Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vorgestern, am 19. April 2005, hat das Kardinalskollegium mit Joseph Kardinal Ratzinger zum ersten Mal
seit fast 482 Jahren einen Deutschen zum Papst gewählt.
Ich habe Papst Benedikt XIV.
({0})
- Entschuldigung, dem XVI. - im Namen des Deutschen
Bundestages bereits schriftlich die herzlichen Glückwünsche zu seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche übermittelt.
({1})
Für seine große Aufgabe dürfen wir unserem Landsmann Benedikt XVI. von dieser Stelle aus alles, alles
Gute wünschen.
Bevor wir zur Tagesordnung übergehen möchte ich
auf der Tribüne die Präsidentin des griechischen Parlaments, Frau Professor Anna Benaki, herzlich begrüßen.
({2})
Wir hoffen, dass Sie einen aufschlussreichen - wenn
auch kurzen - Eindruck unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können. Für Ihren Aufenthalt in unserem
Haus und in Deutschland und für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
({3})
Die Kollegin Erika Simm feierte am 16. April ihren
65. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich ihr
sehr herzlich und verbinde mit den besten Wünschen
auch unseren Dank für ihre Arbeit als Vorsitzende des
Geschäftsordnungsausschusses.
({4})
Sodann müssen die Mitglieder im Stiftungsrat der
Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIVinfizierte Personen“ neu gewählt werden, da ihre Amtszeit am 30. Juli dieses Jahres endet. Gemäß § 8 Abs. 1
des HIV-Hilfegesetzes werden zwei Mitglieder für den
Stiftungsrat vom Deutschen Bundestag benannt. Die
Fraktion der SPD schlägt den Kollegen Horst
Schmidbauer ({5}) und die Fraktion der CDU/
CSU die Kollegin Dorothee Mantel vor. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
sind die Kollegin und der Kollege als Mitglieder für den
Stiftungsrat „Humanitäre Hilfe“ benannt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen auf
Drucksache 15/5312
({6})
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Für eine
nationale Kraftanstrengung - Pakt für Deutschland umsetzen
- Drucksache 15/5322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({8}), Dietrich Austermann, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Notwendige Investitionen in die deutsche Verkehrsinfrastruktur
bereitstellen
- Drucksache 15/5325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
({10}), Joachim Günther ({11}), Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Infrastrukturinvestitionen erhöhen - Neue Wege bei Finanzierung
und Betrieb der Bundesfernstraßen
- Drucksache 15/5338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Redetext
16046 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Präsident Wolfgang Thierse
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Koppelin,
Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Vorfahrt für Arbeit - Der Weg
nach vorne für Deutschland und Europa
- Drucksache 15/5339 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({14})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/5315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
- Drucksache 15/5314 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({16})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz,
Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 15/5319 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({17})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Äußerungen der
SPD-Fraktions- und Parteispitze zu Wirtschaftsinvestitionen in Deutschland
ZP 8 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Arzneimittelversorgung bei Kindern und Jugendlichen
- Drucksache 15/5318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dagmar Schmidt ({20}), Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD, der Abgeordneten Christa Reichard ({21}),
Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Undine Kurth ({22}), Thilo Hoppe, Volker Beck
({23}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Biologische Vielfalt schützen
und zur Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklung nutzen
- Drucksachen 15/4661, 15/5337 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt ({24})
Christa Reichard ({25})
Thilo Hoppe
Ulrich Heinrich
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Conny Mayer
({26}), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Togos Weg in
die Demokratie unterstützen - Afrikanische Union ({27})
und ECOWAS beim Engagement für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit unterstützen
- Drucksache 15/5324 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({28})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Jürgen Gehb, Daniela Raab, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({29})
- Drucksache 15/5317 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({30})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EU-Nitratrichtlinie in nationales Recht umsetzen - Wettbewerbsnachteile für heimische Landwirte durch Düngeverordnung verhindern
- Drucksache 15/4432 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({31})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Ferner sollen die Vorlagen unter Punkt 22 - NATOMitgliedschaft - bereits heute als zweites Kernzeitthema
behandelt und somit die Punkte 4 a bis 4 f abgesetzt werden. Die Punkte 8 und 15 werden getauscht. Außerdem
soll der Punkt 21 - Akustische Wohnraumüberwachung abgesetzt werden.
Schließlich mache ich noch auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 169. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen
werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 15/5244 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({32})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16047
Präsident Wolfgang Thierse
Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und dem Verteidigungsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({33}), Birgit Homburger, Hans-Michael
Goldmann weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Leitlinien für die Privatisierung
der Deutschen Flugsicherung - Gesamtkonzept zur Neuordnung der Flugsicherung
- Drucksache 15/4670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({34})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Verteidigungsausschuss und dem Haushaltsausschuss
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Norbert Königshofen,
Dirk Fischer ({35}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU: Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung
der Deutschen Flugsicherung GmbH
- Drucksache 15/4829 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({36})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatzpunkte 2 bis 5 auf:
3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Klaus Brandner, Dr. Michael Bürsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({37}), Anja Hajduk, Volker Beck ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Investitionskräfte stärken - Neue Impulse für
Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 15/5340 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({39})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Für eine nationale Kraftanstrengung - Pakt
für Deutschland umsetzen
- Drucksache 15/5322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({40})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({41}), Dietrich Austermann, Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Notwendige Investitionen in die deutsche Verkehrsinfrastruktur bereitstellen
- Drucksache 15/5325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({42})
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({43}), Joachim Günther ({44}),
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Infrastrukturinvestitionen erhöhen - Neue
Wege bei Finanzierung und Betrieb der Bundesfernstraßen
- Drucksache 15/5338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({45})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vorfahrt für Arbeit - Der Weg nach vorne für
Deutschland und Europa
- Drucksache 15/5339 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({46})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Manfred Stolpe das Wort.
16048 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland braucht Investitionen, eine schon
oft geäußerte Binsenweisheit.
({0})
Jetzt kommt es darauf an, dass etwas getan wird.
({1})
- Wenn Sie ein bisschen zuhören würden, dann hätten
Sie vermutlich - wenn Sie ehrlich sind - Freude daran,
zu erfahren, dass wir etwas bewegen können.
In diesem Land stecken nämlich doch beachtliche
Potenziale. Mehr Investitionen, mehr Wachstum und
mehr Beschäftigung sind möglich. Die Bundesregierung
ist entschlossen, die Kräfte, die in Deutschland da sind,
in Bewegung zu setzen. Am 17. März dieses Jahres hat
der Bundeskanzler vor diesem Hause eine wichtige Regierungserklärung abgegeben. In dieser Regierungserklärung gab es ein paar zentrale Punkte, die ich heute ansprechen möchte.
Ich möchte erstens darüber informieren, dass wir in
der nächsten Woche im Bundeskabinett ein wichtiges Investitionsthema angehen wollen: die Weiterführung des
Gebäudesanierungsprogramms der KfW-Förderbank.
2006 und 2007 werden für die Fortführung dieses Programms 720 Millionen Euro zur Zinsverbilligung und
auch für Teilschuldenerlasse zur Verfügung stehen. Das
heißt im Klartext, man wird damit Darlehen in der Größenordnung von 3 Milliarden Euro auslösen und Bauleistungen in der Größenordnung von 5 Milliarden Euro
bewegen können. Das ist schon allerhand.
({2})
In enger Abstimmung mit der KfW-Förderbank soll
diese Förderung dann in Zukunft auf solche Maßnahmen
konzentriert werden, die einen hohen Energie- und CO2Einspareffekt haben werden. Jede in diesen Bereich investierte Milliarde schafft 25 000 Arbeitsplätze. Das
macht in den Jahren 2006 und 2007 rund
125 000 Arbeitsplätze aus, die gesichert oder neu geschaffen werden können. Das ist Tatsache; das ist keine
Ankündigung. Das geht sofort in Gang.
({3})
Sichere und neue Erwerbschancen erreichen wir auch
mit dem zweiten Investitionsprogramm. Gestern haben
wir im Kabinett Verkehrsinvestitionen in Höhe von
2 Milliarden Euro vorgesehen; ich habe hier im Hause
schon kurz darüber berichten können. Das heißt im Einzelnen: Von 2005 bis 2008 mobilisieren wir jährlich eine
halbe Milliarde zusätzlich für Investitionen in den Verkehr. Das schafft ganz direkt bis zu 60 000 Arbeitsplätze
mit Schwerpunkt gerade in der mittelständischen Wirtschaft.
({4})
Das Entscheidende ist: Dieses Programm wird jetzt
ohne Zeitverzug seine Wirkung entfalten können. Wir
können handeln. Wir können dafür sorgen, dass Aufträge
an die Bauwirtschaft ausgelöst werden. Die wartet schon
darauf.
({5})
Glückwunschschreiben habe ich schon bekommen. Ich
hoffe, auch bei Ihnen wird das angekommen sein. Wir
werden zunächst im Jahr 2005, um schnell handeln zu
können, eine Reihe von Einzelmaßnahmen starten, sodass ohne Verzug gearbeitet werden kann.
Wir haben Handlungsbedarf in drei Bereichen: in den
Bereichen der Schiene, der Wasserstraße und der Straße.
Für die Schiene und die Wasserstraße soll mehr als die
Hälfte der Mittel eingesetzt werden. Wir brauchen diese
umweltfreundlichen Verkehrsträger als starke Wettbewerber, um das Verkehrswachstum - es ist unaufhaltsam
und für die Mobilität in der Wirtschaft unverzichtbar vor allem in den Bereichen des Güterverkehrs bewältigen zu können. Die Straße ist und bleibt ein Hauptleistungsträger. Deshalb werden wir etwa 900 Millionen
Euro zusätzlich für das Bundesfernstraßennetz einsetzen.
Mit dem 2-Milliarden-Programm im Ganzen wird der
Verkehrsstandort Deutschland gesichert und verbessert.
Unsere Stärken im Wachstumsfeld Mobilität und Logistik bauen wir aus. Das wird Innovationen ermöglichen.
Wir verbessern unsere Vernetzung in Europa. Damit beschleunigen wir auch den Aufbau Ost.
Wichtig sind dabei Erhaltungsinvestitionen für
Straße und Binnenwasserstraße. Dazu gehören die Sanierung von Brücken und Schleusen und die Nachrüstung von Tunnels. Über die Erhaltungsmaßnahmen hinaus können wir schon dieses Jahr bei den
Bundesfernstraßen neue Maßnahmen des vordringlichen
Bedarfs beginnen und begonnene spürbar beschleunigen.
Wir sichern die Leistungskraft des Wirtschaftsstandortes Deutschland und wir sichern dabei ganz besonders
die Leistungskraft der starken Potenziale, in denen sich
gegenwärtig die Hauptentwicklung unseres Landes bewegt. Das heißt, die Wachstumskräfte, die in BadenWürttemberg, in Nordrhein-Westfalen und in Bayern
vorhanden sind, werden durch diese Maßnahmen unterstützt.
({6})
Die maritimen Standorte an Nord- und Ostsee werden
durch bessere Anbindungen auf das künftige Verkehrswachstum vorbereitet.
Wir schaffen auch Voraussetzungen für Wachstum
und Arbeit im Osten Deutschlands.
({7})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16049
Von unseren sofortigen Investitionsmaßnahmen bei der
Straße profitieren zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen.
Meine Damen und Herren, für die Zukunft der
Schiene verstärken wir unsere wichtigen, herausragenden Projekte mit zusätzlichen Investitionsmitteln und
werden im Jahr 2005 - als eine Ausnahmeregelung von
der bisherigen Praxis - ein Bahnhofssanierungsprogramm in enger Abstimmung mit der Bahn auf den Weg
bringen. Auch das ist eine Maßnahme, die wichtig ist für
Aufträge, wichtig ist für Arbeit und die darüber hinaus
die Attraktivität des Schienenverkehrs erheblich erhöhen
wird.
({8})
Wir werden dann für den weiteren Fortgang des Vorhabens, also für die Jahre 2006 und folgende, in den allernächsten Wochen ein Maßnahmenpaket erarbeiten,
um die nötigen Prioritäten zu entscheiden. Wir werden
das in Abstimmung mit den Verkehrspolitikern dieses
Hauses, aber auch mit den Ländern vornehmen. Dabei
wollen wir von einem modernisierten Planungsrecht
profitieren. Das wird eine Beschleunigung von Baumaßnahmen bringen.
Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Beschlossene Infrastrukturprojekte müssen zügiger realisiert werden können. Daher werden wir noch vor der
Sommerpause den Entwurf eines Infrastruktur- und Planungsbeschleunigungsgesetzes vorlegen. Es wird eine
deutliche Beschleunigung für ganz Deutschland bringen
und wird die guten Erfahrungen, die wir mit dem
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Osten
gemacht haben, für ganz Deutschland umsetzen.
({9})
Wir gehen davon aus, dass wir mit einem solchen Gesetz
die Planungsphase für wichtige Infrastrukturvorhaben
um mindestens 30 Prozent verkürzen können.
In der Ressortabstimmung müssen wir noch einige
Fragen klären, so zum Beispiel die Zahl der Klageinstanzen. In der Anhörung habe ich jetzt meinen Entwurf vorgestellt und dabei auch auf die Erfahrungen des Ostens
zurückgegriffen; das heißt: eine Klageinstanz.
({10})
Das wird von allen Bundesländern unterstützt. Darüber
wird es aber sicherlich noch Diskussionen geben.
Wir haben ein Ziel bei dem Ganzen: Es muss schnell
gehen, es muss effektiv durchgeführt werden. Wir müssen dann zuverlässige Bedingungen für Investitionen in
Deutschland haben. Dann kann besser kalkuliert werden,
wann wichtige Verkehrswege, wann städtische Bauvorhaben und Versorgungsleitungen fertig sein werden. Die
Attraktivität Deutschlands als Investitionsstandort kann
damit noch deutlich erhöht werden. Ich appelliere an das
ganze Haus, dass wir diese Dinge ernsthaft und sachlich
angehen und dann auch zügig zu Lösungen kommen.
Solche Lösungen brauchen wir, damit am 1. Januar 2006
diese rechtliche Regelung in Kraft treten kann.
({11})
Meine Damen und Herren, wir wollen aber auch zusätzliche private Investitionen für die Verkehrswege
mobilisieren. Die A-Modelle - wir haben häufig darüber
gesprochen; wir haben die ersten Pilotprojekte in Gang
gesetzt - sind dazu ein Weg. Wir brauchen aber weitere
Unterstützung und Flankierung. Wir brauchen die Anwerbung zusätzlicher Investitionsmittel.
Deshalb möchte ich hier einen vierten Punkt nennen:
die Überlegung, ein ÖPP-Beschleunigungsgesetz zu
starten. Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass öffentlich-private Partnerschaften ein wichtiges Instrument
sein können. Dabei kommt es darauf an, das Know-how
von beiden Seiten - von den privaten, aber auch von den
öffentlichen Händen - zu verbinden und damit die Leistungsfähigkeit zu potenzieren. Wir sind dabei in den
letzten Monaten bereits intensiv unterwegs. Es hat gute
Absprachen gegeben, auch mit anderen Ministerien, zum
Beispiel mit dem Finanzministerium. Ich gehe davon
aus, dass das ganze Haus dieses Projekt unterstützen
wird.
Ziel ist es, bis zur Sommerpause den Entwurf eines
entsprechenden Gesetzes zu erarbeiten, um die rechtlichen Rahmenbedingungen von öffentlich-privater Partnerschaft in Deutschland zu verbessern und noch bestehende Benachteiligungen gegenüber anderen Formen
der Beschaffung abzubauen. Die laufenden Arbeiten beziehen sich auf Regelungen im Vergaberecht, im Haushalts- und Förderrecht, im Steuerrecht, im Gebührenrecht sowie auf Fragen im Bereich der Finanzierung.
Meine Damen und Herren, die Maßstäbe unserer Reform- und Investitionspolitik sind eindeutig. Wir wollen
und wir müssen alle miteinander Deutschland nach
vorne bringen. Ich bitte um Ihre Unterstützung. Wir handeln jetzt.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Kauder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister Stolpe, die Dynamik Ihres Vortrags hat eindrucksvoll die Dynamik dieser Bundesregierung dargestellt.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass wir nicht nur ein Beschleunigungsgesetz zur Umsetzung der Aufgaben brauchen,
sondern vor allem auch ein Regierungsbeschleunigungsgesetz. Das wäre zwingend notwendig.
16050 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Sie haben so schön formuliert: Wir sind auf dem
Weg. - Ja, diese Regierung ist ständig auf dem Weg.
Aber sie kommt nie an. Das ist das Problem in unserem
Land.
({1})
Als ich den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion gelesen habe, hatte ich zunächst die Hoffnung, Sie würden
darin auch erklären, wie es mit der Umsetzung dessen
vorangeht, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zur Fortführung der Agenda 2010 angekündigt hat. Aus dem Antrag geht aber dazu nichts konkret
hervor.
Einen bemerkenswerten Satz habe ich in Ihrem Antrag allerdings gefunden: „Die Erfolgsgeschichte der
Agenda 2010 wird fortgesetzt.“
({2})
Lassen Sie uns gemeinsam einen kurzen Blick auf diese
Erfolgsgeschichte werfen: 5,2 Millionen Arbeitslose in
Deutschland. Auch ohne die erwerbsfähigen Empfänger
des Arbeitslosengeldes II bedeutet das die höchste
Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland.
({3})
Auch saisonbereinigt stieg die Arbeitslosigkeit im März
weiter an, und zwar um weitere 92 000 Arbeitslose. Eine
schöne Erfolgsgeschichte, die Sie uns präsentieren!
Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ging um 156 000 zurück. Tag für Tag gehen rund
1 000 Arbeitsplätze verloren. Eine bemerkenswerte Erfolgsbilanz, die Sie vorzuweisen haben!
Es bleibt dabei, Herr Müntefering - auch wenn Sie
noch so viel reden -: Rot-Grün ist die Koalition der
Massenarbeitslosigkeit.
({4})
Leider ist dies das Ergebnis Ihrer Politik.
Rot-Grün ist aber auch die Schlusslichtkoalition:
Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum, bei der Entwicklung unseres Wohlstandes und in allen anderen wesentlichen Punkten. Rot-Grün macht ärmer. Arbeitnehmer in Deutschland haben 2005 im Schnitt fast 1 Prozent
weniger in der Tasche als 2004. Eine tolle Erfolgsbilanz,
die Sie hier vorlegen! Es ist Zynismus gegenüber den
Menschen, wenn Sie Ihre Politik und deren Auswirkungen als Erfolgsbilanz bezeichnen.
({5})
Rot-Grün ist aber auch die Koalition der Zukunftskiller. Das vierte Mal in Folge wird Deutschland in diesem
Jahr den Stabilitätspakt der Europäischen Union verletzen und mehr Schulden aufnehmen als erlaubt.
Wir dürfen heute nicht aufessen, wovon unsere Kinder und Kindeskinder morgen und übermorgen auch
noch leben wollen. - Das ist ein Originalzitat von Bundeskanzler Schröder vom Mai 2003.
({6})
Es wäre schön, wenn Sie sich auch daran halten würden,
nicht das aufzuessen, wovon die Kinder in Zukunft leben
wollen.
({7})
Die Menschen in unserem Land sehen die rot-grüne
Erfolglosigkeit und reagieren darauf. Bei den Landtagswahlen, in den Meinungsumfragen und auch in Nordrhein-Westfalen sieht es für die SPD nicht sehr gut aus.
Deswegen wird der SPD-Vorsitzende auf einmal erstaunlich nervös und greift in die Mottenkiste des Klassenkampfes. Dass das reines Wahlkampfmanöver ist,
meinen auch die Journalisten, die Ihnen gar nicht so fern
stehen.
Wie schlimm muss es um die SPD stehen, wenn ein
Vorsitzender ideologische Seelenmassage betreiben
muss.
({8})
Mit dem Verständnis ist aber dann Schluss, wenn die
Staatssekretärin Ute Vogt die Bevölkerung aufruft, die
deutsche Wirtschaft zu boykottieren.
({9})
Dass die Bundesregierung - vertreten durch eine Staatssekretärin - dazu auffordert, die deutsche Wirtschaft zu
boykottieren, hat es in den letzten Jahren nicht gegeben.
So werden Arbeitsplätze vernichtet und die Menschen in
diesem Land müssen darunter leiden. Das gilt für diejenigen, die noch Arbeit haben, aber vor allen Dingen für
die Arbeitslosen. Das ist eine miserable Politik.
({10})
Auch Betriebe, die der SPD gehören, haben Arbeitsplätze abgebaut, Herr Müntefering. Zum Beispiel die
„Frankfurter Rundschau“ wird die Arbeitsplätze um ein
Drittel reduzieren.
({11})
Bestellen Sie nun das Abo Ihrer Lieblingszeitung ab?
Befolgen Sie also den Auftrag von Frau Vogt oder nicht?
Die absurde Forderung von Frau Vogt zeigt, dass Sie die
Geister, die Sie gerufen haben, nicht mehr in den Griff
bekommen.
Es drängt sich ohnehin der Verdacht auf, dass man es
in der SPD von Anfang an mit den Menschen nicht ernst
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16051
gemeint hat. Noch zum Jahreswechsel 2002/03 sagte
Franz Müntefering:
Dennoch, was wir machen, ist richtig: weniger für
den privaten Konsum und dem Staat mehr Geld geben … Beton ist ein moderner Baustoff, mit dem
man viel Schönes machen kann.
Dann kam die Agendarede von Schröder und
Müntefering sagte:
Ich bekenne mich dazu, dass wir nach der Bundestagswahl noch manches anders gesehen haben als
heute.
Daraufhin stellte ein großes Magazin die Frage:
Herr Müntefering, wann dämmerte Ihnen, dass es
so nicht weitergeht?
Herr Müntefering antwortete:
Mein Damaskus ereignete sich im letzten Quartal
2002. Da wurde mir klar: Das haut alles überhaupt
nicht hin.
Heute, zwei Jahre später, werden wieder genau die
gleichen alten Klassenkampfparolen hervorgeholt. Ich
sage Ihnen, Herr Müntefering: Es gibt Leute, die auf
dem Weg nach Damaskus vom Saulus zum Paulus geworden sind. Es gibt auch Leute, die auf dem Weg von
Damaskus vom Paulus zum Saulus geworden sind. Aber
dass jemand beim Hin- und Rückweg an der gleichen
Stelle
({12})
zweimal Erweckungserlebnisse hat, ist ausgesprochen
selten.
({13})
Das nährt doch den Verdacht, Herr Müntefering, dass jemand in Wirklichkeit gar nicht in Damaskus gewesen ist
und den Menschen von Anfang an nur Geschichten erzählt hat.
({14})
So ruiniert man auch den Rest an Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der Politik. Das zeigt wieder einmal, dass
das, was man über Ihre Politik sagt, richtig ist: versprochen und gebrochen. Das ist leider das Motto, nach dem
Sie arbeiten.
({15})
Wir von der Union meinen allerdings, dass die Menschen ein Recht auf ernsthafte Vorschläge haben. Wir
haben mit dem Pakt für Deutschland einen ernsthaften
Vorschlag gemacht. Was Rot-Grün bisher vorgelegt hat,
ist aber mehr als unzureichend. Strukturreformen betreffend den Arbeitsmarkt, das Steuersystem und die Sozialversicherungen fehlen. Der rot-grüne Vorschlag, Programme der Bundesagentur für Arbeit auszuweiten, geht
eigentlich am Kern der Schwierigkeiten vorbei; denn wir
haben - das sehen wir auch bei der Umsetzung von
Hartz IV - ein Arbeitsplatzproblem in Deutschland, Herr
Müntefering. Für die Lösung dieses Problems muss eine
richtige Politik gemacht werden. Wir brauchen wieder
mehr Arbeitsplätze in unserem Land. Mit Ihrer Politik
und Ihren Methoden wird dies aber nicht gelingen.
({16})
Schauen wir uns einmal ganz konkret an, was auf dem
so genannten Jobgipfel vereinbart worden ist! Viele
Punkte, die wirklich wichtig sind und die Angela Merkel
und Edmund Stoiber vorgetragen haben, sind von Ihnen
bisher noch gar nicht akzeptiert worden. Aber selbst das,
was Sie nach eigenem Bekunden machen wollen, wozu
Sie bereit sind, haben Sie bis zum heutigen Tage noch
nicht umgesetzt. 35 Tage sind seit dem Jobgipfel vergangen und Sie haben noch nichts Konkretes auf den Tisch
des Hauses gelegt.
({17})
- Wenn Sie den von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
vorgelegten Antrag als etwas Konkretes bezeichnen,
dann ist das eine jämmerliche Aussage; denn er ist überhaupt nichts Konkretes. Wenn das, was Herr Minister
Stolpe vorgetragen hat, ein Zukunftsprogramm sein soll,
dann kann ich nur sagen: Sie haben wirklich allen
Grund, darüber nachzudenken, ob Sie noch auf der Höhe
der Probleme sind.
({18})
- Meistens ist es so, dass diejenigen, die wirklich nichts
zu bieten haben, am lautesten schreien. Das trifft auch
auf Sie zu.
({19})
Wir haben jedenfalls ganz konkrete Vorschläge gemacht. Der Bundeskanzler hat von diesem Rednerpult
aus gesagt: Eine Senkung der Unternehmensteuern
wäre und ist ein richtiges Signal. Aber das muss seriös
finanziert werden. Der Bundeskanzler hat von „einkommensneutraler Finanzierung“ gesprochen.
Steuersenkungen auf der Basis von Neuverschuldung ist das Unsolideste, was es je gegeben hat.
Herr Müntefering, damit haben Sie einmal einen richtigen Satz gesagt. Da es unsolide ist, Steuersenkungen
durch mehr Schulden zu finanzieren, können wir das,
was Herr Eichel zur Finanzierung einer Steuersenkung
bisher vorgelegt hat, nicht akzeptieren. Sämtliche
Finanzminister sind der Meinung: Da muss nachgelegt
werden, weil das sonst nicht funktionieren kann. Sie
können mit unserer sofortigen Zustimmung rechnen
- das kann alles in wenigen Tagen über die Bühne gehen; Ihre ständigen Aufforderungen in der Öffentlichkeit
sind deswegen völlig unangebracht -, wenn der von
16052 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf eine solide Finanzierung der Steuersenkung enthält. Sie müssen aber zunächst einmal Ihre Hausaufgaben machen und nicht
ständig andere ermahnen.
({20})
Wir von der Christlich Demokratischen Union und
von der CSU sind bereit, den Weg zu gehen, der es ermöglicht, dass wir mehr Arbeit in diesem Land bekommen. Unsere Vorschläge liegen im Pakt für Deutschland
auf dem Tisch. Sie haben 35 Tage verstreichen lassen,
ohne dass konkret etwas passiert ist. Das, was Sie in Ihrem Antrag heute vorlegen, führt nicht einmal in die
richtige Richtung; vielmehr zeigt es: Sie haben kein
Konzept. Also: Haben Sie einmal Mut und legen Sie einmal etwas vor! Das, was Herr Stolpe heute vorgetragen
hat, ist zu wenig. Von Herrn Eichel haben wir noch keinen einzigen Vorschlag gehört, der es möglich macht,
die Agenda 2010 fortzusetzen.
({21})
Ich erteile das Wort Kollegen Albert Schmidt, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kauder, was Sie hier abgeliefert haben, ist der Niedergang nicht nur des sozialen Gewissens, sondern auch
des christlichen Gewissens in der Union. Wenn es noch
eines Beweises dieser Entwicklung bedurft hätte,
({0})
dann haben Sie ihn heute erbracht.
({1})
Seit dem Abschied von Norbert Blüm, seit der Kaltstellung von Horst Seehofer haben das Soziale und das
Christliche in dieser Fraktion offenbar keinen Platz
mehr. Wenn Sie meinen, die Kapitalismuskritik hier
schelten zu müssen, dann kann ich Ihnen, wenn Sie
schon nicht auf uns oder auf den Fraktionsvorsitzenden
der SPD hören wollen, nur empfehlen: Schauen Sie sich
wenigstens die Umfragen an!
({2})
Lesen Sie nach: Einer Blitzumfrage zufolge halten
75 Prozent der Anhänger der CDU und der CSU die hier
geäußerte Kapitalismuskritik ausdrücklich für richtig.
Das gilt sogar für eine Mehrheit der FDP-Anhänger. Sie
wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden.
Herr Kollege Kauder, dass Sie die Bibel zitiert haben,
macht die Sache nicht besser. Auch ich könnte jetzt aus
der Bibel zitieren.
({3})
Ich könnte zum Beispiel sagen: Eher geht ein Kamel
durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich. Ich
will mir das ersparen. Ich will nur sagen: Sie haben mit
dem Thema der heutigen Debatte offenbar überhaupt
nichts anfangen können. Ich verstehe das auch. Denn
das, was wir Ihnen heute vorstellen, sind konkrete
Schritte
({4})
auf dem Weg zu mehr Beschäftigung; das sind konkrete
Schritte auf dem Weg in die Zukunft. Es geht um mehr
Investitionen in die Infrastruktur, um Verwaltungsvereinfachungen und um neue Partnerschaften zwischen öffentlicher und privater Hand, um das Land nach vorne zu
bringen. Dazu haben Sie keine einzige Silbe gesagt. Das
zeigt, dass Sie damit nichts anfangen können. Sie können nur polemisieren und Sie können sich überhaupt
nicht auf die Sache beziehen.
({5})
Herr Kauder, ich will gar nicht mit Kritik in eine andere Richtung sparen. Ich habe auch nichts gegen Selbstkritik. Ich will hier sogar deutlich sagen: Nach unserer
Auffassung war es von Anfang an grundfalsch, sich zum
Beispiel an den Investitionen in Verkehrswege zu vergreifen. Die Etikettierung, das seien Subventionen, war
irreführend. Das haben nicht wir erfunden.
Ich hätte übrigens nie gedacht, dass ich als Grüner
einmal in die Lage komme, die Investitionen in Schiene
und Straßennetz gegen leibhaftige Ministerpräsidenten
der SPD und der CDU verteidigen zu müssen. Ich habe
von diesem Pult aus immer wieder eindringlich davor
gewarnt, die Kürzungsvorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück umzusetzen. Diese Kürzungsvorschläge hatten die Überschrift: Subventionsabbau mit
dem Rasenmäher. In Wahrheit ist die Umsetzung dieser
Vorschläge in Bezug auf Verkehrsinvestitionen wie die
Axt im Walde. Dieses Vorgehen war falsch.
({6})
Am 15. Dezember 2003 wurde dieser Kardinalfehler
der deutschen Verkehrspolitik dank der Bundesratsmehrheit gegen jeden Sachverstand, gegen unseren Willen im Vermittlungsverfahren durchgesetzt. Das war ein
schwarzer Tag. Wir haben den Koch/Steinbrück-Beschluss
({7})
und die Folgen in zwei Haushaltsjahren zähneknirschend
vollzogen. Wir haben dabei zugesehen, wie das Rekordniveau an Verkehrsinvestitionen, das wir seit der Regierungsübernahme im Jahr 1998 aufgebaut haben, Schritt
für Schritt, von Jahr zu Jahr dahinschmolz wie Schnee in
der Sonne.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16053
Albert Schmidt ({8})
Gerade deshalb ist es gut, heute sagen zu können: Seit
der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom
17. März dieses Jahres
({9})
ist klar: Dieser Irrweg wird nicht länger beschritten;
({10})
im Gegenteil: Die Fehler aus dem unsäglichen Koch/
Steinbrück-Papier werden korrigiert, die Verkehrsinvestitionen werden wieder annähernd auf das Rekordniveau
der Jahre 2002 und 2003 aufgestockt. Und das ist gut so.
({11})
Mit den zusätzlichen 2 Milliarden Euro, die die Bundesregierung über vier Jahre verteilt für die Verstärkung
der Verkehrsinvestitionen zur Verfügung stellt, werden
nicht nur die Kürzungen nach dem Koch/Steinbrück-Papier und den Folgebeschlüssen des Vermittlungsausschusses faktisch korrigiert und rückgängig gemacht.
Mittelfristig werden darüber hinaus berechenbare und
solide Grundlagen für die weitere Modernisierung unseres Verkehrswegenetzes geschaffen. Das ist wichtig,
nicht nur für ein integriertes Verkehrssystem, sondern
auch für die Bau- und Verkehrswirtschaft, die sich auf
eine mittelfristig bessere Investitionslinie einstellen
kann.
Dies wird nicht nur 60 000 Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft bringen; in der gesamten Verkehrswirtschaft,
ob im Fahrzeugbau für die Schiene oder im Fahrzeugbau
für die Straße, wird es einen Push geben. Wenn Sie aufmerksam verfolgt hätten, was die Industrie gestern dazu
gesagt hat, dann hätten Sie heute diese Rede gar nicht
halten können, Herr Kauder. Dann hätten Sie mit Respekt sagen müssen: Jawohl, das ist der Schritt, auf den
wir alle gewartet haben.
({12})
Dass wir dabei nicht einseitig und einäugig vorgehen,
zeigt übrigens die Verteilung der Zusatzmittel, wie sie
von Bundesminister Manfred Stolpe vorgestellt wurde:
Der größere Teil geht in die umweltfreundlichen Systeme Schiene und Wasserwege - plus 750 Millionen
Euro für die Schiene und plus 350 Millionen Euro für
die Wasserwege - und der kleinere Teil - plus 900 Millionen Euro - geht in den Bereich Straße.
Dabei werden die richtigen Schwerpunkte gesetzt.
Natürlich werden vorrangig Ersatzinvestitionen zur Erneuerung bestehender Verkehrswege, also im Bestandsnetz, finanziert. Das ist deshalb notwendig, weil dort
- das ist klar - die kürzesten Planungsvorläufe sind, weil
man dort das zusätzliche Geld sehr schnell arbeitsplatzwirksam umsetzen kann und weil dort auch dringender
Handlungsbedarf besteht. Ich nenne nur die Erneuerung
von Fahrbahndecken und entsprechende Erneuerungen
in den Bereichen Wasserstraße und Schiene.
Darüber hinaus werden einige ausgewählte Neuund Ausbauprojekte auf der Schiene wie auf der Straße
verstärkt, neu anfinanziert und damit in der Realisierung
beschleunigt. Aus grüner Sicht ist hier von ganz besonderer Bedeutung die Beschleunigung im Bau der viergleisigen Rheintalschiene als Zulauf auf die neuen Alpentunnel Gotthard und Lötschberg in der Schweiz, die
beide bis 2015 fertig werden und für den alpenquerenden
Verkehr ein neues Zeitalter eröffnen werden. Das ist unsere Pflicht entsprechend dem Staatsvertrag mit der
Schweiz. Das ist ein Zukunftsprojekt für ganz Europa.
Der viergleisige Ausbau auf der Strecke Nürnberg-Fürth im Rahmen des VDE 8 für einen zukunftsfähigen S-Bahn-Verkehr im Großraum Nürnberg ist ein
weiteres Projekt, das damit angeschoben werden kann.
Ich nenne die längst überfällige Elektrifizierung der
Strecke Hamburg-Lübeck. Der Start der ersten Maßnahmen für einen modernen, hochleistungsfähigen und
schnellen Nahverkehr im größten Ballungsraum der Republik, nämlich im Rhein-Ruhr-Gebiet, unter der Überschrift „Rhein-Ruhr-Express“ ist ein weiteres Projekt,
das wir damit beschleunigt auf den Weg bringen.
Dies alles sind richtige Akzente und notwendige Projekte. Wir sind stolz darauf, dass wir Ihnen heute sagen
können: Wir haben auch das zusätzliche Geld dafür beschafft.
({13})
Lassen Sie mich allerdings auch ein kritisches Wort
zum Mittelabfluss bei der Deutschen Bahn AG sagen,
vielleicht deutlicher, als manch anderer das sagen kann.
Dass im ersten Jahr, in dem diese Zusatzmittel zur Verfügung stehen, der Löwenanteil in Straßenmaßnahmen
geht, ist nicht politischer Willkür geschuldet und auch
keine Strafaktion gegen die Schiene oder dergleichen,
sondern hängt mit der momentanen Investitionsunfähigkeit oder -unwilligkeit des DB-Vorstandes zusammen.
Es ist der Wunsch der DB, den Hauptanteil der zusätzlichen Schienenbaumittel nicht jetzt, sondern erst in den
Jahren 2006 und folgende zu bekommen. Das wird mit
weiterem Planungsvorlauf begründet. Dabei ist längst
klar, dass es zusätzliches Geld für die Schiene geben
wird: 1 Milliarde Euro zusätzlich aus dem Kabinettsbeschluss vom Juli letzten Jahres, 266 Millionen Euro zusätzlich erneut aus den Mitteln, die von der DB im letzten Jahr nicht abgerufen wurden, 750 Millionen Euro aus
dem Programm, das wir heute vorstellen. Dies alles
kommt nicht überraschend. Von daher verstehe ich nicht,
weshalb die DB sagt, sie sei planerisch darauf nicht vorbereitet.
Es gibt eine Reihe anderer Projekte, die längst laufen,
die man finanziell verstärken könnte.
Kollege Schmidt, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
16054 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident.
Damit drängt sich uns der Eindruck auf, dass für die
Investitionszurückhaltung ad hoc ein ganz anderes Motiv ausschlaggebend sein könnte, nämlich der Wunsch
der DB, die Kofinanzierungsmittel aus der Unternehmenskasse einzusparen, um die Bilanz möglichst rasch
börsenfähig zu trimmen. Wenn dies das Ergebnis der
Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG sein sollte,
wäre das pervers. Dann käme nämlich am Ende nicht
mehr, sondern weniger Geld ins Schienennetz.
Von daher kann ich nur sagen: Jetzt ist das Geld da,
jetzt muss gebaut werden. Das gilt für alle, auch für die
Deutsche Bahn AG.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Pinkwart,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn Herr Schmidt hier von Sozialpolitik
spricht und dies in Deutschland anmahnt,
({0})
muss ich ihm deutlich machen: 5,2 Millionen Arbeitslose ist das Unsozialste, was es in diesem Land gibt. Dafür sind Sie verantwortlich.
({1})
Sozial ist - im Gegensatz zu Ihrer Politik -, was Arbeit schafft. Was aber schafft Arbeit? Arbeit schafft das,
was für ein günstiges Investitionsklima und für günstige
Standortfaktoren sorgt.
({2})
Beim Investitionsklima geht es darum, das Vertrauen der
Menschen in einen klaren Kurs einer modernen Wirtschaftspolitik zu gewinnen.
Was haben Sie gemacht? Sie sind mit Lafontaine gestartet und haben dann das Schröder/Blair-Papier vorgelegt. Statt dieses Konzept wie Herr Blair umzusetzen,
haben Sie sich für die ruhige Hand entschieden. Als das
Kind längst in den Brunnen gefallen war, kamen Sie mit
der Agenda 2010. Sie reichte nicht. Jetzt sind Sie mit
dem Notfallkoffer unterwegs. Um davon abzulenken,
kommt Herr Müntefering nun mit seiner Kapitalismuskampagne und läuft erneut Lafontaine hinterher.
({3})
Das ist genau das Gegenteil dessen, was Sie im so genannten Schröder/Blair-Papier formuliert haben.
({4})
Ich zitiere, was in dem Papier steht, Herr
Müntefering:
({5})
Modernisierung der Politik bedeutet nicht, auf Meinungsumfragen zu reagieren, sondern es bedeutet,
sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen.
Ihre Politik hat sich in den letzten Jahren aber immer an
kurzfristigen Elementen, an Meinungsumfragen orientiert. Ihre Politik „Einen Schritt vor und einen Schritt zurück“ und das Land waren immer in Bewegung, haben
sich aber nicht von der Stelle bewegt.
({6})
Das ist das Problem, das wir hier vorfinden.
Hinsichtlich der Standortfaktoren sind die Probleme
ganz klar, auch die Stellhebel sind hinlänglich bekannt.
Sie liegen bei den Lohnnebenkosten, bei den Bürokratielasten, bei den Steuern und bei der Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur. Das Steuer können Sie nur
herumreißen, wenn Sie sich an zwei ganz klaren Grundregeln orientieren. Die erste Grundregel muss lauten:
Vorfahrt für Arbeit.
({7})
Das heißt, Sie müssen in dieser Situation alles tun, was
Arbeit schafft,
({8})
und Sie müssen endlich alles unterlassen, was Arbeit in
diesem Land vernichtet. Das ist die entscheidende Regel,
die jetzt gelten müsste.
({9})
Was aber tun Sie?
({10})
Sie verabschieden ein Gesetz zur Grünen Gentechnik,
das vom Betriebsratsvorsitzenden der Bayer AG in
Nordrhein-Westfalen, der von Ihrer Partei gestellt wird,
wie folgt bewertet wird:
Was Verbraucherministerin Renate Künast mit der
Gentechnik macht …, ist
- mit Verlaub, Herr Präsident, ich zitiere nur eine Sauerei … Alte Arbeitsplätze werden vernichtet und neue andernorts geschaffen.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16055
Das sagt Ihr Betriebsratsvorsitzender zu Ihrer Politik,
meine Damen und Herren.
({11})
Ein zweites Beispiel, das zeigt, dass Sie gegen die
Regel „Vorfahrt für Arbeit“ verstoßen, ist das Antidiskriminierungsgesetz. Sie wissen ganz genau, dass
die Umsetzung Ihres Gesetzentwurfes mehr Bürokratie
bringt und unserem Investitionsstandort schadet. Statt
ihn zurückzuziehen und ihn auf dem Niveau, das die EU
vorgibt, wieder vorzulegen, verweisen sie ihn in die
Ausschüsse. Sie wollen Ihren Entwurf über die Wahl retten, um dann wieder draufzusatteln. Das ist in Wahrheit
Ihre Politik.
({12})
Die zweite Grundregel, um das Steuer herumreißen
zu können, lautet, dass kein zentrales Reformfeld aus
ideologischen Gründen von der Modernisierung ausgenommen werden darf. Auch hier heißt es im Schröder/
Blair-Papier sehr treffend:
Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte müssen
allesamt flexibel sein: Wir dürfen nicht Rigidität in
einem Teil des Wirtschaftssystems mit Offenheit
und Dynamik in einem anderen verbinden.
Genau hieran scheitert Ihre Politik. Sowohl bei der
Agenda 2010 als auch bei dem so genannten Jobgipfel
haben Sie die zentralen Stellhebel zur Verbesserung unserer Wirtschaftspolitik in den Bereichen Arbeitsmarktund Tarifpolitik, Kündigungsschutzregelungen und Mitbestimmung mit der Begründung ausgeblendet, das sei
sozialdemokratisches Inventar. Indem Sie aber hier die
Stellhebel nicht richtig bedienen, kommt der Aufschwung in diesem Land insgesamt nicht zustande.
({13})
Sie verletzen die Grundregeln für eine erfolgreiche
Erneuerung des Landes. Auch deshalb sind Sie für das
Scheitern Ihrer Reformen verantwortlich. Diese Verantwortung können Sie nicht auf andere abschieben, auch
nicht mit noch so abwegigen Verschwörungstheorien,
wie sie jetzt von Ihnen propagiert werden. Dies zeigt ein
ganz einfacher Vergleich: Tony Blair hat die Punkte des
Schröder/Blair-Papiers von 1999 Schritt für Schritt umgesetzt. Sie haben sich vom Schröder/Blair-Papier seit
1999 Schritt für Schritt abgesetzt.
({14})
Konsequenz dieser Politik ist: In Großbritannien ist die
Arbeitslosigkeit deutlich gesunken, bei uns ist die Arbeitslosigkeit deutlich angestiegen. Fazit nach sechs Jahren verfehlter Politik: Bei uns liegt die Arbeitslosigkeit
mittlerweile doppelt so hoch wie in Großbritannien. Das
zeigt, wie sich Ihre verfehlte Politik auf die Menschen
auswirkt.
({15})
Wir von der FDP-Fraktion haben deshalb das
Schröder/Blair-Papier heute als Antrag erneut in den
Bundestag eingebracht, nicht, weil wir mit jeder Formulierung einverstanden sind,
({16})
aber weil wir glauben, dass dies der richtige Kompass
für Deutschland ist. Sie haben hier Gelegenheit, Farbe zu
bekennen:
({17})
Durchsetzung des Prinzips „Vorfahrt für Arbeit“, Herr
Müntefering, so wie es dieses Schröder/Blair-Papier seinerzeit vorgegeben hat, wie es durch unzählige Antragsinitiativen der FDP-Fraktion Ihnen in den letzten Jahren
zur Abstimmung vorgelegt worden ist
({18})
und wie es auch vom Bundespräsidenten in seiner großen Rede erneut angemahnt worden ist, oder Fortsetzung
des Schlingerkurses, wie Sie ihn seit Jahren fahren. Oder
müssen wir uns nach den Verlautbarungen von Ihnen,
Herr Müntefering, noch auf ganz andere Initiativen einstellen? Wollen Sie etwa Hartz IV zurückziehen, wie es
Lafontaine will? Wollen Sie, wie Regierungsmitglieder
vorschlagen, die Bürger dazu aufrufen, gewisse Unternehmen in Deutschland zu boykottieren?
Sorgen Sie endlich für Klarheit in diesem Land, um
nicht noch mehr Investoren abzuschrecken und um nicht
noch mehr Arbeitsplätze zu vernichten! Sie betreiben
eine unsoziale Politik. Kehren Sie endlich im Interesse
der Menschen in unserem Land um!
({19})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um es ganz deutlich und klar zu sagen: Wir, die Sozialdemokraten in diesem Lande, setzen
den Reformprozess konsequent fort. Der Kanzler hat am
17. März die Richtung mit einem 20-Punkte-Programm
vorgegeben: Aufbruch und Perspektive insbesondere für
die Jugend war der Debattenschwerpunkt der letzten
Woche; wir wollen der Jugend eine Chance geben. Heute
reden wir über Wachstums-, Innovations- und Investitionsimpulse insbesondere im Bereich der öffentlichen
Hände. In der nächsten Sitzungswoche werden wir die
Steuerdebatte führen.
16056 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Klar ist, dass wir diesen Reformkurs konsequent fortsetzen werden, weil er zu Wachstum und Beschäftigung
in diesem Lande führt. Dazu gibt es keine Alternative.
({0})
Was macht die CDU/CSU? Sie beklagt, dass die SPD
auf die Verantwortung der Unternehmen hinweist. Für
die CDU/CSU scheint die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmern und Managern
noch nicht einmal eine Frage zu sein.
({1})
Der SPD jedenfalls erscheint ein verantwortliches Miteinander aller Beteiligten notwendig
({2})
und nicht nur der ständige Ruf nach Kostensenkungen
durch den Abbau sozialer Rechte und Sicherungen; denn
wer nur abbaut, kann nichts aufbauen.
({3})
Es ist bereits zu Recht darauf hingewiesen worden,
dass die CDU/CSU früher zumindest einen Norbert
Blüm hatte, der gelegentlich auf die ethische Verantwortung der Unternehmen hingewiesen hat.
({4})
Seine Position scheint in Ihrer Fraktion aber schon seit
längerem vakant zu sein.
Nun zu Ihrem Antrag. Was bringt er eigentlich
Neues? Er beinhaltet viele Forderungen, über die wir
hier schon mehrfach diskutiert haben. Ihnen ging es
dabei immer nur um den Abbau von Arbeitnehmerrechten.
({5})
Sie wollen die Schwächung der Tarifautonomie und der
Arbeitnehmermitbestimmung sowie den Abbau des
Kündigungsschutzes - die gleiche Leier tagein, tagaus.
Aber Ihre Vorschläge, die Herr Kauder heute wiederholt
hat, werden auch durch Wiederholung nicht richtiger
und nicht besser. Im Kern bin ich Ihnen allerdings dafür
dankbar, dass Sie die Unterschiede zwischen Ihnen und
uns vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen noch einmal
deutlich gemacht haben.
({6})
Sie fordern zum Beispiel eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozent. Das
würde zu Einnahmeausfällen in Höhe von 11 Millionen
Euro führen.
({7})
- Ja, Milliarden. - Zugleich sagen Sie, dass dadurch
150 000 neue Beschäftigungsverhältnisse geschaffen
würden. Sie wissen doch, dass unser Land insbesondere
unter der hohen Jugendarbeitslosigkeit leidet.
70 Prozent der langzeitarbeitslosen Jugendlichen unter
25 Jahren besitzen keinen Berufsabschluss; ein Drittel
von ihnen hat keinen Schulabschluss. In die Förderung
dieser Jugendlichen zu investieren, um einen Prozess zu
organisieren, der dazu beiträgt, dass sie überhaupt eine
Chance haben, genau das wollen Sie nicht. Man muss es
Ihnen ganz klar vorwerfen: Sie nehmen ihnen ihre Chancen und wollen sie im Dunkeln lassen; das zeigt sich an
Ihrem Auftreten.
({8})
Die SPD will den Erhalt der Arbeitnehmerrechte und
der Mitbestimmung. Dies gehört nach unserer Überzeugung zu den unverzichtbaren Bausteinen der sozialen
Marktwirtschaft und der Beteiligung der Arbeitnehmer.
Darauf wollen Sie völlig verzichten. Sie wollen zum
Beispiel den Kündigungsschutz abbauen. Ihren Vorschlägen zufolge sollen 90 Prozent der in Betrieben beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom
Kündigungsschutz überhaupt nicht mehr profitieren können. Dadurch schaffen Sie Verunsicherung. Die Menschen in diesem Land müssen allerdings wissen: Dieser
Forderung werden wir nicht das Wort reden.
Zum Thema Weiterbildungschancen will ich Ihnen
sagen: Ich finde es heuchlerisch, dass Sie, wenn Sie die
Kolping-Bildungswerke und die Bildungswerke des
Handwerks - insbesondere in NRW - besuchen, dort sagen, welch tolle Arbeit sie leisten, ihnen aber die Finanzierungsgrundlage entziehen wollen, indem Sie hier im
Bundestag sagen, diese Mittel seien überflüssig. Das ist
scheinheilig. Das muss Ihnen so deutlich vorgeworfen
werden.
({9})
Die Menschen in diesem Land wollen - das ist meine
tiefe Überzeugung - keinen Kapitalismus pur mit zweistelligen Profitraten. Sie wollen Teilhabe; denn sie sind
mehr als nur ein Kostenfaktor. Wir werden auch hier
weiterhin die Weichen in diesem Land in die richtige
Richtung stellen.
({10})
Die Menschen wollen aber auch Sicherheit und Motivation. Kluge Unternehmer, die gemeinsam mit den
Arbeitnehmern für die Zukunft ihres Unternehmens eintreten und sie gemeinsam gestalten wollen, begrüßen daher ausdrücklich die Mitbestimmungsrechte in Deutschland.
In Ihrem Antrag haben Sie Ihre altbekannten Forderungen noch einmal verdeutlicht. Ich habe nur auf
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16057
wenige Aspekte hingewiesen, könnte aber einen langen
Vortrag darüber halten, was Sie und was wir wollen, um
deutlich zu machen, wohin die Reise in diesem Land
ginge, wenn Sie die Mehrheit stellen würden, zu der Sie
allerdings Gott sei Dank nicht so schnell kommen werden.
({11})
Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen,
wenn Sie das 20-Punkte-Programm, das der Bundeskanzler vorgeschlagen hat und dessen Inhalt Sie inzwischen in wesentlichen Teilen als Ihre Forderungen darstellen, nicht wie Erstklässler abschreiben und sagen
würden, Ihre Forderungen seien besser, sondern wenn
Sie in diesen Prozess offensiv einstiegen. Dabei denke
ich an das GmbH-Gesetz, die Absenkung des Mindeststammkapitals für GmbHs, die Einführung eines elektronischen Handelsregisters, die Beschränkung des Vorbeschäftigungsverbots bei befristeten Arbeitsverhältnissen
und insbesondere daran, wie die Investitionskraft in unserem Land durch öffentlich-private Partnerschaften gestärkt werden kann.
Wir sind angetreten, insbesondere die Investitionskraft der öffentlichen Hände zu stärken; das Thema
greifen wir seit Jahren auf. Wir haben von dieser Stelle
sehr häufig deutlich gemacht, welche Bedeutung die öffentlichen Investitionen für die Beschäftigung in diesem
Land haben. Bei den Gewerbesteuereinnahmen haben
wir in den vergangenen Jahren eine deutliche Verbesserung erfahren: Gegenüber den Rekordjahren 1999/2000
haben wir jetzt bei der Gewerbesteuer eine Größenordnung von über 20 Milliarden Euro erzielt; das sind
4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Das ist der
erste Punkt, der deutlich macht, wohin die Reise gehen
muss. Mit den Arbeitsmarktgesetzen haben wir eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro für die Kommunen erreicht und mit dem Ganztagsschulprogramm sind vom
Bund weitere 4 Milliarden Euro für Investitionen zur
Verfügung gestellt worden.
Jetzt geht es darum, deutlich zu machen, dass mit öffentlich-privaten Partnerschaften, auf die mein Kollege
Bürsch noch näher eingehen wird, eine gute Möglichkeit
besteht, die Stärkung der öffentlichen Investitionstätigkeit zu forcieren.
Sie selbst schreiben in Ihrem Antrag, von Public
Private Partnership dürfe nicht länger nur geredet werden, sondern es müssten konkrete Lösungen für die bestehenden Hemmnisse gefunden und umgesetzt werden.
({12})
Minister Stolpe hat schon deutlich gemacht, dass wir ein
ÖPP-Beschleunigungsgesetz erarbeiten. Sie sind herzlich eingeladen, diesen Prozess aktiv zu unterstützen und
nicht, wie bisher, solche Prozesse im Bundesrat zu blockieren. Sie sind eingeladen, die Länder aufzurufen, mitzuhelfen, die Stärkung der öffentlichen Investitionskraft
noch schneller, als das bisher möglich ist, Wirklichkeit
werden zu lassen. Dann haben Sie viel und Gutes für unser Land getan.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die
Debatte der letzten Minuten verfolgt hat, wird erinnert
an das, was Jahr für Jahr von den gleichen Rednern angekündigt, aber nicht vollzogen worden ist.
({0})
Herr Kollege Brandner, Sie haben von sozialer Gerechtigkeit geredet. Ich war in letzter Zeit gezwungen,
700 Stunden lang über eine Koalitionsvereinbarung zu
verhandeln, um möglichst viel von dem herauszuwerfen,
was die Grünen an Schaden anzurichten versucht haben.
({1})
Ich habe mir dabei einmal die Überschrift der Koalitionsvereinbarung dieser Bundesregierung angeschaut.
Sie lautete: „Erneuerung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit“. Schauen wir uns die Situation im Land an: Was
wurde so erneuert, dass wir es als Fortschritt betrachten
können? Wo ist die soziale Gerechtigkeit geblieben und
wo ist die Nachhaltigkeit?
Herr Brandner, Sie haben das Thema Jugend angesprochen. Wir erinnern uns, dass mit großem Pomp ein
Programm zur Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit
angekündigt wurde: das JUMP-Programm; es gab immer
wieder unterschiedliche Vokabeln für das gleiche
Thema. Inzwischen ist dieses Programm zum Spartopf
der Bundesagentur für Arbeit geworden; man hat es
sang- und klanglos eingestellt. Es gab andere Programme, mit denen man angekündigt hat, jetzt gehe es
aber los: Das Programm „Kapital für Arbeit“ ist ebenfalls sang- und klanglos eingestellt worden. Sie sind gut
im Setzen von Überschriften, aber Sie sind nicht gut in
der Realität; denn das, was Sie als Überschrift ansetzen,
ist meistens untauglich, eine vernünftige Entwicklung in
Gang zu bringen. Das ist aber der entscheidende Punkt
für unser Land.
({2})
Gewissermaßen symbolisch für die Situation in unserem Land ist, was der Bundesverkehrsminister sagt. Er
ist der vierte Minister seit 1998, der für Verkehr und Innovation zuständig ist. Das heißt, im Schnitt war jeder
anderthalb Jahre an der Regierung - einer war übrigens
auch Herr Müntefering; die anderen Namen haben wir
inzwischen vergessen -, anderthalb Jahre für langfristige, zukunftsweisende Projekte in Deutschland. Herr
Stolpe sagt: Jetzt können wir endlich Brücken sanieren.
Was passiert denn, wenn wir es nicht tun? Fallen sie uns
dann auf den Kopf? Ist es ein Fortschritt, dass wir das,
16058 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
was wir haben, die Substanz, erhalten können? Oder
liegt der Fortschritt nicht eher darin, eine Entwicklung
zu betreiben, um Deutschland mit Innovationen voranzubringen?
({3})
Schauen wir uns einmal die finanzielle Situation
Deutschlands an. Nehmen Sie die Ausgaben für Investitionen im Bundeshaushalt: Im letzten Jahr haben wir die
niedrigsten Volumina gehabt. Beim Verkehrsetat das
Gleiche: Es war einmal angekündigt, durch die Maut
3 Milliarden Euro für das Anti-Stau-Programm und für
Verkehrsinvestitionen zusätzlich zur Verfügung zu haben. Aber auch mit den 500 Millionen Euro, die jetzt
hinzukommen sollen - und die bisher nicht finanziert
sind -, werden wir in diesem Jahr weniger Mittel für die
Verkehrsinfrastruktur haben als im letzten Jahr.
({4})
- Das ist die Wahrheit; genau das ist die Situation.
({5})
Sie hingegen erzählen den Menschen, es gebe einen gewaltigen Aufschwung und eine gewaltige Bewegung
nach vorne.
Das ist aber der entscheidende Punkt. Die Menschen
merken, dass sie von Ihnen immer wieder hinter die
Fichte geführt und mit schönen Vokabeln, die sich in der
Realität nachher als ein Irrweg entpuppen, irritiert werden.
({6})
Sie werden das nicht glauben. Deswegen werden sie
nicht investieren und nicht konsumieren. Die eigentliche
Ursache für den Vertrauensverlust gegenüber der derzeitigen Regierung ist, dass sie zwar Programme verkündet, auch teilweise richtige Programme, sie aber nicht
umsetzt, sondern immer wieder nur neue Vokabeln
bringt.
Herr Schmidt, Sie haben eine Mehdorn-Phobie und
glauben, Sie müssten den Bundesbahnvorstand in jeder
Debatte anmachen. Ich frage mich, warum der Bundeskanzler dann den Vertrag von Herrn Mehdorn vorzeitig
verlängert hat. Das war mindestens ein Jahr, bevor die
Entscheidung anstand. Ich frage mich auch, was Sie eigentlich dafür tun, dass die Bahn die Mittel für ihre
Investitionen rechzeitig zur Verfügung hat. Verkehrsvereinbarungen werden durch den Finanzminister verzögert; so wurde im Dezember die Vereinbarung für die Investitionen des abgelaufenen Jahres unterschrieben.
Dann wundert man sich noch, dass es zu keiner Verstetigung der Mittel kommt und dass das Geld nicht rechtzeitig ausgegeben wird!
({7})
- Doch, genau so ist das.
Seit 1988 heißt es ständig, mit Otto Reutter gesprochen: Jetzt fangen wir gleich an. - Man hat aber festgestellt, dass es eigentlich immer weiter zurückging. Die
entscheidenden Reformen wurden nicht umgesetzt.
({8})
- Natürlich wird in Deutschland gebaut. Natürlich werden 8 Milliarden Euro umgesetzt. Aber im letzten Jahr
wurden 9 Milliarden Euro umgesetzt. Sehen Sie sich
doch die Summen an!
({9})
Als wir noch an der Regierung waren, wurden
12 Milliarden für Verkehrsinvestitionen umgesetzt. Das
ist der entscheidende Unterschied.
({10})
Das, was die Bahn bekommt, reicht dafür aus, die
Substanz zu erhalten. Es reicht aber nicht dafür, zusätzliche Projekte durchzuführen, auch wenn Sie heute das
eine oder andere Projekt, das seit langer, langer Zeit auf
dem Programm steht, als neu verkaufen.
Ich bin gestern mit einem Taxi gefahren, dessen Fahrer nicht so aussah, als ob er die Union wählen würde.
Als ich ihm gesagt habe, wohin ich wollte, sagte er nur
ganz kurz: Beim Dicken ging es uns besser als beim
Kleinen.
({11})
Ich glaube, jeder kann sich vorstellen, was damit gemeint war.
Wenn Sie sich die Situation anschauen, dann erkennen Sie, dass es in Deutschland bis 1998 besser lief.
Schauen Sie sich nur das wirtschaftliche Wachstum an!
({12})
Sie haben doch den Fehler gemacht, die Reformen und
all das, was Mitte der 90er-Jahre auf den Weg gebracht
wurde, zum 1. Januar 1999 mit einem Federstrich auszuradieren.
({13})
Sie haben dann eine Steuerreform gemacht, die dazu
geführt hat, dass in den letzten Jahren 60 Milliarden
Euro weniger an Körperschaftsteuer in die öffentlichen
Haushalte geflossen sind. Durch Ihre Steuerreform
wurde den Menschen das, was ihnen dadurch in die eine
Tasche getröpfelt wurde, auf der anderen Seite mit großen Griffen, mit einem richtigen sozialistischen Zugriff,
wieder aus der Tasche gezogen. Das bedeutet doch, dass
unter dem Strich nicht mehr Geld da war.
Als wir 1982 eine vergleichbare Situation hatten,
({14})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16059
haben wir mit einer angebotsorientierten Wirtschafts-,
Wachstums- und Steuerpolitik die richtigen Entscheidungen getroffen. Das Ergebnis war, dass die Beiträge
gesunken sind, dass die Steuereinnahmen gesprudelt haben und dass wir auch bei der Beschäftigung einen deutlichen Zuwachs hatten. Wir müssen zurück zu einer angebotsorientierten Wirtschafts- und Wachstumspolitik.
({15})
Jetzt sage ich Ihnen etwas zur Schelte der Unternehmen. Man muss sich schon einigermaßen wundern: Ihre
Regierung ist seit sechseinhalb Jahren dran. Der Kanzler
umgibt sich gerne mit den Leuten, die heute in den Vorständen an der Stelle sitzen, die er kritisiert.
({16})
Die Rogowskis - und wie sie sonst alle heißen - waren
immer gern gesehene Gesprächspartner, Schrempp war
natürlich ganz besonders gern gesehen. Sie alle werden
heute kritisiert. Hat man nicht jahrelang eine Politik gerade zugunsten bestimmter Unternehmen gemacht?
({17})
Jetzt wird geschimpft, es werden Schützengräben ausgehoben und ein kalter Krieg bricht aus, und das nur, um
für die Wahl in Nordrhein-Westfalen ein paar Leute hinter den roten und grünen Fahnen zu versammeln. Das ist
nicht in Ordnung. Sie werfen damit praktisch der gesamten Wirtschaft - 80 Prozent davon sind Mittelständler ein unsoziales Verhalten vor. Das haben die vielen Millionen Mittelständler und auch die Arbeitnehmer nicht
verdient.
({18})
Bei manch einem muss man sich fragen: Wie sieht
das denn mit dem Recht auf Mitbestimmung aus, das
Sie in den großen Unternehmen ausgeweitet haben? Haben die Arbeitnehmer, die an den Entscheidungen in den
Unternehmen, die Sie jetzt so massiv kritisieren, beteiligt waren immer alle geschlafen? Sie sollten sich wirklich überlegen, an welcher Stelle Sie Ihre Kritik ansetzen. Es geht hier nicht darum, Überschriften zu setzen.
Es geht darum, dass wir eine wirklich wirtschafts- und
wachstumsfreundliche Politik brauchen, wie wir das ab
1982 gemacht haben. Erfolgsrezepte sollte man wiederholen.
Die Bundesbank hat Ihnen das ins Stammbuch geschrieben. Die Sachkapitalbildung hierzulande hat im
Vergleich zu Auslandsinvestitionen offensichtlich erheblich an Attraktivität verloren. In den letzten Jahren ist es
in Deutschland zu einem Einbruch der Investitionstätigkeit auf breiter Front gekommen. Das, was Sie in Ihrem
Programm ankündigen, ist ungeeignet, weil es wieder
den gesamten Bereich von Arbeitsmarkt und Sozialsystemen ausblendet. Rot-Grün fehlt offensichtlich ein ordnungspolitisch sauberes Konzept.
Liebe Kollegen, nach 23 Jahren im Bundestag und der
Erfahrung mit fünf von mir geschätzten Fraktionsvorsitzenden - Kohl, Dregger, Schäuble, Merz und Merkel habe ich Anlass, für erlebte Kollegialität und gute Entscheidungen für unser Land insbesondere beim Thema
Wiedervereinigung zu danken, an denen ich mitwirken
durfte. Ich hoffe, dass die Verletzungen, die ich dem einen oder anderen zugefügt habe, nicht größer waren als
die, die mir zuvor zugefügt wurden.
({19})
Ich wünsche dem 15. Bundestag die Kraft - wir können nicht bis zur nächsten Bundestagswahl warten - umzusteuern. Unser Land und unsere Bürger haben es nicht
verdient, dass wir Schlusslicht in Europa sind. Unser
Pakt für Deutschland zeigt, dass man mehr tun kann. Es
ist richtig, dass wir alle miteinander - jeder an seinem
Platz, ich demnächst an einem anderen - unsere ganze
Kraft dafür aufwenden, besser zu werden. Unser Land
hat es verdient.
Herzlichen Dank.
({20})
Herr Kollege Austermann, ich wünsche Ihnen für Ihre
neue Aufgabe alles Gute.
Nun erteile ich das Wort Kollegen Reinhard Loske,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Austermann, viel Spaß in Kiel und
schöne Grüße an Peter Harry Carstensen.
Bevor ich zu meinem eigenen Vortrag komme,
möchte ich im Zusammenhang mit der Kapitalismuskritik auf zwei Vorredner eingehen, zunächst auf Herrn
Kauder, von dem ich nicht weiß, ob er noch anwesend
ist. Ich glaube, Sie sollten wirklich nicht unterschätzen,
wie weit das Gefühl in den Mittelstand hineinreicht, dass
im Grunde genommen die soziale Verantwortung und
die Verantwortung für die Unternehmen sehr stark vernachlässigt wird.
An Ihre eigene Adresse möchte ich sagen: Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft von Eucken, Röpke
und Müller-Armack, den Vätern dieser Idee, auf der später Ludwig Erhard sein Konzept der sozialen Marktwirtschaft aufgebaut hat, war doch auch einmal Ihr Konzept.
Wenn Sie heute von „neuer sozialer Marktwirtschaft“ reden, dann hat man immer das Gefühl, Sie wollten einen
Nachtwächterstaat ohne jede Einflussmöglichkeit schaffen. Damit ist nicht die ursprüngliche soziale Marktwirtschaft gemeint. Daran sollte man Sie einmal erinnern.
