dass wir das gemacht haben!
({28})
Denn wenn das Manninen-Urteil des Europäischen Gerichtshofs jetzt noch auf uns durchschlagen würde, dann
müssten wir bluten ohne Ende.
({29})
Bin ich froh, dass ich auf Herrn Merz nicht gehört habe,
als wir die Unternehmensteuerreform im Jahr 2000
durchgebracht haben! Und Sie müssen auch froh darüber
sein.
Wir haben für die Personengesellschaften, wie für alle
privaten Haushalte, die Einkommensteuer massiv gesenkt: Eingangssteuersatz von 25,9 auf 15 Prozent, Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent und - ganz zentral;
was die Personengesellschaften immer gefordert haben,
was der Mittelstand immer gefordert hat - die Gewerbesteuer als Kostenfaktor durch die Anrechnung de facto
beseitigt.
({30})
Darauf komme ich gleich noch einmal zu sprechen,
wenn ich auf die Vereinbarung des Jobgipfels eingehe.
Wir haben zudem die Körperschaftsteuersätze gesenkt
und auf ein zu dem Zeitpunkt - das ist inzwischen schon
wieder eine Kleinigkeit anders - international vergleichbares Niveau gebracht.
Deswegen, meine Damen und Herren: Wer jetzt ein
richtiges Konzept will, der muss darauf aufsetzen
({31})
und dann den Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform herstellen. Denn der Sachverständigenrat hat
ja zu Recht betont, dass wir nur bei der Einkommensteuer viel gemacht haben. Für weitere Vereinfachungen
- wenn ich sie denn durch den Bundesrat bekäme, Herr
Dr. Meister - bin ich jederzeit sofort offen, allerdings
mit dem Hinweis: Es darf keine soziale Schieflage dabei
entstehen und es muss finanzierbar sein. Wann immer
diese beiden Bedingungen erfüllt sind, gehe ich den
Weg - wenn wir ihn denn gemeinsam gehen können.
Im Zentrum steht jetzt - das sagt der Sachverständigenrat zu Recht -, um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu wahren, die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform. Dafür gibt es bei der Bundesregierung
einen ganz klaren Fahrplan:
({32})
Am Anfang muss eine rechtsformneutrale und finanzierungsneutrale Unternehmensbesteuerung stehen. Da
muss man ein bisschen genauer hinsehen, was Sie in
dem Zusammenhang vorschlagen. Der Sachverständigenrat kritisiert ja zu Recht: Die Aussagen kommen aber
über einige allgemeine Aussagen kaum hinaus. Gesagt
wird lediglich, dass der Dualismus von progressiver Einkommensteuer und Körperschaftsteuer grundsätzlich
beibehalten wird und beide Seiten mit dem Ziel der Besteuerungs-, Rechtsform- und Finanzierungsneutralität
unter Berücksichtigung der europäischen und internationalen Entwicklung aufeinander abgestimmt werden sollen. Dies lässt eigentlich alle Fragen offen.
({33})
Und das ist auch so, meine Damen und Herren! Sie sind
jetzt, auch mit dem Optionsmodell, genau bei dem Vorschlag angekommen, den ich vor fünfeinhalb Jahren gemacht habe und den Sie damals abgelehnt haben.
({34})
In Wirklichkeit werden wir uns etwas anderes klar machen müssen: Das reicht gar nicht mehr. Wir sind mit der
Art, wie wir in Deutschland die Unternehmen besteuern,
auf europäischer Ebene ein Ausnahmefall.
Das heißt: Wir werden die Rechtsformneutralität nur
dann erreichen, wenn wir alle Unternehmen unter das
gleiche Steuerregime stellen, nämlich das Körperschaftsteuerregime. Das ist die europäische Übung und darüber werden wir reden müssen.
Über den Punkt, den Sie damals noch heftig attackiert
haben, werden wir Einigkeit erzielen müssen, wenn wir
bei der Unternehmensbesteuerung wirklich vorankommen wollen. Das wirft eine Reihe von Fragen auf, auch
hinsichtlich der Gewerbesteuer. Ich will in Richtung
FDP ausdrücklich sagen: Unser Modell sieht nicht eine
kommunale Selbstverwaltung vor, die allein von Zuweisungen abhängig ist. Wir wollen eine kommunale Selbstverwaltung mit eigenem Steuerrecht und eigenem Hebesatzrecht. Das wird man sich bei dieser Gelegenheit
wieder sehr genau ansehen müssen.
({35})
Wir haben Untersuchungen dazu eingeleitet, ob wir
den Weg von der Rechtsformneutralität hin zu einer gleichen Besteuerung aller Arten von Kapitalerträgen gehen
und das von den Arbeitseinkommen trennen sollten. Das
ist die Dual Income Tax; das ist der Vorschlag des
Sachverständigenrates. Ich will dies heute nur als Frage
formulieren, weil ich bei der Beurteilung, ob wir diesen
Weg gehen sollten, vorsichtig bin. Wir haben Untersuchungen dazu begonnen. Diese Lösung finden wir in
Skandinavien. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen beurteilen. Das ist ein kompliziertes Thema. Ich will nur darauf hinweisen, dass es ein Pro und ein Kontra gibt. Das
Kontra ist die Frage, ob das alles als gerecht empfunden
wird. Ich sage: Da es die Schweden können, hätte ich damit keine sehr großen Probleme.
({36})
Das Pro könnte darin liegen, dass es uns im europäischen Wettbewerb unter Umständen hilft. Die synthetische Einkommensteuer ist mit einem großen Problem
verbunden. Am Ende hat man nämlich sehr niedrige
Spitzensteuersätze mit hohen Einnahmeausfällen und
Ungerechtigkeiten, was niemand im Ernst wollen kann.
Ich glaube, das würde auch der deutschen Tradition der
Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, wie dies im
Grundgesetz steht, widersprechen. Nicht, dass Sie mich
falsch verstehen: Ich sage nicht, dass das verfassungswidrig wäre, aber es würde nicht unserem Verständnis
entsprechen. Darüber werden wir reden müssen. Alle
Vorbereitungen, die notwendig sind, um die Debatte sauber führen zu können, werden vom Sachverständigenrat
so getroffen, dass wir Ende des Jahres alle Argumente
- Pro und Kontra - auf dem Tisch haben.
Zum Zeitablauf. Eine solche große neue Stufe der
Unternehmensteuerreform ist bei der notwendigen
Sorgfalt nicht in dieser Legislaturperiode zu erreichen.
Die Finanzminister der Länder haben einstimmig gesagt,
dass man bei den jetzt gegebenen Grundlagen in dieser
Wahlperiode keine neue große Steuerreform machen
kann. Der Sachverständigenrat sagt zu Recht, dass eine
sorgfältigere Erarbeitung nötig ist, um das tun zu können. Das muss möglichst schnell und ohne jeden Verzug,
aber sorgfältig geschehen, weil es natürlich richtig ist,
dass man bei den Regelungen im Steuerrecht vorsichtig
sein muss. Das gilt für alle Beteiligten. Die Zeit dafür
braucht man also.
Das bedeutet aber keinen Reformstillstand. Herr
Dr. Meister, Sie haben zu Recht auf Europa hingewiesen. Das heißt übrigens auch nicht, dass wir darauf warten, dass etwas kommt. Im Gegenteil: Vor inzwischen
fast einem Jahr haben wir die gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung in Europa
auf die Tagesordnung gesetzt. Ich mache mir aber keine
Illusionen. Das ist keine Sache, die man in einem Jahr
oder zwei Jahren erreichen kann. Wie Sie wissen, ist in
Europa beim Steuerrecht Einstimmigkeit erforderlich.
Das haben wir nicht gewollt. Wir wollten in die Verfassung den Übergang zur qualifizierten Mehrheit hineinschreiben. Nun ist das aber anders. Zunächst einmal
muss ich zur Kenntnis nehmen, dass mindestens vier europäische Staaten keine Bereitschaft zeigen, dort mitzumachen. Es handelt sich um Großbritannien, Irland - es
sind also nicht nur neue Mitgliedstaaten -, Malta und die
Slowakei. Diese haben ganz unterschiedliche Argumente. Möglicherweise werden wir uns auf eine verstärkte Zusammenarbeit einigen; das kann sein. Ich
hoffe aber, dass wir uns doch noch mit unserem Argument durchsetzen können, das besagt, dass es insbesondere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
die in mehreren Ländern Europas tätig sein wollen, ein
unerträglicher Zustand ist, dass sie von Land zu Land
mit völlig unterschiedlichen Steuersystemen konfrontiert
werden.
Ich will noch weitergehen. Ich bin nicht nur für Mindeststeuersätze. Ein Element der Begründung unserer
Vorschläge beim Jobgipfel war, dass es durch die unterschiedlichen Steuersätze in Europa zu Gewinnverschiebungen kommt, ohne dass wir sie wirklich nennenswert
ver- oder behindern können. Wenn ein Unternehmen
Standorte in mehreren Ländern hat, verschiebt es die Gewinne in das Land, in dem die Besteuerung am niedrigsten ist. Ich glaube, das ist gesamteuropäisch nicht hinzunehmen. Es wäre gesamteuropäisch vernünftig, nicht
nur eine gemeinsame Bemessungsgrundlage bei der
Unternehmensbesteuerung, sondern auch eine gemeinsame Unternehmensbesteuerung zu haben, wie das in
Deutschland der Fall ist. Zusätzlich könnte es lokale, regionale bzw. kommunale Steuern geben, was in einigen
Gebieten auch der Fall ist. Die grundlegende Besteuerung der Unternehmen in Europa sollte aber einheitlich
sein.
Aus der Rechtsprechung des EuGH ergeben sich eine
ganze Menge Probleme; ich habe darauf hingewiesen.
Anders ausgedrückt: Der Europäische Gerichtshof hebt
im Prinzip alle Besonderheiten, die beim Außensteuerrecht Grenzen ziehen, etwa bei der Wegzugsbesteuerung, auf. Er hat festgelegt: Der gemeinsame Binnenmarkt bedeutet, dass man nicht mehr zwischen dem
unterscheiden kann, was in Deutschland, Frankreich
oder Belgien gilt. Das ist auch logisch.
Das Problem ist, dass dies rückwirkend gilt, sodass
wir als Finanzminister - ich hoffe, dies geschieht im
Einvernehmen mit der Kommission - versuchen, in dieser Situation zweierlei zu erreichen. Auf der einen Seite
müssen wir selber sehr viel stärker als bisher unser System daraufhin überprüfen, ob es europatauglich ist. Das
war ein wesentlicher Grund für den Übergang vom Vollanrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren. Das
war richtig so.
Auf der anderen Seite müssen wir auf Folgendes hinarbeiten - das Bundesverfassungsgericht hat sich ähnlich
geäußert -: Grundlage unser Rechtsprechung ist, dass
die Kalkulierbarkeit der öffentlichen Haushalte erhalten bleiben muss. Wenn wir Glück haben, haben wir
für die Umsetzung einige Jahre Zeit. Man wird dann entweder eine nationale Anpassung vornehmen oder, wenn
wir gut sind, eine europäische Regelung erreichen. Das
wäre die richtige Antwort. Auch eine Reihe anderer
Dinge wie die Verlustverrechnung stehen auf der Tagesordnung. Dies spricht übrigens für die Absenkung des
Körperschaftsteuersatzes, damit wir in diesem Zusammenhang unsere Risiken - ich erinnere hier an den Fall
Marks & Spencer - verringern. Das ist eine wesentliche
Abwehrstrategie.
Nun komme ich zu dem, was auf dem Jobgipfel verabredet worden ist. Lassen Sie mich eines vorneweg sagen: Was ich nicht gut finde, ist, dass ich nicht weiß, wer
der Verhandlungsführer ist. Herr Faltlhauser hat mir erklärt, er habe dafür kein Mandat. Der Bundeskanzler hat
es aber anders verstanden. Dann höre ich wieder, er habe
vielleicht doch ein Mandat. Ich weiß nicht, wie ich so
verhandeln soll. Darüber hinaus weiß ich nicht, was Sie
inhaltlich wollen.
({37})
Ich komme als Beispiel auf das schöne Thema Erbschaftsteuer zu sprechen. Wir sind uns doch einig, Herr
Meister. Aber das, was mir an Unterlagen übergeben
worden ist, ist ein Arbeitsentwurf, der nicht einmal das
bayerische Kabinett passiert hat. Daher frage ich: Ist das
nun die Position der B-Länder? Was ist eigentlich mit
der Gegenfinanzierung?
({38})
Dazu steht da nämlich nichts. Für die Einbringung muss
ich doch wenigstens wissen, ob die Bayerische Staatsregierung dahinter steht oder ob das nur ein Referentenentwurf ist. Wird das von den B-Ländern unterstützt? Was
ist mit der Gegenfinanzierung? Diese Fragen müssen geklärt werden.
({39})
Was mich auch gewaltig ärgert - das ist nicht in Ordnung -, ist, dass von Unseriosität die Rede war. Es bestand Einvernehmen darüber, dass wir wenigstens auf
technischer Ebene zusammenarbeiten. Das ist geschehen. Das Fazit war, dass aufgrund von Berechnungen der
bayerischen Seite gesagt worden ist, meine Kalkulation
der Einnahmeausfälle bei der Senkung der Körperschaftsteuer von 25 auf 19 Prozent sei zu pessimistisch,
man müsse nicht von Einnahmeausfällen von 6,2, sondern von 5,2 Milliarden ausgehen. Ich habe mir das angesehen und gesagt, dass auch diese Annahme möglich
ist. Aber ich lasse mir dann nicht vorwerfen, meine
Rechnung sei unseriös.
Ein anderer Punkt ist - das lässt sich sehr schwer festmachen -, dass mit der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auf ein Niveau, das in der Gesamtbesteuerung unter dem unserer westlichen Nachbarn und damit
auch unter dem Österreichs liegt, auch Auswirkungen
auf das Steuersubstrat verbunden sind. Wissenschaftler
bestätigen uns, dass dies zusammenhängt. Aber ich gebe
zu, dass es schwierig ist, hier Schätzungen vorzunehmen. Wir werden uns einigen müssen; denn wir alle wissen, dass, wenn wir über Steuerrechtsänderungen reden
und uns fragen, was sie kosten und was sie uns bringen
werden, wir es in Wirklichkeit nicht mit Mathematik
- um auf Einstein zu kommen -, sondern mit Sozialwissenschaften zu tun haben.
({40})
Mit jeder Steuerrechtsänderung wird zugleich eine Verhaltensänderung der Steuerbürger bewirkt, die eingeschätzt werden muss. Wenn wir hier vernünftig vorgehen
wollen, werden wir also miteinander reden müssen. Ich
muss dafür aber wissen: Wer ist der Verhandlungspartner? Wie ist seine Position?
({41})
Ich habe vorgeschlagen, jetzt in das Verfahren einzusteigen, damit wir vor dem Sommer fertig werden. Ein
Vermittlungsverfahren sollten wir daher vermeiden. Von
meiner Seite wird jede Art von Gespräch akzeptiert, sei
es in der Arbeitsgruppe, die jedenfalls aus Sicht des
Bundeskanzler und des Vizekanzlers damals vereinbart
war - offenbar sieht das Ihre Seite anders -, sei es jeder
andere Weg im Rahmen des Verfahrens. Dann können
wir zu einer Lösung kommen.
Ich habe - das ist mir sehr schwer gefallen - die Gewerbesteuerumlage herausgenommen. Das hat meine
Seite dieses Hauses nicht gewollt und das hat Ihre Seite
dieses Hauses nicht gewollt. Ich will Sie aber auf eines
hinweisen: Das Tableau zeigt, dass die einzigen Gewinner der harten Steuerrechtsänderung die Kommunen
sind. Nun will ich Ihnen sagen, worüber ich mich ärgere.
Schauen Sie sich einmal an, was in Deutschland passiert.
Wir haben in diesem Hause Entscheidungen zur Verbesserung der kommunalen Finanzausstattung getroffen.
Das haben wir gewollt.
({42})
Das stand auch im Zusammenhang mit Hartz IV.
Schauen Sie sich einmal an, was gegenwärtig in den
deutschen Ländern passiert. Baden-Württemberg - das
ist nur der gröbste Fall - kürzt vor diesem Hintergrund
den kommunalen Finanzausgleich mit der Begründung,
den Kommunen gehe es so gut und dem Land gehe es so
schlecht. Deshalb hole sich das Land das Geld wieder
zurück. Das sollten wir alle uns als Bundestagsabgeordnete nicht gefallen lassen.
({43})
Da Sie, verehrter Herr Dr. Meister, so unpolemisch
gesprochen haben, habe ich das auch gemacht.
({44})
- Dann können Sie nicht zuhören. - Das ändert aber
nichts daran, dass es noch Meinungsdifferenzen gibt.
({45})
Wir sollten vielleicht den Versuch unternehmen, uns zu
einigen. Dann muss ich allerdings wissen, wer verhandelt. Ich muss auch Ihre Position kennen. Es geht nicht,
nur Nein zu sagen. Sie, die Sie die Mehrheit im Bundesrat haben, müssen auch sagen, was Sie stattdessen wollen. Das ist der Weg nach vorne, den wir gehen müssen.
({46})
Wie gut, dass einzelne Meinungsverschiedenheiten
bleiben, sonst brauchten wir die Debatten nicht.
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlass der
Debatte ist heute das „Konzept 21“ der CDU/CSU-Fraktion und nicht die Auswirkungen des Jobgipfels, auf die
ich aber anschließend eingehen will. Die FDP-Fraktion
hatte vor über einem Jahr, im Januar, dem Deutschen
Bundestag einen Gesetzentwurf für eine neue Einkommensteuer vorgelegt, weil wir eine grundsätzliche Steuerreform noch in dieser Legislaturperiode ermöglichen
wollten.
({0})
Leider haben die Regierungsfraktionen dieses Angebot
nicht angenommen. Bei aller Unterschiedlichkeit in Einzelheiten hätte man sehr wohl zu einem gemeinsamen
Konzept kommen können und hätte dann nicht wiederum zwei bis drei Jahre verloren. Ich bedauere außerordentlich, dass es diese Bereitschaft nicht gegeben hat.
({1})
Das Konzept war sehr weitreichend, zumal wenn Sie
bedenken, dass sich das Einkommensteuergesetz heute
in der Beck’schen Textsammlung auf über 303 Seiten erstreckt, während unser neues Einkommensteuergesetz
nur 25 Seiten umfasst. Das zeigt ganz deutlich, wie stark
man ein solch kompliziertes Recht vereinfachen kann
und wie stark wir es vereinfachen müssen, damit uns die
Bürger folgen können und wieder Vertrauen in den Staat,
auch in den Steuerstaat, fassen. Heute fühlen sie sich
vom Staat übervorteilt und bevormundet. Sie fühlen sich
unfähig, diese Vorschriften zu befolgen, weil sie sie
überhaupt nicht mehr verstehen können.
({2})
Das ist auch kein Wunder, wenn sogar die Finanzverwaltung sie nicht mehr anwenden kann, wenn die Steuerberater nicht mehr fähig sind, alle Vorschriften richtig zu
beurteilen, und wenn selbst die Finanzgerichte nicht
mehr in der Lage sind, ein endgültiges Urteil zu fällen.
Dieses Steuerrecht ist obsolet und es muss beseitigt werden. Wir stimmen mit der CDU/CSU-Fraktion in der
Zielsetzung völlig überein, dass wir ein drastisch vereinfachtes Steuerrecht brauchen.
Nun haben wir - das muss man hier erklären - unseren Entwurf im Finanzausschuss zurückgezogen, weil
wir Änderungsbedarf hatten; denn wir wollten ihn mit
einem Entwurf zu einer Reform der Unternehmensteuer
verbinden. Der internationale Wettbewerb genauso wie
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
zwingen uns dazu, eine Reform der Unternehmensbesteuerung durchzuführen. Deswegen wollten wir die
Schnittstellen zwischen Einkommensteuer und Körperschaftsteuer neu formulieren. Die Zeit dafür wurde uns
nicht zugestanden. Deshalb haben wir unseren Entwurf
zum Einkommensteuergesetz zurückgezogen. Wir beraten jetzt auf unserem Bundesparteitag ein Konzept für
eine Unternehmensteuerreform. Wir werden dies in einem Gesetzestext formulieren, eine Abstimmung und
Harmonisierung vornehmen und dann einen Gesamtentwurf für eine Reform der direkten Steuern im Deutschen
Bundestag noch in dieser Legislaturperiode - ich hoffe,
Ende dieses Jahres - vorlegen.
({3})
Das sage ich nur, um Ihnen zu zeigen, dass wir es
ernst meinen, und zwar nicht parteipolitisch einseitig.
Wir sehen die objektive Notwendigkeit einer grundsätzlichen Reform der Steuern. Dabei sind der Tarif und damit der Streit um den Tarif in Wirklichkeit das Unwesentlichste. Das Entscheidende ist die systematische
Neugestaltung des Steuerrechts.
({4})
Nur so werden wir, zumindest im europäischen Raum,
die Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen. Es ist eine
Selbstverständlichkeit, dass wir bei der Reform der
Unternehmensteuern darauf achten müssen, dass der europäische Binnenmarkt endlich auch im Steuerrecht
vollzogen wird. Dadurch sind wir gezwungen, die Wettbewerbssituation in Europa zu berücksichtigen und die
unterschiedlichen Steuerhöhen so umzugestalten, dass
Deutschland die Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt.
Ich habe das in einer Grafik abgetragen, auf der Sie
- auch wenn es für Sie jetzt schwer sichtbar ist - an der
oberen schwarzen Linie erkennen können, dass
Deutschland die Unternehmen, egal welcher Rechtsform, am weitaus höchsten besteuert.
({5})
Die Argumentation mit der Steuerquote oder der
durchschnittlichen Besteuerung, Herr Eichel, die immer
wieder vorgetragen und immer wieder widerlegt wird,
führt an der Realität doch völlig vorbei. Ein Investor, der
überlegt, ob er in Österreich oder in Deutschland investieren soll, der fragt doch nicht nach der Höhe der Steuerquote, sondern nur danach, wie hoch er besteuert wird,
wenn er Gewinne erzielt, und ob er seine Verluste mit
den Gewinnen verrechnen kann. Wenn er in Deutschland
von der Mindeststeuer erfährt - die, ohne Mitwirkung
der FDP, leider von beiden Seiten des Hauses eingeführt
worden ist -, sagt er: Nein, einen solchen Unsinn mache
ich nicht mit; wenn ich nicht einmal meine Verluste der
Anlaufphase sofort mit den dann entstehenden Gewinnen verrechnen kann, dann werde ich in Deutschland
nicht investieren.
({6})
Wenn die Besteuerung - egal ob sie bei 42 Prozent
einschließlich Soli oder bei 39,5 Prozent durch Körperschaftsteuer plus Gewerbesteuer liegt - deutlich höher
ist als in den anderen Ländern - ich nehme als Maßstab
wieder Österreich mit 25 Prozent -, dann sagen die Unternehmer: Es macht keinen Sinn, dort zu arbeiten und
zu investieren. Deswegen müssen wir die Steuerbelastung für die Unternehmen auf ein in Europa wettbewerbsfähiges Niveau bringen. Das heißt, wir müssen auf
unter 30 Prozent - wohin auch immer, aber auf jeden
Fall unter 30 Prozent - kommen. Das bedeutet, wir brauchen eine direkte Absenkung.
({7})
Herr Eichel, wenn jetzt, wie beim Jobgipfel vereinbart, ein Schritt in die richtige Richtung gemacht wird
- Senkung der Körperschaftsteuer um 6 Prozent -, dann
unterstützen wir das als FDP. Das heißt allerdings, dass
Sie eine adäquate Entlastung zwingend auch für die Personengesellschaften und Einzelkaufleute brauchen.
({8})
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Herr Müntefering
gegen die großen Unternehmen polemisiert und gleichzeitig nur die großen Unternehmen entlastet werden.
Was ist das für ein Widerspruch?
({9})
Die Masse der mittelständischen Unternehmen, die ja
hier die große Zahl der Arbeitsplätze sichert und anbietet, wird hingegen schlechter behandelt. Das kann nicht
Ergebnis eines solchen Schrittes sein.
Wir sind für die Absenkung der Körperschaftsteuer
um 6 Prozentpunkte. Wir sind auch für den Reformansatz bei der Erbschaftsteuer, den wir in unserem Programm seit zehn Jahren haben und den auch die CDU/
CSU in ihrem „Konzept 21“ hat. Wir sind ebenfalls dafür, dass Maßnahmen zur Gegenfinanzierung getroffen
werden. Aber diese dürfen natürlich nicht wieder ausschließlich die Unternehmen treffen; denn dann nützt die
Steuerentlastung nichts.
({10})
Dass die Verlustzuweisungsfonds schlechter gestellt
bzw. deren Vorteile beseitigt werden, wird von uns
grundsätzlich unterstützt. Wir wollen das Konzept dann
natürlich im Detail sehen; das muss man sich genau anschauen. Aber eine Verschärfung der Mindestbesteuerung wird von uns grundsätzlich abgelehnt, weil das ein
Weg in die falsche Richtung ist.
({11})
Im Übrigen haben wir im Bereich der Subventionen
und der finanziellen Zuwendungen einen riesigen
Spielraum zur Entlastung. Unsere Haushälter haben ja
ein „Sparbuch“ mit über 400 Einzelvorschlägen entwickelt und im Haushaltsausschuss vorgelegt; es sieht Einsparungen mit einem Gesamtvolumen von 12,5 Milliarden Euro vor. Ich trage Ihnen das hier noch einmal vor,
um Ihnen und auch der Öffentlichkeit deutlich zu machen: Sparen ist möglich.
({12})
Es muss gemacht werden; wir müssen mehr sparen. Insofern unterstützen wir den Bundesfinanzminister in seiner Sorge um den Haushalt. Wir wollen einen stabilitätsorientierten Haushalt. Wir wollen unseren Beitrag dazu
leisten. Wenn die Regierungsseite von den im Haushaltsausschuss beratenen über 400 Anträgen aber keinen einzigen für unterstützenswert hält, dann scheint schon die
grundsätzliche Bereitschaft zu fehlen, eine vernünftige
Finanzpolitik gestalten zu wollen.
({13})
Herr Bundesminister Eichel, die Steuerreform ist
grundsätzlich unverzichtbar. Das hat auch der Bundespräsident in seiner vorzüglichen Rede vor den Vertretern
der Arbeitgeberverbände gesagt. Wir brauchen sie. Sie
allein wird Deutschland nicht nach vorn bringen. Die
Verbindung mit anderen Reformen, solchen auf dem Arbeitsmarkt, bei den sozialen Sicherungssystemen und im
Bildungsbereich, ist notwendig. Sie ist aber unverzichtbar. Wir müssen uns gemeinsam an diese riesige Aufgabe machen, weil einer allein sie gar nicht lösen kann.
Sich aber immer wieder mit dem Argument der fehlenden Gegenfinanzierung - Sie behaupten, die Haushalte könnten das nicht tragen - um das Thema herumzumogeln, das geht so nicht weiter. Deswegen fand ich
es interessant, dass Sie in Ihren Vorschlägen beim
Jobgipfel von einem Selbstfinanzierungseffekt gesprochen haben.
({14})
- In den Zeitungen ist das aber so dargestellt worden. Ich
habe schon gedacht, allmählich komme die SPD zur Vernunft.
Steuern sind natürlich ein dynamisches Element in
den wirtschaftlichen Zusammenhängen. Eine Selbstfinanzierung kann nach und nach entstehen, wenn man
eine gute Steuerreform macht. Das haben Sie immer
wieder verneint. Es ist aber so. Die ganze ökonomische
Wissenschaft bestätigt das. Damit wären wir auf einem
richtigen Weg.
Schritte in die richtige Richtung werden von uns unterstützt. Das heißt aber nicht, dass wir uns um die Gesamtreform herummogeln können. Wir brauchen zwingend eine grundsätzliche Reform der Steuern und
Finanzen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Nur kein Neid, Herr Michelbach. - Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Startschuss war
der Bierdeckel. Ich weiß noch, wie - jetzt hätte ich beinahe Herrn Solms genannt; er war bei den Vereinfachungen auch dabei - Herr Merz im Zusammenhang mit dem
Bierdeckel in den Zeitungen gefeiert wurde.
({0})
Wenn man sich nun den Entwurf anschaut, über den wir
heute reden, stellt man fest: Der Bierdeckel ist weg und
Herr Merz ist auch weg.
({1})
Mit einem riesigen Theaterdonner wurde uns ein einfaches und transparentes Steuerkonzept angekündigt,
das, wie gesagt, auf einen Bierdeckel passt.
({2})
Wir wurden mit einem völlig unausgegorenen, ungerechten und nicht finanzierten Antrag der CDU/CSUFraktion konfrontiert, der am Ende 27,5 Milliarden Euro
neue Schulden bedeuten würde.
({3})
Deswegen glaube ich, dass Sie in Wirklichkeit selbst
froh sind, wenn wir Ihren Antrag heute ablehnen.
({4})
Mir wäre es natürlich recht, wenn wir heute darüber
diskutieren könnten, was auf dem Jobgipfel vereinbart
wurde. Wir haben vorgeschlagen - das wurde auf dem
Jobgipfel vereinbart -, die Körperschaftsteuersätze von
25 auf 19 Prozent zu senken. Die bessere Gewerbesteueranrechnung bedeutet, dass in Zukunft alle klein- und
mittelständischen Unternehmen, die Personenunternehmen sind, bis zu einem Hebesatz von 380
({5})
real nicht mehr mit Gewerbesteuer belastet werden. Außerdem soll der Betriebsübergang im Mittelstand erleichtert werden. Das ist die getroffene Vereinbarung.
Es wäre gut und wichtig, wenn wir für den Standort
Deutschland ein klares Signal geben könnten. Wir müssen schnell Klarheit schaffen, damit die Unternehmen
Planungssicherheit haben. Sie müssen wissen, dass der
positive Effekt für Wachstum und Beschäftigung und die
damit verbundenen Arbeitsplätze kommt. Diese Vereinbarung darf nicht - das ist das derzeitige Problem - im
parteipolitischen Gezerre versanden.
({6})
Die Union hat, unverdrossen wie sie in dieser Frage
ist, gesagt, dass die Steuersätze gesenkt werden müssten,
dass aber für die Finanzierungsvorschläge der Finanzminister zuständig sei.
({7})
Wenn uns das nicht gefalle, solle er auf andere Vorschläge ausweichen. An der Diskussion um die Finanzierung würden Sie sich nicht beteiligen. - So geht es
nicht!
({8})
Wenn man gemeinsame Absprachen vereinbart, dann hat
man sich gefälligst daran zu halten. Man kann nicht auf
der einen Seite die positiven Punkte für sich reklamieren
und sich auf der anderen Seite - wenn es um die schwierigen Finanzierungsfragen geht - in die Büsche schlagen. Das ist nicht in Ordnung und dient letztendlich
nicht unserem Land.
Frau Merkel hat eine Gegenfinanzierung eingefordert.
Wir können aber nur feststellen, dass es bisher keinen
einzigen Finanzierungsvorschlag seitens der Union gibt.
Gestern konnte man unter anderem in der „Welt“ lesen,
dass Herr Michael Meister gesagt hat: Wir werden keine
Vorschläge machen.
({9})
Ich sage noch einmal: Wer andere Finanzierungsvorschläge kritisiert, der muss, wenn er seriös sein will,
auch eigene Vorschläge vorlegen.
({10})
Ich kann Sie nur auffordern, sich nicht länger einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu verschließen. Denn es
ist notwendig, dass das Geplänkel aufhört, dass konstruktiv an einer Einigung gearbeitet wird und dass wir
uns unserer gemeinsamen Verantwortung für den Standort Deutschland bewusst sind.
({11})
Nun zu Ihrem Antrag. Sie fordern dort ein einfacheres, gerechteres und leistungsfreundlicheres Steuerrecht.
({12})
Das können wir alles unterschreiben, Frau Wülfing.
Dem kann ich ebenfalls zustimmen.
({13})
Sie sagen aber leider nicht, wie Sie zu diesem neuen
Steuerrecht kommen wollen. Das ist genau das Grundproblem Ihres Antrages.
Sie stellen Eckpunkte auf - so gehen Sie immer vor -,
die völlig unklar sind. Dann sagen Sie, die rot-grüne Regierung bzw. die sie tragenden Fraktionen sollten diese
Unklarheiten beseitigen, und fordern uns auf, wir sollten
unsere Hausaufgaben machen.
({14})
Das heißt, Sie überlassen uns die Aufgabe, Ihre nebulösen Eckpunkte zu konkretisieren und Ihre Vorschläge in
ein Gesetz zu gießen. Aber sobald von uns ein Vorschlag
kommt, springen Sie wieder ins Gebüsch.
({15})
Es ist kein Wunder, dass Sie nur ein Eckpunktepapier in
Form eines Antrags und eben keinen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Damit beweisen Sie nicht ihre Regierungsfähigkeit.
({16})
Das „Konzept 21“ soll Zukunftsfähigkeit suggerieren.
Ich habe schon gesagt, dass es sehr unklar ist. Ich mache
das an ein paar Beispielen fest.
Alle Welt redet über die Reform der Unternehmensbesteuerung, nur fast die gesamte Union nicht.