({0})
Man sollte Sie vielleicht auch daran erinnern, dass es
einmal Zeiten gab, in denen beispielsweise Klaus
Töpfer, Herr Schäuble, der leider nicht mehr anwesend
ist, oder auch der Kollege Repnik über die sozialökologische Marktwirtschaft geredet haben. Diese
16060 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
konstitutionellen Ansätze sind bei Ihnen völlig untergegangen. Sie propagieren den schwachen Staat, der sich
aus der Verantwortung zurückziehen soll. Aber das geht
nicht und das wollen wir auch nicht. Das ist der große
Unterschied zwischen uns. Das wird auch im Wahlkampf klar werden.
Zum Kollegen Pinkwart möchte ich Folgendes sagen:
Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie ein Papier
aus dem letzten Jahrhundert zur Abstimmung stellen.
({1})
Besser wäre es, Sie machten sich ein paar eigene Gedanken, zu denen wir uns dann äußern könnten. Ich muss sagen: Hier sehe ich bei Ihnen gewisse konzeptionelle Defizite.
({2})
Jetzt zum Thema. Wir debattieren heute über das
Thema öffentliche und private Investitionen. In unseren
Infrastrukturen besteht in der Tat ein enormer Investitionsbedarf:
({3})
im Bereich der Energie, vor allem bei der Elektrizitätswirtschaft; im Bereich der Wasserwirtschaft, wo vor allen Dingen die Renovierung der Netze und die Sicherung der Qualität im Vordergrund stehen; im Bereich der
Verkehrsinfrastrukturen, wo es vor allem um die Bestandserhaltung und die Qualitätssicherung und nicht so
sehr um Neubau geht; im Bereich der Abfallwirtschaft,
wo wir vor großen Umbrüchen stehen, weil sich dieser
Bereich weg von der reinen Entsorgungswirtschaft hin
zu einer Kreislaufwirtschaft entwickeln muss.
Wir stehen bei diesen großen öffentlichen Aufgaben
der Daseinsvorsorge vor Umbrüchen. Das Fenster der
Möglichkeiten ist in den nächsten zehn bis 15 Jahren
sehr weit geöffnet, weil die alten Infrastrukturen in den
Bereichen Energie, Wasser und Abfall an ihr Nutzungsende kommen. Im Verkehr sieht es etwas anders aus.
Hier geht es vor allem um Qualitätssicherung des vorhandenen Netzes. Aber auch hier bieten sich unheimlich
große Potenziale für Systeminnovationen. Wir sollten
uns bei den Infrastrukturinnovationen, vor denen wir stehen, vom Gedanken der Nachhaltigkeit leiten lassen.
Wir müssen wissen, dass die Kapitalbindungszeiten in
diesem Bereich enorm lang sind. Sie betragen 30 Jahre,
50 Jahre und teilweise noch mehr. Das heißt also, wir
schreiben Strukturen für eine sehr lange Zeit fest. Wir
müssen dieses Fenster der Möglichkeiten nutzen und uns
an bestimmten Prinzipien orientieren, ob das nun Dezentralität ist, intelligente Vernetzung, Ressourcenschonung
oder auch Kosteneffektivität.
Es sollte auch der Hinweis erlaubt sein, dass viele
Entwicklungsländer gerade erst am Anfang der Entwicklung ihrer Infrastrukturen stehen. Wenn wir in unserem Land und in Europa Konzepte entwickeln, die verallgemeinerungsfähig sind, dann erwachsen uns daraus
riesige Exportmöglichkeiten. Auf den Weltmärkten der
Zukunft werden wir dann gut bestehen können. Das wollen wir. Deswegen müssen wir hier zeigen, dass sich
Nachhaltigkeit und Infrastrukturentwicklung sehr gut
miteinander vertragen.
({4})
Wir haben im Energiebereich durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz, durch den Emissionshandel und
durch das Energiewirtschaftsgesetz, das demnächst in
Kraft treten wird, die Rahmenbedingungen gesetzt. Damit werden riesige Investitionen ausgelöst, vor allem
weil wir sicherstellen, dass Wettbewerbsfairness gilt.
Im Verkehrsbereich haben wir in den letzten Jahren
sehr wichtige Akzente gesetzt. Wir haben die Gleichbehandlung von Straße und Schiene erreicht, wir haben die
Konzentration auf das Bestandsnetz hinbekommen und
wir haben vor allen Dingen für mehr Kostenwahrheit im
Verkehr gesorgt - Stichwort: Maut. Wir wollen jetzt
auch prüfen, welche Möglichkeiten der Public Private
Partnership es gibt. Da gibt es Möglichkeiten, die wir gewissenhaft prüfen sollten. Wir sind aber gegen einen
Einstieg in die generelle Privatisierung der öffentlichen
Infrastruktur. Auch das muss vollkommen klar sein.
Abschließend zum Thema Bürgerbeteiligung: Es
klingt immer wieder durch, als ob die Verfahren in
Deutschland viel zu lange dauern würden
({5})
und als ob der Bürger mit seinen Anliegen und Bedürfnissen nur ein Hemmnis wäre. Wir sind ganz klar der
Meinung: Bürgerbeteiligung und die Wahrung hoher
Umweltstandards vertragen sich sehr gut mit zügigen
Planungsverfahren.
({6})
Das können wir sehr gut belegen. Das Gegenteil von
Bürgerbeteiligung ist nämlich falsch. Wer glaubt, man
müsste Bürgerrechte ausschalten, wie das bei Ihnen offenkundig anklingt, irrt; denn das wird im Ergebnis zu
nichts anderem führen als zu verlängerten Planungsverfahren, zu geringerer Akzeptanz und zu geringerer Investitionssicherheit. Das sollten wir gemeinsam nicht
wollen.
({7})
Mein letzter Punkt betrifft die Altbausanierung. Das
ist ein riesiges Feld. Wir können beim Gebäudebestand
enorme Mengen an Energie einsparen und den Ausstoß
an Kohlendioxid verringern. Das Altbausanierungsprogramm gibt es jetzt seit einigen Jahren. Jedes Jahr werden 360 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, wovon
ungefähr die Hälfte aus der Ökosteuer stammt. Das
Geld, das dort hineinfließt, ist gut angelegtes Geld. Denn
jeder Euro, den der Staat ausgibt, löst Investitionen der
Bürger in Höhe von fünf bis sechs Euro aus. Dieses
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16061
Programm wollen wir fortführen und ausbauen, weil
man daran sehr gut zeigen kann, dass sich Klimaschutz,
Energieeinsparung und die Schaffung von Arbeitsplätzen sehr gut vereinbaren lassen. Das ist ein zukunftsweisendes Konzept.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Oswald, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Loske, Sie haben hier versucht, ein eigenes grünes
Profil, eine eigene Position darzulegen. Ich sage Ihnen:
Das wird wie bei allen Punkten sein. Sie machen überall
mit. Früher haben Sie die Kröten gesammelt und heute
schlucken Sie alle, Hauptsache, Sie sind immer mit an
der Regierung.
({0})
Haben Sie von der Koalition denn geglaubt, dass wir
in Jubelschreie ausbrechen, wenn Sie endlich bei den
Verkehrsinvestitionen nachbessern? Das, was Sie hier
machen, ist doch alles nur geschehen, weil wir permanent Druck auf Sie ausgeübt haben,
({1})
weil Ihre Wahlkämpfer draußen unentwegt gesagt haben,
es müsse etwas passieren, und weil die Wirtschaft gesagt
hat: Ihr seid völlig rückschrittlich. - Wenn wir nicht kurz
vor den Wahlen wären, würden Sie immer noch nicht
handeln.
({2})
Ihre Sonntagsreden sind bekannt. „Alles klar,
Deutschland braucht Mobilität“, das sagen Sie bei jeder
Gelegenheit.
Sie sagen: „Die Infrastruktur ist das Rückgrat der Mobilität.“ Alles richtig. Aber Sie haben doch bisher mit Ihren Parolen wie „Bildung statt Beton“ Stimmung gegen
die Bau- und die Investitionspolitik gemacht!
({3})
So geht es doch nicht. Sie mussten sich sagen lassen,
dass Deutschland inzwischen die zweitniedrigste Investitionsquote der OECD-Länder hat. Das ist doch die
Realität. Der Herr Bundesminister Stolpe kann sich in
diesem Kabinett nicht durchsetzen. Er sagt vieles Notwendige, aber entscheidend ist, was hinten rauskommt.
Was jetzt auf den ersten Blick als gewaltige Finanzspritze erscheint, entlarvt sich bei genauerem Hinsehen
als eine Mogelpackung.
({4})
- Wenn Sie es selber noch nicht gemerkt haben, dann
schauen Sie sich das einmal an: Mit der Aufteilung der
2 Milliarden Euro auf vier Jahre entsprechen die jährlichen 500 Millionen Euro noch nicht einmal dem Betrag,
um den die Verkehrsinvestitionen in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr gekürzt worden sind.
({5})
Wir brauchen eine Infrastruktur, die auch der zu erwartenden Verkehrsentwicklung gerecht wird. Wir haben in
Deutschland gegenwärtig für rund 4 Milliarden Euro
baureife Projekte bei Autobahnen und Bundesstraßen, ohne dass die notwendigen Finanzmittel
vorhanden wären. Jederzeit könnte nach einer Ausschreibung der Bagger, der Schieber anfahren und entsprechend arbeiten. Da würden Arbeitsplätze geschaffen, nicht durch Ihre Ankündigungen auf dem Papier!
({6})
Deutschlands größter Automobilverband hat errechnet, dass jährlich rund 7 Milliarden Euro benötigt werden, um einen bedarfsgerechten Ausbau und Erhalt der
Bundesfernstraßen zu gewährleisten. Die Realität kann
der Autofahrer täglich beobachten. - Wenn Sie auf der
Regierungsbank bei diesem Thema lachen, dann wissen
wir Bescheid.
({7})
- Wenn Ihnen das Lachen vergangen ist, ist es auch
recht.
Staus sind auf der Tagesordnung. Auf über
2 100 Kilometern des Bundesfernstraßennetzes gibt es
inzwischen täglich Engpässe. Die Staus kosten Zeit und
Kraft, vergeuden Ressourcen und treiben den Kraftstoffverbrauch in die Höhe. Was im Stau auf Deutschlands
Straßen heute ungenutzt in die Luft geblasen wird, entspricht rund 18 Prozent des Gesamtverbrauchs an Kraftstoff. Warum regt sich hier eigentlich niemand mehr auf?
({8})
- Außer meiner Fraktion und der FDP natürlich. - Den
durch Stau entstehenden volkswirtschaftlichen Schaden
kann man mit rund 100 Milliarden Euro beziffern. Auch
die Sicherheit leidet unter dem Mangel an Instandhaltungsmaßnahmen. 23 Prozent der Autobahnen und
30 Prozent der Bundesstraßen sind nicht mehr voll gebrauchsfähig. Bei Brücken und Tunneln steigt die Sanierungsbedürftigkeit. Es gibt Arbeit über Arbeit in
Deutschland für die ganze Baubranche.
Züge fahren unpünktlich, denn Langsamfahrstellen
behindern den Verkehrsfluss und mindern die Leistungsfähigkeit der Bahn im Bereich des Personen- und
16062 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Güterverkehrs. Große Teile des Schienennetzes sind sanierungsbedürftig.
Das, was Sie heute mit Ihrem Antrag hier vorlegen,
ist viel zu wenig. Das ist eine Beruhigungspille, von der
Sie glauben, sie wirkt. Aber sie wirkt nicht. Der Bürger
durchschaut dieses Spiel. Sie müssen Ihre Politik wieder
von Ihren Fachabteilungen machen lassen und nicht von
Ihren Pressestellen und von den für Öffentlichkeitsarbeit
zuständigen Mitarbeitern.
({9})
Drei Punkte:
Erstens. Der Staat muss seiner Verantwortung für die
Infrastruktur durch eine auf hohem Niveau bestätigte
Finanzierung nachkommen.
Zweitens. Wenn die Haushaltsmittel nicht ausreichen,
müssen verstärkt private Partner eingebunden werden.
Hier haben Sie den Weg richtig begonnen, sind aber bisher viel zu kurz gesprungen und alles geht viel zu langsam.
({10})
Drittens. Wir müssen die innerdeutsche Entwicklung
mit der europäischen so verzahnen, dass die Verkehre in
Deutschland als Transitland Nummer eins in Europa
besser bewältigt werden können. Nach 100 Tagen Maut
haben Sie Erfolgslieder gesungen. Die Medien haben es
Ihnen abgenommen. Sie haben aber vergessen, auf
welch dramatische Weise sich die Verkehre in vielen Regionen von der Autobahn auf die nachgelagerten Straßen
verlagert haben.
({11})
Dieses Problem gilt es zu lösen. Wir können nicht zulassen, dass die Mautpreller in Deutschland nicht erwischt
werden. Der Ehrliche darf in Deutschland nicht der
Dumme sein.
({12})
Unser politisches Ziel muss es sein, die LKW-Verkehre
auf der Autobahn zu halten, denn dieses sind die sichersten Verkehrswege.
Es ist gut, dass wir heute über Mobilität reden. Fast jeder sechste Arbeitsplatz in Deutschland hängt von der
Verkehrswirtschaft und der Fahrzeugindustrie ab. Bürger
wie Wirtschaft, die für die Nutzung des Verkehrssystems
viel Geld zahlen, wollen eine leistungsfähige Infrastruktur. Nehmen Sie von der Regierungskoalition sich doch
selbst ernst! Schauen Sie sich an, was Sie im Bundesverkehrswegeplan 2003 selbst festgeschrieben haben! Dort
haben Sie nämlich ein jährliches Investitionsvolumen
von 10 Milliarden Euro für erforderlich gehalten. Bei Ihrer jährlichen Finanzplanung kommen Sie jedoch nur zu
einem durchschnittlichen Mittelansatz von 7,7 Milliarden Euro. Wenn Sie sich einmal das anschauen, was die
Regierungskommission unter Ihrem Mitglied, Herrn
Pällmann, gesagt hat, dann erkennen Sie, dass Sie bei all
dem, was Sie tun, viel zu kurz springen. Auch Ihre Länderverkehrsminister haben Ihnen einen viel größeren
Mittelbedarf ins Stammbuch geschrieben.
Sie springen zu kurz und handeln nur, weil der Druck
Ihrer Wahlkämpfer immer stärker wird. Hätten Sie die
Mauteinnahmen zusätzlich in die Verkehrsinfrastruktur
investiert, wie es Ihnen das Autobahnmautgesetz vorgeschrieben hat und was für uns Voraussetzung dafür war,
dass wir Ihnen in der Partnerschaft für dieses Mautgesetz
die Hand gereicht haben, dann hätten Sie viele Probleme
nicht.
({13})
Verstärken Sie die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur! Ihr heutiger Plan - verteilt auf vier Jahre, nur
Absichtserklärungen, nichts machen zu müssen, nur den
Wahltermin im Auge - reicht nicht, um in Deutschland
solide Investitionspolitik und Politik insgesamt zu machen.
({14})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Spanier,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
bisherigen Reden der Opposition zeichnen sich erstens
durch eine beträchtliche, durch eine anerkennenswerte
Lautstärke
({0})
und zweitens dadurch aus, dass - mit der Ausnahme von
Herrn Oswald - zu dem Thema, um das es heute geht,
fast nichts gesagt wurde.
({1})
Es geht um einen wichtigen Teil des 20-Punkte-Programms, das der Bundeskanzler vor knapp fünf Wochen
in diesem Hause vorgestellt hat.
({2})
Es geht um eine Verstärkung von Investitionen, um kurzfristig zusätzliche Wachstumsimpulse zu geben und um
Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Es geht
um 2 Milliarden Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur. Es geht um 27 Millionen Euro zur Fortsetzung
des Gebäudesanierungsprogramms. Es geht um die Mobilisierung von privatem Kapital; Stichwort ÖPP. Und es
geht um die Beschleunigung von Planungsverfahren.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16063
Das ist, Herr Kauder, ein ganz konkretes Maßnahmenpaket, das jetzt und sofort umgesetzt wird.
({3})
Es sind die richtigen Instrumente. Sie müssten nur lesen, was die Industriegewerkschaft BAU, was die Bauwirtschaft, was die Wohnungswirtschaft zu diesem Maßnahmenpaket veröffentlicht haben: volle Zustimmung.
({4})
Dass mehr Geld gefordert wird, ist, denke ich, üblich.
Herr Oswald, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sich eines einmal überlegen: Heute
werden zusätzliche Milliarden gefordert, und morgen
werden, was den Maastricht-Pakt und die 3-ProzentGrenze betrifft, die Brandreden gehalten. Sie müssen
sich langsam einmal überlegen, was Sie wollen. Immer
wenn es Ihnen passt, fordern Sie hier im Hause und in
den Fachbereichen mehr Milliarden ein, werfen uns am
nächsten Tag aber vor, dass wir die Maastricht-Kriterien
nicht einhalten.
({5})
Kollege Spanier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Weil Sie aus Nordrhein-Westfalen sind, besonders
gern.
Herr Kollege Spanier, dass wir dringend weitere umfangreiche Investitionsmittel für unsere Infrastruktur
brauchen, steht ja völlig außer Frage. Meine Frage ist:
Wie, glauben Sie, ist es um Ihre Glaubwürdigkeit bestellt, wenn wir feststellen müssen, dass der Investitionshaushalt im Bund - prozentual gesehen - so niedrig wie
noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist,
({0})
wenn wir feststellen müssen, dass überall dort, wo die
SPD und die Grünen regieren, die Investitionsquoten in
den Ländern am schlechtesten sind, und wenn wir feststellen müssen, dass in den Ländern, in denen Public Private Partnership schon geübt wird, die Quote dort, wo
Ihre Freunde die Verantwortung tragen, deutlich
schlechter ist als dort, wo CDU und FDP regieren?
Lieber Herr Schauerte, ich möchte Ihnen Folgendes
antworten:
Erstens. Die Investitionshöhe im Bundeshaushalt
ist, was den Verkehrsbereich betrifft, auf einem hohen
Niveau verstetigt worden und liegt deutlich über dem,
was die damalige Bundesregierung unter Kohl zuwege
gebracht hat.
({0})
Zweitens. Ich bin Ihnen als Nordrhein-Westfale sehr
dankbar, dass Sie auf die öffentlich-private Partnerschaft eingehen. Die Bauwirtschaft bestätigt uns, dass
der Durchbruch im Bereich des öffentlichen Hochbaus
gelungen ist. Ich kann Ihnen sagen: Gerade unser Land
Nordrhein-Westfalen hat hier eine Vorbildfunktion.
({1})
Dies ist ebenfalls in allen Verlautbarungen der Bauwirtschaft zu lesen.
Ich will Ihnen einmal die Zahlen nennen, die in diesem Zusammenhang von der deutschen Bauindustrie
veröffentlicht worden sind: Im Jahre 2003 betrug das
Gesamtvolumen immerhin 1,3 Milliarden Euro.
({2})
Da geht es um den Bau von Turnhallen und Schulen. Das
sind wichtige Maßnahmen im Bereich der öffentlichen
Infrastruktur.
({3})
Es befinden sich zudem Maßnahmen in Vorbereitung,
die ein Volumen von 1,5 und 2 Milliarden Euro haben.
Ich kann an Sie nur appellieren, dass Sie mithelfen, dafür
zu sorgen, dass auch in den unionsgeführten Ländern
dieser Weg endlich verstärkt beschritten und beschleunigt wird.
({4})
Das wäre wichtig. Es reicht nicht aus, die Maßnahmen
nur zu begrüßen.
Die Rede von Frau Merkel am 17. März hier im Deutschen Bundestag hat Ihre Haltung zu dieser Frage deutlich gemacht. Was hat sie denn zu Wachstumsimpulsen
und zur Infrastruktur gesagt? Man konnte nur ein paar
magere Sätze von ihr dazu hören. Sie hat das Gebäudesanierungsprogramm, die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und auch die Beschleunigung von Planungsverfahren nur nebenbei erwähnt. Sinngemäß hat
sie gesagt, sie habe irgendwo gehört, dass wir jetzt Bürokratie abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen
wollen. Das ist ja interessant, dass sie das irgendwo gehört hat. Dann hat sie uns aufgefordert: Machen Sie sich
an die Arbeit!
({5})
16064 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Ich gebe diese Aufforderung gerne an Sie zurück: Machen Sie sich an die Arbeit!
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die beiden Bestandteile unseres Pakets eingehen, die für mich als Bauund Wohnungspolitiker natürlich besonders interessant
sind.
Zum Gebäudesanierungsprogramm. Von 2001 bis
2004 sind 167 000 Wohnungen energetisch saniert worden. Dazu kamen 2 727 Energiesparhäuser. Das Programm läuft Ende 2005 aus. Der Erfolg für den Klimaschutz ist, dass 1,3 Millionen Tonnen CO2 vermieden
wurden. Ich denke, das ist ein ganz entscheidender
Schritt. Das ist eine Erfolgsgeschichte.
({6})
Deswegen ist die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte
so wichtig. Sie sagen zwar ebenfalls Ja. Aber mehr als
dieses dürftige Ja war von Frau Merkel nicht zu hören.
({7})
Dass diese 27 Millionen Euro Investitionen in Höhe von
5 Milliarden Euro auslösen und dass die Arbeitsplätze in
kleinen und mittleren Betrieben des Bauhandwerks, um
die es auch Ihnen geht, gesichert werden, ist sehr wichtig.
Ich möchte noch auf die drei neuen Förderprogramme der KfW ab 1. Januar 2005 hinweisen: „Wohnungen Modernisieren“, „Solarstrom Erzeugen“ und
„Ökologisch Bauen“. Diese Programme laufen ebenfalls
erfolgreich.
({8})
Das Gebäudesanierungsprogramm ist Teil einer Gesamtstrategie, die für uns Sozialdemokraten wichtig ist.
Dazu gehören die Förderung der energetischen Modernisierung insgesamt, der Einsatz erneuerbarer Energien
und die Energieeinsparverordnung; denn auf die Wärmedämmung im Gebäudebereich müssen wir sicherlich ein
besonderes Augenmerk richten. Wir sind also mit diesem Bündel von Maßnahmen auf dem richtigen Weg.
Dazu gehört auch unsere Initiative: kostengünstig,
qualitätsbewusst bauen. Dies ist ebenfalls ein wichtiger
Baustein in der Gesamtstrategie.
({9})
In der Beratung befinden sich das Energieeinsparungsgesetz und die Verordnung zum Energieausweis.
Ich habe die Reden von Ihrer Seite hier im Bundestag
verfolgt. Ich sehe, dass wir in der Zielsetzung übereinstimmen. Ich hoffe, dass Sie wirklich mit uns zusammen
diese Gesetze entwickeln und es nicht wie bei Frau
Merkel bei einem schlichten, einfachen Ja bleibt. Es ist
ja nett, dass sie die Vorschläge des Bundeskanzlers akzeptiert. Aber da muss in den kommenden Wochen von
Ihnen schon ein bisschen mehr aktive Mitarbeit und Mitwirkung kommen, damit wir das auf einen vernünftigen
Weg bringen.
Das Gebäudesanierungsprogramm als wichtiger
Bestandteil dieser Gesamtstrategie hat Bedeutung, weil
wir hiermit mehrere Ziele - Herr Loske hat es vorhin angedeutet - gleichzeitig erreichen. Wir tun etwas für den
Klimaschutz; unser Land hat sich im Allokationsplan
dazu verpflichtet. Wir tun etwas für mehr Energieeffizienz. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, um ein
Stück weit weg vom Öl zu kommen. Wir tun etwas, um
die Energiekosten zu senken bzw. die Erhöhung der
Energiekosten zu vermeiden.
({10})
- Herr Pinkwart, auch Sie wissen, dass das von anderen Faktoren abhängt. Bleiben Sie vorsichtig mit dem
Vorwurf „Witz“! Wir sollten alles tun, um mit Energiesparmaßnahmen und Energieeffizienzmaßnahmen die
Energiekosten im Rahmen zu halten. Das ist im Gebäudebereich von entscheidender Bedeutung. Wie sehr Ihnen die Mieterinnen und Mieter am Herzen liegen, wissen wir von den Diskussionen über das Mietrecht.
({11})
Das Gebäudesanierungsprogramm ist für Wohnungseigentümer bzw. für die Wohnungswirtschaft wichtig,
weil es um die Substanzerhaltung bestehender Gebäude geht. Nicht zuletzt nehmen wir hier besonders
arbeitsplatzintensive Investitionen vor. Das, denke
ich, ist von ganz entscheidender Bedeutung.
Wir wissen, dass sich die Bauwirtschaft seit 1995 in
einer Talfahrt befindet.
({12})
Sie war einmal die Konjunkturlokomotive. Heute geht es
teilweise in die entgegengesetzte Richtung. Wir haben
hier wichtige Aufgaben und wir tun mit unserem Maßnahmenpaket, über das wir heute diskutieren, eine ganze
Menge, um voranzukommen. Diesen Weg werden wir
Sozialdemokraten konsequent weitergehen.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. Dass die SPD und die
Grünen heute über Investitionen reden wollen, finde ich
gut. Allerdings möchte ich nicht mit Ihnen gemeinsam
über die fehlende Investitionsbereitschaft deutscher
Unternehmen jammern; denn diese Suppe haben Sie
sich von Rot-Grün selbst eingebrockt. Die Bundesregierung ist mit Steuersenkungen für die Unternehmen in
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16065
Vorleistung gegangen und hofft nun auf eine Gegenleistung durch die Unternehmen. Doch da haben Sie die
Rechnung ohne den Wirt gemacht. Viele Manager haben
die Steuersenkungen als Geschenk und nicht als Verpflichtung zur Schaffung von Arbeitsplätzen betrachtet.
Lassen Sie uns über öffentliche Investitionen reden.
Die öffentliche Hand ist immer noch der größte Investor
in unserem Land, auch wenn die öffentlichen Investitionen von Jahr zu Jahr sinken. In der Europäischen Union
ist die Bundesrepublik Deutschland das Schlusslicht,
wenn es um öffentliche Investitionen geht. Die öffentliche Investitionsquote beträgt im Durchschnitt der Europäischen Union 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In Deutschland liegt sie nur bei 1,4 Prozent. Das ist
deutlich zu niedrig.
Wer sich in der Politik, insbesondere in Krisenzeiten,
nur auf private Investitionen verlässt, ist verlassen. Die
geringen öffentlichen Investitionen sind ein Grund für
die hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land. Bundesminister Stolpe hat gestern erklärt und heute wiederholt,
dass er bis zum Jahre 2008 2 Milliarden Euro in den
Ausbau der Schienenwege, Fernstraßen und Wasserwege
investieren und damit 60 000 Arbeitsplätze sichern will.
({0})
- Ja, zusätzlich. Wunderbar, ich lobe ihn doch gerade.
Das haben Sie noch gar nicht bemerkt. Das kann ich
gerne noch einmal unterstreichen. - Mit Investitionen
von rund 33 000 Euro sichern Sie einen Arbeitsplatz.
Das ist ein sehr gutes Verhältnis, Herr Stolpe, auf das ich
gleich zurückkommen werde.
Der Genosse Müntefering schimpfte in den letzten
Tagen viel über skrupellose Manager, die den Staat und
die Demokratie gefährden. Den Worten könnte man
zwar zustimmen; doch wenn ich mir die konkrete Politik
nur in dieser Woche anschaue, kommen Zweifel an der
Redlichkeit dieser Worte auf. Gestern hat zum Beispiel
der Haushaltsausschuss mit der Mehrheit von SPD und
Grünen sowie mit tätiger Unterstützung der CDU/CSU
ein neues Luftabwehrsystem für die Bundeswehr beschlossen, Kostenpunkt circa 2,85 Milliarden Euro. Der
Rechnungshof geht davon aus, dass die Kosten auf mehr
als 6 Milliarden Euro steigen werden. Noch schlimmer
ist, dass dieses Luftabwehrsystem völlig überflüssig ist.
Die Bundeswehr hat den Fall der Mauer offenbar noch
nicht verinnerlicht. Die Generäle wollen in ein System
investieren, das nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes nicht mehr gebraucht wird.
Es ist auch klar, dass diese beachtlichen öffentlichen
Investitionen kaum Arbeitsplätze schaffen werden. Mit
diesem Luftabwehrsystem sollen 450 Arbeitsplätze gesichert werden. Die Bundesregierung ist also bereit, knapp
3 Milliarden Euro in ein zweifelhaftes militärisches Projekt zu stecken, um 450 Arbeitsplätze zu sichern. Das
heißt, Sie geben pro gesicherten Arbeitsplatz rund
7 Millionen Euro aus. Das ist absurd, wenn man die nur
33 000 Euro sieht, die benötigt werden, um einen Arbeitsplatz in der Verkehrsinfrastruktur zu sichern. An der
Stelle kann ich nur sagen: mehr Stolpe, weniger Struck!
({1})
- An der Stelle!
({2})
Es ist auch belegt, dass diese öffentlichen Investitionen in die Rüstung keinen Beitrag zur Entwicklung von
Spitzentechnologien leisten werden. Bekanntlich wollen
sich die amerikanischen Partner nicht in die technologischen Karten schauen lassen; der Vertrag wird nach amerikanischem Recht abgeschlossen. Trotzdem wird die
Bundesregierung viel Geld in ein unsinniges Rüstungsprojekt stecken, weil sie sich vom EADS-Konzern hat
unter Druck setzen lassen.
Wir als PDS sind dafür, dass der Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt steigt, und
zwar erstens zur Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere in strukturschwachen Regionen, und zweitens
zur Entwicklung moderner ziviler Technologien.
Das Beispiel des Luftabwehrsystems MEADS macht
deutlich, dass SPD und Grüne nicht die Kraft aufbringen, sich unsinnigen Projekten zu widersetzen. Sie beklagen lieber mit lauten Worten die Macht des Kapitals.
Das ist aber zu wenig. Sie können etwas dagegen tun Sie sollten es auch!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Bürsch,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Unser Thema heute ist, neue Impulse für Wachstum und
Beschäftigung zu finden. Offenkundig kann man die Debatte auf zweierlei Weise führen, entweder mit Schlagworten oder mit sachlicher Information. Als Norddeutscher neige ich zu der zweiten Methode. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, über einen Baustein aus dem Gesamtpaket, der heute schon mehrfach angesprochen worden ist, etwas genauer zu informieren, nämlich über die
öffentlich-privaten Partnerschaften.
Ich sage an dieser Stelle schon einmal ganz deutlich:
Ich werbe sehr für den deutschen Begriff und nicht für
den englischen/amerikanischen Begriff PPP;
({0})
denn dieser ist für viele Bürgermeister, Mandatsträger
und andere, die mit diesem Verfahren adressiert werden,
eher abschreckend; manche halten das für Beratergeklüngel. Es ist aber ein sehr konkretes und Erfolg versprechendes Verfahren. Deshalb können Sie vielleicht
dazu beitragen, dass wir das „öffentlich-private Partnerschaften“ nennen.
Ich möchte dreierlei vermitteln: erstens die Ausgangslage insbesondere bei den kommunalen Investitionen,
zweitens, welche Potenziale in diesen öffentlich-privaten
Partnerschaften stecken, und drittens - vor allem dies
muss einmal deutlich gemacht werden -, was zu diesem
Thema bereits im letzten halben Jahr geschehen ist. Das
16066 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
ist auch die Antwort an Herrn Kauder. Die Wahrheit ist
konkret, Herr Kauder: Wir haben ein halbes Jahr lang
verdammt hart gearbeitet, und zwar nach dem Grundsatz
„Gründlichkeit plus Schnelligkeit“. Das ist durchaus vorzeigenswert.
Die Ausgangslage bei den kommunalen Investitionen
sieht folgendermaßen aus: Allein der kommunale Investitionsbedarf - wohlgemerkt, das betrifft nicht den
Bundeshaushalt - wird für dieses Jahrzehnt von Experten wie dem deutschen Institut für Urbanistik auf rund
700 Milliarden Euro geschätzt. Allein im Schulbaubereich sprechen wir von rund 70 Milliarden Euro. Trotz
dieses Befundes sind die kommunalen Investitionen im
letzten Jahrzehnt von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Die
so genannte Sachinvestitionsquote sank von rund
18 Prozent bzw. 29 Milliarden Euro im Jahr 1995 auf
rund 14 Prozent bzw. 21 Milliarden Euro im Jahr 2004.
Die Folge dieser Entwicklung: Sanierungsbedarf und Infrastrukturlücke sind in dieser Zeit immer größer geworden, und zwar zum Nachteil von Wirtschaft und Gesellschaft.
Andere Länder haben daraus schon Konsequenzen
gezogen, unter anderem England: Als Folge der falschen
Thatcher-Politik, alles zu privatisieren, haben Wirtschaft
und Politik dort gemeinsam einen Weg gefunden, indem
sie die Bedeutung von öffentlich-privaten Partnerschaften für die öffentliche Investitionstätigkeit und Konjunkturpolitik entdeckt haben.
Während in Deutschland, wie bereits dargestellt, die
Sachinvestitionen enorm zurückgingen, nahmen sie in
Großbritannien im selben Zeitraum um 36 Prozent zu.
Erfahrungen aus anderen EU-Ländern, die auch den Weg
öffentlich-privater Partnerschaften eingeschlagen haben, sind ähnlich eindrucksvoll. In Spanien war ein Anstieg der Sachinvestitionen um 35 Prozent zu verzeichnen, in den Niederlanden um 30 Prozent, in Irland um
41 Prozent, in Italien um 24 Prozent und in Griechenland um 19 Prozent.
Auch in Deutschland wurde in Bezug auf öffentlichprivate Partnerschaften im vergangenen Jahr ein erster
Durchbruch erzielt. Projekte mit einem Bauvolumen in
einer Größenordnung von 0,5 Milliarden Euro und einem Projektvolumen von insgesamt 1,5 Milliarden Euro
wurden schon vertraglich vereinbart.
Worin liegen die Chancen für öffentlich-private Partnerschaften? Ich appelliere dringend an Sie, nicht nur an
den Hoch- und Tiefbau, nicht nur an Beton zu denken.
Es ist ein weites Feld: Sanierung von Schulen und Universitäten, Justizvollzugsanstalten, Krankenhäusern und
Pflegeeinrichtungen, Ausbau von Telekommunikation,
Energie- und Wasserversorgung, Abwasseraufbereitung - es gibt viele Möglichkeiten!
Insbesondere in Deutschland ist es notwendig, den
Lebenszyklus-Gedanken zu entdecken: Zurzeit denken
wir in diesem Zusammenhang fast ausschließlich daran,
eine Investition mit privatem Kapital zu ermöglichen.
Wie die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, geht
es aber um viel mehr, nämlich darum, zum Beispiel ein
Gefängnis nicht nur mit privatem Kapital bauen zu lassen, sondern auch, es privat zu betreiben. In Deutschland
gibt es bereits zwei erste Beispiele, die in diese Richtung
weisen. Es bleibt zu hoffen, dass weitere folgen. Wir
können dafür die vorhandenen Möglichkeiten nutzen.
Was haben wir in der SPD-Fraktion gemacht, um dieses Thema voranzubringen?
({1})
Das Verfahren ist sicherlich eindrucksvoll. Viele werden
noch nichts davon gehört haben. Wir haben seit einem
halben Jahr über 60 Berater an unserer Seite, die sich
freiwillig und unentgeltlich einbringen. Ich behaupte,
das ist der geballte Sachverstand, den es in Deutschland
und darüber hinaus zu diesem Thema gibt. Das bringt
viel mehr, als eine Anhörung leisten kann. Die Berater
- aus der Bauindustrie bis zum Juristen - sitzen jede
Woche bei uns und bringen ihren Sachverstand ein. Auf
der anderen Seite sitzen die Vertreter der Ministerien.
Wir diskutieren das Thema in einer Ausführlichkeit und
Gründlichkeit, die in dem üblichen Gesetzgebungsverfahren sicherlich nicht möglich sind, und kommen dann
zu konkreten Ergebnissen.
Ich will nur einige der 30 Ergebnisse - 30 konkrete
gesetzliche Verbesserungsvorschläge! - nennen, die wir
im Mai vorlegen können, um zu zeigen, welche Richtung wir verfolgen.
Zum Gebührenrecht: Bisher gibt es, wenn zum Beispiel ein Tunnel mit privatem Kapital gebaut wird, nur
die Möglichkeit, dass sich der private Betreiber die Nutzung mit einer öffentlichen Gebühr, einer Maut, vergüten lässt. Wir öffnen den Weg dafür, dass er auch ein privates Entgelt erheben kann,
({2})
mit der damit einhergehenden Flexibilität. Diese Öffnung wird von der FDP und der CDU/CSU begrüßt. Ich
schließe mich dem an, was Herr Brandner bereits getan
hat: Ich lade Sie herzlich ein, in unser Boot zu kommen.
Auch für Sie ist da noch Platz. Wir können das gerne zusammen machen.
({3})
- Sie können die Ergebnisse bei uns abrufen. Ich nenne
Ihnen nur wenige Beispiele, um die Richtung zu zeigen.
Zum Vergaberecht: Wir werden das Verhandlungsverfahren ausgestalten und den so genannten wettbewerblichen Dialog, den uns die EU angedient hat, in
deutscher Weise umsetzen.
Wir werden im Haushaltsrecht dafür werben, dass es
in der Bundeshaushaltsordnung zu einer Änderung des
Veräußerungsverbots kommt. In der Bundeshaushaltsordnung herrscht immer noch der Gedanke vor, dass der
Staat Infrastruktureinrichtungen dann am wirtschaftlichsten nutzt, wenn er selbst Eigentümer ist. Wir halten
das aber nicht mehr für zeitgemäß und wollen es ändern.
Öffentlich-private Partnerschaften stellen nämlich einen
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16067
Weg dar, um zum Beispiel eine Liegenschaft oder Infrastrukturmaßnahme für den gesamten Lebenszyklus in
private Hand zu geben.
({4})
Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen. Ich
lade Sie ein, diese bei mir abzurufen.
Abschließend stelle ich mit Konfuzius fest: Es ist besser, hier und da ein Licht anzuzünden, als auf die Dunkelheit zu schimpfen.
({5})
Ich lade Sie ein: Zünden Sie die Lichter mit an!
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Klaus Lippold,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welches ist der
Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte? Was muss
man berücksichtigen? Kernpunkt ist, dass wir eine eklatant schlechte wirtschaftliche Situation haben. Ausgangspunkt ist, dass wir selten eine so schlechte Arbeitsmarktsituation hatten, um nicht zu sagen: So miserabel
war es noch nie. Wir werden an diesen Punkten prüfen,
ob das vorgelegte Progrämmchen den Ansprüchen, die
wir an einen wirklichen Impuls für mehr Wachstum und
Beschäftigung stellen müssen, auch nur annähernd gerecht wird.
Der Sachverhalt ist - das gehört zur Analyse -: Wir
haben im Moment ein ausgesprochen negatives Investitionsklima. Auch das Ausland investiert bei uns deutlich weniger, als das noch im vergangenen Jahr der Fall
war. Alleine die Investitionen aus den USA sind in einem Jahr um 4 Milliarden Euro gesunken. Die Konsumbereitschaft ist völlig am Boden. Was das Schlimmste
ist: Sie tun eigentlich alles, um die Position, die erforderlich wäre, noch zu verschlechtern. Die ausländische
Wirtschaft achtet auf Flexibilität. Aber Sie antworten mit
einem Antidiskriminierungsgesetz. Was das für die Unternehmen bedeutet, überschaut heute noch niemand. Es
trägt auf jeden Fall nicht dazu bei, die Investitionsbereitschaft zu heben. Nehmen Sie Abstand von solchen unmöglichen Positionen!
({0})
Nachdem Sie noch kürzlich, am 14. April dieses Jahres, im Ausschuss unsere Vorschläge zur Beschleunigung des Planungsrechts abgelehnt haben, habe ich nun
mit großer Freude vernommen, dass Sie sich nun doch
auf den Weg begeben wollen. Aber ich muss angesichts
der heutigen Diskussion feststellen: Der Wein, den Herr
Stolpe hinhält, wird von Herrn Loske gleich kräftig mit
Wasser verdünnt. Denn Herr Loske sagt: So wie Herr
Stolpe das will, geht es nicht. Das heißt, hier wird wie
üblich ein Wischiwaschi herauskommen, das uns in keiner Weise weiterhilft. Es wird nicht Stolpe und auch
nicht Loske sein. Es wird auch der Wirtschaft nicht helfen; das ist das Entscheidende. Ob es Herrn Stolpe oder
Herrn Loske hilft, ist mir völlig egal. Aber der Wirtschaft sollte es helfen. Das tut es im Endeffekt nicht.
({1})
Herr Minister, ich will das mit den Worten Ihres ehemaligen Staatssekretärs Hilsberg skizzieren:
Der Vorteil aus dem ostdeutschen Recht für die Realisierung von Straßenbauvorhaben geht zu großen
Teilen verloren.
Das heißt also, schon Ihre Umsetzung ist nicht optimal.
Das, was ich gerade gesagt habe, setzt noch einen drauf.
Die Situation ist also miserabel.
Vor diesem Hintergrund ist der Antrag von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen „Investitionskräfte stärken Neue Impulse für Wachstum und Beschäftigung“ zu bewerten. Wie sehen die Impulse für Wachstum und Beschäftigung aus? Man muss es noch einmal sehr deutlich
sagen: Sie haben das Investitionsniveau drastisch gesenkt. Wenn Sie hinterher wieder etwas draufsatteln, erreichen Sie noch nicht einmal das vorherige Investitionsniveau. Welche Impulse sollen davon ausgehen, Herr
Minister Stolpe?
({2})
Sie haben sich von Herrn Eichel ohne erkennbaren Widerstand rasieren lassen. Die deutsche Infrastruktur muss
dafür büßen; denn zurzeit haben wir noch nicht einmal
Bestandserhaltung. Von Aus- und Neubau wollen wir
gar nicht reden. Vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung kann man nur sagen: Das ist ein glattes Versagen
der Bundesregierung. Das kann man nicht anders bewerten.
({3})
Sie verfahren nun nach bewährter Manier und legen
ein 2-Milliarden-Euro-Programm für Verkehrsinvestitionen auf. Das klingt nach Schröder und das ist auch
Schröder; denn tatsächlich werden nur 500 Millionen
Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. Die Bundesdeutschen sind aber der Meinung - ich habe etliche gefragt;
einige kannten den Namen des Programms bereits -,
dass nun 2 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt werden. Das ist der entscheidende Punkt: Zuerst
senken Sie ab und dann heben Sie an.
({4})
Außerdem haben Sie das bislang noch nicht einmal im
Haushalt verankert, Herr Stolpe. Ich garantiere Ihnen:
Herr Eichel wird, wenn die geringen Steuereinnahmen
kommen, die wegen des total in den Keller gefahrenen
Wachstums zu erwarten sind, dafür sorgen, dass noch
einmal zulasten Ihres Haushalts saniert wird. Also: runter, hoch, runter!
16068 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Dr. Klaus W. Lippold ({5})
Vor diesem Hintergrund wird sich natürlich keine Investitionssicherheit in der Bundesrepublik Deutschland
einstellen. Herr Schmidt, hier muss man ausnahmsweise
sogar einmal Herrn Mehdorn Recht geben; denn angesichts der Tatsache, dass hier laufend andere Zahlen genannt werden, kann es keinen Planungshorizont geben.
Über alle anderen Positionen können wir ruhig streiten.
Aber in diesem Fall ist das sicherlich so.
Wir haben also eine Situation, in der Investitionen
nicht die geringsten Impulse für zusätzliches Wachstum
und zusätzliche Beschäftigung geben. Vor dem Hintergrund dessen, was sich in der Bauindustrie abspielt, ist
das ein enormes Manko.
Nebenbei bemerkt, Herr Stolpe: Sie behaupten,
500 Millionen Euro sicherten 60 000 Arbeitsplätze. Das
ist überzogen. Experten sagen, 500 Millionen Euro sicherten maximal 10 000 Arbeitsplätze. Das heißt, auch
hier rechnen Sie schön. Angesichts dessen, dass Sie alles
beschönigen und den Ernst der Situation nicht begreifen,
muss das Ganze negativ bewertet werden. Auf diese Art
und Weise kommen wir nicht nach vorne. Das wird nicht
dem gerecht, was wir brauchen.
Was die Gebäudesanierung angeht, werden wir prüfen müssen, ob wir über den KfW-Weg hinaus weitere
Förderwege beschreiten müssen. Meine Fraktion berät
darüber gerade abschließend. Ich bin der Meinung, dass
wir weitere Förderwege brauchen, weil die KfW-Finanzierung nicht ausreicht, um hier die nötigen Impulse zu
setzen. Wir werden das Nötige auf den Weg bringen. Wir
fordern die Grünen auf, uns dabei zu begleiten. Das Programm der Grünen enthält nämlich die entsprechenden
Punkte; in der Regierungsarbeit haben sie sie aber noch
nicht umgesetzt. Auch hier gibt es bislang keine Schubkraft.
({6})
In Bezug auf die öffentlich-private Partnerschaft
werden wir Sie daran messen, ob Ihre dann vorgelegten
Entwürfe unseren dann vorgelegten Papieren, die wir als
Messlatte nehmen, entsprechen. Ich sichere Ihnen dabei
eine konstruktive Zusammenarbeit zu, und zwar ganz
einfach deswegen, weil wir nicht alles, was von Ihrer
Seite kommt, blindlings ablehnen. Ich wiederhole, was
meine Parteichefin gesagt hat: Wir sind zu konstruktiver
Mitarbeit jederzeit gern bereit;
({7})
aber es muss dann auch in eine wirklich konstruktive Arbeit einmünden.
Deshalb frage ich mich, ob die Bedenken von Herrn
Loske, das dürfe aber nicht in eine völlige Privatisierung
entarten - sie werden schon jetzt ganz leicht thematisiert -,
ein schlechtes Omen für die Arbeit sind, an die wir herangehen wollen.
({8})
Wir müssen das vorurteilsfrei sehen. Wir müssen die
Vor- und die Nachteile gegeneinander abwägen. Aber im
Vorhinein den Teufel an die Wand zu malen ist an und
für sich kein gutes Signal.
Lassen Sie mich noch eines freimütig hinzufügen.
Wenn ich die Maut und den Transrapid als erste Beispiele für Projekte öffentlich-privater Partnerschaft
nehme,
({9})
dann muss man sagen: Sie haben das in einer Art und
Weise in den Keller gefahren, wie es schlimmer gar nicht
geht.
({10})
Das Schlimmste ist, dass Sie den Leuten vorgegaukelt
haben, Sie investierten die Mehreinnahmen aus der Maut
nutzerorientiert, also in Straße und Schiene. Sie haben
sich nicht vor einem Gesetzesbruch gescheut und Sie haben sich nicht gescheut, die Bund/Länder-Vereinbarung
zu brechen. Die Mauteinnahmen sind im eichelschen
Haushaltsloch verschwunden.
Beim Nachdenken über Nutzerfinanzierung werden
die Leute sehr wohl fragen, Herr Minister: Wohin verschwinden diese Gelder diesmal? Das heißt, Sie haben
Glaubwürdigkeit verspielt. Das ist in dieser Frage viel
entscheidender als manches andere. Die Leute werden
Ihnen nicht mehr glauben, wenn Sie ihnen Ihre neuen
Vorstellungen präsentieren. An diesem Punkt sollten Sie
jetzt wirklich einmal etwas tun, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen; sonst kommen wir nicht weiter.
Im Übrigen gebe ich meinem Vorredner Recht: Wir
können das eine oder andere auch auf der kommunalen
Ebene bewegen. Ich sage das, weil Sie wie wir kommunal engagiert sind. Ich glaube nicht, dass es einen Landkreis gibt, in dem im Rahmen von öffentlich-privater
Partnerschaft mehr als im Landkreis Offenbach mit dem
Landrat Walter gemacht wird.
({11})
Ich lade Sie dorthin gern ein. Sie können sich vor Ort die
Praxis anschauen. Außerdem können Sie sich beim
Kompetenzzentrum Hessen gern Ratschläge holen, was
öffentlich-private Partnerschaft angeht. Ich bin zu konstruktiver Arbeit jederzeit bereit.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Uwe Beckmeyer, SPDFraktion.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16069
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben mittlerweile viele Reden der Opposition
gehört. Man fragt sich: Was ist das für eine Opposition? - Sie ist rückwärts gewandt, krämerisch und sie arbeitet mit Methoden, die in ihrer Plumpheit eigentlich
kaum noch zu überbieten sind.
({0})
- Wie ich schon sagte, sind diese Methoden in ihrer
Plumpheit eigentlich kaum noch zu überbieten.
Frau Merkel und ihre Gefolgsleute gehen stets nach
folgenden Regeln vor: Erste Regel: Es ist immer zu wenig. Zweite Regel: Es geht nicht weit genug.
({1})
Dritte Regel: Es geht nicht schnell genug. Vierte Regel:
Es ist zu kurz gesprungen.
({2})
Fünfte Regel: Es wird zu wenig Geld ausgegeben - oder
zu viel; je nachdem, wer gerade spricht.
({3})
Sechste Regel: Es ist die falsche Richtung; denn es ist
grundsätzlich falsch, was von Rot-Grün kommt.
({4})
Wer nach dieser Methode Regierungshandeln kritisieren
will, der taugt für das Regieren überhaupt nicht.
({5})
Wir haben ein Programm aufgestellt, das mit über
2 Milliarden Euro nur für die Verkehrsinfrastruktur in
Deutschland bewusst gegensteuert, aktuell gegensteuert.
({6})
Ein Programmteil ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das Wolfgang Spanier hier sehr klar erklärt hat.
Das ist als zweiter wichtiger Punkt heute auf der Tagesordnung. Wir arbeiten die 20 Vorschläge der Regierung
Punkt für Punkt ab. Und was kommt von Ihnen? Mäkelei. Es heißt: Wir machen nicht mit. Das ist uns - wie gesagt - zu wenig. - Das kann doch eigentlich nicht Ihre
Antwort sein. Das kann uns in Deutschland nicht voranbringen.
Die Bevölkerung draußen schaut sehr genau hin.
({7})
Sie schaut, was da tatsächlich passiert.
({8})
Hier passiert etwas. Aktuell werden Projekte mit einem
Volumen von 2 Milliarden Euro angeschoben.
({9})
Der Kollege Schmidt hat an diesem Pult vorhin deutlich gemacht - ich tue das für die Sozialdemokraten -:
Wir haben mit Koch/Steinbrück einen Weg beschritten,
der für die Verkehrspolitik nicht gut war. Wir korrigieren
diesen Weg; Sie nicht.
({10})
Sie bleiben da sitzen und sagen einfach: Es war so und
es geht so weiter. Sie beklagen, dass für die Verkehrspolitik zu wenig ausgegeben wird. Gehen Sie doch mit uns
diesen Weg! Unterstützen Sie uns dabei, wenn wir in den
vor uns liegenden Jahren in Deutschland 2 Milliarden
Euro zusätzlich ausgeben!
({11})
Wie sieht es draußen aus? Die Bauindustrie sagt: Das
ist das Richtige. Was sagen Sie? - Die Systemindustrie,
Bereich Schiene, sagt: Das ist der richtige Weg. Was sagen Sie? - Die Länder und Gemeinden sagen: Jawohl,
das ist die richtige Richtung. Was kommt von Ihnen?
({12})
Gar nichts.
Was die Verkehrspolitik der Christlich Demokratischen Union angeht - von der FDP, die Programme aus
dem letzten Jahrhundert abschreibt, will ich gar nicht reden -,
({13})
bin ich wirklich der Überzeugung: Sie sind nicht in der
Lage, hier etwas Ordentliches zu artikulieren. Sie agieren taktisch und sind im Grunde nicht in der Lage,
Deutschland positiv zu orientieren in der Frage, was wir
für Wachstum und Beschäftigung tatsächlich brauchen.
Wir können Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik am
effektivsten betreiben, indem wir jetzt wirklich etwas für
unsere Verkehrsinfrastruktur tun. Wir sind, glaube ich,
auf dem richtigen Weg.
(Lachen des Abg. Dr. Andreas Pinkwart ({14})
Weshalb sind wir auf dem richtigen Weg? Weil wir im
Herzen Europas, in einem der größten und wichtigsten
Staaten dieses Kontinents, für die Verkehrsinfrastruktur
jetzt Impulse geben müssen. Das tun wir. Mobilität ist
16070 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
wichtig, nicht nur für die Wirtschaft. Sie ist wichtig für
die Menschen. Sie ist wichtig für die Ökonomie. Sie ist
wichtig für den Export. Sie ist wichtig für unser Land.
Deshalb muss man jetzt konkret deutlich machen, wo
überall etwas passiert.
({15})
Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie in Ihren Reden in der heutigen Auseinandersetzung nicht einmal sagen würden: Jawohl, Minister Stolpe, was Sie vorschlagen, ist vernünftig. - Kein einziges Wort von Ihnen
dazu! Zu keinem der Projekte, weder zum CO2-Gebäudesanierungsprogramm noch zu den anderen vorgeschlagenen Maßnahmen, ein positives Wort! Sie sitzen dort
und sagen: zu wenig, zu viel; hin und her. Es ist reine
Mäkelei. Daran erkennt man im Grunde auch Ihre generelle Taktik. Sie haben gar kein Interesse daran, dass es
mit Deutschland vorangeht.
({16})
Sie möchten Deutschland eigentlich da lassen, wo es ist.
Die Leute draußen sagen Ihnen ins Gesicht: Ihr von der
CDU/CSU macht eine falsche Politik.
Ich schaue mir das in der Region an. Nachdem ich
gestern bei mir zu Hause gesagt habe: „Liebe Freunde,
der Stolpe macht das Projekt B 74 jetzt mit“,
({17})
sagt die CDU vor Ort: Das haben wir schon immer gewollt. - Richtig. Was passiert im Bundestag? Kein einziges Wort dazu! Sie sagen einfach: zu wenig.
Warum ist das eigentlich so? Gibt es bei Ihnen gar
keinen Menschen mehr, der in der Verkehrspolitik einmal konstruktiv mitwirkt,
({18})
der sich einbringt, der sich in dieser Frage an unsere
Seite stellt und sagt: „Jawohl, wir sind bereit, in der Verantwortung für dieses Land mit den Sozialdemokraten
ein solches Infrastrukturprojekt mitzumachen“? Warum
machen Sie das nicht?
({19})
Ich habe von Ihnen heute kein Wort hierzu gehört.
({20})
Nun habe ich allerdings festgestellt: Herr Kollege
Fischer, Ihr verkehrspolitischer Sprecher, ist gar nicht
hier. Woran liegt das eigentlich? Haben Sie ihn heute zu
Hause gelassen oder durfte er nicht sprechen? Das ist eigentlich schade; ich hätte von ihm gern etwas zu diesem
Thema gehört.
({21})
- Was wir von Herrn Kauder gehört haben, war ja auch
nicht gerade das Allerbeste.
({22})
Es wird immer gesagt, die Investitionen hätten
zwangsläufig zurückgehen müssen, weil Koch/
Steinbrück uns einiges genommen hat. Ich glaube, die
Zahlen während Ihrer Regierungszeit haben Sie aber
völlig ausgeblendet.
({23})
Wenn man sich diese noch einmal angeschaut hätte,
würde man es gar nicht wagen, solche Reden zu halten;
denn was damals nicht passiert ist, haben wir in der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün erst einmal nachholen müssen, um Deutschland überhaupt in die Lage zu
versetzen, ausreichend Mobilität zur Verfügung zu stellen.
({24})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will zum
Schluss kommen. Wenn gestern in der Zeitung stand:
„Wir sind Papst“, müsste morgen zumindest in der
Zeitung stehen: „Stolpe schafft Arbeit“, nämlich
120 000 Arbeitsplätze.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({25})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5340,
15/5322, 15/5325, 15/5338 und 15/5339 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble,
Christian Schmidt ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Die NATO auf die neuen Gefahren ausrichten
- Drucksachen 15/44, 15/324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Meckel
Dr. Andreas Schockenhoff
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16071
Präsident Wolfgang Thierse
Dr. Ludger Volmer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble,
Christian Schmidt ({2}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft würdigen, sich zur NATO bekennen und sie stärken
- Drucksache 15/5323 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa verdankt der NATO sehr viel. Aber niemand
verdankt der NATO mehr als wir Deutschen. Mit dem
NATO-Beitritt am 6. Mai 1955 erhielt die Bundesrepublik Deutschland zugleich ihre Freiheit und ihre Souveränität zurück. Nach Weltkrieg und Holocaust waren wir
wieder ein geachtetes Mitglied der Völkerfamilie.
Bündnissolidarität, militärische Abschreckung und
der amerikanische Nuklearschirm, das alles bewahrte
Deutschland und das freie Berlin über Jahrzehnte vor der
Expansion des sowjetischen Kommunismus. Die NATO
verband militärische Stärke mit Dialogbereitschaft und
Entspannungspolitik. Diese politisch-militärische Doppelstrategie trug wesentlich dazu bei, die Teilung Berlins
und Deutschlands zu überwinden.
({0})
Und schließlich: Sechs Jahrzehnte haben wir Deutschen
jetzt Frieden mit unseren Nachbarn - für viele selbstverständlich, aber doch einmalig in der deutschen Geschichte. Wir verdanken den Frieden über 60 Jahre in
Europa zu einem großen Teil der atlantischen Allianz.
({1})
Eigentlich wäre die 50-jährige Mitgliedschaft ein
Anlass zur Feier und zur Würdigung. Stattdessen gibt es
weder im Auswärtigen Amt noch im Kanzleramt noch in
der Brüsseler NATO-Vertretung irgendeine Art von Veranstaltung, die dieses wichtige Ereignis in unserer Geschichte würdigt. Ich muss sagen, das ist wirklich verwunderlich. Es ist auch verwunderlich, Herr
Bundesminister, dass es niemand aus der Reihe der Bundesminister für nötig hält, in dieser Debatte, die CDU
und CSU beantragt und durchgesetzt haben, das Wort zu
ergreifen.
({2})
Sie halten im Auswärtigen Amt Veranstaltungen ab
anlässlich des 100. Jahrestages der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Äthiopien. Sie feiern im Auswärtigen Amt alle möglichen Anlässe, die
meisten auch völlig zu Recht. Sie führen Podiumsdiskussionen durch, zum Beispiel vor kurzem zum Thema
„Frauen und Gesundheit im heutigen Jordanien“. Aber
zum Thema „50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft“
gibt es nicht einmal eine Ausstellung im Auswärtigen
Amt. Das zeigt, wie Sie die Bedeutung des atlantischen
Bündnisses für die Bundesrepublik Deutschland einschätzen.
({3})
Am 3. Juli dieses Jahres wird im Lichthof des Auswärtigen Amtes eine Ausstellung „50 Jahre Übereinkommen
zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten“
durchgeführt. Das ist Ihnen eine öffentlichkeitswirksame
Aktion wert, 50 Jahre NATO nicht. Das, meine Damen
und Herren, ist ein Skandal. Das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Deshalb haben wir heute diesen Antrag gestellt, um wenigstens im Deutschen Bundestag die
NATO zu würdigen.
({4})
Vielleicht liegt ja diese Missachtung des historischen
Datums daran, dass Sie oder jedenfalls ein großer Teil
von Ihnen trotz aller anders lautenden Bekenntnisse mit
der NATO doch nicht ganz warm geworden sind.
({5})
Westbindung und Wiederbewaffnung hat Konrad
Adenauer gegen die Sozialdemokraten durchgesetzt.
Herr Adenauer ist dafür von der SPD als Kanzler der
Alliierten beschimpft worden. Wir müssen festhalten,
dass die NATO in der Tat gegen große Widerstände
durchgesetzt werden musste. Es hat bis 1960 gedauert,
bis Herbert Wehner hier im Deutschen Bundestag ein
Bekenntnis zur Wiederbewaffnung und zur NATO abgelegt hat.
({6})
Der NATO-Doppelbeschluss war neben der Ostpolitik von Willy Brandt ganz entscheidend dafür, die Teilung Europas und Deutschlands zu überwinden. Der
NATO-Doppelbeschluss ist ebenfalls gegen den Widerstand aus den Reihen von SPD und Grünen sowie großer
Teile der Bevölkerung durchgesetzt worden. Ich bin froh
und dankbar, dass Helmut Kohl das damals mit der
CDU/CSU gemacht hat, denn dieser Doppelbeschluss ist
in der Tat das Signal dafür gewesen, dass der Warschauer Pakt und der Sowjetkommunismus keine
Chance mehr hatten, im Kalten Krieg ihre Positionen
durchzusetzen.
({7})
Auch die Öffnung des Bündnisses - das ist heute fast
vergessen - nach Osten ist auf erheblichen Widerstand
gestoßen. Ich habe vor dieser Debatte eine Bundestagsdebatte aus dem Februar 1998 nachgelesen, wo der
16072 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Kollege Ludger Volmer, der in diesen Stunden heute an
anderer Stelle tätig ist,
({8})
gesagt hat, die NATO-Osterweiterung sei die Ostverschiebung der Militärmaschinerie der NATO und stelle
eine antirussische Allianz dar. Meine Damen und Herren, auch die Osterweiterung, die Öffnung für die Länder
Mittel- und Osteuropas, ist gegen Ihren Widerstand
durchgesetzt worden. Auch das gehört zur historischen
Wahrheit dazu.
({9})
- Es ist in der Tat unrichtig, was Sie angeht, Herr Kollege Meckel. Das ist richtig. Sie waren immer dafür.
Aber Sie wissen auch, was viele Kollegen aus Ihrer
Fraktion und vor allen Dingen große Teile der Grünen
gesagt haben. Deshalb ist mein Vorwurf insgesamt kein
Quatsch, sondern die Wahrheit.
Meine Damen und Herren, vielleicht ist es auch kein
Zufall, dass die Rede des Bundeskanzlers auf der
Münchner Sicherheitskonferenz, die Herr Struck vorlesen musste, weil der Bundeskanzler erkrankt war, eigentlich überall im Ausland den Eindruck vermittelt hat,
die Deutschen nehmen es mit der NATO nicht mehr ganz
so ernst. Die zentrale Bedeutung der Allianz ist jedenfalls in den letzten Jahren nicht gepflegt worden. Wir haben erlebt, dass anlässlich des Außenministertreffens in
Vilnius, das derzeit stattfindet, der Generalsekretär der
NATO - ich kann mich an einen vergleichbaren Vorfall
nicht erinnern - in Zeitungsinterviews rundweg erklärt,
die Vorschläge des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers spielten für ihn keine Rolle mehr.
({10})
Die „FAZ“ schreibt heute, die Vorschläge des Kanzlers
vom Februar sind fast vergessen. Es ist einfach so, dass
sich die Bundesrepublik Deutschland unter dieser Bundesregierung mit der atlantischen Allianz schwer tut. Ich
glaube, wenn sie jetzt immer wieder erzählt, wir müssten
die Krise überwinden, dann gehört zu dieser Wahrheit
auch, dass sie selbst zu dieser Krise ganz wesentlich beigetragen hat, in die das atlantische Bündnis in den letzten Jahren gekommen ist.
({11})
Jetzt brauchen wir keine Selbstfindungsgruppen.
Vielmehr muss eine ganz konkrete weltpolitische
Agenda abgearbeitet werden. Unsere Aufgabe ist, nach
vorne zu schauen und uns mit der Frage zu beschäftigen:
Was wird aus diesem Bündnis? Immerhin gibt es hoffnungsvolle Ansätze. Ich glaube, dass Frau Merkel in ihren Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten,
Herr Schäuble in seinem Gespräch mit dem amerikanischen Vizepräsidenten und wir alle im Rahmen unserer
Kontakte mit der amerikanischen Seite immer wieder
festgestellt haben, dass es jedenfalls die Amerikaner mit
einem Neubeginn unserer Beziehungen ernst meinen
und das atlantische Verhältnis auf eine neue Stufe stellen
wollen.
In den Gesprächen, die ich geführt habe - dem Kollegen Christian Schmidt ist es vor zwei Wochen in Washington genauso ergangen -, habe ich den Ausdruck
„Koalition der Willigen“ nicht mehr gehört. Die Art und
Weise, wie die Amerikaner in den ersten Jahren der
Bush-Regierung vorgegangen sind - sich wie aus einem
Werkzeugkasten die jeweils geeigneten Bündnispartner
innerhalb der EU herauszupicken -, das alles gehört in
Washington, jedenfalls im Moment, der Vergangenheit
an.
Im Gegenteil: Der amerikanische Präsident besucht
sogar demonstrativ die EU. Amerika will die alte, traditionelle Beziehung zu EU und NATO wieder beleben.
Ich glaube, wir tun sehr gut daran, darauf zu reagieren
und endgültig mit den Versuchen, gemeinsam mit Frankreich und Russland irgendwelche Achsen gegen die
USA zu bilden und Europa als Gegengewicht zu den
USA zu profilieren, Schluss zu machen. Wir wollen
selbstbewusste Partner sein. Wir wollen, wie immer, innerhalb des Bündnisses unsere Meinung sagen. Wenn es
notwendig ist, werden wir den Amerikanern selbstverständlich auch widersprechen;
({12})
denn die NATO ist ein Bündnis freier Partner. Wenn es
notwendig ist zu widersprechen, dann wird es, wie es
auch in der Vergangenheit der Fall war, getan.
({13})
Widerspruch wurde bisher allerdings immer in einem
Klima der Solidarität und der Freundschaft innerhalb des
Bündnisses geäußert. Wir wollen dafür sorgen, dass das
so bleibt.
({14})
Genau deswegen passt es nicht in die Landschaft,
dass sich am 18. März dieses Jahres erneut Putin,
Schröder und Chirac, diesmal zusammen mit Zapatero,
in Paris getroffen haben. Wenn Sie sich anschauen, wie
dieses Treffen kommentiert worden ist, stellen Sie fest,
dass es zum Beispiel in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ hieß: Mit dem Treffen dieser Vier hat zumindest der französische Gastgeber eine europäische Achsenpolitik auszubauen versucht, mit der er einen Machtpol schaffen will gegen die Vereinigten Staaten von
Amerika.
Vielleicht haben Sie auch vernommen, wie die Reaktionen in Polen ausgefallen sind. Herr Rokita, der große
Chancen hat, demnächst Ministerpräsident zu werden,
sagt dazu: Es genügt, sich die Europakarte anzusehen,
um zu merken, dass zumindest ein Land am Tisch fehlt.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16073
Das Problem eines solchen Gipfels sei nicht, wer eingeladen wird, sondern, ob derartige Treffen durch einen
europäischen Konsens gedeckt würden.
Es ist unklug, überhaupt eine solche Achse zu bilden
und obendrein dabei zum Beispiel Polen außen vor zu
lassen, weil dadurch in Mittel- und Osteuropa immer
wieder die Angst geschürt wird, Deutschland würde, wie
so oft in der Geschichte, gemeinsam mit Russland eine
Politik über die Köpfe der Mittel- und Osteuropäer hinweg und auf ihre Kosten betreiben.
({15})
- Herr Kollege Schmidt, es geht doch besser. Im Falle
der Ukraine zum Beispiel hat es relativ gut funktioniert.
Die Ukraine, Polen und Deutschland haben, gemeinsam
mit Herrn Solana und den Amerikanern, an einem Strang
gezogen. Auch auf dem Balkan klappt die Zusammenarbeit zwischen Europäern und Amerikanern relativ gut.
Darüber hinaus haben wir uns auf eine Roadmap für den
Nahen Osten geeinigt. Nun besteht erstmals seit langem
eine kleine Chance, den Friedensprozess voranzubringen.
({16})
- Wir alle im Westen, zusammen mit Russland und den
Vereinten Nationen.
Dass das möglich ist, zeigt das Beispiel Iran. Wenn
sich die Europäer einig sind und gemeinsam auftreten
- nicht nur Deutsche und Franzosen, sondern vielmehr
Deutsche, Franzosen, Briten und Herr Solana, der Hohe
Repräsentant der Europäischen Union -, dann haben sie
die Chance, europäische Politik auch in Washington
durchzusetzen. Die Amerikaner haben in den letzten
zwei Monaten eingelenkt, weil wir alle in Europa sie gedrängt haben, dem Iran nicht nur zu drohen, sondern
auch diplomatische und politische Anreize auf den Tisch
zu legen und sich an diesem Verhandlungsprozess konstruktiv zu beteiligen. Das ist das beste Beispiel dafür,
dass wir Europa bzw. Teile Europas nicht gegen Amerika in Stellung bringen sollten, sondern dass wir den
Versuch unternehmen müssen, das gesamte Gewicht
Europas in Washington in die Waagschale zu werfen, um
eine bessere Politik und eine konstruktivere Zusammenarbeit zu erreichen.
({17})
Meine Damen und Herren, die Frage ist, wie es jetzt
mit China weitergeht. Denn China war bei allem, was
wir in den letzten Wochen erlebt haben, gegenüber unseren Bündnispartnern und auch gegenüber den Ländern
im Fernen Osten das große Problem. Die Aufhebung des
Waffenembargos, die der Bundeskanzler angesprochen
hat, droht diesen neuen Konsens, dieses zarte Pflänzchen
neuer Zusammenarbeit zu zerstören. Deswegen ist es
ganz wichtig, dass die Europäische Union sagt: Ja, wir
wollen gute Beziehungen zu China - natürlich, wer
wollte das nicht: Wir brauchen China als Partner in der
Weltgemeinschaft -, aber die Aufhebung des Waffenembargos ohne Abstimmung in den Gremien der NATO,
ohne Abstimmung mit unseren amerikanischen Bündnispartnern, obwohl die mit ihrer Pazifikflotte dort sind und
viel direkter als wir betroffen sind, ist ein großer Fehler.
Wenn wir das nicht lassen, dann bestehen wir den ersten
Testfall dieser neuen Zusammenarbeit nicht.
Deswegen werden wir nach der Debatte, die wir in
der letzten Woche geführt haben, sehr genau beobachten,
wohin sich die Koalitionspolitik entwickelt. Sie haben
gestern im Auswärtigen Ausschuss unseren Antrag zur
Fortführung des Waffenembargos abgelehnt. Sie haben
für die nächsten Wochen eigene Anträge angekündigt.
Wir werden genau beobachten, wer sich durchsetzt: der
Kanzler mit seiner Position „Aufhebung des Embargos“
oder die Grünen, die klar sagen, sie lehnen die Aufhebung des Embargos ab, oder Außenminister Fischer mit
seiner Politik des Irgendwo-so-in-der-Mitte-Herum({18})
redens.
Diese Doppelstrategie - dass der Kanzler die konkrete Politik macht, die Geschäftsinteressen voranbringt,
und die Grünen dann vor Wahlen eine Beruhigungspille
an ihre eigene Klientel geben - werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({19})
Die NATO bleibt auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil wir eine zentrale neue Herausforderung auf
der Welt haben, nämlich die des global agierenden
islamistischen Terrorismus. Ich glaube, dass viele der
Friktionen zwischen Amerika und Europa damit zu tun
haben, dass es völlig unterschiedliche Analysen der Bedrohungen gibt. Bei uns werden Warnungen wie die, die
Kofi Annan vor kurzem ausgesprochen hat, nicht ernst
genommen. Kofi Annan sprach in einem Beitrag im Berliner „Tagesspiegel“ davon, dass der Atomterrorismus
keine Science-Fiction mehr sei, und er warnte vor biologischem Terrorismus und seinen schrecklichen Folgen.
Al-Baradei, der Generaldirektor der Internationalen
Atomenergiebehörde, hat im Januar gesagt, die Gefahr
des nuklearen Terrorismus sei real und gegenwärtig; es
sei eine aktuelle Gefahr, dass al-Qaida eine schmutzige
Atomwaffe einsetze. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass
wir diese enorme Herausforderung aus der Verbindung
von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen zum
Kern unserer sicherheitspolitischen Überlegungen machen - auf beiden Seiten des Atlantiks. Dabei kann
Russland ein wichtiger Partner sein - und muss es sein -,
aber die europäische Einigung und die Freundschaft mit
Amerika sind für unsere Sicherheit langfristig wichtiger
und zentraler; sie können jedenfalls durch ein Bündnis
mit Russland nicht ersetzt werden.
In diesem Sinne hoffen wir, dass angesichts der enormen neuen Herausforderungen für die Stabilität und die
Sicherheit unserer Bürger dieses entscheidende Gut
nicht aus der Hand gegeben wird. Wir sollten uns an das
erinnern, was Willy Brandt an der Harvard-Universität
im Juli 1972 gesagt hat. Willy Brandt sagte wörtlich:
16074 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Sie, die Jüngeren, dürfen nicht vergessen, dass die
Interdependenz, die John F. Kennedy für die Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks proklamiert
hat, eine moralische, eine kulturelle, eine wirtschaftliche und politische Realität bleiben muss.
In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass sich das
Koordinatensystem unserer Außenpolitik etwas verschoben hat: etwas zu viel Russland und zu wenig Amerika.
Das muss korrigiert werden und dafür ist diese Debatte
hoffentlich ein guter Anfang.
({20})
Das Wort hat der Kollege Markus Meckel von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte zum
50. Jahrestag der deutschen Mitgliedschaft in der NATO
führen, weil - das ist ganz klar - die NATO ein zentraler
Eckpfeiler deutscher Außenpolitik in diesen 50 Jahren
war. Das galt damals und das gilt auch heute.
Genauso richtig ist - ich glaube, das ist unbestreitbar -: Damals ist die NATO-Mitgliedschaft gegen die
SPD und gegen große Teile der deutschen Gesellschaft
von Bundeskanzler Adenauer durchgesetzt worden. Es
war damals ein schwerer Kampf, eine schwere Auseinandersetzung. Der Grund dafür ist hier aber nicht genannt worden. Das war nämlich die Sorge in der deutschen Gesellschaft und bei der Sozialdemokratie, dass
diese militärische Dimension der Westbindung die deutsche Einheit verhindern würde bzw. dass man dadurch
diese Perspektive verlieren würde.
({0})
Aber genau das war damals die große Sorge sehr vieler
Deutscher. Das war der Hintergrund. Wie sich zeigte,
war das eine Fehleinschätzung. Das weiß man aber oft
erst im Nachhinein.
({1})
Daneben gab es eine andere zentrale Entscheidung
der deutschen Außenpolitik, nämlich die Willy Brandts
- und damit sind wir bei Ihrer zentralen Fehlentscheidung -: Als es um die Ostpolitik ging, dem anderen wesentlichen Pfeiler der deutschen Politik, gab es genauso
scharfe und kämpferische Auseinandersetzungen. Dort
lagen Sie total falsch, wie man heute weiß und wie es
große Teile Ihrer Partei heute auch akzeptieren. Klar ist:
Beides waren strittige Entscheidungen und beides waren
und sind zentrale Grundlagen der deutschen Politik. Dies
sollten wir nicht vergessen.
({2})
Friedbert Pflüger hat deutlich gemacht: Die NATO
war ein zentraler Schutzschild der alten Bundesrepublik
in den Zeiten des Kalten Krieges. Als jemand, der im
Osten Deutschlands aufgewachsen ist, gestehe ich, dass
dieses Bild bei uns nicht ganz so positiv war; denn wir
waren uns immer sehr wohl bewusst, dass, wenn es zu
einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden
Blöcken gekommen wäre, diese sich konkret auf deutschem Boden abgespielt hätte. Wir waren uns dieser unmittelbaren Bedrohung bewusst. Der Teil der deutschen
Bevölkerung in der DDR, dem ich angehörte, liebte die
Sowjetunion nicht, aber wir waren durchaus auch sehr
skeptisch gegenüber der NATO-Politik, weil wir wussten, dass das bei uns ausgetragen würde und dass von
uns, egal wie es ausgeht, nichts übrig bleiben würde. Das
war damals unsere Wahrnehmung.
Es hat jetzt aber keinen Sinn, über die Historie zu reden. Klar ist - ich denke, das ist eine ganz zentrale Dimension -, dass die NATO nach dem Ende des Kalten
Krieges eine ganz zentrale Rolle dafür spielte, dass Sicherheit eben nicht nur national, sondern durch Integration organisiert wird. Ich glaube, dass dies die wichtigere
Dimension der NATO in ihrer Geschichte geworden ist.
Dadurch bin ich zu einem wirklich überzeugten Atlantiker geworden.
Nach 1990 ging es um Integration und Kooperation. Übrigens ging die NATO hier sehr viel schleppender vor und war langsamer bei der Umsetzung des Konzepts, als es etwa die Europäische Union war, die sehr
früh begriffen hatte, dass es um eine Erweiterung ging.
Die Partnerschaft für den Frieden von 1993 wurde ja anfangs als eine Alternative zur Erweiterung konzipiert.
Erst nach und nach hat man begriffen, dass es der erste
Schritt zu einer größeren Allianz sein könnte. Insofern
blicken wir hier auf eine schwierige Diskussion und aufgrund der Erweiterungs- und Partnerschaftspolitik in den
letzten 15 Jahren auch auf eine ganz zentrale Sicherheitspolitik zurück, die uns alle in Europa gerade auch
angesichts der neuen Bedrohungen sicherer gemacht hat.
({3})
Heute ist die NATO weithin anerkannt und nicht umstritten. Gleichzeitig muss man aber klar sagen, dass die
Frage nach ihrer Bedeutung durchaus umstritten ist.
Auch innerhalb der NATO wird ihre Zukunft durchaus
offen diskutiert. Ich glaube, wir sollten das Gespräch
über die neuen Herausforderungen für diese Institution,
darüber, wofür wir sie brauchen, stärker als bisher miteinander führen. Ich bin der festen Überzeugung, dass
wir die NATO als Instrument weiter brauchen: zum einen als eine zentrale Dimension, als Konsultationsgremium und als politisches Forum im transatlantischen
Verhältnis und zum anderen natürlich als eine wirklich
handlungsfähige militärische Organisation.
Man muss auch sagen: Neben den USA als Nationalstaat
ist die NATO die einzige Institution dieser Welt, die auch
militärisch global agieren kann. Wir alle wissen, dass es
ohne sie nicht geht, dass wir diese Dimension der Außenpolitik brauchen, wie gerade der Kampf gegen den
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16075
internationalen Terrorismus und Bemühungen der Friedensmissionen und Konfliktbeilegung zeigen.
Wir stehen in der NATO vor vielen offenen Fragen.
Ich begrüße sehr die Initiative des Kanzlers. Lieber Kollege Pflüger, ich muss Ihnen deutlich widersprechen.
Das, was heute in Vilnius passiert, ist die Folge dessen,
was der Kanzler ausgesprochen hat und was im NATORat deutlich begrüßt worden ist. Ich finde es völlig verständlich, dass der Generalsekretär sagt: Wir wollen in
dieser Frage keine Expertengruppe bilden, sondern wir
wollen das erst einmal selbst in die Hand nehmen. - Wir
werden sehen, was dabei herauskommt und ob es ausreicht! Wenn es ausreicht, dann werden wir alle froh darüber sein, dass wir kein anderes Gremium brauchen. Es
geht hier nicht um Gremien, sondern um klare Ergebnisse und eine handlungsfähige NATO. Das ist unser
Ziel!
({4})
Ich glaube aber, dass wir uns mit unseren Polemiken
nur an der Oberfläche befinden. Letztlich stehen wir in
der NATO vor einer sehr grundlegenden Entscheidung
für die Zukunft. Ich bin der festen Überzeugung, dass
wir uns als Europäer Sicherheit ohne die USA nicht vorstellen sollten und auch nicht können, weil unsere Kapazitäten nicht ausreichen. Von daher ist es ganz zentral, zu
sagen: Wir wollen die NATO als eine verbindliche Organisation, in der wir gemeinsam die Situation analysieren,
in der wir in einem offenen Diskurs versuchen wollen,
uns über unsere Handlungsperspektiven klar zu werden,
und in der wir gemeinsam handeln. Diese drei Punkte
beschreiben die NATO, die wir wollen. Wir versuchen,
die NATO so zu verändern, damit sie wieder so wird.
({5})
Ich bin leider nicht sicher, dass alle NATO-Mitglieder
- ich nenne hier auch ganz konkret die USA - ein
ebenso starkes Interesse an einer solchen NATO, wie ich
sie eben beschrieben habe, haben. Das ist kein Vorwurf;
vielmehr ist die globale Situation so. Die Weltmacht
USA hat nach dem Kalten Krieg global ganz andere
Schwerpunkte gesetzt, bei denen der euro-atlantische
Raum und die NATO nur eine Teildimension darstellen.
Die USA sagen - das wird manchmal offen ausgesprochen -: Für unser globales Handeln suchen wir Verbündete, ohne uns in einen Prozess der Entscheidungsfindung und in gemeinsames Handeln einbinden zu lassen,
wobei eine gemeinsame Analyse und Diskussion vielleicht noch denkbar wären.
Diese Frage ist für die Zukunft der NATO zentral.
Hier sollten wir sehr deutlich machen: Wir wollen eine
NATO mit Verbindlichkeiten auf allen drei Ebenen. Wir
sehen die NATO nicht als einen Werkzeugkasten, aus
dem man bestimmte Elemente herausnimmt, wenn man
für einen Einsatz eine „coalition of the willing“, einen
Pool von Partnern, sucht, die man sich, entsprechend
dem jeweiligen Bedarf, zusammenstellt. Diese NATO
wäre eine in unserem europäischen Sinne schlechte
NATO. Wir sollten alles dafür tun, damit wir miteinander diese Verbindlichkeit erreichen.
({6})
Klar ist, dass die NATO für uns Europäer eine ganz
besondere Herausforderung darstellt. Dies ist nicht nur
eine Frage der Kapazitäten; es geht weit darüber hinaus.
Es ist auch eine Frage der Fähigkeit, gemeinsam politisch zu handeln, das heißt mit einer Stimme zu sprechen. Hier bin ich bei einem Problem, von dem ich
glaube, dass es für die Zukunft der NATO von zentraler
Bedeutung ist. Ich meine die Gespaltenheit, die die Europäer in gewisser Weise zeigen, wenn es um die NATO
und die Europäische Union geht. Manche hohe Repräsentanten unserer Länder in Brüssel berichten immer
wieder von der schwierigen Erfahrung, dass auf der
Ebene der Europäischen Union in den letzten fünf Jahren
eine ganze Menge getan wurde, um eine gemeinsame sicherheitspolitische Identität zu entwickeln. Sobald man
aber die Pforte zur NATO betritt, spielt das bzw. darf das
keine Rolle mehr spielen. Es wird so getan, als hätte man
vorher über diese Fragen nie miteinander geredet.
Diese Bewusstseinsspaltung stellt zuallererst für uns
selbst ein großes Problem dar. Wir müssen lernen, nicht
nur außerhalb der NATO mit einer Stimme zu sprechen,
sondern wir müssen in der Lage sein, auch im NATORat unsere gemeinsame Position, soweit vorhanden, zur
Sprache zu bringen. Es ist manchmal schon so, dass die
Weisungen aus demselben Ministerium kommen und in
der jeweiligen Organisation nicht unbedingt in jeder
Frage miteinander kompatibel sind. Das gilt für verschiedene Länder. Das ist immer wieder eine Erfahrung
der Akteure vor Ort.
Ich glaube, dass das auch eine Erfahrung der Parlamente ist. Ich habe hier in diesem Raum vor vier Jahren
eine Debatte in der Parlamentarischen Versammlung der
NATO erlebt. Damals wurde eine Resolution verabschiedet, in der wir als Parlamentarische Versammlung der
NATO die EU kritisiert haben. Ich habe heftig gegen
diese Resolution gekämpft. Sie kam mit den Stimmen
vieler europäischer Parlamentarier zustande - wie
könnte es anders sein; ohne Europa kommt keine Resolution zustande -, die sich selbst kritisiert haben, und das
noch in einem Punkt, der falsch war. Das heißt, wir haben diese Bewusstseinsspaltung tief in uns. Wir müssen
an dieser Stelle gerade als Europäer stärker miteinander
unseren Standpunkt bestimmen.
({7})
Man nennt das den europäischen „caucus“ in der
NATO - ein Schreckgespenst, insbesondere für die
Amerikaner. Zuallererst ist das eine europäische Herausforderung. Erst dann ist es eine Herausforderung für die
Amerikaner, zu akzeptieren, dass die Europäer mit gemeinsamer Stimme sprechen. Ich bin sicher, wenn wir
fähig dazu sind, dann werden sie es auch akzeptieren;
wenn wir es nur theoretisch behaupten, dann wohl nicht.
Ich komme zur Frage der Erweiterung. Die große Erweiterung haben wir geschafft. Es sind jetzt zehn neue
16076 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Staaten Mitglied. Ich sagte schon, dass das ein Riesenerfolg für Europa ist. Es gibt eine Reihe anderer Staaten,
die hinein wollen. Ich glaube, dass wir sehr genau überlegen sollten, wie wir damit umgehen. Man muss - insofern habe ich selbst ein gespaltenes Herz in meiner
Brust - klar sagen: Je verbindlicher die NATO in Bezug
auf unser europäisches Interesse ist, das ich eben beschrieben habe, umso schwerer ist es, neue Mitglieder
aufzunehmen, die noch nicht so weit sind, weil die Kriterien dann schärfer sein müssen. Wenn aber die NATO
- ich befürchte, dass der Trend dahin geht; deshalb ist
das eine so große Sorge - nur noch zu einem lockeren
Forum und im Endeffekt zu einem Werkzeugkasten für
militärische Instrumente und Partner wird, dann besteht
die Gefahr, dass sich das Interesse bestimmter Kräfte in
den USA durchsetzt, die sagen, es müssten möglichst
viele in die NATO. Das hat übrigens den guten Nebeneffekt, dass sich das positiv auf die Demokratisierung
und Stabilisierung der betreffenden Länder auswirkt.
Aber wir sollten uns über den Zusammenhang zwischen
der Verbindlichkeit der NATO und neuen Erweiterungen
Gedanken machen und versuchen, abzuwägen, welche
Schritte wir gehen sollten. Auf jeden Fall brauchen wir
klare und starke Partnerschaftsbeziehungen und einen
Ausbau dieser Partnerschaften.
Ich komme zu zwei Punkten, die ich am Schluss noch
ansprechen möchte. Das eine ist der, dass die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO essenziell ist. Die
ist inzwischen nach manchen Anfangsschwierigkeiten
von allen anerkannt, aber die Praxis - ich sage es ganz
offen - ist eine Katastrophe, weil wir im Augenblick
nicht fähig sind, alles das, was wir uns in beiden Institutionen vorgenommen haben, wirklich umzusetzen. Sie
haben - ich fand das gut - in Ihrem Antrag ausgesprochen, dass im Augenblick das wichtigste Hindernis dafür
die Blockade der Türken ist, die nicht bereit sind, zu akzeptieren, dass alle EU-Mitgliedsländer am Tisch sitzen
sollten. Dieses Hindernis muss weg. Dies sollten alle
Partner in deutlichen Gesprächen mit der Türkei auf allen Ebenen klarstellen. Anders kommen wir nicht weiter.
Wir dürfen uns nicht blockieren lassen.
Der zweite zentrale Punkt ist, dass wir deutlich machen müssen, dass die europäische Integration und die
Entwicklung der ESVP nicht gegen die NATO gerichtet
sind, wenn man offen sagt, dass das transatlantische Verhältnis breiter und vielfältiger als das ist, was nur die
NATO abdecken kann. Es gibt die Handelsbeziehungen,
die Finanzströme und eine gemeinsame politische Rolle
in dieser Welt. Deshalb bin ich fest davon überzeugt,
dass wir unabhängig davon, dass wir die NATO als sicherheitspolitisches Forum und als militärische Organisation stärken müssen, neben der NATO den Ausbau der
transatlantischen Beziehungen zwischen der EU und den
USA brauchen. Wir sollten gemeinsam dafür arbeiten.
Dies ist kein Widerspruch, sondern das ist komplementär
und in unser aller Interesse.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
halte es für angemessen, dass wir uns heute hier mit dem
Gedenktag anlässlich der 50-jährigen deutschen Mitgliedschaft in der NATO befassen. Ich finde es schon befremdlich, dass die Bundesregierung diesen Jahrestag
offensichtlich ignoriert.
({0})
Wir Deutschen verdanken dem nordatlantischen
Bündnis die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes
während des Kalten Krieges, aber auch das Ende des
Kalten Krieges und die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes. Die NATO ist und bleibt für uns aber auch
heute, anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten
Krieges, der wichtigste sicherheitspolitische Handlungs- und Identifikationsrahmen.
({1})
Mehr als das: Die NATO ist und bleibt eine Wertegemeinschaft, die die Staaten Nordamerikas und Europas verbindet und der immer mehr Staaten Ost- und Südosteuropas beitreten wollen. Wir sollten uns da nicht
irritieren lassen durch Verwerfungen, die es natürlich
gibt, durch Missverständnisse und Fehlentwicklungen,
die der eine oder andere hier oder da sehen mag. Wenn
das so ist, müssen wir innerhalb dieser Wertegemeinschaft darüber diskutieren; aber wir dürfen sie selber
nicht aufs Spiel setzen.
({2})
Die Anziehungskraft dieser nordatlantischen Allianz
ist ungebrochen. Der Freiheitswille der Menschen in
Osteuropa, der sich zunächst in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten vor 15 Jahren und jetzt erneut in
den Revolutionen in Georgien und in der Ukraine manifestiert hat, geht doch mit der Sehnsucht der Menschen
dieser Länder einher, zum westlichen Bündnis dazuzugehören. Das erklärt sich natürlich aus ganz deutlich erkennbaren Sicherheitsüberlegungen dieser Länder; es
erklärt sich aber eben auch aus dem Wunsch, der westlichen Wertegemeinschaft anzugehören. Beides ist ein
Vertrauensbeweis in Bezug auf die NATO, dem diese
wiederum gerecht werden muss.
Beides ist aber auch eine Chance. Die Aufgaben der
NATO sind nicht erledigt. Sie haben sich verändert. Die
NATO hat eine zentral wichtige Stabilisierungsfunktion auf dem europäischen Kontinent. Sie kann und
muss die ehemaligen Gegner nicht mehr eindämmen
oder abschrecken, sondern sie ein- oder zumindest möglichst eng anbinden, um so Stabilität und Sicherheit in
Europa zu gewährleisten. Der NATO-Russland-Rat war
ein ganz wichtiges Beispiel dafür, wie aus Gegnern über
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16077
eine immer enger werdende Kooperation und Verknüpfung Partner werden können.
Die NATO hat auch längst ihren eurozentrischen Charakter verloren. So wie die Bedrohungen für unsere Sicherheit out of area gegangen sind, so ist auch die
NATO schon seit langem out of area zu einem wichtigen
und vor allem erfolgreichen sicherheitspolitischen Instrument geworden. Die ISAF in Afghanistan ist ein
wichtiges Beispiel dafür. Aber der internationale Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen
oder die destabilisierenden Wirkungen von Failing States
lassen sich eben nicht im Vertragsgebiet bekämpfen.
Die NATO hat gezeigt, dass sie sich diesen Herausforderungen schnell und wirkungsvoll anpassen kann;
das ist gesagt worden. Sie ist auch mehr und mehr in der
Lage, mit anderen internationalen Organisationen zusammenzuwirken. Als ich 1995 oder 1996 bei einem informellen Treffen des Allgemeinen Rates der Europäischen Union erstmals die Anregung gegeben habe, ob
der damals gerade zur NATO gewechselte frühere Ratspräsident der Europäischen Union, Javier Solana, uns im
Allgemeinen Rat der Europäischen Union nicht einmal
über seine neuen Erfahrungen bei der NATO berichten
könne, da war das ein absoluter Skandal; sowohl in Paris
als auch in Washington haben die Alarmglocken gebimmelt, weil man sich überhaupt nicht vorstellen konnte,
dass man diese beiden Organisationen und ihre wichtigsten Gremien einmal zusammenführen könnte. Heute ist
das selbstverständlich geworden. Das zeigt, welchen
großen Fortschritt wir auf beiden Seiten gemacht haben.
({3})
Klar ist auch, dass die Anforderungen an die NATO in
den nächsten Jahren nicht geringer werden. Da werden
wir sicherlich auch noch in Konflikte geraten. Markus
Meckel hat es eben deutlich gemacht: Die Verbindlichkeit ist ganz wichtig. Auf der anderen Seite müssen wir
natürlich gerade angesichts der Debatten, die wir führen,
wie morgen die Debatte über den Einsatz im Sudan,
deutlich machen, dass wir unseren Parlamentsvorbehalt ernst nehmen.
({4})
Da ist natürlich ein Konflikt vorprogrammiert; das muss
man sehen.
Wir dürfen nicht in die Situation geraten - ich sage
das einmal ganz persönlich, weil ich persönlich da Sorgen habe -, dass Bundeswehreinsätze durch unsere Behandlung dieses Themas zunehmend zur Routine werden. Das darf es nicht geben.
({5})
Jeder einzelne Einsatz bedarf einer ganz präzisen Durchleuchtung. Ein humanitäres Argument mag noch so stark
sein, wir haben trotzdem eine ganz genaue Abwägung
hier vorzunehmen. Dann ist es auch legitim, zu fragen,
welche Interessen wir in einer konkreten Situation haben, wie die Interessen der anderen aussehen und wie
man diese Interessen zusammenführen kann. Wir dürfen
uns hier nicht auf eine schiefe Ebene begeben. Ich behaupte nicht, dass das jemand tut; aber ich mahne das
immer wieder an.
Wir müssen, nachdem wir inzwischen - das hätte man
sich vor 15 Jahren nicht vorstellen können - erstaunlich
viele Erfahrungen mit Einsätzen unserer Bundeswehr
außerhalb des Bündnisgebietes gemacht haben, auch die
Frage stellen: Wann ist was erfolgreich zu Ende gebracht
worden? Wir müssen auch darauf drängen, einmal den
Erfolg einer Mission erkennen und sie beenden zu können, anstatt ewig im Schwebezustand zu bleiben und immer neue Aufgaben draufzupacken.
({6})
Das muss angefordert werden können. Das ist kein Defätismus, sondern eine konsequente Anwendung der Ideen
von von Clausewitz. Es ist doch die Frage zu stellen: Wo
ist das politische Ziel, das wir mit einer Mission erreichen wollen? Welches militärische Ziel müssen wir erreichen, um dem politischen Ziel näher zu kommen?
Wann holen wir unsere Leute wieder heraus?
({7})
Ich denke, das wird bisweilen übersehen.
Meine Damen und Herren, man sollte nichts schönreden. Wir haben große Probleme. Das haben wir in den
letzten Wochen und Monaten gemerkt. Bei dem Sicherheitstreffen in München wurde das ganz evident. Wir
müssen wieder von der Fehlentwicklung wegkommen,
die dazu führte, dass wir in Konzepten von Gegengewichten zwischen EU und NATO, also zwischen den
beiden Seiten des Atlantiks, gedacht haben. Das ist eine
Fehlentwicklung gewesen. Europa fehlt es nicht an Gegengewicht zu den USA. Europa fehlt es an Gewicht.
({8})
Daran müssen wir arbeiten, konzeptionell, aber dann
auch materiell. Deswegen ist die Frage der materiellen
Ausstattung unserer Bundeswehr nicht ausdiskutiert.
Wir werden nicht darum herumkommen nachzulegen.
Wir müssen nicht alles können, was die Amerikaner
können, aber wir müssen mit ihnen kooperieren können
und wir müssen fähig sein, mit ihnen in einer Verteidigungsinstitution zusammenzuwirken, die tiefer integriert
ist, als das vorher in irgendeiner Organisation der Fall
war. Neben der politischen Bedeutung der NATO ist das
ja der große Vorzug: Es gab auf der Welt noch nie ein
Militärbündnis, das militärisch so tief integriert ist wie
die nordatlantische Allianz. Markus Meckel, die Kolleginnen und Kollegen aus der früheren DDR konnten sich
Anfang der 90er-Jahre ja gar nicht vorstellen, welche
Form, welchen Charakter die Zusammenarbeit innerhalb
der NATO angenommen hatte. Das hat es im Warschauer
Pakt nicht einmal im Ansatz gegeben. Das gilt es zu bewahren.
Es ist natürlich richtig, dass die Bundesregierung,
dass Deutschland Wert drauf legt, dass die NATO politischer wird. Es gab neulich - einige Kollegen waren
16078 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
dabei - eine bedenkliche Zusammenkunft in Brüssel.
Eine Gruppe von Kollegen aus dem Bundestag und amerikanische Kollegen haben NATO-Gespräche geführt.
Ich habe mir erlaubt, die Frage zu stellen, in welcher
Weise man sich im NATO-Rat mit der Frage des
Waffenembargos gegen China befasst hat. Da wurde
man direkt ganz nervös und sagte: Gar nicht. Das sei erstens sehr politisch, und zweitens mache das die Europäische Union im Rat; man mache keine Doppelarbeit.
Aber, meine Damen und Herren, das sind doch entscheidende Fragen der Zusammenarbeit im Bündnis, bei denen die Wertegemeinschaft, in der diese sicherheitspolitischen Interessen zusammenfließen, politischer werden
muss.
({9})
Ich habe mir allerdings dann noch die Frage gestellt,
welche Weisung denn die Bundesregierung dem NATOBotschafter in der Frage des Waffenembargos gegeben
hätte. Ich frage mich - nachdem der Bundesaußenminister gesagt hat, das werde auf die lange Bank geschoben
und das werde sich schon im Rahmen der Europäischen
Union im Rat regeln - übrigens noch immer: Welche
Weisung hat eigentlich der deutsche Botschafter bei der
Europäischen Union, wie er sich in der Frage verhält?
Soll er nun dafür sorgen, dass das in absehbarer Zeit
vom Tisch kommt? Oder hat er die Weisung, den Willen
des Bundeskanzlers durchzusetzen, möglichst bald zu einem Ergebnis zu kommen? Was ist denn die Position der
Bundesregierung, die sie den dort für uns verantwortlich
Handelnden, nämlich in erster Linie dem Botschafter,
mit auf den Weg gibt?
Wir werden die NATO auch in Zukunft dringend
brauchen. Sie muss politischer werden. Es ist in München einiges falsch kommuniziert worden. Aber die
Grundfrage ist schon richtig: Ist die NATO noch der zentrale Ort der sicherheitspolitischen Debatte? Wenn man
diese Frage aufwirft und vorab schon durch Zeitungen
kommuniziert, darf man aber nicht die Unsicherheit bezüglich der eigenen Position, ob man denn selber will,
dass sie der zentrale Ort der sicherheitspolitischen Debatte ist, aufkommen lassen. Ich bin der Meinung, die
NATO sollte stärker dieser Ort der strategischen Debatte
werden.
Wir brauchen die NATO auch in den nächsten Jahren.
Wir sollten sie nicht kaputtmachen und nicht kaputtreden, sondern weiter gestalten und an die neuen Herausforderungen anpassen. Wir brauchen die Fähigkeit
Deutschlands, in dieser einzigartig tief integrierten Organisation mitzuwirken. Das ist einer der wesentlichen Imperative deutscher Außenpolitik nach 1945. Bündnisfähigkeit ist und bleibt für Deutschland Staatsraison.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
diesen Tagen werden viele Erinnerungen an die Zeit vor
genau 60 Jahren immer wacher: an das Gemetzel der
letzten Kriegswochen auf den Seelower Höhen und im
Ruhrkessel. Vor fast genau 60 Jahren verbluteten und
verreckten in den Straßen um den Reichstag und auch in
diesem Gebäude selbst sehr viele junge Soldaten aus der
Ukraine, aus Russland, Weißrussland und aus Deutschland. Niemand hätte damals zu hoffen gewagt, dass
schon zehn Jahre später, am 6. Mai 1955, das westliche
Deutschland der NATO beitreten würde.
Damals gab es vor dem Hintergrund dieser fürchterlichen Kriegserfahrungen legitime Einwände gegen den
Beitritt; denn er war mit der Wiederbewaffnung und einer Verfestigung der deutschen Spaltung verbunden.
Rückblickend gesehen war diese Entscheidung zum
NATO-Beitritt und damit zur Westintegration aber eine
weitsichtige und weise Entscheidung.
Wir können feststellen: Ganz im Unterschied zu
1918, als der Versailler Vertrag geschlossen wurde, setzten nach dem Zweiten Weltkrieg die Siegermächte gegenüber einem ganz anderen Verlierer auf eine ganz andere Politik, nämlich auf die Politik der Integration, der
Unterstützung und auch der konstruktiven Einbindung.
Das werden wir nie vergessen. Dafür gibt es keinen
Schlussstrich.
({0})
Es entstand ein historisch neuartiges Militärbündnis.
Basierend auf gemeinsamen Interessen, aber auch auf
gemeinsamen demokratischen Werten war der Auftrag
an die Armeen tatsächlich neu: Kämpfen können, um
nicht kämpfen zu müssen. Diese Art der Kriegsverhütung war bis dahin im militärischen Bereich kaum bekannt.
Diese insgesamt positive Entwicklung ist aber kein
Grund, die alte NATO rundum heilig zu sprechen. Sie
war trotz alledem über die Jahrzehnte ein aktiver Teil eines gigantischen Wettrüstens. Die Nuklearstrategie
folgte der Logik, dass gegebenenfalls das vernichtet
worden wäre - vor allem mit taktischen Atomwaffen -,
was verteidigt, also doch eigentlich erhalten werden
sollte. Dagegen richtete sich der völlig legitime und weiterhin richtige Protest des blockunabhängigen Teils der
Friedensbewegung in den 80er-Jahren, dem sich die
Grünen verpflichtet fühlten und zu dem gerade auch die
Friedensbewegung der DDR unter der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ gehörte.
({1})
Wenn im Unionsantrag behauptet wird, der NATODoppelbeschluss habe das Ende des Warschauer Paktes
und der Sowjetunion eingeleitet, dann muss ich sagen,
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16079
dass das typisch Siegergeschichte ist. Diese Haltung
ignoriert die historischen Verdienste gerade der Friedens- und der Bürgerbewegung in der DDR.
({2})
Mit Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer
Paktes verlor die NATO ihren Gegner und damit ihren
großen Auftrag und ihre Klammer. In der Umbruchphase war sie angesichts der damals auftretenden zentrifugalen Kräfte aber keineswegs sinnlos. Im Kernbereich
der Nationalstaaten, der militärischen Sicherheitspolitik
wirkte sie tatsächlich enorm integrierend und stabilisierend. Sie wirkte faktisch einer drohenden Renationalisierung der Sicherheitspolitik entgegen. Dialog und Kooperationsprozesse ab 1994, Programme wie Partnership for
Peace, Öffnung und Erweiterung waren nach meiner
Meinung die stille Hauptleistung der NATO.
Inzwischen bewährte sich die NATO bei Krisen- und
Stabilisierungseinsätzen auf dem Balkan und in Afghanistan. Zusammengefasst bin ich tatsächlich froh, dass
sich viele unserer Warnungen nicht erfüllt haben. Allerdings besteht auch hier kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Noch im März letzten Jahres zeigte sich im Kosovo,
dass auch die starke NATO-KFOR größte Mühen hatte,
ihren Auftrag zu erfüllen, und dass ihr viel zu lange kosovo-albanische Gewalttäter auf der Nase herumtanzten.
Die gute Leistung der NATO im Rahmen von ISAF in
Afghanistan wird von der mangelhaften Bereitschaft vieler Mitgliedstaaten überschattet, ihren großen Worten
zur PRT-Ausweitung entsprechende Taten folgen zu lassen. - So weit dieser Rückblick.
Nun zur NATO-Krise. Während und nach dem Irakkrieg wurde offenkundig: Die Mitgliedstaaten der NATO
waren in der Kernfrage von Krieg und Frieden tief gespalten und die NATO war damit tatsächlich in einer
massiven Krise. Im Unionsantrag vom April dieses Jahres wird dafür maßgeblich die Bundesregierung verantwortlich gemacht. Wie absurd dieser Vorwurf ist, zeigt
der Blick in den Unionsantrag vom 12. November 2002,
der im Vorfeld des Irakkrieges an die Bundesregierung
adressiert wurde und der heute auch abschließend zur
Abstimmung steht. Dort steht nämlich:
Der Vorwurf einer kriegerischen Abenteuerpolitik
… entbehrt … jeder Grundlage.
Aha, kann ich dazu nur sagen.
({3})
War der Irakkrieg etwa - so muss ich daraus schließen ein Musterbeispiel für Friedenspolitik und Abrüstungspolitik?
Herr Kollege Nachtwei, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
Nein, vom Kollegen Nolting nicht.
({0})
Sie von der Union wissen selbst, dass der Irakkrieg
das Musterbeispiel eines illegitimen Krieges war. Da Sie
dies wissen, sollten Sie dies auch einmal sagen, damit
man dann in der Tat zu den jetzigen und künftigen Herausforderungen übergehen kann.
({1})
Die tatsächlichen Gründe der NATO-Krise liegen tiefer. Ein erster Grund: Die NATO ist seit Jahren zugleich
unter- und überfordert. Sie ist unterfordert, weil es jetzt
nicht mehr die große existenzielle und sichtbare Bedrohung gibt. Sie ist zugleich überfordert, weil der Großteil
der Risiken und Bedrohungen aus dem nichtmilitärischen Bereich kommt.
Ein zweiter Grund: Seit dem Kosovokrieg stand im
Vordergrund der NATO-Diskussionen und -Überlegungen die Diskussion über Fähigkeiten. Deutlich vernachlässigt wurde der strategische Dialog, die strategische
Klärung - und das besonders auffällig nach dem 11. September, als zwar der Bündnisfall ausgerufen wurde, aber
die NATO bei der Umsetzung von ISAF dann de facto
ausgesperrt war, obwohl sie dazu sicherlich besonders
geeignet gewesen wäre.
Ein dritter Aspekt: Der amerikanische Verteidigungsminister vertrat ganz deutlich und knallhart die Devise:
Die Mission bestimmt die Koalition. Beim Irakkrieg
kam es schließlich - man muss dies so nüchtern sagen zu einem Bruch der transatlantischen Wertegemeinschaft, nämlich zu einem Bruch im Hinblick auf die
schriftlich niedergelegte Achtung vor der UN-Charta. Es
kam gerade bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu einem Bruch der Interessengemeinschaft
und der Partnerschaft, weil in diesem Zusammenhang
schlichtweg mit Lüge und unerträglichem Druck gearbeitet wurde.
Was sind die Perspektiven für die NATO in der
Krise? Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre
stand immer wieder der Aufbau der NATO-ResponseForce. Diese neue Fähigkeit ist unzweifelhaft wichtig.
Aber Vorsicht vor einer Überbewertung! Denn eine
NATO-Response-Force kann einerseits schlichtes Placebo sein, indem dadurch die Illusion von eigener Kraft
und Stärke gefördert wird. Andererseits aber könnten
konkrete Einsätze der NATO-Response-Force Knackpunkt einer nächsten NATO-Krise werden. Deshalb sind
- hier schließe ich an das an, was die meisten Vorredner
schon sagten; man kann es nicht deutlich genug betonen - der strategische Dialog und die strategische Verständigung im Bündnis wie auch transatlantisch dringend geboten und vordringlich.
Wenn der NATO-Generalsekretär in diesen Tagen
feststellt: „Wir müssen einfach anfangen, miteinander zu
reden“, dann ist das ein kollektives Armutszeugnis, dann
ist das zu wenig. Im Hinblick auf die Normen des Bündnisses müssen Dialog und neuer Konsens notwendigerweise hergestellt werden. Unzweifelhaft muss sein, dass
16080 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
das Bündnis nur im Rahmen des Völkerrechts, der UNCharta, agiert. Die hochrangige Gruppe zur UN-Reform
hat in ihrem Bericht sehr gute Präzisierungsvorschläge
gemacht, die zum Verständnis der UN-Charta beitragen
sollen. Sie hat auch Vorschläge zu Kriterien für den Einsatz militärischer Gewalt gemacht.
Dieser Bericht ist auch auf einer zweiten Ebene sehr
hilfreich, nämlich auf der Ebene - sie wurde auch immer
wieder angesprochen - einer deutlichen, klaren Bedrohungsanalyse. Diese Bedrohungsanalyse des Bündnisses
darf nicht bei den Bedrohungen für die reichen Länder
des Nordens stehen bleiben; vielmehr muss sie die Bedrohungen für internationale Sicherheit und Weltfrieden
insgesamt in den Blick nehmen.
Eine weitere Ebene sind der Auftrag und die Aufgaben der NATO. Es ist unverkennbar, dass der NATOZuständigkeitsbereich inzwischen weit über den euroatlantischen Raum hinausreicht. Kann das jetzt im Umkehrschluss heißen: Wenn die NATO über diesen Raum
hinaus zuständig ist, dann ist sie auch weltweit zuständig? Ich glaube, da ist Vorsicht geboten; denn eine
schlichtweg weltweite Rollenzuschreibung würde meiner Meinung nach sehr schnell zu Überforderungen, zu
Überdehnungen führen.
Zu den Fähigkeiten der NATO. Die NATOResponse-Force ist schon angesprochen worden. Es
reicht nicht, nur ihre Fähigkeiten und ihre Aufgaben zu
beschreiben. Hier ist vielmehr etwas notwendig, was im
Unionsantrag richtigerweise benannt ist, nämlich die genauere Beschreibung von Einsatzszenarien. Klar sein
muss aber auch: Die Masse der künftigen NATO-Einsätze wird höchstwahrscheinlich im Bereich der Stabilisierung und Friedensunterstützung stattfinden. Hier
müssen wir feststellen, dass die Vorstellungen und die
Einsatzkonzepte vieler Mitgliedstaaten zurzeit noch sehr
weit auseinander gehen. Ich nenne als Beispiel die Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan. Hier ist
angesichts der Hauptaufgabe der Stabilisierung zweierlei
notwendig: erstens die Förderung der inneren Kohärenz
in der NATO bei diesen Aufgaben und zweitens die zunehmende Öffnung und das Einüben des Zusammenwirkens mit politischen, polizeilichen und wirtschaftlichen
Instrumenten von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.
Schließlich nenne ich noch die Ebene des Zusammenwirkens der NATO mit anderen internationalen
Zusammenschlüssen. Im Zusammenwirken mit der
Europäischen Union ist der Weg insgesamt richtig. Er
bewährt sich unter anderem schon in Bosnien-Herzegowina. Sie werden aber verstehen, dass ich hier nicht dem
Außenminister vorgreifen kann, der dazu gestern Abend
an anderer Stelle gesprochen hat.
({2})
- Er ist in Vilnius.
({3})
Zum Schluss noch ein anderer Aspekt, und zwar die
Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen. Hier besteht ein ganz besonderer Bedarf und hier bestehen besondere Möglichkeiten für die NATO. Zurzeit führen die
Vereinten Nationen weltweit 18 Missionen mit über
60 000 Soldaten durch. Diese Missionen sind aber ausnehmend schwach. Zu dieser Schwäche trägt auch bei,
dass die reicheren Industrienationen mit ihren viel effektiveren Militärs unterproportional und sogar abnehmend
daran beteiligt sind. Im Jahre 1997 wurden noch 58 Prozent der UN-geführten Missionen von NATO-Mitgliedern gestellt, im letzten Jahr nur noch 12 Prozent.
Ein gutes Zeichen ist, dass in Kürze der NATO-Generalsekretär zum ersten Mal vor der Generalversammlung
der Vereinten Nationen auftritt. In diesem Zusammenhang wäre zu überlegen, ob nicht vonseiten der NATO in
Richtung Vereinte Nationen eine Regelung im Sinne von
„Berlin Plus“ anzustreben ist, mit der die Unterstützung
der NATO für die Vereinten Nationen gefestigt werden
kann.
Der von uns allen geforderte strategische Dialog ist
- dabei dürfen wir uns nichts vormachen - äußerst
schwierig, weil die verschiedenen Mitgliedstaaten völlig
unterschiedliche historische Erfahrungen und Vorstellungen von Militär und den Vereinten Nationen und auch
ein unterschiedliches Verhältnis zum Völkerrecht haben.
Damit der strategische Dialog Erfolg haben kann, ist es
erstens von entscheidender Bedeutung, dass die Bindung
an das Völkerrecht bzw. an die UN-Charta zweifelsfrei
ist, und zweitens, dass eine Orientierung vor allem an
den konkreten Erfahrungen der Friedenssicherung und
Friedensunterstützung erfolgt. Ich habe als grüner Politiker und Abgeordneter in dieser Hinsicht selber sehr gute
Erfahrungen mit amerikanischen Politikern und Offizieren in Sachen Afghanistan gemacht.
Ich meine, dies alles bedeutet eine enorme Herausforderung für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden, die nur gemeinsam zu bewältigen ist oder gar
nicht.
Danke schön.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Nolting das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Nachtwei, ich habe den Zuruf gemacht: Wo ist der
Außenminister? Er ist in Berlin und hat angeblich interne Termine, welche auch immer.
({0})
Wir sprechen heute aber über 50 Jahre deutscher NATOMitgliedschaft. Ich denke, dass dieses Thema auch dem
Herrn Außenminister wichtig sein sollte. Denn die
NATO hat immerhin dazu beigetragen, dass wir 50 Jahre
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16081
des Friedens und - westlich der Elbe - auch der Freiheit
erleben durften. Ich denke, das ist Anlass genug, dass
der Außenminister an dieser Debatte teilnimmt.
({1})
Die NATO hat ehemalige Staaten des Warschauer
Paktes und der Sowjetunion aufgenommen. Es ist eine
Friedensregion der Zukunft entstanden, wie wir sie
ebenfalls noch nie erlebt haben. Ich denke, auch das ist
Anlass genug für die Anwesenheit des Außenministers.
Herr Kollege Nachtwei, Sie haben lang und breit vorgetragen,
({2})
wie Sie sich einige Punkte, auch die Zukunft betreffend,
vorstellen. Ich würde mir wünschen, dass Sie dies auch
auf einem grünen Parteitag vortragen, damit Ihre Partei
auch in diesen Fragen zu einer Änderung ihrer Position
kommt.
({3})
Zur Erwiderung Kollege Nachtwei.
Kollege Nolting, erstens bin ich, wie Sie wissen, kein
Sprecher der Regierung. Ich bin ein loyales Mitglied der
Koalition. Da ich kein Regierungssprecher bin, kann ich
auch nicht zur derzeitigen Abwesenheit des Ministers
Stellung nehmen.
({0})
Zweitens. Was Ihre Unterstellung angeht, ich würde
hier - in diesem offensichtlich sehr privaten Raum positiv über NATO-Leistungen reden, aber im Zusammenhang mit den Grünen nicht, täuschen Sie sich. Genau das, was ich hier ausführe, stelle ich selbstverständlich auch gegenüber den Grünen fest. Ich glaube, es
macht unsere Stärke aus, dass wir auch mit unserer eigenen Geschichte so umgehen, dass wir sie nicht umschminken, dass wir zu dem, was wir für richtig halten,
auch weiterhin stehen und dass wir auch das benennen,
mit dem wir - ich habe das selbst gesagt - glücklicherweise mit unseren Warnungen nicht Recht behalten haben. Gibt es etwas Besseres?
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn der Tower von Vilnius meldet, „Fischer ist
abgehoben“, dann wäre es ganz gut, wenn er sich nicht
vor den Fernsehschirm setzte, um seinen früheren
Staatsminister, Herrn Volmer, bei dessen Verrenkungen
vor dem Untersuchungsausschuss zu sehen. Vielmehr
sollte er hier seiner Pflicht als deutscher Außenminister
nachkommen und anlässlich der heutigen Debatte über
50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft die Position der
Bundesregierung darlegen.
({0})
Was die Rede des Kollegen Nachtwei, die, wie ich an
den Gesichtern der Abgeordneten der Koalition gesehen
habe, bestenfalls für eine neue Nachdenklichkeit - hoffentlich für keine neue Schläfrigkeit - gesorgt hat, betrifft, muss ich sagen: In der Tat kann man mit Winfried
Nachtwei über manches trefflich streiten. Seine Rede
({1})
enthielt manche Punkte, über die man diskutieren kann.
Aber sie entsprach nicht dem, was grüne Politik ausmacht.
Wer macht denn eigentlich Außenpolitik bei den Grünen in Abwesenheit von Joschka? Das scheint die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn übernommen zu haben.
({2})
Denn sie äußert sich nun - das ist überliefert - zu Rüstungsfragen und zu der Notwendigkeit der Entwicklung
des Luftabwehrsystems MEADS. Sie versucht, die Entwicklung dieses Systems zu verhindern, obwohl nachweislich keine Feldhamster davon betroffen sind. Dieses
Engagement soll wohl die Niederlage der Grünen vertuschen, die sie bei dem Versuch erlitten haben, mit der
Verhinderung eines notwendigen militärischen Systems
eine Niederlage bei der kommenden Landtagswahl in
Nordrhein-Westfalen zu verhindern.
({3})
Wenn der von Frau Höhn ausgehende geistige Tiefflug
weitergeht, dann werden wir nie zu einer Debatte mit
den verantwortlichen Persönlichkeiten der Bundesregierung über die Außen- und Sicherheitspolitik sowie
50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft kommen.
Schwerer als die Feldhamsterei von Frau Höhn wiegt
allerdings die lange Liste sicherheitspolitischer Versäumnisse. Eine Linie der Verständnislosigkeit für die
NATO und die Bundeswehr zieht sich von der SPD der
50er-Jahre über die NATO-Austrittsfantasien eines
Oskar Lafontaine bis hin zu den „Seitensprüngen und
Hasardeurspielen“ der Bundesregierung Gerhard
Schröder - wie am vergangenen Samstag die „Neue Zürcher Zeitung“ dessen Außen- und Sicherheitspolitik beschrieben hat -, die sie gleichwohl vor dem Hintergrund
16082 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Christian Schmidt ({4})
innen- und wirtschaftspolitischen Versagens - so die
„Neue Zürcher Zeitung“ - als „strategische Neuausrüstung“ und „deutschen Weg“ zu vermarkten versucht.
Tatsächlich hat die Bundesregierung bis heute die
NATO in keinen politischen Bezugsrahmen gestellt. Es
bleibt im Dunkeln, welche Rolle Gerhard Schröder und
Joschka Fischer der NATO als politisches und militärisches Bündnis in der Wahrnehmung der Interessen der
Sicherheit unseres Landes eigentlich geben wollen. Seit
dem furiosen Einstieg des frühen Fischer 1998, als er zur
Verblüffung seiner damaligen Kollegen im NATO-Rat
gegen die Doktrin der flexiblen Antwort im Bedrohungsfalle kämpfte und in einer Zweitauflage des Nachrüstungsstreits der 80er-Jahre die Nuklearoption, die zu diesem Zeitpunkt schon deutlich an Bedeutung verloren
hatte, angriff, ist das Interesse an der NATO abhanden
gekommen.
({5})
Irgendwie hat man den Eindruck, dass im politischen
Kanon der Bundesregierung die NATO noch heute als
ideologische Kopfgeburt des Kalten Krieges angesehen
wird und dass die Chancen, die dieses Bündnis auch und
gerade unter den veränderten Bedingungen der Welt
nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes bietet, völlig
ignoriert werden.
Hinzu kommen müsste die Erkenntnis, dass Verlässlichkeit nicht Untertanentum bedeutet, sondern das Gegenteil von Sprunghaftigkeit ist.
({6})
Deswegen kann man nicht so einfach nebenbei ein eigenes europäisches militärisches Hauptquartier von vier
besonders befreundeten Ländern planen, wie dies
Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg vor
zwei Jahren auf dem zu trauriger Berühmtheit gelangten
„Pralinengipfel“ von Tervuren taten. Dieser Gipfel ist inzwischen in das Lehrbuch der Fehlschläge deutscher Diplomatie aufgenommen worden. Dieses Buch muss ständig fortgeschrieben und neu aufgelegt werden, weil es
dauernd neue Kapitel gibt.
Bestehende europäische Strukturen wie das Eurokorps
spielten übrigens in der damaligen Diskussion überhaupt
keine Rolle. Man kann auch nicht im gleichen Jahr die so
genannten Berlin-Plus-Vereinbarungen, die das Zusammenspiel von NATO und EU im militärischen Bereich
gut regeln, aus europäischer Abgrenzungssucht faktisch
aushebeln wollen. Man kann nicht der NATO auf der Sicherheitskonferenz in München vorwerfen, sie sei nicht
mehr das primäre Feld politischer Entscheidungsfindung, es aber gleichzeitig den Militärs überlassen, in ihrer Verantwortung eine letztendlich gemeinsame
NATO-Strategie für die Zeit nach dem 11. September 2001 zu suchen. Sie haben politisch nichts dazu beigetragen, diese beiden Strategien, also die der USA und
die der Europäer - Stichwort Solana-Papier -, zu verknüpfen. Diese Verknüpfung ist die Arbeit, die geleistet
werden muss. Herr Schröder kann sie an keine Expertenkommission delegieren.
({7})
Es bestehen natürlich Zweifel, ob er selbst zu einer solchen Expertenkommission dazugehören könnte.
Die militärische Struktur der NATO der Zukunft
muss und wird anders aussehen als die von 1990. Selbstverständlich folgt die Struktur dem Auftrag, der aber einer politischen Präzision bedarf. Was ist dieser Auftrag?
Auftrag kann man nicht durch Transformation ersetzen.
Transformation ist der Weg, aber nicht das Ziel. Ich befürchte, dass das Wort Transformation unterschiedlich
buchstabiert wird und dass zu wenig politische Führung
geleistet wird. Die NATO muss sich nämlich gleichzeitig
militärisch auf die neuen Bedrohungslagen einstellen
und - erfreulicherweise - eine große Zahl neuer Mitglieder integrieren. Das heißt auch, dass man sich über die
grundsätzlichen Aufgaben im Klaren sein muss.
Auf dem Gebiet der Afrikapolitik erleben wir gegenwärtig - ich teile die Befürchtung des Kollegen Hoyer -,
dass schleichend ein bestimmter Weg beschritten wird:
Man diskutiert nie wirklich über das, was unsere Interessen und Ziele auch auf europäischer und auf
NATO-Ebene sein könnten und sein sollten. Es kann
nicht richtig sein, dass wir uns hier und da in Afrika engagieren, ohne vorher eigentlich so recht zu wissen, wohin es gehen soll. Deswegen muss mit dem Bekenntnis
zur grundsätzlichen Bereitschaft, sich zu engagieren,
eine klare Trennung zwischen dem, was gegenwärtig
möglich und machbar ist, und dem, was gegenwärtig
nicht möglich und machbar ist, einhergehen.
Auch die NATO verlangt nach Investitionen. Das
verträgt sich nicht mit der Herabstufung der Sicherheitspolitik im Haushalt der Bundesrepublik Deutschland. Im
internationalen Vergleich ist diese Herabstufung besonders drastisch. Neue Ausrüstungen für neue Einsatzformen gibt es nicht zum Nulltarif. Die Rüstungsplanung in
unserem Land, aber auch anderswo leidet darunter, dass
das Zusammenspiel zwischen NATO und Europäischer
Sicherheits- und Verteidigungspolitik politisch nicht geklärt ist. Man kann den Amerikanern nicht vorhalten, sie
missbrauchten die NATO nur noch als Werkzeugkasten
und nähmen sich denjenigen Schraubenschlüssel in
Form einer militärischen Spezialfähigkeit eines Mitgliedstaates heraus, den sie gerade für ihre Zwecke
brauchten, aber in der Konstruktionsabteilung des Betriebs nicht mitarbeiten.
Wir müssen einerseits die in den so genannten Prager
Fähigkeitszusagen enthaltenen Verpflichtungen erfüllen
und andererseits unsere Vorstellungen von der Rolle der
NATO als erstem Podium zur Abstimmung und Durchsetzung unserer deutschen und europäischen Interessen
darlegen. Dazu bedarf es der verlässlichen Zusage aller
NATO-Staaten, die Schnelle Eingreiftruppe, NRF, einsatzfähig zu machen, europäische Projekte wie das so
genannte Battle-Group-Konzept und Helsinki-Verpflichtungen - EU-Militärstab; 60 000 EU-Kräfte schnell verfügbar - so zu realisieren, dass sie eine Ergänzung und
keine Schwächung der NATO-Fähigkeiten sind, und den
politischen Prozess der Abstimmung in der NATO früh
zu suchen.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16083
Christian Schmidt ({8})
Die außen- und sicherheitspolitischen Bemühungen
Europas müssen auf ein ergänzendes Vorgehen von
NATO und EU ausgerichtet werden.
({9})
Der wachsenden Bedeutung globaler Risiken, die den
Frieden der Völkergemeinschaft gefährden, muss die EU
zusammen mit der NATO mit der gemeinsam konzipierten Fähigkeit begegnen, Krisen zu entschärfen, Konflikte zu verhindern oder zu ihrer Beilegung beizutragen.
({10})
Das bekommt man nicht allein an Verhandlungstischen;
das muss auch durch militärische Fähigkeiten umgesetzt
werden können.
({11})
Wir wollen dazu keine europäische Gegenmacht, sondern eine gemeinsame strategische Ausrichtung Europas
und Amerikas im Rahmen der NATO. Nur dann kann
man ohne Schaden für das Bündnis für die eigenen Interessen politischen Spielraum gewinnen und dort, wo sich
amerikanische und europäische Interessen nicht treffen,
Entscheidungsfreiheit behalten.
Bei dieser Gelegenheit ein Wort zu den US-Truppen
in Europa. Ich bedauere, dass die Amerikaner zwei Divisionen aus Deutschland abziehen.
({12})
Ich kann nachvollziehen, dass die Kollegen im amerikanischen Kongress um den Erhalt ihrer Armeestandorte in
den USA kämpfen - das tun wir entsprechend bei uns -,
aber wir müssen schon eines sagen: NATO heißt, USStreitkräfte auch in Europa zu wollen und ihre Präsenz
für politisch und strategisch richtig zu halten.
({13})
Ein notwendiges Element gemeinsamer Verteidigungsund Aktionsfähigkeit ist gerade die Präsenz amerikanischer Kräfte in Europa. Deswegen appellieren wir an die
amerikanischen Entscheidungsträger, auch dies zu berücksichtigen. Die Bundesregierung ist in der Pflicht,
diese Position nachhaltig darzustellen.
({14})
Wie viele Telefonverbindungen da zur Verfügung stehen, weiß ich nicht. Angeblich hat der Bundeskanzler
nun wieder Kontakt mit Washington. Er sollte ihn nutzen.
({15})
Europa muss erhebliche Anstrengungen unternehmen, um seine militärischen Fähigkeiten, von denen ich
geredet habe, signifikant zu steigern und vor allem die
immer größer werdende Technologielücke zu den USA
zu verkleinern. Insofern will ich auch ausdrücklich ein
Bekenntnis zum MEADS-Projekt abgeben. Für das Projekt haben wir gestern im Haushaltsausschuss mit großer
Mehrheit und im Verteidigungsausschuss ebenfalls grünes Licht gegeben.
Das Pentagon gibt für Forschung und Entwicklung
rund viermal so viel Geld aus wie alle europäischen
Staaten zusammen.
({16})
Das ist ein Problem. Wen das nicht interessiert, der hat
nicht erkannt, dass uns dies angesichts der technologischen Fortschritte und der Technologiesprünge im globalen Wettbewerb belasten wird. Deswegen müssen wir
auch daran arbeiten. Das ist nicht einfach. Das ist teuer.
Aber es sind Investitionen in die Zukunft. Ich hoffe, dass
der Bundeskanzler, wenn er die zweite Auflage seines
Investitionsgipfels macht, auch einmal an diese Frage
denkt und sie mit Herrn Chirac und den anderen Europäern bespricht.
({17})
Für uns gehört auch die Zusage dazu, strategische
Lufttransportmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen,
den permanenten Mangel an Hubschraubern, vor allem
für Transportaufgaben, abzustellen und die Ausbildung
der Soldaten auf neue Aufgaben auszurichten.
US-Senator Lugar hat 1993 in seiner berühmten Budapester Rede gesagt: „NATO will go out of area or go
out of business.“ Die NATO muss sich also um ihrer politischen Bedeutung willen als Ordnungs- und Stabilitätsbündnis jenseits der Grenzlinien des Kalten Krieges
verstehen. Heute müssen wir begreifen, dass Europa mit
der NATO ein zukunftsfähiges Bündnis in Händen hält,
das daran zerbrechen kann, dass insbesondere Deutschland aus Langeweile oder wegen politischer Nabelschau
politisch nicht mehr investiert. Dass da investiert wird,
wäre aber für das Ziel unseres Landes, in Sicherheit zu
leben, wichtiger als manche der eigenartigen Verrenkungen, die der Vorturner Schröder gegenwärtig vollführt,
um den begehrten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen zu bekommen.
({18})
Das Wort hat der Staatsminister Hans Martin Bury.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
8. Mai dieses Jahres feiern wir den 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands, den 60. Jahrestag des Zusammenbruchs der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Zwei Tage zuvor, am 6. Mai 2005, begehen wir den
50. Jahrestag des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zur NATO.
Was in den 50er-Jahren politisch noch heftig umkämpft war - Wiederbewaffnung und Westbindung -, erwies sich als außen- und sicherheitspolitische Basis für
eine beispiellose Entwicklung.
16084 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
({0})
Den Bundesregierungen von Konrad Adenauer bis
Helmut Schmidt gebührt in der Tat Dank und Anerkennung für strategische Weitsicht.
Dass 1989 die Mauer fiel, war auch ein Verdienst der
transatlantischen Partnerschaft, aber zugleich der Tatsache geschuldet, dass mutige Politik die Spielräume zu
nutzen wagte, die dank militärischer Sicherheit durch die
NATO außenpolitisch erwuchsen. Die Ostpolitik Willy
Brandts hat zur Annäherung der gegnerischen Blöcke
und der beiden deutschen Staaten entscheidend beigetragen und damit das Fundament für die spätere Wiedervereinigung gelegt, die wir den Menschen in Polen, Ungarn
und Tschechien und vor allem in der damaligen DDR
verdanken.
({1})
Die Rolle der NATO hat sich mit dem Ende des OstWest-Konfliktes fundamental gewandelt. Ihre Bedeutung ist jedoch nicht geringer geworden. Denn die
NATO ist mehr als ein Militärbündnis und mehr als eine
Verteidigungsallianz. Sie ist eine Gemeinschaft, die für
Freiheit und Demokratie einsteht, getragen von gemeinsamen Werten und weitgehend übereinstimmenden Interessen.
Deutschland und Europa haben von der nordatlantischen Partnerschaft in besonderer Weise profitiert und
wir engagieren uns in besonderem Maße für die und in
der NATO und der Europäischen Union.
Die Entscheidung im Herbst 1998 war eine Zäsur in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zum
ersten Mal zogen wir aus unserer leidvollen Geschichte
nicht die Konsequenz besonderer militärischer Zurückhaltung, sondern die Konsequenz besonderer Verantwortung für die Sicherung von Menschen- und Minderheitenrechten auch mit militärischen Mitteln, wo andere
Mittel nicht ausreichen oder nicht zur Verfügung stehen.
Was Europa nicht schaffte, gelang mithilfe der
NATO: das Morden auf dem Balkan zu stoppen und die
Bedingungen für die Entwicklung von Freiheit und Demokratie zu schaffen.
Heute ist es die Annäherung an NATO und EU, die
der Entwicklung der Länder des westlichen Balkans Ziel
und Perspektive und damit den Menschen Hoffnung
gibt. In den mittel- und osteuropäischen Staaten war
die Kombination aus der Softpower der Europäischen
Union und dem Schutzversprechen der NATO so stark
und so attraktiv, dass sich Zivilgesellschaften und Staaten auf den Weg der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
begeben haben. Das Maß an Vertrauen und der Grad der
Zusammenarbeit, die heute zwischen Staaten erreicht
wurden, die sich noch vor wenigen Jahren bis an die
Zähne bewaffnet feindlich und ängstlich gegenüberstanden, ist unglaublich. Die Europäische Union ist das
größte und erfolgreichste Friedensprojekt aller Zeiten.
({2})
Doch machen wir uns nichts vor: Erst in Verbindung
mit der NATO entstand die magnetische Anziehungskraft für die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes und frühere Teile der Sowjetunion.
Gestern haben die NATO-Außenminister in Wilna
über die Weiterentwicklung des Bündnisses beraten.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat diese notwendige
Debatte über die strategische Ausrichtung des Bündnisses und seine Funktionsfähigkeit entscheidend angestoßen. Entgegen einigen aufgeregten Reaktionen gespielter Empörung ist schnell deutlich geworden: Nur wer
bereit ist, die NATO weiterzuentwickeln, wird ihre zentrale Rolle für den Frieden in der Welt und den transatlantischen Dialog bewahren, meine Damen und Herren.
({3})
So bedrohlich die Blockkonfrontation des Kalten
Krieges war, das „Gleichgewicht des Schreckens“ war in
gewissem Maße berechenbar. Heute sind wir mit ganz
neuen, oft asymmetrischen Bedrohungen konfrontiert.
An der Peripherie Europas und in weiter entfernten Regionen führen der zunehmende Verfall von staatlichen
Strukturen, Bürgerkriege und das Auseinanderbrechen
von Staaten dazu, dass bewaffnete Gruppen und nichtstaatliche Akteure immer weiter an Einfluss gewinnen.