({17})
Herr Meister hat ein paar Luftblasen abgelassen. Nach
wie vor fehlen konkrete Aussagen zur Systematik. Aber
was noch viel schlimmer ist: Für die Unternehmen
würde die Realisierung der Vorschläge Ihres Antrages
eine Steuersatzerhöhung bedeuten. Denn laut Stellungnahme der Professoren Rürup, Wiegard und Spengel in
der Sachverständigenanhörung, die wir zu diesem Antrag durchgeführt haben, würden die Unternehmenssteuersätze zusammengerechnet auf nominell etwa 42 Prozent steigen. Derzeit liegen sie unter 40 Prozent. Die
Konsequenz wäre: Mit diesen Vorschlägen würde das,
was die Bundesregierung auf diesem Gebiet zum Positiven für die Unternehmen verändert hat, wieder rückgängig gemacht werden. Das nennen Sie ein zukunftsfähiges Steuerkonzept.
({18})
Dieses ist völliger Unsinn und ökonomisch nicht haltbar.
Das kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein.
({19})
Es geht ferner um das Thema EU-Recht-konforme
Besteuerung, das mit der aktuellen Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs natürlich zunehmend in den
Fokus der Steuerpolitik kommt. Der Minister hat darauf
hingewiesen, dass wir Gott sei Dank nicht dem nachgekommen sind, was Sie damals gefordert haben, als wir
unsere Entscheidung für das Halbeinkünfteverfahren getroffen haben. Da haben Sie nicht mitgemacht. Hätten
wir diese Entscheidung damals nicht getroffen, dann hätten wir heute aufgrund der EuGH-Urteile Steuerausfälle
in zweistelliger Milliardenhöhe in der Bundesrepublik
Deutschland.
({20})
Da sehen Sie, zu welchem Schaden Ihre Positionen für
dieses Land führen und welche Probleme Sie uns durch
Ihre milliardenschweren Risiken vor die Füße gekippt
hätten, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Bundeshaushalt, sondern auch im Hinblick auf die Länder und
letztendlich auch die Kommunen.
({21})
Auch ist klar zu sagen, dass Ihre Vorschläge zu einer
immensen Lücke in Höhe von 27,5 Milliarden Euro führen. Ihr Konzept ist unfinanzierbar. Sie widersprechen
sich selbst, wenn Sie einerseits immer wieder sagen, wir
sollten die Maastricht-Kriterien einhalten,
({22})
dann aber andererseits Vorschläge machen, die zu mehr
Schulden in Höhe von 27,5 Milliarden Euro führen. Das
ist unsolide. Dazu kann man nur sagen: Seien Sie froh,
dass Sie nicht in die Situation kommen, dieses Konzept
wirklich umsetzen zu müssen!
Ich fasse zusammen: Der Antrag der Union lässt mehr
Fragen offen, als er beantwortet: Unternehmensbesteuerung - Fehlmeldung! EU-Rechtskonformität - keine
Vorschläge! Aufkommensneutralität: nicht erreicht! Gott
sei Dank können wir den Vorschlag, den Sie gemacht haben, heute ablehnen.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Rzepka, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach sechs Jahren rot-grüner Bundesregierung
befindet sich die deutsche Volkswirtschaft in einer
schweren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise. Zunehmende Armut und zunehmende Arbeitslosigkeit in Deutschland sind das Resultat einer Politik,
der es nicht gelingt, die Rahmenbedingungen unserer
dem verstärkten internationalen Wettbewerb ausgesetzten Volkswirtschaft zu verbessern.
({0})
Die Menschen in unserem Land erkennen diesen Zusammenhang. Das Vertrauen in die rot-grüne Politik
sinkt. Im Regierungslager breitet sich Panik aus: Kapitalismuskritik, klassenkämpferisches Getöse, Boykottaufrufe gegen deutsche Unternehmen aus der Parteizentrale
der SPD und Vorschläge zur Senkung der Unternehmensteuern aus dem Kanzleramt. Während sich der Bundeskanzler über eine mangelnde Investitionsbereitschaft beklagt, redet die stellvertretende SPD-Vorsitzende
Arbeitsplätze kaputt. Ein schlüssiges Konzept sieht anders aus.
({1})
Deutschland braucht eine tief greifende Modernisierung der sozialen Marktwirtschaft, die den Regeln des
Marktes wieder neue Geltung verschafft: Staatshaushalte
sanieren, den Arbeitsmarkt deregulieren, Sozialsysteme
an die veränderte Entwicklung anpassen, die Staatsquote
und die Steuern senken sowie die Bürokratie abbauen.
Viele unserer europäischen Nachbarn - übrigens auch
Sozialdemokraten - sind diesen Weg gegangen und haben neue Beschäftigung und soziale Sicherheit bewirkt.
Nur große Teile der deutschen Sozialdemokratie haben
offenbar immer noch nicht die wohlstandsfördernde
Kraft von Marktwirtschaft und Eigenverantwortung erkannt.
({2})
Die Unionsfraktion schlägt mit dem vorliegenden Antrag eine grundlegende Reform der Steuerstruktur vor,
mit der das Steuersystem einfacher, gerechter und leistungsfreundlicher werden soll. Die Steuersätze sollen gesenkt werden. Im Gegenzug müssen allerdings Subventionen und Steuervergünstigungen weitgehend abgebaut
werden.
Das gegenwärtig nicht mehr reformfähige Einkommensteuergesetz ist aufzuheben und durch ein vollständig neu formuliertes Einkommensteuergesetz zu ersetzen. Die bestehenden Steuerbefreiungen, Freibeträge,
Abzugsbeträge und Ermäßigungen werden weitgehend
aufgehoben. Jede Person - auch die Kinder; Kollege
Meister hat schon darauf hingewiesen - erhält einen einheitlichen Grundfreibetrag von 8 000 Euro. Die darüber
hinausgehenden Einkünfte werden einem Stufentarif mit
einem Eingangssteuersatz von 12 Prozent und einem ab
45 000 Euro Jahreseinkommen greifenden Spitzensteuersatz von 39 Prozent unterworfen. Tarifhöhe und Tarifverlauf werden zur Vermeidung einer kalten Progression
jedes zweite Jahr inflationsbereinigt.
Der Dualismus von progressiver Einkommensteuer
und proportionaler Körperschaftsteuer wird grundsätzlich beibehalten. Einkommensteuer- und Körperschaftsteuerrecht werden mit dem grundsätzlichen Ziel der
Rechtsform- und der Finanzierungsneutralität unter Berücksichtigung der europäischen und der internationalen
Entwicklung aufeinander abgestimmt.
Steuererklärung und Steuerveranlagung werden durch
den Ausbau der elektronischen Datenverarbeitung und
-übermittlung sowie den Ausbau des Quellenabzugsverfahrens radikal vereinfacht. Die Gewerbesteuer wird in
enger Abstimmung mit den Kommunen durch eine Beteiligung an der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer ersetzt.
Schließlich fordern wir die förmliche Aufhebung des
Vermögensteuergesetzes und die Erleichterung der Unternehmensnachfolge bei der Erbschaftsteuer, die ganz
entfallen soll, wenn der Betrieb mindestens zehn Jahre
nach Übergabe fortgeführt wird. Die schnell realisierbaren Teile des neu zu formulierenden Einkommensteuergesetzes sollen im Rahmen eines steuerpolitischen Sofortprogramms vorweggenommen werden.
Wir sind zudem bereit, zusammen mit der Bundesregierung in einem ersten Schritt eine Reduzierung der
Unternehmensteuerbelastung auf unter 35 Prozent
einschließlich der Gewerbesteuer umzusetzen. Von einer
Steuersenkung dürfen allerdings nicht nur die Kapitalgesellschaften profitieren. Auch die vielen Personenunternehmen insbesondere im mittelständischen Bereich sind
zur Stärkung ihrer Eigenkapitalbasis und ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf Entlastungen angewiesen.
Einen ersten Erfolg haben wir mit unserem Antrag
bereits erreicht: Auch die Bundesregierung hat nunmehr
Handlungsbedarf bei der Unternehmensbesteuerung erkannt und Vorschläge dazu vorgelegt. Bei der Prüfung
der Vorschläge werden wir uns von den Zielen der Steuervereinfachung und der Verlässlichkeit steuerpolitischen Handelns leiten lassen. Außerdem wollen wir
keine neuen Staatsschulden zulassen.
({3})
Herr Finanzminister Eichel, in diesem Punkt war Ihr
Konzept von Anfang an unseriös; denn Sie gehen dabei
von 3,3 Milliarden Euro aus, die aus der Senkung des
Körperschaftsteuersatzes durch die Verlagerung von Gewinnen nach Deutschland zusätzliche Steuereinnahmen
in unserem Lande generieren. Wir halten diese Größenordnung für völlig inakzeptabel.
Heute haben Sie uns mitgeteilt, dass Sie - das ist sicherlich auch richtig - die Gewerbesteuerumlage nicht
erhöhen wollen. Damit fällt eine weitere Gegenfinanzierungsmaßnahme weg.
({4})
- Für den Bund ist das mit Sicherheit eine Gegenfinanzierungsmaßnahme.
Insofern sind Sie mit dem Torso Ihres Konzepts heute
letzten Endes auf dem Rückzug. Wir werden sehen, wie
Sie die Finanzierungslücken auffangen wollen.
Frau Kollegin Scheel, auch Sie haben in der Öffentlichkeit mit Ihrer Fraktion die Gegenfinanzierung durch
den Bundesfinanzminister kritisiert, wenn ich das richtig
verstanden habe. Aber wir hätten heute erwartet, dass
Sie im Bundestag vorschlagen, wie aus Ihrer Sicht die
Gegenfinanzierung aussehen soll.
({5})
Sie machen in der Öffentlichkeit bzw. in der Presse Vorschläge, von denen wir alle wissen, dass sie mit dem Europarecht nicht vereinbar und deshalb nicht umsetzbar
sind. Aber in der Diskussion im Plenum des Bundestags
stellen Sie sich diesen Fragen offensichtlich nicht. Denn
Ihnen ist bewusst, dass Sie bisher keine umsetzbaren
Vorschläge zur Gegenfinanzierung vorgelegt haben.
({6})
Der als Steuerchaos bezeichnete Zustand des Steuerrechts ist für alle von ihm Betroffenen unerträglich
geworden. Er ist Ursache für Politik- und Demokratieverdrossenheit; zudem behindert er das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, weil es
an Vertrauen und Rechtssicherheit fehlt. Vertrauen und
Rechtssicherheit sind aber Grundlagen für Investitionen
und Konsum.
Die Bundesregierung hat das Vertrauen in die Beständigkeit staatlichen Handelns schwer erschüttert. Allein
in den letzten zwei Jahren hat es 23 Gesetzesänderungen
im steuerlichen Bereich gegeben, die zusätzliche Komplizierungen mit sich gebracht und zum Teil kurz vorher
erlassene Gesetze und Urteile des Bundesfinanzhofs
wieder korrigiert haben.
Der Bundesregierung fehlt es an einem steuerpolitischen Leitbild. Das zeigen Ihre Gesetze und Erlasse der
letzten Jahre.
({7})
Auch die gegenwärtige Diskussion innerhalb der SPD
lässt keine konstruktive Lösung von Ihrer Seite erwarten. Die Vorschläge unserer Fraktion für ein einfaches
und gerechtes Steuerrecht liegen auf dem Tisch. Sie sind
in der Anhörung des Finanzausschusses von vielen
Experten positiv bewertet worden. Es liegt nun an Ihnen,
Herr Bundesfinanzminister, zu handeln.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Sie erkennen offenbar nicht, dass vor allem im Einkommensteuerrecht ein wirklicher Neuanfang erforderlich ist. Sie haben verschwiegen, dass wir mit den Petersberger
Beschlüssen, die wir vor Jahren im Deutschen Bundestag gefasst haben, schon viel weiter waren und dass Sie
mit Ihrer Blockadepolitik diese Fortschritte hin zu einer
Vereinfachung des Steuerrechts und zu einer Leistungsförderung verhindert haben. Sie haben des Weiteren verschwiegen, dass die Sachverständigen uns bestätigt haben, dass unsere Vorschläge verteilungsgerecht sind und
dass die Steuerausfälle wesentlich geringer sind, als Sie
und Frau Kollegin Scheel behaupten. Sie haben offenbar
die Ergebnisse der Expertenanhörung nicht richtig zur
Kenntnis genommen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Dass die Abschaffung der Gewerbesteuer von vielen
Experten als richtiger Ansatz für die Reform der Unternehmensbesteuerung angesehen wird, haben Sie ebenfalls verschwiegen. Lassen Sie uns in diesem Punkt handeln; denn die Abschaffung der Gewerbesteuer durch
ihre Integration in die Ertragsteuern wäre ebenfalls ein
Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts und zu mehr
Gerechtigkeit.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute über einen Antrag, der vor wenigen
Tagen Geburtstag hatte. Ein Jahr lang sind die Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion durch das Land gezogen, um die
Menschen glauben zu machen, dass ihr Steuerkonzept
die große Reform und die große Weisheit ist. Der Vater
des Gedankens ist Ihr ehemaliger Finanzexperte
Friedrich Merz. Das Ganze hieß ursprünglich „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“. Nun wissen auch die Kollegen von CDU und CSU, dass ein Bierdeckel eigentlich
an den Stammtisch und nicht in den Deutschen Bundestag gehört. So haben sie den Bierdeckel zu einem Konzept weiterverarbeitet. Viel geholfen hat es aber nicht.
({0})
Die Anhörung hat ganz deutlich gezeigt, dass erhebliche
Mängel in Ihrem Konzept versteckt sind. Der „Spiegel“
titelt - nicht zu Unrecht - „Bierdeckels Tod“.
Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist
uns die Erkenntnis, dass das Steuerrecht vereinfacht
werden muss. Wir müssen Ausnahmetatbestände streichen sowie Steuerschlupflöcher und Gesetzeslücken
schließen. So viel zur Theorie. Doch leider hört bei der
Umsetzung die Gemeinsamkeit weitestgehend auf. Ich
erinnere nur an das Steuervergünstigungsabbaugesetz,
die Abschaffung der Eigenheimzulage und - zuletzt - an
das EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz. Möglichkeiten
hatten Sie genug. Aber Sie haben keine genutzt. Immer
wenn es konkret wird, tauchen Sie ab.
({1})
Gleichzeitig legen Sie ein Konzept vor, das den Anspruch erhebt, einfach und gerecht zu sein. Geht das
denn überhaupt? Kann ein Steuergesetz einfach und
gleichzeitig gerecht sein? Ich sage: Objektiv geht das
nicht. Jede Vereinfachung ignoriert Lebenssachverhalte.
Jede Pauschalierung führt zum Verlust von Gerechtigkeit. Deshalb müssen wir uns immer fragen, wie viel
Vereinfachung wir uns erlauben können, damit unser
Gerechtigkeitsanspruch nicht pervertiert wird. Subjektiv
- darin stimme ich Ihnen zu - ist es durchaus möglich,
dass eine Vereinfachung zu einem Gefühl von Gerechtigkeit beiträgt. Die Komplexität der Materie und die
vielen Ausnahmen, die oft nur diejenigen nutzen können, die sich professioneller Hilfe bedienen, führen zu
einer gefühlten Ungerechtigkeit. Steuerpflichtige wissen
nicht, ob sie alle Möglichkeiten in Anspruch genommen
haben, und kommen - meistens zu Unrecht, manchmal
aber auch zu Recht - zu dem Ergebnis, dass die Materie
sie aufgrund ihrer Kompliziertheit benachteiligt. Wir
stimmen überein, dass es Einzelfallgerechtigkeit im
Steuerrecht nicht geben kann.
Durch das von Ihnen vorgelegte Konzept wird aber
die soziale Balance in erhebliche Schieflage gebracht.
Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie alles abschaffen und niemandem sagen, was eigentlich abgeschafft wird?
({2})
- Frau Wülfing, Sie werden ja gleich noch reden. Wenn
Sie etwas zu sagen haben, dann sollten Sie das von diesem Rednerpult aus tun.
Die Steuerfreiheit bei den Sonn- und Feiertagszuschlägen wollen Sie ja ganz besonders gern streichen.
Und was ist, wenn sie gestrichen wird? Es gibt nur zwei
Möglichkeiten: Entweder haben die Menschen, die die
Belastung durch die Schichtarbeit zu tragen haben, netto
weniger in der Tasche oder die Bruttoentgelte müssen
angehoben werden. Haben Sie bei Ihren Innenministern
einmal gefragt, was das nur die Polizei und die Krankenhäuser kostet? Gehen Sie einmal zu Ihrem Mittelständler, der einen Schichtbetrieb führt, und fragen Sie ihn,
was für eine Lohnkostenerhöhung und was für einen
Wettbewerbsverlust das für ihn bedeutet. Bisher haben
Sie das nicht getan, aber ich.
({3})
Herr Dr. Meister, Sie haben von Familie gesprochen.
Haben Sie den Familien auch gesagt, dass künftig das
Mutterschaftsgeld besteuert werden soll? Sie sehen die
Streichung dieser Ausnahme vor. Haben Sie den Kumpels in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass für Sie die
Bergmannsprämie und die Abfindungen Subventionen
sind, die gestrichen werden müssen? Haben Sie den
Pendlern aus der Pfalz, aus dem Sauerland und aus der
Eifel, die jeden Tag in die Ballungszentren zur Arbeit
fahren, gesagt, dass jede Entfernung über 50 Kilometer
zum Privatvergnügen degradiert werden soll? Haben Sie
den Studenten gesagt, dass sie künftig nicht nur Studiengebühren bezahlen sollen? Übrigens, das lehnen die SPD
in Nordrhein-Westfalen und auch unser Ministerpräsident Peer Steinbrück zu Recht strikt ab.
({4})
Haben Sie den Studenten auch gesagt, dass die Steuerfreiheit von Stipendien abgeschafft werden soll, da sie
eine Subvention darstellt? Ist das Ihre Vorstellung von
Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit? Meine
nicht!
({5})
In Ihrem Konzept regen Sie an, die neuen Medien zu
nutzen. Darauf hat gerade auch Herr Rzepka hingewiesen. Das ist eine Bombenidee; sie kommt nur reichlich
spät. Vielleicht würde Ihnen ein Besuch in einem nordrhein-westfälischen Finanzamt einmal gut tun: Dort, im
roten NRW, könnten Sie sehen, dass nicht nur Elster,
sondern auch die vereinfachte Steuererklärung vom
SPD-Landesfinanzminister Jochen Dieckmann bereits
erfolgreich umgesetzt werden.
({6})
Alle 16 Länderfinanzminister kommen in der Bewertung des Konzeptes einstimmig zu dem Ergebnis, dass
Ihr Modell nicht finanzierbar ist. Wir streiten uns in unregelmäßigen Abständen über das 3-Prozent-Kriterium,
das Sie wie eine Monstranz vor sich hertragen. Wie passt
ein Haushaltsloch von 10 Milliarden Euro in diese Diskussion? Rechnet man noch das Kopfgeld in der Krankenversicherung und andere utopische Wahlversprechen
hinzu, bedeutet das laut Herrn Seehofer ein 100-Milliarden-Euro-Haushaltsloch.
Von einer Gegenfinanzierung gibt es weit und breit
keine Spur.
({7})
Von uns verlangen Sie, dass die Änderungen in der Körperschaftsteuer bis auf den letzten Cent gegenfinanziert
werden. Das mag daran liegen, dass Sie an uns deutlich
höhere Ansprüche als an sich selbst stellen. Es kann aber
auch daran liegen, dass Sie wieder einmal überhaupt
nicht wissen, wo Sie stehen.
({8})
Michael Glos hat in der „Financial Times Deutschland“ gesagt:
Wir müssen bei der Senkung der Unternehmenssteuern zumindest zu einer Teil-Gegenfinanzierung
kommen.
Man müsse das Finanzierungskonzept aber „nicht bis zur
letzten Mark“ ausrechnen. Hingegen sagt Volker
Kauder:
Wir unterstützen eine Unternehmenssteuerreform,
aber nur bei hundertprozentiger Gegenfinanzierung.
Was wollen Sie denn eigentlich?
({9})
Allein für die Kommunen würde Ihr Modell einen
Rückgang der Einnahmen um 1,5 Milliarden Euro bedeuten. Sie haben schon einmal probiert, die Kommunen
zum Anhängsel des Bundes zu machen. Damals hat Ihnen die CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth gesagt:
Was bei der Reform der Gewerbesteuer auf einem gutem
Weg war, haben die Länder zu Fall gebracht. Ergänzend
füge ich hinzu: Es waren nicht die SPD-geführten Länder, die es zu Fall gebracht haben.
Beim Thema Erbschaftsteuer ist bei Ihnen ebenfalls
ein klarer Ja-aber-vielleicht-doch-nicht-Kurs zu erkennen. Der bayerische Finanzminister schlägt Änderungen
bei der Erbschaftsteuer zur Erleichterung der Unternehmensnachfolge vor. Diese kopieren Sie dann eins zu eins
in Ihr Konzept. Als es an die Umsetzung ging, war im
„Handelsblatt“ zu lesen:
Auch die aus Bayern stammende Erbschaftssteueränderung trifft auf Widerstand in einigen
CDU-Ländern.
Ist das Taktik oder Unvermögen?
Eigentlich sollte diese Lesung bereits in der letzten
Woche stattfinden. Sie wurde verschoben, um die Ergebnisse aus der Finanzministerkonferenz zur Unternehmensbesteuerung abzuwarten. Aber einmal ganz im
Ernst: Was hat Ihr Konzept mit Unternehmensbesteuerung zu tun? Doch überhaupt nichts!
({10})
In der Anhörung wurde ganz deutlich, dass gerade dieser
Punkt fehlt. Die FDP war schlauer. Sie hat ihren Gesetzentwurf zurückgezogen und gesagt: Wir machen es noch
einmal, wenn wir mit der Unternehmensteuer so weit
sind. - Sie aber hatten gehofft, Ihren Antrag bis zum
Sankt-Nimmerleins-Tag in der Schublade verschwinden
lassen zu können oder ihn einfach in der aktuellen Debatte mit zu verbraten, ohne dass noch einer darüber
spricht. Den Gefallen tue ich Ihnen nicht.
Bei Ihnen passen schlüssiges Handeln und Reden
nicht zusammen. Sie ziehen über die Dörfer und tun so,
als ob Sie den Stein der Weisen gefunden hätten. Wenn
es dann darum geht, sich der Diskussion zu stellen, tauchen Sie ab und suchen Nebenkriegsschauplätze. Das
geht nicht.
({11})
- Herr von Stetten, ich habe noch ein schönes Zitat für
Sie aus einem Kommentar des Deutschlandfunks:
Oder Angela Merkel und Edmund Stoiber hatten
einfach nicht damit gerechnet, vom Bundeskanzler
beim Wort genommen zu werden. Sollte das der
Fall sein, muss freilich der Eindruck entstehen, dass
da ein alter Fahrensmann gleich zwei Leichtmatrosen vorführte. Und damit dürften die Probleme für
die Union im Allgemeinen und Angela Merkel im
Besonderen erst beginnen.
({12})
Ich sage: zu Recht. Denn die Menschen wollen verlässliche Politikerinnen und Politiker, die auch in schweren
Zeiten meinen, was sie sagen, und sagen, was sie tun.
({13})
Sie wollen keine Leichtmatrosen und sie wollen keine
Rückwärtsroller, auch nicht in NRW.
({14})
Das einzige Konzept, das Sie haben, ist, Konzepte
von anderen einzufordern. Das ist eindeutig zu wenig.
Sie sind nämlich in die Opposition gewählt und nicht in
den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden.
({15})
Sie wollen im Wartehäuschen die auf dem Jobgipfel beschlossenen Änderungen bis zum 22. Mai aussitzen. Das
funktioniert nicht. Das werden wir Ihnen vorhalten.
({16})
- Ja, nehmen wir die heute veröffentlichte: 1 Prozent Zugewinn bei den Grünen, 1 Prozent Rückgang bei der
CDU. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen. - Sie bekommen Ihre Quittung am 22. Mai in Nordrhein-Westfalen. Rückwärtsroller und Leichtmatrosen wollen die
Menschen da nicht haben.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die politische Lage ist doch eindeutig.
({0})
Die rot-grüne Bundesregierung hat das Vertrauen der
Bürger und der Wirtschaft durch mangelnde Stetigkeit
und Berechenbarkeit, durch permanente Nadelstiche einfach verspielt. Sie hat vor allem durch eine Steuerpolitik
der Irrungen und Wirrungen jedes Vertrauen, insbesondere beim Mittelstand, verspielt.
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen doch eine
neue Vertrauensbasis für den Standort Deutschland herstellen.
({2})
Es ist eine Tatsache, dass Rot-Grün ökonomisch gescheitert ist und nicht mehr die Kraft hat, eine Erfolg
versprechende Gesamtkonzeption für Wachstum und
Beschäftigung einzubringen. Insbesondere in der Steuerpolitik, Herr Eichel, ist Ihr Stückwerk wirklich offensichtlich. Sie haben keine ordnungspolitische Linie. Sie
haben kein Gesamtkonzept für eine zielführende Steuersystematik.
({3})
Es ist doch eine Tatsache: Die deutsche Steuersystematik ist immer noch leistungsfeindlich, intransparent und
vor allem durch einen undurchdringlichen Paragraphendschungel belastet. Sie haben in fünf Jahren
40 Steuergesetze gemacht und damit das deutsche Steuerrecht immer mehr verwüstet, Herr Bundesfinanzminister.
({4})
Sie haben insbesondere bei jeder Tarifsenkung Gegenfinanzierungsmaßnahmen durchgeführt, die einer Substanzbesteuerung gleichkamen. Damit haben Sie letzten
Endes kontraproduktiv gehandelt. Ihre Maßnahmen haben somit eher zu Be- statt zu Entlastungen geführt.
Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich,
dass Steuerchaos, Steuerwirrwarr und Reformstillstand
aufgebrochen werden müssen und wir klare ordnungspolitisch fundierte Gesamtkonzepte in der Steuerpolitik
brauchen, damit es wieder mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland gibt. Wir brauchen jetzt in
Deutschland einen ganzheitlichen Neubeginn in der
Steuerpolitik, einen steuerpolitischen Aufbruch. Das ist
die Frage der Zeit.
({5})
Wir geben mit dem Konzept 21 eine Antwort. Das
Konzept 21, das wir heute zur Schlussabstimmung bringen, ist ein modernes Steuerrecht für Deutschland, ein
wirklicher Befreiungsschlag und eine zielführende Konzeption für mehr Wachstum und Beschäftigung. Darum
geht es. Es ist in Deutschland notwendig, Vorfahrt für
Arbeit zu erreichen.
({6})
Im Vordergrund des Konzepts 21 stehen ganzheitliche
Reformen für die Einkommen-, Gewerbe- und Erbschaftsteuer. Damit wird das Steuerrecht einfacher und
gerechter und Leistung lohnt sich wieder mehr. Unseren
Betrieben wird mit dem Erlass der Erbschaftsteuer eine
Generationenbrücke ermöglicht. Die Steuersätze werden
deutlich gesenkt, damit Investitionen wieder angereizt
werden. Diese Ziele müssen für einen neuen Aufschwung in Deutschland vorrangig erreicht werden.
Den Einwand, Herr Eichel, der hier immer wieder
wiederholt wurde, Deutschland könne sich keine Steuergesamtreform leisten, lasse ich nicht gelten. Wenn Sie
von Rot-Grün so weitermachen, dann können wir uns in
Deutschland bald gar nichts mehr leisten. Das ist die Situation. Wir brauchen hier einen gewissen Freiraum.
({7})
Dieser Freiraum ist beim Konzept 21 eingeplant. Nicht
27 Milliarden Euro, wie Sie sagen, sondern es sind als
Sofortmaßnahme 10 Milliarden Euro vorgesehen, die finanziert werden müssen.
({8})
Aber man kann doch nicht so vorgehen, dass man sich
jetzt wie Frau Frechen jede einzelne Verbreiterung der
Bemessungsgrundlage vornimmt; das hat Verhetzungspotenzial. Dann kommen wir nie zu einer richtigen Steuervereinfachung. Das ist die Situation.
({9})
- Ja, Sie lachen, Herr Eichel. Es ist doch das Paradoxe
der SPD: Links die Konzerne mit Herrn Müntefering
geißeln, rechts die Konzerne mit Steuernachlässen bevorteilen. Das ist Ihre Politik. Das muss man deutlich sagen.
({10})
Sie selbst haben doch in Ihrem Vorschlag beim Jobgipfel eine Selbstfinanzierung genannt. Bei uns wollen
Sie das nicht sehen. Das ist quasi so etwas wie eine
Selbstanzeige, die Sie hier vornehmen. Die Vorschläge,
die Sie machen, sind in jedem Falle unsolide.
Die Sache mit dem Bierdeckel hat natürlich einen
Vorlauf: die Petersberger Beschlüsse. Ich darf noch einmal deutlich daran erinnern. Wenn Sie sie nicht blockiert
hätten, Herr Eichel, dann hätten wir schon jetzt eine bessere Steuersystematik, eine Vereinfachung und eine erheblich bessere Situation.
({11})
Höchste Priorität im Konzept 21 hat für uns hinsichtlich des Arbeitsmarktes die Generationenbrücke mit der
Erbschaftsteuerreform für die Betriebe, weil damit Arbeitsplätze gesichert werden. Die Erbschaftsteuer für
Betriebsvermögen muss bei Fortführung des Unternehmens durch die Erben stufenweise reduziert und nach
zehn Jahren vollständig erlassen werden. Dieses Degressionsmodell ist der richtige Weg für die Sicherung von
Arbeitsplätzen.
Wir haben aber auch für die Unternehmensbesteuerung grundsätzliche Forderungen genannt; Sie müssen
das nur sehen. Wir haben fünf Punkte, die die Notwendigkeit und die Konzeption einer Unternehmensbesteuerung wesentlich ergänzen, zum Konzept 21 entwickeln
lassen. Diese beinhalten den Grundsatz, dass Sie die Gewerbesteuer anpacken müssen. Wenn Sie die Gewerbesteuer nicht anpacken, dann erreichen Sie in Deutschland nie eine Steuervereinfachung und nie eine richtige
Unternehmensbesteuerung. Davor drücken Sie sich,
Herr Eichel. Sie müssen bei der Gewerbesteuer handeln
und eine kommunale Finanzreform anpacken.
({12})
Ich sage abschließend noch einmal deutlich: Wir stehen zu den auf dem Jobgipfel beschlossenen Steuerverbesserungen. Wir von der CDU/CSU wollen die Senkung der Körperschaftsteuer von 25 auf 19 Prozent. Wir
wollen insbesondere das Erbschaftsteuerbetriebserhaltungsmodell, das hier beschlossen wurde. Wir brauchen
in Deutschland jetzt diese ersten, kurzfristigen Maßnahmen. Das ist notwendig.
Ich darf Sie bitten, nicht wieder Gegenfinanzierungen
vorzuschlagen, die unseriös sind, die wirklichkeitsfremd
sind und die letzten Endes zu einer Verschärfung der
Verlustverrechnung durch eine Mindestbesteuerung führen und damit Liquidität für Investitionen vernichten.
Das ist die Situation, die es nicht geben darf, weil die
Betriebe dann eher belastet als entlastet werden. Das ist
die Situation, die wir nicht gebrauchen können.
({13})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Vielen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin.
Ich möchte abschließend Folgendes sagen: Die Union
bleibt in der Steuerpolitik für die Bürger reformbereit.
({0})
Wir unterstützen die Unternehmen aktiv im Wettbewerb.
Wir kämpfen dafür, dass die Rahmenbedingungen dank
einer vertrauenswürdigen und berechenbaren Steuerpolitik wieder stimmen. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zum Konzept 21 zu! Wenn Sie das tun, dann haben
wir einen ordentlichen Neubeginn in der Steuersystematik und darauf kommt es an.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Michelbach, ich fand in Ihrer Rede eine Stelle wirklich
entlarvend, nämlich die, an der Sie auf die Rede von
Frau Frechen eingegangen sind und gesagt haben: Man
kann sich das doch jetzt nicht alles im Detail anschauen;
da käme man gar nicht weiter. Natürlich muss man sich
die Konsequenzen eines solchen Vorschlags anschauen.
Die Konsequenzen für Einzelfälle, für einzelne Lebenssituationen, etwa von Studentinnen und Studenten, hat
Frau Frechen deutlich beschrieben. Aber die Konsequenzen, die es für die Kommunen hätte, wenn wir ein
Zuschlagsmodell beschließen und die Gewerbesteuer
abschaffen würden, sind noch nicht beschrieben worden.
So wie Sie nicht müde werden, immer wieder zu sagen, man müsse die Gewerbesteuer abschaffen
({0})
und durch einen Zuschlag ersetzen, werden wir nicht
müde werden, zu sagen: Schauen Sie sich die Ergebnisse
der Kommission zur Gemeindefinanzreform an! Da ist
von allen deutlich gesagt worden, dass die Verteilungswirkungen - auf der einen Seite die Verteilung zwischen
Stadt und Land und auf der anderen Seite die Verteilung
zwischen Bürgerschaft und Wirtschaft - derart negativ
sind,
({1})
dass das Modell nicht gewollt wird, schon gar nicht übrigens von Ihren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern.
({2})
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch unter Ihnen
viele gibt, die sagen müssten: Durch ein Zuschlagsmodell schaffen wir keine gute Situation für die Kommunen. Wir halten Ihren Vorschlag jedenfalls für erkennbar
kommunalfeindlich und weisen ihn zurück.