Die Folgen sind Terrorismus, organisierte Kriminalität,
Korruption sowie Menschen- und Drogenhandel.
In unserer globalisierten Welt sind dies nicht mehr regional begrenzte Phänomene; sie gefährden in vielfältiger Weise auch die Sicherheit der internationalen Gemeinschaft. Die Antwort darauf kann wie in Afghanistan
zum Teil in militärischen Mitteln bestehen. Sie kann sich
jedoch darauf in keinem Fall beschränken und sie muss
nicht nur weit umfassender, sondern auch viel früher ansetzen. Wir haben eine moralische Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen. Gleichzeitig tragen wir damit zur
Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger bei.
({4})
Sicherheitspolitik muss nachhaltig sein und sie muss
umfassend sein. Nur so können wir gewaltsame Konflikte verhindern oder eindämmen und gesellschaftliche
Strukturen nach einer Krise nachhaltig stabilisieren.
Deutschland engagiert sich in diesem Sinne in vielfältiger Weise und weit über das Bündnisgebiet hinaus. Wir
unterstützen weltweit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Achtung von Menschenrechten, sozialen Ausgleich und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.
Eine Energiepolitik, die erneuerbare Energien fördert
und die Energieeffizienz steigert und damit die Abhängigkeit von Öl und Kernbrennstoffen verringert, ist zugleich ein Beitrag zum Frieden in der Welt. Der Kampf
gegen Hunger und Armut, gegen Rechtlosigkeit und
Ausgrenzung ist auch ein Beitrag, der Entstehung von
Hass und Gewalt den Boden zu entziehen. Ich möchte in
diesem Zusammenhang ausdrücklich die große Anteilnahme und Solidarität der Menschen in Deutschland hervorheben. Sie haben etwa der verheerenden FlutkatastroDeutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16085
phe eine Woge der Solidarität entgegengesetzt. Wir
können stolz sein auf eine Gesellschaft, die in vielfältigen Beiträgen, Projekten und Aktionen Tag für Tag beweist, dass Verantwortung keine nationalen Grenzen
kennt.
({5})
Deutsche Soldaten leisten auf dem Balkan oder in Afghanistan in vorbildlicher Weise ihren Beitrag zum Aufbau und zur Entstehung aktiver Zivilgesellschaften. Kein
Land ist bei NATO-, aber auch bei EU-Operationen in
diesem Maße international mit Truppen präsent wie
Deutschland.
All diese Facetten, die heute Bestandteil einer sicherheitspolitischen Debatte sind und sein müssen, unterstreichen die Notwendigkeit einer Intensivierung und
Verbreiterung des transatlantischen Dialogs. Es ist
bedauerlich, aber wahr, dass die NATO heute nicht immer in ausreichendem Maße der Ort für die notwendigen
politischen Verständigungen ist. Es ist erfreulich, aber
nicht ohne Konsequenz, dass die EU ihrerseits den Weg
der Zusammenarbeit auch und gerade im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik nach den Schwierigkeiten
der vergangenen Jahre mit umso größerer Entschlossenheit begeht.
Die gleichen Kritiker, die eine Debatte über eine Reform der NATO für falsch oder gar gefährlich hielten,
spotteten 2003 über die von Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland entwickelte Idee einer verstärkten Zusammenarbeit in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Kollege Schmidt
hat wieder das Wort vom „Pralinengipfel“ gebraucht.
Ausgerechnet diejenigen, die sonst stets eine Abstimmung mit großen und kleineren Partnern in der EU fordern, machen diese nun zum Ansatzpunkt für billige Kritik - eine Kritik allerdings, um die es insgesamt recht
still geworden ist, denn die EU hat unsere Idee aufgegriffen
({6})
und die Grundlagen für eine Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik geschaffen, die es uns ermöglichen soll, auch selbstständig militärische Verantwortung
wahrzunehmen, wenn andere Partner sich nicht beteiligen wollen oder können. Diese Option ist auch und gerade dann von Bedeutung, wenn man bereit und in der
Lage ist, eine Beteiligung abzulehnen, weil man im Einzelfall von der Richtigkeit militärischen Vorgehens nicht
überzeugt ist.
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist jedoch keine Alternative zur NATO, erst recht
kein Ersatz. Wir stärken damit den europäischen Pfeiler
der Brücke über den Atlantik, militärisch und politisch.
({7})
Die strategische Partnerschaft mit Russland, unser
Bemühen um eine Einbindung Chinas oder das Wahrnehmen europäischer Verantwortung in Afrika und im
Nahen Osten sind wichtige Beiträge zu einer Weltinnenpolitik.
Ich begrüße, dass der amerikanische Präsident nach
seiner Wiederwahl EU und NATO in Brüssel besucht
und sein Interesse und seine Bereitschaft zur Intensivierung der Zusammenarbeit unterstrichen hat. Unser Zusammenwirken etwa bei den Bemühungen, iranische
Nuklearkapazitäten zu verhindern, belegt, dass unterschiedliche Ansätze, wenn sie einander ergänzen, durchaus geeignet sind, ein gemeinsames Ziel zu befördern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mancher Beitrag in
der heutigen Debatte schien mir ein wenig geprägt von
der neokonservativen Vorstellung, die Amerikaner lebten auf dem Mars und die Europäer auf der Venus. Fast
ist man geneigt, zu ergänzen: und die Union hinter dem
Mond.
({8})
Denn der Antrag der CDU/CSU beschränkt sich im allgemeinen Teil auf Pathos und Polemik und im Detail
weitgehend auf Maßnahmen, die unter maßgeblicher
Mitwirkung der Bundesregierung bereits beschlossen
wurden oder umgesetzt werden. Ich muss auch sagen,
Herr Kollege Pflüger: Ihr Einstieg in diese Debatte war
keine Festrede zum 50. Jahrestag des NATO-Beitritts,
({9})
sondern hat eher verraten, dass Sie und die Union noch
im Weltbild der 50er-Jahre gefangen sind.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre NATO
sind für uns Anlass zu Dankbarkeit und Selbstbewusstsein und Auftrag, die Zukunft in einer handlungsfähigen
Europäischen Union und einer vertrauensvollen transatlantischen Partnerschaft aktiv zu gestalten.
({11})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser engagierten Festrede vonseiten der Bundesregierung,
Herr Staatsminister,
({0})
möchte ich an einen Ausspruch erinnern, der nach dem
Ende des Kalten Krieges oft zu hören war: Wir seien
jetzt nur noch von Freunden umzingelt,
({1})
16086 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
wozu dann noch die NATO? Diese Kurzschlussformel
war nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in
Mittel- und Osteuropa und dem Ende des Kalten Krieges
oft zu hören.
({2})
Als damals der Warschauer Pakt aufgelöst wurde,
wurde auch von Ihrer Seite die Frage gestellt, warum
man nicht auch die NATO auflöst.
({3})
Das hat zu Beginn der 90er-Jahre nicht nur die PDS gefordert, sondern auch mancher aus den Reihen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen.
({4})
- So ist es; Herr Ströbele erinnert sich. - Aber die Polen,
Ungarn, Tschechen und Slowaken wollten partout Mitglied in dem von vielen von Ihnen für überflüssig gehaltenen Verteidigungsbündnis werden. Damit hatten Sie
nicht gerechnet.
({5})
Im Grunde hat Sie erst der dringende Wunsch der Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken nach einer Mitgliedschaft in der NATO dazu gebracht, deutsche und
europäische Sicherheit künftig nicht, wie Sie es zunächst
vorhatten, der OSZE zu überantworten. Heute wissen
auch Sie, wie gut es ist, dass wir die NATO haben und
dass wir sie auch im 21. Jahrhundert als Garanten unserer äußeren Sicherheit brauchen.
Wenn man von den Verrenkungen, die Winfried
Nachtwei im Hinblick auf die Zeit der Demonstrationen
gegen den NATO-Doppelbeschluss pflichtgemäß machen musste
({6})
- denn er möchte sich auf dem nächsten Parteitag von
Bündnis 90/Die Grünen Gehör verschaffen -, absieht,
hat seine Rede gezeigt: Im Grunde weiß heute jeder in
diesem Hause, dass wir die NATO als Garanten unserer
äußeren Sicherheit brauchen.
({7})
Deshalb muss sich die NATO den neuen Bedrohungen
unserer Sicherheit und den sich daraus ergebenden Herausforderungen stellen.
Die Region des Persischen Golfs, Herr Kollege
Weisskirchen, wird für die euroatlantische Sicherheit immer wichtiger. Die wahrscheinlichsten Bedrohungen
durch Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen haben ihren Ursprung in dieser
Zone der Instabilität. Deshalb ist die NATO in Afghanistan und im Irak engagiert. Deshalb dehnt sie ihre Präsenz
über ihre traditionellen Einsatzgebiete aus. Und deshalb
brauchen wir dringend eine aktivere Politik der NATO in
der Golfregion. Lassen Sie mich gleich an dieser Stelle
sagen: Es geht vor allem um eine aktive politische Rolle
der NATO, nicht so sehr um ein zusätzliches militärisches Engagement.
Auf dem Gipfel in Istanbul hat die NATO im
Jahr 2004 die so genannte Istanbul Cooperation Initiative beschlossen. Das vorrangige Ziel dieser Initiative ist
es, interessierten Staaten der Region in Sicherheitsfragen
die Zusammenarbeit mit der NATO anzubieten, um auf
diese Weise Sicherheit und regionale Stabilität zu stärken. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich, dass die
Aktivitäten der NATO von den Staaten der Region gewünscht und akzeptiert werden. Bisher beteiligen sich
Kuwait, Bahrain und Quatar an dieser Initiative. Die
NATO sollte in dem Bemühen, auch die anderen Staaten
der Golfregion einzubeziehen, nicht nachlassen.
({8})
Die Istanbuler Kooperationsinitiative bietet ein breit
gefächertes Instrumentarium an, um interessierten Ländern dabei zu helfen, ihren Sicherheitsbedürfnissen auf
eine Weise zu entsprechen, die weiteres Wettrüsten in
der Region verhindert. Deshalb ist zu überlegen, die
Istanbuler Initiative durch eine Klausel ähnlich der in
dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“ zu ergänzen, nach der Konsultationen mit der NATO für den
Fall vorgesehen werden, dass sich ein ICI-Partner in seiner Sicherheit bedroht fühlt. Das würde zusätzliche Sicherheit gewährleisten.
({9})
Mittel- und längerfristig sollte die NATO den Staaten
der Golfregion dabei helfen, neue Mechanismen kollektiver Sicherheit zu etablieren. Solche vertrauensbildenden Maßnahmen können zu neuen Sicherheitsstrukturen
in der Region des Persischen Golfs führen, in die dann
auch andere Staaten der Region einbezogen werden
könnten. Diese politischen Anstrengungen der NATO
sollten eine Politik der EU flankieren, mit der wir innere
Reformprozesse und wirtschaftlichen und demokratischen Wandel in den Ländern der Region behutsam und
beharrlich unterstützen. Auch wenn Übereinkommen
kollektiver Sicherheit nur schrittweise und nur über einen längeren Zeitraum hin erreicht werden können, ist es
trotzdem notwendig, alles daranzusetzen, in dieser spannungsgeladenen Region, die für Europa, für die USA
und für die ganze Welt so wichtig ist, dorthin zu kommen. Übrigens haben Staaten der Region auch umgekehrt bereits zur euroatlantischen Sicherheit beigetragen,
etwa im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen
Terrorismus.
({10})
Meine Damen und Herren, es muss die NATO auch
kümmern, was im Iran geschieht; ich kann dieser FestDeutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16087
stellung des NATO-Generalsekretärs, zu lesen in einem
Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“, nur zustimmen.
({11})
Der NATO-Rat sollte Iran auf seine Tagesordnung setzen. Die NATO könnte die Plattform abgeben, auf der
eine in erster Linie diplomatische Strategie abgestimmt
wird: Erstens. Wie kann man Iran überzeugen, Kernenergie nur zu friedlichen Zwecken zu nutzen? Wie kann
dies objektiv, dauerhaft und kontrolliert garantiert werden? Zweitens. Wie kann man die politische Isolation
Irans beenden? Drittens. Wie kann man das Land in einen regionalen Sicherheitsdialog einbeziehen? Diese
Punkte gehören auf die Tagesordnung des NATO-Rates.
({12})
Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass es gelingen
wird, Iran dauerhaft zur Befolgung der Verpflichtungen
aus dem Atomwaffensperrvertrag anzuhalten, wenn die
Europäer und die USA dieses Ziel im Rahmen einer gemeinsamen Strategie verfolgen. Und wo sollten Europäer und Amerikaner über solche für unsere transatlantische Sicherheit so entscheidenden Fragen sprechen,
wenn nicht in der NATO?
Die NATO ist und bleibt das Verteidigungsbündnis,
dem wir aus guten Gründen auch im 21. Jahrhundert unsere Sicherheit, den Frieden und die Freiheit anvertrauen
können. Weil die NATO ein Bündnis auf Gegenseitigkeit
ist, muss Deutschland auch zum Bündnis beitragen nach seiner Größe und Leistungsfähigkeit und nach der
Bedeutung, die wir wahrnehmen wollen. Dafür braucht
die Politik nicht zuletzt angesichts knapper Kassen auch
die Unterstützung der Öffentlichkeit. Dafür arbeitet, mit
tatkräftiger Unterstützung aus allen Fraktionen sowie der
Bundesregierung, auch die Deutsche Atlantische
Gesellschaft. Ich möchte diese Debatte zu 50 Jahren
deutscher NATO-Mitgliedschaft deshalb auch zum Anlass nehmen, mich dafür bei der Bundesregierung, bei
meinen Kolleginnen und Kollegen und vor allem bei den
über 3500 Mitgliedern der Deutschen Atlantischen Gesellschaft zu bedanken, die in 29 Arbeitskreisen überall
in Deutschland vertreten sind, die sich beständig und immer wieder an der sicherheitspolitischen Debatte in
Deutschland beteiligen und für die Aufgaben und Ziele
der NATO im 21. Jahrhundert einsetzen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen!
Die Bundeswehr war und ist fest integriert in die militärischen Strukturen der NATO. Sie wurde nach dem Beitritt Deutschlands zur NATO fest in ein Bündnis demokratischer Staaten eingebettet. Diese feste Einbettung ist
auch ein Teil unserer geschichtlichen Erfahrungen und
Konsequenzen.
({0})
50 Jahre NATO-Mitgliedschaft haben die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik geprägt, ebenso das innere
Gefüge der Bundeswehr: Sie war und ist von vornherein
nur darauf ausgerichtet, zusammen mit anderen Bündnispartnern - und nicht alleine - die äußere Sicherheit
unseres Landes zu wahren. Natürlich sind die 50 Jahre
auch Anlass zum Feiern.
({1})
Der Antrag der Union ist eine Gelegenheit zur Debatte. Wenn Sie dann allerdings statt Festreden Reden
halten, die eher rückwärts gerichtet sind,
({2})
habe ich meine Bedenken. Das Zweite - die Kollegen des
Verteidigungsausschusses wissen das -: Es wird auch einen offiziellen Anlass zum Feiern geben: Das 50-jährige
Jubiläum der Bundeswehr wird im Herbst mit vielen
Veranstaltungen - unter anderem einer großen hier - begangen. Auch durch die Personen, die dort auftreten,
wird sehr deutlich sichtbar werden, dass das Jubiläum
der Bundeswehr und das Jubiläum der NATO nicht getrennt voneinander gefeiert werden, sondern unmittelbar
miteinander verknüpft sind. Hier besteht also kein Anlass zu Kritik.
({3})
In all diesen 50 Jahren hat sich die NATO als fähig erwiesen, den sicherheitspolitischen Herausforderungen
während des Kalten Krieges wirkungsvoll zu begegnen.
Sie hat sich nach 1989 dieser veränderten Welt angepasst. Die NATO befindet sich mitten in ihrer eigenen
Transformation. Sie ist dabei, sich auch politisch neu
zu justieren. Das zeigt, dass sich manche, die Zweifel
daran hatten, dass die NATO diesen Wandel schafft, irren. Die NATO bleibt ein sehr lebendiges Bündnis. Eines
fand ich immer ganz spannend: Bei allem Dissens mit
den Vereinigten Staaten in der Frage des Irakkrieges
- Sie haben das heute wieder angesprochen; es war nicht
anders zu erwarten - hatte der politische Streit nie Auswirkungen auf das innere, funktionale Gefüge der
NATO. Operativ hat alles nach wie vor ohne Probleme
sehr gut zusammengearbeitet und gepasst.
Wer sich Ihren Antrag anschaut, dem wird sehr
schnell klar, dass es Ihnen letztlich nicht um die Würdigung der NATO, sondern sicherlich ein Stück weit vordergründig darum geht, mit dem Finger auf diese Koalition zu zeigen. Ihre Argumente sind allerdings sehr
dünn.
({4})
Lassen Sie mich das deshalb noch einmal in Erinnerung
rufen.
16088 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Deutschland gehört bei NATO-Missionen zu den
größten Truppenstellern innerhalb des Bündnisses. Das
betrifft den Balkan, Afghanistan und auch manche andere kleine Aufgaben, die die NATO in ihrer Geschichte
erfüllt hat. Sie vergessen dabei auch: Der Wandel der
NATO, den wir mit der Bundeswehr in einem parallelen
Prozess mitmachen, wird von einem sozialdemokratischen Minister mitgestaltet. Dieser Wandel bedeutet
gleichzeitig ein Stück weit die Auflösung eines Reformstaus, den wir 1998 vorgefunden haben. Wir haben
damit begonnen, die Bundeswehr diesen neuen Aufgaben anzupassen. Wann werden Sie endlich verstehen,
dass sich die Bundeswehr und die Bundesregierung bei
ihren NATO-Engagements nicht verstecken müssen?
({5})
Gestern war eine ganze Reihe Kolleginnen und Kollegen Verteidigungspolitiker bei den großen Manövern,
die an verschiedenen Stellen in Deutschland stattgefunden haben. 25 Partner waren daran beteiligt. Jeder
konnte dort sehen, dass die Bundeswehr von der Ausbildung der Soldaten über die Motivation der Soldaten bis
hin zum Gerät, das dort in aller Breite vorgeführt wurde,
hervorragend auf diese zukünftigen Aufgaben vorbereitet ist. Jeder von Ihnen, der in den Einsatzgebieten mit
Soldaten und Politikern der NATO-Partner redet, merkt
doch auch, dass die deutschen Soldaten dort einen außerordentlich großen Respekt für ihren Einsatz erhalten. Ich
sage ausdrücklich: Unsere ganze Gesellschaft und auch
wir Parlamentarier können stolz auf die Arbeit der deutschen Soldaten in den Einsatzgebieten sein.
({6})
Nein, in Ihrem Antrag fehlt wirklich eine kontinuierliche, konsistente Linie. Sie schreiben zum Beispiel:
Die Mitgliedschaft beruht auf der Freiwilligkeit und
der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder.
Ein paar Zeilen später, wo Sie über den Irakkrieg reden,
hört sich das bei Ihnen bereits ganz anders an. Mit Ihrer
Eingangsformulierung haben Sie aber in der Tat Recht.
Vielleicht haben Ihre Arbeitsgruppen, die den Antrag
formuliert haben, nicht ausreichend kooperiert. Diesen
Eindruck gewinnt man an verschiedenen Stellen in Ihrem Papier.
Es ist in der Tat so: In der NATO herrschen nicht Befehl und Gehorsam. Gerade als politisches Bündnis hat
die NATO ihre Entscheidungen im Konsens zu treffen.
Die Mitgliedstaaten bringen ihre Interessen und ihre Positionen selbstständig ein. Vielleicht musste der eine
oder andere NATO-Partner hier auch ein wenig dazulernen, dass Deutschland, das in vielen Jahren NATO-Partnerschaft aufgrund seiner besonderen historischen Verantwortung und seiner Position als Nahtstelle während
des Kalten Krieges - die Grenze ging quer durch
Deutschland - eine ein Stück weit besondere Rolle hatte,
jetzt plötzlich begonnen hat, seine Pflichten in der
NATO wie alle anderen NATO-Partner auch entsprechend seinem ökonomischen Gewicht und seiner Größe
zu erfüllen. Der eine oder andere NATO-Partner musste
allerdings auch lernen, dass mit der Erfüllung dieser
Pflichten durch Deutschland natürlich auch das Einfordern der selbstverständlich partnerschaftlichen Rechte
auf Augenhöhe verbunden ist. Dies hat die Bundesregierung in den letzten Jahren notwendigerweise sichtbar gemacht.
({7})
In Ihrem Antrag gehen Sie in einem anderen Zusammenhang auf die Rede des Bundeskanzlers in München ein. Es ist interessant, sich das genauer anzusehen.
An der einen Stelle heißt es, dass man sich mit dem Bericht des Rates Hoher Experten zur Reform der Vereinten Nationen vom Dezember 2004 eingehend auseinander setzen sollte und daraus Konsequenzen für das
Handeln der NATO gezogen werden sollten. Gleichzeitig kritisieren Sie den Bundeskanzler, der genau das tut,
was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Ich denke, er hat
mit seiner Rede in München, in der er ausführte, dass
dieser politische Prozess und dieser Diskurs in der
NATO geführt werden muss und dass es hier Defizite
gibt, ins Schwarze getroffen.
Wir sollten selbstkritisch sagen: Wenn in der NATO
nur über Fähigkeiten, Fähigkeiten und noch einmal Fähigkeiten - wie der alte Sekretär sagte - geredet wird,
nicht aber die politischen Veränderungen und die Neujustierung der NATO berücksichtigt werden, und wenn
wir Europäer nicht in der Lage sind, dieses inhaltliche
Defizit mit einer gemeinsamen europäischen Position
ausreichend zu füllen, dann gehöre ich nicht zu denen,
die sich darüber beklagen, dass die Vereinigten Staaten
dieses Defizit ausfüllen. Deshalb hatte der Bundeskanzler in vielerlei Hinsicht Recht: Wir müssen diese politische, inhaltliche und strukturelle Debatte über die Zukunft, die Aufgaben und Fähigkeiten der NATO
miteinander führen.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zu den von Herrn
Schmidt angesprochenen Fähigkeiten sagen. Herr
Schmidt, alle europäischen Partner in der NATO haben
erkannt - es gibt dazu auch eine Reihe von Beschlüssen -, dass wir mehr tun müssen, um unsere Lücken aufzufüllen. Aber alle Staaten leiden unter knappen Haushalten. Deshalb kann es nur eine Antwort geben - eine
Erhöhung der Etats ist nicht realistisch -: Den Europäern
muss es gelingen, die knappen Mittel einfach besser zu
bündeln. Das knappe Geld muss intelligenter ausgegeben werden. Es darf nicht sein, dass jedes Land selbst
Entwicklungsarbeit leistet, obwohl es nicht ausreichend
Forschungsgelder bereitstellen kann, und später nur
kleine Stückzahlen beschafft. Auch hier ist der Transformationsprozess der NATO und, daraus resultierend, der
Europäischen Union mit der Einrichtung der Agentur
für Fähigkeiten - die Deutschen waren an der Ausarbeitung dieser Idee maßgeblich beteiligt - auf einem
richtigen Weg. Das ist notwendig; denn es wird die einzige Chance sein, technologisch so zu arbeiten, dass die
Europäer den Beitrag, den sie leisten wollen und müsDeutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16089
sen, auch tatsächlich leisten. Das wird nur gemeinsam
gehen.
({9})
Ich möchte am Schluss noch einen Gedanken von
Herrn Polenz aufnehmen, weil ich finde, dass er im Gegensatz zu den Vorrednern aus der Union ein Stück weit
nach vorne gedacht hat. Die Überlegung, welche Verantwortung die NATO am Golf, also im Nahen und Mittleren Osten, hat, ist sehr spannend. Eines müssen wir aber
ehrlicherweise hinzufügen: Die NATO kann hier nur
wirksam werden, wenn sie gegenüber neuen Partnern offen ist. Letztlich wird ihr Erfolg davon abhängen, ob sie
in dieser Region bei den schwierigen Konflikten als fairer Mittler wahrgenommen wird.
({10})
Dieser faire Mittler zu sein wird möglicherweise durch
die Position des NATO-Partners Vereinigte Staaten nicht
unbedingt ganz einfach sein. Diesen Konflikt müssen
wir miteinander auflösen und diesen Diskurs mit den
Vereinigten Staaten führen. Nur dann wird dies ein erfolgreiches Projekt werden können.
Alles in allem war die NATO für unsere Gesellschaft
und unser Land wirklich der Garant dafür, dass meine
Generation - das war für meinen Vater und meinen
Großvater eben nicht selbstverständlich - in Frieden aufwachsen konnte. Deutschland wird auch in Zukunft mit
der gewachsenen Verantwortung seinen Beitrag für Sicherheit, Stabilität und Frieden in vielen Teilen der Welt,
in denen Menschen nicht das Glück haben, so groß zu
werden, wie dies heute hier möglich ist, leisten.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 15/324 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Die NATO auf die neuen Gefahren aus-
richten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/44 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion bei Stimmenthaltung der FDP-Frak-
tion angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5323 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 g sowie
die Zusatzpunkte 6 a bis 6 c auf:
24 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes
zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/5316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Kontrolle hochradioaktiver Strahlenquellen
- Drucksache 15/5284 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({2}), Eberhard Otto ({3}),
Joachim Günther ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Weitere Monopolisierung im Schienengüterverkehr stoppen
- Drucksache 15/4947 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({6}), Birgit Homburger, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ausbau der Schienenmagistrale Paris-Karlsruhe-Stuttgart-München-Budapest
- Drucksache 15/5041 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({8}), Eberhard Otto ({9}),
Joachim Günther ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Logistikstandort Deutschland stärken
- Drucksache 15/5044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Einwilligung gemäß § 12 Abs. 3 des Hochschulbauförderungsgesetzes in die Verwendung von
Bundesmitteln für die Gemeinschaftsaufgabe
Hochschulbau für die gemeinsame
16090 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Forschungsförderung nach Art. 91 b des
Grundgesetzes
- Drucksache 15/5170 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({12})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung abschließen
- Drucksache 15/5342 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 6 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/5315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
- Drucksache 15/5314 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({15})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold
Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 15/5319 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({16})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem OCCAR-Geheimschutzübereinkommen vom 24. September 2004
- Drucksache 15/4979 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({18})
- Drucksache 15/5311 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5311,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes
in Bundespolizei
- Drucksache 15/5217 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({19})
- Drucksache 15/5365 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({20})
Ralf Göbel
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
Hierzu liegt eine gemeinsame Erklärung der beiden
Abgeordneten Pau und Dr. Lötzsch vor, die wir zu Proto-
koll nehmen.1)
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/5365, den Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/
CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
der Kollegin Pau angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
1) Anlage 2
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16091
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
zur Änderung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes sowie des Hochschulstatistikgesetzes
- Drucksache 15/5215 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({21})
- Drucksache 15/5366 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Elke Wülfing
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5366, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU, der
FDP und der Kollegin Pau angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({22})
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Jochen Borchert, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
zu der Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Zukunft sichern - Globale Armut bekämpfen
- Drucksachen 15/923, 15/1190 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Dr. Christian Ruck
Thilo Hoppe
Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag
auf Drucksache 15/923 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({23})
zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß
({24}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Menschen mit Behinderung in Entwicklungszusammenarbeit einbeziehen
- Drucksachen 15/2968, 15/4994 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Peter Weiß ({25})
Thilo Hoppe
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2968 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/
CSU und FDP bei Enthaltung der Kollegin Pau angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({26})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: § 96 a ({27})
- Drucksache 15/5245 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz
Volker Beck ({28})
Jörg van Essen
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimme der Kollegin Pau angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
- Drucksache 15/5260 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 197 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
- Drucksache 15/5261 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 198 ist einstimmig angenommen.
16092 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 199 zu Petitionen
- Drucksache 15/5262 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 199 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 200 zu Petitionen
- Drucksache 15/5263 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/
CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen
jetzt gleich als Zusatzpunkte 13 a bis 13 c aufgerufen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Zusatzpunkt 13 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({33}) zu dem Zweiten Gesetz zur
Änderung des Seemannsgesetzes und anderer
Gesetze
- Drucksachen 15/4638, 15/4744, 15/4923, 15/5344 -
Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Berichterstatter im Bundesrat:
Minister Jochen Dieckmann
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht-
erstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Der
Herr Kollege Stiegler hat allerdings eine Erklärung zu
Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies
gilt auch für die nachfolgende Beschlussempfehlung.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5344? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 13 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({34}) Anlage 3
mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Änderung des Apothekengesetzes
- Drucksachen 15/4293, 15/4643, 15/4749,
15/4916, 15/4920, 15/5345 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
Berichterstatter im Bundesrat:
Minister Rudolf Köberle
Wir kommen gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 15/5345? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 13 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({35}) zu dem Gesetz zur Regelung
bestimmter Altforderungen ({36})
- Drucksachen 15/4640, 15/4963, 15/5177,
15/5346 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Werner Kuhn ({37})
Berichterstatter im Bundesrat:
Staatsminister Geert Mackenroth
Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5346? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion
angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 7auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen
Äußerungen der SPD-Fraktions- und -Parteispitze zu Wirtschaftsinvestitionen in Deutschland
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem
Redner für die antragstellende Fraktion dem Kollegen
Dr. Guido Westerwelle von der FDP-Fraktion das Wort.
({38})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag ist
({0})
notwendig, damit von uns, vom Deutschen Bundestag,
das Signal an die Investoren im In- und Ausland ausgeht:
Der Deutsche Bundestag begrüßt Investitionen in
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16093
Deutschland, er will Investoren in Deutschland und er
beschimpft sie nicht so, wie Sie, Herr Kollege
Müntefering, das getan haben.
({1})
Die Freien Demokraten haben diese Aktuelle Stunde
beantragt, weil sie aus unserer Sicht vor allen Dingen
auch einen Strategiewechsel in der Politik - nicht nur der
Sozialdemokraten, sondern auch der Bundesregierung betrifft. Das Bemerkenswerte ist, dass Ihr Heuschreckenvergleich, Herr Müntefering, mittlerweile auch den
Beifall des Bundeskanzlers und des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten gefunden hat. Auch der Wirtschaftsminister stößt inzwischen in das gleiche Horn.
Ein Wirtschaftsminister, der Investoren vor einer solchen
pauschalen Kritik nicht in Schutz nimmt, sondern zulässt, dass sie beschimpft werden, und sie dadurch abschreckt, erfüllt nicht sein Amt.
({2})
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir
wollen Arbeitsplätze schaffen. Wer Arbeitsplätze schaffen will, weiß, dass das nur über Investitionen geht. Investitionen werden aber nicht in Deutschland getätigt,
wenn man die Investoren mit Heuschreckenvergleichen
überzieht und sie als biblische Plage bezeichnet. Investoren kommen nur nach Deutschland, wenn es ein vernünftiges, wirtschaftsfreundliches Klima gibt.
({3})
Unsere Politik schafft Arbeitsplätze, Ihre Politik soll
Stimmungen schaffen, und zwar auf Kosten von Arbeitsplätzen. Das ist der feine Unterschied.
({4})
Herr Müntefering, der Vergleich mit den Heuschrecken ist übrigens bemerkenswert. Zunächst einmal: Heuschrecken sind grün, Herr Müntefering.
({5})
Das wollen wir einmal festhalten; das ist eine wichtige
Erkenntnis. Auch ideologisch passt ja Ihr Bild überhaupt
nicht.
({6})
Die einzige Heuschreckenplage, die über Deutschland
herzieht, sind die Grünen, die mit ihrer investitionsfeindlichen Politik Arbeitsplätze vernichten.
({7})
Wir haben im letzten Jahr 40 000 Insolvenzen erlebt;
wir haben eine Staatsquote von rund 50 Prozent. Das ist
die Lage in Deutschland. Wenn man in einem Land, das
eine Staatsquote von 50 Prozent hat, allen Ernstes
glaubt, man müsse die Furcht vor der freien Marktwirtschaft säen, dann ist man nicht von dieser Welt.
({8})
Jeder zweite Euro, der in Deutschland ausgegeben wird,
geht durch die Hände des Staates. Es droht nicht die freie
Marktwirtschaft, es droht die bürokratische Staatswirtschaft. Nicht die Marktwirtschaft kostet in Deutschland
Arbeitsplätze, die bürokratische Staatswirtschaft kostet
Arbeitsplätze in Deutschland. Deswegen ist es ein Fehler, zurück in diese Klassenkampfparolen zu gehen, Herr
Kollege Müntefering.
({9})
Wir haben 5,2 Millionen Arbeitslose. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Das ist das Ergebnis von schlechten
Rahmenbedingungen für Investoren und Investitionen in
diesem Land. Deutschland hat nur dann eine Chance,
wenn wir dafür sorgen, dass in Deutschland investiert
wird.
Das reiht sich in eine Serie ein: Sie sagen, die Investoren seien eine Art Heuschreckenplage. Es ist übrigens
interessant, dass der Bundeskanzler bei jeder Auslandsreise gar nicht genug von diesen Heuschrecken in der
Regierungsmaschine mitnehmen kann.
({10})
Aber Frau Kollegin Vogt setzt noch eins drauf: Sie ruft
als Mitglied der Bundesregierung und stellvertretende
Chefin der SPD zu einem Boykott gegen entsprechende
Unternehmen auf. In einer Zeit, in der wir ohnehin einen
großen Nachfragestau haben und in der wir ohnehin zu
wenig Konsum in Deutschland haben, zu einem Boykott
von Unternehmen aufzurufen vergrößert die Arbeitslosigkeit.
({11})
Keiner Ihrer Sätze schafft auch nur einen Arbeitsplatz. Arbeitsplätze werden nicht von Ihnen geschaffen,
sondern von Investoren und Menschen, die bereit sind,
ein persönliches Risiko zu übernehmen. Diese Risikobereitschaft gehört in Deutschland belohnt und nicht beschimpft.
({12})
Sie sind der Überzeugung, Sie hätten alles getan. Sie
sind der Meinung, jetzt sei es Aufgabe der Wirtschaft, zu
handeln, weil Sie Ihre Hausaufgaben gemacht hätten.
({13})
Tatsache ist aber, dass Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Die Steuern sind eben nicht gesenkt,
({14})
sondern durch die Einführung der Ökosteuer noch erhöht
worden. Die Steuer- und Abgabenlast ist in diesem
16094 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Lande gestiegen. Die Staatsquote bekommen Sie nicht in
den Griff und die Bürokratie wird weiter ausgebaut.
Wenn Sie weiterhin so schlechte Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland schaffen und zulassen, dann tragen Sie die Verantwortung dafür, dass in
Deutschland die Arbeitslosigkeit nicht richtig bekämpft
werden kann. Herr Müntefering, Sie mögen mit dieser
Rede Stimmungen schaffen wollen; Sie mögen mit dieser Rede den Arbeitsplatz von Herrn Steinbrück retten
wollen.
({15})
Aber Sie riskieren mit einer solchen Geisteshaltung den
Arbeitsplatz von vielen Tausend Menschen.
({16})
Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Franz Müntefering.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich lasse alle absichtlichen Missverständnisse und kleinkarierten Unterstellungen beiseite und spreche zur Sache.
Kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland haben erhebliche Probleme, von ihren Banken und Sparkassen Kredite für ihre Investitionen zu bekommen.
Deshalb expandieren sie nicht, deshalb schrumpfen sie.
Arbeitnehmer werden entlassen und durch ausländische
Scheinselbstständige ersetzt, die für den halben Lohn arbeiten müssen. Unternehmen siedeln wegen weniger
Prozente mehr Gewinn ins Ausland um und lassen ihre
Arbeitnehmer mit ihren Familien im Stich. Rund 15 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts werden illegal und in
Schwarzarbeit erwirtschaftet. Das sind 250 bis 350 Milliarden Euro pro Jahr.
({0})
Die ehrlichen Unternehmen sind die Dummen.
({1})
Kleinen Unternehmen werden ihre Innovationen abgerungen und zur Produktion ins Ausland verkauft.
({2})
Eine große deutsche Bank hat eine Eigenkapitalrendite von 16,7 Prozent vor Steuern. Sie verkündet exorbitante Gewinne, fordert 25 Prozent Kapitalrendite und
kündigt an, dass 6 000 Menschen entlassen werden. Managergehälter steigen ins Unermessliche und werden geheim gehalten. Großes Geld mit kurzfristigem Profitinteresse kauft sich hier ein und beutet Unternehmen in
knappen Zyklen aus. Siemens-Nixdorf, Klöckner und
Duales System darf man wohl nennen. Das alles hat mit
sozialer Marktwirtschaft und Unternehmensethik nichts
zu tun.
({3})
Da geht es um den Vorteil weniger und um Lasten für
viele. Das ist marktradikal und asozial.
({4})
Das lässt uns Sozialdemokraten nicht kalt. Darüber
habe ich gesprochen und festgestellt: Die meisten Unternehmen in Deutschland wissen, sie sind ihrem Unternehmen, ihren Arbeitnehmern und dem Standort verpflichtet.
({5})
Sie haben unsere Unterstützung. Kein Unternehmer, der
so denkt und handelt, stößt mit seinen Sorgen bei uns auf
taube Ohren.
Aber die oben beschriebenen Wahrheiten gibt es
auch. Diese Missstände nehmen zu, bei uns und international. Das darf man nicht verschweigen und das darf
man nicht billigend in Kauf nehmen - im Interesse der
Arbeitnehmer, des sozialen Friedens und der Demokratie. Wir wollen soziale Marktwirtschaft in Deutschland.
({6})
Soziale Marktwirtschaft - das ist wichtig - ist voll
wettbewerbsfähig in der Konkurrenz zum Marktradikalismus. Der Wohlstand in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auf der Grundlage von sozialer
Marktwirtschaft entwickelt und nicht durch Marktradikalismus und nicht durch Kapitalismus pur.
({7})
Im Gegenteil: Wo totale Ökonomisierung das Handeln
bestimmt, hat der soziale Auftrag der Politik keine
Chancen mehr. Wirtschaft ist aber für die Menschen da
und nicht umgekehrt.
({8})
Das leitet sich im Übrigen nicht nur aus unserem Programm, sondern auch aus unserem Grundgesetz ab.
Art. 20, ein Artikel, der nicht - auch nicht mit Zweidrittelmehrheit - verändert werden kann, lautet:
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Art. 14 bestimmt:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
So wie Deutschland wollen wir auch Europa: demokratisch und sozial.
({9})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16095
Wenn die Menschen das Vertrauen in die Politik, in den
Staat und darin verlieren, dass diese Maximen des
Grundgesetzes Messlatte für das Handeln bleiben, sieht
es für die Reputation der Demokratie schlecht aus.
Die Staatsquote ist auf 47,5 Prozent gesunken. - Sie
sollten sich das noch einmal ansehen; denn so gehen Sie
mit Zahlen um -: Nicht 50 Prozent, sondern 47,5 Prozent ist richtig. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. - Wir haben die Körperschaftsteuer von 40 auf
25 Prozent gesenkt.
({10})
Wir senken diesen Satz weiter auf 19 Prozent. Wir haben
die Einkommensteuer in der Spitze von 53 auf 42 Prozent gesenkt.
({11})
Wir haben die Dynamik der Lohnnebenkosten gebrochen
und die Lohnnebenkosten leicht gesenkt.
Das alles war richtig. Dazu stehen wir; denn wir wollen, dass deutsche Unternehmen wettbewerbsfähig sind.
Aber es muss nun auch gut sein mit dem Lamento bestimmter Wirtschaftsfunktionäre,
({12})
die die Politik für alles verantwortlich machen und selbst
mit der Macht des Geldes winken, wenn sie die Qualität
des Wirtschaftsstandortes herunterreden. Es reicht.
Ich sage den anständigen Unternehmen in Deutschland - das sind die meisten -: Wir sind unverändert zu
zielführender Zusammenarbeit
({13})
zum Nutzen der Unternehmen und zum Nutzen der Menschen in unserem Land bereit. Den anderen sage ich: Wir
lassen den Sozialstaat nicht schleifen und die soziale
Marktwirtschaft nicht amputieren. Wir lassen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie
nicht ramponieren.
({14})
Diese Debatte ist fällig. Bei dieser Debatte darf es
nicht bleiben. Wer dieses Land erneuern und zusammenhalten will, wer Wohlstand und soziale Gerechtigkeit
dauerhaft will - wir wollen das -, wird diese Baustelle
nicht liegen lassen dürfen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/
CSU-Fraktion.
Liebe Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Müntefering, wenn man Sie so reden hört, hat man fast das Gefühl, dass wir regieren und
Sie in der Opposition sind.
({0})
Sie sind doch für die Politik in diesem Land verantwortlich. Sie haben doch alle Möglichkeiten, die soziale
Marktwirtschaft so zu gestalten, wie Sie sie hier vorgestellt haben. Anstelle dessen bringen Sie Jahrhunderte
nach Marx
({1})
Klassenkampfparolen. Das ist ein plumpes, durchschaubares Wahlkampfmanöver, um in Nordrhein-Westfalen
wieder an die Regierung zu kommen.
Sie versuchen, mit pauschalen, ideologischen Anschlägen auf die Wirtschaft von der Realität in diesem
Land abzulenken.
({2})
Wir haben in diesem Land über 5 Millionen Menschen
ohne Arbeit, davon mehr als 1 Million allein in Nordrhein-Westfalen.
({3})
Ich glaube, diese Realität spricht für sich und zeigt ganz
genau, auf welcher Seite in diesem Hause das Versagen
liegt.
({4})
Die Menschen haben Sorgen. Die Menschen haben
Angst um ihren Arbeitsplatz. Die Menschen haben
Angst, keinen Arbeitsplatz mehr zu bekommen. Sie erwarten zu Recht unseren Beistand und nicht irgendeine
Illusion oder Propaganda, hinter der außer leeren Worthülsen nichts steckt, hinter der keine politische Alternative steht, die aufzeigt, wie ihnen geholfen werden soll.
({5})
Wir alle wissen: Deutschland ist nun einmal Teil eines
größer gewordenen Wirtschaftsraums geworden. Wir
wissen: Der Wettbewerb ist stärker geworden. Wir wissen aber auch, dass Deutschland beim Wachstum unter
den 25 Mitgliedstaaten der EU an 25. Stelle steht, dass
wir Letzter sind. Die Ursache dafür ist nicht irgendein
Marktversagen, wie Sie es den Menschen glauben machen wollen. Die Ursache ist ein Staatsversagen. Wer regiert denn in diesem Land? Das sind Rot und Grün und
nicht wir von der Union.
16096 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
({6})
Ich wundere mich schon, warum andere Staaten, die unsere Mitbewerber sind, im internationalen Vergleich vor
uns sind, obwohl sie die gleichen weltwirtschaftlichen
Rahmenbedingungen haben wie wir. Das ist doch keine
Laune des Schicksals. Das ist doch reine hausgemachte
Politik, die Sie in diesem Hause vertreten und praktizieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kapital ist
mobiler geworden, das wissen wir. Mit solchen Propagandaallüren, wie Sie sie hier anbringen, wird das Kapital Deutschland meiden. Es werden keine Investitionen
hier getätigt werden. Vertrauen ist ein ganz, ganz wichtiger Wachstumsfaktor. Das heißt, wenn die Menschen
kein Vertrauen mehr haben, werden sie nicht mehr konsumieren. Wenn die Unternehmer kein Vertrauen mehr
haben, werden sie nicht mehr investieren. Bei 5 Millionen Menschen ohne Arbeit brauchen wir drei Dinge: erstens Jobs, zweitens Jobs und drittens Jobs. Wir brauchen
nicht irgendwelche Klassenkampfparolen, die ökonomischer Unfug hoch drei sind.
({7})
Wir brauchen Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen.
Es sind immer noch die Unternehmer, die hier die Arbeitsplätze schaffen. Sie wissen ganz genau, dass nur
rentable Unternehmen, die Gewinn oder eine Hoffnung
auf Gewinn haben, Arbeitsplätze schaffen. Deswegen ist
eine pauschale Gewinnverteufelung der vollkommen falsche Weg.
({8})
Ich gebe ja zu, es darf auch bei Unternehmern keine
Immunität gegen Kritik geben. Ich gebe auch zu, dass
nicht alle Unternehmensentscheidungen richtig sind.
({9})
Ich gebe auch zu, dass viele Managerentscheidungen,
gerade in der letzten Zeit, auch Arbeitsplätze gekostet
haben.
({10})
Man muss aber auch ganz ehrlich sagen, dass viele Tausende kleine und mittlere Betriebe eine ganz große soziale Verantwortung ihren Mitarbeitern gegenüber haben. Gott sei Dank wissen das deren Mitarbeiter auch
und lassen sich nicht von solchen Parolen, wie Sie sie
hier von sich geben, ins Bockshorn jagen.
({11})
Sie zeigen hier eine unwahrscheinliche Orientierungslosigkeit, Sie zeigen hier eine unwahrscheinliche
Unglaubwürdigkeit. Man weiß überhaupt nicht mehr, wo
Ihre Wirtschaftspolitik überhaupt hingeht. Welchen Weg
haben Sie überhaupt eingeschlagen? Auf der einen Seite
lässt sich der Kanzler, wie in Davos, vom internationalen
Kapital ganz groß als der große Reformer feiern, als Genosse der Bosse.
({12})
Sie, lieber Herr Müntefering, haben den anderen Part der
Arbeitsteilung. Sie sind der Genosse der Genossen, Sie
beschimpfen auf der anderen Seite das internationale
Kapital, das den Kanzler wiederum lobt.
({13})
Da frage ich mich schon, was sich Ihre Kollegin Ute
Vogt dabei gedacht hat, hier zum Boykott aufzurufen.
Das könnte für viele kleine Betriebe, die wirklich ums
nackte Überleben kämpfen, in der Zukunft den Todesstoß bedeuten, sodass sie dann in Insolvenz gehen und
auch die letzten Arbeitsplätze hier vernichtet werden.
Ich wundere mich auch, wie Sie mit der „Frankfurter
Rundschau“, an der Sie beteiligt sind, hier umgehen.
Hunderte von Arbeitsplätzen sollen bei dieser Zeitung
abgebaut werden. Sie machen momentan einen Aufruf
an Ihre Mitglieder, die „Frankfurter Rundschau“ zu abonieren. Da frage ich mich schon: Abonieren oder boykottieren? Sie müssen sich in Zukunft schon entscheiden, was Sie wollen.
Frau Kollegin, in der Aktuellen Stunde haben Sie fünf
Minuten Redezeit; diese haben Sie überschritten.
Wenn der Minister sagt, man dürfe die Welt nicht dem
Geld überlassen, dann, glaube ich, kann man nur eines
sagen: Man darf Nordrhein-Westfalen nicht der SPD
überlassen. Das wäre wirklich der Königsweg in das vergangene Jahrhundert.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Wöhrl, Herr Westerwelle, Sie machen es sich zu leicht,
wenn Sie die Kapitalismuskritik von Franz Müntefering
hier als Propaganda, als Wahlkampf, als Klassenkampf
abtun. Ich finde, diese Kritik ist berechtigt und sie ist
überfällig.
({0})
Möglicherweise - das sieht man daran - bedarf es herzhafter und drastischer Worte, um einen nötigen Diskurs
vom Zaum zu brechen. Übrigens ist Franz Müntefering
nicht gerade der erste und einzige Kapitalismuskritiker
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16097
Werner Schulz ({1})
im 21. Jahrhundert. Ich erinnere Sie nur an Ihre Lobpreisungen für den verstorbenen, hoch verehrten Papst
Johannes Paul II.
({2})
Er hat sich sehr wohl für den Ordnungsrahmen der Freiheit eingesetzt. Er hat, wie wir wissen, auch einiges dafür getan. Er hat die Chancen der Globalisierung geschätzt, er hat die freie Marktwirtschaft und den freien
Welthandel geschätzt, aber er hat in seiner Enzyklika
Centesimus Annus beispielsweise auch darauf verwiesen, dass der Profit nicht das einzige Kriterium für den
wirtschaftlichen Erfolg sein kann, sondern dass es immerhin um die Menschen in den Unternehmen geht,
ohne die nichts läuft.
({3})
Wenn man die nicht anständig behandelt, dann werden
die Leistungsfähigkeit und der wirtschaftliche Erfolg infrage gestellt.
Oder lesen Sie die Philippika von Heiner Geisler im
November vergangenen Jahres in der „Zeit“,
({4})
in der er sich darüber beklagt, dass die Globalisierung
nicht human gestaltet wird,
({5})
und darauf hinweist, dass anonyme Finanzmärkte in ihrer endlosen Gier nach Geld ihre eigenen Hirne zerfressen.
({6})
Sinngemäß hat er geschrieben, dass nur Dummköpfe
und Besserwisser den Leuten einreden könnten, dass
man Solidarität und Partnerschaft aufgeben könne, ohne
dafür in der Demokratie einen politischen Preis zahlen
zu müssen. Nichts anderes hat Franz Müntefering gesagt.
({7})
Daniela Dahn zum Beispiel - Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs, dem auch Frau Merkel entstammt und in dem sie ihre ersten politischen Schritte
gemacht hat - schreibt, sie wollte immer in der Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Es ist doch interessant, dass viele in Ostdeutschland den Begriff Manchester-Kapitalismus aus den verstaubten Annalen eines
Trierer Bürgersohns erst in den 90er-Jahren wiederentdeckt haben. Bis dahin haben sie diesen Lektionen in
Marxismus gar nicht geglaubt. Sie haben erst in den
90er-Jahren wieder Akzeptanz gefunden.
Wenn Sie schon danach fragen: Es ist vielleicht nicht
mit biblischen Landplagen zu vergleichen, aber Sie finden im Osten ganze Landstriche, die deindustrialisiert
worden sind, und Sie können dort erleben, wie die Karawane der Schnäppchenjäger jetzt gen Osten weiterzieht,
weil die Subventionen ausgelaufen sind oder auslaufen
werden.
({8})
- Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu
tun, Herr Gerhardt. Ich weiß, dass Ihr Neoliberalismus
ohnehin nur darauf hinausläuft, sich von der Sozialbindung zu lösen, die die soziale Marktwirtschaft eigentlich
hat.
({9})
Das ist der Neoliberalismus, den Sie predigen.
Die großartigen Debattenredner zum Thema Patriotismus hätten in den 90er-Jahren die Chance gehabt, ihren
Patriotismus zu beweisen. Was aber haben Sie gemacht?
Sie haben die deutsche Einheit über Schulden und Lohnnebenkosten finanziert.
({10})
Auch das sind doch belastende Faktoren, wegen denen
wir nicht weiterkommen.
Damals hätten Sie dem nationalen Kapital an den patriotischen Kragen gehen können. Der Erfinder der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhardt, hat das mit einer Investitionsanleihe gemacht. Das ist insofern nichts
Neues. Sie aber haben das versäumt. Sie haben uns
Schulden und unendliche Lohnnebenkosten hinterlassen.
In diesem Zusammenhang sind einige Fragen erlaubt.
Was ist das für eine Wirtschaft, die schon seit Jahren
nicht in der Lage ist, genügend Ausbildungsplätze für ihren eigenen Nachwuchs zur Verfügung zu stellen?
({11})
Was ist das für eine Wirtschaft, die uns seit Jahren Millionen Arbeitslose überlässt und die Kosten auf die Gesellschaft abwälzt?
({12})
Was ist das für eine Wirtschaft, die sich gegen Mindestlöhne sträubt, aber grenzenlose Einkommen im Management zulässt?
({13})
Was ist das für eine Wirtschaft, die sämtliche Insolvenzen, Schwächen, Fehler und selbst das schwache Wachstum der Politik anlastet, ohne die Fehler auch bei sich
selbst zu suchen?
({14})
Ich will es mir aber nicht zu einfach machen. Denn
Ihre Kritik, Kollege Müntefering, richtet auch einige
Fragen an uns, die wir in der Regierungsverantwortung
und - wie ich hoffe - auch an der Macht sind.
16098 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Werner Schulz ({15})
({16})
- Sie sehen, dass meine Rede sehr ausgewogen ist; das
sollte Sie freuen.
({17})
Ich meine, wir müssen die Frage stellen, warum wir
das Prinzip „Fördern und Fordern“ bisher nur auf die Arbeitnehmerseite bezogen haben, statt auch die Arbeitgeberseite mit einzubeziehen.
({18})
Wir müssen auch fragen, warum die Arbeitgeber nicht
am Jobgipfel beteiligt waren, obwohl sie eigentlich die
wichtigsten Partner sind, die das erreichen könnten, was
notwendig ist.
Wir müssen des Weiteren fragen, ob die Senkung der
Unternehmensteuer wirklich etwas bringt, wenn die bisherigen Steuersenkungen nichts gebracht haben ({19})
Herr Kollege, auch Sie muss ich mahnen, zum Ende
zu kommen.
- und viele die doppelte Buchführung beherrschen,
indem sie die Gewinne gegenüber den Aktionären und
die Verluste gegenüber dem Finanzamt und damit dem
Staat ausweisen. Auch diese Fragen müssen wir klären.
Ich halte insofern die Diskussion für überfällig. Wir
sollten es uns nicht so leicht machen, wie Sie das Thema
abtun.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bei jeder Fragestellung ist wichtig, zu berücksichtigen, zu welchem Zeitpunkt oder aufgrund welcher
Motivation sie ins Licht gerückt wird.
({0})
Das ist hier der entscheidende Punkt. Wir haben seit
sechseinhalb Jahren eine rot-grüne Regierung. Es gibt
5,2 Millionen Arbeitslose und 40 000 Pleiten. Ihr Politikansatz greift offenkundig nicht, wenn es um neue Perspektiven, mehr Wachstum und die Befriedung unserer
Verhältnisse geht. Außerdem gibt es bald Wahlen in Ihrer Hochburg, Herr Müntefering, besser: in Ihrer gewesenen Hochburg.
In dieser Situation fällt Ihnen nichts anderes als Vehikel ein, als noch kurz vor bzw. nach zwölf mit einfachen
Antworten eine Stimmungswende in Nordrhein-Westfalen herbeizuführen. Das macht Ihren ganzen Ansatz sehr
unglaubwürdig.
({1})
Er hat zwar einen Kern, über den man reden kann. Aber
in diesen Zusammenhang gestellt, ist er nichts anderes
als Wahlkampfgetöse. Sie versprechen den Leuten kurz
vor der Wahl eine einfache Lösung, obwohl Sie keine
Zeit mehr haben, Ihren Ansatz anzuwenden. Sie werden
ihn auch nachher nicht mehr aufgreifen; denn Sie haben
wie bisher keine wirksamen Lösungsansätze für das, was
Sie kritisieren, aufgezeigt.
({2})
Bisher war es das Privileg von NPD und PDS, in
schwierigen Verhältnissen die Leute mit einfachen Antworten in die Irre zu führen.
({3})
In Ihrer Not machen Sie nun etwas Ähnliches,
({4})
und das zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der Bundeskanzler noch immer als Genosse der Bosse feiern lässt.
Das ist Ihre Zweipoligkeit: Müntefering für das sozialistische Herz und das Träumen, Gerhard Schröder für die
großen Unternehmen in diesem Land. Entschuldigung,
aber war die Telekom unter Herrn Sommer elegant geführt? Damals hatte der Staat allen Einfluss. War Herr
Eichel der Heuschreckenvertreter oder wer sonst ist für
die dortige Fehlentwicklung verantwortlich? Wer hat
30 000 Leute in die Arbeitslosigkeit geschickt: eine
Heuschrecke oder der Finanzminister dieses Landes? Sie
sollten sich einmal vergewissern, was Sie selber angerichtet haben.
({5})
Herr Kollege Müntefering, der Bund selber entlässt
jedes Jahr - wir halten das für richtig - 4 500 Bedienstete in die Arbeitslosigkeit oder baut sie ab. Ist dafür eine
Heuschrecke verantwortlich oder ist das notwendig?
({6})
Mit Ihren einfachen Thesen können Sie die Menschen
zwar zunächst verwirren und einen Vorteil daraus ziehen.
({7})
Aber Sie verschärfen damit das Problem. Die Antwort
auf die Fragen, die Sie stellen, ist eine Modernisierung,
eine Reform unserer sozialen Marktwirtschaft. Es gibt
keinen anderen intelligenten Weg. Aber Sie erwecken
den Eindruck, dass es eine Alternative gibt. Natürlich
greifen wir - zumindest genauso ernsthaft wie Sie - an,
wenn Unternehmer verantwortungslos handeln. Hier lassen wir uns von Ihnen schon lange nicht mehr überbieten.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16099
({8})
Aber wir müssen schauen, was wir in der Politik tun
können, welches unsere Aufgabe ist.
Da Sie Ihren eigenen Politikladen nicht in Ordnung
bringen können, lenken Sie nun die Scheinwerfer auf
Felder, auf denen einiges verändert und kritisiert werden
kann und muss, was sich nicht gehört.
({9})
Aber hier sind Sie genauso dabei wie der Rest der Republik. Sie haben es bisher zugelassen. Mit wem verreist
der Bundeskanzler eigentlich permanent nach Indien,
China und Abu Dhabi? Sie haben einen ersten Ballon
steigen lassen, als Sie von „vaterlandslosen Gesellen“
sprachen. Das hat nun eine zweite Stufe erfahren. Sind
das eigentlich Reisegruppen von vaterlandslosen Gesellen, an deren Spitze der Bundeskanzler als Reiseleiter
steht? Nein, es ist komplizierter. Man muss schon genau
hinschauen.
Man muss das eine tun und darf das andere nicht lassen. Man muss die Wirtschaft und die Globalisierung
fördern sowie die daraus resultierenden Chancen nutzen
und die Risiken minimieren. Das ist aber mit Ihren platten Antworten, die Sie in der Hoffnung geben, dass sie
im Wahlkampf wirken, nicht möglich. Sie richten Schaden am Standort Deutschland an, indem Sie erstens die
Reformprozesse in der sozialen Marktwirtschaft nicht
erfolgreich auf den Punkt bringen und zweitens solche
Nebenkriegsschauplätze wie die geschilderten aufmachen und damit einige Gutwillige zusätzlich verunsichern, die bisher ihre Pflichten am Standort Deutschland
getan haben. Das gilt insbesondere für den Mittelstand,
für den ich hier politisch einstehe. Den Mittelstand haben Sie doch im Prinzip allein gelassen.
({10})
Die Großen sind doch deutlich mehr als die Kleinen entlastet worden. Das eigentliche Herz der Wirtschaft in
Deutschland, den Mittelstand, lassen Sie allein. Jetzt helfen Sie dieser Abteilung unserer Volkswirtschaft wieder
nicht, sondern beschimpfen sie. Das ist keine Zielführung, sondern die panische Reaktion einer großen Partei,
die dabei ist, ihre letzte Bastion zu verlieren.
({11})
Das ist eine Notmaßnahme. Diese Maßnahme schafft
aber kein Vertrauen in die Zukunft. Es ist schade, dass
sich die große SPD zu diesen einfachen Antworten hinreißen lässt.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Dieser Weg wird wohl in die Irre führen.
Herr Müntefering, Sie haben sich heute
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.
({0})
- sehr provinziell verhalten. Ich hätte das nicht für
möglich gehalten.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Deutschland braucht Wachstum. Das ist der erste
Leitsatz, wenn wir über Wohlstand für alle sprechen
wollen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
Deutschlands muss erstklassig sein, im Lande
selbst und im internationalen Vergleich. Das erfordert Wettbewerbsfähigkeit, hohe Produkt- und
Dienstleistungsqualität, exzellentes Wissen zu konkurrenzfähigen Kosten. Wir stehen dabei in einem
harten und mit der Globalisierung weltweiten Wettbewerb, das gilt für die innerbetrieblichen und für
die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen der Unternehmen. Die Bedingungen von
Wirtschaftspolitik haben sich seit der deutschen
Einheit radikal verändert. Der globale Druck hat
zugenommen. Gleichzeitig haben sich weitere Faktoren wie die demographische Entwicklung unserer
Gesellschaft verändert.
Ich nehme an, das alles sind Sätze, die Sie unterschreiben können und die Sie für richtig halten. Das sind
Sätze von Franz Müntefering aus einer Grundsatzrede
vom 21. Februar dieses Jahres in der Programmdebatte.
({0})
In der gleichen Rede kommt folgende Formulierung
vor:
Die SPD will, dass Unternehmen erfolgreich sind
und Gewinne machen, denn das ist die Voraussetzung für Arbeit und Wohlstand. Und dass sie wachsen. Deutschland braucht Wachstum, wenn Wohlstand bleiben soll. Wachstumsskeptizismus ist
schädlich, Wachstumsgestaltung ist möglich und
sinnvoll.
({1})
In seiner Rede in der vergangenen Woche sagte er:
Wir wollen soziale Marktwirtschaft und nicht
Marktwirtschaft pur.
16100 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
({2})
Worüber reden wir hier eigentlich? Worüber regen Sie
sich so auf? Franz Müntefering hat einen wichtigen Anstoß gegeben, um sich mit grundlegenden Fragestellungen, die das Zusammenspiel von Staat und Markt sowie
von Demokratie und Wettbewerb betreffen, auseinander
zu setzen.
({3})
Dieser Anstoß ist wichtig, um unsere Aufmerksamkeit
auf mögliche Fehlentwicklungen, auf Ansätze zu notwendigem politischem Handeln zu richten.
Um die Dinge auf den Punkt zu bringen - damit sie
jeder versteht -: In einer Demokratie ist es wichtig, auf
Gefahren und Probleme für unser Miteinander deutlich
und nachhaltig hinzuweisen, damit darüber diskutiert
werden kann. Damit klar ist, worüber wir reden, sage ich
Ihnen, auch im Namen der Bundesregierung, ganz deutlich: Alle von Franz Müntefering aufgezählten Punkte
kann ich nur unterstützen.
({4})
Sie können das doch wahrscheinlich auch tun.
Ich weiß nicht, ob Sie Folgendes verstehen können
- ich verstehe es nicht und viele Menschen in der Bevölkerung verstehen es auch nicht -: Manche Unternehmen
und manche Banken - ich weise ausdrücklich darauf hin,
dass Franz Müntefering von „manchen“ gesprochen hat machen hohe Gewinne. Arbeitnehmer dieser Unternehmen machen auf breiter Front Lohnzugeständnisse.
Gleichzeitig werden Arbeitsplätze dort abgebaut. Trotzdem verlagern diese Unternehmen ihren Sitz ins Ausland
und die Standorte werden platt gemacht. Es wäre interessant, wenn Herr Westerwelle dazu etwas sagte.
Ich nenne als Beispiel die Firma Otis in Stadthagen in
Niedersachsen.
({5})
Otis ist ein Fahrstuhlproduzent, ein hochmodernes und
wettbewerbsfähiges Unternehmen, das Gewinne erzielt.
Die Firma wurde von einem amerikanischen Konzern
übernommen, der gesagt hat: Die Gewinnmarge reicht
uns nicht. Wir machen zu.
Dann passierte Folgendes: Der niedersächsische Ministerpräsident pilgerte dahin und redete mit denen. Der
konnte so viel reden, wie er wollte; das hat die gar nicht
beeindruckt. Der Oppositionsführer ist dahin gefahren.
Auch das hat die überhaupt nicht beeindruckt. Die haben
den Standort zugemacht. 360 Arbeitsplätze wurden vernichtet. Man hat den Standort in Tschechien errichtet. In
der Zwischenzeit hört man aus dem Unternehmen, dass
es offensichtlich eine Fehlentscheidung war, dahin zu
gehen, weil man nicht das notwendige qualifizierte Personal findet.
Solche Tatbestände müssen öffentlich diskutiert werden.
({6})
Da hilft nicht das, was Sie erzählen. Wir müssen darüber
reden, welche ethische Verantwortung es eigentlich für
unternehmerisches Handeln und für Wirtschaften insgesamt gibt. Herr Westerwelle, es tut mir sehr Leid, sagen
zu müssen: Sie haben Ihre ethische Verantwortung für
das Wirtschaften seit den Zeiten von Karl-Hermann
Flach abgegeben.
({7})
Sie treten für einen nackten Kapitalismus, für einen Kapitalismus pur und nichts anderes ein.
Heute Morgen ist hier über die Koalitionsvereinbarung diskutiert worden. Ein großes Problem ist Nachhaltigkeit. Wir sind damit konfrontiert, dass der Return on
Investment in immer schnelleren Zyklen mit immer höheren Margen bedingungslos durchgesetzt wird, dass
Nachhaltigkeit überhaupt keine Rolle mehr spielt und
dass auch soziales Handeln gegenüber den Menschen
keine Rolle mehr spielt. Solche Tatbestände müssen angeprangert werden. Verantwortliches politisches Handeln muss dafür sorgen, dass denen, die so agieren, das
Handwerk gelegt wird.
({8})
Es ist die Auffassung der Bundesregierung - das ist
schon gesagt worden -, dass Franz Müntefering eine
wichtige Diskussion angestoßen hat. Es lohnt sich sehr,
diese Diskussion weiterzuführen. Ich stimme ihm in Folgendem zu: Wir brauchen Arbeitsplätze, die auch unter
Wettbewerbsbedingungen bestehen können.
({9})
Wer würde das leugnen? Das leugnet auch er nicht; er ist
sehr dafür. Die Frage ist aber - dazu würde ich gern etwas von Ihnen hören, insbesondere von Herrn
Westerwelle -: Wo ist da eigentlich die Grenze? Wohin
müssen wir? Müssen wir hin zu Löhnen, die bei 1, 2,
2,5 oder 3 Euro liegen? Was sind die Bedingungen, die
für ethische Verantwortung beim Wirtschaften gesetzt
werden?
Völlig klar ist: Unternehmen müssen Gewinne machen.
({10})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16101
Das bestreitet niemand; das ist auch Position der Bundesregierung. Aber wo sind die Grenzen? Womit hat
man sich gesellschaftlich auseinander zu setzen?
({11})
Ich bin in dem Zusammenhang inhaltlich sehr bei
({12})
und dem Diskussionsanstoß, den er geliefert hat. Ich will
auf Folgendes hinweisen: In internationalen Zusammenhängen - ich nenne einmal die ILO - gibt es längst eine
Diskussion darüber, ob man Decent Work durchsetzen
muss. Es geht darum, dass es für Arbeit auch einen menschenwürdigen Lohn geben muss. Ich kenne einige, auch
in Ihren Reihen, die für eine solche Position stehen. Alle
diese Fragen sind in einem solchen Zusammenhang zu
thematisieren. Man muss von einer anständigen Arbeit
auch anständig leben können.
({13})
Es muss eine gesellschaftliche Verantwortung geben.
Die Politik der hemmungslosen Individualisierung und
des Marktradikalismus
({14})
führt dazu - das noch an Herrn Westerwelle -, dass der
Angriffspunkt sozusagen der Staat insgesamt ist.
({15})
Da diskutiert man letztlich über die Beseitigung des
Staates. Da geht es um eine grenzenlose Entstaatlichung.
Das werden wir nicht mitmachen.
({16})
Eine Diskussion über all das ist in diesem Land längst
überfällig. Wir fürchten sie nicht.
({17})
Wir fürchten auch nicht manch dumme Schlagzeile und
manch dumme Position, die da vertreten wird. Wir versuchen, diesen Staat, diese Gesellschaft mit der
Agenda 2010, mit dem 20-Punkte-Programm zu modernisieren. Sie können tatkräftig mithelfen. Geben Sie Ihre
Verweigerungsposition und -politik auf! Helfen Sie mit,
dieses Land zu modernisieren! Helfen Sie mit, hier Arbeitsplätze zu schaffen!
({18})
Das ist vernünftiger, als eine solche Scheindebatte zu
führen, wie sie von der FDP beantragt wurde.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland ist in der längsten Stagnationsphase seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland,
hat die höchste Staatsverschuldung und die höchste Arbeitslosigkeit. Deutschland ist Schlusslicht in Europa.
Da treten Sie, Herr Müntefering, auf den Plan und machen anonyme Mächte in der Wirtschaft für diese tiefe
Krise verantwortlich.
({0})
Wer ist denn eigentlich gemeint?
Der Bundeskanzler hat erst vor wenigen Tagen einen
Innovationsgipfel veranstaltet. Daran haben die größten
deutschen Unternehmen teilgenommen: IBM, Thyssen,
Bertelsmann und Lufthansa, auch ein Unternehmen, das
Sie eben genannt haben, Herr Müntefering, nämlich die
Firma Siemens. Auf Nachfragen von Journalisten, ob
diese Firmen von Herrn Müntefering gemeint sein könnten, hat der Bundeskanzler geantwortet, diese seien auf
keinen Fall gemeint.
({1})
Dennoch legte Herr Steinbrück gestern nach und sagte,
in der Wirtschaft gebe es viele, die kurzfristig handelten
und mit Patriotismus nichts am Hut hätten. Ich frage Sie:
Sind etwa die Mittelständler in Deutschland die, die Sie
meinen, die diese Mächte entfalten?
({2})
Denn sie waren zum Innovationsgipfel des Bundeskanzlers erst gar nicht eingeladen worden, obwohl sie die
meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze in diesem Land
stellen.
({3})
Wenn es die Mächte gäbe, gegen die sich eine funktionierende soziale Marktwirtschaft nicht wehren kann,
wie Herr Müntefering es vorgibt, müssten auch in den
anderen europäischen Ländern wirtschaftlicher Niedergang und Massenarbeitslosigkeit vorherrschen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Weltwirtschaft - das weiß auch
Staatssekretär Andres - ist im vergangenen Jahr so stark
gewachsen wie seit 30 Jahren nicht mehr.
({4})
Deutschland aber ist bei Wachstum und Beschäftigung
das Schlusslicht in Europa.
Wie sieht es nun innerhalb Deutschlands aus? Wie
sieht es mit der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland
16102 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
aus? Schauen Sie sich einmal die Bundesländer an! Da
haben wir auf der einen Seite das seit Jahren von der
FDP gemeinsam mit der CDU regierte Baden-Württemberg
({5})
und auf der anderen Seite das seit 39 Jahren von der SPD
- zehn Jahre davon gemeinsam mit den Grünen - regierte Nordrhein-Westfalen. Wenn wir einmal diese beiden Bundesländer,
({6})
die die gleichen bundes- und europapolitischen Rahmenbedingungen haben und die es mit ähnlichen Unternehmen zu tun haben, gegenüberstellen, stellen wir fest: In
Nordrhein-Westfalen ist die Arbeitslosigkeit um
70 Prozent höher als in Baden-Württemberg und die Insolvenzquote ist in Nordrhein-Westfalen doppelt so
hoch.
({7})
Damit wird deutlich: Die für die Krise in unserem Land
Verantwortlichen bleiben nicht anonym.
({8})
Sie haben ein Gesicht. Sie haben auch eine Farbe: Die
für die Krise und für die Arbeitslosigkeit Verantwortlichen haben sowohl im Bund wie auch in NordrheinWestfalen die Farbe Rot-Grün.
({9})
Bei Ihrer Kapitalismuskampagne geht es um nichts
weiter
({10})
als um eine Verschwörungstheorie, die den einzigen
Zweck hat, über die wahre Verantwortung, die bei Ihnen
liegt, hinwegzutäuschen.
({11})
Das ist zynisch, das ist populistisch und das ist verantwortungslos.
({12})
Statt den Menschen durch eine moderne Wirtschaftspolitik, durch beste Bildung und Innovation den Rücken
zu stärken, ihnen Mut zu machen und ihre Chancen auf
den globalisierten Märkten zu erhöhen, fördern Sie mit
Ihrer Kampagne Ängste, die erst durch Ihre verfehlte Politik ausgelöst worden sind. Das ist die Wahrheit über Ihr
Vorgehen.
({13})
Da der Herr Staatssekretär eben über niedrig bezahlte
Berufe gesprochen hat, möchte ich auf einen bemerkenswerten Zusammenhang hinweisen. Auf entsprechende
Nachfrage der FDP-Landtagsfraktion in Düsseldorf gab
die Landesregierung zur Antwort: Es gibt kein Bundesland in der Bundesrepublik Deutschland, in dem der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsabschluss so stark ist wie in Nordrhein-Westfalen.
({14})
- Es war Ihre Landesregierung, die diese Antwort gegeben hat.
({15})
Deswegen sagen wir ganz klar: Dort, wo Sie Verantwortung hatten, hätten Sie durch eine bessere Bildungspolitik die Voraussetzung dafür schaffen können, dass die
Menschen nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, sondern auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen bekommen. Diese Verantwortung haben Sie nicht wahrgenommen.
({16})
Deswegen sagen wir den Menschen im Lande: Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik,
({17})
wir brauchen eine bessere Wirtschaftspolitik. Denn nur
eine gute Wirtschaftspolitik und eine gute Bildungspolitik bilden die Grundlage für eine Sozialpolitik, die den
Menschen in unserem Land eine Perspektive bietet. Das
ist unsere Alternative zu Ihrer Krisenpolitik.
({18})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon eigenartig: Da wirft die FDP Herrn
Müntefering vor, Wahlkampfrhetorik zu betreiben, Sie
aber, Herr Pinkwart - bei Herrn Westerwelle war es genauso -, stellen sich hin
({0})
und machen nichts anderes, als NRW-Wahlkampfreden
zu halten.
({1})
Es ist richtig: Franz Müntefering hat mit seiner Wortwahl sicherlich provoziert. Aber die Debatte ist wichtig
und auch richtig. Äußerungen, die heute vonseiten der
CDU/CSU gemacht worden sind, haben ja gezeigt, dass
es viele Schwierigkeiten gibt, über die wir miteinander
reden müssen. Es muss deutlich werden, welche VerantDeutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16103
wortlichkeiten es aufseiten der Wirtschaft und welche
aufseiten der Bürger und Bürgerinnen in einer komplexen Welt gibt. Natürlich sollen Unternehmer und Unternehmerinnen Geld verdienen. Natürlich dient das den
Arbeitsplätzen. Es ist doch klar, dass wir uns freuen,
wenn ausländische Investoren ihr Geld nach Deutschland bringen. Selbstverständlich brauchen wir in einer
global ausgerichteten Wirtschaft auch vernünftige Rahmenbedingungen, die sowohl für kleine und mittlere Unternehmen als auch für große Konzerne gelten, damit
Arbeitsplätze erhalten und auch geschaffen werden können. Man muss ganz klar sagen, dass die allermeisten
Betriebe, die wir in Deutschland haben, ihrer Verantwortung gerecht werden. Sie können ruhig Gewinnabsichten
haben und gute Renditen erzielen. Wenn sie aber Gewinne erzielen, müssen sie auch ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. Die allermeisten tun das; darüber sind wir sehr froh.
Es ist auch richtig, dass wir ein wirtschaftsfreundliches Klima brauchen, aber es muss erlaubt sein, auf
Missstände und auf Fehlentwicklungen hinzuweisen; das
ist ja der Punkt, über den wir reden.
({2})
Wir alle wissen, Herr Schauerte, dass falsche Managemententscheidungen in der Vergangenheit zu Entlassungen geführt haben. Auch das ist leider Realität in der
Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Die Forderung, dass die Wirtschaft im Dienste des Menschen zu stehen hat, stammt nicht von Franz
Müntefering, sondern - ich bemühe ihn leider auch einmal an dieser Stelle ({4})
von Papst Johannes Paul II. Er hat immer vor der Vergötzung des Marktes gewarnt. Auch Sie haben diese Äußerungen mit Beifall aufgenommen. Es ist richtig, dass
man Warnungen ausstößt, wenn es manchen Menschen
nur um Gewinnmaximierung geht, ohne an die Mitmenschen zu denken. Darüber muss man sprechen; das muss
man auch anprangern können.
Es gibt in Deutschland viele Menschen, die Angst haben bzw. befürchten, dass die soziale Marktwirtschaft
zerstört wird. Diese Sorgen werden noch verstärkt, wenn
Manager, wie geschehen, die Profitmaximierung mit
noch höheren Renditeansprüchen in den Vordergrund
stellen und gleichzeitig Massenentlassungen verkünden;
Herr Müntefering hat darauf hingewiesen. Es muss möglich sein, berechtigte Kritik am reinen ShareholderValue-Prinzip zu üben. Diese Kritik wird übrigens von
vielen Mittelständlern und Mittelständlerinnen geteilt,
insbesondere von vielen Familienunternehmen. Auch
der Eindruck, den viele Menschen haben, dass manche
Unternehmen und auch manche Wirtschaftsverbände in
unserer Republik die derzeit äußerst schwierige wirtschaftliche Situation weit über das rationale Maß hinaus
ausnutzen, ist richtig.
Insbesondere die Union, aber auch die FDP tun sich
immer wieder hervor, indem sie unser Land schlechter
reden, als es ist.
({5})
Es gibt unbestritten Schwierigkeiten; das haben wir hier
schon oft gesagt und darauf haben wir immer wieder
hingewiesen. Aber dieses permanente Schlechtreden,
das übertriebene Schüren von Krisenstimmungen - das
haben Sie heute wieder getan - ist unverantwortlich und
schadet unserem Standort, der Wirtschaft und auch den
Menschen.
({6})
Deswegen kann ich von dieser Stelle nur an Sie appellieren: Hören Sie endlich mit der übertriebenen Schlechtrederei des Standortes Deutschland auf!
({7})
Wir haben wirtschaftliche Schwierigkeiten, aber wir sind
insgesamt gut aufgestellt. Es gibt viel zu tun; das wissen
wir.
({8})
Aber hören Sie auf, Deutschland aus rein parteitaktischem Kalkül klein zu machen!
Für uns Grüne möchte ich sagen: Wir halten die Debatte über Wirtschaftsethik und Verantwortung für die
Menschen für enorm wichtig; denn insbesondere in Zeiten eines Paradigmenwechsels kann man den Menschen
nicht nur etwas abverlangen. Es müssen auch Anforderungen an die Global Player gestellt werden. In einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft kann es nicht
nur um Aktienkurse und Rendite gehen. Der Mensch
muss im Mittelpunkt stehen. Das sollten wir immer wieder sagen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Pures Verlangen
nach schnellem Geld hat nichts mit ökonomischer Vernunft zu tun.
Danke schön.
({0})
16104 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr
Müntefering hat es völlig richtig gemacht, als er seine
Rede mit der Nennung von Fakten begonnen hat. Das
möchte ich ebenfalls tun.
Die Fakten Ihrer Politik, Herr Müntefering, sind
5,2 Millionen Arbeitslose. In Ihrem Kernland sind
1 Million Menschen arbeitslos. All das hat es noch nie
gegeben. Wir haben die höchste Pleitewelle zu verzeichnen, die es in Deutschland jemals gegeben hat.
({0})
Pro Jahr gehen 40 000 Unternehmen kaputt. Wir haben
den niedrigsten Stand sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigungsverhältnisse zu verzeichnen, den es in
Deutschland jemals gegeben hat;
({1})
es gibt nur noch 26,3 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben, wie
uns gerade bestätigt wurde, das niedrigste Wachstum aller Länder in Europa. Wir sind also das Schlusslicht. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Niemand anderes als
Sie hat das zu verantworten. Darüber sollten wir uns im
Klaren sein.
({2})
Jetzt glauben Sie, auch das letzte noch vorhandene
Kapital aus Deutschland vertreiben zu müssen.
({3})
Mit Ihrem Gesetz zur Steueramnestie haben Sie nichts
erreicht: Von den geplanten 5 Milliarden Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen haben Sie gerade einmal
1,4 Milliarden Euro erzielt. Ihre gesamte Haushaltsplanung ist ein einziges Chaos.
({4})
Im „Handelsblatt“ kann man heute folgende Überschrift lesen: „US-Volkswirte schütteln Kopf über SPD“.
Amerikanische Experten befürchten negative Folgen für
den Standort Deutschland. Meine Damen und Herren,
was macht denn das Kapital aus Übersee? Während die
Investitionen in Deutschland im Jahr 2003 noch 4,8 Milliarden Euro betrugen, erreichten sie im Jahre 2004 - hören Sie genau zu, Herr Müntefering - einen Stand von
0,3 Milliarden Euro. Das sind die Folgen Ihrer Politik.
({5})
Wenn kein Kapital nach Deutschland fließt, gibt es keine
Investitionen. Das Kapital hat die Wahl. Es sucht sich
den Standort aus, an dem Investitionen am günstigsten
sind.
Sie verfahren wie folgt: Am einen Tag lesen Sie den
Industrielobbyisten fast jeden Wunsch von ihren Lippen
ab - wir haben bereits vom Reiseleiter Schröder gehört,
der mit Unternehmern ins Ausland fliegt, damit sie dort
investieren -,
({6})
am anderen Tag motzen Sie gegen die Macht des Kapitals und spielen den sozialistischen Seelentröster. Herr
Clement würde, wenn er dürfte, gerne anders handeln.
Der Kanzler will mit bester kapitalistischer Begründung
Waffen nach China liefern. An diese Debatte, die wir in
der letzten Woche geführt haben, kann ich mich noch
sehr gut erinnern. Es war Ihr Bundeskanzler, der vor uns
gestanden und begründet hat, warum Waffen nach China
geliefert werden sollten.
({7})
Das in der gegenwärtigen Phase zu tun, ist Kapitalismus
pur. Erklären Sie mir bitte, wie das mit Ihren Worten zu
vereinbaren ist! Ihr Verhalten ist überaus widersprüchlich.
({8})
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang
das Sündenregister der SPD. Herr Müntefering, Ende
des Jahres 2002 haben Sie gefordert, weniger Geld für
den privaten Konsum auszugeben und mehr Geld für den
Staat bereitzustellen, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können.
({9})
Das ist Ihre Einstellung. Frau Vogt, die junge Dame aus
Baden-Württemberg, wurde von ihrem Kollegen Rezzo
Schlauch heute als „Standortrisiko“ bezeichnet;
({10})
denn dieses „Standortrisiko“ Ute Vogt - das können Sie
in der „Stuttgarter Zeitung“ nachlesen - hat gesagt:
Ein schlanker Staat, der dünn ist und keine Kraft
hat, ist nicht das, was wir uns wünschen.
({11})
Frau Vogt ist ja noch nie so wirklich durch größere
Kenntnis von Ökonomie aufgefallen. Aber gestern hat
sie dann den allergrößten Klops gebracht, indem sie zum
Boykott deutscher Unternehmen aufgerufen hat. Das
muss man sich vorstellen: Ein Mitglied der Bundesregierung ruft zum Boykott deutscher Unternehmen auf
({12})
und will damit Arbeitsplätze in Deutschland vernichten.
Wahrscheinlich sollen dann Produkte von ausländischen
Unternehmen gekauft werden, damit in Deutschland
keine Arbeitsplätze entstehen.
({13})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16105
Herr Westerwelle hat völlig Recht: Die Staatsquote
liegt in der Nähe von 50 Prozent. Herr Müntefering, das
können Sie nicht wegdiskutieren.
({14})
Wir haben immer noch 42 Prozent Lohnzusatzkosten;
auch die können Sie nicht wegdiskutieren. Das sind die
Gründe, weswegen bei uns keine neuen Arbeitsplätze
entstehen. Sie haben nicht den Mut, dies den Markt machen zu lassen.
({15})
Wenn Sie so weitermachen, wenn Sie sich nicht endlich
auf diesem Sektor bewegen, werden in Deutschland
keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Dafür tragen Sie alleine die Verantwortung, Herr Müntefering, Sie allen
voran!
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Müller,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Zwischenrufe von Herrn Gerhardt belegen in aller Deutlichkeit, dass Sie nicht in der Lage sind, in einer wirklich
schwierigen, komplexen Frage eine rationale Diskussion
zu führen.
({0})
Wir haben es hier nämlich mit einer Herausforderung zu
tun, die in fast allen Ländern sehr viel differenzierter diskutiert wird als von Ihnen. Im Gegenteil, Ihre Art der
Reaktion auf die Diskussion zeigt, dass Sie eigentlich
gar nicht wissen, wie Sie mit einer notwendigen Kapitalismuskritik umgehen sollen.
({1})
Sie wissen nicht, wie Sie mit einem Sachthema umgehen
sollen. Sie reagieren darauf taktisch und machtpolitisch,
aber nicht inhaltlich. Das ist das Fazit der bisherigen
Diskussion.
({2})
Lassen Sie uns deshalb sagen, worum es uns geht. Es
geht uns um einen sehr wichtigen Klärungsprozess auf
der Basis von zwei wesentlichen Erkenntnissen: Erstens.
In den letzten 30 Jahren, also seit dem Zusammenbruch
des Weltwährungssystems, seit den Beschlüssen von
Rambouillet, hat sich weltwirtschaftlich eine Struktur ergeben, die die soziale Marktwirtschaft immer mehr an
den Rand gedrängt hat. Es passt einfach nicht zusammen, immer von der sozialen Marktwirtschaft zu reden,
wir aber tatsächlich immer weniger erleben, dass es
überhaupt eine soziale Marktwirtschaft gibt. Darüber
muss man reden.
({3})
- Nein, nein. Seien Sie doch nicht immer so platt, wenn
es um ein wichtiges Thema geht!
Zweitens. Die Entwicklung der Weltwirtschaft, die
Globalisierung muss im Wesentlichen gleichgesetzt werden mit der Durchsetzung des amerikanischen Wirtschaftsmodells.
({4})
Das hat viel mit der Entwicklung der Weltwirtschaft zu
tun. Da muss man sich die Frage stellen, ob unter diesen
Bedingungen sozialökologische Politik überhaupt möglich ist oder nicht.
({5})
Sie meinen, die Politik muss sich anpassen.
({6})
Wir sagen dagegen: Die Politik ist zur Gestaltung gefordert. Wir reden darüber, was „Gestaltung“ unter diesen
Bedingungen heißt. Das ist ein zentraler Unterschied.
({7})
Im Gegensatz zu der liberalistischen Wirtschaftsordnung muss die soziale Marktwirtschaft immer die breite
Verteilung des Gewinns und des Fortschritts in der Gesellschaft bewirken; das ist der entscheidende Punkt. Die
Verwirklichung von Verteilungsgerechtigkeit ist die Voraussetzung für eine soziale und demokratische Ordnung. Das ist nicht von mir, sondern von Ludwig Erhard;
den sollten Sie wieder einmal lesen. Im Kern ist es genau
das, was Franz Müntefering gesagt hat:
({8})
Es geht um die Verantwortung der Politik für die Gestaltung einer wirtschaftlichen Ordnung.
({9})
Das ist die Erfahrung der letzten 50 Jahre, übrigens eine
Ordnung, die wirtschaftlich viel produktiver war als das,
was wir in den letzten Jahren in Europa erlebt haben. Die
soziale Marktwirtschaft war gerade auch wegen ihrer
Gestaltung viel besser für Beschäftigung, für Verteilungspolitik, für soziale Gerechtigkeit.
({10})
Deshalb wollen wir an diesen Gedanken anknüpfen.
Sie müssen sich auch einmal die Frage stellen, dass
unsere Produktivitätsentwicklung mit der technologisch
bedingten Arbeitslosigkeit zu tun hat, gerade als Exportland.
({11})
Haben Sie sich eine solche Frage überhaupt einmal gestellt?
({12})
Nein, Sie stellen sich solche inhaltlichen Fragen gar
nicht, weil es Ihnen nur um Polemik und Machtauseinandersetzung geht, aber nicht um die Klärung inhaltlicher Fragen. Das ist der Kern der ganzen Debatte.
({13})
Die Sozialenzyklika der katholischen Kirche ist hier
schon mehrfach zitiert worden. Wir können übrigens
auch einen anderen Punkt gegen Ihre liberalistische
Position nennen. Herr Ratzinger hat sehr klar gesagt,
dass diesem liberalistischen Modell ein heilsames Gegengewicht fehlt.
({14})
Sie haben kein Gegengewicht. Sie kennen nur die Anpassung und laufen dem liberalistischen Modell nach.
Wir wollen ein Gegengewicht herstellen, weil das
Gleichgewicht der Kern jeder guten Ökonomie ist.
({15})
Das muss man gerade Herrn Westerwelle sagen, weil er
kein Ökonom ist.
({16})
Er sollte aber wenigstens einmal mehr lesen; das bildet.
Meine Damen und Herren, ich kann für die FDP auch
einmal Herrn Dahrendorf zitieren, immerhin ein langjähriges FDP-Mitglied.
({17})
- Das hat er übrigens korrigiert, was Sie aber wieder
nicht zur Kenntnis genommen haben. - Im Gegensatz zu
Ihnen hat er gesagt: Wenn es der Politik nicht gelingt,
die Prozesse, die mit der Globalisierung verbunden sind,
im weitesten Sinne politisch und sozial zu regeln, droht
ein Jahrhundert der Gewalt.
({18})
Das sagt Dahrendorf. Sie wollen die Regelung nicht, wir
wollen die Regelung. Hier ist der entscheidende Unterschied.
({19})
Wir bleiben dabei: Erstens. Uns geht es bei der Debatte nicht um eine plumpe Beschimpfung der Unternehmen. Ganz im Gegenteil: Wir fordern jeden Unternehmer, der ein Interesse an Innovationen, Investitionen und
Produktivität hat, auf, diese Debatte mit uns zu führen.
Wir brauchen sie; denn wir wollen ja gerade eine produktive und keine spekulative Wirtschaft.
({20})
Zweitens. Wir führen keine „Debatte nach hinten“.
Ganz im Gegenteil: Die Klärung der ordnungsrechtlichen Fragen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür,
die auf uns zukommenden Probleme - Stichwörter: Wissensgesellschaft und Rohstoffknappheit - zu lösen,
({21})
was ohne einen handlungs- und gestaltungsfähigen Staat
nicht möglich ist. Auch das ist eine Wahrheit, die wir aus
der Geschichte kennen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich schließe ab. - Lassen Sie mich einen dritten Punkt
nennen.
Nein, Sie können keinen dritten Punkt mehr nennen.
Es geht uns nicht um die Abkehr von der
Agenda 2010, sondern um ihre Weiterentwicklung.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege von der SPD, Müller, hat eben geDeutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16107
Gerald Weiß ({0})
sagt: Die Politik ist zur Gestaltung gefordert. Wie wahr!
Die soziale Markwirtschaft ist an den Rand gedrängt.
Das stellt er im siebten Jahr Schröder und seiner rot-grünen Regierung fest. An den Ergebnissen dieser Regierungsarbeit müssen Sie gemessen werden.
({1})
Sie können die sozialökonomische Wirklichkeit, für die
Sie verantwortlich sind, doch nicht anprangern.
({2})
Sie müssen in diesem Haus dafür einstehen und können
sich nicht in verbalistischer Kritik üben.
({3})
Im Jahr sieben Schröder haben die Menschen Sorgen
und Ängste wie nie zuvor. Sie sind verunsichert wie nie
zuvor. Angesichts einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, die unter Ihrer Regierung ungebremst gestiegen ist,
und ständig neuer Massenentlassungen bei gleichzeitigen Meldungen über teilweise hohe Gewinne und noch
höhere Renditeziele sind sie berechtigterweise wütend
und verbittert. Wir führen die ewige Diskussion mit Ihnen gern.
Wo Gier grenzenlos und die kurzfristige Rendite zum
goldenen Kalb wird, muss dies angeprangert werden;
das ist doch selbstverständlich. Diese Auswüchse - von
uns wie von Ihnen beklagt - sind aber doch tatsächlich
unrühmliche Ausnahmen. Die 40 000 Selbstständigen,
die im vorletzten Jahr, die 40 000 Firmeninhaber, die im
vergangenen Jahr, und die 10 000 Selbstständigen, die
bereits in den ersten vier Monaten dieses Jahres Insolvenz anmelden mussten, sind doch nicht durch Gewinnsucht in diese Bredouille geraten, sondern durch Gewinnschwund und anhaltend hohe Verluste, weil die
Rahmenbedingungen in Deutschland miserabel sind.
({4})
Der Chef der Arbeitnehmergruppe der Union sagt:
Man sollte mittelständische Eigentümerunternehmer
nicht mit irgendwelchen kalten Ellenbogenmanagern in
diesem Land gleichsetzen.
({5})
Sie sollten keine einfachen Lösungen vorgaukeln.
Herr Müntefering, Sie sollten die teilweise durchaus berechtigte Kritik an den Vorgängen in der Wirtschaft nicht
instrumentalisieren, um vom eigenen Versagen abzulenken. 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, 1 Million
Arbeitslose in Nordrhein-Westfalen sind nicht das Ergebnis der Profitgier von Kapitalisten und auch nicht das
Ergebnis mangelnden guten Willens von Arbeitgebern,
Menschen einzustellen. Sie sind das Ergebnis einer falschen Politik. Das klagen wir anlässlich dieser Debatte
ein.
({6})
Andere Länder - vom Ideal der sozialen Marktwirtschaft weiter entfernt als wir, beispielsweise die USA haben bessere Beschäftigungsergebnisse. Die Arbeitslosenquote ist geradezu ein Ausweis für das Wohl einer
Volkswirtschaft. Die Politik kann Rahmenbedingungen,
im positiven Sinne für Beschäftigung und im negativen
Sinne für Arbeitslosigkeit, sehr wohl beeinflussen. Dass
nur die Hälfte unserer volkswirtschaftlichen Ersparnisse
investiert wird, was in diesem Land zu einer elend niedrigen Investitionsquote führt, sodass Unternehmer dieses
Land verlassen und woanders Arbeitsplatz schaffend investieren, hängt mit den von Ihnen zu verantwortenden
miserablen Arbeitsbedingungen zusammen.
Herr Müntefering, Sie dürfen nicht nur Fragen stellen.
Als Noch-Regierungspartei müssen Sie auch Antworten
geben. Mehr noch: Als Regierung müssen Sie auf die
Probleme und die Missstände, die es in unserem Lande
gibt, mit Taten antworten. Alles andere - das ist schon
gesagt worden - ist extrem unglaubwürdig.
({7})
Wenn Sie den Primat der Ökonomie beklagen, Herr
Müntefering, dann muss ich Sie allerdings fragen: Wie
steht es beispielsweise um die Chinapolitik des Bundeskanzlers?
({8})
Die Menschenrechtssituation ist kein bisschen besser geworden. Um der ökonomischen Vorteile willen setzt sich
der Bundeskanzler dennoch darüber hinweg.
({9})
Die schrödersche Chinapolitik kann nachgerade nur aus
dem Primat des Ökonomischen erklärt werden. Was Sie
und der Bundeskanzler uns vorführen, ist doch organisierte Zwiespältigkeit und Doppelzüngigkeit. Das lehnen
wir ab.
({10})
Geben Sie konkrete Antworten. Übrigens will es der
Zufall, dass Sie heute dazu die Chance haben. Nachher
steht der Antrag zur sozialen Kapitalpartnerschaft auf
der Tagesordnung. Wenn Sie bei der Realisierung dieses
Vorhabens mitmachen, können wir viel zur Bekämpfung
der Probleme, die Sie und wir beklagen, tun.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Sie
wollen keine kritischen Anmerkungen zu unserem
Wirtschaftssystem. Sie wollen auch keine kritischen
Anmerkungen zu dem, was in unserem Land eigentlich
los ist.
16108 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
({0})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Mich wundert, dass es in
den Parteien von Angela Merkel und Guido Westerwelle
keinen mehr gibt, der ein Gespür dafür hat, was in diesem Land jeden Tag passiert.
({1})
Mit Hedgefonds wird versucht, die Kontrolle über die
Deutsche Börse zu übernehmen, übrigens ein erfolgreiches Unternehmen nicht nur mit vielen Arbeitsplätzen,
sondern auch mit einem öffentlichen Auftrag. Die Unternehmen scheuen sich nicht davor, öffentlich zuzugeben,
dass sie das angesparte Geld der Deutschen Börse im
Blick haben, um damit in London zu investieren. Vertreten werden diese Unternehmen übrigens von Ihrem
CDU-Kollegen, dem Anwalt Friedrich Merz.
({2})
Herr Westerwelle, welches Tier fällt Ihnen ein, wenn Sie
von einem solchen Wirtschaftsgebaren hören?
({3})
Das hat nichts mehr damit zu tun, dass man investieren will, um so zu Wachstum und Beschäftigung beizutragen. Hier herrscht nur das Interesse vor, ein Unternehmen auszubluten und ins Leere laufen zu lassen, um das
Geld woanders zu investieren. Als Folge haben wir dann
wieder eines der größten Unternehmen in unserem Land
verloren.
({4})
Natürlich wissen wir, dass ein bestimmtes Maß an
wirtschaftlicher Freiheit Voraussetzung für Wohlstand
ist; das brauchen Sie uns Sozialdemokraten nicht extra
zu sagen. Aber in dieser Debatte geht es doch nicht nur
darum, wie Wohlstand entsteht und wie viel Freiheit die
Wirtschaft benötigt.
In dieser Debatte geht es auch darum, wie frei eigentlich der Mensch sein darf und wo die Grenze dessen ist,
was die Ökonomie darf und was sie nicht darf. Ihr Gesellschaftsbild ist von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche geprägt. Es gibt keine Grenze mehr, an der Sie
sich schützend vor die Menschen stellen. Das sieht man
an allem, was Sie beschlossen haben, ob das Beschlüsse
zum Kündigungsschutz sind, Ihre alberne „Bierdeckelsteuerreform“ oder die Kopfpauschale. Bei Letzterer ist
allein schon der Begriff interessant. Das ist die Politik,
die Sie vertreten. Da gibt es keine Barriere mehr. Es gibt
keinen Schutz mehr.
({5})
Das ist der Kern der Debatte. Es geht nicht um die
Wirtschaftsfreiheit in Deutschland, sondern es geht im
Kern um die eigentliche Bedeutung des Menschen in unserer Gesellschaft und darum, nach welcher Melodie
diese Gesellschaft ticken soll. Das ist der Grund, warum
Sie sich darüber so aufregen. Sie haben Angst davor,
({6})
dass eine große Volkspartei mit ihrem Vorsitzenden an
der Spitze eine Debatte über ihr Grundsatzprogramm
führt, dass die Menschen aufhorchen und sagen: Die
wissen noch, wohin sie wollen,
({7})
die stellen Fragen und haben auch Antworten. Die wissen noch, dass wir auch noch da sind, jenseits aller Ökonomie. - Davor haben Sie Angst. Denn dann stehen Sie
blank da. Sie haben keine Ideen.
({8})
Das hört man an den Reden, die Sie heute hier gehalten
haben. Das sieht man an den Beschlüssen, die Sie fassen,
und das sieht man auch an der realen Politik, die Sie machen. In unserer Programmdebatte geht es darum. Sie
fühlen sich dabei ertappt. Sie können sich nicht vorstellen, dass es in Deutschland auch noch darauf ankommt,
zu fragen, welche Rolle die Menschen in unserem sozialen System haben und was eigentlich passiert, wenn man
in schwierige Situationen gerät. Das können Sie sich
nicht vorstellen.
Vorhin hat einer gesagt, wir müssten uns mehr um die
Bildung kümmern. Wer hat denn das Konzept für bessere Spitzenforschung an den Universitäten kaputtgemacht, wenn nicht die Union?
({9})
Sie blockieren doch überall da, wo es um diese Themen
geht. Sie werden von Ihren Freunden, den Funktionären
der Wirtschaft, unterstützt. Es waren doch nicht die Unternehmer, die sich in den letzten Tagen zu Wort gemeldet haben. Das waren Funktionäre, die ihre Textbausteine zusammengestellt und von einer Gefährdung
durch eine ideologische Debatte gesprochen haben. Sie
beteiligen sich daran, weil Sie in Deutschland nicht mehr
über Werte reden wollen.
Ich möchte gerne zum Schluss, wenn Sie, Frau Präsidentin, erlauben, ein Zitat vorlesen, das gut in diese Debatte passt:
Eine rein wirtschaftliche Entwicklung vermag den
Menschen nicht zu befreien; im Gegenteil, sie versklavt ihn schließlich nur noch mehr.
Das stammt nicht von Franz Müntefering, sondern von
einem anderen prominenten Katholiken, von Papst
Johannes Paul II.
({10})
Ich habe dem in dieser Debatte nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
({11})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16109
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Kues,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
werde ausnahmsweise nichts zum Papst sagen. Ich habe
die Debatte heute Morgen sehr aufmerksam verfolgt.
Vieles von dem, was hier von Herrn Müntefering, aber
auch von anderen Kollegen der SPD gesagt worden ist,
unterstütze ich ausdrücklich.
({0})
Ich unterstütze ausdrücklich die Aussage, dass es auch
eine ethische Verantwortung der Unternehmen gibt, ich
unterstütze ausdrücklich die Aussage, dass wir keine
freie, sondern eine soziale Marktwirtschaft haben, und
ich unterstütze ausdrücklich die Aussage, dass die Wirtschaft den Menschen zu dienen hat. Das oberste Ziel ist
letztlich der Mensch und die Wirtschaft ist Mittel zum
Zweck.
({1})
Ich sage ausdrücklich, dass wir allen Grund haben,
uns damit zu beschäftigen. Denn ich erlebe auch in meiner eigenen Region, dass viele Menschen nicht mehr
verstehen, was in der Wirtschaft abgeht. Sie haben Angst
um ihren Arbeitsplatz und sie sind misstrauisch. Sie hören von steigenden Gewinnen, von höheren Renditezielen und zugleich von Massenentlassungen. Ich denke an
den Schlachter, der 20 oder 30 Jahre in seinem Betrieb
tätig war,
({2})
der durch seine Tätigkeit Tag für Tag, Woche für Woche
und Monat für Monat seine Familie ernährt hat und jetzt
feststellt, dass sein Arbeitsplatz weg ist und ein anderer
diesen zu Bedingungen übernommen hat, unter denen er
hier überhaupt nicht leben kann.
({3})
Deswegen ist es auch ausdrücklich richtig, in dieser Situation an die Wirtschaft zu appellieren, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen.
Aber ich sage auch ganz deutlich: Man muss die Kirche im Dorf lassen und man muss redlich und fair sein.
Wenn die Politik den Eindruck erweckt, die Schaffung
von Arbeitsplätzen in Unternehmen sei lediglich eine
Frage des guten Willens der Unternehmer und nicht auch
eine Frage der Rahmenbedingungen, dann handelt sie
unverantwortlich gegenüber Arbeitslosen und Arbeitnehmern.
({4})
Wer einen solchen Eindruck erweckt, der gaukelt den
Menschen etwas vor, denn dafür fehlt jede reale Grundlage.
({5})
Das wissen im Übrigen Müntefering und Schröder
sehr genau. Sie wollen in Wahrheit ja auch keine Enteignung. Das ist völlig klar; da stimme ich ausdrücklich zu.
Ebenso wollen sie in Wahrheit keinen realen Klassenkampf. Das Einzige, was sie wollen, ist ein rhetorischer
Klassenkampf; sie wollen Stimmung machen
({6})
und deswegen machen sie Symbolpolitik. Denn eines
können Sie nicht leugnen: Für die Probleme und die
Missstände, die wir haben, sind die verantwortlich, die
regieren, und Sie regieren seit knapp sieben Jahren.
({7})
Viele haben darüber spekuliert, welche Strategie dahintersteckt. Es wird darüber spekuliert, ob sie erfolgreich sei oder nicht. Wenn ich das richtig gelesen habe
und richtig einschätze, wird sie nicht erfolgreich sein;
denn Sie widersprechen sich im Grunde genommen. Im
Prinzip brauchen Sie einen Sündenbock
({8})
für Ihr Versagen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Das ist der Kern des Ganzen. Ich nenne ausdrücklich
auch die Sozialpolitik; denn Sie haben es nicht geschafft,
unsere sozialen Sicherungssysteme auch nur einen Millimeter weit von den Arbeitskosten abzurücken. Dabei
wissen wir ganz genau: Das ist der Dreh- und Angelpunkt, wenn wir es schaffen wollen, hier in Deutschland
dafür zu sorgen, dass die Unternehmen mit ihren Arbeitsplätzen hier bleiben und nicht abwandern, sodass
die Menschen im Lande Beschäftigungsmöglichkeiten
haben.
Ich erinnere an die Gesundheitsreform. Was kommt
für die Menschen dabei heraus? Sie müssen kräftig zuzahlen, die Beiträge sind aber nicht verringert worden.
Ich erinnere an die Arbeitsmarktreform. Der Herr Staatssekretär hat etwas dazu gesagt. Die Arbeitslosenzahl ist
nicht vermindert worden, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich reduziert. Das, was
sich dort abspielt, hat die gleiche Funktion wie ein Lazarettwagen. In Wirklichkeit müssen die Strukturen verändert werden, damit Menschen in die normalen Wirtschafts- und Arbeitsabläufe hineinkommen und dort den
Lebensunterhalt für sich und ihre Familien verdienen
können.
({9})
Ich kann auch an die Rentenreform erinnern. Das Niveau der Renten wird abgesenkt; die Renten werden
nicht mehr erhöht, die Beiträge aber werden nicht vermindert. Milliardensummen aus allgemeinen Steuermitteln fließen in den Rententopf.
Ich zitiere aus „sueddeutsche.de“ vom 18. April. Dort
steht:
So kritikwürdig …
- hier werden einige Punkte aufgelistet 16110 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
auch sind - die Hauptursache der deutschen Wirtschaftskrise stellen diese Vorgänge nicht dar.
Ich zitiere weiter:
Ein viel gravierenderes Problem manifestiert sich
hingegen in der übergroßen Belastung des Faktors
Arbeit, dem in Deutschland so gut wie alle Kosten
des Sozialstaates aufgebürdet werden.
({10})
- Jetzt geht es weiter; hören Sie doch einmal zu!
Statt hilflos über unwesentliche Probleme zu
schwadronieren,
- so „sueddeutsche.de“ täte der SPD-Chef gut daran, wirklich etwas für
seine Zielgruppe der Arbeitnehmer zu tun.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({11})
Wir haben auch in dem Antrag, den wir heute Morgen
hier diskutiert haben, gesagt, wo es nach unserer Auffassung hingehen soll, wobei ich ausdrücklich feststelle: In
erster Linie ist die Regierung gefordert. Sie haben dafür
den Apparat, Sie können beobachten, was sich auf europäischer Ebene tut. Wir haben Hinweise gegeben, wie
man die Rahmenbedingungen für Arbeit verbessern
kann. Sie sollten zumindest das eine oder andere umsetzen, damit wir in Deutschland vorankommen; denn wir
können es uns nicht leisten, dass weiter Stillstand
herrscht. Deshalb bitten wir Sie, etwas für Deutschland
zu tun.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Wend, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Deutschland kann stolz sein auf seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch auf die allermeisten Unternehmen und Unternehmer, auf den Mittelstand, erst recht da, wo er eigentümergeführt ist, sowie
auf viele große Unternehmen.
Diese Unternehmen verbindet, dass sie alle mindestens drei Ziele haben.
Ziel Nummer eins ist, Gewinne zu machen. Das muss
so sein. Jede Gesellschaft, die etwas anderes meinte, ist
gescheitert.
Ein zweites Ziel haben sie: Sie kümmern sich um und
fühlen sich verantwortlich für ihre Beschäftigten und deren Familien und überlegen es sich zehnmal, bevor sie
eine Kündigung aussprechen.
({0})
Und ein drittes Ziel: Vor allem die Mittelständler fühlen sich für die Region, in der sie produzieren, verantwortlich. Die großen Unternehmen fühlen sich für den
Standort Deutschland, in dem sie produzieren, verantwortlich.
({1})
Unternehmen in diesem Sinne sind die Unternehmen,
die Art. 14 des Grundgesetzes ernst nehmen: Eigentum
verpflichtet.
({2})
Diesen Unternehmen gegenüber sind wir verantwortlich
dafür, dass sich die Standortbedingungen im globalen
Wettbewerb verbessern. Das ist das, was sich hinter der
Agenda 2010 verbirgt.
Frau Wöhrl, Sie werfen uns Staatsversagen vor. Da
muss ich Ihnen doch einfach einmal vorhalten: Wir haben das Land mit einem Spitzensteuersatz von
53 Prozent übernommen und diesen auf 42 Prozent gesenkt.
({3})
Wir haben das Land mit einem Körperschaftsteuersatz
von 45 Prozent übernommen und diesen auf 25 Prozent
gesenkt. Wir haben das Land mit einer Gewerbesteuer
übernommen und haben diese für die Personengesellschaften faktisch abgeschafft.
({4})
Wir haben das Land von Ihnen mit einem verkrusteten
Arbeitsmarkt übernommen und uns unter großen
Schmerzen mit den Hartz-Reformen auf einen anderen
Weg gemacht. Dass da gerade Sie von Staatsversagen
sprechen, Frau Wöhrl, ist geradezu absurd. Das können
wir überhaupt nicht akzeptieren.
({5})
Es gibt in unserem Land aber auch andere Unternehmen. Das muss man genauso deutlich machen. Die werden inzwischen im Wesentlichen von Fondsgesellschaften als anonymen Eigentümern beherrscht. Bei denen
gibt es eben nicht mehr die drei Ziele, von denen ich gesprochen habe.
({6})
Die haben ein einziges Ziel: kurzfristig bis zur nächsten
Aktionärsversammlung den maximalen Profit herauszuholen. Das tun sie, indem sie erstens die Personalkosten
durch Entlassungen reduzieren und indem sie zweitens
- was fast noch schlimmer ist - auf Investitionen verzichten, die sich nicht schon innerhalb weniger Monate,
sondern vielleicht erst in einigen Jahren rechnen. Das ist
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16111
schädlich für den Standort Deutschland und das muss
genauso deutlich benannt werden.
({7})
Das Problem, vor dem wir stehen - das ist doch etwas, das auch Sie, mindestens die Union, beschäftigen
muss -, ist, zu erkennen, wie eine demokratische Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch
handlungsfähig ist.
({8})
Uns allen muss doch klar sein, dass die Ökonomie von
erheblicher Bedeutung ist, dass aber für die Werte in einer Gesellschaft jenseits der Fragen der Ökonomie auch
soziale, kulturelle und Umweltbelange eine entscheidende Rolle spielen, die wir in politische Entscheidungen einbeziehen müssen.
({9})
Wenn wir uns diese Frage stellen, kommen wir nicht
darum herum zu sagen, dass sich die Welt seit Karl
Schiller und Strauß erheblich verändert hat. Als die in
den 60er-Jahren Minister waren, hatten sie die Chance,
eine nationalstaatliche Wirtschaftspolitik zu gestalten.
Die Spielräume dafür sind inzwischen mehr als eng. Wir
müssen uns eingestehen: Wenn wir in unseren Gesellschaften demokratisch steuern wollen, müssen wir über
den Nationalstaat hinaus europäisch denken. Die europäische Dimension ist wichtig, wenn wir uns vornehmen, unsere Gesellschaft steuern zu wollen.
({10})
Glauben Sie mir eines: Wenn wir es in den nächsten
Monaten und Jahren nicht schaffen, den Menschen in
unserer Gesellschaft deutlich zu machen, dass es nicht
nur das Diktat der Ökonomie gibt, sondern dass die Gesellschaft zusammenstehen muss, dass einer für den anderen einstehen muss und dass niemand ausgegrenzt
werden darf, dann werden wir den sozialen Frieden in
unserer Gesellschaft, auf den wir angewiesen sind,
meine Damen und Herren, nicht erhalten.
({11})
Zum Abschluss. Ich danke der FDP ausdrücklich für
diese Aktuelle Stunde.
({12})
Sie war gut, weil sie Gelegenheit gegeben hat, diese Positionen auszutauschen. Die FDP hat sich entschieden.
Die Sozialdemokratie ist am Anfang eines schwierigen
Weges, hat aber einiges bewältigt. Die Union - das haben die Reden deutlich gemacht - weiß nicht, wohin sie
will. Herr Kues hat mit vielem, was er gesagt hat, Recht
gehabt. Frau Wöhrl hat die Position von Herrn
Westerwelle vertreten. Die CDU muss sich überlegen,
ob sie auf Dauer den westerwellschen Kurs fahren will
oder ob sie noch eine soziale Verantwortung für unser
Land hat. Deswegen sage ich Ihnen: Eine Wertediskussion hat begonnen. Sie wird noch Monate, vielleicht
Jahre andauern und hoffentlich zu einem guten Ende
kommen.
({13})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis 2010
- Drucksache 15/4970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({1}), Kerstin Griese, Rita
Streb-Hesse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Jutta Dümpe-Krüger, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Zukunft unseres Landes sichern - Ein kindergerechtes Deutschland schaffen
- Drucksache 15/5341 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({3}), Angelika Graf ({4}), Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Ekin Deligöz, Jutta Dümpe-Krüger, Volker Beck
16112 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinderrechte in Deutschland stärken - Erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen
- Drucksache 15/4724 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Klaus Haupt, Dr. Werner Hoyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rücknahme der Vorbehaltserklärung
Deutschlands zur Kinderrechtskonvention der
Vereinten Nationen
- Drucksache 15/2419 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Bundesministerin Renate Schmidt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Unser aller Ziel muss es sein, Deutschland familien- und kinderfreundlicher zu machen. Wir wollen,
dass Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts eines der
kinderfreundlichsten Länder Europas wird. Denn Kinder
- das wissen wir alle - sind nicht nur eine Quelle privaten Lebensglücks, sondern sie sichern auch unseren gesellschaftlichen Wohlstand. Zukunft, das bedeutet nicht
an erster Stelle neue Technologien, sondern Menschen,
die Erfindungen machen können. Das sind unsere Kinder und Enkelkinder.
({0})
Wir brauchen eine starke, eine talentierte und gut ausgebildete junge Generation. Das bedeutet: Kinder müssen
wieder Vorrang in unserem Land haben.
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft
müssen dafür sorgen, dass Mädchen und Jungen unter
den bestmöglichen Bedingungen aufwachsen können.
Eltern brauchen eine gute Betreuungsinfrastruktur
und familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Denn
Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern und Eltern wollen
Zeit für ihre Kinder haben. Dieses Sich-Zeit-Nehmen
darf keinen Verzicht auf jedweden beruflichen Erfolg bedeuten.
({1})
Mit dem nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ haben wir die Ampeln für Kinder
nachhaltig auf Grün gestellt. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz haben wir die rechtliche und finanzielle
Grundlage für den Ausbau der öffentlichen Tagesbetreuung und Tagespflege insbesondere für Kinder unter drei
Jahren geschaffen. Bis 2010 werden mit Unterstützung
des Bundes 230 000 zusätzliche Betreuungsplätze entstehen. Daneben engagiert sich der Bund auch für bessere Bildung und Betreuung der Schulkinder. Insgesamt
bis zu 7 Milliarden Euro stehen in dieser Legislatur für
beide Projekte zur Verfügung.
({2})
Auf Bundesebene werden wir außerdem mit der von mir
ins Leben gerufenen „Allianz für die Familie“ konkrete
Vorschläge für eine familienfreundliche Unternehmenskultur und Personalpolitik entwickeln.
Hier, meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen
von der Union, nur eine kurze Anmerkung, weil dies
heute wohl nicht das Thema sein kann, zur Kritik im
Unionsantrag an meiner Idee eines Elterngeldes. Ich
freue mich ausdrücklich über die jüngste mehrmalige
Unterstützung der bayerischen Sozialministerin
Stewens. Es ist im Übrigen ein Konzept für die nächste
Legislatur, wenn der Ausbau der Betreuung vorangekommen sein wird. Wir werden noch ausreichend Zeit
haben, gemeinsam darüber zu diskutieren.
Auch meine Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“
wird weiter ausgebaut. In ihr haben sich Kommunen,
Wirtschaft und Gewerkschaften, freie Träger, Verbände,
Kirchen und Initiativen für mehr Familienfreundlichkeit
in unserem Land zusammengeschlossen. Bisher gibt es
138 solcher Bündnisse in Kommunen, in denen rund
19 Millionen Menschen leben. Weitere 140 Bündnisse
sind in Planung.
({3})
Sobald sich solche interessierten Gruppen in Kommunen gemeinsam für Kinder engagieren, erhalten der Ausbau der Kinderbetreuung und die pädagogische Qualität
in den Einrichtungen einen Schub. Diese guten Beispiele
gilt es nunmehr flächendeckend zu verbreiten. Auch dies
werden wir mit unserer Kampagne zum Ausbau der
Tagesbetreuung unterstützen. Darüber hinaus werden
Familienzentren und Häuser des Kindes als niedrigschwellige Anbieter sozialer und familiennaher Dienste
fortentwickelt und weiter gefördert.
Ich verstehe alle diese Bemühungen als Beiträge zur
Chancengerechtigkeit für Kinder. Denn die größte
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16113
Ungerechtigkeit ist die Tatsache, dass nirgendwo so sehr
wie bei uns die Herkunft eines Kindes über seine Bildungschancen entscheidet.
({4})
Hier müssen wir an erster Stelle ansetzen, wenn wir
Kinder- und Familienarmut wirksam bekämpfen wollen. Denn die Hauptursache von Armut ist der Mangel
an Bildung.
Sie, meine Herren und Damen von der Union, beklagen in Ihrem Antrag zu Recht die viel zu hohe Zahl der
Jugendlichen ohne Schulabschluss. Verantwortlich hierfür sind ausschließlich die Länder. Dazu ein paar wenige
Zahlen: Nach den Aussagen des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2003 6,8 Prozent der Schüler und
Schülerinnen in Nordrhein-Westfalen ohne Schulabschluss, in Bayern 8,7 Prozent und in Hessen 9,2 Prozent.
({5})
Natürlich muss uns Kinder- und Familienarmut alarmieren. Sie hat ihre Hauptursache in der hohen Arbeitslosigkeit - das wissen wir -, aber natürlich nicht nur. Sie
hat ihre Ursache auch in mangelnder Unterstützung der
Familien. Auch hier sind die Länder besonders gefordert.
({6})
Dass die Schuldnerberatung eingestellt, die Familienund Erziehungsberatung reduziert und die Kinderbetreuung eine teure Mangelware wird, trägt alles zur Verfestigung von Kinder- und Familienarmut bei.
Chancengerechtigkeit bedeutet daher vor allem mehr
Qualität in der öffentlichen Kindertagesbetreuung.
Um die Qualität der Einrichtungen allgemein zu verbessern, setzen wir mit einer Reihe von Initiativen wichtige
Zeichen, wie zum Beispiel mit der nationalen Qualitätsinitiative, mit dem Modellprojekt „Bildungs- und Lerngeschichten“ und dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht mit dem Thema „Bildung und Erziehung außerhalb
der Schule“.
Der Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes
Deutschland 2005 bis 2010 schreibt die erfolgreiche Politik für Kinder und Familien fort. Um Deutschland kinderfreundlicher zu machen, bedarf es jedoch der Anstrengung aller gesellschaftlichen Akteure. Daher war es
uns schon bei der Entwicklung des Aktionsplans wichtig, alle Beteiligten, einschließlich der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, und natürlich vor allen
Dingen die Kinder selbst mit einzubeziehen. Der Plan
trägt die Handschrift dieser produktiven Zusammenarbeit und zeigt sechs Handlungsfelder auf:
Zum Ersten werden im Bereich der frühen Förderung
und Bildung unter anderem Maßnahmen angekündigt,
die darauf zielen, jedem jungen Menschen unabhängig
von seiner sozialen oder ethnischen Herkunft eine faire
Chance auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn zu geben.
Zum Zweiten wird deutlich gemacht, wie wir unsere
Kinder noch konsequenter vor personaler und medialer
Gewalt schützen können.
Zum Dritten wollen wir uns darum kümmern, dass
Kinder und Jugendliche gesund aufwachsen können.
Zum Vierten werden Maßnahmen vorgeschlagen, die
dazu dienen, junge Menschen stärker in all diesen Angelegenheiten mit entscheiden zu lassen, die sie selbst betreffen.
Zum Fünften werden Maßnahmen aufgezeigt, wie
Kinderarmut bekämpft und ein angemessener Lebensstandard für alle Kinder erreicht werden kann.
Zum Sechsten werden die Maßnahmen genannt, die
ergriffen werden müssen, um auch international die Armut von Kindern zu reduzieren und Kinderrechten weltweit Geltung zu verschaffen.
({7})
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Mittwoch letzter Woche in einer Grundsatzrede zur Familienpolitik
auf die ökonomische Notwendigkeit kinder- und familienfreundlicher Rahmenbedingungen hingewiesen. Eine
kinderfreundliche Politik ist ein wesentlicher Standortvorteil im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb. Ich bin
zuversichtlich, dass diese Botschaft angekommen ist und
deshalb der Prozess der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans genauso produktiv verlaufen wird wie seine
Erstellung.
({8})
Zu diesem Zweck werden wir ein Monitoringverfahren installieren, das alle politischen und gesellschaftlichen Partner einbezieht. Eine kinderfreundliche Gesellschaft kann Wirklichkeit werden, wenn die Länder,
Kommunen, Verbände, die Wirtschaft und die jungen
Menschen selbst zusammen mit dem Bund den Nationalen Aktionsplan als gemeinsame Leitlinie begreifen und
umsetzen.
Gleiches gilt im Übrigen für die Rücknahme des Vorbehalts der UN-Kinderrechtskonvention. Auch hier
müssen alle Akteure zusammenwirken; ansonsten kann
dies nicht gelingen.
({9})
Es hat sich gezeigt, dass es aus heutiger Sicht nicht notwendig gewesen wäre, dazu überhaupt eine Erklärung
abzugeben. Unsere gemeinsame Auslegung der Kinderrechtskonvention würde auch ohne diese Erklärung in
gleichem Maße gelten. Dies spricht aus der Sicht der
Bundesregierung, die sich seit Jahren dafür einsetzt und
in ihrer Haltung durch den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes bestärkt wird, für eine
vollständige, ersatzlose Rücknahme dieser Erklärung.
({10})
16114 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Dies bedarf jedoch der Zustimmung der Länder. Sie ist
bisher an dem Standpunkt der unionsregierten Länder
gescheitert.
„Der Schutz von Kindern geht uns alle etwas an“,
sagte Ihre Partei- und Fraktionsvorsitzende, meine sehr
geehrten Herren und Damen von der Union, auf einem
UNICEF-Kongress im Januar dieses Jahres. Da ging es
ausdrücklich auch um diese Frage. Diesem Satz können
wir alle zustimmen. Ich möchte ihn ergänzen: Der
Schutz von Kindern nimmt uns alle gleichermaßen in die
Pflicht.
Deshalb appelliere ich an Sie: Setzen Sie sich bei den
unionsregierten Ländern für eine Rücknahme dieser Erklärung ein und helfen Sie mit, diesem international unerträglichen Zustand nach Jahren der Diskussion endlich
ein Ende zu bereiten!
({11})
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, zum Schluss
möchte ich dafür werben, dass wir, wenn es um Kinder
geht, auch unsere Sprache und damit schrittweise auch
die Mentalität in unserem Land ändern. Natürlich sind
Kinder manchmal Last, natürlich sind sie manchmal
mühsam, natürlich sind sie manchmal Plage und natürlich können sie die materielle Leistungsfähigkeit ihrer
Eltern überfordern und auch zum Armutsrisiko werden.
Das alles weiß ich. Ich möchte um Himmels willen
nichts beschönigen oder verharmlosen. Aber an erster
Stelle - darüber sollten vor allen Dingen wir, die wir
Kinder haben, reden - stehen Kinderglück, Freude, Lebenserfüllung und die Zukunftshoffnung, dass von uns
etwas bleibt. Meine Bitte ist deshalb: Reden wir über
Kinder als das, was sie sind! Meine zweite Bitte ist: Machen Sie mit beim Nationalen Aktionsplan und helfen
Sie mit bei der Erreichung unseres Ziels, Deutschland zu
einem der kinderfreundlichsten Länder Europas zu machen!
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Das war, wie schon so
oft in letzter Zeit, Frau Ministerin, eine wortgewaltige
Rede. Sie haben viele Dinge, die Sie zu tun gedenken,
angekündigt und zu Papier gebracht. Ich muss Ihnen ein
Kompliment machen: In dieser Rubrik sind Sie kaum zu
schlagen, das machen Sie sehr gut.
({0})
Nur, Sie müssen damit rechnen, dass die Opposition
auch nachfragt und nachhört: Was wird eigentlich alles
verkündet und was passiert?
Wofür steht nun dieser Nationale Aktionsplan, kurz
NAP genannt? Sie sagen, der Nationale Aktionsplan für
ein kindergerechtes Deutschland solle „für die Bundesregierung ein Fahrplan für eine kinderfreundliche Politik
in Deutschland sein, ein Fahrplan für einen Weg, auf
dem viele Etappen schon erfolgreich zurückgelegt sind“.
Ich sage heute: NAP, Frau Ministerin, steht für „Neuer
Ankündigungsplan“;
({1})
denn - jetzt müssen wir ehrlich sein - welche Etappen
haben Sie denn erfolgreich zurückgelegt?
Bleiben wir einmal bei dem wichtigsten Themenbereich des Plans, der eigentlich alle anderen unterordnet:
Das ist die Entwicklung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder. Sie sagen: „Die materiellen
Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, haben
Einfluss auf deren weitere Lebenswege. Sie entscheiden
auch über die Chancen auf ein gutes Leben und die gesellschaftliche Integration als Erwachsene.“ Und was tun
Sie, Frau Ministerin? Sie loben Ihre Arbeit und stellen
fest - jetzt zitiere ich -:
Trotz der schwierigen haushaltspolitischen … Situation hat die Bundesregierung in der vergangenen
und laufenden Legislaturperiode durch steuer- und
familienpolitische Maßnahmen die Einkommenssituation von Familien insgesamt verbessert und finanzielle Leistungen … ausgebaut …
({2})
Dann frage ich mich: Warum jubeln die Familien in diesem Land eigentlich gar nicht? Sie müssten doch zufrieden sein!
Die aktuellen Zahlen des 2. Armuts- und Reichtumsbericht, Frau Ministerin, der erst vor wenigen Wochen
veröffentlicht wurde, belegen aber sehr deutlich, dass die
Situation keineswegs besser, sondern sehr viel schlechter
geworden ist. Verschließen Sie doch nicht die Augen vor
der Realität, sondern schauen Sie hin! In über sechs Jahren Ihrer Amtszeit ist keine Trendwende eingetreten. Sie
haben es nicht geschafft, die Entwicklung zu bremsen
und in eine andere Richtung zu führen. Sie wollten - mit
diesem Anspruch sind Sie angetreten - durch eine
grundlegend andere Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik in Deutschland für mehr Beschäftigung, weniger
soziale Ausgrenzung und weniger Armut sorgen. Und
was ist geschehen? Nichts. Viele Versprechungen, falsche politische Entscheidungen - Sie haben den Teufelskreis nicht durchbrochen.
({3})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16115
Im Nationalen Aktionsplan ist zu lesen:
Als wichtigste internationale Verpflichtung betrachtet die Bundesregierung die signifikante Reduzierung von Armut.
Sie haben sie gesteigert.
({4})
Ihr Handeln orientiert sie ganz wesentlich an der
Millenniumserklärung, die … im September 2000
beschlossen wurde.
Ihre bisherige Bilanz, Frau Ministerin, ist erschreckend.
Kinder und Jugendliche haben das höchste Armutsrisiko.
({5})
Deshalb sage ich auch an dieser Stelle wieder: NAP
heißt hier „Nichts außer Perspektivlosigkeit“.
Arbeitslosigkeit ist die Hauptursache von Armut und
sozialer Ausgrenzung. Sie betrachten zwar die Arbeitsvermittlung als besten Weg, um die Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen - darin stimmen wir Ihnen zu; das gilt besonders für Alleinerziehende -, aber Sie haben trotzdem die
Arbeitslosigkeit nicht reduzieren können. Die Zahl der
Arbeitslosen ist mit 5,2 Millionen dramatisch hoch.
Besonders besorgniserregend ist die Situation junger
Leute. Die Zahl der Jugendlichen ohne Arbeit liegt zurzeit bei 665 000. Das entspricht einer Steigerung um
200 000 junge Menschen.
({6})
Wenn man Statistiken heranzieht, Frau Ministerin,
dann muss man alle berücksichtigen. Sie haben ausgeführt - darin sind wir einer Meinung -, dass auch die
Bildung etwas damit zu tun hat, ob man arbeitslos wird.
Sie haben in diesem Zusammenhang zwei Vergleichszahlen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen genannt.
Sie haben festgestellt, dass der Bildungsstand in Bayern
niedriger ist als in Nordrhein-Westfalen.
({7})
- Ja, es gibt mehr Schulabbrecher als in Nordrhein-Westfalen. Aber nichtsdestotrotz sind in Bayern weniger
Jugendliche arbeitslos als in Nordrhein-Westfalen. In
Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen um fast 30 Prozent gestiegen. Diese Zahl
sollte man sich zu Gemüte führen, wenn man die Bundesländer miteinander vergleicht.
({8})
Wir meinen, dass es nicht nur darum geht, Kinder früher und besser zu fördern; vielmehr spielen auch die
Schulsysteme eine große Rolle. Gerade in den von der
CDU oder der CSU regierten Ländern werden bedeutend
bessere Ergebnisse erzielt als in den von Ihnen regierten
Ländern.
({9})
Deshalb sollten Sie sich die Zahl noch einmal zu Gemüte
führen: In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen um 29,8 Prozent gestiegen. Diese
Quote müssen Sie erst einmal reduzieren; dann können
wir weiter diskutieren.
({10})
Frau Ministerin, Sie haben im Zusammenhang mit
dem NAP das Elterngeld und den Kinderzuschlag angesprochen. Dazu möchte ich einige Anmerkungen machen.
Das von Ihnen angekündigte Elterngeld - auch hierbei handelt es sich wieder um eine Ankündigung; Konkretes findet sich dazu nicht - widerspricht unserem
Prinzip einer bedarfsgerechten Förderung und verletzt
unserer Meinung nach auch den Grundsatz der Wahlfreiheit.
({11})
Sie wollen die Zahlung von Elterngeld an die Verpflichtung beider Elternteile knüpfen, zumindest teilweise Elternzeit in Anspruch zu nehmen. Dies greift eindeutig in
die Entscheidungsfreiheit der Eltern ein und das wollen
wir nicht.
({12})
Das bisherige Erziehungsgeld ist eine Anerkennung der
Erziehungsleistung der Eltern. Als solche wird es allen
Eltern in gleicher Höhe gewährt, sofern sie die gesetzlich festgelegten Einkommensgrenzen nicht überschreiten. Das Elterngeld hingegen begünstigt Eltern mit höheren Einkommen.
Was Sie nun vorhaben, ist wieder einmal typisch: Sie
wollen ein Elterngeld für die Besserverdienenden einführen; aber damit diejenigen, die weniger haben, nicht
gleich laut protestieren, kündigen Sie den Kinderzuschlag an. Nun könnten wir meinen - der Begriff
„Kinderzuschlag“ hört sich zunächst positiv an -, dass
damit die Familien gefördert werden sollen, die geringere Einkünfte haben. Ich denke, dass Sie das mit dem
Kinderzuschlag tatsächlich erreichen wollten. Im Nationalen Aktionsplan schreiben Sie, die Politik ziele
… darauf ab, die finanzielle Förderung für Familien
zielgerichteter zu gestalten. Ein Beispiel dafür ist
die Einführung eines einkommensabhängigen Kinderzuschlags … Der Kinderzuschlag richtet sich an
gering verdienende Eltern … Mit dem Kinderzuschlag wird Kinderarmut konkret verringert.
Das hört sich zwar gut an, aber wir glauben es nicht.
({13})
- Hören Sie zu, dann bekommen Sie die Belege! Ich
gebe sie Ihnen gleich schriftlich, Frau Kressl. Dann können Sie das zu Hause nachlesen.
({14})
- Ich würde nicht darüber lachen, Frau Kressl!
16116 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Denn wie sieht die Realität aus, Frau Ministerin? Sie
haben wieder einmal große Ankündigungen in große
Worte gefasst, aber nicht erwähnt - das aber ist für die
Menschen wichtig, vor allem für Alleinerziehende -,
dass die Auszahlung des Kinderzuschlags an vielfältige
Kriterien gebunden ist. In Nordrhein-Westfalen zum
Beispiel - hierbei beziehe ich mich auf eine Sendung des
WDR vom 24. März - werden 90 Prozent der Anträge
auf Gewährung eines Kinderzuschlages abgelehnt. Man
könnte vielleicht denken, dass die Antragsteller in Nordrhein-Westfalen zu viel verdienen. Aber das ist nicht der
Fall. Aufgrund der Einführung der Mindesteinkommensgrenzen werden viele Anträge deshalb abgelehnt, weil
die Eltern zu wenig verdienen.
({15})
Das muss man sich einmal vorstellen: Sie wollen zwar
mit dem Kinderzuschlag den einkommensschwachen
Familien helfen, wenn aber die Eltern zu wenig verdienen, dann erhalten die Familien den Zuschlag nicht!