({3})
Die Aufgaben, die die Kommunen haben, sind sehr
vielfältig. In Deutschland gibt es ein System ausgereifter
kommunaler Selbstverwaltung. Das ist gut. Das wollen
wir. Das werden wir auch stärken. Aber richtig ist auch,
dass diese kommunale Selbstverwaltung ausreichend finanziert werden muss, und zwar nicht am Gängelband,
nicht nur über Zuschüsse, sondern durch eine auf die eigene Wirtschaftskraft bezogene Steuer mit Hebesatzrecht.
Eines noch, weil das Ganze unter der Überschrift
Steuervereinfachung steht: Sie wissen genau, dass gerade dieses Modell mit dem Zuschlagsrecht eine ganz
schlechte Bewertung bekommen hat, was die Vereinfachung angeht, weil sie nicht administrierbar ist. Was
macht man bei einem Handwerksbetrieb mit 30 Angestellten, die in unterschiedlichen Kommunen wohnen
und für die es unterschiedliche Zuschläge geben müsste?
Wer soll das machen? Das ist ein hoher bürokratischer
Aufwand.
({4})
Das hat mit Vereinfachung überhaupt nichts zu tun.
({5})
Die Finanzministerkonferenz - das ist schon zweioder dreimal angesprochen worden - hat Ihnen ins
Stammbuch geschrieben, dass dieses Modell gar nicht finanzierbar ist. Da hat man sich alle Folgen, die Vorteile
und die Nachteile, angeschaut und festgestellt, dass es
nicht finanzierbar ist. Wir haben auch Anhörungen
durchgeführt. Wir haben sehr darauf gedrängt - das weiß
ich noch gut -, dass die Anhörung zu diesen Steuermodellen am gleichen Tag stattfindet wie die Anhörung zu
den Maastricht-Kriterien und zu der Debatte über den
Stabilitäts- und Wachstumspakt. An dem Tag ist deutlich
geworden: Man kann nicht am Vormittag erklären, es sei
total wichtig und auf alle Fälle das allein Entscheidende,
dass die 3-Prozent-Grenze eingehalten werde - das wollen wir im Übrigen auch; wir werden immer wieder dafür kämpfen, diese Defizitgrenze einzuhalten -,
({6})
und am Nachmittag über Steuermodelle diskutieren, die
eben mal so mindestens 10 Milliarden Euro - nach
Schätzungen sind es sogar bis zu 27 oder 30 Milliarden
Euro - kosten.
({7})
Das passt nicht zusammen.
({8})
Noch ein anderer Punkt. Natürlich machen wir mit,
wenn Steuervereinfachungen durchgeführt werden, die
auch im Bundesrat verabschiedet werden. Auch ich sehe
ein - der Bundesfinanzminister hat es vorhin gesagt -,
dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich teile die Einschätzung, dass heutzutage viele Leute das Wochenende,
an dem sie planen, ihre Einkommensteuererklärung zu
machen, am liebsten ausfallen ließen; denn das ist ziemlich aufwendig und sehr kompliziert.
Dazu kommen permanente Änderungen im Steuerrecht. Ich bin mir sicher: Ihr Modell würde solche Änderungen notwendig machen und viele Durchführungsverordnungen und Anwendungserlasse provozieren, weil
Sie sehr stark in die bestehenden Regelungen eingreifen
würden. Es würde zu ständigen Änderungen und Ergänzungen führen.
Frau Kollegin, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss.
Einfache Konstruktionen lassen nun einmal Raum für
Auslegungen. Deswegen sollten wir den Umbau unseres
Steuersystems zwar zügig, aber sehr sorgfältig angehen.
Dabei machen wir mit. Aber das Konzept 21 lehnen wir
ab.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzminister! Wir sollten uns in dieser Debatte wieder einmal darüber klar
werden, in welcher Situation sich Deutschland befindet.
({0})
Es geht hier nicht um Klein-Klein, sondern darum, dass
wir in einer schweren strukturellen Krise stecken. Wir
haben die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung der
Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Die Anzahl der versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist gering und geht sehr stark zurück.
Leider nimmt auch die Anzahl der produzierenden Betriebe immer weiter ab.
({2})
Manche Leute sprechen bereits von einer Deindustrialisierung Deutschlands.
Vor diesem Hintergrund ist diese Debatte, wie sie
vom Finanzminister und von Rot-Grün geführt wird,
nicht gerade zielführend.
({3})
Das, was man von Herrn Eichel gehört hat, ist kräftigst
zu kritisieren.
({4})
Er findet, dass all das, was er unternommen hat, in Ordnung ist; nur, die Opposition legt leider keine Gesetzentwürfe vor.
({5})
Ich frage mich immer: Wer regiert eigentlich? Wenn Sie
nicht regieren wollen, dann lassen Sie es!
({6})
Ich finde, dass viele Bereiche, nicht nur der Steuerbereich, reformbedürftig sind. Was wir brauchen, ist eine
Abkopplung der sozialen Sicherungssysteme vom Arbeitsplatz. Was wir brauchen, ist die Senkung der Staatsquote. Was wir brauchen, ist ein neues Arbeitsrecht. Was
wir brauchen, ist weniger Bürokratie. Und was wir auch
brauchen, ist ein einfacheres Steuerrecht.
({7})
Dabei müssen wir das Ziel verfolgen, die Steuersätze zu
senken und die Bemessungsgrundlage zu verbreitern.
Das steht nicht nur in unserem Steuerkonzept. Vermutlich haben Sie alle die hervorragende Rede unseres
Bundespräsidenten Köhler gelesen, der sehr deutlich gesagt hat:
Um Wachstum und Beschäftigung nachhaltig zu
stärken, brauchen wir auch eine umfassende Steuerreform. … Unser Staat hat europaweit … die höchsten Unternehmensteuersätze. Zugleich erzielt
Deutschland mit diesen Unternehmensteuersätzen
im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt europaweit mit die niedrigsten Steuereinnahmen.
Wo er Recht hat, hat er Recht. Das war eine gute
Rede. Wir sollten uns am Bundespräsidenten orientieren
und ihm folgen.
Wir wissen - Herr Eichel, das wissen auch Sie und Ihr
Herr Bundeskanzler -, dass es in Deutschland nicht nur
Körperschaften gibt. Ich meine die bösen Kapitalisten,
von denen Herr Müntefering gesprochen hat und deren
Steuersätze Sie jetzt erneut senken; irgendwie passt Ihre
Politik nicht zusammen.
Sie wissen ganz genau, dass 86 Prozent der Unternehmen in Deutschland Personengesellschaften und Einzelunternehmer sind, die Einkommensteuer zahlen.
Schauen Sie sich unser Steuerkonzept doch bitte daraufhin einmal an! Wer schafft denn die Arbeitsplätze in
Deutschland? Das ist doch der Mittelstand, wie Herr
Michelbach es eben beschrieben hat und wie ich es jetzt
auch wieder tue. Machen Sie doch einmal wirklich etwas
für die! Machen Sie nicht, was Sie jetzt wieder vorhaben: Zum hunderttausendsten Mal wollen Sie die Körperschaftsteuersätze senken
({8})
und die Verlustverrechung für alle wieder verschlechtern, was vor allem den Mittelstand trifft. Ich will zu allem anderen nicht viel sagen, aber dazu sage ich Ihnen:
Die Verlustverrechnung für den Mittelstand verschlechtern, das werden wir auf gar keinen Fall mitmachen.
({9})
Man sollte vielleicht noch einmal betrachten, was Sie
mit der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage vorhatten;
das ist ja schon eine tolle Sache. Sie denken - nein: Sie
hoffen; es ist ja viel Hoffnung bei Ihrem Konzept und
bei dem, was Sie in den Jobgipfel eingebracht haben -,
dass sich trotz der Senkung des Körperschaftsteuersatzes
dadurch, dass Gewinne, die jetzt im Ausland versteuert
werden, möglicherweise im Inland bleiben, das Körperschaftsteueraufkommen erhöht. Auch wir haben zum
Teil diese Hoffnung. Aber selbst wenn das eintritt, haben
die Kommunen davon überhaupt nichts.
({10})
- Nein.
Ich habe eben die Verschlechterung der Verlustverrechnung angesprochen. Damit bekommen die Kommunen zwar eine bessere Grundlage bei der Gewerbesteuer.
Sie rechnen sogar mit 1 Milliarde Mehreinnahmen für
den Bund; es könnte also sein, dass da ein bisschen mehr
hereinkommt. Aber das wollen Sie den Kommunen
gleich wieder wegnehmen. Beim Jobgipfel haben Sie
noch das eine oder andere angekündigt, zum Beispiel ein
Investitionsprogramm für die Kommunen. Also erst die
Gewerbesteuerumlage abschöpfen, um sie dann von
oben wieder herunterregnen lassen - und auf das Dankeschön warten. Danke schön sagen wir dazu nicht; wir
machen das nicht mit.
Ich bin sehr froh, dass Sie eben gesagt haben, Sie
wollten darüber noch einmal nachdenken. Aber ich
glaube erst, dass Sie daran etwas ändern wollen, wenn
Sie tatsächlich einen Gesetzentwurf vorlegen; darauf
warten wir immer noch. Nicht die Opposition macht die
Gesetze, sondern die Regierung ist es, die regiert. Wenn
die Regierung wirklich eine Vorlage auf den Tisch legt,
werden wir das betrachten und beurteilen.
Aber ich glaube nicht, dass diese Maßnahme einen
Wachstumsimpuls bringen wird. Denn was wir wirklich
brauchen, ist selbstverständlich ein Gesamtkonzept sowohl für den Sozialversicherungsbereich als auch für
den Einkommensteuer- und Unternehmensteuerbereich.
Das ist das Einzige, was wirklich den Wachstumsimpuls
bringen würde, den wir unbedingt brauchen. Denn wie
zu Anfang gesagt: Deutschland befindet sich in einer
strukturellen Krise; Strukturen müssen aufgebrochen
werden. Ich hoffe, dass das jeder in diesem Hause einsieht, nicht nur die FDP und die CDU/CSU.
Vielen Dank.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Bernd Scheelen, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Wülfing, der einfache Dreisatz reicht eigentlich aus, um nachzurechnen, dass, wenn die Unternehmen mehr im Inland versteuern, auch die Gemeinden
etwas davon haben. Das sollen sie auch; das finden wir
gut.
({0})
Mit uns wird es eine Erhöhung der Umlage nicht geben,
um das ganz deutlich zu sagen.
({1})
Herr Michelbach und andere Kollegen pflegen ein bisschen die Legende vom Petersberg: Sie behaupten, hätten
wir Ihren Petersberger Beschlüssen damals mit unserer
Bundesratsmehrheit zugestimmt, ginge es Deutschland
besser. Dazu will ich ein deutliches Wort sagen: Genau
das Gegenteil wäre der Fall. Wir haben damals verhindert, dass Sie eine Steuersenkung für die Bezieher höherer Einkommen durch eine Steuererhöhung für die Bezieher unterer Einkommen finanzieren. Wir sind nach wie
vor stolz darauf, das verhindert zu haben.
({2})
Der Antrag der Union trägt den Titel „Ein modernes
Steuerrecht für Deutschland“ - Bindestrich; die Spannung steigt -, „Konzept 21“. Ich muss sagen, Ihre Wortkosmetiker haben da ganze Arbeit geleistet, sie waren
wirklich gut. Da ist ein Spannungsbogen drin. Wenn
man sich allerdings die 16 Seiten, die Sie uns vorgelegt
haben, anschaut, dann findet man eine zentrale Aussage
darin.
({3})
Die zentrale Aussage lautet: Die Bundesregierung wird
aufgefordert, ein Konzept vorzulegen. Ihre Vorstellung
eines Konzepts ist, dass die Bundesregierung ein Konzept vorlegen soll. Das ist toll, ganz große Klasse.
({4})
Sie geben der Bundesregierung ganz generös ein paar
so genannte Gedanken, wie Sie das nennen, mit auf den
Weg. Ich will mich nur mit einem beschäftigen. Unter
anderem sagen Sie: Das Steuerrecht muss einfach und
gerecht sein. Das klingt super.
({5})
Mit „einfach“ und „gerecht“ kann man Bier- bzw.
Stammtischreden halten. Was ist aber die Wahrheit? Die
Wahrheit ist, dass das gar nicht geht, weil das die Quadratur des Kreises wäre. Einfach und gerecht geht nicht.
Es geht entweder einfach oder gerecht oder kompliziert
und gerecht. Das eine geht nur ohne das andere. Einfach
und gerecht funktioniert nicht.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, die Kopfpauschale.
({6})
Frau Wülfing, Ihr vermeintliches Highlight in der Gesundheitspolitik ist die Kopfpauschale. Sie ist einfach;
denn jeder zahlt 169 Euro - super.
({7})
Das ist zwar ganz einfach, aber völlig ungerecht, da der
Chefarzt dasselbe wie die Sekretärin zahlt und auch die
Rentner 169 Euro zahlen. Finden Sie das gerecht?
({8})
Sie haben erkannt, dass das so natürlich nicht geht.
Deshalb fangen Sie an, über das Steuersystem mühsam
einen sozialen Ausgleich herzustellen, der dazu führt,
dass 80 Prozent derjenigen, die das zu zahlen haben,
demnächst Anträge auf einen sozialen Ausgleich stellen
müssen. Das, was Sie vorschlagen, ist wirklich sehr einfach. Sie bestätigen damit: Einfach und gerecht funktioniert nicht.
({9})
Wir brauchen Änderungen im bestehenden Steuerrecht,
um Vereinfachungen zu erreichen. Dies muss aber immer unter Berücksichtigung der Gerechtigkeit geschehen.
({10})
Zur Gewerbesteuer will ich einen Satz sagen.
({11})
Auch das wird in Ihrem vermeintlichen Konzept angesprochen. Allerdings gehen Sie dort noch ein Stück weiter. Sie geben zu, dass Sie überhaupt kein Konzept haben; denn in Ihren gemeinsamen Grundsätzen von CDU
und CSU schreiben Sie, dass Sie den kommunalen
Gebietskörperschaften anbieten, gemeinsam einen Ersatz für die überholte Gewerbesteuer zu erarbeiten. Wo
ist denn das Konzept? Wann haben Sie das erarbeitet?
Sie haben unter Helmut Kohl 16 Jahre lang Zeit gehabt,
das zu tun, aber Sie haben das nicht getan.
({12})
Nun sind Sie seit fast sieben Jahren in der Opposition, in
denen Sie auch Zeit gehabt hätten, gemeinsam mit den
kommunalen Spitzenverbänden etwas zu erarbeiten.
Auch das haben Sie nicht getan. Sie haben Ihre Hausaufgaben in dieser Frage nicht gemacht.
({13})
Ganz im Gegenteil: Dadurch, dass Sie mit Ihrer Bundesratsmehrheit das Ergebnis der Kommission, das auf dem
Tisch lag und das die Kommunen - es hatte die Zustimmung aller 14 000 Gemeinden - und die kommunalen
Spitzenverbände wollten, blockiert haben, haben Sie
verhindert, dass eine anständige Gemeindefinanzreform
in Kraft tritt. Den Kommunen, den Städten und den
Kreisen in Deutschland ginge es deutlich besser, wenn
Sie diese Gemeindefinanzreform im Bundesrat nicht
blockiert hätten.
({14})
Herr Rzepka, Sie haben vorhin gesagt, in der Anhörung hätten Ihnen viele Experten zugestimmt.
({15})
Ich erinnere mich, dass die Anhörung speziell in diesem
Punkt ein Desaster für Sie war.
({16})
Ich brauche Ihnen nur kurz aus der Stellungnahme der
kommunalen Spitzenverbände zu Ihrem Vorschlag vorzulesen, der so ähnlich wie der BDI-Vorschlag - „Weg
mit der Gewerbesteuer“; stattdessen soll es Zuschläge zu
anderen Steuerarten geben - lautet. Die kommunalen
Spitzenverbände sagen, ohne eine bessere Alternative
stehen sie fest zur Gewerbesteuer. Gleichzeitig sagen sie,
dass Ihre Vorschläge eben keine Alternative sind. Es gibt
zurzeit kein Konzept, durch das die Gewerbesteuer in irgendeiner Form ersetzt werden könnte. Deswegen sind
wir froh und stolz darauf, dass wir die Gewerbesteuer
({17})
vor Ihrem Zugriff haben retten können.
Sie haben gemerkt, dass die Gewerbesteuereinnahmen im letzten und in diesem Jahr deutlich gestiegen
sind. Das ist der Erfolg des Kompromisses, den wir mit
Ihnen eingehen mussten. Wir haben noch wesentlich
mehr gewollt, aber wir sind schon froh, dass sich die Gewerbesteuereinnahmen im Moment gut entwickeln. Wir
hoffen, dass die Kommunen die Aussicht darauf haben,
auch mit Ihrer Zustimmung endlich ein anständiges Reformkonzept zu erhalten.
Deswegen lautet meine Aufforderung: Nehmen Sie
Ihre Verantwortung im Bundesrat endlich wahr und
stimmen Sie guten Konzepten zu!
Vielen Dank.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 15/5176
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Ein modernes Steuerrecht für Deutschland - Kon-
zept 21“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2745 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention
- Drucksache 15/4833 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention
- Drucksache 15/5214 ({1})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2})
- Drucksachen 15/5363, 15/5372 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Detlef Parr
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5368 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Dr. Michael Luther
Anna Lührmann
Otto Fricke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr,
Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Prävention und Gesundheitsförderung als
individuelle und gesamtgesellschaftliche
Aufgabe
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Verena Butalikakis, Monika
Brüning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe umfassend, innovativ und unbürokratisch gestalten
- Drucksachen 15/4671, 15/4830, 15/5363,
15/5372 Berichterstattung:
Abgeordneter Detlef Parr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Prävention und Gesundheitsförderung werden mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf in unserer Gesellschaft fest
verankert.
({0})
Über das Ziel herrscht Einigkeit. Doch wie so oft, wenn
es ums Geld geht und wenn es konkret wird, enden dann
die Gemeinsamkeiten.
In den Beratungen und Anhörungen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Fraktionen wurde immer wieder kritisiert, die geplante Stiftung Prävention
und Gesundheitsförderung sei zu bürokratisch.
({1})
Dieser Vorwurf - Herr Kollege Parr, wie könnte es anders sein: wenn man genau hinschaut und sich sachkundig macht, kommt man zu einem anderen Ergebnis - ist
falsch.
({2})
Die Stiftung wird nur einen kleinen Arbeitsstab, einen
hauptamtlichen Geschäftsführer und einen ehrenamtlichen Vorstand haben. Ihre Arbeit soll ausdrücklich auf
den vorhandenen Strukturen in den Ländern aufbauen.
Sie agiert mit klaren Vorgaben. Von einem Übermaß an
Bürokratie also keine Spur.
Der zweite Kritikpunkt war, der Entwurf sei nicht
verfassungsgemäß. Dieser Vorwurf, auch wenn er ständig wiederholt wird, wird dadurch nicht richtiger. Hier
hat ein Gutachten der beiden Verfassungsressorts - darüber bin ich sehr froh - für Sicherheit gesorgt. Klar ist,
dass die Zweckbindung der Beiträge der Versicherten
vollständig gewahrt wird. Die Sozialversicherungen haben in der Stiftung eine strukturelle Mehrheit und können deswegen eigenverantwortlich über ihre Mittel und
auch über ihre Präventionsziele selbst entscheiden. Das
ist von uns so gewollt, weil derjenige, der die Mittel aufbringt, auch über die Verwendung der Mittel entscheiden
muss.
({3})
Als Drittes wurde bemängelt, dass die Prävention
nicht allein Aufgabe der Sozialversicherungen sei. Dies
ist richtig; diese Auffassung teile ich. Aber ich bitte darum, zur Kenntnis zu nehmen, was vom Bund inzwischen alles an Präventionsmaßnahmen finanziert und gefördert wird. Das ist nicht wenig. Allein im Haushalt des
Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung wurden 2004 mehr als 40 Millionen Euro für Zwecke der Prävention im engeren Sinne ausgegeben, das
heißt für gesundheitliche Aufklärung, Präventionsprojekte, Präventionsforschung und für einzelne Modellvorhaben. Rechnet man die Aktivitäten anderer Ressorts
hinzu, dann verdoppelt sich diese Summe des Bundes,
also 80 Millionen Euro allein für die Prävention im engeren Sinne. Darin sind die Mittel der Länder und Kommunen noch gar nicht eingerechnet. Ich frage: Ist das
nichts? Warum wird darüber nicht öffentlich geredet?
Warum tun wir so, als seien dies ausschließlich Mittel
der Sozialversicherungen? In diese Bereiche fließen
nicht unerhebliche Mengen an Steuermitteln.
({4})
Ich denke, dass mit diesem Gesetz eine sinnvolle
Schnittstelle geschaffen wird. In diesem Gesetz - es erhöht die Urteilskraft, wenn man sich sachkundig macht ist das erste Mal die Aufgabenbeschreibung der BZgA
und ihre Abgrenzung von der neuen Stiftung gelungen.
Damit wird es zu Synergieeffekten kommen und Doppelarbeit wird vermieden. Das war überfällig. Das findet
sich in dem Gesetz wieder.
({5})
Es ist aber notwendig, zu sagen: Wir geben nicht nur
Geld aus, sondern wir wollen mit diesem Gesetz die Prävention als eigenständige vierte Säule im Gesundheitswesen verankern. Deshalb verändern wir die Strukturen.
Es wird zum Beispiel in Zukunft eine eigene Evaluierung und Berichterstattung beim Robert Koch-Institut
geben. Die Bundesministerien haben sich auf der letzten
Kabinettssitzung zu einer gemeinsamen Präventionsstrategie der Bundesregierung verständigt, in der dargelegt
wurde, welches Ministerium in Zukunft welche Aufgaben erfüllt. Das heißt, Prävention wird zu einem Querschnittsthema, das alle Ministerien umfasst. Dies ist
überfällig.
({6})
Wir zeigen auch deshalb Flagge, um gegenüber den
Sozialversicherungen deutlich zu machen, dass es nicht
allein ihre Aufgabe ist und wir uns nicht aus der Finanzierung zurückziehen. Wir bekennen uns im Gegenteil
klar zur Aufgabe der Prävention. Aber die Sozialversicherungen müssen dies auch tun. Ich habe wenig
Verständnis für die Diskussion, die in der Öffentlichkeit
stattfindet. Wenn man sich überlegt, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen 140 Milliarden Euro für
die Bereiche kurative Medizin, Rehabilitation, Pflege
und alles, was damit verbunden ist, ausgeben und jetzt
diskutiert wird, ob die geforderten 180 Millionen Euro
eigentlich zu viel seien, dann muss man zu dem Schluss
kommen, dass die Debatte in eine völlig falsche Richtung geht.
Es ist überfällig, dass wir umsteuern und dass die
Mittel für die Prävention ausgeschöpft werden. Wenn
die Kassen das alleine getan hätten und es Synergien gegeben hätte, wäre es gut gewesen. Aber wir wissen doch
alle, dass die Mittel in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft wurden. Wir wissen auch, dass dort, wo die Prävention besonders wichtig wäre, nämlich in den sozialen
Brennpunkten, bei Kindern und Jugendlichen, bei älteren Arbeitnehmern und älteren Menschen allgemein, die
Individualprävention gar nicht ankam. Sie wurde vielmehr überwiegend von Frauen zwischen 35 und 50 Jahren aus der Mittelschicht genutzt. Es ist gut so, dass die
mitmachen, aber das kann es doch nicht alleine sein. Die
Prävention muss dort angeboten werden, wo die Menschen die Prävention wirklich brauchen.
({7})
Ich glaube, dass wir aus diesem Grunde die Verantwortung der Sozialversicherungsträger einfordern müssen. Ich glaube auch, dass es richtig ist, mit einem ersten
wichtigen Schritt zu beginnen. Es ist aber wie immer in
der Bundesrepublik Deutschland: Alle sind sich über das
Ziel einig, aber dann kommt die ganze Reihe der Bedenkenträger, der Verhinderer und der Blockierer. Jeder
sagt, warum es so nicht geht, warum es jetzt nicht geht,
dass die Mittel zu hoch sind und dass das Ganze organisatorisch in eine falsche Richtung geht.
({8})
Ich will an der Stelle ausdrücklich sagen, dass diejenigen, die sich jetzt zu Wort melden, einbezogen waren,
und zwar sowohl die Sozialversicherungsträger als auch
die Länder. Es wäre sehr schön, wenn man bei dem einmal Verabredeten bliebe, auch wenn das im Moment
nicht in die politische Strategie passt. Ich hoffe sehr, dass
sich die Fachminister in dem Punkte durchsetzen und
nicht die Ministerpräsidenten, die im Moment nur eine
Blockadepolitik gegen diese Bundesregierung betreiben
({9})
und die Zustimmung zu den wirklich wichtigen Maßnahmen verweigern. Deswegen müssen wir die Einhaltung
des Verabredeten deutlich einfordern.
({10})
Für uns besteht der entscheidende Gewinn der Stiftung darin, dass wir endlich grundlegende Präventionsziele für die Bundesrepublik Deutschland haben werden.
Wir werden Dachkampagnen haben und wir werden
Qualitätsstandards entwickeln. Es soll nicht nur etwas
gemacht werden, sondern auch überprüft werden, ob die
Ziele erreicht werden. Wir werden auch dafür sorgen,
dass die vielen guten Projekte, die es bereits gibt, zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Wir haben viele
einzelne Projekte, aber die haben wir nicht koordiniert,
sie sind nicht unter einem Dach und sie werden vor allem nicht systematisch evaluiert. Deswegen ist dies
überfällig.
Ein Blick über die Grenzen der Bundesrepublik
Deutschland zeigt, dass andere Länder mit der Stiftungsidee gut zurande kommen. Es gibt eine Stiftung in der
Schweiz und es gibt eine Stiftung für Prävention in
Österreich. Beide Länder machen mit dieser Organisationsform derzeit sehr gute Erfahrungen. Wir haben
diese Erfahrungen in der Gesetzgebung berücksichtigt.
Wenn man es mit der Prävention ernst meint, dann
muss jetzt gehandelt werden. Stellen Sie deswegen Ihre
Bedenken ein Stück weit zurück! Lassen Sie uns beginnen! Jeder weiß, dass wir uns mehr Mittel und mehr Institutionen wünschen, die mitmachen, ob das die privaten Versicherer oder andere öffentliche Einrichtungen
sind oder auch private Zustiftungen, die das Gesetz ausdrücklich ermöglicht. Der Startschuss für die Prävention
in einer älter werdenden Gesellschaft muss jetzt erfolgen. Deswegen bitte ich Sie darum, sich dieser wichtigen
Aufgabe nicht weiterhin zu verweigern.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Verena Butalikakis, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Dem Krümelmonster in der ‚Sesamstraße‘ wird eine
Obstdiät verordnet.“ So lautete die Ankündigung im
Fernsehen vor ungefähr drei Tagen, die ich zufällig
hörte. „Na endlich!“, dachte ich in Erinnerung an die anstrengenden Erklärungsversuche meinen Kindern gegenüber, dass wirklich nur das Krümelmonster so viele
Kekse in sich hineinstopfen darf.
Hintergrund dieser Meldung war dann tatsächlich die
Erklärung, dass das Krümelmonster durch das viele
Essen - oder Fressen - von Obst in dieser Bildungssendung für kleine Kinder ein Vorbildverhalten für
gesunde Ernährung bieten soll. Richtig, kann man da
nur sagen. Ich glaube, wir sind uns über die Fraktionen
hinweg einig: je früher Gesundheitserziehung, desto
besser. Wenn das Kind dann nicht nur in der beliebten
Fernsehsendung, sondern auch in der Familie und in der
Kita erfährt, wie man sich richtig ernährt, wenn das
Gelernte in der Schule verstärkt wird, dann ist der
Grundstein für ein gesundheitsbewusstes Verhalten im
Erwachsenenalter gelegt und Prävention kann in Eigenverantwortung wahrgenommen werden. Das Verhalten
ist gelernt worden - die Wunschzielvorstellung von Prävention.
Bei den Erwachsenen sieht das Lernen heute allerdings anders aus. Die Aussage „Krankheiten vorzubeugen und zu verhindern ist besser, als Krankheiten zu heilen“ erhält in Umfragen hundertprozentige Zustimmung.
Auf die Frage: „Was ist wichtig für die Gesundheit?“
stehen laut einer Umfrage von Allensbach die Antworten
„Bewegung, Sport“, „Ernährung“ und „Vorsorgeuntersuchungen“ weit oben in der Rangfolge.
Doch obwohl der Präventionsgedanke in den letzten
anderthalb Jahrzehnten erfreulicherweise mehr Raum
gewonnen hat und auch das Angebot an Präventionsmaßnahmen unterschiedlichster Art stark angewachsen
ist, die Diskrepanz zwischen dem Kennen und Benennen von Schlagworten, dem Wissen, auf der einen Seite
ist und dem Handeln für die eigene Gesundheit auf der
anderen Seite nach wie vor zu groß. Nur 25 Prozent der
Befragten in der oben genannten Untersuchung erklären,
dass sie gesundheitsbewusst leben und ihre Ernährung
und Lebensweise darauf ausrichten, gesund und fit zu
bleiben.
Das ist der Sachstand zum Thema Prävention. Wir haben ein Umsetzungsproblem. Dabei sind sich Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker aller Parteien seit vielen Jahren einig: Für eine wirkliche Stärkung muss ein
neuer Ansatz umgesetzt werden. Prävention wird die
vierte Säule des Gesundheitswesens; wir haben es gerade gehört: ein Paradigmenwechsel. Prävention wird
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Prävention
braucht eine gesicherte Finanzierungsgrundlage.
Inhaltlich gehören dazu: eine Begrifflichkeit für Prävention, eine abgestimmte Strukturgebung, gemeinsame
Präventionsziele und Kontrollen für die Zielerreichung.
Außerdem brauchen wir für diesen neuen Ansatz eine
gesetzliche Grundlage.
Die Vorteile einer gestärkten Prävention auf einer guten, neuen gesetzlichen Grundlage liegen angesichts der
demographischen Entwicklung und absehbarer Kostensteigerungen auf der Hand. Wenn mehr Menschen sich
bewusst gesundheitsbewusst verhalten, wird die Lebensqualität des Einzelnen gesteigert und längerfristig ergeben sich Einsparungen in den sozialen Sicherungssystemen.
Ich gehe davon aus, dass über die von mir umrissene
Zielbeschreibung Einigkeit im Haus herrscht. Ich will
sie für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ausdrücklich
bestätigen. Was wir noch brauchen, ist ein Gesetz, das
diese Anforderungen auch umsetzt. Im Rahmen des
Gesundheitskompromisses 2003 wurde die Vorlage eines Präventionsgesetzes, die dann ein Jahr zu spät kam,
verabredet. Dieser Gesetzentwurf erfüllt den - zugegebenermaßen sehr hohen - Anspruch nicht. Ich sage ausdrücklich: leider nicht.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte deshalb parallel zu dem
Gesetzentwurf einen Antrag eingebracht, der im Einzelnen den notwendigen Änderungsbedarf belegte und eine
grundlegende Überarbeitung einforderte. Ich will kurz
die Einzelpunkte nennen:
Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe muss
auch eine gemeinsame Finanzierung haben.
({0})
Es kann nicht sein, dass - die Staatssekretärin hat es gerade noch einmal wiederholt - nur einige Sozialversicherungsträger zur Zahlung verpflichtet werden, andere Sozialversicherungsträger sowie Bund und Länder nicht
beteiligt sind.
({1})
Beim Einsatz von Beitragsmitteln der Versicherten ist
die Verfügungs- und Entscheidungshoheit des jeweiligen
Sozialversicherungsträgers unabdingbar.
Prävention als neue, vierte Säule im Gesundheitswesen umfasst für uns nicht nur die Primär-, sondern
auch die Sekundär- und Tertiärprävention. Notwendig
sind transparente Organisationsstrukturen, die geringen bürokratischen Aufwand und geringe Verwaltungskosten garantieren.
Bei der ersten Lesung im Bundestag im Februar dieses Jahres wurden unsere Einwände und Forderungen
von Ihnen, Frau Ministerin - Sie sind anwesend, haben
aber nicht geredet, was uns etwas verwundert hat; vielleicht empfinden Sie nach dem ganzen Gesetzgebungsverfahren keine große Liebe mehr für dieses Gesetz -,
beiseite gewischt mit den Worten: „Machen Sie mit, anstatt mies zu machen.“ Voll des Lobes für den eigenen
Gesetzentwurf gipfelten Ihre Aussagen dann in folgenden Worten:
Angesichts der zahlreichen Partner, die an den Beratungen beteiligt waren,
- die CDU/CSU-Fraktion war es nicht ist der vorliegende Gesetzentwurf das, was wir momentan mit Zustimmung aller - der Sozialversicherungsträger, aber auch der Länder - auf den Weg
bringen können.
Wollen wir diese Aussage, am besten anhand von Zitaten, einmal überprüfen.
Mit der Zustimmung der Sozialversicherungsträger?
In der Anhörung am 9. März stellte sich die Sachlage etwas anders dar. Für den Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger stellte Dr. Reimann unter anderem
fest - ich zitiere -:
An diesen beiden Punkten - Finanzierung und Zuständigkeiten - sehen wir erheblichen Nachbesserungsbedarf an dem vorliegenden Gesetz.