Ich will ein Beispiel nennen. Eine allein erziehende
Mutter, die zwei Kinder zu versorgen hat und halbtags
arbeiten geht, verdient 113 Euro zu wenig - ich bitte Sie,
jetzt zuzuhören, Frau Kressl, weil Sie an dieser Stelle etwas ändern können - und erhält deshalb keinen Kinderzuschlag. Sie müsste nun ihre Arbeit aufgeben. Dann
hätte sie die Möglichkeit, andere Hilfen und das
Arbeitslosengeld II in Anspruch zu nehmen. Sie stünde
sich also besser, wenn sie nicht arbeiten ginge. Wo bleibt
denn hier das Prinzip der Stärkung der Eigenverantwortung? Frau Ministerin, das geht doch an den Menschen
absolut vorbei.
({16})
Die Dinge, die Sie ansprechen, klingen zwar gut.
Aber sie greifen in der Realität leider gar nicht. Das
zeichnet leider alles aus, was Sie als erfolgreichen Weg
beschrieben haben, Frau Ministerin. Dabei sind viele
Ideen gar nicht schlecht, zum Beispiel das Tagesbetreuungsausbaugesetz, die Stärkung der privaten Tagespflege. Das ist richtig und wichtig. Aber dann müsste
zum Beispiel der Schritt kommen, die Betreuungskosten,
also die Kosten, die Eltern entstehen, steuerlich absetzbar zu machen. Das haben wir vorgeschlagen. Das hätten
Sie doch machen können. Aber das haben Sie noch nicht
einmal aufgenommen.
({17})
- Frau Griese, wenn Sie einen entsprechenden Antrag
vorlegen, dann haben Sie uns sofort auf Ihrer Seite. Das
haben Sie aber nicht getan.
({18})
Ich habe im KICK gelesen - das hat mich wieder
erstaunt -, da Sie die Förderung und Unterstützung privater Tagespflege, das heißt privater Tagesmütterverbände propagieren, dass alle privaten Betreuungsverhältnisse der Genehmigung des Jugendamtes bedürfen. Sie
bauen schon wieder ein Bürokratiemonstrum auf. So
werden die betroffenen Frauen ihre Entscheidung für
eine Tagespflege wieder zurücknehmen. Das, was Sie
machen, ist also kontraproduktiv. Sie nehmen gar nicht
die Wirklichkeit wahr.
({19})
Sie können hier doch nicht Dinge verkünden und so tun,
als ob Sie für Verbesserungen für Familien sorgten, und
in Wirklichkeit nichts tun. Ich bitte Sie, hierüber noch
einmal nachzudenken und etwas zu verändern.
Ich könnte noch fortfahren und auf die Beteiligung
von Kindern und Jugendlichen zu sprechen kommen.
Das können Sie leider nicht, weil die Zeit das nicht
zulässt.
Herr Präsident, ich habe gesehen, dass die Uhr tickt.
Deswegen komme ich nun zum Schluss.
Frau Ministerin, ich bitte Sie um Folgendes: Unsere
Jugend ist unsere Zukunft. Deshalb ist es notwendig und
wichtig, ihr Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, Perspektiven, die ihr Mut machen, die sie motivieren. Keine
neuen Ankündigungspläne mehr! Es reicht. Hören Sie
auf, anzukündigen! Handeln Sie! Dann haben Sie uns an
Ihrer Seite.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ekin Deligöz. Bevor Sie das Wort erhalten, möchte ich Ihnen zu Ihrem
heutigen Geburtstag gratulieren,
({0})
verbunden mit allen guten Wünschen nicht nur für diese
Debatte, sondern auch für das kommende Jahr.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Nationale Aktionsplan, den wir heute
behandeln, enthält zweierlei: Einerseits ist er für uns die
Bestätigung unserer Politik. Andererseits ist er eine Herausforderung für die Zukunft. In dem Nationalen Aktionsplan wird bestätigt, dass das, was wir bisher gemacht
haben, um dieses Land kinder- und familienfreundlicher
zu machen, der richtige Weg ist.
Wir haben eine ganze Menge in Sachen Kinderrechte,
Familienförderung und Zusammenleben von Alt und
Jung in diesem Land erreicht. Es ist wichtig gewesen,
dass wir die Weichen in diesem Land neu gestellt haben.
Wenn ich über Weichenstellungen rede, dann rede ich
auch über Kinderrechte, darüber, dass es in diesem Land
ein Recht auf gewaltfreie Erziehung gibt - Kinder sind
nicht mehr Rechtsobjekte, sondern Rechtssubjekte mit
eigenständigen Ansprüchen -, über Ganztagsschulprogramme, die dem Ausbau von Bildung dienen, und über
das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das den Ausbau von
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16117
Betreuung bezweckt. Damit haben wir mehr getan, als es
eigentlich unsere Aufgabe auf Bundesebene ist. Wir sind
darüber hinausgegangen. Wir haben gesagt: Wir nehmen
unsere Verantwortung ernst und tun alles, was wir tun
können, um auch in diesem Bereich voranzukommen.
({0})
Mit dem, was wir gemacht haben, haben wir die
Signale in der Gesellschaft gesetzt. Wenn wir heute über
die Qualität von Einrichtungen reden, wenn die Bundesländer über eine Neuqualifizierung von Mitarbeiterinnen
in Kindergärten und Kitas reden, um die Betreuung zu
verbessern, wenn wir über Erziehungs- und Bildungspläne sowie über mehr Qualität bei den Tagesmüttern reden, dann darf man nicht vergessen, dass das unsere Debatte ist. Wir haben diese Debatte gestartet, wir haben
sie geführt und gewonnen. Nun reden wir darüber. Das
ist viel mehr als das, was wir in diesem Land übernommen haben, als wir als Regierung angetreten sind.
Wenn Sie nun kritisieren, dass wir zwar einerseits
mehr wollen, dass wir andererseits für mehr Bürokratie
sorgen, dann frage ich Sie - hier sind ja viele Mütter
anwesend -: Wer haftet denn, wenn einem Kind in der
Obhut einer Tagesmutter etwas zustößt? Wer muss die
Verantwortung übernehmen? Wer qualifiziert die Tagesmütter? Natürlich müssen wir diese Verantwortung übernehmen. Natürlich müssen wir die Ängste und Sorgen
der Eltern ernst nehmen und die richtigen Antworten finden.
Sie signalisieren die Sorge, das sei zu bürokratisch.
({1})
Meine Botschaft lautet: Es geht um die Kinder; es geht
um die Rechte der Kinder; es geht darum, den Kindern
das Beste zu geben.
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Fischbach?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Deligöz, ich glaube, Sie haben mir
nicht richtig zugehört. Ich habe nicht gesagt, durch die
Tagespflege werde ein bürokratisches Monster geschaffen; es ging mir lediglich um die neue Regelung im
KICK, nach der jedes private Betreuungsverhältnis vom
Jugendamt genehmigt und überprüft werden muss. Dies
schafft neue Bürokratie.
Ist Ihnen die Situation vor Ort bekannt? Ist Ihnen bekannt, dass Jugendämter die Tagespflege im Sinne von
Subsidiarität bewusst an private Träger übergeben und
dass bis zu fünf Kinder - je nach Bundesland bis zu drei
Kinder - ohne Jugendamtsgenehmigung betreut werden
dürfen, weil private Träger die Aufgabe des Jugendamtes im Sinne von Subsidiarität übernommen haben? In
welchem Verhältnis steht das zu der in § 44 KICK vorgesehenen Änderung?
Frau Kollegin Fischbach, mir ist das bekannt. Ich
weiß, wie das läuft. Ich weiß aber auch, dass das, worauf
Sie hinweisen, für lediglich 30 Prozent der Tagesmütter
gilt, und kann Ihnen sagen, wie die anderen zu einer Tagesmutter kommen: Man fragt eine Nachbarin, eine
Freundin, findet jemanden über die örtliche Presse oder
sonst wie. Dieser Bereich ist eine Grauzone. Viele Tagesmütter arbeiten in Verhältnissen, die in keiner Weise
gesichert sind, ohne Sozialversicherung und zudem unterbezahlt.
({0})
Diese Arbeit wird bisher von vielen Menschen ohne eine
entsprechende Qualifikation geleistet.
({1})
- Hören Sie mir doch einfach einmal zu, Herr
Rossmanith! - Ich weiß, dass so der typische Tagesmutterarbeitsplatz in diesem Land aussieht. Gerade deshalb
müssen wir etwas tun: weil es nicht mehr reicht, dass die
Kinder in der frühesten Kindheit satt, sauber und aufgehoben sind. Wir sagen: Es geht darum, die Kinder so
früh wie möglich zu fördern. Das, was bei den Kindern
falsch gemacht wird, kann im Erwachsenenalter nicht
mehr rückgängig gemacht werden.
Mit Bildung und Erziehung muss in der frühesten
Kindheit und nicht erst in der Schulzeit angefangen werden. Unser Ziel ist, die Qualität der frühkindlichen Erziehung zu steigern. Wir wollen für unsere Kinder den
besten Rahmen organisieren. - Das ist unsere Antwort
auf die Frage, warum das so wichtig ist, und der Grund
dafür, dass wir das alles machen.
({2})
Nein.
Nein? - Na gut. Ich hätte sie zugelassen.
Das glaube ich sofort. Die Fantasie zur Erweiterung
der zugemessenen Redezeit ist in diesem Haus unerschöpflich. Aber wenn wir in der Nähe der vereinbarten
16118 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Gesamtdebattenstruktur bleiben wollen, dann muss es
möglich sein, zu unterbinden, dass sich Redner durch die
Beantwortung mehrerer Zwischenfragen zusätzliche Redezeit ergaunern.
Aber das ziehen Sie jetzt von meiner Redezeit ab.
Das ziehe ich sofort ab, Frau Kollegin. Sie haben wegen Ihres Geburtstags heute ohnehin einen Zuschlag.
Bitte schön.
({0})
Den Begriff „Zuschlag“ greife ich gerne auf: Das Ziel
des vorhin in der Debatte erwähnten Kinderzuschlags
ist es, Menschen, die zwar arbeiten und ein Erwerbseinkommen haben, damit aber nicht den Unterhalt ihrer
Kinder finanzieren können, dazu zu verhelfen, aus der
Armutsfalle herauszukommen. Durch diesen Zuschlag
brauchen sie nicht zum Sozialamt oder zum Jobcenter zu
gehen und Bittsteller zu werden. Dafür wollen wir sorgen.
({0})
Natürlich muss dieser Zuschlag begrenzt sein. Wir
kennen in unserem Sozialsystem das Günstigkeitsprinzip: Jeder hat einen Anspruch auf die für ihn beste Leistung. Mit anderen Worten: Das Sozialrecht sieht solche
Grenzen vor.
Ich gebe zu: Ich sähe es gern, wenn viel mehr Kinder
und viel mehr Familien leistungsberechtigt wären. Wir
Grünen haben dazu Vorschläge gemacht, wie man das
Ganze weiterentwickelt kann. Wir arbeiten darauf hin,
diese Vorschläge umzusetzen. Falsch ist aber, das gesamte Instrument zu verurteilen, wie Sie es tun. Der Ansatz, Menschen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt zu aktivieren, Armut ernst zu nehmen und auf die damit
verbundenen Fragen Antworten zu geben, ist richtig.
Das ist das richtige Instrument. An diesem Instrument
arbeiten wir. Insofern setzen wir auch die richtigen Signale.
({1})
Wir setzen ein weiteres Signal: Politik, Gesetzgeber,
wir im Parlament, Regierung und auch die verschiedenen staatlichen Ebenen sind für Familienpolitik verantwortlich, aber nicht allein. Wir brauchen Bündnispartner,
um kinder- und familienfreundliche Verhältnisse zu
schaffen. Wir brauchen verschiedene Akteure als Bündnispartner: Arbeitgeber, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände, Organisationen, Verwaltungen. Genau das ist die
Grundlage einer familienfreundlichen Politik. Ich kann
nur jeden und jede dazu aufrufen, seinen bzw. ihren Teil
dazu beizutragen, dieses Land kinderfreundlicher zu machen; denn das ist unsere gemeinsame gesellschaftliche
Aufgabe.
({2})
An diesem Nationalen Aktionsplan waren Kinder und
Jugendliche beteiligt. Bei dieser Regierungsvorlage, die
wir hier gemeinsam diskutieren, ist es uns zum ersten
Mal gelungen, Kinder und Jugendliche tatsächlich zu beteiligen. Sie ernst zu nehmen und partizipieren zu lassen,
ist gelebte Demokratie.
Da auch die Kinderkommission daran mitgearbeitet
hat und ich als Vorsitzende der Kinderkommission daran
beteiligt war, möchte ich mich ausdrücklich bedanken
und auch die Bereitschaft dazu erklären, bei den Aufgaben, die Kinder und Jugendliche an uns herangetragen
haben, weiterhin konstruktiv mitzuarbeiten.
In der Unterrichtung sind auch die Herausforderungen für die kommenden Jahre beschrieben. Diese Herausforderungen werden mit den folgenden Begriffen
deutlich gemacht: Chancengerechtigkeit, Bildung, Gesundheit und Ernährung, soziale Sicherung, Lebensstandards - für alle gleichwertig in diesem Land -, aber auch
Rechte von Kindern. Das heißt für uns Politikerinnen
und Politiker: Ärmel hochkrempeln und gute Arbeit tatkräftig fortsetzen.
Wenn ich schon von Signalwirkung spreche, dann gehört natürlich dazu, die Rücknahme der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zu erwähnen. Dabei geht es um Signale, die wir in diesem Land nach
außen senden müssen, die wir im Sinne der Kinderrechte
aber auch in dieses Land hinein senden müssen. Dafür
müssen wir uns gemeinsam einsetzen. Für uns sind alle
Kinder gleich, egal woher sie kommen, egal warum sie
herkamen. Sie sind minderjährig.
({3})
Da reicht es nicht, dass sich Bund und Länder gegenseitig Bälle zuwerfen. Es ist an der Zeit, finde ich, dass
man sich endlich einmal gemeinsam hinsetzt, über diese
Ebenen hinweg, und sagt: Wir tun etwas für unsere Kinder und nehmen die Vorbehalte zurück. Den Vorwurf,
mit der Rücknahme der Vorbehalte würde sich ausländerrechtlich etwas ändern, teile ich übrigens nicht. Ganz
im Gegenteil glaube ich, dass das ein wichtiger Schritt
im Sinn einer kinderfreundlichen Gesellschaft sein wird.
An diesem Punkt werden wir auch vom Ausland beobachtet. Deshalb sind wir geradezu gezwungen, diesen
Schritt zu gehen. Ich fordere Sie von der CDU/CSU auf,
das zu unterstützen, damit uns gemeinsam eine kinderfreundliche Welt, ein kinderfreundliches Land gelingt.
Das ist unser Ziel. Das ist unsere Verantwortung. Lassen
Sie uns diese Verantwortung gemeinsam übernehmen!
Danke schön.
({4})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16119
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Haupt für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage des Nationalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutschland kommt die Bundesregierung einer Verpflichtung
aus den Vereinbarungen des Weltkindergipfels von 2002
in New York nach.
Wir sind uns alle einig, über Parteigrenzen hinweg,
glaube ich, dass ein kindergerechtes Deutschland ein
Ziel ist, für das man sich gemeinsam einsetzen sollte.
({0})
Wir sollten der Kinder- und Jugendpolitik in unserer Arbeit einen noch viel höheren Stellenwert geben; denn
dieses Politikfeld nimmt die größte gesellschaftliche Herausforderung für unser Land ins Visier: die Fehlwahrnehmung von Kindern als Last, als Mühsal, als Stolperstein bei der Karriere, als Kostentreiber.
Ich freue mich ganz besonders darüber, dass der NAP
auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
erarbeitet wurde; meine Vorrednerin hat schon darauf
aufmerksam gemacht. Junge Menschen wollen Verantwortung tragen und ihre Welt mitgestalten. Sie erheben
zu Recht Anspruch auf Beteiligung.
Ich freue mich darüber, dass das „Projekt P“ auf die
Gestaltung durch Kinder und Jugendliche selbst setzt.
Deshalb, Frau Ministerin, hat die FDP erst letzte Woche
ihre Unterstützung für die geplanten Aktionen, zum Beispiel das Festival Berlin 2005 im Sommer, betont.
Eine aktive Beteiligung von Kindern und Jugendlichen darf sich aber nicht in einzelnen Aktionen erschöpfen. Sie muss kontinuierlich erfolgen und ernsthafte Gestaltungs- und Mitentscheidungschancen für die jungen
Generationen bieten. Wenn wir Beteiligung ernst nehmen, müssen wir die Rechte von Kindern und Jugendlichen stärken. Ich begrüße es, meine seit Jahren wiederholte Forderung im NAP wiederzufinden: Wir müssen
Kinder und Jugendliche besser über ihre Rechte informieren und Kinderrechte auch im Bewusstsein der Erwachsenenbevölkerung verankern.
({1})
Es ist noch viel zu tun, damit in Kindergärten, Schulen, Freizeiteinrichtungen, in der Jugendhilfe, in der Justiz und in den Familien, nicht zuletzt aber auch bei den
Politikern klar ist, welche Rechte Kindern beispielsweise nach der UN-Kinderrechtskonvention zustehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als leider schier unendliche Geschichte zieht sich die Debatte über die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention durch die letzten Jahre; Frau Bundesministerin, Sie haben darauf verwiesen. Dazu sagt die
FDP ganz klar - wir haben auch einen Antrag eingebracht -: Die deutsche Vorbehaltserklärung gegen die
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist sachlich obsolet und muss endlich aufgehoben werden.
({2})
Sie wirkt wie ein Vorbehalt gegen Fortschritte in der
Kinderrechtsdiskussion. Das belastet den Dialog mit den
Kinderrechtsorganisationen erheblich. Eine Rücknahme
der Vorbehalte ist sachlich möglich und politisch geboten. Der Vorbehalt schadet dem deutschen Ansehen im
Ausland. Deutschland darf anderen Staaten keinen Vorwand liefern, selbst Vorbehalte gegen Kinderrechte aufzubauen.
Frau Ministerin, die Rücksichtnahme auf die Bundesländer darf nicht zu einer weiteren Verschleppung der
Entscheidung führen. Die Aufhebung der Vorbehaltserklärung ist ein dringend notwendiges und längst überfälliges Signal für ein kinderfreundliches Deutschland.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts des
NAP, dem die FDP grundsätzlich positiv gegenübersteht,
muss ich aber auch deutlich erhebliche Probleme ansprechen. Es ist, Frau Ministerin, Augenwischerei, wenn Sie
behaupten, Sie hätten den Ausbau der Betreuungsangebote für Kleinkinder sichergestellt. Sie wissen, dass die
Finanzierung für die Maßnahmen des TAG auf tönernen Füßen steht. Städte und Gemeinden bezweifeln
mehr denn je, dass ihnen 1,5 Milliarden Euro jährlich für
den Ausbau der Betreuungsangebote zur Verfügung stehen. So sehr sich die FDP diesen Ausbau auch wünscht,
so ungewiss ist er derzeit leider.
({4})
Wenn sich die Bundesregierung einen angemessenen
Lebensstandard der Kinder zum Ziel setzt, sollte sie
auch zugeben, wie weit wir davon entfernt sind - Frau
Kollegin Fischbach hat darauf verwiesen -, nicht zuletzt
weil die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von RotGrün versagt hat. Dies ist ja zuletzt durch den Armutsbericht dokumentiert worden.
Kinder leiden erheblich unter der Arbeits- und Perspektivlosigkeit ihrer Eltern. Für Jugendliche sind Ausbildung und Arbeit mehr als nur die Grundlage für ein
wirtschaftlich unabhängiges Leben. Sie haben auch zentrale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstverwirklichung und die Selbstbestimmung. Armutsbekämpfung darf aus unserer Sicht nicht mehr allein über
Einkommenstransfers und Umverteilung angestrebt werden. Vielmehr ist die Wiederherstellung von wirtschaftlicher und sozialer Handlungsfähigkeit der Betroffenen
nötig. Diese Sichtweise rückt die Hilfe zur Selbsthilfe in
den Mittelpunkt.
Die Kindertagesbetreuung ist dabei ein wichtiges
Instrument zur besseren Vereinbarkeit von Kindern und
Beruf. Die Verklärung der Kindertagesbetreuung zum
16120 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Allheilmittel unserer kinderarmen Gesellschaft ist jedoch schlicht lebensfremd.
({5})
Der Kampf gegen Kinderlosigkeit erfordert vor allem
ein gesellschaftliches Umdenken. Kinderfreundlichkeit
beginnt in den Köpfen und beginnt im Alltag. Mit Geld
allein lässt sich das nicht regeln. Kinderfreundlichkeit ist
auch nicht von Staats wegen zu verordnen. Entscheidend
sind die individuellen Einstellungen der Menschen: der
Arbeitgeber und der Personalchefs, die Schwangerschaften und Elternzeiten als etwas Selbstverständliches begreifen; der Nachbarn, die sich bei Kinderlärm nicht
nach Friedhofsruhe sehnen;
({6})
der Eltern, die die Erfahrung machen, dass Kindererziehung die anspruchsvollste, aber auch spannendste Herausforderung darstellt, die das menschliche Leben zu
bieten hat.
({7})
Einen gesellschaftlichen Wandel zu solchen Einstellungen herbeizuführen ist eine schwierige Aufgabe, die
die Politik wirklich nicht allein leisten kann, an der sie
aber mitwirken muss. Denn schon Martin Luther stellte
fest: Bei den Kindern muss angefangen werden, wenn es
im Staate besser werden soll.
Danke.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen! Kollegen! Ich gehörte
dem Kreis an, der diesen Nationalen Aktionsplan erarbeitet hat. Es war eine Gruppe von Menschen aus Ministerien und Regierungsorganisationen, aber vor allem aus
Nichtregierungsorganisationen und von Kindern. Was
Sie im Nationalen Aktionsplan finden, sind also Vorschläge und Feststellungen genau dieser Menschen. So
sollte man ihn auch lesen. Das Schöne daran ist, dass
Vorschläge gemacht wurden, ohne dass dabei darauf geachtet wurde, ob der Bund, die Gemeinden, die Länder
oder eine andere Institution zuständig sind. Vielmehr haben die Kinder Vorschläge gemacht, wie sie sich das
Land vorstellen und was sie am liebsten hätten. Dabei
war es ihnen ziemlich egal, ob Schulpolitik in der Hand
des Bundes oder der Länder liegt. Die Schulpolitik nämlich, die sie brauchen, ist eine kindgerechte. So viel
dazu, wie der Nationale Aktionsplan entstanden ist.
({0})
Was soll der Nationale Aktionsplan? Ziel ist es, dass
alle gesellschaftlichen Kräfte querbeet gemeinsam daran
bauen, dass unser Land kindgerechter wird. Kindgerechter heißt: Hinschauen, was Kinder brauchen und wollen,
und sie ernst nehmen. Sie werden in jeder Rede von mir
die Aufforderung hören: Nehmt Kinder ernst! Begebt
euch auf Augenhöhe, damit ihr feststellt, was ein Kind
will! Mit diesem Paradigmenwechsel haben wir bereits
in der Kinderpolitik begonnen und wir wollen ihn fortsetzen. Der Nationale Aktionsplan ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Wir wollen seine Inhalte in alle Ebenen
der Gesellschaft hinaustragen, in die Zivilgesellschaft
und in die Arbeitswelt und ihn dort verankern.
({1})
Wir sehen nämlich Kinder als eigenständige Persönlichkeiten, als Subjekte, und nicht, wie in Ihrem Antrag
zu lesen ist, nur als „Objekte von“. Ich kann mich noch
an die Debatte in der letzten Wahlperiode erinnern, wo
es hauptsächlich um folgenden Satz ging, der ins BGB
eingefügt werden sollte: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.
({2})
Als es darum ging, ist hier fast das Schwert gezogen
worden. Sie wollten, dass es heißt: Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Damit wären sie zum Objekt von Erziehung geworden. Wir haben gesagt, Kinder haben ein
Recht, das ihnen zu Eigen ist und das ihnen kein Mensch
nehmen kann. Diesen Paradigmenwechsel im Denken
wollen wir hinaustragen und verankern.
({3})
Dazu müssen wir erkennen, dass Kinder eigene Rechte
haben, egal woher sie kommen.
Deshalb richte ich auch einen Appell an alle unionsregierten Länder, dass sie ihren Widerstand gegenüber der
UN-Kinderrechtskonvention aufgeben; denn sie sind
es, die dafür verantwortlich sind, dass wir die Konvention nur mit Vorbehalten anerkennen. Damit würden wir
vermeiden, das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt
zu beschädigen, und kämen endlich dazu, dass Kinder
ernst genommen werden und ihnen kein Schaden zugefügt werden darf.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Fischbach?
Aber gerne, Frau Fischbach. Da wir zusammen in der
Kinderkommission sitzen, denke ich, ist das mehr als
recht und billig. Bitte schön.
Das hält mich jetzt trotzdem nicht von meiner Frage
ab. - Ich kann mich sehr gut an die Diskussion in der
letzten Legislaturperiode über das Recht auf gewaltfreie Erziehung erinnern. Ich hatte in diesem Zusammenhang insbesondere den von Ihnen genannten Punkt
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16121
kritisiert, aber vielleicht haben Sie da ja neuere Erfahrungen. Sie haben gerade gesagt, Kinder hätten ein
Recht auf gewaltfreie Erziehung. Ich möchte Sie nun
fragen: Welche Möglichkeiten hat das Kind, dieses
Recht auf gewaltfreie Erziehung einzufordern bzw. einzuklagen?
Frau Fischbach, Sie wissen, dass bei der Diskussion
darüber damals schon ganz deutlich wurde, dass dieser
Satz ähnlich wie in Schweden einen Appell an die Gesellschaft darstellen soll. Denn Gewalt in der Erziehung
steht jetzt schon unter Strafe. Diese muss man nicht
strafbewehren. Etwas anderes ist es - das fällt nicht unter die Bestimmungen des Strafgesetzbuches -, wenn
wir sagen: Wir bieten euch Hilfe an. Deshalb haben wir
im Kinder- und Jugendhilfegesetz die Beratung ausgebaut. Nur dann macht das Sinn. Deshalb war es sehr
wichtig, diesen Satz zu ergänzen.
({0})
Wir werden das Anliegen, die Kinderrechte im
Grundgesetz zu verankern, sehr ernsthaft überprüfen.
Als Kinderbeauftragte hoffe ich, dass dem auch alle übrigen Kinderbeauftragten, die in der Kinderkommission
vertreten sind, zustimmen werden; denn für uns gilt das
Einstimmigkeitsprinzip. Wenn es nach mir geht, dann
werden wir die Kinderrechte im Grundgesetz verankern,
damit dieser Bereich mit den Familienrechten gleichrangig ist. Es wäre wunderschön, wenn wir dieses Signal
nach außen geben könnten.
Ausdruck des Paradigmenwechsels ist auch, dass wir
die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern verändert haben, nicht nur, was die Gewaltfreiheit
betrifft, sondern auch, was die gesundheitlichen Bedingungen angeht. Wir haben verschiedene Kampagnen gestartet - zum Beispiel zur Förderung von Bewegung und
gesunder Ernährung sowie zur Schaffung einer freundlichen Umwelt -, um zur Gesundheit der Kinder beizutragen.
Auch im Bereich behinderter Kinder haben wir Veränderungen durchgeführt. Als Beispiel nenne ich die
Verankerung des Rechts auf die Komplexleistung „Frühförderung“ im Sozialgesetzbuch IX. Dass seine Umsetzung vor Ort nicht funktioniert, liegt nicht am Bundesgesetzgeber, sondern daran, dass die Verantwortlichen in
den Gemeinden, Krankenkassen und Ländern sagen: Wir
nicht. Meiner Ansicht nach müssen wir hier dringend
Druck machen und mehr als bisher an die Öffentlichkeit
bringen, wie wichtig es ist, dass, wenn es um Kinder
geht, behinderte Kinder, deren Eltern dringend Unterstützung brauchen, eingeschlossen sind.
Wir haben die finanziellen Rahmenbedingungen für
Familien verbessert. Es ist natürlich kontraproduktiv,
wenn wir zwar auf der einen Seite Geld zur Verfügung
stellen, die Länder aber auf der anderen Seite ihre Beteiligung an der Tagesbetreuung von Kindern bzw. ihre Zuschüsse zu den Kindergartenbeiträgen fast auf null senken und damit Geld aus der Tasche der Eltern ziehen.
Das kann so nicht funktionieren. Es ist nicht die Absicht
des Bundes, dazu beizutragen, dass sich die Länder auf
Kosten der Eltern entschulden. Wir haben etwas unternommen und die Länder um 20 Milliarden Euro entlastet. Auch das muss man sehen.
({1})
- Herr Haupt, Sie haben schon geredet.
({2})
In dieser Beziehung gibt es in den Ländern noch sehr
viel Nachholbedarf. Die Idee, dass Kinder keine Objekte
sind, die man verschiebt, verschachert oder irgendwo abstellt, sondern dass sie Rechte haben, muss man in den
Ländern noch vernünftig implementieren. Ich darf nur
an das bayerische Tagesbetreuungsausbaugesetz erinnern. Derselbe Geldbetrag, der vorher für die Kinder von
drei bis sechs Jahren vorgesehen war, steht jetzt für Kinder von null bis 14 Jahren zur Verfügung. Mich würde
wirklich interessieren, welch eine Mathematik dahinter
steckt, dass auf einmal das Geld für alle Kinder reichen
soll, ohne dass der Gesamtbetrag einfach nur gestreckt
wurde.
Die Anzahl der heilpädagogischen Tagesstätten für
behinderte Kinder wurde reduziert. Dadurch spart man
Mittel für die Betreuung und außerdem Fahrtkosten ein.
Daran kann man ermessen, welche Art von Kinderfreundlichkeit Sie propagieren. Ihrem kommunalen Entlastungsgesetz zufolge erfolgen Leistungen nur noch
dann, wenn die Finanzlage es erlaubt. Ansonsten wird
nichts für die Kinder getan.
({3})
Deshalb brauchen wir in Deutschland ein Zusammenspiel aller Kräfte, von Bund, Ländern, Gemeinden und
der Zivilgesellschaft. Bei der Umsetzung dieses nationalen Aktionsplans müssen wir die Kinder auf Augenhöhe
beteiligen, damit das zutrifft, was sie in New York gefordert haben: Nicht die Zukunft sind wir, sondern die Gegenwart. Wir wollen für die Gegenwart arbeiten. Deshalb
haben wir diesen Nationalen Aktionsplan vorgestellt.
Frau Kollegin.
Damit er nicht ins Leere läuft, haben wir ein Monitoring-Verfahren, also eine Überwachung, eingebaut. Das
ist richtige Politik und das sind nicht nur, wie es bei Ihnen der Fall ist, Ankündigungen.
Danke.
({0})
16122 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Das Wort hat die Kollegin Dorothee Mantel, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland
hat ein sehr ausdifferenziertes Familienrecht. Das Wohl
des Kindes steht dabei im Vordergrund; ich glaube, das
ist unstrittig. Aber zunächst möchte ich auf die UN-Kinderrechtskonvention eingehen, da Sie, Frau Ministerin,
und auch der Kollege Haupt von der FDP sowie die Kollegin Rupprecht die Problematik falsch dargestellt haben.
Aus guten Gründen und nach heftigen Debatten haben das Familienrecht und das Ausländerrecht in
Deutschland die differenzierte Ausgestaltung, die sie
heute haben. Vielfach wird jedoch die falsche Auffassung vertreten, dass ausländische Kinder unabhängig
von allen rechtlichen Voraussetzungen Anspruch auf
Einreise und Aufenthalt haben. Die Vorbehaltserklärung
- man sollte besser sagen: die Interpretationserklärung stellt klar: Nichts in der Konvention kann so ausgelegt
werden, dass die widerrechtliche Einreise nach Deutschland erlaubt würde. Nichts in der Konvention kann so
ausgelegt werden, dass bestehendes Recht der Bundesrepublik beschränkt würde. Und nichts kann so ausgelegt
werden, dass Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern gemacht würden. Dieser Auffassung ist auch die
Bundesregierung.
Die heutige Debatte hat mit dem Familienrecht oder
mit dem Schutz von Kindern nichts zu tun. Im Kern geht
es heute um etwas ganz anderes als die Kinderrechtskonvention: Es geht für die Bundesregierung leider wieder
einmal darum, eine Scheindebatte zu entfachen, um sich
selbst als handelnd und die CDU/CSU als blockierend
darzustellen.
({0})
Leider muss das Thema Kinderrechte hierfür herhalten.
Liebe Kollegen, ich werde das gerne darlegen, und
zwar so, dass es auch für die verständlich ist, die hier lieber herumschreien als aufpassen. Festzuhalten ist zum
einen, dass die Bundesregierung früher wohl noch eine
andere Sicht der Dinge hatte: 1998 wurde die Position
der Regierung Kohl nahtlos übernommen. Auch bei späteren Gesetzgebungsvorhaben war nicht zu erkennen,
dass die Bundesregierung angebliche Schutzdefizite beseitigen wollte. Es hat bei Rot-Grün also keinen wirklichen Willen zur Änderung der Rechtslage gegeben, gerade und vor allem nicht bei den Verhandlungen über das
Zuwanderungsgesetz, bei denen Sie, meine Damen und
Herren von der Koalition, jederzeit die Gelegenheit dazu
gehabt hätten.
Hier drängt sich doch ziemlich klar der Eindruck auf:
Für eine Scheindebatte ist das Thema offensichtlich allemal gut. Denn tatsächlich ist der Fall doch so gelagert:
Rot-Grün hatte die Rücknahme der Vorbehalte in die eigene Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Zu einer
Umsetzung kam es dann aber trotz nachweislicher Gelegenheit nicht. Anstatt dies aber zuzugeben, wird in einer
inszenierten Debatte die Opposition dafür verantwortlich
gemacht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Deligöz?
Ich gratuliere der Kollegin zu Ihrem Geburtstag, aber
es ist besser, wenn sie mich ausreden lässt.
({0})
Zum Zweiten - und da wird es erst richtig interessant - ist die Bundesregierung angeblich der Auffassung, dass sich durch eine Rücknahme gar nichts an der
Rechtslage ändern würde. Der Unterschied wäre freilich
eine größere Rechtsunsicherheit - aber die hält mit dieser Bundesregierung ja sowieso in allen Bereichen Einzug. Die Bundesregierung sagt, dass man bei einer Auslegung der Konvention sowieso zur jetzt bestehenden
Rechtslage kommt; das ist ihre Begründung für die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Man könnte also
sagen, die Bundesregierung will die Rücknahme nur,
weil sich - wie sie behauptet - daraus überhaupt keine
Wirkungen ergeben. Sie wissen aber ganz genau, dass
dies nicht stimmt und nur eine Beruhigungspille sein
soll, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Denn natürlich würde es nach einer Rücknahme
Druck zu Änderungen des Aufenthaltsrechts geben. Sie
wissen doch selbst, dass es die Kernforderung ist, ausländische Kinder unter 18 Jahren von den ausländerrechtlichen Vorschriften der Einreise und des Aufenthalts auszunehmen. Also darf man nicht ernsthaft
glauben, dass sich durch eine Rücknahme der Vorbehaltserklärung nichts ändern würde.
Wenn die Bundesregierung wirklich der Meinung
wäre, dass man sich um die Kinder kümmern müsse,
dann sollte sie damit anfangen. Eine Debatte über die
Kinderrechtskonvention reicht hier nicht aus. Sie haben
in der gesamten Regierungszeit der Familienpolitik nicht
den Stellenwert eingeräumt, den sie bis 1998 unter unserer Regierung hatte.
({1})
Punktuelle und auf Öffentlichkeitswirkung ausgerichtete
Maßnahmen waren Ihnen wichtiger als die umfassende
Verbesserung der Situation der Familien und der Kinder.
({2})
Das größte Armutsrisiko für Familien in Deutschland
ist nach wie vor die Arbeitslosigkeit. An der Lösung dieses Problems wollten Sie sich messen lassen. Heute wollen Sie nichts mehr davon wissen. Es hat schon den Charakter eines Rituals, dass Sie Monat für Monat eine
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16123
Trendwende voraussagen, die freilich nicht kommen
wird, solange diese Bundesregierung im Amt ist.
({3})
Ich würde mich freuen, wenn auch Sie die Familienpolitik in Deutschland als ganzheitliche Aufgabe mit Beteiligung aller Ressorts - eben auch des Innenressorts sehen würden und wenn dieses wichtige Thema nicht
nur in Scheindiskussionen behandelt werden würde. Das
hilft den Kindern, die unsere Hilfe am dringendsten
brauchen, nämlich nicht.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In mehreren Anträgen geht es heute um die Rechte von
Kindern. Diese sollen verbessert werden. Dafür ist die
PDS seit langem - im Bundestag wie auch im Bundesrat.
({0})
Deshalb unterstützen wir auch die heute vorgeschlagenen Maßnahmen. Der Vorbehalt der Bundesrepublik zur
UNO-Kinderrechtskonvention soll aufgehoben, ein Nationaler Aktionsplan soll angenommen und die Rechte
von Kindern in Deutschland sollen gestärkt werden.
Dem stimmt die PDS im Bundestag zu.
1992 hatte die Kohl-Regierung die UN-Kinderrechtskonvention nur unter Vorbehalt ratifiziert. Die damals beabsichtigte Folge war: Kindern von nichtdeutschen Eltern, vor allem Flüchtlingskindern, wurden
wesentliche Rechte, die ihnen eigentlich zustehen, vorenthalten. - Frau Kollegin Mantel hat eben in bemerkenswerter Deutlichkeit ausgeführt, dass die Union weiter will, dass diesen Kindern, die eigentlich einen
besonderen Schutz benötigen, diese Rechte immer noch
vorenthalten werden sollen. Die PDS hat das immer abgelehnt und deshalb schon seit langem gefordert, diesen
ungerechten Vorbehalt endlich zu tilgen.
({1})
Es sei daran erinnert: Rot-Grün hat das seit 1998 versprochen.
Wir erwarten allerdings, dass auch alle einschlägigen
Gesetze geändert werden, sodass dann allen Kindern tatsächlich dieselben Rechte zustehen und - mehr noch Flüchtlingskinder einen besonderen Schutz genießen.
Nun zum Aktionsplan: Die PDS wird ihm zustimmen.
Er reicht uns aber nicht - schon gar nicht angesichts aktueller Entwicklungen. Verschiedene Studien belegen
- das ist im Alltag erlebbar -: Die Kinderarmut in
Deutschland ist hoch und sie nimmt immer noch zu.
UNICEF hat belegt, dass die Kinderarmut in Deutschland seit 1990 stärker gestiegen ist als in allen vergleichbaren Industrieländern. Ich finde, das ist ein erschreckender Befund über deutsche Verhältnisse. Das ist ein
wachsendes Übel für die von Armut Betroffenen, zumal
im selben Zeitraum der Reichtum im Lande unanständig
zugenommen hat. Diese negative Entwicklung wird
durch aktuelle Gesetze der rot-grünen Bundesregierung
- assistiert von der konservativen Opposition - sogar
noch befördert. Ich erinnere nur an die so genannte Gesundheitsreform und an die Hartz-Pakete. Deshalb
schlage ich für die PDS drei Sofortmaßnahmen vor:
Erstens. Bei allen Bezieherinnen bzw. Beziehern von
Arbeitslosengeld II darf das Kindergeld nicht gegengerechnet werden. Kindergeld muss alle Kinder erreichen.
({2})
Zweitens. Bezieherinnen und Bezieher von
Arbeitslosengeld II sind von Kita-Gebühren zu befreien.
Auch das wäre sozial, gerecht und klug im Sinne der
Kinder.
({3})
Drittens. Empfänger von Arbeitslosengeld II sind von
Zuzahlungen für Medikamente zu befreien, die ihre 13- bis
17-jährigen Kinder brauchen.
Alle drei Vorschläge lösen das komplexe Problem der
Kinderarmut nicht, aber sie sind hilfreich und wichtig.
Außerdem könnte die SPD mit ihrer Zustimmung zeigen, wie ernst ihre aktuelle Kapitalismuskritik ist.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir begrüßen den „Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 - 2010“ ganz deutlich;
denn er zeigt, dass wir die Verantwortung für die nachfolgende Generation übernehmen. Gleichzeitig machen
wir klar: Kinder brauchen für ihr Aufwachsen die bestmöglichen Bedingungen.
({0})
Wir begrüßen auch die Erklärung der Bundesregierung, dass sie ihre Anstrengungen zur Erreichung dieses
Ziels in den nächsten Jahren verstärken wird. Sie, Frau
Ministerin, haben das hehre Ziel ausgegeben, dass
Deutschland eines der kinderfreundlichsten Länder Europas werden soll. Wir als SPD-Fraktion teilen dieses
Ziel und werden aktiv daran mitarbeiten.
({1})
16124 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Deligöz?
Ja, besonders weil sie heute Geburtstag hat.
({0})
- Das meine ich persönlich.
Liebe Frau Kollegin, nachdem ich während der Rede
der Kollegin Mantel keine Frage stellen durfte, möchte
ich jetzt gerne die Gelegenheit dazu ergreifen. Frau
Mantel hat in ihrer Rede behauptet, die Bundesregierung
habe die Position der Regierung Kohl aus dem Jahre
1998 übernommen und nichts in Bezug auf die Vorbehalte geändert. Wie ist Ihre Position dazu?
Stimmen Sie mir zu, dass der Bund nach dem so genannten Lindauer Abkommen zwischen dem Bund und
den Ländern die Vorbehaltserklärung - es ist eine Vorbehaltserklärung und keine Interpretation - nicht im Alleingang zurücknehmen kann und dass dieses Verfahren
in dieser Form noch nicht stattgefunden hat? Unser
Wunsch und Wille ist - darauf werden wir auch im Sinne
der weiteren Kooperation beharren -, dass die Länder
hier mit uns an einem Strang ziehen.
({0})
Vielen Dank. - Wir haben in den letzten Jahren im
Deutschen Bundestag drei- oder viermal gemeinsam beschlossen, dass wir die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen wollen. Das ist
also der Wille des Parlaments. Ich bin Bundesministerin
Renate Schmidt sehr dankbar, dass sie noch einmal die
Initiative ergriffen und alle Bundesländer angeschrieben
hat, weil in dem Lindauer Abkommen, das Sie schon erwähnt haben, festgelegt ist, dass für solche Entscheidungen die Zustimmung der Länder nötig ist.
Interessant waren die Reaktionen auf dieses Schreiben. Beispielsweise haben sich die Länder Berlin, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein sehr positiv dahin gehend geäußert, die
Vorbehalte zurückzunehmen, die unionsregierten Länder
aber nicht. Es geht hier um fünf Punkte. Vier von diesen
fünf Punkten haben wir durch bundesgesetzliche Regelungen bereits zurückgenommen - diejenigen, die sich
damit beschäftigen, werden das wissen -: Das bezieht
sich auf Änderungen im Kindschaftsrecht, eine kinderund jugendgerechte Auslegung des Jugendstrafrechts,
das Fakultativprotokoll, in dem es um die Beteiligung
von Kindern an bewaffneten Konflikten geht. Sie sehen,
das, was wir von Bundesseite aus tun können, haben wir
getan, um diese Vorbehalte zurückzunehmen. Meine
Aufforderung richtet sich an die Länder, unserem Vorschlag zuzustimmen, diese Vorbehalte insgesamt zurückzunehmen. Das wäre auch kinderfreundlich.
({0})
Im Zusammenhang mit dem Nationalen Aktionsplan
möchte ich mich auch bei den Nichtregierungsorganisationen sehr herzlich bedanken, besonders bei der National Coalition, bei den Kindern und Jugendlichen, die
mitgearbeitet haben, und auch bei der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Ich bedanke mich auch
beim Deutschen Bundesjugendring, der heute diesen Nationalen Aktionsplan ausdrücklich begrüßt hat und weiter intensiv an der Umsetzung mitarbeiten will.
({1})
Unser gemeinsames Ziel ist es, dass Deutschland kinderfreundlicher wird. Wir haben eine neue Qualität der
Debatte: Immer mehr Kommunen, Wirtschaftsunternehmen und auch die Kirchen lassen sich in die Verantwortung nehmen. Ich will ein positives Beispiel aus dem
schönen Bundesland Nordrhein-Westfalen, aus dem ich
komme, anführen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat
unter dem Motto „Kinder fördern - Zukunft sichern“
sehr viel getan, um die Zukunftschancen für Kinder und
Jugendliche zu verbessern.
({2})
99,6 Prozent der Kinder haben einen Kindergartenplatz. 100 000 Kinder mit Migrationshintergrund besuchen derzeit einen Kindergarten. Das sind doppelt so
viele wie noch vor zehn Jahren. Laufende Sprachfördermaßnahmen setzen schon vor der Einschulung ein, um
Kinder mit sprachlichen Defiziten zu fördern. Es geht
darum, Chancengerechtigkeit zu verwirklichen. Dieser
Nationale Aktionsplan zielt darauf ab, dass Länder und
Kommunen mitarbeiten. NRW hat bereits eine Bildungsvereinbarung abgeschlossen, in der die wichtigsten Bildungsziele für die Kindertageseinrichtungen beschrieben
sind.
NRW geht auch mit einem anderen Beispiel positiv
voran, nämlich bei den Ganztagsgrundschulen. 785 offene Ganztagsgrundschulen gibt es bereits in NRW, 600
neue sind für 2005 und 2006 geplant. Damit liegt NRW
an der Spitze. Der internationale Vergleich zeigt uns,
dass Kinder, die ganztags miteinander lernen und gefördert werden, ganz vorne mit dabei sind.
Interessant ist, wie dieses Programm entstanden ist. In
NRW hat sich die CDU geradezu fanatisch gegen das
Ganztagsschulprogramm gestellt, bis sie von ihren eigenen kommunalen Vertreterinnen und Vertretern, Bürgermeistern und Stadträten überholt wurde, die wie auch die
Bürgerinnen und Bürger diese offenen Ganztagsgrundschulen natürlich wollen. Sie sind die zeitgemäße Antwort auf die Frage, was wir tun können, um Kindern
mehr Chancen zu bieten.
({3})
Auch im Bereich der Betreuung der unter Dreijährigen geht Nordrhein-Westfalen voran. Bis zum Jahr 2010
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16125
sollen mindestens 90 000 Plätze für unter Dreijährige
geschaffen werden. Schon in diesem Jahr beteiligt sich
das Land an der Finanzierung von 12 000 Plätzen.
({4})
Mit dem Programm „Zweijährige in den Kindergarten“
werden die jetzt frei werdenden Plätze umgewandelt, damit auch Kinder unter drei Jahren in Kindergärten kommen können.
Nordrhein-Westfalen hat ein sehr interessantes Programm gestartet, das wir uns anschauen sollten. Es wird
ja manchmal vergessen, dass wir Hartz IV gemeinsam
beschlossen haben. Im Rahmen der Umsetzung von
Hartz IV und im Sinne einer kinderfreundlichen Politik
hat Nordrhein-Westfalen beschlossen, erstmals aus Mitteln der Arbeitsmarktpolitik Betreuungsplätze für die
Kinder von Langzeitarbeitslosen zu fördern. Das trifft
genau das, was Sie, liebe Frau Kollegin Fischbach, angesprochen haben, nämlich dass wir alle gemeinsam etwas
dafür tun müssen, um Kinderarmut zu bekämpfen und
Kindern mehr Chancen zu geben. Das können wir nur,
wenn die Eltern - häufig sind es auch Alleinerziehende aus der Arbeitslosigkeit und der Armut herausgebracht
werden. Deshalb halte ich das, was Nordrhein-Westfalen
vorgeschlagen hat, für so wichtig.
Es geht - das zeigt auch der Armuts- und Reichtumsbericht - bei Armut nicht nur um materielle Not, sondern
besonders um Bildung, Chancen und Infrastruktur. Daran fehlt es gerade für die Kleinsten in unserer Gesellschaft.
({5})
Da wollen wir ansetzen, um das Armutsrisiko von Familien zu senken. Das tun wir mit vielen Transferleistungen, die diese Bundesregierung verbessert hat; wir tun es
aber auch mit Maßnahmen für Alleinerziehende sowie
für Eltern, damit diese endlich wieder in Arbeit kommen; denn das ist die beste Armutsprävention.
Ich will noch auf das wichtige Themenfeld der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen eingehen. Kinder haben Rechte. Diese Rechte zu stärken und Kinder
und Jugendliche stärker an politischen und gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen ist unser Ziel. Das hat der
NAP, der Nationale Aktionsplan, schon in der Phase seiner Erarbeitung gezeigt. Das wird jetzt auch das Monitoring über die Umsetzung zeigen.
Im Rahmen der Initiative „Projekt P - misch dich ein“
hat die Bundesebene zusammen mit dem Deutschen
Bundesjugendring viele Projekte gestartet. Dazu gibt es
ein gutes Beispiel aus Nordrhein-Westfalen. Dort wurde
schon im letzten Jahr der Pakt für Kinder geschlossen,
ein Pakt, der die Rechte der Kinder und Jugendlichen
stärkt und ihre Beteiligung unterstützt. Er ist gemeinsam
mit Kirchen, den kommunalen Spitzenverbänden, dem
Landesjugendring, dem Deutschen Kinderschutzbund
und vielen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe geschlossen worden. Ich wünsche mir von vielen Bundesländern, dass dort ebenfalls ein solcher Pakt für Kinder
geschlossen wird, dass wir den Nationalen Aktionsplan,
den wir auf Bundesebene haben, in den Bundesländern
und den Kommunen umsetzen und dass wir alle daran
mitarbeiten, dass Deutschland eines der kinderfreundlichsten Länder Europas wird. Zu dieser Mitarbeit rufe
ich Sie alle auf.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Angela Schmid, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Nationale Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ soll ein Fahrplan für eine kinderfreundliche Politik in Deutschland sein, ein Fahrplan für
einen Weg, auf dem - Zitat - „viele Etappen schon erfolgreich zurückgelegt wurden“.
Doch fast zeitgleich belegen die aktuellen Zahlen des
zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung sehr deutlich, dass die Bundesregierung von der
Erfüllung dieser Verpflichtung noch sehr weit entfernt
ist. In fast sieben Jahren Regierungszeit ist es nicht gelungen, zu verhindern, dass die Schere zwischen Arm
und Reich immer weiter aufgeht.
({0})
Jedes achte Kind lebt heute von der Sozialhilfe. Viele
von ihnen leben bei Alleinerziehenden. Seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün liegt die Armutsquote bei Alleinerziehenden unverändert hoch bei 35 Prozent. Statt
die Eltern finanziell zu unterstützen, hat Rot-Grün den
von der Union eingeführten Haushaltsfreibetrag abgeschafft. Auch der Kinderzuschlag ist eine familienpolitische Seifenblase. Dazu möchte ich den DGB zitieren:
Insgesamt ist festzustellen, dass eine Sozialleistung,
die - so die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung - die Situation von Familien mit niedrigem
Einkommen verbessern soll, de facto in vielen Fällen das Gegenteil bewirkt.
({1})
Der Kinderzuschlag ist bürokratisch …, seine Effekte … sind nicht zielgerichtet und verwirrend. Es
ist kaum nachzuvollziehen, wie eine derart schlampig konstruierte Sozialleistung zum Gesetz werden
konnte.
({2})
Gerade für die Personengruppe der Alleinerziehenden
ist die verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik der
16126 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Bundesregierung mit immer weniger Arbeitsplätzen besonders belastend. Wir alle wissen, dass Arbeitslosigkeit
die Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung
ist. Rot-Grün wollte mit einer grundlegend anderen Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik vieles verändern.
Hier hat die Bundesregierung versagt. Die Zahl der
Arbeitslosen hat sich dramatisch erhöht. Allein bei den
unter 25-Jährigen sind jetzt 200 000 junge Menschen
mehr arbeitslos.
Ihr eigener Sozialexperte, Rürup, sagte vor zwei Tagen in einem Interview, dass die Arbeitslosigkeit bei
Jugendlichen weiter dramatisch steigen werde, und
zwar nicht, Frau Rupprecht, wegen der Jugendlichen, die
durch Hartz IV statt Sozialhilfe nun Arbeitslosengeld II
bekommen, sondern andere, die noch von keinem System erfasst sind, werden von Arbeitslosigkeit betroffen
sein. Das ist meiner Meinung nach ein Riesenproblem,
dem sich alle stellen müssen,
({3})
Sie in ganz besonderer Weise.
({4})
- Ich sage Ihnen gleich etwas dazu.
Die Bundesagentur für Arbeit gibt pro Jahr
1 Milliarde Euro aus, um diese Jugendlichen zu qualifizieren. Gerade deswegen besteht die Notwendigkeit
einer umfassenden Reform im deutschen Bildungssystem. Auch die zahlreichen Vergleichsuntersuchungen
haben gezeigt, dass unsere Schülerinnen und Schüler bezüglich der Leistung hinterherhinken. Unsere Kinder
müssen deshalb früher und intensiver gefördert und gefordert werden.
({5})
Das gilt sowohl für die Erziehung und Bildung vor dem
Eintritt in die Schule als auch für die Schulzeit selbst.
Entsprechende Vorschläge hierfür haben wir bereits mit
unserem Antrag „Elternhaus, Bildung und Betreuung
verzahnen“ eingebracht. Es gilt, im gegliederten Schulsystem zu fördern und zu fordern. Die Einheitsschule,
wie von Rot-Grün vorgeschlagen, ist für uns keine Lösung.
({6})
Dies belegt auch die neueste Untersuchung der
9. Klasse verschiedener Schularten in NRW, Frau
Griese. Danach hat die Gesamtschule nur äußerst schwache Ergebnisse erreicht. Bei der Lernerhebung lagen die
Gesamtschüler deutlich unter dem Durchschnitt. Der
Landeselternrat spricht hier von „Großversuchen mit
Schutzbefohlenen“. CDU und CSU werden diesen Irrweg keinesfalls mitgehen.
({7})
Kernpunkt unserer Familienpolitik ist die Wahlfreiheit für Eltern. Aufgabe des Staates ist es, den Eltern möglichst viele Handlungsoptionen zu geben, um
die Lebensgestaltung und Erziehung ihrer Kinder entsprechend zu beeinflussen.
({8})
Die soziale Herkunft darf nicht über die Lebens- und
Entwicklungschancen der Jugendlichen entscheiden.
({9})
- Schauen Sie sich die PISA-Studie an; da wird deutlich,
dass die Lebenschancen für die sozial Benachteiligten in
NRW die schlechtesten in der ganzen Bundesrepublik
sind.
({10})
Die Migrantenkinder zum Beispiel in Baden-Württemberg und Bayern haben wesentlich bessere Chancen.
({11})
Lesen Sie das in der PISA-Studie nach! Wir brauchen
uns über das, was schwarz auf weiß geschrieben steht,
doch nicht zu streiten.
Dies gilt nicht nur im Bereich der Bildung, sondern
auch im Bereich der Gesundheitspolitik. Wir wissen,
dass immer mehr Kinder chronische, psychosomatische
und umweltbedingte Krankheiten haben. Hinzu kommen
in zunehmendem Maße Sprach- und Verhaltensstörungen. Auch krankhaftes Essverhalten, welches zu Übergewicht, aber auch zu Untergewicht führen kann, findet
seine Ursache in vielen Faktoren. Bei Kindern und Jugendlichen spielt auch das Verhalten der Eltern eine
wichtige Rolle. Allerdings sollte ergänzende Ernährungserziehung bereits im Kindergarten beginnen und
sich in der Schule fortsetzen.
Kinder- und Jugendärzte haben in einer öffentlichen
Anhörung zum GKV-Modernisierungsgesetz im März
dargelegt, dass bei Allergien und Neurodermitis die Behandlung mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln Standard ist. Da diese Arzneimittel bei Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr nicht mehr von der
gesetzlichen Krankenkasse gezahlt werden, sehen aber
viele Eltern von einer Behandlung ihrer Kinder ab. Insbesondere bei Jugendlichen aus einkommensschwachen
Familien, die ohnehin zu einer erhöhten Gefährdung neigen, werden diese zu hohen Kosten oftmals nicht
gezahlt. Wir haben im Bundestag einen Antrag zur Heraufsetzung der Altersgrenze von 12 auf 18 Jahre eingebracht. Sie sollten sich dem anschließen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende Ihrer Rede kommen.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16127
Ja.
Das Ergebnis nach fast sieben Jahren rot-grüner Politik ist erschreckend. Damit junge Menschen wieder Vertrauen in die Zukunft haben, brauchen wir eine andere
Politik. Soll die Umsetzung des nationalen Aktionsplans
erfolgreich sein, beginnen wir es gemeinsam! Aber Sie,
meine Damen und Herren der Opposition, tragen dabei
eine ganz besondere Verantwortung.
({0})
Danke.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/4970, 15/5341, 15/4724 und
15/2419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Bei der Vorlage auf Drucksache 15/4724 zu Tagesordnungspunkt 5 c soll die
Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend und bei der Vorlage auf Drucksache 15/2419 zu Tagesordnungspunkt 5 d beim Rechtsausschuss liegen. Der Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/5348 soll an dieselben
Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 15/4970,
hiervon abweichend jedoch nicht an den Innenausschuss, überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christoph Bergner, Dr. Friedbert Pflüger,
Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des
Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an
den Armeniern am 24. April 1915 - Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken
und Armeniern beitragen
- Drucksache 15/4933 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir gedenken in diesen Tagen in besonderer Weise der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen zahlreiche aramäische und chaldäische Christen, die vor 90 Jahren im Osmanischen Reich
brutal vertrieben, vielfach furchtbar misshandelt und mit
planvoller Konsequenz und oft zügelloser Grausamkeit
getötet wurden. Wir gedenken der weitgehenden Vernichtung einer jahrhundertealten Kultur auf dem Boden
Anatoliens, die dort lange Zeit in Gemeinschaft mit anderen Kulturen bestehen konnte.
({0})
Seit dem ökumenischen Gottesdienst in der nahen
Hedwigs-Kathedrale am 24. April 1919 haben Kirchen,
Literatur und Wissenschaft in Deutschland dieser Tragödie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit
gewidmet. Nicht so die Politik! Der Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen, ist somit der erste Versuch deutscher
Politik, aus eigenem Antrieb zum Schicksal des armenischen Volkes Stellung zu nehmen. Keine deutsche Regierung, kein deutsches Parlament hat dies während der
zurückliegenden 90 Jahre getan. Andererseits ist der
90. Jahrestag, der Anlass für unseren Antrag war, vermutlich der letzte runde Gedenktag, an dem noch
Augenzeugen leben.
Wenn wir uns als Deutscher Bundestag jetzt diesem
auf politischer Bühne lange verdrängten Thema stellen,
so sollten wir es mit möglichst großer Einmütigkeit tun.
Deshalb werden wir um Überweisung des Antrags in die
Ausschüsse bitten und auf eine fraktionsübergreifende
Beschlussfassung hoffen.
Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte die
Debatte um das Schicksal der osmanischen Armenier bereits 1916 hier im Reichstag stattfinden können. Unweit
von hier informierte Johannes Lepsius am 7. Oktober
1915 die Presse. Die deutsche Militärzensur verhinderte
jedoch die Verbreitung seiner Berichte zur Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Die Zensur unterband
auch die Information der Reichstagsabgeordneten. So
fand die Debatte nicht statt. Jetzt, 90 Jahre später, ist sie
in den Reichstag zurückgekehrt.
Das Dilemma und die Motive der deutschen Reichsregierung damals verdeutlicht schlaglichtartig eine
Notiz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Er reagierte auf die dringende Forderung des deutschen Botschafters Wolff-Metternich, der türkischen Regierung
wegen der Armenierverfolgung in den Arm zu fallen.
Ich zitiere zunächst aus der Depesche von WolffMetternich:
Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen
wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen
einflößen. Wagen wir aus militärischen Gründen
kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als
zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.
16128 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Der Reichskanzler Bethmann Hollweg dazu:
Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines
Bundesgenossen während eines laufenden Krieges
wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch
nie dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu
halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde
gehen oder nicht.
Das war die Haltung des Deutschen Reiches 1915/16.
Beherrscht von der Logik eines die europäischen Völker zermalmenden Krieges machte sich Deutschland einer Haltung schuldig, die wohl als unterlassene Hilfeleistung gegenüber dem von Vernichtung bedrohten
armenischen Volk bezeichnet werden muss.
({1})
Mit dem Eingeständnis dieser unserer Schuld wird
auch unsere heutige Verantwortung deutlich. Wir Deutsche stehen in einer besonderen Zeugenschaft für die
Vorgänge der Jahre 1915/16. Die Dokumente im politischen Archiv des Auswärtigen Amts über die Ereignisse im Osmanischen Reich können von niemandem
- auch nicht von der türkischen Regierung - in Zweifel
gezogen werden. Als Zeugen und ehemalige Kriegsverbündete des Osmanischen Reiches haben wir Deutsche
eine besondere Verantwortung, auf der Basis der historischen Wahrheit zur Verständigung und Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen.
({2})
Dieser Zeugenpflicht dürfen wir uns nicht entziehen,
wenn wir uns nicht erneut schuldig machen wollen.
Ich verweise auf einen intensiven Briefwechsel und
viele Diskussionen mit türkischen Freunden und Partnern, die nach Vorlage unseres Antrages stattgefunden
haben. Die Stellungnahmen offizieller türkischer Vertreter und nicht zuletzt die Erklärung der Großen Nationalversammlung vom 13. April dieses Jahres haben verdeutlicht, wie schwierig es ist, den Inhalt unseres
Antrages und die Redlichkeit unseres Anliegens der türkischen Seite zu vermitteln. Auch heute habe ich einen
Brief vom Verband Türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa bekommen, in dem uns vorgeworfen
wird, hinter unserem Antrag stehe eine gezielte Diskriminierungskampagne gegen die Türkei. Er sei ein klarer
Beweis unserer türkeifeindlichen Grundhaltung und eine
vorsätzliche Diskriminierung der Türkei und der Türken.
Dies ist falsch. Das Gegenteil ist vielmehr richtig.
({3})
Wir wollen diese Diskussion fortsetzen, weil wir glauben, dass eine Öffnung des türkischen Staates im Hinblick auf den Umgang mit der türkisch-armenischen Vergangenheit im wohlverstandenen Interesse der Türkei
selbst sein kann.
Wir haben bei der Formulierung unseres Antrages auf
die juristische Kategorisierung durch die Begriffe „Völkermord“ bzw. „Genozid“ bewusst verzichtet. Dieser
Verzicht geschah nicht, weil wir die Ereignisse, deren
wir gedenken, verharmlosen oder beschönigen wollten;
dafür besteht kein Anlass.
Wir möchten etwas anderes verdeutlichen. Es geht
uns ausdrücklich nicht darum, die türkische Republik
oder gar ihre Bevölkerung auf die Anklagebank zu setzen. Unser Antrag ist vielmehr der Versuch, die Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches in das einzubeziehen, was man mit Blick auf die Konflikte, Verwüstungen
und Verbrechen des 20. Jahrhunderts in Europa „europäische Erinnerungskultur“ nennen könnte, eine Erinnerungskultur, die wir in diesen Wochen um den
60. Jahrestag des Ende^s des Zweiten Weltkriegs in besonderer Weise erleben. Diese Erinnerungskultur wurde
Grundlage einer Aussöhnung, die die Gemeinschaft europäischer Staaten erst möglich gemacht hat.
({4})
Nur so konnten frühere Kriegsgegner, ja Erbfeinde in der
EU vereint werden. Auf dieser Grundlage konnten Staaten zusammengeführt werden, die sich in den Zeiten des
Kalten Krieges und der Blockkonfrontation jahrzehntelang angriffsbereit gegenüberstanden. So ist die Europäische Union in ihrem Kern ein Aussöhnungsprojekt, das
auf gemeinsamer Geschichtsbewältigung beruht.
Unser Antrag soll eine Einladung an unsere türkischen Partner und Freunde sein, sich diesem Prozess zu
stellen. Dies ist im Interesse der Türkei selber. Wir
möchten herzlich dazu einladen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir erinnern und gedenken heute der Opfer
des Völkermords an den Armeniern vor 90 Jahren. Wir
wollen das allzu lange Schweigen, von dem eben schon
die Rede war, brechen und einen Beitrag dazu leisten,
den Toten ihre Ehre und ihre Würde wiederzugeben.
Gleichzeitig denken wir aber an alle Opfer dieser Jahre:
an die Christen der verschiedenen ethnischen Gruppen
im Osmanischen Reich, an Tataren, Türken und Kurden,
die ebenfalls zu Hunderttausenden umgekommen sind.
Es kann und es darf kein Aufrechnen der verschiedenen
Opfer geben.
({0})
Ich bin dem Kollegen Bergner für seine Initiative zu
der heutigen wichtigen Debatte dankbar. Meine Fraktion
ist überzeugt, dass wir in den Gesprächen und Beratungen, die wir im Ausschuss miteinander führen werden,
zu einem gemeinsamen Antrag kommen werden.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16129
Wir alle wissen: In der Türkei sind die damaligen Ereignisse noch heute heftig umstritten. Offiziell und mit
Leidenschaft wird geleugnet, dass es sich bei den Deportationen und Massakern um eine gezielte staatliche Politik zur Vernichtung der armenischen Bevölkerung handelte. Wir halten es als deutsche Parlamentarier für
wichtig, uns mit dieser Frage auseinander zu setzen,
nicht zuletzt deshalb, weil sie Teil unserer eigenen Geschichte ist. Deutsche Regierungen haben nach dem Ersten Weltkrieg nie - das wurde schon angesprochen - aus
eigenem Antrieb der armenischen Opfer gedacht und
sich zu ihrer Mitverantwortung bekannt.
Dieses Schweigen in Deutschland und international
in vielen Bereichen hat ein Mann wie Adolf Hitler genau
beobachtet. Am 22. August 1939, wenige Tage vor dem
Kriegsbeginn, hat er auf dem Obersalzberg der deutschen Militärführung die gnadenlose Vernichtung der
polnischen Bevölkerung angekündigt und aufgetragen.
Die noch vorhandenen Skrupel der Militärs versuchte er
mit dem Satz zu beseitigen: „Wer redet heute noch von
der Vernichtung der Armenier?“
Glücklicherweise gab es auch andere Stimmen in
Deutschland, die sich ehrlich und intensiv bemühten.
Der evangelische Theologe Johannes Lepsius wurde
schon erwähnt mit seinen vielfältigen Bemühungen und
seiner Rede im Presseklub, aber eben auch mit seiner
Dokumentation nach den furchtbaren Ereignissen. Es
wurde schon berichtet von der Zensur der öffentlichen
Stellen damals - die deutschen Reichstagsabgeordneten
bekamen seine Dokumentation erst Jahre später zugestellt - und auch von der Aussage des Reichskanzlers,
die auch ich in meinem Manuskript stehen habe, weil es
so eklatant ist, dass wir, dass die kaiserliche deutsche
Politik im Ersten Weltkrieg dies einfach hingenommen
hat. Darauf beruht auch unsere besondere deutsche Verantwortung, uns dieser Geschichte zu stellen.
Die Archive des Auswärtigen Amts sind seit langem
offen, auch für die internationale Forschung, die die Ereignisse anhand der Akten bereits deutlich rekonstruiert
hat. Kopien sämtlicher relevanter Akten des Auswärtigen Amts wurden der Türkei und Armenien vor einigen
Jahren übergeben. Es wäre gut, wenn sie auch in der
Türkei für alle öffentlich zugänglich wären, vielleicht in
wichtigen Teilen übersetzt.
({1})
Allein aus den deutschen Akten geht klar hervor, dass
das damals die Macht habende Komitee für Einheit und
Fortschritt die Vernichtung der Armenier systematisch
betrieb, mithilfe staatlicher Behörden und paramilitärischer Organisationen. Dass dies eine gezielte Politik
war, gehört zur Definition des Begriffs „Völkermord“,
wie sie später in der UN-Konvention von 1948 verankert
wurde. Dabei ist bemerkenswert, dass Raphael Lemkin,
der diesen Begriff neu schuf und wesentlich zur Durchsetzung dieses neuartigen völkerrechtlichen Instruments
beigetragen hat, von sich bekannte, dass er dabei sowohl
das Schicksal der Armenier als auch das der europäischen Juden im Blick hatte.
Es wäre gut, wenn sich auch die Türkei der Erkenntnis öffnen würde, dass das Sichstellen der eigenen Geschichte, auch der eigenen historischen Verantwortung
und Schuld, keinen Verzicht auf Patriotismus und nationalen Stolz bedeutet. Wir als Deutsche haben diese Erfahrung gemacht, uns einer wahrhaftig noch furchtbareren Geschichte und Schuld zu stellen. Wir haben dabei
die Erfahrung gemacht, dass gerade daraus internationale Anerkennung gewachsen ist, ohne die übrigens
auch die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre.
({2})
Versöhnung setzt Offenheit voraus. Offenheit heißt,
das ganze Bild der historischen Fakten offen zu legen.
Gerade daraus kann Versöhnung und neu gewonnene Fähigkeit zu guter Nachbarschaft wachsen. In dieser Hinsicht ist es etwa wichtig, dass die türkisch-armenische
Grenze geöffnet wird, was sowohl für den Osten der
Türkei wesentlich ist als auch für das isolierte Armenien,
das aus seiner Ecke herauskommen muss, in der es in
vielen Bereichen steckt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist wichtig,
dass wir diesen Teil der Geschichte bei uns und anderswo in Europa, aber eben auch in der Türkei und in
Armenien, verarbeiten, damit Geschichte endlich ruhen
kann und unsere Zukunft nicht mehr belastet. Dies ist
das Ziel der Beschäftigung mit der Geschichte, an der
wir alle - das gilt auch für die Türkei - nicht vorbeikommen. Der 90. Jahrestag wäre meines Erachtens ein guter
Anlass, dies zu tun.
Der Blick auf die heutige Türkei zeigt jedoch leider
ein gespaltenes Bild. Es gibt durchaus hoffnungsvolle
Anzeichen. Es gibt viele in der Gesellschaft, die das
Thema aufgreifen. Ministerpräsident Erdogan selber hat
im vergangenen Dezember das erste Museum über armenisches Leben in Istanbul eröffnet. Das ist ein wichtiger
Schritt.
({3})
Aus der Zivilgesellschaft heraus gab es übrigens deutlichen Widerstand gegenüber einem in meinen Augen
relativ absurden Aufsatzwettbewerb, der sich vom
Thema her gezielt gegen den Vorwurf des Genozids richtete. Viele haben es abgelehnt, sich daran zu beteiligen.
Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.
Ich halte es auch für gut, dass sich das türkische Parlament in der vergangenen Woche erstmals in einer
Plenardebatte mit diesem Thema befasst hat. Betrachtet
man allerdings den Verlauf dieser Debatte, so stimmt einen dies eher betrübt,
({4})
weil darin alte Geschichtsbilder zementiert und erneut
propagiert wurden.
Wenn einerseits die Ansicht vertreten wird, dass Geschichte nicht Thema der Politik sein darf, sondern den
16130 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Historikern überlassen werden sollte, und andererseits
beschlossen wird, das britische Parlament aufzufordern,
das „Blaue Buch“, eine Dokumentensammlung, zu Propaganda zu erklären, dann ist das ein Widerspruch und
entspricht in keiner Weise dem, was heute notwendig ist.
({5})
Problematisch sind die diplomatischen Bemühungen
auf europäischer, aber auch auf internationaler Ebene,
die Behandlung mit dem Thema beiseite zu drängen oder
mithilfe konkreter Kontakte zu verhindern. Dies wird
dem Ansehen der Türkei nicht gerecht.
Für konstruktiv halte ich dagegen die bereits angesprochene Historikerkommission. Meiner Ansicht nach
sollte sie aber nicht bilateral, sondern international zusammengesetzt sein. Dabei muss klar sein, dass Geschichte nicht verhandelbar ist. Es geht vielmehr darum,
Geschichte öffentlich zu machen und einen öffentlichen
Diskurs über die verschiedenen Akten und Perspektiven
zu eröffnen, der für die Gesellschaften aller Länder notwendig ist. Es wäre sicherlich gut, wenn Armenien bereit wäre, sich an einem solchen Diskurs und einer solchen Kommission zu beteiligen.
Schlimm ist - damit möchte ich schließen -, dass in
der Türkei die Behandlung dieses Themas leider bis
heute unter Strafandrohung steht. Ich denke, dass das in
keiner Weise akzeptabel ist, und das müssen wir sehr
deutlich machen. Dass der türkische Schriftsteller Orhan
Pamuk unter Strafandrohung steht, weil er dieses Thema
aufgeworfen hat, und zurzeit aus Angst vor Todesdrohungen im Untergrund lebt, ist ein Skandal für die Türkei. Ich denke, wir müssen die Türkei bzw. die türkische
Regierung aufrufen, sich vor ihn zu stellen und deutlich
zu machen: Wir wollen ihn schützen; wir wollen diesen
Diskurs.
({6})
Gerade angesichts der Vorgänge in meinem Heimatland Brandenburg vor einigen Wochen muss ich gestehen, dass das ein Problem war. Man hat aber übersehen,
dass das Problem nicht nur Brandenburg betrifft. Es war
das erste Bundesland, in dem diese Themen im Unterricht behandelt wurden. Wir sollten uns insofern in allen
Bundesländern dafür einsetzen, dass das Thema Bestandteil des öffentlichen Diskurses in Deutschland wird
und dass in allen Schulen und Schulklassen offen mit
dieser Geschichte umgegangen wird.
Ich hoffe, dass uns dies gelingt und dass wir gemeinsam dafür eintreten, uns zunächst einmal mit unserer eigenen Geschichte, zu der auch die türkische Geschichte
gehört - denn wir alle leben in Europa und haben eine
gemeinsame Geschichte -, so zu befassen, dass daraus
eine gute gemeinsame Zukunft erwächst.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Warum beschäftigen wir uns im Deutschen Bundestag 90 Jahre
nach den hier zur Diskussion stehenden dramatischen
Ereignissen mit Mord und Vertreibung mit diesem Phänomen? Es mag viele Gründe geben. Für mich ist der allerwichtigste Grund, dass wir als Deutsche und Europäer
ein ganz vitales Eigeninteresse an einer friedlichen Entwicklung in dieser Nachbarschaftsregion haben. Das ist
unser Interesse im Jahre 2005. Deshalb müssen wir uns
auch mit der Geschichte beschäftigen.
Wir können und wollen aber keine Historikerkommission sein. Das ist nicht unsere Aufgabe. Es geht auch
nicht - darin sind wir uns alle sicherlich einig - um
Schuldzuweisungen an die heute lebenden Türken. Es
geht vielmehr um einen Prozess der systematischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Damit haben wir
selber jahrzehntelange, schmerzhafte Erfahrungen. Wir
haben daraus zwei Lehren gezogen. Erstens. In einem
solchen Prozess darf es immer nur darum gehen, das eigene Tun kritisch zu hinterfragen. Ganz schlimm ist,
wenn man bei dem kritischen Hinterfragen versucht, eigene gegen fremde Tote aufzurechnen. Das ist falsch.
Das haben wir gelernt. Wir rufen daher unseren Nachbarn zu: Liebe türkische Freunde, das ist nicht die richtige Art, mit der eigenen Geschichte umzugehen.
({0})
Zweitens. Wir haben gelernt, dass bei einem solchen
Prozess externer Druck durchaus hilfreich ist. Deshalb
rufen wir den Türken und den Armeniern zu: Jawohl,
wir als Deutsche und Europäer schauen auf euch und beobachten, wie ihr den Prozess, für den ihr verantwortlich
seid, bewältigt! Wir tun das, weil wir euch ermutigen
wollen, diesen Prozess in aller Offenheit zu gestalten.
Die historischen Fakten können und wollen wir in
diesem Hause nicht im Detail analysieren. Dazu sind andere berufen. Es hat ja die Turkish Armenian Reconciliation Commission gegeben, die einen sehr ausführlichen
und detaillierten Report verfasst hat. Dort kommt man
letztendlich zu dem Schluss, dass es sich um einen
Genozid handelt. Ich möchte das hier im Einzelnen
nicht bewerten. Interessant ist aber, dass sowohl die Türkei als auch Armenien die Veröffentlichung dieses
Reports abgelehnt haben.
In der Türkei haben bis zum heutigen Tage - das wissen wir alle; die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen - eine Auseinandersetzung und eine systematische
Aufarbeitung leider nicht stattgefunden. Wir glauben
aber, dass es wichtig ist, das zu tun. Wir rufen den Türken zu: Jawohl, wir alle wissen, dass das ein schmerzhafter Prozess ist! Auch für uns war das über Jahrzehnte
hinweg ein sehr schmerzhafter Prozess. Es gibt erste ermutigende Zeichen, wie zum Beispiel Erdogans Ankündigung, eine Historikerkommission einzusetzen. Auch
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16131
hier hat Druck von außen geholfen, Bewegung in die Sache zu bringen. Deshalb müssen wir daran weiter mitwirken.
Der Antrag der Union ist eine Grundlage für die weitere Behandlung in den Ausschüssen. Wir sind dazu
gerne bereit. Herr Bergner, für meinen persönlichen Geschmack ist der historische Teil des Antrags Ihrer Fraktion allerdings noch zu groß und der politische zu klein.
Wir werden daran sicherlich gemeinsam arbeiten.
Wie eingangs gesagt, beschäftigen wir uns damit aus
deutschem und europäischem Interesse. Wir haben Interesse an einer friedlichen Zusammenarbeit mit der Region und daran, dass unsere Nachbarschaftspolitik, die
unser Geld, unsere Energie und unser Brain kostet, in
dieser Region erfolgreich ist. Die Öffnung der Grenzen
zwischen Armenien und der Türkei wäre sicherlich ein
erster wichtiger Schritt.
In diese Stoßrichtung muss unsere Arbeit in den
nächsten Wochen und Monaten gehen. Auf dieser Basis
können wir gerne einen gemeinsamen Antrag erarbeiten.
Wir werden dazu unseren Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion begrüßt die Debatte, die heute im Bundestag über die Vertreibung und weitgehende Vernichtung des armenischen Volkes im Jahre 1915 stattfindet.
Wir führen diese Debatte, weil wir es für entscheidend
halten, dass das Gedenken an die Opfer bewahrt und erneuert wird, und weil wir die Türkei eines Tages in der
Europäischen Union haben wollen. Wir führen sie nicht,
weil wir zeigen wollen, dass ein Beitritt der Türkei zur
EU nicht möglich wäre.
Ich will in Bezug auf die schrillen Töne, die wir, alle
Fraktionen, in den letzten Wochen gehört haben, sagen:
Diese Debatte ist keine Einmischung in eine innertürkische Angelegenheit. Der Deutsche Bundestag entscheidet allein - nur er entscheidet -, worüber er diskutiert
und womit er sich befasst.
({0})
Was in unseren Schulbüchern steht, wird in der Bundesrepublik Deutschland in den Bundesländern entschieden.
Jetzt kommt ein wichtiger Punkt: Wenn bei uns jemand der Überzeugung ist, dass in einem Schulbuch etwas Falsches steht, dann kann er das frei und öffentlich
sagen und dann findet unter Umständen eine gesellschaftliche und politische Debatte darüber statt, ob er
Recht hat oder nicht.
({1})
Für uns ist diese Debatte europäisch und auch
deutsch; deswegen müssen und können wir sie im Deutschen Bundestag führen. Beginnen wir also bei uns
selbst. In verschiedenen Beiträgen ist schon deutlich gemacht worden, dass es eine in Kauf genommene Billigung der Vertreibung und der Vernichtung von Teilen
des armenischen Volkes durch Deutschland gegeben hat;
es gab eine spezifisch deutsche Verstrickung. Die
Zitate von Bethmann Hollweg will ich nicht wiederholen. Konsuln in der anatolischen Provinz haben in vielen
Drahtberichten an die Botschaft in Konstantinopel, aber
auch nach Berlin nicht nur die Ereignisse, sondern auch
das Planvolle der Ereignisse immer wieder im Detail
vermittelt. Deswegen wusste man in Deutschland eindeutig Bescheid. Aber man hat sich darum - das drückt
auch das vorher wiedergegebene Zitat aus - aufgrund irgendwelcher Interessen nicht kümmern wollen. Man hat
geschwiegen.
Wir haben deswegen nicht nur ein Mitwissen, sondern auch eine Mitschuld. Ich möchte mich für meine
Fraktion und, ich glaube, für alle in diesem Haus heute,
90 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen, beim armenischen Volk für diese Mitschuld entschuldigen.
({2})
Wenn man sich die Debatte in den letzten Wochen in
Deutschland, natürlich auch in der Türkei und in Armenien genau anschaut, dann hat man das Gefühl: Letztendlich scheint es nur noch um die Frage zu gehen, ob
man von Völkermord spricht oder nicht. Ich halte diese
Zuspitzung für falsch und unklug. Ich will diese Gelegenheit gern nutzen, um zu erklären, warum. Wenn ich
mir die Berichte etwa der deutschen Konsuln und Botschafter nach Berlin anschaue, wenn ich mir auch die
Berichte über die Sonderkriegsgerichte ab 1919 - es
wurden von türkischen Richtern Urteile gesprochen anschaue, dann komme ich persönlich zu der Auffassung, dass es keine irgendwie unglückliche Vertreibung
gab, die zu negativen Ereignissen geführt hat, sondern
eine kalkulierte Vertreibung mit dem Ziel, das armenische Volk zu vernichten. Deswegen erkläre ich für mich
- viele Kollegen in meiner Fraktion stimmen dem zu -:
Es handelte sich um einen Genozid, also um Völkermord.
({3})
Das ist die eine Seite.
Wir müssen aber auch eine andere Seite berücksichtigen. Dabei geht es um die Frage: Welche Diskussion lösen wir mit Beschlüssen des Bundestages in der Türkei
aus? Wenn wir hier einen Antrag verabschiedeten, in
dem steht, der Deutsche Bundestag stellt fest: es war
Völkermord; wir fordern die Türken auf, dies endlich
zuzugeben - ich finde es richtig, dass die Union den Begriff Völkermord nicht verwendet hat -, dann würden
wir nach meiner festen Überzeugung das Gegenteil von
dem erreichen, was wir tatsächlich wollen.
({4})
16132 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Bei unserer Verantwortung für die Opfer geht es nicht
nur um das Gedenken - darum geht es auch -, sondern
auch darum, dass wir - unabhängig davon, dass wir im
Sinne historischer Wahrheit Recht haben - Recht bekommen in Bezug auf das, was in der Türkei und in Armenien und zwischen diesen beiden Ländern heute tatsächlich stattfinden kann.
({5})
Wir sollten deswegen nicht mit der Geste von Richtern auftreten; vielmehr sollten wir uns subjektiv um Erkenntnisse und um die historische Wahrheit bemühen.
Aber wir sollten den Diskussionsprozess in der Türkei
- er hat positiv begonnen; ich verweise auf die zarten
Pflanzen einer Erinnerungskultur - wirklich aktiv und
offensiv unterstützen.
({6})
Deshalb gilt an diesem Tag unser Respekt denen, die
in der Türkei jetzt darüber offen diskutieren, Menschen,
die mit einer offenen Diskussion viel riskieren, aber
auch denen, die in der türkischen Regierung und im türkischen Parlament erkennen, dass man sich in diesem
Land der historischen Verantwortung annähern muss,
wenn auch nur schrittweise. Wir haben also nicht auf die
Türkei zu zeigen mit der Absicht, irgendjemanden zu
entlarven oder vorzuführen, sondern wir haben eine Diskussion zu führen, in der wir den europäischen Standard
vertreten, dass man nämlich in Europa reflexiv über die
eigene Geschichte, auch über die Schattenseiten der eigenen Geschichte, diskutiert. Wir müssen alle in der
Türkei einladen, diese auch schmerzhafte Diskussion europäisch miteinander zu führen.
Ein Kernelement der europäischen Wertekultur ist,
dass es freie Diskussionen über strittige Fragen geben
kann. Zur Aufklärung gehört, nicht immer nur die Vernunft zu betonen, sondern auch die Schattenseiten und
ihren Missbrauch zu sehen.
Ich will für meine Fraktion noch einmal Folgendes
sagen: Wir hoffen und wünschen, dass der Weg des türkischen Volkes und der Türkei zur europäischen Wertegemeinschaft und zur Europäischen Union eines Tages
erfolgreich abgeschlossen werden kann.
({7})
Dass die Diskussion zwischen den Türken und den
Armeniern schmerzhaft und schwierig ist, ist angesichts
dieser Geschichte klar. Es ist schwer, historische Tabus
aufzubrechen. Das ist mit Schmerzen verbunden. Ich bin
der Überzeugung, dass man die Bewältigung geschichtlicher Probleme manchmal erleichtern kann, indem man
in der Gegenwart anfängt. Deswegen möchte ich betonen, dass es der Versöhnung zwischen dem armenischen
Volk und der Türkei sehr viel helfen würde, wenn jetzt
endlich die Grenzen geöffnet und normale diplomatische
Beziehungen aufgenommen würden, und zwar jeweils
ohne Vorbedingungen. Dies kann kein Prozess sein, in
dem es heißt, gehe du den ersten Schritt, sondern das
muss zusammen gemacht werden. Ich bin der Überzeugung, dass manche Diskussion in der Türkei einfacher
wäre, wenn es heute zu mehr Austausch und zu mehr
Kontakt zwischen Bürgern und Bürgerinnen aus Armenien und der Türkei kommen könnte.
({8})
Ich möchte zum Schluss kommen und der CDU/CSU
dafür danken, dass sie den Antrag eingebracht hat. Der
Antrag hat eine rege Diskussion ausgelöst, auch wenn
wir im Einzelnen noch Veränderungen erreichen wollen.
Wir werden im Ausschuss und in Vorgesprächen zwischen allen Fraktionen diskutieren. Die Diskussion ist,
glaube ich, durch die öffentliche Berichterstattung in den
letzten Wochen und Monaten sensibler geworden. Wir
wollen auch einen offenen Diskurs mit den Abgeordneten und mit der Bevölkerung in der Türkei. Wenn dies
mit der Debatte heute angestoßen wird, dann haben wir
ein gutes Stück Arbeit geleistet für eine positive europäische Erinnerungskultur, die keine Opfer tabuisieren
kann.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Friedbert Pflüger,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich bei Ihnen, Kollege Kuhn, und
auch bei allen anderen Kollegen, die geredet haben, bedanken, und zwar für die große Übereinstimmung, für
die große Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit, die in einem
großen Gegensatz zu den aufgeregten und diffamierenden Anklagen mancher in der Türkei in diesen Tagen
steht.
Ich möchte der Debatte einige Anmerkungen hinzufügen:
Erstens. Wir als Deutsche haben keinen Grund, auf
andere herabzublicken; niemand hat das hier im Parlament getan. Wir sind uns unserer deutschen Verantwortung für den einzigartigen industriellen Massenmord in
unserer Geschichte, den Holocaust, und auch der Mitverantwortung des Deutschen Reiches für die Massaker an
den Armeniern bewusst.
Zweitens. Viele bei uns sagen, dass wir Deutsche uns
unserer Vergangenheit gestellt hätten und der Vergangenheit ins Auge schauen würden, während die Türken
verdrängen und beschönigen würden. Das ist wohl wahr.
Aber das liegt nicht daran, dass wir Deutschen bessere
Menschen als die Türken sind.
Es ist nämlich, wenn man nach dem Grund spürt, für
die Türken auch schwerer, sich ihrer Vergangenheit zu
stellen. Denn Deutschland hatte mit dem 8. Mai die totale Niederlage und Kapitulation, den totalen Zusammenbruch, und die Bundesrepublik Deutschland wurde
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16133
in Diskontinuität, ja als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland gegründet. Es war von Anfang an
Teil dieses Gegenbildes, sich mit Auschwitz offen auseinander zu setzen, so schwer die Einsicht in die Wahrheit uns Deutschen auch gefallen ist und vielen bis heute
fällt.
Anders in der Türkei. Ein Schuldbekenntnis greift in
den Augen der meisten Türken auch die moderne Türkei
an, zumindest den Gründungsmythos der Türkei. Denn
dieser Gründungsmythos porträtiert diese Phase der türkischen Geschichte als den nationalen Kampf gegen den
europäischen Imperialismus. Die Zwangsdeportationen
der Armenier erscheinen seit den Jungtürken in der Türkei als Verteidigungsmaßnahme zur Rettung des Vaterlandes gegen den inneren armenischen Feind.
So haben es Generationen von Türken in der Schule
gelernt. Sie haben ebenso gelernt, dass die erdrückende
Dokumentenlage in europäischen und amerikanischen
Archiven nichts ist als Kriegspropaganda mit dem Ziel,
die Türkei klein zu halten.
Drittens. Es führt deshalb nicht weiter, mit Druck auf
die Türkei endlich die Anerkennung des Völkermordbegriffes durchzusetzen. Es wird die Türken wenig beeindrucken, wenn wir hier, wie das andere Parlamente getan
haben, die Entscheidung treffen, dass auch wir der Meinung sind: Das ist Völkermord.
Wir wollen eben nicht anklagen. Wir wollen nicht beschönigen, aber wir wollen die Türkei auch nicht in die
Ecke stellen. Wir wollen nicht mit dem Knüppel kommen. Es geht uns um Klärung und nicht um Angriff. Es
geht uns um Warnung und nicht um Bloßstellen. Wir
wollen diejenigen in der Türkei ermutigen, die sich den
Schrecken von 1915 und 1916 stellen.
({0})
Viertens. Es ist mir wichtig festzustellen, dass keiner
bei uns Gebietsansprüche der Armenier an die Türkei
unterstützt, allerdings auch nicht die Grenzblockade und
Isolierung Armeniens.
({1})
Fünftens. Es geht auch nicht um eine Kollektivschuld der Türken. Schuld ist wie Unschuld immer
persönlich und nie kollektiv. Heutige Generationen sind
sowieso nicht schuldig. Aber auch die damaligen Türken
waren keinesfalls alle der Meinung, dass das, was dort
geschah, richtig und menschlich ist.
Übrigens beschreibt das Franz Werfel in seinem wunderbaren Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ sehr
eindrucksvoll. Er beschreibt nämlich Situationen, wo
Türken und Armenier zusammen weinten, als armenische Familien aufgefordert wurden, auf die Todesmärsche zu gehen, und wie sie vor dem Mudir auf die Knie
gingen und flehten: „Lasst sie bei uns! Sie haben nicht
den richtigen Glauben, aber sie sind gut. Sie sind unsere
Brüder. Lasst sie hier bei uns!“ Es geht also nicht um die
Verdammung der Türken oder der Türkei, genauso wenig wie es richtig wäre, alle Deutschen für die Untaten
der Hitler-Zeit in die Schuld zu nehmen.
Sechstens. Trotzdem sagen wir: Die Türkei sollte sich
der Wahrheit öffnen. Es macht - Herr Kollege Meckel
hat das sehr schön gesagt - eine Nation nicht größer,
wenn sie die Augen vor den dunklen Zeiten ihrer Geschichte verschließt. Ich glaube in der Tat, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn man im persönlichen Leben,
aber auch sonst die Kraft hat, sich der eigenen Fehler,
Irrtümer und Irrwege zu stellen, wird man hinterher eher
stärker und nicht schwächer. Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung, sagte Richard von Weizsäcker in
seiner Rede am 8. Mai 1985.
({2})
Siebtens. Wer redet heute noch von der Vernichtung
der Armenier? Kollege Meckel hat diesen Satz von
Adolf Hitler, der in den Akten des Auswärtigen Amtes
dokumentiert ist, zitiert. Wenn wir uns nicht erinnern,
dann wird die Gefahr der Wiederholung größer. Wenn
wir uns nicht erinnern, wenn sich die Türken nicht erinnern, wenn es möglich ist, solches Grauen in Europa und
den angrenzenden Gebieten zu begehen, ohne dass daran
heute erinnert wird, dann besteht die Gefahr von Nachfolgeaktionen.
Achtens. Mit der Debatte zu unserem Antrag wollen
wir die Annäherung der Türkei an Europa - das betone ich ausdrücklich - nicht mit einem neuen Hindernis
belegen.
({3})
Wir haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie
dieser Annäherungsprozess vollzogen werden sollte;
aber wir alle haben das Interesse, mit der Türkei enger
und freundschaftlich zusammenzuarbeiten. Es ist eher
umgekehrt: Wir wollen die Annäherung der Türkei an
Europa durch eine gemeinsame Erinnerungskultur verstärken.
({4})
Jorge Semprún hat in Weimar am 10. April eine große
Rede gehalten. Mit Blick auf die Länder Mittel- und Osteuropas sagte er:
Eine der wirksamsten Möglichkeiten, die Zukunft
eines vereinten Europas … zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen. Der kürzlich erfolgte Beitritt von
zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa …
kann kulturell und existenziell erst dann wirksam
erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.
Das gilt auch - in einem anderen Zusammenhang - für
die Türkei.
({5})
Neuntens. Die bisherigen offiziellen Reaktionen seitens der Türkei, vom Botschafter und vom Parlament,
auf unsere Debattenbeiträge sind nicht ermutigend. Man
16134 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
hat die Bemühungen um Differenzierung in der Türkei
bisher nicht gewürdigt. Das ist bedauerlich.
Zehntens und letztens. Es gibt aber auch großartige,
ermutigende Signale aus der Türkei. Orhan Pamuk ist zitiert worden. Er hat ganz offen den Mut gehabt, von Genozid zu sprechen. Professor Berktay spricht von „ethnischen Säuberungen“ und von 1 Million Toten und
fordert, dass man darum trauern muss. In der Tageszeitung „Radikal“ schreibt Ismet Berkan:
Jedoch wissen wir alle, dass in jenen Jahren Dinge
geschehen sind, und selbst nach 90 Jahren seit diesen Vorkommnissen können wir heute noch immer
nicht offen darüber reden, was damals genau geschah.
Es gibt inzwischen in der Türkei eine Initiative „Geschichte für Frieden“: Juristen, Historiker, Pädagogen
und Elternvereinigungen verwahren sich gegen die gezielte Geschichtsverfälschung in Schulbüchern und wollen ihre Kinder zu Achtung und Toleranz erziehen.
Vorgestern habe ich einen Brief von dem „Menschenrechtsverein Türkei - Deutschland“ erhalten. In diesem
Brief heißt es:
Es muss deutlich gemacht werden, dass der türkische Staat als Nachfolger des Osmanischen Reiches
sich der historischen und moralischen Verantwortung zu stellen hat. Wir tragen dafür die Verantwortung. Wir Türken verneigen uns voller Achtung und
Trauer vor den Opfern des Völkermordes an den
Armeniern.
Ich glaube, dass das ein eindrucksvolles Dokument ist.
Vielleicht gelingt es uns mit den differenzierten Tönen, die wir im Rahmen unserer heutigen Debatte aus allen Parteien gehört haben, ja doch, dazu beizutragen,
dass man sich in der Türkei diesen Fragen etwas mehr
öffnet. Dann kämen wir gemeinsam, auch auf dem Weg
zum vereinten Europa, ein Stückchen voran.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zu Beginn sagen, dass nur diejenigen,
die nicht am Dialog interessiert sind, und nur diejenigen,
die etwas zu vertuschen haben, die heutige Debatte als
Hetze gegen oder Beleidigung der Türkei bezeichnen
können.
({0})
Dafür, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die vor
mir gesprochen haben, dazu beigetragen haben, dass wir
in dieser verantwortungsvollen Weise mit diesem sehr
schwierigen Thema umgehen, möchte ich mich ganz
herzlich bei Ihnen allen bedanken.
({1})
„Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“ Diese
eindringliche Mahnung richtete Elie Wiesel am
27. Januar des Jahres 2000 von diesem Rednerpult aus
an alle Menschen. Das ist eine Mahnung, die auch für
uns Abgeordnete des Deutschen Bundestages wichtig ist
und die uns daran erinnern sollte, unseren Beitrag zur
Versöhnung zu leisten, indem wir dem Vergessen das Erinnern als Grundlage von Versöhnung und verantwortlichem Handeln entgegenhalten.
Ich finde, dass es für uns - auch für mich als Vertreter
der jungen Generation - eine große Verpflichtung ist,
dort, wo es möglich und sinnvoll ist, zur Versöhnung
beizutragen. Dies resultiert aus der Verantwortung, die
wir alle für die unvorstellbaren, präzedenzlosen Verbrechen haben, die in deutschem Namen gegen die Menschlichkeit begangen wurden.
In diesem Sinne gibt es gute Gründe für den vorliegenden Antrag der Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion. Aber ich sage auch: Das gilt ausdrücklich
nur dann, wenn die Verstärkung der deutschen Bemühungen für eine Versöhnung zwischen Türken und Armeniern bei der weiteren Beratung dieses Antrags wirklich unser Hauptanliegen ist.
({2})
Deshalb sollten wir auf der Grundlage des vorliegenden
Antrags mit der notwendigen Geradlinigkeit und mit
dem Mut zur Ehrlichkeit einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen dieses Hauses erarbeiten. Ich will noch
einmal unterstreichen, was bereits manche Kolleginnen
und Kollegen gesagt haben: Uns allen wird es dabei um
Versöhnung, nicht um Anklage gehen.
({3})
Die Gründung der Europäischen Union und der Erfolg der großartigen Idee der Europäischen Union beruhen auf dem Willen zur Versöhnung. Wer könnte das
besser behaupten als wir Deutsche? Denn unsere
schnelle Wiederaufnahme in die europäische Gemeinschaft demokratischer Staaten ist für uns wegweisend.
Sie zeigte den Mut unserer Nachbarstaaten, uns zu vergeben, obwohl wir ihnen großes Leid angetan hatten.
Gerade deshalb muss es für uns alle ein entscheidender
Punkt, eigentlich der Ausgangspunkt all unserer Bemühungen sein, dass das Gedenken an das Schicksal von
mehr als 1 Million Armeniern, die Opfer von staatlicher
Vertreibung und Vernichtung wurden, immer im Vordergrund unserer Beratungen steht.
Wir können die Opfer zwar nicht mehr lebendig machen, aber wir sollten immer wieder und unverzagt dafür
Sorge tragen, dass sie niemals, wirklich niemals vergessen werden.
({4})
Das Buch über die europäische Geschichte wäre nicht
komplett, wenn es darin nicht auch Seiten gäbe, auf
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16135
denen diesen Opfern, den Armeniern, ein ehrendes Gedenken bereitgestellt würde.
Ich will noch einmal unterstützen, was manche Kolleginnen und Kollegen bereits gesagt haben: Der Bundestag ist nicht der Ort, an dem historische Urteile gefällt werden sollten. Das hat bereits die überwiegende
Zahl seriöser Historiker getan, die die Verbrechen an den
Armeniern eindeutig als Völkermord bezeichnet haben.
Unsere Aufgabe ist in der Tat, einen Beitrag zu einem
aufrichtigen Umgang mit unserer europäischen Geschichte zu leisten. Deshalb sollten bei der weiteren Arbeit an diesem Antrag aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion drei Punkte im Vordergrund stehen. Erstens. Der
Deutsche Bundestag erkennt an, dass es im Ersten Weltkrieg - teilweise durch Vertuschung, teilweise durch
Verwicklung, klammheimliche Billigung und Unterlassung von wirksamen Gegenmaßnahmen - eine deutsche
Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern gab.
({5})
Deshalb will ich unterstreichen, was der Kollege Kuhn
gesagt hat. Ich finde, in den überarbeiteten Antrag gehört
auch eine Entschuldigung beim armenischen Volk.
Zweitens. Wir sollten alles tun, damit deutlich wird,
dass wir nicht anklagen wollen, sondern dass wir mithelfen wollen, dass unsere Freunde in der Türkei, die das
Ganze bisher überwiegend noch verdrängen, diese Verdrängung beenden, sich der historischen Verantwortung
für das, was das jungtürkische Regime getan hat, stellen
und die Nachkommen der Opfer um Vergebung bitten.
Drittens - auch das ist hier schon gesagt worden -:
Wir sollten alles dafür tun, dass die Zusammenarbeit und
die Freundschaft zwischen Armenien und der Türkei
weiter gefördert werden, dass die Beziehungen normalisiert werden. Denn die Isolierung, die von Armenien betrieben wird, ist eine gefährliche, die nicht im europäischen Sinne sein kann und die nicht dem europäischen
Gedanken entspricht.
({6})
Ich will abschließend noch einmal unterstreichen
- und ich glaube, das hat die heutige Debatte gezeigt -:
Es geht nicht darum, der Türkei auf dem Weg in ein vereinigtes Europa Stolpersteine in den Weg zu legen. Ich
gehöre zu denjenigen, die immer mit Überzeugung dafür
eingetreten sind und das auch heute tun, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Ich habe
große Hochachtung vor den Leistungen des türkischen
Volkes, vor den Menschen in der Türkei, aber auch den
türkischstämmigen Menschen, die hier leben.
({7})
Aber diese Hochachtung und Freundschaft gebietet es,
ehrlich miteinander umzugehen. Ich glaube, dass es am
Ende für keine Seite länger tragbar gewesen wäre, wenn
wir aus falsch verstandener Freundschaft die Kultur des
Schweigens mitgetragen hätten, nur weil wir meinten,
damit den einen oder anderen türkischen Freund schonen
zu können. Das ist keine wirkliche Freundschaft. Wirkliche Freundschaft ist, dass man um Ideen ringt, dass man
sich die Wahrheit sagt. Wolfgang Thierse hat es so beschrieben: Wenn wir gemeinsam an der europäischen
Erinnerung arbeiten, bedeutet das, dass die nationalen
kollektiven Erinnerungen Schritt für Schritt von einer
europäischen kollektiven Erinnerung abgelöst werden
müssen. Das wird für alle ein schmerzhafter Prozess sein
und dieser Prozess wird auch Zumutungen beinhalten.
Aber ich sehe zu diesem Prozess, wenn wir dauerhaft ein
wirklich vereintes Europa mit der Türkei werden wollen,
keine Alternative. Ich hoffe, dass dadurch auch deutlich
wird, dass es hier darum geht, den Weg nach Europa gemeinsam mit der Türkei zu gehen und nicht gegen sie.
({8})
Wenn Sie mir das noch erlauben, will ich hier einen
letzten Punkt anfügen: Unser langjähriger, ehemaliger
Kollege Dietrich Sperling hat sich, wie viele von Ihnen
vielleicht noch wissen, immer für die Versöhnung im
Kaukasus eingesetzt. Es gibt ein Schreiben von ihm, aus
dem ich zitieren will: Er schlägt vor, darüber nachzudenken, was wir als Deutsche tun können, um die Konflikte
dort zu mindern und zur Versöhnung beizutragen. Er
sagt, wir sollten um eine unverfälschte Darstellung des
damaligen Geschehens und der Motivierung seiner Akteure bemüht sein. Das würde eine internationale Zusammenarbeit, nicht ein Gegeneinander erfordern. Zu
der sollten wir als Deutsche einladen und uns daran beteiligen, und zwar nicht unter dem Aspekt der Anklage
anderer, sondern um uns mit unserem Anteil am damaligen Geschehen vertrauter zu machen. Wir sollten uns die
Gewissheit verschaffen, dass wir uns über uns selbst
nicht mehr belügen sollten. - Ich glaube, Dietrich
Sperling hat Recht und seine abschließende Forderung,
dass wir als Bundestag bzw. als Bundesregierung uns dafür einsetzen sollten, ein Forschungsvorhaben zu starten,
das Deutschlands Rolle in der armenischen Frage klärt,
ist wegweisend und unterstreicht noch einmal: Hier geht
es auch um uns selbst und nicht um den Fingerzeig auf
andere.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Ende einer Debatte, bei der schon
die Tonlage aller Beiträge deutlich gemacht hat, dass
dies für dieses Haus nicht einer von vielen Dutzend Tagesordnungspunkten gewesen ist, mit denen wir uns in
jeder Sitzungswoche auseinander zu setzen haben.
Angesichts manch verständlicher Besorgnisse, aber
auch manch unverständlicher Verdächtigungen, denen
dieser Antrag und diese Beratungen im Deutschen
16136 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Bundestag in den letzten Wochen ausgesetzt gewesen
sind, verdient es sicher festgehalten zu werden, dass der
Deutsche Bundestag mit dieser Debatte und den sich anschließenden weiteren Beratungen in den zuständigen
Ausschüssen seiner Aufgabe als Vertretung des deutschen Volkes und als politisches Forum der Nation in besonderer Weise gerecht geworden ist.
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4933 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten Nationen in den Jahren 2002 und 2003
- Drucksachen 15/4481, 15/4903 Nr. 1, 15/5144 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({2})
Fritz Kuhn
Nach der Vereinbarung unter den Fraktionen soll die
Aussprache 45 Minuten dauern. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Dr. Christoph Zöpel für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Bundestag befasst sich heute mit dem
zweiten Bericht der Bundesregierung über das Verhältnis
Deutschlands zu den Vereinten Nationen. Diese Berichte
gehen auf einen Beschluss des Bundestages aus der letzten Legislaturperiode zurück. Sie sind ein wesentlicher
Beitrag zur Beteiligung des Parlaments an der UNO-Politik auf unserer staatlichen Ebene.
Jede Debatte ist kritisch. Auch über die UNO, wie
sollte es anders sein, wird kritisch und mit dem Blick auf
eine Krise diskutiert. Manches ist sehr banal, weshalb
man es klarstellen sollte. Es wird über die Effizienz der
UNO diskutiert. Dass in dieser internationalen Institution Civil Servants aus über 190 Ländern arbeiten, die
nicht alle in der Verwaltungstradition des Freiherrn vom
Stein oder des Grafen Montgelas ausgebildet wurden, ist
fast selbstredend und sollte nachgesehen werden.
Es ist unstreitig: Die Vereinten Nationen kosten Geld.
Der ordentliche Haushalt beträgt 1,5 Milliarden Dollar.
Jeder Vergleich hinkt. Der Vergleich mit den 800 Milliarden Dollar für Rüstungsausgaben macht trotzdem
nachdenklich und relativiert auch diese Kritik.
({0})
Nun die Erfolge: Es ist unstreitig, dass der ewige Frieden auf dieser Welt trotz der UNO nicht eingekehrt ist.
Stellen wir aber auch hier wieder die Maßstabsfrage.
Wer über die UNO und ihre Aufgaben sowie über eine
globale Ordnung mit integrierten Regeln spricht, der
wird sich mit dem Gegenmodell, nämlich dem Chaos der
Mächte, weiter auseinander setzen müssen, das auch
nach Auffassung intelligenter und durchaus friedfertig
orientierter Beschreiber dieser Welt weiter Gültigkeit haben soll.
Wenn wir die Frage stellen, ob das Chaos der
Mächte die Welt friedlich gemacht hat, dann müssen wir
noch eindeutiger Nein sagen. So meine ich: Es macht gerade aus deutscher Sicht sehr viel Sinn, daran festzuhalten, dass die ideale Vorstellung von einer integrierten
Weltordnung besser ist als der Traum vom Frieden durch
das Chaos der Mächte.
({1})
Dass all diese Gedanken mit deutscher und internationaler Theorie sowie mit Ereignissen in Deutschland verbunden sind, könnte eine Verpflichtung sein. Ich finde es
immer schön, wenn man durch Gutes verpflichtet ist.
Die Westfälische Ordnung heißt schon so. Westfalen ist
als ein dröge geltender Teil deutscher Lande bekannt,
({2})
trotzdem ist es in die Weltgeschichte eingegangen. Die
Westfälische Ordnung sollte den Krieg domestizieren.
Heute müssen wir feststellen: In Ruanda ist sie nicht
Wirklichkeit geworden. Das Urteil ist aber sehr überheblich, wenn man die Entzivilisierung des Krieges vergisst.
Wann immer mag sie begonnen haben? Hat sie mit Napoleons Wüten in Spanien, mit den Kolonialkriegen, an
denen viele, auch Deutsche, beteiligt waren, mit der Vernichtung von Armeniern, mit den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges oder mit dem Flächenbombardements
von Coventry bis Dresden begonnen? All das war vor
Ruanda. Deshalb sollten wir in unserem Urteil über das
Scheitern maßvoll sein. Ich glaube, es ist ganz unstreitig,
dass dadurch, dass wir nicht nur sehr große Mächte, sondern auch die UNO haben, mancher Krieg vermieden
und mancher eher beendet wird als ohne die UNO. Das
ist sehr viel.
({3})
Peacekeeping- und Peaceenforcing-Operationen gibt
es viel mehr, als wir in Deutschland wahrhaben wollen.
Lassen Sie mich ein bisschen im Vorgriff auf unsere
morgige Entscheidung zum Sudan eine Bemerkung machen. Wer nicht informiert ist, dem sei es verziehen, aber
die Frage „Was sollen deutsche Soldaten in Afrika?“ ist
schon ziemlich provinziell-unanständig,
({4})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16137
wenn man weiß, dass der Frieden in Afrika derzeit von
Bangladeschern, Pakistanern, Indern und vielen Afrikanern selbst herbeigeführt werden soll. Was sollen Bangladescher in Afrika? Es ist also einiges an Aufklärung
angesagt.
Unstreitig ist: Die Vereinten Nationen sind aufgrund
ihrer Charta weiterhin zu sehr auf die traditionellen und,
wie manche sagen, harten Sicherheitsaufgaben konzentriert. Das Befassen mit den Entwicklungsfragen in all
ihren Dimensionen erledigen zum Teil Nebenorganisationen und manchmal von ihr formal unabhängige Organisationen, in denen die Dominanz der Reichen vielleicht zu groß ist, weil auch die Reichen in dieser Welt
zu dominant sind. In dieser Diskussion haben es auch
schon die Bundesregierung und der UNO-Generalsekretär angesprochen: Hin und wieder können wir kleine
Beiträge leisten. So freue ich mich, dass wir in dieser
Legislaturperiode beschlossen haben, dass wir nicht nur
über die harten Aufgaben der UNO in einem Bericht informiert werden, sondern bald auch über alle anderen internationalen Institutionen, in denen die Bundesregierung mitwirkt. Wir warten darauf, das noch in dieser
Legislaturperiode erfüllt zu sehen.
Ganz unstreitig ist: Die Machtstrukturen innerhalb
der Vereinten Nationen entsprechen nicht der Wirklichkeit. Sie sind 1945 gesetzt worden. Fangen wir mit
den eklatantesten Dingen an. Wenn wir sie nicht richtig
sehen, wird es wieder als ein Zeichen provinzieller europäischer Überheblichkeit gesehen, mit ihnen falsch umzugehen. Die Vereinten Nationen ohne Indien im Sicherheitsrat sind nun wirklich eine Groteske.
({5})
Indien mit 1 Milliarde Menschen ist - auch das sollten Europäer einsehen - in seiner Leistung, ein integratives, föderatives Staatswesen zu schaffen, der Europäischen Union um Lichtjahre voraus.
({6})
Man kann also von Indien lernen. Eine Demokratie ist es
auch. Wenn die eine Richtung zu sehr dominiert, verliert
sie überraschend. Das erlebte die indische Demokratie
neulich. Darüber brauchen wir nicht lange zu sprechen.
Dass Lateinamerika und Afrika im Sicherheitsrat nicht
vertreten sind, ist ähnlich fragwürdig. Deshalb gibt es
jetzt diese Diskussion über die Erweiterung des Sicherheitsrates.
Verständlich und sicherlich auch gar nicht zu verurteilen ist die Konzentration auf die Frage: Soll nun
Deutschland im Sicherheitsrat vertreten sein? Ich male
einmal folgendes Bild. Wenn das bei der Beurteilung im
Vordergrund stehen würde, würden alle sagen: Mein
Gott, was ist das für ein Idealismus! Jawohl, ich bin der
Auffassung, der Sicherheitsrat sollte nur noch durch die
staatlich integrierten Weltregionen repräsentiert werden.
({7})
Dem Sicherheitsrat sollten die Afrikanische Union, die
Lateinamerikanische Union, die Indische Union - sie ist
schon vertreten -, China - es ist zwar nicht so ganz demokratisch, aber wir werden es nicht ausschließen können -, die Europäische Union und dann die Vereinigen
Staaten von Amerika - Kanada und Mexiko schließen
sich vorher freiwillig an - angehören. Genau dafür bin
ich.
({8})
Solange das nicht für realistisch gehalten wird, macht
es Sinn, nach den 15 Staaten zu suchen, die in einem
Mix aus den Indikatoren Bevölkerung, Beteiligung an
der Finanzierung und Ähnlichem im Sicherheitsrat vertreten sein können. Hierin hat in bescheidenem Selbstbewusstsein die Aufnahme des drittgrößten Beitragszahlers
einen Sinn. Daher ist es richtig, dass für den Sitz
Deutschlands im Sicherheitsrat vielleicht als Vorstufe
dieser idealen Welt staatlich integrierter Weltregionen
gestritten wird.
({9})
Damit komme ich zu dem letzen Punkt. Wenn nicht
nur einzelne Staaten, sondern auch die Welt demokratisch sein soll, dann müssen wir weiter danach streben,
eine demokratische globale Ordnung zu erreichen. Nun
weiß ich, dass die Konzeption eines Weltparlaments
schon allein wegen der Frage, ob China als nicht demokratischer Staat in einem demokratischen Weltparlament
vertreten sein darf, völlig irreal ist. Trotzdem kann man
sich der Sache nähern. Die Gewaltenteilung auf Weltebene ist ausgeprägter, als man glaubt. Das Ausmaß der
Rechtsetzung ist erheblich. Das Binnensystem völkerrechtlicher Verträge ist ebenfalls erheblich. Wieso sollten diese Verträge nicht auch von Delegierten aus Parlamenten mitberaten werden? Das kann nicht schaden und
das ist praktisch.
({10})
Dass der Sicherheitsrat derzeit im Bereich der Terrorbekämpfung mit bindender Gewalt gültiges Völkerrecht
setzen kann, ist gut. Würde es schaden, wenn er das hin
und wieder mit Vertretern von Parlamenten beraten
würde? Ich glaube, der Punkt ist erreicht, an dem es Sinn
macht, in realistischer Einschätzung der Realität des
Völkerrechts danach zu fragen, ob das Prinzip der Gewaltenteilung nicht auch auf dieser Ebene, nämlich der
globalen, abgebildet werden kann. Der Deutsche Bundestag befasst sich damit. Wir werden es demnächst diskutieren können. Vielleicht können wir dann feststellen,
dass zwei Ideen, an denen Europäer hängen, der Welt
Gutes geben. Ich meine die Idee Kants, dass eine Föderation von Republiken das Chaos der Mächte überwinden könnte. Deshalb bin ich aus außenpolitischen Gründen dafür, in Deutschland mit dem Föderalismus
pfleglich umzugehen und ihn nicht taktisch zu gebrauchen.
({11})
Die zweite Idee ist die Idee der Franzosen, die Gewaltenteilung einzuführen. Wenn es auf Weltebene gelänge,
16138 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
die Föderation der Republiken in Verbindung mit dem
Gewaltenteilungsprinzip von Montesquieu zu organisieren, dann könnten wir Europäer stolz sein.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Klaus Rose, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zuerst auf das eingehen, was der Kollege Zöpel geäußert hat, und feststellen, dass wir doch
eine sehr große Gemeinsamkeit in all diesen Fragen haben. Ich bin vor allem deshalb dankbar, weil das Parlament einen kleinen Sieg errungen hat, weil es diese Berichte gibt, weil wir uns intensiv um die Politik der
Vereinten Nationen kümmern und wir die zunehmende
Bedeutung der Vereinten Nationen für die gesamte Welt,
aber auch für uns Deutsche diskutieren. Damit kommen
wir einen großen Schritt nach vorne. Wir werden in dieser Angelegenheit von der Bundesregierung verhältnismäßig gut unterstützt.
({0})
Wir haben - auch das freut mich - einen eigenen Unterausschuss, dessen Vorsitzender der Kollege Dr. Zöpel
ist. Der Unterausschuss Vereinte Nationen kümmert
sich intensiv um diese Angelegenheiten und kann durch
Hearings und andere Veranstaltungen sehr viel bewegen,
um in diesen Fragen voranzukommen. Ich stehe auch
nicht an, der Bundesregierung ein kleines Kompliment
dafür zu machen,
({1})
dass sie die Zeit, über die der Bericht geht, nämlich von
2002 bis 2003, genutzt hat und versucht hat, sich international einzubringen. Sie hat in diesen schwierigen Jahren
2002 und 2003 - das war die Zeit nach dem
11. September und die Zeit des Irakkriegs - die Politik
mit beeinflusst und im Hinblick auf die Reform der Vereinten Nationen einen Schritt nach vorne gemacht. Wir
haben - mit „wir“ meine ich Deutschland; ich erinnere in
diesem Zusammenhang an die Schlagzeile der „Bild“Zeitung anlässlich der Papstwahl - den Anspruch auf einen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat angemeldet.
Aus dieser Sicht kann ich nur sagen: Das war passabel
gemacht. Aber es gibt noch viel mehr zu tun. Wir konnten bei der Abstimmung über den Bericht unsere Zustimmung nicht geben, weil wir in Nuancen eine andere
Sicht haben.
Ich selber möchte mich jetzt auf einige besondere
Aussagen konzentrieren. Ich weiß, dass meine beiden
Kolleginnen, Frau Nolte und Conny Mayer, Schwerpunkte setzen werden, wobei die eine unter anderem das
Thema des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen und
die andere die entwicklungspolitische Zusammenarbeit
behandeln wird.
Ich möchte deshalb einige andere Bereiche mit beleuchten und komme in diesem Zusammenhang zu den
Friedensmissionen der Vereinten Nationen, um festzustellen: Das kann selbstverständlich nur Aufgabe der
Vereinten Nationen sein. Da sollte es keinen Dissens geben. Auch wenn wir die eine oder andere Mission kritisch sehen, zum Beispiel den Bundeswehreinsatz im Sudan, der morgen auf der Tagesordnung steht, haben aber
doch die Vereinten Nationen das Gewaltmonopol und
sind für die Einsätze zuständig. Da sollten wir uns gemeinsam anschließen.
Aber beim Thema der Friedensmissionen kommt bei
mir der erfahrene Haushälter durch. Man kommt nicht
wirklich weiter, wenn man immer neue Missionen begründet. Dabei spreche ich nicht nur von der Belastung
der Bundeswehr, sondern es geht im Zusammenhang mit
den Vereinten Nationen ja auch um das Anstreben der
0,7-Prozent-Grenze. Ich glaube, keiner von uns ist als
anständiger Parlamentarier dagegen, dass man anstrebt,
das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Aber wir müssen auch
über die Zahlen reden. Wenn man sich die Zins- und
Zinseszinsrechnung bis zum Jahr 2014 anschaut - der
Bundesaußenminister hat diesen Zeitpunkt ins Gespräch
gebracht, der Bundesfinanzminister nicht; er ist da anderer Meinung, weil auch er rechnen muss -, zeigt sich,
dass eine Zusatzausgabe im Haushalt von zwischen
40 und 50 Milliarden Euro auf uns zukommen wird. Experten meiner Fraktion haben das nachgerechnet; die
Ausgabe steigt ja jedes Jahr. Jetzt liegen wir bei
0,28 Prozent; das ist bekanntermaßen weniger als früher.
0,7 Prozent würden mehr als eine Verdoppelung bedeuten. Durch den Zinseszinseffekt kommt man zu den genannten Größenordnungen.
Deshalb erwarte ich, dass wir von der Bundesregierung rechtzeitig genauere Zahlen bekommen, dass seriöse
Berechnungen vorgelegt werden, dass man, wenn man
das nicht aus der Portokasse bezahlen kann - und das
wird man nicht können, weil die politische und die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes in absehbarer
Zeit nicht unbedingt besser wird -, rechtzeitig erklärt,
wo die Prioritäten gesetzt werden sollen, das heißt, wie
gegenfinanziert werden soll. Ich lege schon Wert darauf,
dass wir im Unterausschuss - ganz wertneutral, um auf
dem Laufenden zu sein - Informationen über solche
Dinge bekommen und darüber diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als kleinen Schwerpunkt wollte ich noch das Thema der Reform der Vereinten Nationen ansprechen, wobei es mir widerstrebt,
dass wir immer nur über den Sicherheitsrat reden. In
dem vorgelegten Papier mit etwa 100 Seiten von Kofi
Annan sind sehr viele wichtige Punkte enthalten und bei
jedem einzelnen würde es sich lohnen, lange darüber zu
debattieren, um weitere Erfolge zu erzielen. Aber natürlich steht der Sicherheitsrat im Mittelpunkt. Vielleicht
muss ich das wiederholen, was schon andere erwähnt haben. Der Herr Kollege Zöpel hat es vorhin gut ausgedrückt. Eigentlich müssten die großen Weltregionen Mitglieder des Sicherheitsrates werden, statt dass - fast
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16139
hätte ich gesagt: krampfhaft - ein deutscher Sitz angestrebt wird. Auch die Reise des Bundeskanzlers zuerst
nach Peking und dann nach Tokio, als er zum Schluss
auch noch das Vetorecht gefordert hat, war nicht besonders gut. Eigentlich müsste das Vetorecht abgeschafft
werden. Stattdessen müsste die Situation herbeigeführt
werden, dass in der UNO keine Blockierer sind. Allerdings wird das Vetorecht von den meisten sowieso nicht
mehr in Anspruch genommen. Aber das Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat wird für uns - so ist
meine Einschätzung, die durch verschiedene Gespräche
in New York durchaus untermauert worden ist - am
Schluss keinen Erfolg bringen.
Man könnte jetzt im Einzelnen erläutern, was man
sich überhaupt vorstellt, ob man eine totale Präsenz mit
Vetorecht erreichen will oder ob man eines der
24 Mitglieder des erweiterten Sicherheitsrats bleibt.
Aber auf jeden Fall wird das nicht zum großen Erfolg
führen.
({2})
- In diesem Zusammenhang bemühe ich noch einmal
den Satz: „Wir sind Papst!“ Keiner ist dagegen, wenn
man ihn haben könnte. Aber ihn so krampfhaft anzustreben und am Schluss eine Bauchlandung zu machen, wofür aber viele Vorleistungen erbracht werden müssten,
und möglicherweise - deshalb habe ich die Reise von
Schröder erwähnt - das Verhältnis zu den USA zu zerstören, weil man in Peking um Zustimmung wirbt, das
halte ich für falsch.
({3})
Wegen der parlamentarischen Zusammenhänge noch
ein Letztes.
Wir haben in den Hearings auch die Parlamentarisierung der Vereinten Nationen stark beraten. Wir werden morgen zu einem Vorschlag kommen. Wir sollten in
diesem Feld all unsere Kräfte aufbieten, um möglichst
viele Parlamentsberatungen zu erreichen. Wir in
Deutschland sind ja schon einen Schritt weiter, weil wir
den Unterausschuss haben. Viele Länder der Welt haben
das aber nicht. Ob wir unser Ziel mit der IPU erreichen
oder ob wir sogar den sehr visionären Schritt eines Weltparlaments - wir haben ja einmal etwas von
600 Mitgliedern gehört - gehen, ist eine zweite Frage.
Ich selbst bin in diesem Punkt mehr Realist. Aber ich
möchte gewisse Dinge anstreben, und dazu gehört die
starke parlamentarische Begleitung all dieser UNO-Fragen. Wenn wir das gemeinsam anstreben und zu einem
guten Ziel kommen, haben wir viel Gutes für Deutschland und natürlich auch für den Parlamentarismus getan.
Danke.
({4})
Für die Bundesregierung erhält nun die Staatsministerin Kerstin Müller das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Rose, auch ich bedanke mich erst einmal für die Blumen.
({0})
- Blümchen waren es aber immerhin. - Ich möchte mich
für die Bundesregierung zunächst bei den Abgeordneten
aller Fraktionen für die wirklich gute Zusammenarbeit
und für die guten Diskussionen zum Thema Vereinte Nationen bedanken.
Sie haben es angesprochen: Die Vereinten Nationen
stehen - darauf hat Kofi Annan in seiner wirklich richtungsweisenden Rede zu Beginn der vorigen Generalversammlung der Vereinten Nationen eindringlich hingewiesen - an einem Scheideweg. Sie stehen es gerade
in diesem Jahr; denn die neuen Herausforderungen, mit
denen wir international konfrontiert sind, die Folgen des
11. Septembers, der internationale Terrorismus, die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und die Gefahren, die von zerfallenden Staaten ausgehen -, haben
uns, glaube ich, vor Augen geführt: Die Vereinten Nationen müssen sich auf diese veränderte Situation einstellen, um weiter handlungsfähig zu bleiben.
Dazu gehört nicht nur eine institutionelle Reform
der Vereinten Nationen, also eine Reform des Sicherheitsrates, des ECOSOC, der Menschenrechtskommission und anderer Institutionen. Diese Reformen sind
kein Selbstzweck, sondern dienen dazu, die Vereinten
Nationen in die Lage zu versetzen, effektiv auf die neuen
Herausforderungen und Gefahren zu antworten. Das
heißt, wir brauchen Vereinte Nationen im Sinne eines effektiven Multilateralismus und wir brauchen Vereinte
Nationen, die die notwendige Legitimität für internationales Handeln vermitteln. Das war die Lehre, die wir aus
den Diskussionen während der Irakkrise gezogen haben.
Damit wir in Zukunft Krisen wie zum Beispiel in Afghanistan und Afrika besser handhaben können, brauchen
wir - ich greife wieder auf Kofi Annan auf der Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres zurück - ein integriertes Konzept für Krisenmanagement und langfristige Friedenskonsolidierung. Wenn wir die dazu
notwendigen Reformen nicht durchsetzen können, dann
wird - ich möchte noch einmal Kofi Annan zitieren das Ausmaß unserer derzeitigen kollektiven Handlungsschwäche in Menschenleben gemessen werden. Ich kann
Kofi Annan in diesem Punkt nur voll unterstützen. Das
macht noch einmal deutlich, vor welchen wichtigen Entscheidungen wir in diesem Jahr stehen.
({1})
Deutschland ist schon heute eine der Hauptstützen der
Vereinten Nationen. Dies wurde zum Beispiel während
16140 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat 2003/2004
deutlich. Unsere konstruktive Mitarbeit hat uns international Ansehen eingetragen. Zum Beispiel haben wir den
nicht ständigen Mitgliedern stärker als bisher Gehör verschafft. Wir haben während unserer Mitgliedschaft eine
der schwersten humanitären Krisen und Menschenrechtskatastrophen weltweit - ich spreche von Darfur erst auf die Tagesordnung des Sicherheitsrates gebracht.
Das Thema Darfur ist heute dort fest verankert; das zeigen gerade die letzten Resolutionen. Ich glaube, es hat
sich gelohnt, in dieser Frage eine der treibenden Kräfte
auf internationaler Ebene zu sein und nicht nachzulassen, in den Vereinten Nationen, im Sicherheitsrat auf
klare Beschlüsse hinzuarbeiten.
({2})
Wir haben ganz konkret gezeigt, dass wir bereit sind,
unsere Verantwortung wahrzunehmen, zum Beispiel
durch Teilnahme an internationalen Friedensmissionen.
An diesen Missionen beteiligen wir uns nicht nur mit
Soldaten der Bundeswehr, sondern auch mit Zivilpolizisten und zivilem Personal. Wenn der Bundestag morgen
einer deutschen Beteiligung an der neuen Friedensmission UNMIS im Südsudan zustimmt - wie es ausschaut,
wird das der Fall sein -, dann wird dies die
17. Friedensmission der Vereinten Nationen sein, an der
wir teilnehmen.
({3})
Ein wesentliches Element ist auch unser Einsatz für
rechtstaatliche Strukturen und Menschenrechte weltweit.
In jüngster Zeit wurde dies durch unsere Beiträge zur Errichtung und Finanzierung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag deutlich. Oder denken Sie an unser Engagement für eine wirksame Zusammenarbeit der
Europäischen Union in den Vereinten Nationen. Wir haben entscheidend dazu beigetragen, dass die EU heute in
den Vereinten Nationen weitestgehend einheitlich auftritt und auf dieser Grundlage einer der wichtigsten
Akteure im Rahmen der Vereinten Nationen geworden
ist.
({4})
Dieses erfolgreiche Engagement war innerhalb des
bestehenden Systems der VN möglich. Aber wir müssen
in diesem Jahr wichtige Schritte weitergehen. Deshalb
ist es gut, dass die Reformdebatte allein im letzten Jahr
durch einige zentrale Dokumente neue Impulse erhalten
hat. Nach Lage der Dinge werden wir es entweder in diesem Jahr schaffen, uns auf substanzielle Reformen zu
verständigen, oder wir werden erst einmal für viele Jahre
zurückgeworfen werden. Ich sage deshalb sehr deutlich:
Wir unterstützen den größten Teil der Vorschläge in dem
Bericht, den Kofi Annan vorgelegt hat.
({5})
Ich nenne als Beispiel den Bereich Terrorismusbekämpfung. Die wichtigste bislang unerledigte Aufgabe
ist hierbei die Verabschiedung einer umfassenden Antiterrorismuskonvention. In diesem Zusammenhang
müssen auch die Forderungen nach einer Reform der
Menschenrechtskommission genannt werden. Diese
wird nicht einfach werden. Darüber wird im Menschenrechtsausschuss schon diskutiert. Diesen Ansatz des Generalsekretärs der Vereinten Nationen begrüßen wir
ebenso nachdrücklich wie eine weitere Stärkung der
Hochkommissarin der VN für Menschenrechte.
Schließlich zur Reform des Sicherheitsrates. Herr
Rose, ich möchte ganz bewusst erst jetzt eine Bemerkung zum Sicherheitsrat machen. Sie haben Recht: Es
geht nicht nur um eine Reform des Sicherheitsrates, sondern es geht auch um viele andere Reformen der Institutionen der Vereinten Nationen. Es kommt darauf an, wie
wir insgesamt auf die neuen Herausforderungen, vor denen wir stehen, reagieren.
Das Thema Reform des Sicherheitsrates kann man
nicht aussparen. Im Gegenteil: Kofi Annan hat wiederholt darauf hingewiesen, dass jede Reform der Vereinten
Nationen unvollständig wäre, die nicht auch den Sicherheitsrat einbeziehen würde. Nach 12 Jahren der Debatte
ist diese Reform entscheidungsreif. Der Sicherheitsrat
wird die in der Zukunft nötige Legitimität nur dann haben, wenn er repräsentativer wird - Afrika zum Beispiel
ist bis jetzt nicht durch einen ständigen Sitz vertreten;
Herr Zöpel, Sie haben andere genannt - und wenn er die
Verantwortungsgewichte, wie sie in der Welt heute
wahrgenommen werden, zumindest besser abbildet. Wir
sind daher dankbar für die Unterstützung, die die Reform von einer ganz großen Mehrheit der Mitgliedstaaten erfährt.
Dieses Jahr geht es aber nicht nur um die Reformen
der VN. Im September dieses Jahres steht noch ein weiteres Ereignis von großer Bedeutung bevor: die Sondergeneralversammlung zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele. Das darf mit Blick auf die
Reformen des Sicherheitsrates und anderer Institutionen
nicht untergehen. Zu diesen Zielen haben sich die Staatsund Regierungschefs im Jahr 2000 verbindlich verpflichtet. Im September wird Bilanz gezogen. Was haben
wir erreicht? Wo stehen wir?
Bei der Umsetzung dieser Ziele haben wir viel geleistet. Als einer der ersten hat die Bundesregierung bereits
im Frühjahr 2001 eine Strategie zur Unterstützung der
Millenniumsziele beschlossen. Dieses „Aktionsprogramm 2015“ ist ein ressortübergreifendes, entwicklungspolitisches Rahmenprogramm zur Armutsbekämpfung. Ich sage aber auch: Wir müssen hier noch
nachlegen.
Ich denke an die entsprechenden Berichte wie den
Sachs-Bericht, der im Januar erschienen ist. In diesem
Bericht wird ausgeführt, dass die Millenniumsziele nur
dann erreicht werden können, wenn die Geberländer ihre
Anstrengungen entscheidend verstärken. Es hat zwar
Verbesserungen gegeben - in China und in Indien etwa
ist die Zahl der Armen zurückgegangen -, aber in vielen
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16141
Teilen der Welt sieht es nicht gut aus, zum Beispiel in
Afrika südlich der Sahara.
Ich sage hier sehr deutlich: Deutschland steht zu dem
Ziel der Vereinten Nationen, bis 2015 den Anteil der
Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt auf 0,7 Prozent zu steigern.
({6})
Dies hat der Bundeskanzler Anfang dieses Jahres auf
dem Weltwirtschaftsforum in Davos noch einmal bekräftigt, indem er versicherte, dass dieses Ziel in einem Stufenplan erreicht werden müsse. Dabei werden sicher
auch innovative Finanzierungsinstrumente eine Rolle
spielen.
Denken Sie bitte an die Zeit!