Für die gesetzliche Krankenversicherung äußerte sich
Herr Stuppardt von der IKK wie folgt:
Wir haben
… bezogen auf diesen Gesetzentwurf eine umfassende Stellungnahme in Richtung Klarstellungsund Ergänzungsbedarf abgegeben … Es kann auch
einiges in diesem Gesetz gestrichen werden, weil es
letztendlich verfassungsrechtlich nicht trägt. Dafür
haben wir das Gutachten in Auftrag gegeben. Wir
brauchen eine gründliche Überarbeitung …
({2})
Der Bundesrat tagte am 18. März. Mit der Zustimmung der Länder? Ich zitiere aus der Bundesratsdrucksache 97/05:
Der Gesetzentwurf weist Überregulierungen auf,
die nicht mit dem Ziel des Bürokratieabbaus übereinstimmen.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Gesetzentwurf einer Überarbeitung bedarf, um im Sinne
der vorgenannten Ausführungen einfachere und
transparentere Organisationsstrukturen auf Bundesebene zu schaffen, die den bürokratischen Aufwand
verringern.
Frau Ministerin, ich stelle fest, der vorliegende Gesetzentwurf hat weder die Zustimmung der Sozialversicherungen noch die der Länder.
({3})
Das heißt, Ihre Aussage in der ersten Lesung war
schlichtweg falsch.
Darüber hinaus haben in der Anhörung alle 39 Sachverständigen weiteren Änderungsbedarf sehr deutlich
gemacht. Hauptkritikpunkte waren die Finanzierung, die
Organisationsstrukturen und der hohe Bürokratieaufwand. Das sind genau die Kritikpunkte, die wir von der
CDU/CSU-Fraktion auch vorgetragen haben. Alles
Miesmacher? Nein, wahrscheinlich zeigt das nur, dass
Teile dieses Gesetzes einfach „mies“ sind.
({4})
Welche Schlussfolgerungen hat die rot-grüne Regierungskoalition aus all den Änderungsanforderungen und
Überarbeitungswünschen gezogen? - Gar keine! Wie
sagte der Kollege Lohmann im Ausschuss, als er die
neuen Änderungsanträge der Regierungskoalition vorstellte? - „Das sind alles redaktionelle Änderungen.“ Somit steht das Gesetz heute inhaltlich unverändert zur Abstimmung.
({5})
Auch das vorliegende Gutachten zu verfassungsrechtlichen Fragen, von der gesetzlichen Krankenversicherung in Auftrag gegeben, ist mit einer Kurzstellungnahme aus dem Bundesministerium des Innern für
entkräftet erklärt worden.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
wird den Gesetzentwurf ablehnen.
Und weil die Staatssekretärin eben gesagt hat: Lassen
Sie uns anfangen, und weil ich genau weiß, dass gleich
- wie in der ersten Lesung - die Sätze folgen werden:
Wir müssen den ersten Schritt in die richtige Richtung
machen, möchte ich zum Abschluss kurz etwas bemerken: Zur Stärkung von Prävention kennen wir nicht nur
die Richtung, wir kennen das Ziel. Ich habe das eingangs
ausgeführt. Wir sind uns einig über die grundlegenden
Punkte - über die Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker sich seit vielen Jahren einig sind. Und wir haben
auch gar nicht mehr die Zeit, nur einen kleinen ersten
Schritt zu tun. Wir brauchen einen großen Schritt, um
das angestrebte Ziel zu erreichen. Dieses große Ziel ist
das richtige Gesetz, und das fehlt leider.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich sind sich alle einig.
({0})
Eigentlich finden alle, dass Prävention gut und wichtig
ist. Eigentlich finden alle, dass wir für die Prävention
eine rechtliche Grundlage brauchen. Eigentlich finden
alle - Sie, Frau Butalikakis, haben sich vorhin das Motto
ausdrücklich zu Eigen gemacht -, dass Vorbeugen besser
ist als Heilen. Eigentlich wissen alle, dass in der Prävention eine der größten Wirtschaftlichkeitsreserven unseres
Gesundheitswesens schlummert. Das könnte ja genügend Gemeinsamkeit sein, um ein Gesetz gemeinsam
auf den Weg zu bringen.
({1})
Aber auch bei diesem Gesetz ist es so: Wenn es konkret
wird, fliegen plötzlich die Fetzen.
Woran liegt das eigentlich? Wenn es wirklich unterschiedliche fachliche Perspektiven wären, dann könnte
man darüber diskutieren. Aber ich fürchte, es liegt vor
allem an den unterschiedlichen Interessen der beteiligten
Akteure, die allzu oft mit dem konkreten Gesetzesprojekt gar nichts zu tun haben. In der aktuellen Diskussion
über das Präventionsgesetz reden zu viele pro domo,
verfolgen ihre eigenen Interessen und lediglich ihre ureigensten Anliegen.
({2})
Wie ist die Situation? Die Krankenkassen rufen den
Systembruch aus, weil von den rund 130 Milliarden
Euro, die sie im Jahr in medizinische Leistungen investieren, künftig rund 100 Millionen Euro - das ist weniger als 1 Promille - in eine Bundespräventionsstiftung
und in Präventionsmaßnahmen in Kindergärten, Schulen
und Nachbarschaften fließen sollen. Durch diese Auflage fühlen sie sich in ihrer Selbstverwaltungsautonomie
beschnitten und unerträglich bevormundet.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesärztekammer monieren, dass die Ärzteschaft in dem
Gesetz nicht hinreichend berücksichtigt werde
({3})
und übersehen dabei, lieber Kollege Parr,
({4})
dass Primärprävention keine alleinige Domäne der Ärzteschaft ist. Hier geht es um die Zusammenarbeit
verschiedener Berufsgruppen. Im Zentrum stehen aber
vor allem die Bürgerinnen und Bürger.
Es sind die Länder - genauer die unionsdominierte
Mehrheit im Bundesrat -, deren Verhalten man sich ganz
besonders genau anschauen muss. Ich bin der Meinung,
sie haben einen Preis verdient. Ich werde noch sagen,
welchen.
Die Länder haben zunächst in monatelangen Verhandlungen diesen Gesetzentwurf mit der Bundesregierung ausgearbeitet. Jetzt sind sie dagegen. Dieselben
Länder hatten vor Beginn der Verhandlungen noch den
Aufbau von 16 Landespräventionsstiftungen gefordert.
Jetzt plötzlich monieren sie den Aufbau einer einzigen
Stiftung und bezeichnen ihn als unerträglichen Ausdruck
des allerschlimmsten Bürokratismus. Das hat offensichtlich nichts mit der Sache zu tun. Ich würde sagen, die
Bundesländer haben den Präventionspreis in Blech verdient.
({5})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist wichtig. Es wäre
wünschenswert, dass wir ihn gemeinsam verabschieden;
denn damit schaffen wir das Fundament einer modernen
und bedarfsgerechten Präventionspolitik. Er beendet die
Zersplitterung, die bisher die Organisations- und Finanzierungsstrukturen der Prävention kennzeichnet. Die
drei Hauptträger der Prävention, die Krankenkassen, die
Unfallkassen und die Rentenkassen, bestehen aus mehreren Hundert Einzelorganisationen. Wir wissen alle,
dass heute jede der vielen Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Rentenversicherungsanstalten für sich
entscheidet, welche Finanzmittel sie an welchem Ort in
welches Präventionsprojekt steckt. Es gibt eben keine
Gemeinsamkeit. Damit wird Wirksamkeit verschenkt.
Deswegen brauchen wir stabile und transparente
Finanzierungsstrukturen sowie einen trägerübergreifenden Ansatz. Das leistet dieser Gesetzentwurf; denn
durch ihn werden die Sozialversicherungsträger, der
Bund und die Länder verpflichtet, eng miteinander zusammenzuarbeiten, und die notwendigen Kooperationsstrukturen geschaffen. Vor allem gibt der Gesetzentwurf
- auch das ist wichtig - den Präventionsanstrengungen
eine Richtung, weil nationale Ziele festgelegt werden
und sich alle Anstrengungen an diesen Zielen zu orientieren haben.
({6})
Nicht zu vergessen: Die soziale Lage ist der entscheidende Risikofaktor für ein Mehr an Gesundheit oder ein
Mehr an Krankheit. Menschen am unteren Ende der Einkommensleiter haben ein doppelt so hohes Risiko zu erkranken und eine um sieben Jahre kürzere Lebenserwartung als Menschen an ihrem obersten Ende. Kurz gesagt:
Armut macht krank.
Wir haben deswegen bereits bei der Gesundheitsreform 2000 den Krankenkassen die Verpflichtung auferlegt, bei präventiven Anstrengungen auch etwas zum
Abbau der sozialen Ungleichheit zu tun. Mit dem Präventionsgesetz nehmen wir diesen Faden wieder auf. Ein
Schwerpunkt wird auf die Förderung von Präventionsmaßnahmen gelegt, die in Wohnquartieren, Schulen,
Kindergärten und in anderen Bereichen des Alltagslebens ansetzen. Mit diesem Lebensweltbezug können wir
auch Menschen erreichen, die sich ansonsten nicht an
Präventionsmaßnahmen beteiligen würden. Das heißt,
Prävention und Gesundheitsförderung werden aus der
vielfach kritisierten Mittelschichtorientierung herausgeführt und tatsächlich zu einem Angebot für die ganze
Bevölkerung.
Es gibt einzelne Regelungen in diesem Gesetzentwurf, mit denen auch wir nicht vollständig einverstanden
sind.
({7})
Es gibt Dinge, die fehlen, und es gibt Dinge, die man
hätte besser machen können.
({8})
Es fehlt, Frau Kollegin Butalikakis, die Aufnahme der
Bundesagentur für Arbeit in den Kreis der Präventionsträger. Ich bedauere das sehr; aber wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass dies am Widerstand des Verwaltungsrats der BA gescheitert ist. Sie wissen ja, wer dort
die handelnden Personen sind.
Auch ärgern wir uns darüber, dass zwar die private
Krankenversicherung von den Präventionsanstrengungen der Sozialversicherungsträger und der öffentlichen
Hand profitiert, sich aber selber geweigert hat, sich an
der vorgesehenen Stiftung zu beteiligen. Wir müssen sehen, dass es verfassungsrechtliche Grenzen gibt. Wir
können die PKV leider nicht dazu verpflichten, hier mitzumachen, und werden insofern mit dieser Lücke vorläufig leben müssen.
Auch die gesetzlichen Vorkehrungen, die verhindern
sollen, dass die Länder ihre Präventionsanstrengungen
auf Kosten der Sozialversicherungsträger zurückfahren,
hätten wir gerne durchaus etwas strikter gefasst; das will
ich deutlich sagen.
({9})
Aber, Frau Kollegin Butalikakis, auch hier stoßen wir an
verfassungsrechtliche Grenzen dessen, was der Bund
den Ländern vorschreiben darf. Dieses Phänomen - ich
sage nur: Föderalismusdiskussion - dürfte Ihnen durchaus nicht unbekannt sein. Ich nehme an, Sie wollen das
auch gar nicht ändern.
Aber trotz aller Einwände, die ich im Rahmen der Gesamtbewertung dieses Gesetzentwurfs genannt habe, finden wir: Er schafft eine verlässliche und transparente
Finanzierung. Er schafft dringend notwendige Kooperationsstrukturen zwischen den Trägern. Er sorgt mit Präventionszielen, Qualitätssicherung und regelmäßiger Berichterstattung für eine neue Qualität der Prävention. Mit
der vorgesehenen Stiftung wird der Prävention ein Ort
gegeben, von dem aus sich das alles entfalten kann. Das
heißt, der vorliegende Entwurf leistet alles Notwendige.
Jetzt bräuchten wir nur noch Akteure,
({10})
die mehr im Auge haben als ihre eigenen Interessen.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unüberhörbar kritische Stimmen bei der Anhörung, mahnende
Zuschriften der Krankenkassen, juristische Äußerungen
zur Verfassungswidrigkeit, die Ablehnung des Gesetzentwurfs durch den Bundesrat, der Diskussionsverlauf
im Fachausschuss mit Bedenken aus den eigenen
Reihen - all das hält die Bundesregierung und Rot-Grün
in diesem Hause nicht davon ab, heute ihren Entwurf
eines Präventionsgesetzes durchzupeitschen. „Augen zu
und durch“ ist aber ein schlechtes Motto auf dem Weg zu
einem richtigen Ziel.
({0})
Wir alle wollen die Prävention in den Köpfen möglichst vieler Menschen verankern. Wir wollen bestehende Programme verbessern und neue entwickeln, um
die Gesundheit zu fördern und chronischen Krankheiten
vorzubeugen. Das alles wollen wir so effizient wie möglich gestalten.
Das Thema müsste eigentlich ein Selbstläufer sein. Es
vereint eine große Zahl von Befürwortern. Ich kenne
keinen, der sich nicht verbal zur Prävention bekennt. Es
ist deshalb nicht nachvollziehbar, wie die rot-grüne Bundesregierung den heute abschließend zu beratenden Gesetzentwurf so ins Abseits manövrieren kann.
Schon der Verlauf der Vorbereitungen war merkwürdig. Nach der Gesundheitsreform geschah zunächst
außer großen Ankündigungen monatelang nichts. Dann
einigte sich eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe auf Eckpunkte, die schon erahnen ließen, in welche Richtung ein
groß angelegtes Präventionsgesetz gehen würde, nämlich in Richtung Bürokratie, Überreglementierung und
vor allen Dingen Geldverteilung. Schließlich war schon
der Kompromiss mit den Ländern mit Blick auf die Entlastung knapper Kassen mit anderer Leute Geld erkauft
worden. Gut, dass der Bundesrat - bis jetzt zumindest nicht käuflich ist!
Die Vorlage des Gesetzentwurfs zog sich dann monatelang hin, weil die Ressortabstimmung alles andere als
reibungslos verlief und es nicht versäumt wurde, der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass sich der eine oder
andere gerne von dem Entwurf distanziert hätte. Ich bin
gespannt, wie Ministerin Künast in diesem Zusammenhang überzeugt werden kann.
Die Kommentierung des Gesetzes durch den ehemaligen Staatssekretär Karl Jung in der Anhörung zu dem
Gesetzentwurf sagt viel. Ich zitiere:
Die Zielsetzung und die Absicht des Gesetzgebers
- Stärkung der Prävention, Entwicklung einer vierten Säule der gesundheitlichen Versorgung, Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik - sind zu
begrüßen, aber leider werden diese höheren Ziele
mit dem Gesetzentwurf nicht erreicht. Der Gesetzentwurf ist nicht in der Lage, das, was im Vorfeld in
den Eckpunktepapieren zum Teil theoretisch entwickelt worden war ... sachgerecht und wirksam umzusetzen.
({1})
Wir stehen bei diesem wichtigen Thema vor einem
Scherbenhaufen. Auch wenn das Gesetz - in welcher
Form auch immer - tatsächlich in Kraft treten sollte,
bleibe ich bei meiner Aussage: Der geringe Output, der
von dem Präventionsgesetz für die Bürgerinnen und
Bürger zu erwarten ist, rechtfertigt nicht den hohen Mitteleinsatz. Das ist staatlich verordnete Unwirtschaftlichkeit.
({2})
Was sind die Gründe dafür? Erstens leidet die Stiftung
unter Bürokratie und Gigantomanie - auch wenn uns die
Frau Staatssekretärin etwas anderes glauben machen
will -; dieser Manie ist mancher ministerielle Schreibtischtäter verfallen. Viele Eigeninitiativen von Präventionsträgern werden dieser Krankheit zum Opfer fallen.
Zweitens haben schon viele Kassen die gesamten
2,56 Euro pro Versicherten in Präventionsprojekte investiert. Wenn ihnen jetzt, wie geplant, Geld entzogen wird,
drohen bestehende Präventionsangebote nicht mehr fortgeführt zu werden.
Drittens werden die Länder - Frau Kollegin Bender
hat schon darauf hingewiesen, dass der Gesetzentwurf in
diesem Punkt eine Schwachstelle aufweist - über kurz
oder lang die bisher aus dem Haushalt aufgewandten
Mittel durch Mittel aus den Sozialversicherungen ersetzen. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat dies in
der Anhörung für den Bereich Gewalt- und Suchtprävention in Schulen und Kindergärten sehr gut herausgearbeitet. Sie befürchtet zu Recht, dass sich die Kommunen
zulasten der Sozialversicherungen zurückziehen werden.
Was dem Gesetzentwurf fehlt - sofern ein solches Gesetz überhaupt notwendig ist -, sind klare Zielvorgaben
für erfolgreiche und notwendige Präventionsaktivitäten.
Es fehlt eine klare Abgrenzung, inwieweit Prävention in
die Eigenverantwortung der Menschen gestellt werden
kann und wann unterstützende Maßnahmen durch Dritte
notwendig werden.
Des Weiteren fehlt eine klare Zuweisung von Zuständigkeiten und Kompetenzen in allen Bereichen der Prävention - nicht nur der Primär-, sondern auch der Sekundär- und Tertiärprävention. Deswegen, Frau Kollegin
Bender, hat die FDP kein Verständnis dafür, dass zum
Beispiel die Ärzteschaft mit ihren Kompetenzen und ihrer zentralen Rolle als direkter Ansprechpartner für die
Patienten so gut wie keine gestaltende Rolle spielt.
Es fehlt auch die Zielvorgabe, wann Prävention eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und wann sie von
den Sozialversicherungen zu übernehmen ist. Zudem
fehlen die Beschreibung von konkreten Handlungsfeldern und die Ausformung von Leistungsansprüchen.
Last, but not least fehlt ein klares Bekenntnis dazu, gegen die Impfmüdigkeit vorzugehen, die in unserer Gesellschaft ein Problem darstellt.
Wir führen diese Diskussion nicht zur Stunde null.
Wir wissen heute schon viel über Prävention und deren
Chancen für unsere Gesellschaft. Wir wissen um den
Handlungsbedarf und die strukturellen Defizite sowie
um die Notwendigkeit einer klareren Zielführung, einer
besseren Evaluierung und einer Bündelung aller Kräfte.
Es wäre schön gewesen, wenn ein Gesetz dies und einen
konkreten Weg für die Realisierung aufgezeigt hätte.
Nun werden der mühsame Aufbau einer Stiftung und der
Beginn ihrer komplizierten Arbeit abgewartet. So wird
weiter wertvolle Zeit vertan.
Nehmen wir den Kinder- und Jugendbereich als
Beispiel. Ob falsche Ernährung, mangelnde Bewegung,
Sucht und Drogen, unsere Kinder und Jugendlichen sind
heute einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt. Präventive Maßnahmen in den so genannten Lebenswelten
Schule, Sportvereine und Wohnumfeld sind zentrale
Zielbereiche, die heute schon als Handlungsfelder konkret benennbar sind. Warum tut man es nicht? Warum
wird hier nicht schneller gehandelt?
Schulen brauchen Rahmenbedingungen, um sich in
ihrer Gesamtheit präventiv auszurichten, ja Prävention
vielleicht sogar zum besonderen Schulprofil zu machen,
was die Infrastruktur anbelangt: die verwendeten Materialien, die Bewegungsmöglichkeiten, die Verantwortung für gesunde Ernährung und für die Früherkennung
gesundheitlicher Störungen, die Lehrer als Vorbilder, die
inhaltliche Ausgestaltung des Schulunterrichts und die
Einbeziehung der Eltern. Doch wir befinden uns weiterhin in der Situation, dass beim Schulsport - statt ihn zu
stärken - gekürzt wird, die Zahl der Nichtschwimmer
unter den Kindern bedenklich hoch ist und die Qualität
des Sportunterrichts im Elementarbereich zu wünschen
übrig lässt. Ein Gesetz - das gilt erst recht für den vorliegenden Entwurf - wird daran nichts ändern. Vielmehr
müssen auf der Landesebene und vor allem auf der kommunalen Ebene in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen und anderen Institutionen aus eigener Kraft neue Anstöße zu gesundheitsbewusster Lebensführung gegeben
werden.
Dazu trägt dieser Gesetzentwurf viel zu wenig bei.
Deshalb lehnen wir ihn ab.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Butalikakis, es war durchaus interessant, Ihnen zuzuhören. Sie haben die Ministerin kritisiert, weil sie hier nicht gesprochen hat. Wir wollen aber
ganz deutlich festhalten: Wenn eine Gesundheitsministerin die Prävention befördert hat, dann ist es Frau Ulla
Schmidt.
({0})
Wenn sie den gesamten Prozess mit der Implementierung des runden Tisches und mit der Errichtung des
„Deutschen Forums Prävention und Gesundheitsförderung“ nicht so gut gestaltet hätte, wenn nicht ein Forum
für Kommunikation und Information in diesem Bereich
von ihr installiert worden wäre, dann wären wir nicht so
weit. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie blicken doch auf eine verhältnismäßig lange
Regierungszeit zurück. Ich kann mich nicht erinnern,
dass Sie ein großes Präventionsgesetz auf den Weg gebracht haben.
({1})
- Ich komme darauf zu sprechen. - Im Gegenteil: Sie haben das bisschen Prävention, das es gab, gekappt. Erst
wir haben nach unserem Regierungsantritt 1998 die Prävention wieder gestärkt und in der Folgezeit ausgebaut.
({2})
Ich war dabei, als der von Ihnen angesprochene
Gesundheitskompromiss beschlossen wurde. Ich hatte
die Ehre, diesen Bereich ein Stück weit mitzugestalten
und zu betreuen. Ich weiß daher, dass große Übereinstimmung darüber bestand, ein Präventionsgesetz auf
den Weg zu bringen. Das hat sich aber im Laufe der Zeit
verändert. Meine Hypothese ist, dass das mehr mit anstehenden Wahlen und Blockaden zu tun hat als mit einer
Änderung der sachlichen Inhalte. Die Gesundheits- und
Sozialminister und -ministerinnen der Länder haben ein
solches Gesetz unterstützt. Das wissen alle Gutinformierten, die hier sitzen.
Ich möchte noch einen Blick zurückwerfen. Zwischen
1997 und 2000 hatten die Krankenkassen keine Möglichkeit mehr, eigenständige Maßnahmen der Primärprävention und der betrieblichen Gesundheitsförderung
durchzuführen. Wie ich schon sagte, haben wir nach
Amtsantritt diese falsche Weichenstellung korrigiert und
den Krankenkassen die Möglichkeit gegeben, auf diesem Gebiet aktiv zu werden.
({3})
Außerdem haben wir die Selbsthilfeförderung gesetzlich verankert. Das ist erstmals geschehen. Sie haben
Recht: Bei der Umsetzung ist vieles nicht optimal gelaufen. Aber es war richtig, die Weichen in Richtung mehr
Beteiligung - das ist ein wichtiges Glied in der Versorgungskette - und in Richtung Stärkung der Prävention
zu stellen. Diese Politik wird mit der Verabschiedung
dieses Gesetzes fortgesetzt.
Es ist richtig: Heute findet hier ein Perspektivwechsel statt. Wir rücken mit diesem Gesetz die Gesundheit
und weniger die Krankheiten unserer Bürger und Bürgerinnen ins Blickfeld. Wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass die Menschen zukünftig mehr für den Erhalt
und für die Verbesserung ihrer Gesundheit tun können.
Sie erhalten Unterstützung im unmittelbaren Lebensumfeld. Die Qualität der Gesundheitsförderung und der Präventionsangebote wird gestärkt. Es ist ganz wichtig, dass
es Wirksamkeitsnachweise gibt. Die Pflicht, solche
Nachweise zu erbringen, verankern wir in immer mehr
Gesetzen. Die Art und Weise, wie behandelt, und das,
was gefördert wird, müssen einer Evaluation unterzogen
werden.
Dieses Gesetz verpflichtet zu einer Gesundheitsberichterstattung. Das ist wichtig; denn eine Gesundheitsberichterstattung gibt darüber Auskunft, um welche
Zielgruppen wir uns zu kümmern haben. Außerdem trägt
sie zur Bewertbarkeit von Vorgängen bei. Auch dies ist
ganz wichtig.
Durch die Möglichkeit von Zustiftungen an die neu
zu gründende Bundesstiftung erleichtern wir es privaten
Kooperationspartnern, sich an Prävention und Gesundheitsförderung aktiv zu beteiligen. Das ist ebenfalls ein
ganz wichtiger Gesichtspunkt.
Wir tun vor allem etwas für die Menschen. Sie sind in
Ihren Reden vergleichsweise wenig erwähnt worden. Sie
haben von den Sozialsystemen und von Strukturmängeln
gesprochen. Worauf es aber vor allem ankommt, ist, dass
wir die Menschen erreichen. Deswegen werden in diesem Gesetz die Lebenswelten, der Settingansatz, die
Arbeit in Kindergärten, in Schulen, im Stadtteil und am
Arbeitsplatz betont. Das ist ein bedeutsamer Baustein in
diesem neuen Präventionsprogramm.
Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen, dass die
Vorteile dieses Gesetzes auf der Hand liegen: Wir haben
die Menschen im Blick; wir holen sie dort ab, wo sie leben. Wir kümmern uns mit diesem Gesetz zum ersten
Mal verstärkt um diejenigen, die am unteren Ende der
Gesundheitsskala leben. Das untere Fünftel macht uns
nämlich große Sorgen. Wie schon gesagt wurde, werden
diese Menschen von den häufig mittelschichtorientierten
Präventionsprogrammen nicht erreicht. Der in diesem
Gesetz enthaltene Settingansatz, also der lebensweltorientierte Ansatz, gibt die Gelegenheit, an diesem Punkt
anzuknüpfen.
Die Menschen am unteren Ende der Gesundheitsskala
leben nach dem statistischen Durchschnitt fünf bis sieben
Jahre kürzer als andere; diese Zahl ist schon seit den
80er-Jahren, also schon lange, bekannt. Mit diesem Gesetz tragen wir dieser Erkenntnis Rechnung. Das gilt im
Übrigen auch für unser Gesundheitsmodernisierungsgesetz, das viele entsprechende Bausteine wie die Patientenbeteiligung und die Verbesserung von Qualität - denken Sie nur an die strukturierten Behandlungsprogramme
und an die Leitlinienarbeit - enthält.
({4})
Vieles von dem, was wir heute machen, ist seit langem bekannt. Diese Regierung hat Prävention und Gesundheitsförderung kontinuierlich gestärkt. Wie ich
schon erwähnt habe, hat die Ministerin mit dem Deutschen Forum Prävention und Gesundheitsförderung
eine wichtige Plattform für Erkenntnisse geschaffen.
Jetzt geht es an die Umsetzung dieses Gesetzes. Dass
sich durch die von uns heute getätigten Investitionen in
einigen Jahren der allgemeine Gesundheitszustand verbessert haben wird, müssen wir als Chance sehen. Ich
kann nur auf das verweisen, was die Ministerin immer
wieder sagt: Das ist eine Antwort auf die mit der demographischen Entwicklung verbundenen Fragen.
({5})
Die Stärken dieses Gesetzes sind, dass Präventionsziele auf die unmittelbare Umgebung der Menschen heruntergebrochen werden, dass geschlechtsspezifische
und lebenslagenspezifische Aspekte ausdrücklich betont
werden und dass nicht nur die Träger der Sozialversicherungssysteme im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, sondern dass auch wichtige andere Partner und
Partnerinnen bei der Umsetzung des Gesetzes helfen sollen: Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfeorganisationen und
der öffentliche Gesundheitsdienst.
Geben Sie vor diesem Hintergrund mit Ihrer Stimme
diesem Gesetz eine Chance, mit Leben gefüllt zu werden. Durch die Inanspruchnahme der Kenntnisse derer,
die bereits auf diesem Feld arbeiten, kann es gelingen,
Prävention und Gesundheitsförderung stärker zu verankern.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei der Debatte heute Morgen habe ich fast Mitleid
mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen bekommen.
({0})
- Wirklich. - Jegliche Kritik an der Ministerin, die vorgetragen wird, wird als Majestätsbeleidigung aufgefasst.
Es ist erstaunlich, mit welcher Unschuldsmiene Sie
heute Morgen den Ländern wirklich unmoralische Angebote gemacht haben.
({1})
Sie haben so getan, als ob Sie kein Wässerchen trüben
könnten. In Wirklichkeit haben Sie jedoch mit dem
Geldbeutel gelockt und den Ländern einen Vertrag zulasten Dritter aufzwingen wollen.
({2})
Gott sei Dank ist von den Ländern bemerkt worden, dass
ein gutes Ziel noch nicht jedes Mittel heiligt. Gut gemeint ist eben, wie immer bei Ihnen, nicht gut gemacht.
Eine zukunftsweisende Idee ist ein weiteres Mal von dieser Regierung miserabel umgesetzt worden.
({3})
Wir haben ja gemeinsam eine Anhörung durchgeführt. Ich habe schon viele Anhörungen in meiner Parlamentszeit hinter mich gebracht, aber ich habe noch nie
erlebt, dass ein Gesetzentwurf so vernichtend von den
Expertinnen und Experten, von den Sachverständigen,
beurteilt wurde.
({4})
Ob die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Rentenversicherungsträger, die Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften, ja sogar die Sozialverbände - sie alle haben ihn einhellig abgelehnt. Selbst Kollegen aus der
SPD-Fraktion mussten im Ausschuss schon ihre grundsätzlichen und ausdrücklichen Bedenken zu Protokoll
geben, nur damit sie sich noch einigermaßen im Spiegel
anschauen konnten. Ich sage Ihnen ganz bewusst: Selbst
aus der politischen Leitung des Bundesministeriums für
Gesundheit und Soziale Sicherung hört man solche Sätze
wie: Das Beste, was zu diesem Gesetzentwurf zu sagen
ist, ist, einfach nichts zu sagen.
({5})
Meine Damen, meine Herren, warum ist das so? Dieses Gesetz hat schwerste Konstruktionsfehler. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe - das ist Prävention unbestrittenermaßen - kann eben nicht nur von einem Teil
der Gesellschaft finanziert werden. Wieder einmal machen Sie einen Vorschlag, bei dem der Lastesel der Nation die Beitragszahler in der Krankenversicherung, der
Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung
und der Unfallversicherung sind. Diese dürfen bei Ihnen
wieder einmal allein die Zeche bezahlen. Obwohl die
Krankenkassenbeiträge bisher nur marginal gesunken
sind, belasten Sie wiederum diese Gruppe. Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land bekommen wieder
einmal eine Nullrunde verpasst und werden sogar weniger in den Taschen haben. Dennoch werden die Beitragszahler belastet. Auch die Pflegebedürftigen, die weiter
auf eine Dynamisierung der Leistungen warten, und die
Demenzkranken, die überhaupt auf eine Berücksichtigung warten, belasten Sie wieder.
({6})
Obwohl Prävention alle angeht und nach dem Willen
von Rot-Grün alle aus der Bevölkerung Leistungen erhalten sollen, beteiligen sich Bund und Länder an der Finanzierung der Stiftung wieder einmal nicht. Sie zahlen
keinen einzigen Euro.
Sie sagen - das hat die Staatssekretärin heute Morgen
wieder gemacht -: Wir machen ja so viel, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Bund und
der öffentliche Gesundheitsdienst in den Ländern.
({7})
Aber wenn wir Sie fragen, ob Sie bereit sind, diese Mittel festzuschreiben, zu benennen, wie viel es ist, und dieses Geld dann auch gegenüber Angriffen zu sichern, ist
von Ihnen nichts zu hören. Dazu sind Sie nicht bereit.
Deshalb ist das Argument berechtigt, dass die Gefahr besteht, dass Sie hier Ihre öffentlichen Haushalte zulasten
der Beitragszahler sanieren wollen.
Ein gibt ein weiteres Argument, weshalb die Auswirkungen dieses Gesetzes überhaupt nicht bedacht sind.
Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass die Arbeitslosenversicherung hier überhaupt nicht beteiligt ist. Auf
Nachfrage hieß es, dieses Versicherungssystem sei so
belastet, dass man ihm das auf keinen Fall zumuten
könne. Wenn ich die neuesten Prognosen - heute wieder
in der „Süddeutschen Zeitung“ - lese, komme ich zu
dem Schluss, dass die Rentenversicherung mindestens
genauso belastet ist. Aber was beim einen gilt, ist beim
anderen nicht von Relevanz.
Schauen wir uns aber einmal die Rentenversicherung
an. Es besteht die große Gefahr, dass die medizinische
Rehabilitation in der Rentenversicherung nicht mehr
gesichert ist,
({8})
weil die Mittel für die Primärprävention herhalten müssen. Sie muss aus Reha-Geldern bestritten werden. Deshalb stehen diese Mittel der Tertiärprävention nicht mehr
zur Verfügung. Was behauptet die Frau Staatssekretärin?
Sie sagt: Die Mittel sind gar nicht abgerufen worden.
Also können wir noch locker Geld für die Primärprävention aufbringen. - Aber alle Experten auch der Rentenversicherungsträger sagen Ihnen, dass der Bedarf ansteigt. Die Anträge sind nur wegen der aktuellen
konjunkturellen und wirtschaftspolitisch schwierigen
Lage zurückgestellt. Sie sind nur aufgeschoben.
Durch die Hartzreformen und den neuen Empfängerkreis von Arbeitslosengeld II gibt es neue Anspruchsberechtigte auf Reha-Maßnahmen. 100 Millionen Euro
Mehrbedarf für medizinische Rehabilitation wird allein
für diese Gruppe erwartet. Wie können Sie dann an dieser Stelle eine solche Regelung vorschlagen? Wir sagen:
Ernährungsberatung für Kinder ist gut, aber sie darf
nicht zulasten der medizinischen Rehabilitation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehen.
({9})
Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die funktionierende und bewährte Präventionsinfrastruktur in unserem Land zerschlagen wird; denn es bleibt nicht dabei,
dass diejenigen, die bereits heute gute Arbeit geleistet
haben, in Zukunft dafür honoriert werden. Warum ist das
so? 2,70 Euro pro Versicherten für Primärprävention
sind per Gesetz vorgeschrieben. Es gibt Krankenkassen
- das ist unbestritten -, die dieses Geld für Primärprävention nicht ausgeben. Aber es gibt andere Kassen, die
sogar mehr zahlen als die geforderten 2,70 Euro. Doch
jetzt wird gesagt, dass nur noch 40 Prozent des Geldes
zur Verfügung stehen und damit die gleiche Infrastruktur
finanziert werden soll. Das funktioniert nicht. Sie bestrafen so diejenigen, die schon seit langem Engagement
zeigen. Das kann doch nicht gewollt sein.
({10})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zu dem
Gefälligkeitsgutachten, das Sie sich jetzt noch vom Justiz- und vom Innenministerium haben anfertigen lassen,
({11})
weil die Argumente derart bedrückend waren, sagen.
Hier sind wichtige Aspekte überhaupt nicht behandelt
worden. Der Grundsatz der Zweckbindung, der Beitragsmittel bleibt weiterhin verletzt. Es gäbe noch vieles zu
sagen.
Dieser Gesetzentwurf ist nicht umfassend, weil die
Störung der Primärprävention ausschließliches Ziel ist.
Er ist nicht sachgerecht, weil bestehende Maßnahmen
und Strukturen gefährdet sind. Er ist ungerecht, weil sich
nur Beitragszahler - nicht die gesamte Gesellschaft - beteiligen. Er ist viel zu bürokratisch, weil eine Vielzahl
neuer Gremien geschaffen wird. Zudem ist er verfassungsrechtlich höchst fragwürdig.
Meine Damen, meine Herren, wir haben heute die
Chance, ein weiteres schlechtes Gesetz zu verhindern.
({12})
Nutzen Sie diese Chance! Ein schlechtes Gesetz weniger
hilft unserem Land und nutzt auch der Prävention.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Götz-Peter
Lohmann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich doch noch die Hoffnung, dass
es heute zu einer ähnlichen Abstimmung kommt, wie es
sie zum Beispiel - ich sehe gerade den Kollegen
Riegert - im Sportausschuss gegeben hat. Damit will ich
nicht sagen, dass wir dort die klügeren oder faireren Abgeordneten sind. Da war das Abstimmungsverhalten jedenfalls wie folgt: Die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion haben sich enthalten und es gab nur
eine Gegenstimme, zu der ich nichts mehr sagen will. Es
gab also eine klare Mehrheit für diesen Gesetzentwurf.
Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben natürlich, wie
schon öfter - das ist Ihr gutes Recht -, die kritischen
Stimmen aus der Anhörung angeführt. Es gab aber auch
andere Stimmen,
({0})
zum Beispiel die der Vertreter des Sports, aber nicht nur
die. Ich könnte noch ein paar andere Namen nennen;
aber gut. Ich hatte, wie gesagt, die Hoffnung, dass es
heute zu einem anderen Abstimmungsverhalten kommt
als dem, das sich jetzt andeutet.
Ich möchte einen Aspekt etwas vertiefen. Wir alle
wissen - darüber herrscht, glaube ich, auch Einmütigkeit -: Gesundheit muss ständig erworben und aktiv aufrechterhalten werden. Manchmal wird der Eindruck vermittelt, das Gesundheitsmodell in der Bundesrepublik
Deutschland sei einfach nicht mehr leistungsfähig. Das
ist nicht so. Unser Gesundheitsmodell ist nach wie vor
leistungsfähig und auch erfolgreich. Nur - ich habe das,
glaube ich, in der ersten Lesung schon einmal gesagt -:
Es hat eben seine Grenzen. Eine dieser Grenzen ist, dass
es in Sachen Prävention zurzeit einfach nicht ausreichend ist.
Brauchen wir ein Präventionsgesetz?
({1})
Ja, wir brauchen ein Präventionsgesetz. Bislang sind die
Regelungen zur Prävention in mehreren Sozialgesetzbüchern verstreut. Durch die vorgesehene Bündelung in einem Gesetz - das ist ein wesentlicher Vorteil - gewinnt
die Prävention endlich einen Stellenwert, den sie bislang
nicht hatte.
({2})
Wir brauchen also ein Präventionsgesetz. Das ist auch
der Hauptgrund dafür, dass man dafür stimmen müsste.
({3})
Kann gesundheitsförderndes Leben von oben verordnet werden? Ich habe vor kurzem ein Interview meines geschätzten Kollegen Zöller gelesen, in dem er gefragt wurde: Möchten Sie, dass der Präventionsgedanke
von oben verordnet wird? - Wenn ich mich richtig erinnere, hat er darauf geantwortet - ich zitiere jetzt vielleicht nicht wortgetreu, aber inhaltlich wird es stimmen,
Kollege Zöller -: Ich möchte Prävention für mich nicht
verordnet haben. - Darin stimme ich mit Ihnen überein.
Auch ich möchte Prävention nicht verordnet haben.
Aber es gibt einen Unterschied. Nicht nur deshalb,
weil wir früher aktive Leichtathleten waren, wissen wir
beide, was zu einer gesunden Lebensführung gehört. Wir
bewegen uns ein bisschen, wir ernähren uns vernünftig.
({4})
- Man sieht an unserer Statur, dass wir unterschiedliche
Disziplinen betrieben haben, aber aktiv waren wir
beide. - Das Problem ist, Kollege Zöller: Die meisten
Menschen sind nicht von sich aus daran interessiert, wie
wir, gesund zu leben. Viele Mitmenschen muss man gelegentlich zu ihrem Glück zwingen, indem man ihnen
Prävention verordnet.
Ich möchte als Vergleich anführen - ich weiß, Vergleiche hinken immer - die Pflicht, sich im Auto anzugurten. Sie wissen, welch unsägliche Diskussionen es
darüber gegeben hat. Dann hat man bemerkt, dass viele
schwerwiegende Unfallfolgen vermieden werden. So
richtig meckert jetzt niemand mehr. Obwohl es also heftige Widerstände gab, hat man erkannt, dass diese verordnete Prävention, nämlich um schwere Unfallfolgen
zu verhindern, durchaus etwas Wertvolles ist. So ähnlich
sehe ich das auch bei dem Gedanken der Prävention im
Gesundheitsbereich.
({5})
Noch ein Gedanke vorab. Viele Kolleginnen und Kollegen haben betont, dass bei den Krankenkassen schon
jetzt viel gute Arbeit geleistet wird, das sehe ich
genauso. Das ist aber regional sehr unterschiedlich.
Manche Kassen arbeiten vorbildlich, manche nicht. In
manchen Bundesländern gibt es schon etwas Institutionalisiertes, einen Präventionsrat oder etwas Ähnliches. Dafür gibt es sehr gute Beispiele, sowohl auf Länderebene als auch auf kommunaler Ebene. Deswegen ist
der Vorwurf, dass da erst alles neu geschaffen werden
muss, absurd.
Wie gesagt, die Krankenkassen erreichen heutzutage
- die Wissenschaftler streiten sich darüber - im Bereich
der Präventation 1, 2, maximal 3 Prozent ihrer Versicherten. Frau Kollegin, Sie haben gesagt, dass es
1,6 Prozent sind.
({6})
- Gut. Ich habe gesagt: 1 bis 3 Prozent. - Ich frage mich:
Machen die Krankenkassen etwas falsch - wir sind uns
ja einig, dass dieser Prozentsatz relativ gering ist - oder
muss man daraus den Schluss ziehen, dass Prävention
die meisten Menschen nicht interessiert?
Ich denke, es gibt einfach zu wenige Angebote, die
die Risikogruppen direkt ansprechen. Daher sollten wir
- Kollegin Kühn-Mengel hat darauf hingewiesen - auf
die Personen, die Gesundheitsförderung dringend benötigen, zugehen. Dazu möchte ich etwas sagen. Ich habe
vor kurzem gelesen, dass es im Moment viele so genannte Komm-Angebote gibt: So werden zum Beispiel
Aushänge oder Flyer gemacht. Entweder kommen die
Leute oder sie kommen nicht. Meist nehmen nur die Gesundheitsbewussten und die Gesunden das Angebot
wahr; das wurde an dieser Stelle schon mehrfach erwähnt. Die Zielgruppen, die wir eigentlich ansprechen
wollen, erreichen wir nicht. Dies muss durch andere Methoden geschehen.
Wir alle wissen, dass in reichen Ländern wie
Deutschland die Gesundheit der Bevölkerung von drei
ziemlich stabilen Megatrends abhängt: Erstens. Das heutige Krankheits- und Sterbegeschehen wird in industrialisierten Ländern zu circa drei Vierteln von chronischen,
überwiegend degenerativ verlaufenden Krankheiten bestimmt.
Zweitens. Heute sterben die meisten Menschen in den
Industriegesellschaften an Herz-Kreislauf-Krankheiten
und Krebserkrankungen. Zum Tragen kommen dabei
komplexe Faktoren wie Stress und Lebensstil. Vor allem
psychosomatische Erkrankungen nehmen an Bedeutung
zu.
Drittens. Im Bevölkerungsdurchschnitt nimmt die Lebenserwartung pro Jahrzehnt um etwas mehr als ein Jahr
zu. Die älter werdende Population wird dabei im Durchschnitt immer gesünder älter. Die heute 75-Jährigen sind
im Durchschnitt etwa so gesund wie die 70-Jährigen von
vor circa zehn Jahren.
Nun komme ich auf einen Aspekt zu sprechen, der
mir sehr wichtig ist und der für mich persönlich den eigentlichen Kern des Präventionsgesetzes darstellt: Diese
von mir erwähnten kontinuierlich anfallenden Gesundheitsgewinne sind stabil ungleich verteilt. Die sozial bedingte Ungleichheit der Gesundheitschancen, die gelegentlich schon erwähnt wurde, ist auch in reichen
Ländern groß und nimmt zu.
Wenn man zum Beispiel die deutsche Bevölkerung
nach den Merkmalen Ausbildung, Stellung im Beruf und
Einkommen in fünf Gruppen unterteilt, zeigt sich, dass
Menschen aus dem untersten Quintil in jedem Lebensalter im Durchschnitt ein ungefähr doppelt so hohes Risiko
tragen, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben,
wie Menschen aus dem obersten Fünftel. Das entspricht
circa sieben Jahren. Etwas Ähnliches hinsichtlich des
Unterschieds in der durchschnittlichen Lebenserwartung
zwischen dem obersten und dem untersten Fünftel hat
auch die Kollegin Kühn-Mengel erwähnt.
Hieraus lassen sich zwei Jahrhundertherausforderungen ableiten. Damit meine ich nicht, dass wir ein Jahrhundert Zeit haben, um sie zu bewältigen, sondern, dass
sie in kürzester Zeit erledigt werden müssen; andernfalls
werden wir in diesem Jahrhundert ein echtes Problem
haben. Wenn wir dieses Problem in den Griff bekommen
wollen, müssen wir zwei Aspekte berücksichtigen.
Erstens. Die integrierte Versorgung muss durchgesetzt werden, wobei alle Gesundheitspolitiker wissen:
Im Kern geht es um den evidenzbasierten Abbau von
Über-, Unter- und Fehlversorgung.
Zweitens. Die zweite Jahrhundertherausforderung ist
der Ausbau der primären Prävention, also des bevölkerungsbezogenen Managements von Gesundheitsrisiken vor ihrem Eintritt.
Die Gesundheitspolitiker der Koalition sind davon
überzeugt, dass es notwendig ist, damit nun zu beginnen.
Auch wenn dieser Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung
der Prävention nicht gerade ein Jahrhundertvorbildgesetz ist, überwiegen die positiven Aspekte. Wir müssen
endlich ein Bundesgesetz verabschieden. Es geht um
mehr als um die Summe der Einzelmaßnahmen. Endlich
können die Risikogruppen erreicht werden. Es geht um
den Einsatz im Lebensumfeld, in den so genannten Lebenswelten. Allein dieser Gedanke berechtigt dazu, zu
sagen: Wir müssen beginnen. Lasst uns diesen Entwurf
eines Gesetzes zur Stärkung der Prävention auf Bundesebene in die Praxis umsetzen! Ich denke, das ist sehr
wichtig und in unser aller Interesse.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Lanzinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Rot-Grün und die CDU/CSU-Fraktion sind sich wahrscheinlich beim Inhalt dieses Gesetzentwurfs einig, keinesfalls aber bei der Umsetzung
dieses Inhaltes. Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention ist mitnichten der
große Wurf. Er reiht sich leider ein in eine Vielzahl von
rot-grünen Gesetzen: kompliziert, praxisfern, bürokratisch und realitätsfern.
({0})
Der Gesetzentwurf ist so nicht brauchbar, um Prävention
nachhaltig zu stärken. Der Gesetzentwurf ist so nicht
brauchbar, um mehr Gesundheitsbewusstsein in den
Köpfen der Menschen zu verankern, um die Bürgerinnen
und Bürger für mehr Eigenverantwortung zu sensibilisieren, was Sie ja auch beschrieben haben. Er ist nicht
brauchbar für ein Mehr an Umdenken in Richtung bewusstes Leben, gesunde Ernährung, körperliche und
geistige Aktivitäten und das Achten auf ein seelisches
Gleichgewicht, sprich: ein Lernen, im Gleichklang zu leben.
Die Menschen draußen wollen ganz einfache und
klare Regelungen, einfache, klare Hilfestellungen und
Angebote. Prävention wird mit diesem Gesetzentwurf
weiterhin ein Stiefkind in Deutschland bleiben. Wenn
wir Prävention und Gesundheitsförderung politisch
wirklich ernst nehmen und tatsächlich etwas erreichen
wollen - ich rate nur, das sollten wir tun -, dann müssen
wir die Menschen abholen und da erreichen, wo sie stehen. Das Überstülpen eines Regelwerks, eines bürokratischen Etwas, das Schaffen neuer, teilweise unnützer
Strukturen, wird keinen Erfolg haben.
({1})
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Menschen
zu mehr Vorsorgeuntersuchungen gehen und freiwillig
mehr für ihre Gesundheit tun werden, nur weil Sie eine
zweifelhafte Beitragsfinanzierung schaffen, Gelder verschieben und eine Stiftung errichten. Die Menschen haben es - ich sage es ganz deutlich - schlichtweg satt,
wieder ein neues Gesetz zu bekommen, welches nicht
das bringt, was sie und wir wollen, nämlich mehr Prävention und mehr Eigenverantwortung.
({2})
Die Menschen haben es satt, dass mit diesem Gesetz
weitere Hürden und ein weiteres Mehr an Bürokratie auf
sie zukommen - ohne ein erkennbares Mehr an Prävention, ohne eine stärkere und wirksamere Gesundheitsförderung. Alle wollen ein Gesetz, welches erkennbar und
nachweislich der breiten Masse der Bevölkerung Gesundheitsförderung und Vorsorge ermöglicht, ein Gesetz, welches in den Lebenswelten der Bevölkerung
greift, vor allem in der Familie, um das Üben, das Trainieren von individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten
von klein auf zu erlernen. Das geht mit diesem Gesetz
nicht.
({3})
Wenn ein Präventionsgesetz Erfolg haben soll, dann
muss es so gestrickt sein, dass Gesundheitsförderung
und Prävention gelebt, erlebt und umgesetzt werden
können. Wir brauchen klare, saubere, durchschaubare
Entscheidungen. Die Menschen wollen klare, saubere,
durchschaubare Antworten vom Gesetzgeber. Die Kassen, die Leistungserbringer, die Länder, die Kommunen
wollen klare, saubere, durchschaubare und durchführbare Regelungen, keine komplexen Gebilde und Verschlimmerungen; die Kollegin Widmann-Mauz hat es ja
schon erklärt.
({4})
Wissen Sie, der Gesundheitsausschuss lädt zu einer
Anhörung ein. Verbände und Institutionen werden befragt, wir wollen deren Stellungnahmen zum rot-grünen
Gesetzentwurf hören. Bis heute hagelt es von allen Seiten vernichtende Kritik. Was aber macht Rot-Grün?
Nichts. Sie legen einen Gesetzentwurf - ohne nachweisliche Veränderungen vor. Das kann doch nicht sein. Die
Ablehnung dieses Gesetzentwurfs hat nichts mit Wahlen
zu tun, sondern nur mit der vernichtenden Kritik, die in
der Anhörung deutlich wurde.
({5})
Ersparen wir uns in Zukunft also diese Anhörungen.
Es sind doch offensichtlich Schauveranstaltungen für die
rot-grüne Regierungskoalition, da an dem Gesetz nichts
geändert und an dem komplizierten Regelwerk festgehalten werden soll, in welchem Gelder lediglich sinnlos
verschoben werden. Ich habe schon bei meiner letzten
Rede gesagt: Schiebst du das Geld zu oft hin und her,
macht es dir die Taschen leer. Das ist ein alter Spruch,
der nach wie vor gilt.
({6})
Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Gesetzesinhalt
nicht so wichtig ist. Wichtig sind für Rot-Grün die Überschriften. Sie wollen punkten und das Thema besetzen.
Prävention ist aber viel zu wichtig, um mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verheizt zu werden. Wir machen da nicht mit. Dafür sind der CDU/CSU-Fraktion
die Themen Prävention und Gesundheitsvorsorge zu
wichtig. Prävention darf nicht das Verschieben von Kassen- und Sozialversicherungsgeldern in ein Regelwerk
bedeuten, mit dem die Gefahr eines Kappens bisheriger
Maßnahmen verbunden wäre.
({7})
Prävention ist und darf auch nicht allein eine Frage der
Geldverteilung sein. Es muss eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein und darf nicht allein auf die gesetzlichen Krankenkassen und Sozialversicherungssysteme
dezimiert werden.
Kolleginnen und Kollegen, Prävention bedeutet einen
Bewusstseinswandel, eine Änderung der Lebenseinstellung, ein Wachrütteln. Es wird höchste Zeit. Fangen Sie
an, aber bitte nicht mit diesem Gesetz!
Danke schön.
({8})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Ursula Heinen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich das
vorliegende Gesetz, das wir heute abschließend beraten,
anschaut, dann stellt man fest: Es kreißt der Berg und
heraus kommt eine Maus, eine klitzekleine Maus
({0})
- ein Mäuschen.
Es ist schon enttäuschend, wie Sie mit diesem wirklich wichtigen Thema Prävention umgehen. Wir alle hier
sind uns doch einig, dass Prävention ein wichtiges
Thema ist. Wir sind sehr verwundert und enttäuscht darüber, dass Sie unsere zentrale Forderung, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen, nicht aufgenommen haben.
({1})
Sie wissen doch selbst, worum es geht. Sie definieren in
Ihrem Gesetz ja sogar, dass es primäre, sekundäre und
tertiäre Prävention gibt. Wenn Sie sogar wissen, dass es
das gibt, warum verfolgen Sie diese Ziele dann nicht insgesamt? Warum konzentrieren Sie sich nur auf die primäre Prävention und machen nicht mehr? Wir meinen,
dass Sie hier noch erheblich nachbessern müssen.
Die Absprache zwischen den einzelnen Ministerien
zu diesem Thema macht mich ein wenig stutzig. Wenn
die Ministerin noch da wäre, würde ich sie fragen, aber
ich kann natürlich auch Frau Caspers-Merk als Staatssekretärin fragen: Wie ist Ihr Verhältnis zu Frau Künast
und zum Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft?
({2})
Ich glaube, dass dieses Verhältnis nicht allzu gut ist oder
dass Sie dazu neigen, Doppelstrukturen aufzubauen bzw.
sich in ziemlich vielen Bereichen herumzutummeln.
({3})
Das darf ich am Beispiel des Themas Ernährung
kurz aufschlüsseln. Allein das Verbraucherschutzministerium hat im letzten Jahr mit einer Plattform für Ernährung und Bewegung - PR-wirksam und teuer vermarktet - 9 Millionen Euro für Ernährungsaufklärung und für
einen Wettbewerb zur Prävention von Übergewicht zur
Verfügung gestellt. Das Bundesgesundheitsministerium
hat noch mal 1,6 Millionen Euro draufgesattelt. Gemäß
Ihrem Änderungsantrag sollen nun auch Leistungen der
Stressbewältigung und Ernährung in den Lebenswelten
mit aufgenommen werden. Das macht für mich das
Chaos in diesem kleinen Bereich Ernährung fast perfekt.
({4})
Wie die Verzahnung mit den künastschen Programmen aussehen soll, haben Sie bisher noch nicht erläutert;
wir haben von Ihnen überhaupt noch nichts dazu gehört.
Durch mangelnde Koordination entstehen Doppelstrukturen. Wer tummelt sich denn alles auf diesem Themenfeld? Ich nenne zum Beispiel das Deutsche Forum für
Prävention und Gesundheitsförderung, das von Ihnen federführend begleitet wird. Wir haben die „Plattform Ernährung und Bewegung“ von Frau Künast. Wir haben
runde Tische vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend. Wir haben neuerdings das
Projekt „Qualitätssicherung in Beratung und ambulanter
Therapie von Frauen und Mädchen mit Essstörungen“
vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend. Ich frage noch einmal: Wer ist in dieser Regierung für welches Thema zuständig?
({5})
Wir meinen, es wird allerhöchste Zeit, dass Sie sich
untereinander darüber klar werden, wie Sie Ihre Aufgabenverteilung sehen, wer welches Thema behandelt und
wer wie viel Geld für welches Thema ausgibt. Mir bleibt
ein fahler Nachgeschmack - auch meine Kollegin
Lanzinger hat es eben erwähnt -: Sie lieben die Überschriften und die PR-wirksamen Aktivitäten.
({6})
Ich bin enttäuscht, dass nun auch die Gesundheitsministerin diesen Ansatz von Frau Künast übernommen hat,
nämlich nur PR ohne Wirkung und Effekt zum Schaden
der Menschen.
Recht herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der gesund-
heitlichen Prävention auf Drucksache 15/4833. Der Aus-
schuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/5363, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmergebnis angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit und Soziale Sicherung zu dem
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
auf Drucksache 15/5214 zur Stärkung der gesundheitli-
chen Prävention. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5363,
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.
Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfeh-
lungen des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Si-
cherung auf Drucksache 15/5363 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/4671 mit dem Titel „Prävention und Ge-
sundheitsförderung als individuelle und gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion
und Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/4830 mit dem Titel
„Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe umfas-
send, innovativ und unbürokratisch gestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b so-
wie Zusatzpunkt 11 auf:
20 a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
- zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Cajus Julius Caesar,
Dr. Wolfgang Götzer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten Jörg
van Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten
Schutz des Eigentums
- zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates
Entwurf eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz ({1})
- Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, 15/5320 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({2})
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 303, 304 StGB
- Drucksache 15/5313 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Jürgen Gehb, Daniela
Raab, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines …
Strafrechtsänderungsgesetzes - GraffitiBekämpfungsgesetz - ({4})
- Drucksache 15/5317 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, die an der Aussprache nicht
teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen. Aber da es
Freitagnachmittag ist und viele nach Hause wollen, sollten wir bald anfangen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des gesellschaftlichen Geschreis über die Graffiti in den letzten
Jahren und auch noch Wochen bin ich erstaunt über das
riesige Interesse,
({0})
das hier im Deutschen Bundestag herrscht,
({1})
vor allen Dingen bei denen, die den Mund am weitesten
aufgerissen haben.
({2})
Dabei sind Graffiti kein Kavaliersdelikt.
({3})
Es ist wirklich wichtig, dass wir mit allen zu Gebote stehenden Mitteln dagegen vorgehen. Allerdings muss man
auch wissen, dass das Strafrecht nur ein Baustein ist.
({4})
Der Entwurf der Koalition schließt eine, wie ich glaube,
nur vermeintlich minimale Lücke in diesem Strafrecht.
Wir haben uns dazu aus vier Gründen entschlossen:
Erstens. Wir möchten, dass die Menschen, die sich über
die Graffitischmierereien aufregen, sehen, dass etwas
geschieht. Zweitens. Wir möchten, dass die Justiz Verfahren zügiger erledigen kann und nicht durch breit
angelegte Gutachten erst feststellen muss, ob eine
Substanzverletzung vorliegt. Drittens. Wir möchten,
dass unbedarfte Gemüter, die aufgrund der mannigfaltigen Chöre, insbesondere aus dem Lager der CDU, den
Eindruck gewonnen haben, es passiere ihnen gar nichts,
weil die CDU/CSU immer sagt, dass nichts geschehe,
({5})
weil die Justiz nicht in der Lage sei, etwas zu machen,
wissen, dass dem nicht so ist. Ich weiß aus Gesprächen
mit jungen Leuten, dass diesen nicht bewusst war, dass
das Anbringen von Graffiti strafbar ist. Wir müssen aber
deutlich machen, dass das in der Tat strafbar ist. Nun
hoffe ich, Herr Dr. Gehb, dass Sie, auch nach der Presseerklärung, die Sie herausgegeben haben, mitmachen und
deutlich machen, dass das strafbar ist.
({6})
Wir nehmen im Gegensatz zu anderen eine gewisse
Einschränkung vor; denn wir möchten viertens, dass die
wirklich üblen Graffitischmierer erwischt werden, aber
nicht alle Handlungen, durch die das äußere Erscheinungsbild erheblich verändert wird, strafbar sind. Deswegen nehmen wir die vorübergehenden Beeinträchtigungen heraus. Um vorübergehende Beeinträchtigungen
kann es sich zum Beispiel handeln, wenn Wäsche auf einem Balkon großflächig aufgehängt wird oder wenn jemand ein Plakat anklebt. Das ist nur vorübergehend.
Herr Kollege Ströbele, ich kann mir nicht vorstellen,
dass die Plakatankleber mit Industriekleber arbeiten, der
nicht mehr abgeht. Wir möchten auch, dass zum Beispiel
die Sternsinger ihre Kreidezeichen an Häusern anbringen können, auch wenn die Besitzer nicht zu Hause sind.
Der Unionsentwurf verfehlt dies. Wir möchten, dass
die wirklichen Graffitischmierer, also diejenigen, die die
Häuser verunstalten, bestraft werden. Allerdings muss
die Bevölkerung auch wissen - ich sagte es bereits -,
dass es sich hierbei nur um einen Baustein handelt. Das,
was wir jetzt brauchen, ist mehr. Wir brauchen jetzt vor
allen Dingen Präventionsmaßnahmen. Dazu hat der
Antigraffitikongress, der hier in Berlin stattgefunden hat
- ich gehe davon aus, dass Sie alle da gewesen sind -,
deutliche Hinweise gegeben. Die Vertreter aus Dänemark, Norwegen und Finnland sowie aus den Vereinigten Staaten haben über gute Erfolge berichtet. Diese
Länder fangen aber bereits in den Schulen an, deutlich
zu machen, dass Graffiti nicht nur ein Späßchen sind,
sondern dass sie strafbar sind und dass bereits auf Kinder
und Jugendliche Schadenersatzforderungen zukommen
können.
Es ist auch deutlich geworden, dass dort, wo Antigraffitieinheiten der Polizei funktionieren und wo es Ermittlungsgruppen gibt, Graffiti weniger geworden sind.
Es ist auch deutlich geworden, dass da, wo die Gemeinden dafür sorgen, dass Graffiti möglichst schnell beseitigt werden, weniger Graffiti sind, weil damit der Erfolg,
den ein Graffitisprayer will, nämlich die öffentliche Aufmerksamkeit, ausbleibt. Es kommt auch auf eine enge
Zusammenarbeit zwischen Polizei, kommunaler Verwaltung und auch den Hauseigentümern an.
All dies, meine Damen und Herren von der Opposition, ist Aufgabe der Gemeinden und der Länder. Wir
haben das Unsere getan, um deutlich zu machen: Wir
übernehmen unseren Teil der Verantwortung, nämlich
den strafrechtlichen. Ich bin sehr gespannt, ob die Bundesländer, vor allem die, die hier einen eigenen Entwurf
eingebracht haben, nun auch bereit sind, das Ihre dazu zu
tun. Ich werde künftig, wenn das nicht funktionieren
sollte, sagen, auf welchem Spielfeld der Ball liegt, nämlich bei den Bundesländern. Ich gehe davon aus, dass wir
denen nunmehr sehr deutlich zeigen können, dass sie
noch einiges zu tun haben.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Otto
Schily ist in die Luft gegangen - aber nicht tatsächlich,
mit einem Hubschrauber, um Graffitischmierer dingfest
zu machen, was nach der gegenwärtigen Gesetzeslage
auch nicht viel nützen würde, weil das ja in vielen Fällen
gar nicht strafbar ist, sondern wohl eher im übertragenen
Sinne, wie das berühmte HB-Männchen aus der Werbung. Wahrscheinlich kann er nicht mehr ertragen, dass
nahezu sämtliche Gesetze aus dem Bereich von Recht
und Ordnung wie auch die zum Thema Graffiti von seinen eigenen Koalitionären torpediert werden.
Sie brauchen sich nicht zu wundern, Herr Hartenbach,
dass der Saal nicht mehr voll ist. Ich glaube, wir sind,
was die Zahl der Gesetzentwürfe und Befassungen mit
diesem Thema betrifft, inzwischen im zweistelligen Bereich angelangt. Es ist schon bezeichnend, dass wir das
Thema zum zweiten Mal nur über das Vehikel des § 62
Abs. 2 der Geschäftsordnung haben auf die Tagesordnung setzen lassen können.
({0})
- Ja, nun kommen Sie heute mit einem eigenen Gesetzentwurf.
Man muss sich nach dem, was Sie, Herr Hartenbach,
eben gesagt haben, nicht wundern. Herr Ströbele fehlt
heute.
({1})
- Da ist er ja! Herr Ströbele, Sie haben sich ja immer als
Schutzpatron der Schmierfinken aufgespielt.
({2})
Solange Graffiti von einflussreichen Politikern der Koalition als Kavaliersdelikt angesehen werden und jeder,
der sich darüber aufregt, als Saubermann belächelt wird,
darf man sich nicht wundern, dass jegliches Handeln der
Union torpediert worden ist.
({3})
Zu dem Gesetzentwurf von Rot-Grün: Betrachtet man
die Äußerungen rot-grüner Vertreter in den Jahren der
Blockade genauer, so kann man über diese geradezu bis
zur Selbstverleugnung reichende Wandlungsfähigkeit
nur staunen. Ich will einmal ein paar Kostproben geben:
Praktisch alle einen oft erheblichen Schaden hervorrufenden Graffitisprühereien, die die Öffentlichkeit zu Recht verärgern, sind schon heute durch den
Sachbeschädigungstatbestand des Strafgesetzbuches erfasst. ... Ich halte also fest: Die derzeitige
Fassung des § 303 des Strafgesetzbuches ist ausreichend und angemessen.
So Kollege Bachmaier in der Plenardebatte vom
23. März 2000. Jetzt haben wir 2005.
Insofern gibt es keine wirkliche Regelungslücke,
die jetzt geschlossen werden muss.
So Kollege Olaf Scholz. Und so geht das immer weiter.
Demgegenüber heißt es in dem heute für die erste Lesung vorgelegten Gesetzentwurf von SPD und Grünen:
Der Entwurf sieht vor, die Vorschriften der §§ 303
und 304 StGB jeweils um eine weitere Tathandlung
zu ergänzen ...
Mein Blick fällt gerade auf Sie, Herr Montag: Sie waren es, der vor kurzem im „Tagesspiegel“ gesagt hat, es
gebe in der Rechtsprechung eine Grauzone, die beseitigt
werden müsse.
({4})
Es ist schön, dass Ihnen das nach fünf Jahren einfällt.
Wie sieht denn jetzt die Überlegung aus? Sie kommen
mit einer fundamentalen Differenzierung gegenüber dem
Unionsentwurf, in dem wir sagen: „nicht nur unerheblichen Veränderung ... gegen den Willen des Eigentümers
oder sonst Berechtigten“. Das ersetzen Sie - dafür haben
Sie fünf Jahre gebraucht - durch das Synonym „unbefugt“. Was für ein Erkenntnisgewinn!
Meine Damen und Herren, das ist der inzwischen
klassische Fall, bei dem Sie nach jahrelangem Torpedieren plötzlich unsere Ideen übernehmen, semantisch einen kleinen Unterschied hineinbringen und sich hinterher den Erfolg an den Hut heften. Das ist vielleicht ein
PR-Gag. Wissen Sie noch, Herr Ströbele, dass Sie am
31. Januar 2003, als ich schon einmal zu dem Thema geredet habe - das war übrigens die siebte Runde; da standen wir vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen -, gesagt haben: Das Einbringen dieses
Gesetzentwurfes ist doch sicherlich ein PR-Gag. - Herr
Kollege Hartenbach, befinden wir uns jetzt vielleicht
auch wieder in der Zeit vor einer Wahl in irgendeinem
Bundesland? Ist das der Grund, warum Sie jetzt plötzlich
all das machen wollen?
({5})
Das reiht sich lückenlos in die Phalanx Ihres bisherigen Verhaltens ein. Im Jahre 2001 hat der Bundeskanzler
in einer berühmten Boulevardzeitung Beifall heischend
gesagt: Wer kleine Mädchen umbringt, muss weggesperrt werden, und zwar für immer. Daraufhin haben wir
einen Antrag zur Einführung der so genannten nachträglichen Sicherungsverwahrung eingebracht. Was
mussten wir uns alles anhören, insbesondere vom
Rechtsgelehrten Beck.
({6})
Er hat gesagt, das verstoße gegen die Verfassung, gegen
das Rückwirkungsverbot und gegen was weiß ich sonst
noch alles.
Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass unsere Auffassung - wie so häufig - richtig ist. Flugs haben Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung in das
Bundesgesetzblatt gebracht. Heute tingeln Sie damit
durch die Lande, gehen damit hausieren, kokettieren damit und hoffen, dass es Ihnen an den Hut gesteckt wird.
({7})
- Das ist zum Thema. Es geht um das Grundmuster, wie
Sie mit Gesetzentwürfen der Union umgehen.
({8})
Sie springen spät auf das Schiff auf und sagen dann: Wir
sind es gewesen.
({9})
Das können wir Ihnen wahrlich nicht durchgehen lassen.
Uns liegen fünf Entwürfe und zwei Berichte nach
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung vor. Heute, nach mehreren Jahren, sind Sie zu der Erkenntnis gekommen, dass
die Verwendung des Begriffs „unbefugt“ gegenüber der
Formulierung „gegen den Willen“ eine Revolution des
Tatbestandes der Sachbeschädigung bedeutet. Darüber
könnte man eigentlich nur schmunzeln, wenn es nicht so
traurig wäre.
Sie lehnen die Gesetzentwürfe der Opposition - darauf muss ich noch hinweisen - geradezu reflexartig ab,
um nach Monaten oder Jahren doch einzulenken und
womöglich sogar den Eindruck zu erwecken, dass Sie
das Thema selbst entdeckt hätten. Vorausschauende
Rechtspolitik und an den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung orientierte Verbrechensbekämpfung sieht anders aus. Das muss ich Ihnen an einem Freitagnachmittag mit ins Wochenende geben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ströbele.
({0})
Herr Kollege Gehb, Sie haben mich angesprochen
und zum Schutzpatron gemacht. Das ist zu viel Ehre.
Das stimmt nicht. Ich kann nur feststellen, dass nach der
Hysterie, die während und nach dem „Nofitti“-Kongress
in Berlin verbreitet wurde - Sie persönlich und Ihre
Freunde aus der Union haben sie kräftig geschürt -, und
dem nächtlichen, stundenlangen Hubschraubereinsatz in
Berlin
({0})
so viele neue Graffiti gesprayt wurden, wie noch nie zuvor.
({1})
Das heißt: Mit Ihren immer neuen Anträgen, mit Ihren Redebeiträgen und der Verbreitung von Hysterie heizen Sie zum Graffitisprayen geradezu an.
({2})
Damit erreichen Sie das Gegenteil von dem, was Sie
vorgeben, erreichen zu wollen.
({3})
Ich habe Ihnen das in meinen Reden immer wieder gesagt. Ich halte auch jetzt sowohl Ihre Initiative als auch
die der Koalition für ein falsches Signal an die Szene. Es
ist ein falsches Signal zum falschen Zeitpunkt.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich glaube,
dass dieses Gesetz es den Gerichten nicht einfacher
macht. Vielleicht geben Sie den Gerichten Steine statt
Brot. Die Entscheidung, gerade im Bereich des Plakatklebens, ist jetzt häufig sehr schwierig. Deshalb wende
ich mich nach wie vor dagegen. Ich betone jedoch immer wieder: Die Grünen und auch ich waren nicht gegen
neue Gesetze, weil wir es gut finden, wenn zerstört wird,
wenn in U-Bahnen, S-Bahnen, Eisenbahnen und Häusern Zerstörungen angerichtet werden, sondern weil wir
bisher immer Bedenken hatten, ob das das richtige Mittel ist. Das richtige Mittel ist es auch nicht dadurch geworden, indem Sie dieses Thema immer wieder aufgebracht haben und heute mit einer gewissen Süffisanz die
Anzahl Ihrer Interventionen - es waren sieben - beziffert
haben.
({4})
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass mit dieser
Maßnahme das Graffitiunwesen nicht beseitigt wird und
dass sich die vorliegenden Gesetze nicht gegen die so
genannten harten Sprayer - deren Taten sind heute schon
strafbar -, sondern gegen die Verursacher von vergleichsweise harmlosen Veränderungen des Erscheinungsbildes richten. Deshalb kann ich Ihre Vorschläge
nicht billigen.
Zur Erwiderung, Herr Kollege Gehb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist ein etwas seltener Moment: Der Beitrag des
Herrn Ströbele macht nicht nur mich, sondern auch fast
alle anderen sprachlos. Er hat für sich selbst gesprochen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag vom Bündnis 90/ Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erstaunlich: Wir haben schon viele Male im Plenum über
dieses Thema geredet. Dieses Thema verdient eine sachliche, ruhige und angemessene Behandlung.
({0})
Trotzdem können es alle Beteiligten offensichtlich nicht
lassen, die ganze Debatte unglaublich zu überzeichnen
und zu emotionalisieren. Es wäre sicherlich interessant,
einmal darüber nachzudenken, was eigentlich dahintersteckt.
({1})
Ich will Ihnen Folgendes sagen: Ich fände es gut,
wenn wir am heutigen Tag zu einer Versachlichung der
Debatte über dieses Thema kommen könnten.
({2})
Dazu gehört aus meiner Sicht, erst einmal Folgendes
festzustellen: Am 21. April 2005 hat die Presse berichtet, dass bei einem Polizeieinsatz zur Verfolgung von
Graffitisprayern ein Mensch zu Tode gekommen ist. Ich
kenne die Umstände dieses Vorfalls nicht. Sie werden
von den Berliner Behörden aufgeklärt werden müssen.
Aber auch hier muss gelten: Jeder Tote ist einer zu viel.
Graffitischmierereien gehörten bisher und werden auch
in Zukunft zur Kleinkriminalität gehören.
({3})
Ich glaube, dass es angebracht ist, mit Blick auf den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darüber zu reden,
ob Einsätze sinnvoll sind, die dazu führen, dass Menschen bei der Aufdeckung von Sachbeschädigung zu
Tode kommen.
({4})
Das Gleiche - lassen Sie mich auch das bitte sagen trifft zu für den Einsatz von Bundesgrenzschutzhubschraubern und Wärmelichtkameras.
({5})
Den Einsatz dieser Mittel zur Bekämpfung, zur Verfolgung und zur Aufdeckung von Kleinkriminalität wie
Sachbeschädigung finde ich nicht verhältnismäßig.
({6})
Das zeigt mir auch, in welcher gesellschaftlichen Situation des gegenseitigen Aufschaukelns wir uns befinden.
({7})
Die eine Seite veranstaltet einen großen „Nofitti“Kongress in Berlin. Die Sprühergemeinde glaubt, sie
müsse darauf mit einer großen Sprühaktion antworten.
Der BGS weiß nichts Besseres, als Hubschrauber aufsteigen zu lassen und stundenlang über Wohnviertel zu
kreisen, als sei die gesamte Hauptstadt unseres Landes
ein einziges Bahngelände, um zum Schluss einige Festnahmen von Menschen zu machen, die der Sachbeschädigung verdächtigt werden. Ich bitte alle Seiten - vielleicht können wir heute damit beginnen -, die
Diskussion in sachlicher Weise auf das zu begrenzen,
was wirklich notwendig ist und was wir als Bundesgesetzgeber tun können. Ich will auf eine Rede des Kollegen Olaf Scholz vom 1. Juli 2004 hier im Plenum zurückkommen. Auch da ging es um Sachbeschädigung
und Graffitibekämpfung. Seinerzeit hat er ausgeführt,
dass es im Strafrecht - besser gesagt: in der Auslegung
der Strafrechtsnormen - nur in ganz wenigen Fällen eine
kleine Lücke gibt, die es zu schließen gilt. Ich habe
mich - dankenswerterweise haben Sie meine Äußerung
im „Tagesspiegel“ dazu schon zitiert, Herr Kollege
Gehb - dem angeschlossen.
Es ist so: Die allermeisten Graffitisprüher werden
überhaupt nicht erwischt. Mir liegen dazu Zahlen aus
München, wo es sogar eine Sondereinsatzgruppe der Polizei dazu gibt, vor: Die Aufklärungsquote - nicht die
Überführungs- oder Verurteilungsquote - liegt bei
30 Prozent. Das ist sehr niedrig. Da können wir als Bundesgesetzgeber sowieso nichts tun. Es ist Aufgabe der
Länder, sich um diese Sache zu kümmern.
({8})
- Das Polizeirecht ist immer noch Ländersache und nicht
Bundessache.
Der Gesetzentwurf, den wir jetzt eingebracht haben,
und alle Ihre Vorentwürfe werden nicht zur Aufklärung
beitragen; denn auch Sie schlagen nicht vor, jede Nacht
vor jedes Haus in Deutschland einen Polizeibeamten zu
stellen.
({9})
Bleiben Sie doch auf dem Teppich in dieser Debatte! So
geht es nicht.
({10})
In der Praxis hat sich in einigen wenigen Fällen, in
denen es an der Täterschaft eigentlich überhaupt nichts
zu deuteln gibt, herausgestellt, dass es Beweisschwierigkeiten gibt, weil eine wirklich wissenschaftliche Debatte
um die Frage geführt werden muss, ob es in Fällen des
Auftrags auf eine Sache, also zum Beispiel Graffiti, bei
einer hypothetischen oder tatsächlichen Entfernung zu
einer Substanzverletzung kommt. Ich nenne Ihnen deutlich und klar meine Position - dies ist auch die Position
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Koalition -: Die Sache lohnt den Streit nicht. Diese Fälle, in
denen es um diese Beweisprobleme geht, können wir
bundesgesetzlich lösen.
Deswegen haben wir folgenden Vorschlag gemacht:
Da, wo das äußere Erscheinungsbild einer Sache dauerhaft, also nicht nur vorübergehend, und erheblich, also
nicht nur unerheblich, verändert wird, wollen wir den
Gerichten in Zukunft die Möglichkeit geben, die zurzeit
immer wieder entstehende Sachverständigenauseinandersetzung zu verhindern. Nicht mehr und nicht weniger
({11})
wird mit diesem Gesetz erreicht.
Der Vorschlag, den wir gemacht haben, unterscheidet
sich im Übrigen von allen anderen Vorschlägen, die die
übrigen Fraktionen dieses Hauses hier eingebracht haben. Sie von der Union haben doch in Ihrem Gesetzentwurf von Verunstaltung gesprochen.
({12})
- Es gibt keinen anderen von Ihnen. - Auch Sie, meine
Damen und Herren Kollegen von der FDP, haben davon
gesprochen, dass es um eine Verunstaltung gehen muss.
({13})
Das lehnen wir ab.
Ich glaube, wir haben den besten Entwurf von allen
eingebracht. Wir werden in den Verhandlungen im
Rechtsausschuss sehen, wie wir mit den Gesetzentwürfen, die auf dem Tisch liegen, fertig werden.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man ist manchmal wirklich fassungslos. Wer die Rede
des Kollegen Montag und davor die Kurzintervention
des Kollegen Ströbele gehört hat, muss dies wirklich
sein.
({0})
Es ist jetzt sechs Jahre her - ich unterstreiche noch
einmal: sechs Jahre -, dass wir als FDP-Bundestagsfraktion den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von
Graffiti in den Bundestag eingebracht haben. Die CDU/
CSU hat kurze Zeit später einen ähnlichen Gesetzentwurf
eingebracht. Ich weiß gar nicht, wie viele Anhörungen
wir durchgeführt haben, die alle ein klares und eindeutiges Ergebnis hatten: Wir haben eine Strafbarkeitslücke.
In all diesen Anhörungen ist genauso klar geworden, dass
diese Strafbarkeitslücke dazu führt, dass von den Staatsanwaltschaften und den Gerichten viele Verfahren gegen
Graffitisprayer eingestellt worden sind. Das Ergebnis
war, dass die Sprayer natürlich das Gefühl hatten: Das ist
ja gar nicht so schlimm; das ist eine Bagatelle.
Wer selbst Eigentümer eines Hauses ist und in einer
Stadt wohnt, in der Graffitisprayer aktiv sind, weiß, welche Auswirkungen das hat.
Weil der Kollege Montag so getan hat, als handele es
sich bei Graffiti um eine Bagatelle, als sei das alles gar
nicht so schlimm, will ich eine Zahl anführen: In der
Bundesrepublik Deutschland entsteht dadurch pro Jahr
ein Schaden in Höhe von 500 Millionen Euro.
({1})
Dieses Geld fehlt dann in den städtischen Kassen, um
Jugendbetreuung und andere Aufgaben finanzieren zu
können.
({2})
Von daher ist ein klares Signal notwendig, dass wir nicht
bereit sind, Graffitisprayereien hinzunehmen.
Was der Kollege Montag hier als Popanz aufgebaut
hat, hat mich ebenfalls fassungslos gemacht.
({3})
Es haben doch Berichterstattergespräche stattgefunden.
Wir hatten doch eine Formulierung gefunden, der die
Kollegen aus der SPD zugestimmt haben. Diese Formulierung findet sich jetzt in dem von Ihnen eingebrachten
Gesetzentwurf wieder.
Wir hätten seinerzeit zugestimmt. Insofern hätten Sie
längst zu einer Regelung kommen können. Dass Sie jetzt
so tun, als hätten Sie eine bessere Formulierung gefunden, ist schon etwas unverfroren, Herr Kollege Montag.
Darüber wundere ich mich sehr.
({4})
Sie haben zu einer sachlichen Debatte aufgerufen. Ich
finde es nicht richtig, dass Sie so getan haben, als ob die
Strafverfolgung eines Jugendlichen in Berlin zu einem
Todesfall geführt hätte.
({5})
Nach meiner Kenntnis des Falles hat der Jugendliche das
von ihm selbst angebrachte Graffiti zu fotografieren versucht und dabei einen Zug übersehen.
({6})
Dadurch ist es zu dem Todesfall gekommen.
Aber selbst wenn es so wäre wie von Ihnen geschildert, so gilt doch - darin sind wir uns wohl einig -, dass
jeder Tote zu viel ist.
({7})
Deshalb muss klar sein, dass die Jugendlichen erst gar
nicht in die Versuchung kommen. Das muss die Botschaft sein. Dazu gehört auch eine klare strafrechtliche
Antwort.
({8})
Herr Kollege van Essen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. - Aber es
sind auch viele andere Maßnahmen notwendig. Ich fordere die Gemeinden auf, schnellstmöglich für die Beseitigung von Graffiti zu sorgen; denn das hat sich in vielen
Fällen als wirksam erwiesen. Das wirksamste Mittel dabei ist übrigens, wenn die Graffitisprayer selber die Beseitigung übernehmen müssen.
({0})
Dann merken sie nämlich, welchen Aufwand das erfordert. Das wäre sicherlich ein wichtiges Signal.
Ein weiteres Signal sollte darin bestehen, dass die
Schulen ihrer Verantwortung gerecht werden. Aber die
wichtigste Verantwortung kommt uns selber zu. Das
Thema darf nicht schöngeredet werden. Wir haben eben
wieder erlebt, dass Herr Ströbele es heruntergespielt und
Graffiti in die Nähe von Kunst gerückt hat. Jeder, der einen verschmierten S-Bahn-Wagen durch Berlin fahren
sieht, weiß doch, dass das nichts mit Kunst zu tun hat.
Das Gegenteil davon ist der Fall; es sind nämlich blanke
Schmierereien. Zu unserer Verantwortung gehört auch,
dass wir das im Bundestag klar aussprechen.
Ich habe die herzliche Bitte, dass wir die heutige Debatte nutzen, um endlich zu einem Ergebnis zu kommen.
Nach sechs Jahren muss endlich das Strafgesetzbuch ergänzt werden. Wir sind offen für die von der Bundesregierung vorgeschlagene Formulierung.
Meines Erachtens muss dieses Gesetzgebungsvorhaben noch vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet werden, damit endlich ein klares Signal ergeht: Graffiti darf in Deutschland nicht erlaubt sein und
wir tun alles, um Graffiti zu verhindern.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Jerzy Montag das Wort. Ich weise aber gleich darauf hin,
dass dies aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die letzte
Kurzintervention ist, die ich jetzt zulasse. - Bitte schön.
Herr Kollege van Essen, Sie haben mich in Ihrem kurzen Beitrag zweimal persönlich angesprochen. Deswegen sehe ich mich herausgefordert, auf Ihre Ausführungen kurz zu erwidern.
Kommen wir zuerst zu dem Todesfall in Berlin. Ich
habe nicht den von Ihnen angesprochenen Fall gemeint,
bei dem ein Jugendlicher beim Fotografieren eines selbst
gefertigten Graffiti zu Tode gekommen ist, sondern mich
auf den am 21. April 2005 von Reuters mit folgendem
Wortlaut gemeldeten Fall bezogen:
Der Berliner Polizeisprecher bestätigte, dass im
Zuge der Fahndung nach Graffitisprayern ein
Mensch getötet wurde. Am Donnerstagabend sei
ein Motorradfahrer von einem Streifenwagen erfasst worden. Die Polizisten seien unterwegs zu einem Einsatzort gewesen, wo Sprayer am Werk gewesen sein sollen.
Ich habe mich über diese Meldung hinaus auch danach erkundigt, ob sich der Motorradfahrer nach dem
jetzigen Ermittlungsstand falsch verhalten hat. Das ist
nicht der Fall. Er ist ordnungsgemäß nach den Regeln
der Straßenverkehrsordnung gefahren, wobei ihn der
Streifenwagen, offensichtlich im Verfolgungseifer, erfasst hat.
({0})
Ich finde es durchaus sinnvoll, das im Hinblick auf das
Bedauern darüber, dass es bei der Ermittlung einer Sachbeschädigung zu einem Todesfall gekommen ist, im Parlament zu erwähnen.
Zweiter Punkt. Sie haben mich persönlich angegriffen
und mir vorgeworfen, die Sachbeschädigungen durch
Graffiti zu bagatellisieren. Sie haben dies mit einem angeblichen Schadensumfang in Höhe von jährlich
500 Millionen Euro begründet. Ich sage Ihnen: Dieser
Betrag ist durch nichts bewiesen oder glaubhaft gemacht. Die Antwort auf die Frage - als Rechtspolitiker
sollten wir uns darüber eigentlich einig sein -, ob wir einen Tatbestand als Kleinkriminalität, leichte, mittelschwere oder schwere Kriminalität qualifizieren, hängt
nicht davon ab, welcher tatsächliche Schaden oder welcher Gesamtschaden durch eine Straftat entsteht. Sonst
müssten Sie doch auch den Ladendiebstahl zur
Schwerstkriminalität rechnen.
({1})
Es bleibt die Tatsache, dass die Vorschläge aller Fraktionen keine Strafrahmenverschärfung als Ergänzung des
Sachbeschädigungsvorwurfs vorsehen und dass es sich
um eine Straftat handelt, die mit einer Höchststrafe bis zu
einem Jahr geahndet wird. Deswegen war es sachlich
völlig richtig, als ich gesagt habe: Es ist und bleibt Sachbeschädigung, Kleinkriminalität. Dementsprechend sollten wir die Debatte führen.
Das Wort zur Erwiderung hat Herr van Essen.
Herr Kollege Montag, Sie haben vorhin in der Debatte für Sachlichkeit geworben. Ich kritisiere Sie nachdrücklich; denn Ihre angebliche Richtigstellung zeigt
deutlich, dass bei Ihnen der Wille zur Versachlichung
nicht vorhanden ist.
({0})
Wer eine Einsatzfahrt, bei der etwas passiert - hier ein
schlimmer Verkehrsunfall -, einem Delikt zurechnet, der
vertritt eine so unglaubliche Meinung, dass mich das
wirklich sprachlos macht.
({1})
Sie wissen, dass eine Diskussion in der Berliner Polizei über die schnellen Einsatzfahrzeuge und die Fähigkeiten der Polizisten, diese zu beherrschen, die Folge des
angesprochenen Unfalls gewesen ist und nicht die Frage,
ob Graffiti bekämpft werden soll oder nicht. Wer im
Bundestag sachlich diskutieren will, der sollte das deutlich machen.
({2})
Zweite Bemerkung, zur Schadenshöhe: Es handelt
sich möglicherweise um ein Delikt der einfachen Kriminalität. Trotzdem warne ich vor einer Bagatellisierung,
und zwar aufgrund der immensen Schäden. Sie kennen
doch beispielsweise die nachweisbaren Zahlen der Deutschen Bahn. Wir können uns zwar darüber streiten, ob
die Höhe der Gesamtschäden bei 498 Millionen Euro
oder bei 502 Millionen Euro liegt. Tatsache ist aber, dass
viele Gemeinden in Deutschland wegen der hohen Aufwendungen für die Entfernung von Graffiti beispielsweise Jugendheime nicht mehr unterhalten können. Deshalb ist das auch ein Thema für den Deutschen
Bundestag und mit Sicherheit keine Bagatelle, über die
man hinweggehen sollte.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr van Essen, es ist schön, dass sich die FDP für die
Kommunen und die dortigen Jugendheime so einsetzt.
Lassen Sie uns gemeinsam eine entsprechende Politik
gestalten.
Wir sollten nun, nach den Zwischenkontroversen,
zum Gesetzentwurf zurückkommen. Ich möchte darauf
hinweisen, dass wir den Bereich des Strafrechtes und
den Bereich des Zivilrechtes, bei dem es um die Durchsetzbarkeit von Schadenersatzforderungen geht, nicht
durcheinander werfen sollten. Das wird in der Debatte
oft getan, wenn der Eindruck erweckt wird, dass mit einem deutlichen Zeichen des Strafrechts der geschädigte
Bürger oder die geschädigte öffentliche Hand, beispielsweise Kommunen und Verkehrsunternehmen, in die
Lage versetzt werden, Schadenersatzansprüche zu realisieren. Das alles macht das breite Spektrum dieser Debatte aus.
Ich denke, wir sollten heute in erster Linie über den
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen diskutieren. Ich
lade Sie zur Zusammenarbeit im Ausschuss ein - Herr
van Essen, soweit es Ihre Aussagen zur Prävention angeht, bin ich mir sicher, dass das möglich ist -, damit wir
schnell zu einem Ergebnis kommen. Das wollen wir;
denn wir wollen die Debatte zu einem Ende bringen. Wir
haben nun ein gutes Angebot unterbreitet. Ich denke,
dieses Angebot kann dieses Haus annehmen.
Wir alle sind uns doch darüber einig, wie Graffiti zu
bewerten sind. Graffiti sind überall. Als ich 1989 mit
über 40 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben nach
Hamburg kam, war ich über das, was ich gesehen habe,
schon etwas erschüttert: beschmierte S-Bahnen, beschmierte Bahnsteige usw. Graffiti sind ein Ärgernis für
alle: Privatpersonen, Verkehrsbetriebe, die öffentliche
Hand.
Jeder mag für sich beurteilen, ob das Kunst ist oder ob
das Farbschmierereien sind. Wir sind jetzt hier gefordert,
die Frage, ob vor Gericht der Beweis geführt werden
muss, dass es sich um eine Substanzverletzung handelt
oder nicht - es handelt sich dabei um eine Grauzone;
Herr Montag hat darüber gesprochen -, klar zu beantworten. Damit helfen wir den Gerichten, und das in einer
Zeit, wo sie oft überfordert sind. Damit helfen wir auch
den Geschädigten. Darüber hinaus wenden wir uns auch
an diejenigen, die meinen, das Eigentum anderer mit eigener Kunst oder mit dem, was sie darunter auch immer
verstehen, beschmieren zu dürfen. Diesen Menschen
muss deutlich gesagt werden: Der Gesetzgeber duldet
das nicht. Deswegen ergänzen wir §§ 303 und 304 des
Strafgesetzbuches. Ich denke, das ist ein deutliches Zeichen.
Ich will über die Höhe der Schäden nicht ausführlich
sprechen. Hier war davon die Rede, die Höhe der Schäden liege bei 500 Millionen Euro pro Jahr. In den Unterlagen, die ich habe, ist die Rede von 200 Millionen Euro
bis 250 Millionen Euro. Es ist müßig, hier Zahlen herunterzubeten. Selbst wenn es richtig ist, dass der Schadenbetrag bei 250 Millionen Euro liegt: Ich meine, dass die
entsprechenden Tatbestände im weitesten Sinne schon
jetzt vom geltenden Strafrecht erfasst werden.
Ich komme auf das Problem der Substanzverletzung
zurück. Dieser Gesetzentwurf soll eine Grauzone beseitigen. Künftig soll es nicht mehr so sein, dass Verkehrsbetriebe, die angehalten sind, Graffiti innerhalb einer bestimmten Frist von den Zügen zu entfernen, drei, vier
oder acht Monate nach der Straftat vor Gericht eine Substanzverletzung belegen müssen, sofern es überhaupt gelungen ist, den Straftäter zu ergreifen. Dass sie dazu gar
nicht in der Lage sind, ist doch Realität. Wer mit Verkehrsbetrieben gesprochen hat, der weiß doch, wo die
Probleme liegen. Diese Probleme wollen wir jetzt lösen.
Wir sind uns nämlich völlig einig: Graffiti sind keine Bagatelle.
Die zivilrechtlichen Regelungen in Bezug auf Graffiti greifen schon jetzt - auch das sollte man noch einmal
sagen -, selbst dann, wenn der Strafrechtstatbestand
nicht erfüllt war. Selbst wenn strafrechtlich keine Reaktion möglich war, konnte, wenn an ein Haus oder an ein
Verkehrsmittel Graffiti gesprüht wurde, der geschädigte
Bürger oder der Verkehrsbetrieb natürlich Schadenersatzforderungen geltend machen. Wir als Gesetzgeber
wollen aber auch im strafrechtlichen Bereich ein Zeichen setzen. Auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - sie hat die Substanzverletzung zur Voraussetzung erklärt - wollen wir durch eine entsprechende
Regelung in den genannten §§ 303 und 304 des Strafgesetzbuches reagieren.
({0})
- Herr Gehb, ich weiß nicht, warum Sie sich hier heute
so aufregen.
({1})
- Herr Gehb, bleiben Sie einmal schön ruhig!
({2})
- Herr Gehb, bleiben Sie einmal schön ruhig!
Herr Präsident, fragen Sie Herrn Gehb bitte, ob er
eine Frage hat.
Herr Kollege, reden Sie weiter.
Herr Gehb, das mit dem Baldrian war treffend; Sie
sollten das einmal versuchen.
Die Strafverschärfung oder die Schließung einer
Rechtslücke - wie immer man das bezeichnen mag - bedeuten für die Verfolgung von Graffitisprayern einen
Fortschritt. Für uns ist die Prävention in den Kommunen ein ganz wichtiges Anliegen. In den Kommunen
muss darauf hingewirkt werden, dass sich alle Bürger
dafür verantwortlich fühlen, dass Graffitisprayer angezeigt werden. Ich persönlich bin der Meinung, dass die
Aufklärungsquote in einigen Städten größer ist, als es
hier dargestellt wurde. Diese Quote mag von Ort zu Ort
verschieden sein. Von der Schweriner Kriminalpolizei
wurden mir andere Zahlen genannt. Auch hierbei gilt: Es
ist müßig, darüber zu diskutieren. Wir wollen eine Grauzone beseitigen.
Herr Gehb - regen Sie sich bitte nicht erneut auf -,
ich finde, wir machen einen guten Vorschlag. Sie haben
von „Verunstalten“ gesprochen. Wir benutzen eine Definition, die in das Strafrecht passt. Wir wollen den Gerichten nicht erneut einen Interpretationsspielraum geben. Ich würde deshalb vorschlagen: Schließen Sie sich
einfach unserem Gesetzentwurf an, dann kommen wir
schnell zu einem Ergebnis.
Meine letzte Botschaft lautet: Wir reagieren mit diesem Gesetzentwurf angemessen und rechtsstaatlich auf
einen Zustand,
({0})
den wir alle nicht gut finden. Ich finde, das ist eine gute
Botschaft, die vom heutigen Tage an die Kommunen und
die Verbände geht, die sich zu Recht lange Zeit darüber
beklagt haben, dass hier eine Grauzone nicht beseitigt
worden ist. Lassen Sie uns mit dieser guten Botschaft in
den Wahlkreis gehen, Herr Gehb.
({1})
Diskutieren Sie mit uns im Rechtsausschuss und bringen
Sie gute Vorschläge. Vielleicht können wir dann noch etwas ergänzen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Raab von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Graffiti und kein Ende, möchte man
meinen, wenn man sich die Chronologie des rot-grünen
Eiertanzes in den vergangenen Jahren anschaut:
März 2002: fünfte Beratung zum Thema Graffiti im
Deutschen Bundestag.
20. Dezember 2002: Es findet die Plenardebatte zur
ersten Lesung des von der Fraktion der FDP mal wieder
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz des Eigentums statt.
({0})
- Das werden Sie gleich hören, Herr Hacker. Gedulden
Sie sich. Ich habe noch sechs Minuten.
({1})
7. Januar 2003: Auch die CDU/CSU bringt einen eigenen Gesetzentwurf zur Graffitibekämpfung ein.
5. Februar 2003: Nun folgt der Bundesrat mit einem
eigenen Entwurf.
21. Mai 2003: öffentliche Anhörung zum Thema
Graffitibekämpfung. Sie beschäftigt sich
({2})
- seien Sie doch einmal ruhig ({3})
mit der Frage, ob es einer Strafverschärfung zur besseren
Verfolgung von Graffitisprühern bedarf. Dabei war nur
einer der auch von Ihnen eingeladenen Experten, Herr
Hacker, der Meinung, dass es keiner Strafverschärfung
bedürfe.
({4})
- Keine Überraschung, dass das der von den Grünen eingeladene war. - Klare Präferenz erfuhr der Entwurf des
Bundesrates, der bekanntlich darauf abstellt, dass die
Schmiererei gegen den Willen des Berechtigten erfolgt.
Damit wird endlich die Rechtsklarheit geschaffen, die
teure Gutachten und juristische Auslegungen überflüssig
macht. Jetzt kommt der entscheidende Punkt, Herr
Hacker: Die Unionsfraktion hat darauf eindeutig und
mehrfach auch im Rechtsausschuss signalisiert, zugunsten der Bundesratsvariante auf den eigenen Entwurf
verzichten zu wollen.
({5})
25. Juni 2003: Berichterstattergespräch mit den Herren Bachmaier, van Essen, Ströbele und meiner Wenigkeit.
({6})
In diesem Berichterstattergespräch gab uns zumindest
die SPD-Seite - Herr Hacker, Sie waren leider nicht dabei, sonst wüssten Sie es besser ({7})
zu erkennen, dass man einer Gesetzesänderung nicht im
Wege stehe, jedoch an der koalitionsinternen Blockade
durch die Grünen scheitere.
({8})
Außerdem wurde uns im Sommer 2003 vom Justizministerium baldmöglichst ein eigener Gesetzentwurf
angekündigt, dessen Wortlaut sich - man höre und
staune - an dem Bundesratsentwurf orientieren solle.
Man sagt ja immer, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber
während der Wartezeit auf diesen im Sommer 2003 angekündigten Entwurf hätte man locker versauern können.
Es geht weiter mit dem 15. Januar 2004, also über ein
halbes Jahr später: erste Geschäftsordnungsdebatte zum
Antrag gemäß § 62 Abs. 2 wegen Untätigkeit. Sie haben die Beratung des Entwurfs ein halbes Jahr verschleppt, den Bundestag hingehalten und nichts getan.
11. Februar 2004: Der Kollege van Essen und ich erbitten beim Kollegen Bachmaier schriftlich ein erneutes
Berichterstattergespräch. Überraschenderweise erfolgt
auch darauf keine Reaktion.
1. Juli 2004: zweite Geschäftsordnungsdebatte wegen
Untätigkeit.
Über die Sommerpause war dann jedoch die niedersächsische CDU-Landtagsfraktion nicht untätig. Sie
bringt am 6. September 2004 zusammen mit der FDP einen Antrag mit folgendem Titel ein: „Graffiti-Schmierereien konsequent bestrafen - Rot-grüne Bundesregierung verzögert die Verabschiedung eines GraffitiBekämpfungsgesetzes“.
({9})
Dieser Antrag war anscheinend so überzeugend, dass sogar die SPD-Landtagsfraktion im niedersächsischen
Rechtsausschuss zugestimmt hat und dafür lediglich die
Bedingung stellte, dass der Titel geändert wird. Das
könnten Sie sich zum Vorbild nehmen.
Weiter geht es in der Chronologie. Wir kommen jetzt
zu den ganz aktuellen Daten. Aber an dem bisher Gesagten sehen Sie schon, wie lange es gedauert hat, um allein
durch diese Legislaturperiode zu kommen.
Anlässlich des ersten internationalen Anti-GraffitiKongresses in Berlin fällt dann die Erleuchtung vom rotgrünen Himmel und trifft zunächst Bundesinnenminister
Schily; das ist schon erwähnt worden. Er möchte ertappte Sprayer mit Hubschraubern und Infrarotkameras
verfolgen. Wir haben gerade gehört, das hätte nichts gebracht. Denn selbst wenn wir sie gefasst hätten, hätten
wir mangels gesetzlicher Regelung keine strafrechtliche
Verurteilung erreichen können.
({10})
Die zweite Erleuchtung vom rot-grünen Himmel trifft
dann die Koalition in der letzten Woche. Man wedelt
verheißungsvoll mit einem Gesetzentwurf, der die „unbefugte nicht nur unerhebliche und nicht nur vorübergehende Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache“
unter Strafe stellt. Da möchte man gratulieren.
({11})
Aber Sie hätten auf jeden Fall einen Orden für das
Finden von Synonymen, wenn es denn einen gäbe, verdient.
({12})
- Den suche ich immer noch verzweifelt, Herr Hacker.
Sie werden ihn uns in den Berichterstattergesprächen sicherlich konsequent erklären können. Ihr „unbefugt“
entspricht eindeutig unserem „gegen den Willen des
Eigentümers oder sonst Berechtigten“. Das ist das erste
Synonym, auch wenn Sie in Ihrer Begründung wirklich
krampfhaft und an den Haaren herbeigezogen versuchen, das Gegenteil zu behaupten.
({13})
Damit nicht genug. Sie versuchen jetzt auch noch, der
geneigten Öffentlichkeit zu verkaufen, die Verschärfung
der Graffitibekämpfung hätten Sie erfunden.
({14})
Wahrscheinlich drehen Sie irgendwann den Spieß um
und behaupten, wir hätten Sie während der letzten sechs
Jahre an der Umsetzung gehindert. Aber Spaß beiseite.
Es drängt sich einem wirklich die Frage auf, warum so
viel Zeit vergehen musste und warum Sie nicht längst
mit uns zusammen die Bundesratsvariante verwirklicht
haben, wie es uns oftmals durch den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär und auch Ihre Kollegen angekündigt worden ist.
({15})
Aber vielleicht haben Sie einfach nur auf die zeitliche
Nähe zum 22. Mai dieses Jahres gewartet.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren - das ist richtig - zum wiederholten
Male über die effektive Bekämpfung von Graffiti an privaten und öffentlichen Gebäuden. Ich glaube schon, dass
die vorliegenden Vorschläge eine gute Grundlage sind,
um sachlich und weniger emotional darüber zur diskutieren und dann schließlich zu einer Einigung zu kommen.
Graffiti sind ein Ärgernis. Sie sind kein Kavaliersdelikt. Sie beeinträchtigen das Erscheinungsbild unserer
Städte und ihre Beseitigung verursacht enorme Kosten
für private Eigentümer und die öffentliche Hand. Schätzungen, wonach ein Schaden von mehreren hundert
Millionen Euro jährlich entsteht, belegen, dass es sich
wirklich nicht um eine Kleinigkeit oder Bagatelle handelt.
Umstritten aber bleibt, ob dieses gesellschaftlich unerwünschte Phänomen allein mit dem Strafrecht wirksam bekämpft werden kann. Durch die jetzige Formulierung der §§ 303 und 304 StGB können bereits jetzt
zahlreiche Sachverhalte der Sachbeschädigung durch
Graffiti erfasst werden. Doch der Nachweis der Substanzverletzung - der Staatssekretär hat darauf hingewiesen -, den diese Strafvorschriften fordern, ist schwierig zu führen und kann oft nur durch teure Gutachten
nachgewiesen werden. Die hohen Kosten sind ein Grund
dafür, dass circa 10 Prozent aller Verfahren eingestellt
werden.
Es besteht Konsens zwischen den Fraktionen - ich
glaube, das auch noch nach dieser aufgeregten Debatte
feststellen zu können -, das Strafgesetzbuch so zu ändern, dass diese Gerichtsverfahren gegen gefasste Graffitisprayer schneller und kostengünstiger geführt werden
können.
Der Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen jetzt
vorlegen, basiert auf einem Entwurf aus dem Bundesrat
von 2003.
({0})
Der Bundesrat und auch die Oppositionsfraktionen formulieren allerdings in ihren Entwürfen, dass die Verunstaltung einer Sache gegen den Willen des Eigentümers
oder Befugten unter Strafe zu stellen ist.
({1})
Der Begriff der Verunstaltung ist subjektiv und bezieht
sich auf Ästhetik; er ist nicht oder nur schwer objektiv
zu fassen. Auch damit wäre das Ziel, das Erfordernis der
Erstellung teurer Gutachten und der Einbeziehung von
Sachverständigen zu umgehen, nicht erreicht. Deshalb
schlagen wir eine andere Formulierung vor: Das Erscheinungsbild einer Sache muss erheblich und nicht nur
vorübergehend verändert werden, damit die entsprechenden Paragraphen greifen. Diese Erheblichkeitsgrenze
scheint mir von entscheidender Bedeutung zu sein. Ich
hoffe, dass wir über diese Formulierung in den Beratungen Einigkeit erzielen werden.
Hauptproblem bleibt aber, die Täter zu fassen und
dingfest zu machen. Volkstümlich heißt es bei uns: Die
Nürnberger hängen keinen, es sei denn, sie hätten
ihn. - Beim Graffitiunwesen gibt es eben nur diese niedrige Aufklärungsquote von circa 30 Prozent. Deshalb
muss natürlich weiterhin darüber nachgedacht werden,
wie die Strafverfolgung in diesem Bereich zu verbessern
ist, auch unter verhältnismäßigem Einsatz der Bundespolizei.
({2})
- So heißt der Bundesgrenzschutz, nachdem wir das in
dieser Woche beschlossen haben.
Für die meisten jungen Sprayer ist es eine sportliche
Herausforderung, an möglichst exponierten Plätzen zu
sprayen und dann den Strafverfolgern zu entwischen.
Dieses Problem werden wir auch mit der Änderung des
Strafrechts nicht lösen können. Abschreckung, Kontrolle, Polizeipräsenz, Ermittlungsarbeit, das ist die eine
Seite. Die Ursachen des Problems werden wir nicht bekämpfen können, wenn wir nicht auch präventiv im Bereich von Erziehung und Kultur eine entsprechende Jugendpolitik angehen.
Graffiti gehören zu einer Jugendkultur in einer
Szene, die mit Appellen und Strafandrohungen nur
schwer erreichbar ist. Je mutiger eine Aktion ist, desto
angesehener oder cooler ist der Sprayer in der Szene.
({3})
Ohne mehr Jugendarbeit, ohne mehr Projekte der Kinder- und Jugendhilfe, ohne sinnvolle Angebote für jugendliche Zielgruppen wird es nicht gelingen, das
Graffitiunwesen erfolgreich zurückzudrängen.
({4})
Wenn die Kommunen mehr in Jugendarbeit investieren
würden, müssten sie vielleicht weniger in die Reparatur
von Schäden investieren.
({5})
Das Fehlen von Freiräumen zur Gestaltung des eigenen
Umfelds ist mit ursächlich für die Vielzahl von Graffiti.
({6})
Es gibt erfolgreiche Projekte. Zu nennen ist zum Beispiel das Programm „Soziale Stadt“, bei dem die Wohnbevölkerung in sozialen Brennpunkten in die Gestaltung
des wohnlichen und sozialen Umfelds einbezogen wird.
Auch der in dieser Woche von den Koalitionsfraktionen
vorgelegte Antrag, in dem mehr kinder- und jugendpolitische Projekte gefordert werden, um jungen Menschen
bildungspolitische Alternativen und Alternativen der
Freizeitgestaltung zu bieten, ist ein richtiger Ansatz. Nur
wenn Jugendliche in die Gestaltung ihres Lebensumfelds
einbezogen werden, gehen Vandalismus und Sprayerei
nachweislich zurück.
Ich wünsche mir, dass wir neben den Strafrechtsänderungen gerade auch diese präventiven Maßnahmen
verstärken. Nur dann - davon bin ich überzeugt - werden wir der Ursachen des Problems Herr werden und Jugendliche davor bewahren, eine kriminelle Karriere einzuschlagen, die ihr ganzes Leben belasten kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Es gibt wohl nur wenige Menschen über 40 Jahre, die
Graffiti an Häuserwänden wirklich schön finden, und es
gibt Jugendliche, die Graffiti toll finden. Hier besteht
also ein Generationskonflikt,
({1})
mit dem wir uns auseinander setzen müssen.
Welche Strategien sind da im Angebot? Die Berliner
Polizei - davon wurde hier schon gesprochen - hat vor
wenigen Tagen einen Graffitisprayer mit einem Polizeiauto verfolgt und dabei einen unschuldigen 22-jährigen
Motorradfahrer gerammt, der kurz nach dem Unfall verstarb. Ist das etwa eine verhältnismäßige Strategie?
Bundesminister Schily will mithilfe von Helikoptern,
die mit Wärmebildkameras ausgestattet sind, Graffitisprayer jagen. Erst hielt ich das für einen schlechten
Scherz. Doch Herr Schily glaubt wirklich, dass das eine
gute Strategie ist. Das ist in Anbetracht der Straftat nicht
nur unverhältnismäßig; das ist hysterisch.
({2})
- Wir sind in Berlin leider nicht für die Polizei zuständig, Herr Kollege. Aber das kann sich ja irgendwann einmal ändern. Danke für den Hinweis.
({3})
Der Law-and-Order-Mann Schily hat jedes Maß verloren. Für ihn geht es nicht nur um die Lösung des Problems; für ihn geht es darum, dass er vom Law-andOrder-Mann Beckstein nicht überholt wird.
Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung haben Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen,
jedes Maß verloren, finde ich, obwohl Sie in Ihren Redebeiträgen hier versucht haben, einen anderen Eindruck
zu erwecken.
({4})
In Ihrer Änderung des Strafgesetzbuches geht es nicht
mehr nur - wenn Sie den Text lesen, werden Sie das feststellen - um die Beschädigung und Zerstörung von Häuserwänden. Vielmehr soll es demnach schon strafbar
sein, wenn das Erscheinungsbild gegen den Willen des
Eigentümers verändert wird.
({5})
Diese Gesetzesänderung muss zwangsläufig dazu
führen, dass - um es Ihnen anschaulich darzustellen das Lied „Der Lindenbaum“ von Wilhelm Müller und
Franz Schubert nicht mehr gespielt werden dürfte. Ich
zitiere:
Am Brunnen vor dem Tore
da steht ein Lindenbaum.
Ich träumt in seinem Schatten
so manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort.
Meine Damen und Herren, das wäre nach Ihrem Gesetzentwurf verboten; denn Ihrem Gesetzentwurf zufolge
wäre das die Beschädigung einer Sache, die die Sache
nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.
({6})
Als Mitglied des Haushaltsausschusses will ich auch
auf das erforderliche Geld zu sprechen kommen. In Ihrem Gesetzentwurf wird darauf verwiesen, dass die hohen Kosten für Gutachten durch diese Gesetzesänderung
in Zukunft nicht mehr anfallen werden. Gleichzeitig aber
werden Hubschrauber und Wärmekameras eingesetzt,
um Graffitisprayer zu verfolgen.
({7})
Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis Schily mit
seinen Hubschraubern und Wärmekameras aufsteigen
und Liebespaare im Wald beobachten wird, um festzustellen, ob sie Bäume mit kleinen Herzen versehen und
ihr Erscheinungsbild dadurch nicht unerheblich verändern.
({8})
Wir werden gegen diese Gesetzesänderung stimmen;
denn die derzeitige Gesetzeslage ist ausreichend. Meine
Damen und Herren - das sage ich an alle Fraktionen dieses Hauses -, manchmal hilft es schon, wenn Eltern und
Kinder gemeinsam putzen. Dafür gibt es übrigens ein
schönes altes Wort: Subbotnik.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Roland Gewalt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Art. 76
des Grundgesetzes ist eine angemessene Frist zur Beratung von Gesetzesvorlagen des Bundesrates im Bundestag vorgeschrieben. Vor fast zweieinhalb Jahren
beschloss der Bundesrat fast einstimmig die Tatbestandsänderung der §§ 303 und 304 des Strafgesetzbuches, das so genannte Graffitibekämpfungsgesetz.
Der Umfang dieses Gesetzentwurfes, den ich mir einmal
genau angeschaut habe, beträgt genau fünf Zeilen. Ich
glaube, selbst die SPD-Fraktion muss einräumen, dass
ein Zeitraum von zweieinhalb Jahren angesichts der
Überschaubarkeit dieses Gesetzentwurfes kaum noch als
angemessen bezeichnet werden kann.
Erst nachdem der Berliner Verein „nofitti“ bzw. sein
sehr engagierter Vorsitzender Karl Hennig vor zwei Wochen in Berlin einen interessanten und, Herr Ströbele,
vor allem sehr erfolgreichen Antigraffitikongress organisiert hat,
({0})
fühlte sich Rot-Grün offensichtlich bemüßigt, sich dieses Problems anzunehmen. Herr Kollege Montag, da Sie
den sehr bedauerlichen Unfall mit dem Motorradfahrer
erwähnt haben, gestatten Sie mir bitte, auf einen Bericht,
der heute in der „Bild“-Zeitung erschienen ist,
({1})
hinzuweisen, in dem steht, dass der Vorsitzende des Vereins „nofitti“, Herr Hennig, seit Wochen Morddrohungen erhält und mittlerweile Polizeischutz bekommt. So
weit zur angeblichen Friedfertigkeit der Graffitiszene. In
dieser Frage kann ich Ihre Meinung wirklich nicht teilen.
({2})
All dem ist eine von der Koalition zu verantwortende
Hängepartie vorausgegangen, die bei den Betroffenen,
den Ländern und Gemeinden nur noch Kopfschütteln
auslöst. Ich werde ein paar Aspekte der Beratungen von
Bundestag und Bundesrat hervorheben. Am
16. März 1999 wurde ein Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion im Bundestag von Rot-Grün abgelehnt. Am
19. März 1999 wurde ein Gesetzentwurf des Bundesrates, initiiert vom Land Berlin - Initiator war übrigens der
SPD-Justizsenator Körting -, im Bundestag von RotGrün abgelehnt. Am 10. November 2001 wurde erneut
ein Gesetzentwurf des Bundesrates im Bundestag von
Rot-Grün abgelehnt. Am 20. Dezember 2002 hat
schließlich der dritte Gesetzentwurf des Bundesrates die
Zustimmung aller Bundesländer mit Ausnahme von
Schleswig-Holstein - das dürfte sich mit dem 27. April
dieses Jahres erübrigen - gefunden. Die Beratung dieses
Gesetzentwurfes wird hier im Hause seit zweieinhalb
Jahren von Rot-Grün blockiert. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, wenn Sie noch nach Ursachen der Politikverdrossenheit in unserem Lande suchen, dann ist das wirklich ein Paradebeispiel.
({3})
Am Dienstag letzter Woche dann ließ die Koalition
weißen Rauch aufsteigen. Wer hoffte, dass sich RotGrün jetzt endlich bewegte, wurde allerdings bitter enttäuscht.
({4})
Ein Formulierungsvorschlag wurde präsentiert, bei dem
man wirklich in jedem Wort das Gezerre hinter den Kulissen der rot-grünen Koalition erahnen kann.
({5})
Ich frage Sie: Warum um Himmels willen sind Sie nicht
der Empfehlung der Bundesregierung aus der letzten
Woche gefolgt, dem fachlich fundierten und wohl abgewogenen Gesetzentwurf des Bundesrates - so, wie er
uns vorliegt - zuzustimmen?
({6})
Mit der Formulierung „wer ... das Erscheinungsbild ...
nicht nur vorübergehend verändert“ haben Sie, offenbar
um die Zustimmung der Grünen zu bekommen, eine
Rolle rückwärts gemacht.
Ich habe mich bei Fachleuten in Berlin umgehört, unter anderem beim Generalstaatsanwalt beim Landgericht
Berlin. Es besteht hier die ganz konkrete Gefahr, dass
die Rechtsprechung erneut eine Bestrafung wegen
Sachbeschädigung ablehnt, wenn die Graffiti nur oberflächlich, das heißt entfernbar - und damit „nur vorübergehend“ im Sinne Ihres Gesetzentwurfes -, aufgebracht sind. Damit stünden wir genau da, wo wir jetzt
schon stehen.
({7})
So war das mit Sicherheit nicht gedacht, meine Damen
und Herren.
({8})
Ersparen Sie uns eine monatelange Beratung über
Ihre nicht sehr hilfreiche Gesetzeskreation und stimmen
Sie endlich dem zu, was Ihre eigenen Justizminister gemeinsam mit unseren Justizministern im Bundesrat vorgeschlagen haben! Die Berliner Justizsenatorin Karin
Schubert - bekanntermaßen Mitglied der SPD - hat,
nachdem Rot-Grün den Gesetzentwurf in der letzten
Woche vorgestellt hat, in der „BZ“ am Sonntag völlig
richtig klargestellt, dass die Gesetzesänderung jede Form
von unerlaubt angebrachten Graffiti strafbar machen
muss; insofern stimme ich der Justizsenatorin voll zu. Es
müsste Sie, meine Damen und Herren von der SPDFraktion, eigentlich nachdenklich stimmen, dass Sie mit
dem Entwurf, den Sie hier vorlegen, deutlich hinter dem
bleiben, was Ihre eigenen Justizminister aus den Ländern gefordert haben.
Die Zeit drängt, meine Damen und Herren. In der
Graffitiszene scheint mehr und mehr durchzusickern,
dass es den Strafverfolgungsbehörden besonders schwer
fällt, eine Sachbeschädigung nachzuweisen, wenn man
auf Glas- oder Metallflächen sprüht. Nur so ist es zu erklären, dass in den letzten Jahren in Berlin im Bereich
der Zuständigkeit des Bundesgrenzschutzes - an Eisenbahnzügen und an S-Bahn-Zügen - die Zahl der
Graffitischmierereien deutlich zugenommen hat: im letzten Jahr um 17 Prozent, Herr Ströbele.
({9})
Allein bei einem Treffen der Graffitiszene in Berlin im
letzten Monat wurde innerhalb von 48 Stunden bei der
Berliner S-Bahn eine Fläche von 975 Quadratmetern besprüht; das entspricht einer Zuglänge von über
400 Metern.
({10})
- Der Schaden ist erheblich, Herr Kollege Hacker.
({11})
Der Schaden ist ganz erheblich:
({12})
Die Deutsche Bahn beziffert den Schaden in ihrem Bereich für das Jahr 2004 auf über 50 Millionen Euro.
Wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, der
von Fachleuten in Berlin - von Staatsanwälten in Berlin,
Herr Kollege Hacker - als nicht hilfreich angesehen
wird,
({13})
dann ist das genau das Problem, über das wir hier reden.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege!
Nur mit einer klaren Grenzziehung, vor allem im
strafrechtlichen Bereich, kann diesem Treiben ein Ende
bereitet werden. Deshalb habe ich gehofft, dass Sie dem
Gesetzentwurf des Bundesrates hier zustimmen. Dazu
sind Sie offensichtlich nicht bereit; Sie vollführen hier
einen Eiertanz. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das
den Bürgerinnen und Bürgern draußen erklären wollen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5317 zu Zusatzpunkt 11 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5313 zu
Tagesordnungspunkt 20 b soll an dieselben Ausschüsse
überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Dr. Andreas Pinkwart, Otto Fricke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine deutsche Beteiligung an MEADS
- Drucksache 15/5336 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jürgen Koppelin von der FDP-Fraktion das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Ströbele, bleiben Sie ruhig hier, damit Sie gleich
Farbe bekennen können.
Ich will vorab sagen: Der Verteidigungsminister hat
sich heute bei mir entschuldigt, weil er einen wichtigen
Termin hat. Diese Entschuldigung wird selbstverständlich angenommen. Ich finde es aber schade, dass bei einem so wichtigen Projekt, über das wir diskutieren - es
geht um viele Milliarden Euro -, kein Vertreter des
Finanzministeriums anwesend ist. Das hätte heute zumindest anders sein können.
({0})
Mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen
gegen die Stimmen der FDP hat der Haushaltsausschuss
des Bundestages am Mittwoch den Einstieg in das Raketenabwehrsystem MEADS beschlossen.
({1})
855 Millionen Euro an Entwicklungskosten sind für dieses Raketenabwehrsystem geplant. Bei der Beschaffung
muss damit gerechnet werden, dass es noch einmal zu
Kosten zwischen 4 und 7 Milliarden Euro kommen wird.
({2})
Die genaue Zahl kann man nicht nennen; denn auch das
Verteidigungs- und das Finanzministerium waren nicht
in der Lage, zu sagen, was MEADS am Ende kosten
wird, wenn es angeschafft wird.
({3})
Nach Auffassung der FDP steht das haushaltspolitische
Risiko der Beschaffung in keinem Verhältnis zu einem
eventuellen Gewinn an Sicherheit.
Das Bundesfinanzministerium räumt ein, dass mit der
Anschaffung von MEADS der zur Verfügung stehende
finanzielle Handlungsspielraum im Verteidigungshaushalt in den kommenden Jahren eingeschränkt wird. Der
Bundesrechnungshof hat erhebliche Bedenken vorgetragen und Zweifel an der Notwendigkeit der Beschaffung
von MEADS angemeldet. Diese Bedenken des Bundesrechnungshofs wurden nicht ausgeräumt.
Wir sind der Auffassung, dass bei einem militärischen
Beschaffungsprojekt, das auf jeden Fall mehr als
4 Milliarden Euro kosten wird, die Entscheidung nicht
allein im Haushaltsausschuss getroffen werden sollte,
sondern hier im Deutschen Bundestag. Deswegen haben
wir diesen Antrag kurzfristig für heute hier eingebracht.
({4})
Nach unserer Auffassung ist das Projekt MEADS militärisch umstritten. So ist zum Beispiel ein großräumiger Schutz eines Territoriums, wie zum Beispiel mit den
„Patriot“-Raketen, mit MEADS nicht möglich. Herr
Kollege Nachtwei, Sie haben sich ja mit der Thematik
beschäftigt. Man muss sich fragen, weshalb ein bedrohtes Land, wie Israel mit „Patriot“-Raketen zufrieden ist
- so sehen wir das jedenfalls - und MEADS überhaupt
nicht will.
({5})
Die FDP kann auch nicht erkennen, dass es bei den
Auslandseinsätzen der Bundeswehr in den letzten zehn
Jahren einen besseren Schutz für unsere Soldaten gegeben hätte, wenn wir MEADS bereits gehabt hätten.
({6})
- Herr Kollege, hören Sie doch einfach zu. Ich weiß,
dass Ihre Argumente wackelig sind.
Wir waren immer dabei, wenn es um den Schutz unserer deutschen Soldaten im Ausland ging. Das ist oberstes Gebot; das ist ganz klar. Die haushaltpolitischen
Risiken dieser Beschaffungsmaßnahme sind aber so
groß, dass die FDP diesen Antrag heute gestellt hat, um
die Bundesregierung aufzufordern, keine vertraglichen
Bindungen für eine deutsche Beteiligung an MEADS
einzugehen.
({7})
Wer die Vorlagen des Bundesverteidigungsministers für
diese Beschaffungsmaßnahme und die Stellungnahme
des Rechnungshofes ernsthaft liest, der kann der Vorlage
aus Überzeugung nicht zustimmen.
Nachdem einige Abgeordnete der Grünen die gleichen Bedenken wie die FDP öffentlich vorgetragen haben, wundern wir uns sehr, dass nicht die Abgeordneten
der Grünen, die sich mit der Materie befasst haben, die
Entscheidung der Grünen-Fraktion herbeigeführt haben,
sondern dass der Parteirat der Grünen die Beschaffung
von MEADS empfohlen hat.
({8})
Ich habe erhebliche Zweifel daran, dass sich die Mitglieder des Parteirats der Grünen, wie zum Beispiel Herr
Volker Beck, der jetzt gerade erscheint, Herr Jürgen
Trittin, Frau Künast, Herr Fritz Kuhn, Frau Claudia
Roth, die ja bei jedem Thema dabei ist, und Frau Bärbel
Höhn aus Nordrhein-Westfalen, inhaltlich jemals mit
dem Raketenabwehrsystem MEADS beschäftigt haben.
Diese Personen empfehlen nun die Beschaffung eines
zweifelhaften Raketenabwehrsystems, das voraussichtlich 4 bis 7 Milliarden Euro kosten wird.
Wenn man sich die Medienberichte anschaut - das
will ich nicht verkennen -, scheint MEADS tatsächlich
eine sehr gefährliche Waffe zu sein; denn sowohl Herr
Bütikofer als auch Frau Claudia Roth erklärten - wörtliches Zitat -, dass die Koalition quasi gesprengt werden
würde, wenn man MEADS nicht anschaffte. Das scheint
ja eine sehr gefährliche Waffe zu sein. Was sind Sie eigentlich für eine Koalition, dass die Ablehnung eines
Waffensystems die Koalition bereits zu Fall bringen
würde? Wenn Sie schon so weit sind, dann kann ich nur
sagen: Hören Sie mit dieser Koalition lieber gleich auf.
({9})
Nun kommen die Grünen und präsentieren ein Alibi.
Sie sagen: Dafür wird PARS 3 eingestellt.
({10})
Entschuldigung, was für ein Witz ist das? Seit Monaten
wissen wir - heute haben wir das im Rechnungsprüfungsausschuss übrigens entschieden -, dass alle Fraktionen PARS 3 nicht mehr wollen, weil es ein altes System ist, das noch aus der Zeit des Kalten Krieges
stammt. Wir haben heute im Rechnungsprüfungsausschuss einmütig gesagt, dass wir das nicht mehr haben
wollen. Der Bericht des Rechnungshofs lag da aber
schon lange vor. Es ist also nichts, was man den Grünen
zugebilligt hat, sondern alle Parteien waren seit Monaten
der Auffassung, dass wir PARS 3 einstellen sollten.
Herr Kollege Koppelin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Beck.
Überhaupt nicht. Das waren nur Tatsachen.
- habe ich eine Nachfrage zu Ihrer Meinungsbildung.
Ich möchte gerne wissen, wann das Damaskus-Erlebnis
der FDP beim Thema MEADS stattfand, bei dem Sie
sich vom Saulus zum Paulus gewandelt haben.
Mir liegt ein Kurzprotokoll der 45. Sitzung des Verteidigungsausschusses vor.
({0})
Darin wird von den Berichterstattern umfangreich dargelegt, dass dieses System nun kommt und warum man es
braucht. Ich finde darin Ausführungen des Kollegen
Winfried Nachtwei, warum man MEADS ganz im Sinne
der Position, die wir inhaltlich vertreten haben, auch anders sehen kann. Ich finde jedoch keine Silbe von einem
Vertreter der FDP, der an diesem Vorhaben auch nur den
leisesten Zweifel anmeldet. Ich habe ebenso gehört, dass
dies in allen anderen Gesprächen sowie den Sitzungen
des Haushalts- und Verteidigungsausschusses ähnlich
gewesen sein soll.
Ich frage mich daher, ob dieser Meinungswandel
nicht ein billiges Wahlkampfmanöver ist oder ob Sie
vielleicht tatsächlich ein Erleuchtungserlebnis hatten,
von dem wir alle nichts wissen. In dem Falle sind wir
sehr gespannt, wann und wo das war und wie es stattgefunden hat.
Herr Kollege Beck, ich kann Ihnen eindeutig bestätigen - das wissen auch Ihre Kollegen und Kolleginnen
aus dem Haushaltsausschuss, mit denen ich darüber gesprochen habe -, dass die FDP schon seit längerer Zeit sogar auf unserer Klausurtagung hier in Berlin - eine
Diskussion über dieses System geführt hat und dass all
unsere Vorlagen, fraktionsintern erarbeitet, unsere ablehnende Haltung zu MEADS deutlich machten.
({0})
- Herr Beck, bitte haben Sie noch etwas Geduld. Ich
gebe allerdings zu, dass es ein Fehler von uns war, dass
wir unsere Ablehnung nicht öffentlich vorgetragen haben. Aber wir haben einfach nicht damit gerechnet, dass
die Grünen umfallen.
({1})
Wir haben gedacht, dass dieses Thema nicht akut werden
würde, weil sich die Grünen vor der Wahl in NRW
durchsetzen würden. Sie jedoch sind einfach eingeknickt.
Sie sind doch - ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage, Herr Kollege Beck - Mitglied des Parteirates.
Sagen Sie doch einmal, wie die Entscheidung bei Ihnen
im Parteirat gewesen ist; das können Sie in einer Kurzintervention machen. Frau Claudia Roth, die sich hier
vorne immer mit dem entsprechenden Gesicht hinstellt
und alles bezweifelt, ist also plötzlich für eine solche Bewaffnung. Das kann ich mir weder bei ihr noch bei Frau
Höhn vorstellen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Der Parteivorsitzende der Grünen, Herr Bütikofer, hat erklärt, die
Grünen hätten bei der Zustimmung zu MEADS starke
Bauchschmerzen.
({2})
Das habe ich eben bei Herrn Beck nicht erkannt. Aber
Herrn Bütikofer kann geholfen werden. Die Fraktion
von Bündnis 90/Die Grünen braucht heute nur dem Antrag der FDP zustimmen. Dass die CDU/CSU der Koalition über diese Hürde helfen will, hat mit politischen Aspekten zu tun, die sie selber verantworten muss. Die
FDP wird MEADS auf jeden Fall ablehnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die FDP sieht dringenden Bedarf, dass wir
heute im Plenum darüber abstimmen, ob sich Deutschland an der Entwicklung des bodengebundenen Luftabwehrsystems MEADS beteiligen soll.
Dass es Ihnen in erster Linie nicht um MEADS und
die angeblich unübersehbaren finanziellen Risiken dieses Vorhabens geht, ist mehr als offensichtlich. Sie wollen populistisch einen Keil zwischen Rot und Grün treiben und sich als Wahrer parlamentarischer Transparenz
inszenieren. Das können Sie gerne versuchen, aber das
wird Ihnen nicht gelingen.
({0})
Richtig ist, dass sich unser Koalitionspartner nicht
immer leicht getan hat, diesem Rüstungsprojekt zuzustimmen. Auch uns hat die Debatte der Grünen in den
vergangenen Wochen nicht immer erfreut. Aber letztlich
haben wir uns auf eine gemeinsame Position verständigt.
Im Gegensatz zu den jüngsten Verrenkungen der FDP in
dieser Frage war der Meinungsbildungsprozess in den
Koalitionsfraktionen öffentlich und nachvollziehbar. Zu
welchem Zeitpunkt hingegen die FDP beschlossen hat,
zum Thema MEADS auf Konfrontationskurs zu gehen,
bleibt mir schleierhaft.
({1})
In den Beratungen des Verteidigungsausschusses war
jedenfalls lange Zeit nicht erkennbar, dass die FDP dieses neue Luftabwehrsystem für überflüssig und unfinanzierbar hält.
({2})
Herr Kollege Bartels, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich kann Ihnen den genauen Zeitpunkt
sagen, wann sich die FDP zum ersten Mal kritisch zu
MEADS geäußert hat, nämlich als der Bericht des Bundesrechnungshofes vorlag, in dem MEADS abgelehnt
wurde.
In dem Bericht des Bundesrechnungshofes wird
MEADS nicht abgelehnt, sondern er enthält Feststellungen, zu denen wiederum die Bundesregierung - wie bei
jedem anderen Rüstungsprojekt auch - Stellung nimmt.
Im Übrigen sind wir in der Berichterstattergruppe - Herr
Nolting, Sie gehörten ihr schließlich an - zu dem einhelligen Ergebnis gekommen, dass wir bei diesem in der Tat
nicht billigen Rüstungsvorhaben den Bundesrechnungshof an unserer Seite haben wollen, damit er eine kontinuierliche Kostenkontrolle gewährleistet, wie das inzwischen auch bei anderen Rüstungsprojekten Gegenstand
unserer Diskussionen gewesen ist, beispielsweise beim
A400M und auch beim Eurofighter.
({0})
- Gut, in diesem Fall bestand die Zwischenfrage aus
Antworten. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie aufgeklärt
haben, wann auf die neueste Linie eingeschwenkt wurde.
Sie sind in dieser Beziehung ja traditionell sehr beweglich und flexibel.
Tatsache ist - ob es der FDP passt oder nicht -: Vorgestern hat der Haushaltsausschuss mit deutlicher
Mehrheit und gegen die Stimmen der FDP einen zustimmenden Beschluss zur deutschen Beteiligung an der Entwicklung des Rüstungsvorhabens MEADS gefasst. Der
Verteidigungsausschuss hat vorgestern ebenfalls grünes
Licht gegeben. Damit sind die Entscheidungen dort gefallen, wo sie nach den Regeln dieses Hauses hingehören.
Wenn es der FDP wichtig ist, können wir natürlich
gern heute hier noch einmal die Entscheidungen der
Fachausschüsse bestätigen, auch wenn diese Übung eigentlich überflüssig ist. Ich meine, wir sollten nicht dazu
übergehen, künftig über jedes Einzelprojekt des Verteidigungshaushaltes im Plenum abzustimmen. Wir beschließen hier im Plenum über das Budget, über den Gesamthaushalt, auch über den Einzelplan 14, und wir
beschließen in den Fachausschüssen über konkrete Rüstungsverträge. Ein kleines bisschen Arbeit muss dann
auch noch die Regierung machen. So soll es bleiben.
Gegen das Ansinnen der FDP spricht im Übrigen
auch, dass gerade bei diesem Vorhaben, um das es heute
geht, die bisherige Mitwirkung des Parlaments und seiner Gremien geradezu vorbildlich war. Kein Argument
dafür oder dagegen, das nicht zur Sprache kam - von Ihnen allerdings nicht.
({1})
Vielleicht nutzen Sie deshalb jetzt die Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit zu sagen, warum Sie plötzlich umgefallen sind.
Regelmäßig waren der Haushaltsausschuss und der
Verteidigungsausschuss mit MEADS befasst. 1996 stand
der Einstieg in die so genannte Definitionsphase auf der
Tagesordnung. 2001 setzte der Haushaltsausschuss weitere Studien zur Reduzierung des technischen und finanziellen Risikos durch, eine sehr souveräne parlamentariDr. Hans-Peter Bartels
sche Entscheidung. Vor einem möglichen Einstieg in die
Entwicklung, so der damalige Beschluss, muss in weiteren Untersuchungen dargelegt werden, dass MEADS
technisch funktionieren kann und finanziell machbar ist.
Ausdrücklich behielt sich der Ausschuss damals vor,
nach Abschluss der Risikominimierungsphase erneut
über die Fortsetzung des Programms zu entscheiden.
({2})
- Genau, auch das ist Gegenstand dieser Untersuchungen gewesen.
Der Verteidigungsausschuss hat dann das positive Ergebnis des so genannten Risk Reduction Efforts nicht
einfach zur Kenntnis genommen, sondern im November
2003 eigens eine Berichterstattergruppe eingesetzt, die
sich knapp ein Jahr lang intensiv mit allen Aspekten von
MEADS befasst hat. Luftwaffe, Industrie, Ministerium,
Kritiker und der Rechnungshof kamen zu Wort. Im Abschlussbericht dieses parlamentarischen Gremiums wird
ausdrücklich der Einstieg in die Entwicklung des Systems empfohlen. Der Verteidigungsausschuss ist dieser
Empfehlung gefolgt.
Die FDP sollte akzeptieren, dass sie in den Ausschussberatungen für ihre allerneuste Position keine
Mehrheit gefunden hat. Aber darum scheint es hier gar
nicht zu gehen. Das zeigt schon der arg knappe Wortlaut
des FDP-Antrags. Sie reduzieren ein komplexes Thema
auf zehn dürre Zeilen. Deutschland soll sich nicht beteiligen, weil das Vorhaben teuer ist. Mehr an Begründung
gibt es nicht. Kein Wort zur militärischen Notwendigkeit, kein Wort zur rüstungspolitischen Dimension, kein
Wort zum transatlantischen Aspekt von MEADS. Das ist
sehr dünn.
Immerhin, auf den Internetseiten der FDP erklärt uns
der Kollege Koppelin, weshalb wir MEADS nicht brauchen. Schon jetzt verfüge Deutschland, so ist dort nachzulesen, mit dem Flugabwehrsystem „Patriot“ über die
Fähigkeit, ballistische Raketen wirksam zu bekämpfen.
Hätten die Planer im Ministerium das doch bloß eher gewusst! Weil es offenbar doch mehr Aufklärungsbedarf
gibt als angenommen, will ich gern ein paar Worte dazu
sagen, warum wir MEADS brauchen und weshalb die
bisherigen „Patriot“-Fähigkeiten eben nicht ausreichen.
Ausgangspunkt für die Entscheidung, ein neues System zu entwickeln und später zu beschaffen, war die
Frage, welche Ausrüstung die deutschen FlaRak-Geschwader für ihre künftigen Aufgaben im Rahmen von
NATO, EU und UNO und für die Landesverteidigung
brauchen. Die Bundesregierung setzt mit der Unterstützung einer breiten Mehrheit in diesem Hause auf das
trinationale Entwicklungsprojekt MEADS, an dem
neben Deutschland auch die USA und Italien beteiligt
sind.
MEADS wird in der Lage sein, nicht nur ballistische
Raketen wirksam zu bekämpfen, sondern Luftbedrohungen jeder Art, von Drohnen und Marschflugkörpern über
Hubschrauber und Flugzeuge bis hin zu größeren Kurzstreckenraketen. Das ist neu. Im Unterschied zum alten
„Patriot“-System, das Radar und Startgeräte stets in
Hauptkampfrichtung aufstellen muss, kann MEADS
- auch das ist neu und ein wesentlicher technischer Fortschritt - jederzeit Ziele aus jeder Richtung erfassen und
zerstören. Auch sehr schnell sich nähernde Raketen sollen direkt getroffen werden, um durch die enorme
Zusammenprallenergie selbst Gefechtsköpfe mit A-, Boder C-Waffen sicher auszuschalten - anders als
„Patriot“. Darüber hinaus wird MEADS mit dem neuen
Bundeswehr-Airbus in jedes Einsatzgebiet verlegbar
sein - anders als „Patriot“.
Diese sehr anspruchsvolle Technik stellt das Maximum dessen dar, was ab dem Jahr 2014 deutschen und
verbündeten Truppen in Einsätze mitgegeben werden
kann.
({3})
Unsere Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass wir
ihnen die modernste Technik mitgeben, wenn sie gefährliche Aufgaben in internationalen Einsätzen übernehmen.
({4})
Tatsache ist, dass für keinen künftigen Einsatz der
Bundeswehr Luftbedrohungen durch Flugzeuge oder
Raketen ausgeschlossen werden können, selbst extreme
Bedrohungen nicht. Der politische Kampf um die Nichtverbreitung und Abrüstung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln ist längst noch nicht gewonnen. Die Zahl der Staaten, auch in der Dritten Welt, die
über beides verfügen oder danach streben, ist in den letzten Jahren nicht wirklich kleiner geworden. Deshalb
wird MEADS als Sicherheitsvorsorge für unsere eigenen
Soldaten, aber auch die unserer Verbündeten gebraucht.
Vielleicht würde MEADS auch ohne deutsche und
italienische Beteiligung von den Amerikanern entwickelt und beschafft. Aber über die erweiterten Fähigkeiten zur Luftabwehr gegebenenfalls als Europäer auch
eigenständig verfügen zu können, das entspricht heute
den Erfahrungen und dem Anspruch der gemeinsamen
europäischen Sicherheitspolitik. Wer im Zweifel nicht
selbst handlungsfähig ist, wird den allein Handlungsfähigen mit guten Ratschlägen wenig beeindrucken. Deshalb ist MEADS ein substanzieller deutscher Beitrag zu
größerer europäischer Bewegungsfreiheit.
Es ist darüber hinaus das derzeit wichtigste und beinahe einzige deutsch-amerikanische Rüstungsvorhaben.
Gerade deshalb wundert mich, dass die FDP nun den
Ausstieg fordert und in Kauf nimmt, unsere amerikanischen Partner vor den Kopf zu stoßen.
Vor knapp zwei Monaten ließ uns Ihr Fraktionsvorsitzender, Wolfgang Gerhardt, in einem Interview mit der
„FAZ“-Sonntagszeitung noch wissen, die FDP müsse
außenpolitisch die europäisch und „transatlantisch verlässlichste Partei“ sein.
({5})
Man beachte den Superlativ! Das scheint nun nicht mehr
zu gelten.
Und wie verträgt sich die plötzlich so entschiedene
Ablehnung der Beteiligung Deutschlands am transatlantischen MEADS-Projekt mit den „Zehn liberalen Leitsätzen zum transatlantischen Verhältnis“, beschlossen
auf dem letzten FDP-Bundesparteitag im Juni des vergangenen Jahres? Dort ist in Leitsatz 5 zu lesen - ich
zitiere -:
Transatlantische Rüstungskooperation ist ein Garant für die Zukunft des Bündnisses.
Sehr richtig. Aber welche Projekte könnten gemeint
sein, wenn Sie bei MEADS gar nicht mehr dabei sein
wollen?
Was den heute abzustimmenden Antrag angeht, sei
Ihnen klar gesagt: Wir stehen zu unserem Votum in den
Ausschüssen und zu unseren Vereinbarungen mit den
Verbündeten. Sie werden für Ihren Antrag in diesem
Hause keine Mehrheit finden.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann zu Recht fragen, warum
wir heute noch einmal das Thema MEADS aufgreifen.
Die FDP hat ihren Antrag gestellt, obwohl in den Fachausschüssen wie üblich die Abstimmungen erfolgt sind,
und zwar nach längeren Debatten.
Der eigentliche Grund ist natürlich nachvollziehbar:
Die FDP will den Finger in die Wunde der Grünen legen,
({0})
weil die Grünen in ihrer generellen Ausrichtung, was
Verteidigungspolitik betrifft, jetzt vollkommen anders
handeln, als sie wahrscheinlich handeln würden, wenn
sie in der Opposition sitzen würden.
Insofern kann ich das nachvollziehen und finde es
auch gerechtfertigt. Denn Sie haben sich dementsprechend mit der Entscheidung schwer getan und mit ein
paar Kompensationen versucht, das Ihrer Basis wenigstens ansatzweise zu vermitteln. Eine von diesen Kompensationen wurde schon vom Kollegen Koppelin angesprochen, nämlich das Aufgeben von Pars-3-LongRange, also der Bewaffnung für den Tiger. Man kann zu
Recht darüber spekulieren, ob das wirklich eine Kompensation ist oder nicht. Eine weitere ist, dass Sie noch
10 Millionen Euro für die Krisenprävention ausgehandelt haben.
({1})
Es sind also keine Gelder eingespart worden und die Reduzierung des Minenbestandes wäre ohnehin erfolgt.
Die Frage ist, ob das, was Sie als Kompensation auszuhandeln versucht haben, sinnvoll war. Im Kern geht es
wirklich nur darum, dass Sie Ihrer Basis nicht vermitteln
konnten, dass Sie gegenüber dem, was Sie früher gesagt
haben, letztendlich einen Schwenk gemacht haben. Das
ist der Kern der Debatte, die wir heute führen.
Auch die FDP ist umgeschwenkt. Das wissen wir
schon. Es hat eine interfraktionelle Arbeitsgruppe gegeben, die sich einmütig für dieses Projekt ausgesprochen
hat.
({2})
Letztendlich ist die Frage, wieso wir heute, quasi im
Nachklapp noch einmal darüber sprechen müssen. Die
Schlacht in der Öffentlichkeit war wirklich beachtlich.
Es gab seitenlange Gutachten.
({3})
- Ich kenne den Bundeshaushalt. Dazu sage ich selbstverständlich noch etwas. Es gibt auch einen Bericht des
Bundesrechnungshofes, den ich ebenso wie die Stellungnahmen der Bundesregierung dazu gelesen habe. Natürlich kann man abwägen. Es ist auch keine Frage, dass es
Probleme im Haushalt gibt. Letztendlich bleibt aber immer die Abwägung, ob ein solches System notwendig ist
oder nicht.
Der Kollege Bartels hat ausführlich ausgeführt - ich
glaube, ich brauche das nicht zu wiederholen -, wo, im
Vergleich zum bisherigen System Patriot, Quantensprünge zu sehen sind. Zu einer Gesamtablösung wird es
erst ab 2025 kommen. Die Einführung findet ab 2012
statt. Es handelt sich also um einen langen Zeitraum. Irgendwann muss man aber anfangen. Die Entwicklungszeiträume sind nun einmal so, wie sie sind.
Der Zeitablauf hat auch mir - das sage ich als Haushälterin - nicht gefallen. Wenn mir seit September ein
bilateral zwischen den Partnernationen USA und Italien
gezeichneter Vertrag vorliegt, ich die Vorlagen dem
Haushaltsausschuss aber erst 14 Tage vor der Beratung
- in der knappest möglichen Frist - zuleite, dann finde
ich das angesichts des Beschaffungsvolumens nicht in
Ordnung. Diese Kritik an dem Ministerium möchte ich
doch anbringen. Ich wünsche mir - das haben wir schon
mehrfach angesprochen -, dass die Vorlagen, die man
durcharbeiten soll und muss, zeitnah vorgelegt werden.
({4})
Die Qualität des neuen Systems ist - das wurde
schon gesagt - die 360-Grad-Rundumeinsatzfähigkeit.
Die Einsatzfähigkeit liegt damit nicht mehr nur in der
Hauptzielrichtung. Für meine Begriffe ist das auch deshalb sehr wichtig, weil sich die Bedrohungslage geändert hat. Es gibt keine Hauptzielrichtung mehr, wo man
das bisherige System hundertprozentig einsetzen konnte.
Das gilt insbesondere für die Auslandseinsätze, in die
immer mehr unserer Soldaten gehen. Nebenbei bemerkt:
Ich könnte mir vorstellen, dass das etwas anders ausschauen würde, wenn die Grünen in der Opposition wären. Dass diese Auslandseinsätze eine Belastung der
Bundeswehr darstellen, sei nur nebenbei bemerkt.
Der zweite wesentliche Punkt ist, dass das System
luftverladbar ist. Das ist ein wesentlicher Punkt, um den
Schutz der Soldaten im Auslandseinsatz gewährleisten
zu können.
Ergänzend erwähne ich die transatlantischen Bündnisse und die Frage des Technologietransfers. Der Technologietransfer bedeutet auch für unsere Seite einen Profit. Wir können unsere Technologiefähigkeit dadurch
nicht nur behalten, sondern auch ausbauen.
Stichwort „Radartechnologie“. In Deutschland sind
wir auf diesem Gebiet sicherlich führend und sollten das
auch bleiben. Letztendlich geht es auch darum - das
sollte man nicht verschweigen -, Arbeitsplätze in diesem
Bereich in Deutschland zu erhalten. In diesem Zusammenhang sei es mir erlaubt, zu erwähnen, dass ich von
Gewerkschaftsvertretern, schwerpunktmäßig von Verdi,
Emails erhalten habe, in denen sie sich über dieses Projekt beschweren. Das halte ich für etwas seltsam.
({5})
Ich hoffe, dass die Betriebsratsmitglieder der entsprechenden Firma auch solche Emails bekommen, damit sie
wissen, wie ihre Kollegen in den genannten Bereichen
für sie werben oder eben nicht für sie werben.
Über die Zahlen kann man lange streiten. Für meine
Begriffe wird mit polemischen Zahlen um sich geworfen: 10 Millionen Euro pro Arbeitsplatz - bezogen auf
welchen Zeitraum, pro Jahr, pro Monat, pro hundert
Jahre? Keine Ahnung. Das ist auf jeden Fall nicht sehr
solide berechnet. Ich meine, dass man in diesem Bereich
solide argumentieren sollte.
Natürlich stimme ich mit dem Kollegen Jürgen
Koppelin überein, dass die Gesamtlage des Haushaltes
kritisch ist. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.
Das hat die jetzige Bundesregierung zu verantworten.
Dass der Verteidigungsetat, belastet durch eine globale
Minderausgabe, eine fallende Tendenz hat, ist keine
Frage. Für uns wird es eine Verpflichtung sein, auf die
Einhaltung der Kosten zu schauen. Deshalb bin ich sehr
dafür, das Kostenmanagement genau zu kontrollieren.
Parteiübergreifend haben wir mit der Mehrheit des Hauses im Haushaltsausschuss einen Antrag verabschiedet,
der auf eine Kontrolle des Kostenmanagements abzielt.
Im Haushaltsauschuss ist mit Vorgaben gearbeitet worden. Das halte ich für richtig.
Wenn es in den nächsten Jahren zu einer Beschaffung
kommt, werden wir mit der Finanzierung Probleme haben, weil zeitgleich andere Großvorhaben anstehen. Das
brauchen wir nicht zu verschweigen. Darüber werden
wir uns unterhalten, wenn wir eine neue Bundesregierung haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundeswehr hat von der Politik den Auftrag erhalten,
die internationale Krisenbewältigung im Rahmen des
Systems der Vereinten Nationen heute und auch in Zukunft zu unterstützen. Wir haben heute Morgen der Bundeswehr einen weiteren konkreten Auftrag gegeben,
nämlich die Unterstützung der großen UN-Mission im
südlichen Sudan. Es ist selbstverständlich, dass die von
uns entsandten Soldatinnen und Soldaten für die Erfüllung dieses Auftrags angemessen ausgestattet werden.
Das schließt den bestmöglichen Schutz dieser Soldaten
ein. Dazu gehört in kritischeren Einsätzen sicherlich
auch die Luftverteidigung.
Das taktische Luftverteidigungssystem MEADS soll
ab 2015 das bisherige Luftverteidigungssystem „Patriot“
ergänzen und schließlich ersetzen. Es soll Schutz gegen
ein bestimmtes Spektrum von Luftbedrohung bieten.
In der Rüstungsbeschaffung- und -entwicklung ist
in der Vergangenheit das so genannte Systemnachfolgedenken vorherrschend gewesen. Es reicht heutzutage
aber ganz und gar nicht mehr aus, nur etwas Neues zu
entwickeln, wenn ein vorhandenes System immer älter
wird. Man muss vielmehr vier Schlüsselfragen beantworten.
Erstens. Ist ein solches Vorhaben angesichts der wahrscheinlicheren Bedrohungen und vorhandenen Fähigkeiten militärisch notwendig?
Herr Kollege Nachwei, darf ich Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel zulassen?
Ja, bitte schön.
Bitte schön, Herr Niebel.
Vielen Dank, Herr Kollege Nachtwei. - Sie haben gerade die Einsätze der Bundeswehr in verschiedenen Regionen der Welt angesprochen und darauf hingewiesen,
dass das Luftverteidigungssystem MEADS die bisherige
Luftverteidigung ab 2015 ablösen soll. Stimmen Sie mir
zu, dass bei keinem einzigen Auslandseinsatz der Bundeswehr derzeit „Patriot“-Raketensysteme im Einsatz
sind?
({0})
Ich habe gerade in meiner ersten Schlüsselfrage die
wahrscheinlicheren Bedrohungen angesprochen. Bei den
bisherigen Stabilisierungseinsätzen ist es in der Tat so,
dass solche Systeme nie im Einsatz waren. Wir brauchten sie auch nicht. Als Antwort auf diese Schlüsselfrage
sage ich, dass wir der Auffassung sind, dass wir auch bei
künftigen Stabilisierungseinsätzen ein solches System
gegen eine solche Art von Bedrohungen am wenigsten
brauchen. Wir brauchen eher Systeme gegen die Bedrohung zum Beispiel durch Mörser.
({0})
Zweitens. Ist ein solches Vorhaben angesichts der
technischen und finanziellen Risiken beherrschbar?
Drittens. Ist es vorrangig angesichts anderer schmerzhafter Finanzierungslücken im Investitions- und Personalhaushalt der Bundeswehr?
Viertens. Ist es berechtigt im Hinblick auf eine umfassende und vorbeugende Sicherheitspolitik, die auf ausgewogene politisch-diplomatische, zivile, polizeiliche
und militärische Fähigkeiten angewiesen ist?
Hierzu äußerten wir seit geraumer Zeit - Sie haben es
alle gehört - deutliche Bedenken. In meiner Antwort auf
die Zwischenfrage habe ich zu erkennen gegeben, dass
sie nur in Teilbereichen, aber nicht in allen wesentlichen
Punkten ausgeräumt sind.
({1})
Diese Bedenken stießen auf viel Zuspruch. Bemerkenswerterweise gab es entsprechende Stimmen nicht
nur aus dem Bereich der unabhängigen Forschung, sondern auch von etlichen sehr einsatzerfahrenen hohen Offizieren. Gleichzeitig mussten wir sehr nüchtern feststellen, dass wir uns mit unseren Argumenten nicht
durchsetzen konnten.
Wir konnten uns nicht beim Verteidigungsminister
durchsetzen, der sich in dieser Frage gegenüber der
NATO in einem Bereich schon etwas deutlicher festgelegt hatte, in dem die Bundesrepublik traditionell besondere Beiträge im Bündnis leistet. Diese Tatsache kann
man nicht beiseite wischen.
Wir konnten uns mit unseren Argumenten auch nicht
bei unserem größeren Koalitionspartner durchsetzen.
Diese Vorgänge passieren innerhalb von Koalitionen immer wieder. Weil man aber in einer Koalition gemeinsam
agieren will und muss, haben wir in dieser Situation trotz
unserer Bedenken zugestimmt.
Es bleibt aber Folgendes:
Erstens. Die haushalterische Kontrolle wird in den
nächsten Jahren streng fortgesetzt.
Zweitens. Diese Entscheidung ist kein Präjudiz für
eine Beschaffung.
Drittens. Es war eine nützliche Nebenwirkung - das
ist auch von Friedensforschern festgestellt worden -,
dass wir seit langem wieder einmal eine umfassendere
öffentliche Debatte über ein Rüstungsprojekt geführt haben, angesichts der wir merken: Wir brauchen wirklich
eine umfassende sicherheitspolitische Debatte, weil viel
zu wenig Klarheit und Einigkeit darüber besteht, wofür
die Bundeswehr eingesetzt werden soll und was sie leisten kann und was nicht.
({2})
Die Grünen haben gekämpft. Wir waren dabei nicht
erfolgreich. Die FDP hatte im Verteidigungsausschuss
und in der Öffentlichkeit viele Möglichkeiten zur Kritik.
({3})
Ich habe es selbst erlebt. Sie schwieg nicht nur, sondern
signalisierte - zumindest die Verteidigungspolitiker - bis
vor kurzem Zustimmung.
({4})
Wenn Sie sich jetzt auf den letzten Metern groß als Rüstungskritiker aufblasen, dann ist die Absicht durchsichtig.
({5})
Offenkundig geht es Ihnen nicht um die Sache, sondern
einzig und allein um parteipolitischen Profit. Wir wissen: Das ist leider oft üblich. Aber bei Ihnen mischt sich
in diese Parteitaktik ein Gipfel an Heuchelei und Verlogenheit.
({6})
Ich denke, auch bei der Union wächst die Erleichterung darüber, dass der sicherheitspolitische Sprecher einer solchen Fraktion nicht zum Wehrbeauftragten gewählt wurde.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als PDS begrüßen die Initiative der FDP, die
Debatte um das Luftabwehrsystem MEADS hier in das
Plenum des Bundestages und damit in die Öffentlichkeit
zu bringen.
({0})
Ebenso wie die FDP lehnen wir die deutsche Beteiligung
an einem völlig überflüssigen Rüstungsprojekt ab. Der
Kalte Krieg ist schon seit 15 Jahren beendet. Bundeswehr, US-Armee und etliche in diesem Haus scheinen
das aber nicht wahrhaben zu wollen. Während bei sozialpolitischen Diskussionen ständig erklärt wird, dass die
Staatskasse leer sei, soll hier ein Projekt beschlossen
werden, dessen finanzielle Auswirkungen noch völlig
unübersehbar sind. Die Bundesrepublik Deutschland
würde sich über viele Jahre und weit über die Legislaturperiode hinaus binden.
Hier bin ich bei einem Punkt, den ich der SPD besonders übel nehme. In der Diskussion im Haushaltsausschuss insistierte der Staatssekretär von der SPD, dass
hier nur etwas fortgesetzt werde, was schon die CDU/
CSU-FDP-Koalition begonnen habe. Haben Sie, meine
Damen und Herren von Rot-Grün, denn die Regierung
Kohl abgelöst, um deren Politik fortzusetzen?
({1})
Den Wählern haben Sie etwas anderes gesagt.
Gestern haben wir über neue Maßnahmen für die Verkehrsinfrastruktur beraten. Ich habe Ihnen vorgerechnet,
dass Minister Stolpe mit 2 Milliarden Euro 60 000 Arbeitsplätze sichern will. Das sind pro Arbeitsplatz rund
30 000 Euro. Das ist ein gutes Verhältnis. Bei dem neuen
Luftabwehrsystem MEADS sollen mit 2,85 Milliarden
Euro lediglich 450 Arbeitsplätze gesichert werden. Das
heißt, für einen Arbeitsplatz werden rund 7 Millionen
Euro gebraucht. Auf Ihre Frage von vorhin, Frau Aigner,
möchte ich antworten: Das bezieht sich natürlich auf die
Gesamtdauer der Maßnahme.
({2})
Das ist, wie ich finde, ein krasses Missverhältnis.
Außerdem sollen - das wissen Sie alle - die Verträge
nach amerikanischem Recht geschlossen werden. Die
US-amerikanischen Partner wollen sich nicht in die technologischen Karten schauen lassen. Auch technologiepolitisch wird Deutschland nicht davon profitieren.
Sollte es uns nicht zu denken geben, dass Frankreich
schon vor einiger Zeit aus diesem Projekt ausgestiegen
ist?
Abschließend noch ein Wort zu den Grünen: Sie haben im Ausschuss erklärt - Herr Nachtwei hat das hier
zwar mit anderen Worten, aber von der Sache her genauso dargestellt -, dass Sie dem Luftabwehrsystem
MEADS nicht aus fachpolitischen, sondern aus koalitionspolitischen Gründen zustimmen werden. Was ist
von Ihren friedenspolitischen Zielen, die Sie so gerne
vor sich hertragen, übrig geblieben?
({3})
Hätten Sie Ihre Seele zumindest an dieser Stelle nicht ein
bisschen teurer verkaufen sollen?
Wir als PDS im Bundestag stimmen dem Antrag der
FDP zu und hoffen, dass es noch gelingen wird, dieses
teure und verantwortungslose Projekt zu stoppen.
Leider müssen die Schülerinnen und Schüler auf der
Tribüne jetzt gehen. Ich sage ihnen aber noch: Derjenige, der hier immer sehr heftig dazwischenruft und ausweislich des Protokolls von heute seine Worte in einem
Zwischenruf mit „Scheiße“ garniert hat, ist ein Lehrer.
Ich hoffe, Sie haben andere Lehrer!
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Herrmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Bodengebundene Luftverteidigung“ hatten im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen die Gelegenheit, sich mit
den Szenarien der künftigen bodengebundenen Luftverteidigung zu beschäftigen. Diese interfraktionelle Arbeitsgruppe wurde auf Beschluss des Verteidigungsausschusses eingerichtet, um dem Parlament eine möglichst
sachgerechte Entscheidungsfindung zu erleichtern.
Unbeeinflusst von allen äußeren Einflüssen haben wir
uns mit dem gesamten Spektrum der Szenarien ausgiebig beschäftigt. Das Ergebnis haben wir dokumentiert
und anhand eines Abschlussberichts allen Kollegen zur
Verfügung gestellt. Das Ergebnis war eine eindeutige
Empfehlung für das System MEADS, die von Vertretern
aller Parteien angenommen und unterstützt wurde. Diesen Umstand betone ich an dieser Stelle besonders, da er
nicht die Regel ist.
Daher ist es für mich heute unverständlich, dass die
ungerechtfertigte Kritik am Arbeitsergebnis nicht umgehend nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts
geübt wurde. Die Kritik kam erst Monate später auf, als
die entscheidende Abstimmungsphase näher rückte.
Interessierte Kreise haben ohne die erforderliche Differenzierung und ohne Rücksicht auf jegliche wissenschaftliche Methodik eine Diskussion entfacht, die offensichtlich das Projekt MEADS nur zum Vorwand
nahm, um ganz andere politische Ziele zu verfolgen.
Als Vertreter der Union waren wir immer darum bemüht, eine sachliche Diskussion zu führen und in dieser
außen- und sicherheitspolitisch besonders relevanten
Frage alle parteitaktischen Überlegungen hinter den notwendigen Konsens über die Gestaltung der erforderlichen Außen- und Sicherheitspolitik zurückzustellen.
Umso mehr verwundert es mich, dass wir heute erneut
eine längst geführte Diskussion wiederholen. Der dieser
Studie zugrunde liegende Sachverhalt - die Notwendigkeit einer integrierten bodengebundenen Luftverteidigung im Rahmen eines europäischen und transatlantischen Gesamtkonzepts - ist weiterhin unverändert.
Herr Kollege Herrmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Bitte.
Bitte schön, Herr Koppelin.
Herr Kollege, sind Sie wirklich der Auffassung, dass
man einem Rüstungsprojekt zustimmen kann, zu dem
der Bundesfinanzminister und der Bundesverteidigungsminister bis heute nicht angeben können, welche Kosten
bei seiner Umsetzung anfallen werden? Wenn Sie sich
damit beschäftigt haben - davon gehe ich aus -, dann
wissen Sie sicherlich, dass das Finanzministerium bzw.
das Verteidigungsministerium die gesamten zu erwartenden Kosten einschließlich der Entwicklungskosten auf
4 Milliarden bzw. 3,8 Milliarden Euro beziffern. Andere
Experten sprechen von 10 Milliarden bis 12 Milliarden Euro. Lassen Sie uns von 7 Milliarden Euro ausgehen; denn derzeit weiß es niemand genau. Können Sie
davon ausgehen, dass das Vorhaben solide ist?
Ich kann Ihre Zahlen nicht bestätigen. Sie wissen,
dass die zu erwartenden Kosten heute noch nicht abschließend berechnet werden können. Die Angaben dazu
differieren in der Tat erheblich. Entscheidend ist - die
Kollegin Aigner hat es eben bereits angesprochen -, dass
Controllingmechanismen eingebaut werden sollen, damit die vorgesehenen Ausgaben nicht überschritten werden.
({0})
- Das wird sich auch daran festmachen, wie viele Feuereinheiten wir zum Beispiel anschaffen. Zurzeit sind
- darauf werde ich gleich näher eingehen - zwölf Feuereinheiten geplant. Wenn wir von der alten Konstruktion
mit 24 Feuereinheiten wie bei „Patriot“ ausgehen, dann
kämen wir mit diesen Mitteln sicherlich nicht aus.
Auch unabhängige Wissenschaftler wie Professor
Karl Kaiser haben die Bedeutung des Systems MEADS
für die transatlantischen Beziehungen und die Rolle der
Bundesrepublik Deutschland in der NATO in vielfältigen Stellungnahmen befürwortet und herausgestellt. Der
Schutz unserer Bevölkerung und unserer Soldaten bei
Auslandseinsätzen wird mit dem System MEADS erheblich gesteigert.
Ich erspare mir an dieser Stelle die ausführliche Erläuterung der systemimmanenten Vorteile wie den
360-Grad-Schutz, die Luftverlastbarkeit oder die Plugand-Fight-Fähigkeit, da dies ausreichend diskutiert und
auch eben vom Kollegen Bartels ausführlich erläutert
wurde.
Sicherheit ist im privaten wie im staatlichen Bereich
nicht umsonst zu haben. Daher unterstützt die CDU/
CSU-Fraktion die notwendigen Ausgaben zum Schutz
der Bevölkerung und unserer Soldaten im Einsatz. Nicht
zuletzt ist eine strategisch und bündnisorientiert angelegte Sicherheitspolitik eine notwendige Voraussetzung
für erfolgreiche humanitäre Einsätze.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt daher konsequent
die notwendigen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen für die konkreten Hilfsmaßnahmen in den
Brennpunkten der Welt und ist auch bereit, die Konsequenzen, die sich aus dem Projekt ergeben, mitzutragen.
Ich komme auf die Zahlen zurück, die ich schon im
Zwiegespräch mit Herrn Koppelin genannt habe. Das
Gesamtvolumen der Entwicklung beträgt circa 3,4 Milliarden Dollar. Der deutsche Industrieanteil hieran entspricht nach heutigem Stand 850 Millionen Euro. Hinzu
käme der deutsche Anteil an der Produktion. Für die von
Deutschland anvisierten zwölf Feuereinheiten entspräche dies nach heutigem Stand und den Berechnungen
des Bundesverteidigungsministeriums einem Betrag in
Höhe von etwas über 2,8 Milliarden Euro.
Neben der sicherheits- und außenpolitischen Dimension wird das Projekt MEADS allein in der Entwicklungsphase mehrere Hundert Hightecharbeitsplätze in
Deutschland mittel- und langfristig sichern. Kernkompetenzen in den Bereichen „Systemtechnik“ und „Radartechnologie“ bleiben in Deutschland erhalten. In der anschließenden Produktionsphase werden noch mehr
Arbeitsplätze geschaffen und auch langfristig gesichert.
Mit MEADS wird eine neue Qualität der transatlantischen Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Basis
erreicht. Das Thema Technologietransfer wurde - Frau
Aigner hat das schon angesprochen - durch das BMVg
erfolgreich gestaltet. Dies hilft der deutschen Industrie,
den technologischen Anschluss an die USA zu halten
und die zukünftige Generation von Luftverteidigungssystemen mitzugestalten. Eine weitere Verzögerung der
MEADS-Entscheidung oder gar ein Verzicht auf dieses
System hätte fatale Signalwirkung für die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen und das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika insgesamt.
Der Schutz unserer Bevölkerung und der Soldaten darf
nicht - wie in den zurückliegenden Wochen geschehen durch wahlkampftaktische Fragen, die Frage nach Listenplätzen für die nahende Bundestagswahl oder persönliche Empfindlichkeiten einzelner aufs Spiel gesetzt
werden.
Aufgrund der in der Arbeitsgruppe „bodengebundene
Luftverteidigung“ parteiübergreifend und einstimmig erzielten Ergebnisse und der Informationen aus dem Bundesverteidigungsministerium fordere ich Sie auf, die im
Haushalts- und im Verteidigungsausschuss getroffene
Entscheidung zu unterstützen. Vielleicht ist es symbolträchtig, dass wir am heutigen Tag dieses Thema als letzten Tagesordnungspunkt aufgegriffen haben. Ich hoffe,
dass wir gleich die Akte MEADS im positiven Sinne
schließen, damit wir endlich in die Entwicklungsphase
einsteigen können.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5336 mit dem Titel
„Keine deutsche Beteiligung an MEADS“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der CDU/CSU gegen die
Stimmen der FDP und der beiden fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Mai 2005, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.