Zunächst wird es jedenfalls gelingen, die in Barcelona
vereinbarten 0,33 Prozent bis 2006 zu erreichen. Das ist
ein erster wichtiger Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Alle Mitglieder der Vereinten Nationen stehen in diesem Jahr vor
zentralen Entscheidungen. Es geht um die Zukunft der
Vereinten Nationen. Ich kann Ihnen versichern: Die
Bundesregierung wird alles tun, dass dieses Jahr ein Erfolgsjahr für die Vereinten Nationen wird.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Harald Leibrecht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Vereinten Nationen stehen vor großen Veränderungen. Im Herbst soll eines der wichtigsten Reformpakete in der Geschichte der UNO beschlossen und auf den
Weg gebracht werden. Anderthalb Jahrzehnte nach dem
Ende des Kalten Krieges muss die UNO auch angesichts
neuer Herausforderungen in die Lage versetzt werden,
ihre Kernaufgaben, also die Förderung von Entwicklung,
den Schutz der Menschenrechte und die Sicherung des
Weltfriedens, zu erfüllen. Darum muss die UNO handlungsfähiger werden. Kofi Annan hat mit seinem von
ihm vorgeschlagenen Reformpaket einen wichtigen
Schritt in die richtige Richtung getan.
({0})
Deutschland ist einer der großen Verfechter der Vereinten Nationen. Die UNO braucht auch die deutsche
Unterstützung - und dies nicht nur deswegen, weil wir
ein wichtiges Geberland sind. Ich finde es allerdings bedauerlich, dass sich die Diskussion über die UN-Reform
immer wieder nur auf die Frage eines deutschen Sitzes
im Weltsicherheitsrat reduziert.
({1})
Zwar unterstützen auch wir diese Forderung; doch wir
sind der Meinung, ein europäischer Sitz sei die bessere
Lösung. Die EU ist heute aber leider noch nicht in der
Lage, einen solchen Sitz einzunehmen. Deshalb sollte
Deutschland, falls wir einen solchen Sitz bekommen,
diesen in einer Art Treuhänderschaft europäisch wahrnehmen.
({2})
Wichtig bleibt jedoch, dass die Bundesregierung die
UN-Reformen unterstützt, und zwar nicht nur unter der
Bedingung, einen Sitz im Sicherheitsrat zu bekommen.
Dieses Gieren nach solch einem ständigen Sitz treibt immer seltsamere Blüten und ist in der Tat kontraproduktiv.
Ich denke hierbei zum Beispiel an die - wie man fast sagen könnte - Komplizenschaft mit Brasilien und Indien.
Das muss doch andere konkurrierende Länder gegen uns
aufbringen. Ich denke auch an die unsägliche Forderung
des Bundeskanzlers, das EU-Waffenembargo gegenüber
China aufzuheben. Auch die unabgestimmte Zusage des
deutschen UN-Botschafters, die ODA-Quote unbedingt
erfüllen zu wollen, ist ziemlich durchsichtig. Man
könnte fast schon meinen, Deutschland möchte sich den
Sitz im Sicherheitsrat erkaufen.
({3})
Die Bundesregierung misst ihren Erfolg bzw. Misserfolg am deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Wir
Liberale tun das nicht.
Wir meinen, Generalsekretär Annan braucht unsere
Unterstützung dabei, die Menschenrechtskommission in
einen ständigen, verkleinerten und damit auch effektiveren, dem Sicherheitsrat gleichberechtigten Menschenrechtsrat umzuwandeln. Wir begrüßen diese Umwandlung; denn Menschenrechte sind nun einmal die Basis
für Frieden und Freiheit.
({4})
Wir unterstützen Kofi Annan auch darin, den ECOSOC
aufzuwerten und wieder zu einem handlungsfähigen Instrument in der Entwicklungspolitik zu machen. Ein
stärkeres Engagement der reichen Staaten bei der Entwicklung der ärmeren Länder ist ein Muss. Kofi Annan
hat ein mutiges und wichtiges Reformpaket angestoßen.
Er braucht und verdient dabei unsere Unterstützung, und
zwar für das gesamte Paket und nicht nur für Teile.
Der UN-Generalsekretär ist ja leider - wir haben das
vorhin schon gehört - ausgerechnet jetzt, in dieser wichtigen Reformphase, mit schwerwiegenden Vorwürfen
konfrontiert. Das wird von seinen Kritikern leider als
willkommener Anlass gesehen, ihn zu schwächen und zu
beschädigen. Natürlich stehen diese Vorwürfe des
16142 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Missmanagements innerhalb der UNO im Raum und
müssen lückenlos aufgeklärt werden.
Jetzt ist es umso wichtiger, dass gerade auch die starken UN-Mitgliedstaaten diese Reformen unterstützen
und so die UNO voranbringen. Es geht in den kommenden Monaten um die Zukunft der Vereinten Nationen,
um Entwicklung, Frieden und Menschenrechte auf der
ganzen Welt, und eben nicht nur um Sicherheitsratsambitionen dieser Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef
Dzembritzki.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist ein wohltuender Nachmittag, wenn
man ihn einmal unter dem Gesichtspunkt „wenig Konflikte und viel Harmonie“ betrachtet. Ich denke, dass
auch die kritischsten Beiträge der Opposition letztendlich den breiten Konsens erkennen lassen. Damit wird
unterstrichen, dass wir alle, die wir hier im Parlament
zusammensitzen, in den Vereinten Nationen doch den
Garanten sehen, der für die Zusammenarbeit weltweit
der wichtigste Partner, die wichtigste Institution ist.
({0})
Deswegen ist es auch selbstverständlich, dass wir ein
großes Interesse daran haben, dass der Reformbericht
und die Reformideen von Kofi Annan eingebracht und
nach Möglichkeit auch umgesetzt werden.
Man muss dabei allerdings auch immer Realist bleiben. Wir haben 191 Partner, die letztendlich diesen
Reformprozess in der Generalversammlung mit uns zu
bestreiten haben. Wir müssen auch erkennen, dass zwar
mit dem Einbringen ein Hauptteil der Arbeit gemacht ist,
wir aber dennoch mehr am Anfang als am Ende des Prozesses stehen. Ich stimme den Kollegen Dr. Rose und
Leibrecht zu, dass es dabei nicht nur um den Sicherheitsrat gehen kann. Ich denke - wir haben das ja auch im
Unterausschuss behandelt -, dass Fragen, die zur Wirtschaftspolitik anstehen - Stichwort ECOSOC -, Fragen,
die im Arbeitsbereich anstehen und Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer betreffen, sowie Fragen, die mit der
Vielfalt der Kulturen weltweit zusammenhängen,
Schwerpunktaufgaben sind, die mit zur UN gehören.
Wenn wir die Globalisierung ein Stückchen humaner gestalten wollen, dann setzen wir auch dabei die Hoffnungen auf die Vereinten Nationen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es dabei
nicht hilfreich und im Grunde auch nicht fair - aber es
gehört vielleicht zur Debatte, dass sie dann doch nicht so
ganz harmonisch ist -, wenn etwa unterstellt wird, die
Bundesrepublik würde sich krampfhaft um einen Sitz im
Sicherheitsrat bewerben. Ich denke - das ist hier in der
Diskussion auch schon deutlich geworden -, bei der
Leistung, bei dem Engagement, bei der Verantwortung,
die vonseiten der Bundesrepublik wahrgenommen wird
und auch weiterhin wahrgenommen werden wird, ist es
ein vernünftiger Ansatz, eine Mitarbeit im Sicherheitsrat
anzubieten.
Ich denke, lieber Herr Kollege Leibrecht, dass Sie
noch einmal überlegen sollten, ob ein solcher Vorhalt
wie Komplizenschaft mit Brasilien oder Indien richtig
ist. Seien wir doch zufrieden, dass es zunehmend gelingt, eine gleiche Augenhöhe herzustellen. Es ist doch
ein vernünftiger Vorgang, wenn dabei die Partnerschaft
mit Ländern wie zum Beispiel Brasilien und Indien gesucht wird.
({2})
Ich würde das nicht nur auf die Frage des Sicherheitsrates beschränken, sondern grundsätzlich so sehen. Es ist
ja - ich sage das einmal so salopp - das große Pfund der
Vereinten Nationen, dass sie eine Institution sind, in der
Industrieländer und Entwicklungsländer, in der Nord
und Süd auf gleicher Augenhöhe sprechen können
- wenn es denn alle wollen - und in der die Wertschätzung aller miteinander in einer Gleichberechtigung stattfindet. Wir wollen doch auf jeden Fall, dass dies mit der
Reform der UN noch einmal unterstrichen wird. Deswegen finde ich solche Vorhalte nicht hilfreich.
Die Staatsministerin hat es bereits angesprochen,
liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben uns der veränderten Situation nach dem 11. September zu stellen.
Dabei drängt sich uns, wenn wir die Intensität der zunehmenden Brutalität zur Kenntnis nehmen, die entscheidende Frage auf, wer unter welchen Bedingungen die
Legitimation hat, von außen in die inneren Belange eines
Staates einzugreifen. Kann die Souveränität eines Staates heute immer noch höher bewertet werden als massive
Menschenrechtsverletzungen? Darüber haben wir bereits diskutiert. Solche Fragen erfordern neue Normen,
die Orientierung bieten und zur internationalen Sicherheit beitragen, um in Situationen, in denen ein Eingreifen im Sinne der Menschenrechte dringend notwendig
ist, willkürliches Handeln zu verhindern.
({3})
Ich glaube, dass nur die Vereinten Nationen hierfür einen
Maßstab, ein Gerüst und Orientierung bieten können.
Sie haben die Friedensmissionen angesprochen. Ich
denke, wir werden es uns immer wieder schwer machen
müssen, über Friedensmissionen zu entscheiden. Der
Kollege Zöpel hat bereits deutlich gemacht, wer sich
zurzeit um Friedensmissionen kümmert. Die Ansprüche
und Verpflichtungen sind hoch. Wenn Sie, lieber Kollege
Dr. Rose, die Beteiligung an Friedensmissionen mit dem
Ziel in Zusammenhang bringen, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gemäß der ODA-Quote aufzuwenden,
dann kann ich das nicht nachvollziehen. Denn der materielle Anteil, der von der Bundesrepublik zu leisten ist,
kann nicht unmittelbar mit den moralischen Verpflichtungen korrespondieren, die wir zu erfüllen haben. Bei
aller Notwendigkeit, uns um die Steigerung unseres Anteils an Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit zu
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16143
bemühen, warne ich immer wieder davor, die materielle
Ausstattung zum alleinigen Grundsatz der Entwicklungszusammenarbeit zu machen.
({4})
Ich denke besonders an das Beispiel der Friedensmissionen. Wenn es einmal gelänge, durch Friedensmissionen
und internationale Zusammenarbeit zum Beispiel im
Kongo eine Befriedung herbeizuführen, dann würden
wir es schaffen, dass eines der - an seinen Bodenschätzen und verfügbaren natürlichen Ressourcen gemessen reichsten Länder der Welt zur Prosperität des afrikanischen Kontinents beitragen könnte. Das wäre ein Traum,
den Sie auch auf Angola und viele andere Staaten übertragen können.
Insofern kommt mir der Bericht von Jeffrey Sachs
in der Regel ein bisschen zu kurz, liebe Frau Staatsministerin. In dem Bericht werden zu Recht erweiterte Anstrengungen der Industrienationen gefordert. Er greift
aber zu kurz, wenn es darum geht, die Länder des Südens daran zu erinnern, dass auch sie Verpflichtungen
haben und dass die nationalen Ressourcen nicht bei so
genannten politischen Eliten landen dürfen, sondern der
Bevölkerung zur Verfügung stehen müssen.
({5})
Je mehr wir erreichen, dass diese Ressourcen dem Wohlstand der Menschen zugute kommen, desto weniger Bedeutung wird eines Tages die Frage haben, wie hoch der
jeweilige Anteil an Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit sein muss.
Ich denke, dass beide gefordert sind: der Süden wie
der Norden. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, über eine
reformierte UN noch stärker dazu beizutragen, als es bisher möglich war.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat die Abgeordnete Claudia Nolte das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erlauben Sie mir, noch einmal kurz auf den
Beratungsgegenstand, nämlich den Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten Nationen in den
Jahren 2002 und 2003, einzugehen. Ich meine nämlich,
dass auch der Bericht selber einer Würdigung bedarf. Er
ist eine ausgesprochene Fleißarbeit, für die den zuständigen Mitarbeitern Dank gebührt.
({0})
Der Bericht bietet sehr viele Informationen und macht
einige erfreuliche Entwicklungen deutlich.
So hat sich die Beteiligung deutscher Mitarbeiter im
Mittelbau der UN deutlich verbessert und auch die Bemühungen zur Unterstützung der Bewerbungen Deutscher bei Gremien der VN haben deutliche Wirkung gezeigt. Das ist zu begrüßen; wir haben dies schließlich
immer wieder eingefordert. Bei den Spitzenpositionen
stellt sich die Situation allerdings nicht ganz so gut dar.
Ich denke, in dem Bericht wird auch sehr deutlich,
wie stark sich Deutschland in den verschiedenen Gremien der VN einbringt. Sie gestatten sicherlich, dass ich
hinzufüge, dass das, was wir dort leisten, auch ein Ausdruck der langjährigen außenpolitischen Kontinuität aller Bundesregierungen und der sie tragenden Fraktionen
im Deutschen Bundestag ist.
({1})
Der Bericht hat aber eine Schwäche: Er ist zu wenig
politisch unterlegt. Wir dagegen machen hier genau das,
was eigentlich gefordert wäre, nämlich eine politische
Debatte zu führen. Schon im letzten Jahr wurde deutlich,
dass die VN unter dem Eindruck der Reformdebatte
stehen. Daher haben wir eigentlich erwartet, dass in einem solchen Bericht irgendwo deutlich wird, wo die
Bundesregierung Schwerpunkte setzt und wie ihre Reformvorstellungen aussehen. Das vermissen wir leider.
Herr Dzembritzki, das, was Sie hierzu gesagt haben, unterstütze ich voll. Es ist wichtig, solche politischen Klarstellungen vorzunehmen.
In dem gesamten umfangreichen Bericht lässt sich
nur eine politische Erklärung finden, und zwar in Form
eines Zitates des Bundeskanzlers. Es ist ziemlich leicht
zu erraten, zu welchem Punkt. Ich möchte nur einen Satz
daraus zitieren:
Deutschland ist bereit, als ständiges Mitglied des
Sicherheitsrates Verantwortung zu übernehmen.
Das ist das Credo. Aber das ist, auch wenn von der Regierungskoalition etwas anderes bekundet wird, so ziemlich das Einzige, was man in den letzten Jahren zur Reformdebatte vernommen hat. Das ist zu wenig.
({2})
Herr Zöpel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie deutlich gemacht haben, dass auf der Koalitionsseite der Idealismus
nicht ganz ausgestorben ist.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass derzeit ein
europäischer Sitz im VN-Sicherheitsrat nicht machbar
ist. Sicherlich wird ein deutscher Sitz im VN-Sicherheitsrat nicht an uns scheitern. Aber auch hier noch einmal: Die Art und Weise, wie die Bundesregierung versucht, dies durchzusetzen, ist eigentlich abträglich. Es ist
eine Art Kampagne geführt worden, die uns nicht gerade
Unterstützer und Freunde gebracht hat.
({3})
Man muss erst recht Zweifel anmelden, wenn man bedenkt, wie wenig der Bundeskanzler in die transatlantischen Beziehungen investiert. Man hat manchmal fast
den Eindruck, dass er glaubt, ein Sitz im VN-Sicherheitsrat sei leichter gegen die Amerikaner als mit ihnen
zu erreichen. Wir brauchen doch nur die aktuelle Debatte
16144 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
über die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber
China als Beispiel zu nehmen. Ohne Abstimmung mit
den Amerikanern wieder einen neuen Konflikt vom
Zaun zu brechen ist geradezu kontraproduktiv. Unabhängig von der Frage eines deutschen Sitzes im VN-Sicherheitsrat ist diese Politik schädlich für Deutschland.
({4})
Ich finde, die Fülle des vorliegenden Berichts macht
zum einen deutlich, wie stark die Sichtweise der Bundesregierung auf die Frage eines Sitzes im VN-Sicherheitsrat verengt ist, und zum anderen, wie notwendig Reformen sind. Der Bericht, den der Generalsekretär der
Vereinten Nationen, Kofi Annan, vorgelegt hat, ist sehr
bemerkenswert und zielführend; denn der Generalsekretär belegt seine Reformüberlegungen anhand der Ergebnisse der vorhergehenden großen Weltkonferenzen und
macht den Handlungsbedarf und die Notwendigkeit von
Reformen deutlich. Seine Vorschläge für den ECOSOC
und für die Menschenrechtskommission sind sehr konkret. Ich sage für meine Fraktion, dass wir den Vorschlag, einen Menschenrechtsrat einzurichten, ausdrücklich begrüßen und unterstützen.
({5})
Der Generalsekretär hält sich mit Vorschlägen zur
Reform der VN-Generalversammlung auffallend zurück und weist zu Recht darauf hin, dass es in erster
Linie die Verantwortung der Mitgliedstaaten ist, hierzu
Vorschläge zu machen und sich ein Stück weit zu disziplinieren. Er macht klugerweise auch keinen Vorschlag
zur Reform des VN-Sicherheitsrates und verweist lediglich auf das Ergebnis des hochrangigen Panels.
Ich möchte zum Schluss noch einen Gedanken hervorheben, dem sich Kofi Annan in seinem Bericht ausführlich widmet. Das ist die Frage der Anwendung von
Gewalt im Lichte des Völkerrechts. Natürlich legt er ein
klares Bekenntnis zum Multilateralismus ab. Ich finde es
trotzdem bemerkenswert, dass er anhand der Frage, an
welchen Kriterien Gewaltanwendung geprüft werden
soll, deutlich macht, dass die Mitgliedstaaten sowohl in
der VN-Generalversammlung als auch im VN-Sicherheitsrat eine große Verantwortung für die Sache haben
und nicht aus nationalem Interesse eigene Überlegungen
in Entscheidungsprozesse einführen dürfen. Es geht ihm
vielmehr darum, deutlich zu machen: Wenn Länder ihrer
Pflicht, ihre eigene Bevölkerung zu schützen, nicht
nachkommen - ich denke an Länder, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, in denen Genozide stattfinden -, dann darf die Weltgemeinschaft die
Augen davor nicht verschließen, sondern dann muss die
Schutzpflicht auf sie übergehen. Wir sind also gefordert, gegen solche Unrechtsregime vorzugehen. Ich
glaube, der Grund für den großen Verlust an Vertrauen in
die Vereinten Nationen in den letzten Jahren ist, dass die
Völkergemeinschaft über diesen Punkt keine Einigung
erzielt hat. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir uns
mit dieser Frage hier auseinander setzen.
({6})
Ich teile die Auffassung meiner Kollegen über die
parlamentarische Begleitung der Arbeit der VN. Ich
freue mich daher sehr auf die weitere Zusammenarbeit in
unserem Unterausschuss.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Conny Mayer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben in der bisherigen Debatte viel von den
momentanen Herausforderungen für die Vereinten Nationen gehört. Wer jetzt glaubt, es sei alles gesagt und
wir könnten nach Hause gehen,
({0})
den bitte ich trotzdem, mir zuzuhören. Ich möchte nämlich noch ein wichtiges Thema ansprechen, das bisher
nur angerissen wurde. So hat es Herr Dzembritzki leider
nur zum Schluss seiner Rede behandelt, ebenso Frau
Staatsministerin Müller.
({1})
Unsere zentrale Herausforderung im Rahmen der Armutsbekämpfung ist es, die Millenium Development
Goals, die MDGs, bis zum Jahre 2015 noch zu erreichen. Ich warne vor der verkürzten Sicht, nur das UNDP
und nicht auch andere Bereiche der VN seien zuständig.
Es gibt im großen System der VN nämlich eine ganze
Reihe von Sonderorganisationen, Fonds und Programmen, durch die dieses Ziel erreicht werden soll.
Für uns und die Bundesregierung muss es in dieser
Debatte um die zentrale Frage gehen: Wie kann es gelingen, die Entwicklungszusammenarbeit der VN als
System leistungsfähiger zu machen? Bisher können wir
nicht - Frau Staatsministerin Müller, Sie haben darauf
hingewiesen - optimistisch sein. Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, ist nicht zurückgegangen. In manchen Teilen der Erde nimmt der Anteil
dieser Menschen sogar zu. Wir sind von dem Ziel, die
Krankheit Aids weltweit wirklich in den Griff zu bekommen, noch weit entfernt.
Wenn sich unsere Entwicklungsarbeit und die Entwicklungsarbeit der VN nicht ändern, dann hungern
auch 2015, also in zehn Jahren, viele Millionen, ja Milliarden Menschen auf der Erde. Wenn sich nichts ändert,
dann wird der Anteil derer, die sich täglich mit HIV infizieren, nicht geringer werden. Wenn sich nichts ändert,
dann werden wir es nicht schaffen, die MDGs zu erreichen.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16145
Dr. Conny Mayer ({2})
Liebe Frau Müller, Sie haben zu diesem Thema vorhin gesagt: Da müssen wir noch nachlegen. Ich habe das
so verstanden, als wollten Sie sehr selbstkritisch sagen:
Da muss auch die Bundesregierung noch nachlegen.
Dazu kann ich nur sagen: Recht haben Sie; beim Thema
Entwicklungszusammenarbeit kann und muss die Bundesregierung noch nachlegen.
({3})
Trotz aller Schwierigkeiten leisten die VN einen ganz
wichtigen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit, zur
Erreichung der MDGs. Kofi Annan hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von wichtigen Reformen angestoßen. Ich möchte noch ein paar Reformen im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit ansprechen, die noch
nicht abgeschlossen sind:
Die Koordinationsfunktion des UNDP ist noch
nicht optimal. Wir brauchen klarere Profile und Beschreibungen der einzelnen Aufgaben.
({4})
Die Koordination in den Partnerländern, in den Ländern
des Südens, muss deutlich besser werden.
({5})
Auch die Koordination der Arbeit der einzelnen
VN-Töchter, also der Unterorganisationen, Fonds und
Programme, und die Koordination mit den anderen Geberländern müssen besser werden.
({6})
Das Gleiche gilt für die Qualität der Arbeit und die
Kontrolle. Auch hier gibt es Verbesserungspotenzial.
Deshalb ist es schade, dass in dem Bericht der Bundesregierung - hier will ich Claudia Nolte unterstützen die MDGs so gut wie gar nicht besprochen werden. Das
ist nur eine reine Aufzählung dessen, was es an Unterorganisationen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit gibt.
Ich will einen weiteren Punkt ergänzen. Wir müssen
uns darüber im Klaren sein, dass die VN immer nur so
gut arbeiten, wie die Mitgliedstaaten dies zulassen. Das
gilt natürlich auch in der Frage der Erreichung der
MDGs. Wenn wir alle miteinander der Meinung sind,
dass die Vereinten Nationen effizienter werden sollten,
dann sollten wir hier alles tun, um unseren deutschen
Beitrag dazu gemeinsam zu leisten. Die CDU/CSUFraktion jedenfalls ist der Meinung, dass es bei der entwicklungspolitischen Arbeit der Vereinten Nationen
noch Verbesserungspotenzial gibt. Wir haben uns auch
mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung gewandt, um zu erfahren, was die Bundesregierung tut, um
Einfluss darauf auszuüben, dass die Entwicklungszusammenarbeit der Vereinten Nationen besser wird.
Ich will einen allerletzten Punkt ansprechen. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen
alle Entwicklungsprobleme weltweit lösen können. Es
wird immer eine zentrale Frage sein, eine entwicklungspolitische, aber ein Stück weit natürlich auch eine außenpolitische, wie viel unserer Entwicklungsgelder wir
auch künftig bilateral ausgeben, inwieweit wir die Gelder bilateral ausgeben, und wie viele Gelder wir an höhere Ebenen, an die EU, aber natürlich auch an die Vereinten Nationen, abgeben. Für die CDU/CSU-Fraktion
werbe ich in diesem Hohen Hause dafür, nicht zu glauben, es könne die Lösung sein, alle Gelder an die VNOrganisationen zu geben.
({7})
Ich werbe dafür, auch künftig eine bilaterale Entwicklungsarbeit zu betreiben.
Ich danke Ihnen.
({8})
Danke schön. - Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/5144 zu dem Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den
Vereinten Nationen in den Jahren 2002 und 2003. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung auf
Drucksache 15/4481 eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerald
Weiß ({0}), Uwe Schummer,
Dr. Michael Meister, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Gerechtigkeit durch soziale Kapitalpartnerschaft - Rahmenbedingungen für Vermögensbildung, Investivlöhne und Mitarbeiterbeteiligung verbessern
- Drucksache 15/5104 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Gerald Weiß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es zahlt sich aus, wenn aus Mitarbeitern Mitunternehmer werden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung in Nürnberg hat uns die Zahlen geliefert: Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung sind produktiver als Betriebe ohne Mitarbeiterbeteiligung.
16146 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Gerald Weiß ({0})
Neben ihren unbestrittenen wirtschaftlichen Vorteilen
hat die Mitarbeiterbeteiligung aber auch noch eine gesellschaftspolitische, ja eine sozialethische Dimension.
Der Berliner Moraltheologe Professor Andreas LobHüdepohl hat bei einem Gespräch mit der Arbeitnehmergruppe unserer Fraktion kürzlich gesagt, was aus seiner
Sicht die entscheidenden Ressourcen sind, die die Freiheit und die Autonomie des Einzelnen sichern
({1})
- ein bisschen müssen Sie den mit uns teilen -: Familie,
Erwerbsarbeit und Eigentum.
Der vor einigen Wochen vorgelegte 2. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt, dass Sie,
meine verehrten Damen und Herren der Koalition, auf
diesen drei zentralen Feldern - Familie, Arbeit, Eigentum - versagt haben: Kinder sind ein Armutsrisiko. Die
Armutsquote bei Familien ist zwischen 1998 und 2003
von 12,6 auf 13,9 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau; sie liegt bei über 5 Millionen.
Arbeitslosigkeit ist ein Armutsrisiko. Die Verteilung der
Vermögen ist nicht gleichmäßiger, sondern ungleichmäßiger geworden. 10 Prozent der Haushalte verfügten
2003 über 47 Prozent des Vermögens; fünf Jahre zuvor
waren es 45 Prozent. Es fällt nicht schwer, daraus einen
Schluss zu ziehen: Rot-Grün hat vermögenspolitisch und
eigentumspolitisch völlig versagt. Das ist das Resümee.
({2})
Anstatt klassenkämpferische Sprechblasen abzusondern, um von Ihrem Versagen abzulenken, sollten Sie
den vorliegenden Antrag der Union unterstützen. Er hat
den Vorzug, auf einem entscheidenden Feld ganz konkret zu sein. Aber wir sind skeptisch, ob Sie sich an
Maßnahmen der Eigentumsförderung beteiligen, ob Sie
mitmachen, wenn es darum geht, Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer stärker am Produktivkapital zu beteiligen. Denn wir wissen ja, dass Sie die Eigenheimzulage, die ja auch ein Eigentumsförderungsinstrument ist
- dies vor allem, kein Wohnbauprogramm -, abschaffen
wollen.
Wenn wir dafür eintreten, breiteren Schichten die Bildung von Eigentum zu ermöglichen, sind das keine Umverteilungsträume, sondern es geht um die Förderung eigenverantwortlicher Eigentumsbildung.
({3})
Auch wenn der Begriff „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand“ mittlerweile etwas angestaubt klingen
mag, ist die Idee, die dahinter steckt, hochaktuell. Sie ist
allemal aktuell vor dem Hintergrund der Globalisierung.
Wir erleben, dass das Kapital mobil ist, die Arbeitnehmer im Wesentlichen aber auf ihren Standort angewiesen
sind. Wir erleben einen steigenden Kostendruck und
zum Teil einen ganz dramatischen Druck auf die Löhne,
eine Dumpinglohn-Problematik. Zugleich erleben wir
aber auch bei einigen Unternehmen - beileibe nicht bei
allen - steigende Gewinne. Wir erleben ein Sinken der
Lohnquote und steigende Kapitaleinkommen. Darauf
gibt es eine einzige folgerichtige Antwort: Wir müssen
uns um eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg,
am Kapital und an den Kapitaleinkommen bemühen jedenfalls mehr als bisher.
({4})
Das ist auch beschäftigungspolitisch geboten; denn
wir gewinnen ja Räume für mehr Flexibilität. So können
wir die Chance eröffnen, die Arbeitskosten zu begrenzen, und gleichzeitig eine faire Teilhabe der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg sichern.
({5})
Für diese Politik gibt es prominente Fürsprecher. Beispielsweise hat Professor Sinn vor kurzem gesagt: Die
Arbeitnehmer brauchen ein zweites Standbein; zu dem
Lohneinkommen muss ein Kapitaleinkommen als Einkommensquelle hinzutreten. Dies spricht für eine Politik
der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand und für
eine Mitbeteiligung an den Unternehmen; dafür ist es
noch nicht zu spät. Das macht Sinn, und weil es Sinn
macht, bitten wir Sie mitzutun.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Antrag, den die CDU/CSU-Fraktion
vorgelegt hat,
({0})
steht unter dem Motto „Persönliche Freiheit wird durch
Eigentum erst schön“. Nun haben wir nichts gegen Eigentum. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang aber an
die Debatte, die wir heute Morgen geführt haben, erinnern: Zu dem persönlichen Eigentum gehört auch die soziale Verpflichtung.
({1})
Zweitens. Herr Kollege Weiß, Sie und Ihre Fraktion
haben vor fast vier Jahren den Antrag „Kapitalteilhabe
stärken - Vermögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht ausbauen“ vorgelegt.
({2})
In dem heute vorgelegten Antrag sagen Sie, es sei nichts
passiert. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen - einigen in Ihrer Fraktion mag es möglicherweise entgangen
sein -: Mit dem Altersvermögensgesetz, das wir 2001 im
Deutschen Bundestag verabschiedet haben, und dem Alterseinkünftegesetz, das wir vor einem Jahr beschlossen
haben, haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen
eine umfassende Förderung der Vermögensbildung für
Arbeitnehmer auf den Weg gebracht.
({3})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16147
- Das macht niemand? Dazu werde ich noch etwas sagen, Kollege Müller.
Diese Förderung ist konsequent mit der Altersvorsorge verbunden. Das Fördervolumen wächst in den
nächsten Jahren auf zweistellige Milliardenbeträge. Dieses Vermögensbildungsprogramm greift. Wir haben einen nie da gewesenen Zuwachs im Bereich der kapitalgedeckten betrieblichen und privaten Altersvorsorge.
Das ist Vermögensbildung.
Kollege Müller, Sie sagten gerade, das greife nicht.
Alle Mitglieder des Finanzausschusses des Deutschen
Bundestages haben vor wenigen Tagen ein Schreiben
und eine Broschüre des Gesamtverbands der Deutschen
Versicherungswirtschaft erhalten. Darin können Sie, soweit Sie es noch nicht getan haben, nachlesen, dass in
den letzten drei Jahren insgesamt über 15 Millionen
Altersvorsorgeverträge abgeschlossen wurden. Diese
Gesetze haben - meine Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU-Fraktion, Sie wissen, dass Sie beiden Gesetzen nicht zugestimmt haben - Wirkung entfaltet. Das
sollten Sie wenigstens zur Kenntnis nehmen.
Nun möchten Sie auch einmal wieder etwas für die
Vermögensbildung tun. Viel fällt Ihnen dazu nicht ein.
Der vorgelegte Antrag ist sozusagen ein zweiter Aufguss
dessen, was Sie 2001, in der letzten Wahlperiode, vorgelegt haben.
({4})
Bereits im Jahre 2001 wollten Sie den Freibetrag nach
§ 19 a des Einkommensteuergesetzes und die Einkommensgrenzen nach dem Fünften Vermögensbildungsgesetz erhöhen. Wir haben das einmal durchgerechnet:
Würde man diesen Vorschlag folgen, kostete das alleine
600 Millionen Euro. Hinsichtlich der Frage, wie Sie das
finanzieren wollen, bleibt Ihr Antrag völlig im Nebulösen. Ich darf daran erinnern, dass gegenwärtig allein
mindestens vier der unionsgeführten Länder keinen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen. Im Zusammenhang mit der Absenkung der Körperschaftsteuer fordern
Sie eine hundertprozentige Refinanzierung. In diesem
Zusammenhang sehe ich keine Deckungsvorschläge. Sie
sind wieder sehr spendabel. Vielleicht hören wir im
Laufe des weiteren Beratungsverfahrens etwas darüber,
wie Sie sich die Gegenfinanzierung vorstellen.
Neu ist in Ihrem Antrag, dass Sie - ich zitiere - „die
Rahmenbedingungen für Betriebsübernahmen durch
Belegschaften“ verbessern wollen. Es bleibt im Dunkeln, wie das geschehen soll, wahrscheinlich nicht durch
feindliche Übernahme. Vielleicht können Sie im weiteren Verfahren auch dazu etwas sagen. Das wäre revolutionär, Herr Kollege. Leider bleibt völlig offen, wer das
machen soll. Sollen das die Tarifparteien vereinbaren,
deren Gestaltungsfreiheit Sie bei jeder sich bietenden
Gelegenheit stärker einschränken wollen? Soll es der
Gesetzgeber tun?
Ich kann Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, nicht ersparen, auf viele Widersprüchlichkeiten Ihres Antrages zu verweisen. Sie fordern, dass
der Staat in einer sozialen Marktwirtschaft nur die wirklich Betroffenen finanziell unterstützt. Das ist in Ordnung. Eine Förderung mit der Gießkanne - das haben
Sie bei irgendeiner Gelegenheit gesagt - entmündigt die
Bürger und ist nicht finanzierbar. Richtig so. Warum
aber beachten Sie diesen Grundsatz in Ihrem Antrag
nicht? Warum wollen Sie mit einer Anhebung der Einkommensgrenzen im Vermögensbildungsgesetz erreichen, dass 90 Prozent aller Arbeitnehmer gefördert werden? Bedürfen 90 Prozent aller Arbeitnehmer einer
Arbeitnehmersparzulage, und das vor dem Hintergrund
der Situation der öffentlichen Haushalte? Das können
Sie nicht ernsthaft wollen. Ich vermute, dass der Antrag
eher ein Erinnerungsposten ist: Die Opposition muss
sich, da sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen
kann, wenigstens einmal im Laufe einer Wahlperiode zur
Frage der Vermögensbildung äußern. Bei jeder Gelegenheit fordern Sie eine radikale Vereinfachung des Einkommensteuerrechts. Ist die Ausdehnung der Förderung
nach § 19 a Einkommensteuergesetz, eine der kompliziertesten Regelungen des Einkommensteuerrechts, damit vereinbar? Wie verträgt sich Ihr Antrag mit dem,
was Sie in der Vergangenheit gefordert haben? Wo bleibt
die Kontinuität?
Ich kann mich an die Zeit erinnern, als Herr Uldall
noch Mitglied des Deutschen Bundestages war.
({5})
- Ja, das ist unbestritten. Aber hier geht es um die Kontinuität der Vorschläge der Union. - Herr Uldall hat damals gesagt: Wir wollen durch die Streichung der Vermögensbeteiligung erreichen, dass wir 2 Milliarden DM
mehr für die Finanzierung der Steuervereinfachung zur
Verfügung stellen können. In Ihren Petersberger Beschlüssen war vorgesehen, § 19 a Einkommensteuergesetz zu streichen.
({6})
Wollen Sie diese Regelung nun ausweiten, um sie bei
nächster Gelegenheit wieder streichen zu können? Ich
sehe in der Politik der Union zur Vermögensbildung der
Arbeitnehmer keine Kontinuität.
({7})
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum Thema
Altersvorsorge sagen - auch hier haben Sie nichts dazugelernt -:
({8})
In Ihrem Antrag fordern Sie, Mitarbeiterbeteiligung und
Altersvorsorge gleichzusetzen und beides in gleichem
Umfang zu fördern. Das ist unverantwortbar. Schauen
Sie sich einmal an, was Wissenschaftler dazu sagen und
was selbst der Bundesverband der Arbeitgeberverbände
dazu sagt. Sie weisen immer wieder darauf hin, dass die
direkte Beteiligung an einem Unternehmen nicht zum
Zwecke der Altersvorsorge geeignet ist. Wenn es um
Altersvorsorge geht, braucht man Risikostreuung.
16148 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Andernfalls - das haben wir aufgrund diverser Beispiele
aus dem angelsächsischen Raum zur Kenntnis nehmen
müssen - kann es dazu kommen, dass Pensionäre, wenn
das Unternehmen, in dem sie gearbeitet haben, Pleite gegangen ist, keinerlei Ansprüche mehr haben.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu unserem
Altersvermögensgesetz machen; denn es ist erneut bestritten worden, dass es greift. Ich sage Ihnen voraus:
Die so genannte Riester-Rente wird ein Erfolg werden.
({9})
- Sie können sich gerne zu Wort melden, Kollege
Seiffert. - Lassen Sie mich aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. April dieses Jahres zitieren:
Die lange Zeit geschmähte Riester-Rente entwickelt sich allmählich zu einem Erfolgsprodukt.
({10})
Der Frankfurter Finanzvertrieb Deutsche Vermögensberatung ... hat allein im ersten Quartal dieses
Jahres fast drei Mal so viele Riester-Policen ... vermittelt wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
({11})
- Also, bitte. Ich lese nur vor, was uns der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft mitgeteilt hat.
({12})
- Das sind abgeschlossene Verträge, nicht irgendwelche
Optionen.
Lassen Sie mich nun zu Ende ausführen: Herr Pohl
hat gesagt, er gehe davon aus, dass das Jahr 2005 ein
Riester-Jahr wird.
In Ihrem Antrag fordern Sie die steuerliche Entlastung von Arbeitnehmern. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist Ihnen völlig entgangen, dass
wir mit unserer Steuerreform 2005 in fünf Stufen den
Eingangssteuersatz auf 15 Prozent und den Höchststeuersatz auf 42 Prozent gesenkt haben und dass wir durch
unsere Steuersenkungen insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Familien, aber auch
mittelständische Unternehmen entlasten? Alle Steuerzahler werden durch die seit dem Regierungswechsel in
Kraft gesetzten steuerlichen Maßnahmen bis zum Jahr
2009 jährlich in einem Volumen von über 59 Milliarden
Euro entlastet. Wollen Sie noch mehr? Dann müssen Sie
aber auch erklären, wie Sie das finanzieren wollen. Sie
sagen zwar immer, die Steuersätze müssten noch weiter
gesenkt werden, aber dann, wenn ein konkreter Vorschlag gemacht wird, haben Sie nichts in der Hand, geben nur fromme Sprüche von sich und fordern, dass
Steuersenkungen 100-prozentig kompensiert werden
müssen.
Familien, Arbeitnehmer und die mittelständische
Wirtschaft sind die Hauptgewinner unserer Steuerreform; das ist unstrittig.
({13})
- Ja, das wissen sie auch. - Dadurch, dass allein die Arbeitnehmer in einer Größenordnung von 47 Milliarden
Euro entlastet werden, ergeben sich für sie größere
Spielräume zur Vermögensbildung. Das ist unser Beitrag
zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand.
({14})
Nach unserer Einschätzung geht Ihr Antrag weitgehend
an der Realität vorbei.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Ausführungen des Kollegen Schild zeigen,
dass die Federführung bei diesem Antrag eigentlich
falsch gewählt ist; herausgekommen ist eine technokratische Beurteilung von echten Chancen. Eigentlich müsste
die Federführung hierfür beim Wirtschaftsausschuss liegen; denn Investivlöhne - die Möglichkeit von Mitarbeiterbeteiligungen, die Möglichkeit von Vermögensbildung im eigenen Betrieb - sind durchaus auch
wirtschaftspolitisch zu betrachten. Dies hat nicht nur
eine kleinkrämerisch-finanzpolitische Dimension.
({0})
Ich glaube sogar, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund,
der einen massiven Mitgliederschwund zu beklagen hat,
wenn er die Möglichkeiten erkennen würde, die sich in
dieser Diskussion zeigen, die wir heute führen, eventuell
noch Zukunftschancen in Deutschland hätte.
Ich glaube, dass wir, wenn wir die Menschen in den
Betrieben mit Investivlöhnen ausstatten, mehrere positive Effekte bewirken können. Zum Ersten gibt es die
Möglichkeit, Gehaltsgewinne für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu realisieren, nicht als Barzahlung
auf das Gehaltskonto, sondern als Beteiligung am eigenen Unternehmen.
({1})
Zum Zweiten wird dadurch den Betrieben die Chance
eröffnet, gerade in schwierigen Situationen - 40 000 Insolvenzen im letzten Jahr ({2})
die Liquidität des Betriebes zu erhalten und damit die
Wahrscheinlichkeit, weiter am Markt existieren zu können, zu erhöhen.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16149
Zum Dritten wird eine weit größere Identifikation der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dem Betrieb
ermöglicht;
({3})
denn wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Miteigentümer des Unternehmens, in dem sie arbeiten,
sind, werden sie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen - die Notwendigkeiten ihres Unternehmens, wirtschaftlich zu handeln - ganz anders bewerten,
({4})
als wenn sie „schlichte Gehaltsempfänger“ bleiben.
({5})
Es geht darum, ein Volk von Eigentümern zu entwickeln - nicht Volkseigentum im Sinne der ehemaligen
DDR; ich bitte, mich bloß nicht misszuverstehen -, mit
möglichst viel Eigentum an Produktivität, an Produktionsstätten, an Betrieben, an Dienstleistungsunternehmen, ein Volk von Eigentümern, deren ureigenes Interesse es ist, erfolgreich zu sein, weil der eigene
Arbeitsplatz daran hängt. Hier wäre es möglich, ein besseres Verständnis zwischen Betriebsleitung und Unternehmen, zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Betriebsrat auf der einen Seite und
Eigentümern - meinetwegen auch Managern - auf der
anderen Seite zu erreichen. Ich glaube, dass manch eine
Diskussion, die in Deutschland durchaus nicht zu Unrecht geführt wird - über prosperierende Unternehmen
und die Art und Weise, wie das Erwirtschaftete verantwortungsvoll eingesetzt wird -, anders verliefe, wenn
wir diese Chancen nutzen würden.
({6})
Geben Sie sich deswegen einen Ruck und schaffen Sie
die Rahmenbedingungen dafür. Die Ausgestaltung
sollte den Tarifvertragsparteien vorbehalten bleiben.
Aber Rot und Grün müssen endlich die Rahmenbedingungen dafür gewährleisten,
({7})
dass es sich lohnt, Investivlöhne zu zahlen und Mitarbeiterbeteiligung zu erleichtern.
({8})
Ich sage Ihnen: Die hier vorgeschlagene Form ist die
zukunftsfähige Form von Mitbestimmung; denn so können Miteigentümer in ihren Betrieben mitbestimmen und
sind nicht auf Gewerkschaftsvertreter angewiesen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Weiß, es freut mich schon, zu lesen, dass die Union die
neue, geförderte private Altersvorsorge, die Rot-Grün
gegen Ihre Stimmen eingeführt hat, offenbar doch für
richtig hält.
({0})
Denn Sie fordern in Ihrem Antrag nun selbst die Integration von Mitarbeiterbeteiligungen.
Ich halte grundsätzlich eine weitere Öffnung der privaten, geförderten Altersvorsorge für neue Anlageformen für richtig.
({1})
Der Bürger und die Bürgerin sollen möglichst große
Wahlfreiheit haben, mit welchen Produkten sie vorsorgen. Es ist kein Geheimnis, dass wir Grünen mit durchgesetzt haben, dass mit den geförderten Altersvorsorgeprodukten auch der Bau eines Eigenheims
zwischenfinanziert werden kann.
({2})
In Deutschland ist die betriebliche Mitarbeiterbeteiligung nicht weit verbreitet; das ist richtig
({3})
und das wird auch vom Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung so gesehen. Es schreibt: Von den rund
2 Millionen Firmen beteiligen nur 8,7 Prozent ihre Mitarbeiter am Gewinn und nur 2,5 Prozent am Kapital.
Mehr Mitarbeiterbeteiligung bedeutet für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen letztendlich mehr Mitbestimmung und mehr Teilhabe. Herr Niebel, Sie haben
Recht: Auch für die Unternehmen bedeutet das neue Eigenkapitalquellen.
({4})
Es hat selbstverständlich auch eine wirtschaftspolitische
Dimension. Gerade vor dem Hintergrund von Basel II
wissen wir, dass die Eigenkapitalausstattung stark an Bedeutung gewinnt und dass Mitarbeiterbeteiligungen auch
die Bonität der Unternehmen verbessern können.
({5})
Das alles ist richtig.
({6})
16150 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Das sind positive Überlegungen. Aus diesem Grund
werden wir sehr ernsthaft weiter mit Ihnen über diesen
Vorschlag diskutieren.
({7})
Es gibt aber auch sehr viele offene Fragen, die noch beantwortet werden müssen.
Wichtig ist, dass Mitarbeiterbeteiligungen eine notwendige Sicherheit bieten, die für eine Altersvorsorge
angemessen ist. Sie müssen außerdem so flexibel und
transparent sein, wie es der Verbraucherschutz für einen
20 bis 30 Jahre laufenden Vertrag erfordert.
Im Rahmen der Debatte über die Riester-Rente haben
wir uns schon des Öfteren über die Frage der Mitarbeiterbeteiligung unterhalten.
({8})
Wir haben das damals nicht in die Riester-Förderung
aufgenommen, weil uns das aufgrund der fehlenden Risikostreuung und des fehlenden Verbraucherschutzes
zum damaligen Zeitpunkt als nicht sehr geeignet für die
Altersvorsorge erschien.
({9})
Wir wollten nicht, dass der Arbeitsplatz und die Altersvorsorge der Arbeitnehmer vom Erfolg nur eines Unternehmens abhängen. Das war der ursächliche Grund,
weshalb wir diese Überlegung damals nicht integriert
haben.
({10})
In der heutigen Situation wird mehr Flexibilität auf
dem Arbeitsmarkt gefordert. Die Mitnahme der privaten Altersvorsorge muss dabei natürlich gewährleistet
sein. Ich glaube, es ist unbestritten, dass wir uns darin einig sind. Deswegen müssen wir an diesem Punkt genau
überlegen, ob das Problem der Mitnahme durch eine vernünftige Gesetzgebung überhaupt gelöst werden kann.
({11})
Sie machen es sich relativ leicht; denn Sie sagen: Na ja,
macht doch die Rahmenbedingungen, die Tarifparteien
werden das dann irgendwie lösen.
({12})
Wenn es Probleme gibt - wir kennen diese Probleme;
denn wir haben uns schon sehr intensiv damit auseinander gesetzt -, dann müssen wir gemeinsam dafür sorgen,
Sie haben den Antrag ja eingebracht, dass es Antworten
darauf gibt.
({13})
Wenn Sie ein solches Modell wollen, dann müssen Sie
auch dafür sorgen, dass die fiskalischen Gründe, die damals ebenfalls eine Rolle gespielt haben, ausgeräumt
werden. Es ist wie immer: Die Union stellt Anträge, in
denen kein Wort darüber verloren wird, in welcher Größenordnung fiskalische Auswirkungen zu erwarten
sind und wie wir die damit verbundenen Probleme lösen
können.
({14})
Ich vermisse auch Vorschläge, wie eine bessere steuerliche Förderung finanziert werden kann. Auf der einen
Seite stellen Sie immer wieder Forderungen auf und
bringen Anträge ein, die Geld kosten, ohne zu sagen, wie
wir das gegenfinanzieren können, auf der anderen Seite
werfen Sie Rot-Grün vor, wir bekämen den Haushalt
nicht in den Griff.
({15})
In der Sache können wir miteinander diskutieren; wir
sind hier sehr aufgeschlossen. Ich bitte Sie aber, die
Haushaltslage von Bund und Ländern zu berücksichtigen. Ich erwarte daher von der Union ernsthafte Vorschläge dafür, wie wir das finanzieren können.
Danke schön.
({16})
Jetzt hat der Abgeordnete Stefan Müller das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen!
Frau Scheel, ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre konstruktive Rede. Das Problem ist nur: Sie reden hier immer anders, als Sie dann tatsächlich abstimmen.
({0})
Deswegen sind wir sehr gespannt, wie konstruktiv die
Ausschussberatungen, die wir noch durchführen werden,
tatsächlich sein werden.
({1})
- Gut, wir werden sehen, wie Sie sich verhalten werden.
Um etwas Konstruktives zu sagen: Die Förderung der
Vermögensbildung - so habe ich auch den Kollegen
Schild verstanden - liegt im Interesse aller politisch Verantwortlichen. Das gilt nicht erst seit dieser Legislaturperiode, sondern schon sehr viel länger. Ich glaube, es
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16151
Stefan Müller ({2})
herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass dies auch
zukünftig das Anliegen aller Fraktionen sein wird.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich eine
Reihe von Wegen und Möglichkeiten entwickelt, wie
Arbeitnehmer Vermögen bilden können und wie wiederum der Staat diese Vermögensbildung unterstützen
kann. Ich nenne das Vermögensbildungsgesetz, mit dem
vermögenswirksame Leistungen durch die Arbeitnehmersparzulage gefördert werden, das Wohnungsbau-Prämiengesetz - Sie wollten es zwar zwischenzeitlich abschaffen, gleichwohl existiert es noch und dient
natürlich auch ein Stück weit der Vermögensbildung -,
die Riester-Rente und auch die so genannte RürupRente.
Herr Schild, ich möchte doch etwas zur RiesterRente sagen. Ich weiß nicht, wie Sie auf die Zahl von
15 Millionen kommen. Ich habe große Zweifel, dass es
sich um 15 Millionen Verträge zur Riester-Rente handelt.
({3})
Ich glaube vielmehr, dass es sich dabei um Kapitallebensversicherungen handelt, die in diesem Zusammenhang abgeschlossen worden sind. Aber ich will diese
Zahl nicht infrage stellen. Im Übrigen will ich auch nicht
infrage stellen, dass die Grundidee der Riester-Rente
richtig ist. Ganz im Gegenteil: Ich sage ganz klar, dass
die Riester-Rente ein vernünftiges Instrument ist, um die
private Altersvorsorge zu fördern; das ist keine Frage.
Was wir auch im Zusammenhang mit dem Alterseinkünftegesetz kritisiert haben, war, dass die Riester-Rente
nach wie vor - daran ist auch durch das Alterseinkünftegesetz nicht sehr viel geändert worden - in ihrer Durchführung viel zu bürokratisch ist.
({4})
Genau das ist der Grund, warum die Riester-Rente nicht
wirklich in Anspruch genommen wird und nicht die Zahl
von Verträgen abgeschlossen worden sind, die seinerzeit
angekündigt worden sind.
Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit alle bisherigen Anstrengungen ausreichen, um den Veränderungen
in der Wirtschafts- und Arbeitswelt auch in Zukunft zu
genügen. Diese Frage müssen wir uns stellen, wenn wir
ein Konzept für die Zukunft erarbeiten wollen. Wir müssen doch einfach zur Kenntnis nehmen, dass wir in den
nächsten Jahren sowohl in der Wirtschaft als auch im
Arbeitsleben vor drei wesentlichen Herausforderungen
stehen werden: erstens dem wachsenden globalen Wettbewerb mit all seinen Chancen und Risiken - wir können
das kritisieren, aber wir werden das nicht ändern
können -, zweitens dem Wandel zur wissensbasierten
Gesellschaft und drittens dem demographischen Wandel
in der Gesellschaft mit all seinen Auswirkungen auf die
sozialen Sicherungssysteme. Der letzte Punkt scheint
mir wirklich entscheidend zu sein, weil die Notwendigkeit, private Vorsorge zu treffen, eher zu- als abnehmen
wird.
({5})
Wir jedenfalls sind der Auffassung, dass alle bisherigen Instrumente nicht ausreichen werden, um diesen Herausforderungen entsprechend begegnen zu können. Genau deswegen haben wir diesen Antrag eingebracht. Ich
denke, es liegt in unser aller Interesse, dass die Bildung
von Vermögen von Arbeitnehmern auch in Zukunft in
ausreichendem Maße gefördert werden kann.
({6})
Wir müssen eben ein bisschen mehr machen als das, was
wir in der Vergangenheit gemacht haben. Genau darum
geht es uns.
Ein gutes und wirkungsvolles Instrument kann in diesem Zusammenhang die Mitarbeiterbeteiligung sein.
Herr Schild, zu diesem Thema haben Sie gar nichts gesagt. Dieser Punkt ist auch insofern von Interesse, als
sich Arbeitgeber, Gewerkschaften und auch die Politik
- Frau Scheel, auch Sie haben es gerade angesprochen in der Vergangenheit immer wieder für eine stärkere Beteiligung der Beschäftigten am Unternehmenserfolg
stark gemacht haben. Wir müssen einfach zur Kenntnis
nehmen, dass diese Mitarbeiterbeteiligung noch immer
ein Stiefkind ist, weil sie zu wenig in Anspruch genommen wird. Wir müssen uns überlegen, wie wir da zu anderen Ländern aufschließen können. In Frankreich ist
das Instrument der Mitarbeiterbeteiligung sehr viel stärker ausgeprägt.
({7})
- Gut, das ist eine andere Tradition. Aber das hindert uns
nicht daran, darüber nachzudenken, was wir in unserem
Land für die Mitarbeiterbeteiligung tun können.
Ich stelle fest, dass wir bei der Mitarbeiterbeteiligung
noch sehr viel Nachholbedarf haben und dass sie in
Deutschland ein wenig genutzter Weg ist. Sie ist es auch
deswegen, Frau Scheel, weil die Durchführungswege,
die heute schon existieren, einfach zu bürokratisch sind.
Auch darüber können und müssen wir sicherlich reden.
Es ist sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber durchaus von großem Interesse, eine innovative
Einkommenspolitik zu machen. Für den Arbeitgeber
besteht der Vorteil darin, dass er seine Eigenkapitalbasis
verbessern kann, dass er qualifizierte Mitarbeiter gewinnen und die Mitarbeiter an seinen Betrieb binden kann.
Es gibt Studien, die belegen, dass die Produktivität in
den Unternehmen größer ist, in denen es Mitarbeiterbeteiligungsprogramme gibt. Das wird niemand bestreiten
wollen.
({8})
Die Vorteile für die Arbeitnehmer liegen gleichermaßen auf der Hand: die Erschließung von zusätzlichen
Einkommensquellen, die Erhöhung der Arbeitszufriedenheit, der Arbeitsplatzsicherheit und nicht zuletzt
- das ist für mich das Entscheidende - bessere Chancen
für den Aufbau der privaten Altersvorsorge.
16152 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Stefan Müller ({9})
Deshalb müssen wir darüber diskutieren, wie wir die
Mitarbeiterbeteiligung stärker in die Altersvorsorge integrieren können. Dass das nicht einfach ist, wissen wir,
aber das hindert uns nicht daran, darüber noch einmal zu
diskutieren. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir
alle bestehenden Förderungsinstrumente sinnvoll miteinander verzahnen können, also wie wir die Förderung
der Vermögensbildung noch mehr in die private Altersvorsorge integrieren können.
Wir freuen uns auf einen konstruktiven Dialog zu diesem bedeutsamen Thema. Es bleibt festzustellen, dass
die Beteiligung von möglichst vielen Menschen an Eigentum mehr Verantwortung und mehr Erfolg bringt und
letztendlich eines der besten Mittel ist, die Vorteile unserer Gesellschaftsordnung auch in Zukunft noch zu erhalten.
({10})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5104 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Pflug, Detlef Dzembritzki, Monika
Heubaum, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Marianne Tritz, Volker Beck ({0}), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in
Kambodscha
- Drucksache 15/5256 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Demokratie in Kambodscha wiederherstellen
- Drucksache 15/5071 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch gibt es
nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Johannes Pflug.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 3. Februar dieses Jahres hob die Nationalversammlung Kambodschas, also das kambodschanische Parlament, die Immunität der Abgeordneten Sam
Rainsy, Cheam Channy und Chea Poch unter Ausschluss
der Öffentlichkeit sowie unter Ausschluss diplomatischer Beobachter durch einfache Akklamation hinter
verschlossenen Türen auf. Die drei Abgeordneten gehören der einzigen parlamentarischen Oppositionspartei
an, der nach ihrem Vorsitzenden benannten Sam-RainsyPartei. Sie werden sowohl krimineller Verbrechen als
auch des Versuchs der Bildung einer illegalen Rebellenarmee bezichtigt. Diese Immunitätsaufhebung lässt
sich als Nacht- und Nebelaktion bezeichnen und die Beschuldigungen sind recht fragwürdig. Darüber hinaus
stellt die Menschenrechtsorganisation Human Rights
Watch fest, dass die Inhaftierung des Abgeordneten
Cheam Channy im Militärgefängnis von Phnom Penh
und die Anklage gegen ihn durch das Militärgericht gegen kambodschanisches Recht verstoßen. Sam Rainsy
ist ins Ausland geflüchtet und Chea Poch hält sich versteckt.
Nun könnte man wie normalerweise nach entsprechenden Protesten von deutscher, europäischer, amerikanischer und sonstiger Seite zur Tagesordnung übergehen,
weil Menschenrechtsverletzungen in vielen asiatischen
und afrikanischen Staaten die Regel sind. Doch es gibt
aus meiner Sicht einige Besonderheiten, die unser verstärktes Augenmerk auf Kambodscha lenken sollten:
Erstens jährte sich in dieser Woche, genauer gesagt
am 17. April, zum 30. Mal der Jahrestag, an dem die
Roten Khmer unter Bruder Nummer eins Pol Pot in
Phnom Penh einmarschierten und damit die Macht in
Kambodscha übernahmen. Die Folge war die Einführung eines Steinzeitkommunismus, der über die Ermordung von mindestens 1,7 Millionen Kambodschanern,
vorwiegend Intellektuellen, einen neuen Menschen
schaffen sollte.
Zweitens steht das rigorose, gegen bestehendes Recht
verstoßende und demokratische Regeln missachtende
Vorgehen der kambodschanischen Behörden gegen die
drei von mir genannten Abgeordneten in krassem Widerspruch zu der Nachsicht, die mit Verbrechen des ehemaligen Pol-Pot-Regimes und zahlreichen anderen von
höchsten Stellen gedeckten Kriminellen geübt wird.
({0})
Drittens. Es stellt sich die Frage, ob die circa 50 bis
55 Millionen US-Dollar für das Khmer-Rouge-Tribunal, dessen Einsetzung gerade im Oktober 2004 in einem Abkommen zwischen Kambodscha und den Vereinten Nationen beschlossen wurde, gerechtfertigt sind,
wenn nämlich dieses Tribunal drei Jahre tagt und außer
Ieng Sary, dem Schwager und Außenminister Pol Pots,
dem so genannten Bruder Nummer zwei, und Nuon
Chea, der einstigen Nummer drei im Pol-Pot-Regime
- auch Bruder Nummer drei genannt - und zugleich Präsident des damaligen Zentralkomitees, der die Hinrichtungsbefehle gab, vielleicht noch gerade fünf bis zehn
weitere Verbrecher anklagen wird.
Von Prinz Sirivudh, dem kambodschanischen Vizepremierminister, wurde mir gegenüber anlässlich seines
Berlin-Besuches in der vergangenen Woche, am
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16153
14. April, der Wunsch auf deutsche Rechtsbeteiligung
am Tribunal geäußert. Wir sollten uns diesem Wunsch
grundsätzlich nicht verschließen.
({1})
Jedoch muss vorher klar sein, wie dieses Tribunal besetzt wird,
({2})
welche Kompetenzen es hat, welche Qualifikation die
Richter haben, dass sie weisungsunabhängig sind und
welche Konsequenzen ihre Urteile haben werden. Prinz
Sirivudh hat mir gegenüber in diesem Gespräch ebenfalls zu erkennen gegeben, dass er sich auch für die Freilassung Cheam Channys einsetzen wolle, ähnlich wie
dies bereits Exkönig Sihanouk getan habe.
Viertens. Es ist zu beachten, dass Deutschland seit
1992 mit der erstmaligen Auslandsbeteiligung von deutschen Soldaten an einem UNO-Peacekeeping-Einsatz
und der Bestimmung Kambodschas zum Schwerpunktland für die Entwicklungshilfe dort natürlich in besonderem Maße engagiert ist.
Fünftens darf man nicht übersehen, dass trotz wirtschaftlicher Erfolge Kambodschas seit 1997 und verstärkt seit der Regierungsneubildung im Juli letzten Jahres im Rahmen einer Koalition der CPP, des
Ministerpräsidenten Hun Sen und der dem Königshaus
nahe stehenden FUNCINPEC die Regierung Hun Sen
zunehmend autoritärer und undemokratischer agiert und
versucht, die Opposition zu behindern und teilweise
mundtot zu machen.
Sechstens bleibt festzustellen, dass Indochina eine
wichtige, stabilisierende Rolle in Südostasien spielt und
spielen muss, insbesondere vor dem Hintergrund gefährlicher Entwicklungen in Nepal, Bangladesch und Burma.
In den beiden letzten Jahren gibt es auch in Thailand zunehmend autoritäre Formen. Aus Bangladesch gibt es
mehr und mehr Berichte, dass dort terroristische Gruppen um al-Qaida tätig sind, und Kambodscha wird zunehmend als Rückzugsraum solcher Gruppierungen genannt. Gerade das Klima der Rechtsfreiheit bis
Rechtlosigkeit und die extreme Korruption in Kambodscha begünstigen solche terroristischen Gruppen und
die immer stärkere Bandenkriminalität insbesondere im
Bereich des Menschenhandels und der Sexsklaverei.
Am 17. April gedachten buddhistische Mönche und
Mitglieder der Sam-Rainsy-Party der ermordeten Opfer
auf den Killing Fields.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dies alles sollte uns genügend Anlass sein, uns
über diese Plenardebatte hinaus mit Kambodscha und
Südostasien zu beschäftigen. Die Tatsache, dass wir
heute im Deutschen Bundestag um 18 Uhr über dieses
Thema debattieren und nicht um 23 Uhr, ist vielleicht
ein positives Signal an die Fachpolitiker. Die Tatsache,
dass zwei gleich lautende Anträge vorliegen, wirft natürlich die Frage auf, wo eigentlich die essenziellen Unterschiede liegen. Ich sehe diese nicht. Aber Parlamentarismus hat in gut funktionierenden Demokratien manchmal
offensichtlich ganz andere Probleme als in Staaten, die
solche Probleme gerne hätten.
({3})
Auch wenn wir unterschiedlich abstimmen werden,
weiß ich doch, dass wir inhaltlich einer Meinung sind.
Das ist gut für künftige Diskussionen über Kambodscha.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen
Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Johannes Pflug, vielleicht darf ich den
letzten Punkt direkt aufgreifen: Ich glaube, die Anträge
- sowohl der von der FDP als auch der von der Koalition sind so gestrickt, dass eigentlich das ganze Haus in der
Lage sein müsste, beiden Anträgen zuzustimmen.
({0})
Das wäre mein Rat.
({1})
- Prima, die SPD signalisiert Zustimmung, die Grünen
sowieso. Also sind wir uns insofern schon einig.
Die Anträge beschreiben den Tatbestand sehr sachgerecht. Der Antrag der Koalition greift das Problem des
Tribunals zur Aufarbeitung der Pol-Pot-Verbrechen noch
einmal auf; auch das halte ich für in Ordnung. Dass wir
als Union hier heute keinen eigenen Antrag eingebracht
haben, liegt schlicht und ergreifend daran, dass wir gegenwärtig einen Menschenrechtsantrag für den gesamten
ASEAN-Raum vorbereiten, den wir voraussichtlich im
Mai im Plenum einbringen wollen.
Ich glaube, man sollte zuerst noch einmal feststellen
- vielleicht sind wir sogar in der Lage, liebe Kolleginnen
und Kollegen, das durch einen besonderen Beschluss
zum Ausdruck zu bringen -, dass es für ein frei gewähltes, demokratisches Parlament wie den Bundestag völlig
unakzeptabel ist, wenn in anderen Ländern Parlamentarier wider Gesetz und Recht inhaftiert und verfolgt werden.
({2})
Auch wenn man weiß, dass die Wahlen, die in Kambodscha stattgefunden haben, nicht den höchsten Maßstäben
einer freien und demokratischen Wahl entsprochen haben, so verdienen die Parlamentarier - wenn es sie denn
schon gibt und wenn es denn schon Regierung und Opposition gibt - unsere Sympathie und unsere Unterstützung.
({3})
Es wurde schon zu Recht darauf hingewiesen, dass
der Vizepremierminister von Kambodscha letzte Woche
16154 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
in Berlin war. Die ASEAN-Parlamentariergruppe, der
vorzustehen ich das Vergnügen habe, hat sich mit ihm
unterhalten. In diesem Zusammenhang hat übrigens gerade die Aufarbeitung der Pol-Pot-Problematik eine
Rolle gespielt. Wenn wir uns jetzt die Debatte, die vor
zwei Stunden gelaufen ist, nämlich die zum Genozid gegen die Armenier, ins Gedächtnis rufen, so werden wir
erkennen, dass auch dies mit Sicherheit eine Frage ist,
bei der wir den Kambodschanern keine großen Lehren
erteilen, ihnen aber sagen wollen: Liebe Freunde in diesem südostasiatischen Land, ihr werdet nicht zur Ruhe
kommen, wenn ihr euch nicht der eigenen Vergangenheit
stellt, insbesondere dann nicht, wenn ihr nicht bereit
seid, diejenigen, die hauptverantwortlich an dem Genozid an der eigenen Bevölkerung beteiligt waren, heute
aber zum Teil noch frei im Lande herumlaufen, zur Rechenschaft zu ziehen.
({4})
Wir haben, glaube ich, auch deshalb eine besondere
Verantwortung, weil die internationale Gemeinschaft
von Anfang an den Befriedungsprozess in Kambodscha
mit verfolgt hat. Übrigens sei an dieser Stelle - auch das
ist ja in den Anträgen aufgeführt - daran erinnert, dass
der erste größere internationale Friedenseinsatz der Bundeswehr in Kambodscha stattgefunden hat. Auch das
macht unsere besondere Verantwortung, aber auch unsere besondere Neigung zu diesem Land und zu seinen
Menschen erkennbar.
Im Rückblick sollten wir uns aber noch einmal ins
Gedächtnis rufen, dass wir in unserer Politik - auch in
Bezug auf Kambodscha - nicht immer konsistent und
nicht immer glaubwürdig waren. Das gilt übrigens für
mehrere Bundesregierungen unterschiedlicher parteipolitischer Führung. Wir haben nämlich jahrelang das PolPot-Regime in der Vertretung Kambodschas bei den Vereinten Nationen anerkannt, obwohl es bereits im Busch
saß und obwohl wir wussten, dass dieses Regime für den
Genozid verantwortlich war. Ich habe aus meiner Auffassung nie einen Hehl gemacht und will sie auch an dieser Stelle wiederholen: Natürlich kann man sich - ich
will keine anderen Diskussionen aufwerfen - immer darüber unterhalten, dass die Invasion der Vietnamesen
im Jahre 1978, die den Terror und den unmittelbaren
Völkermord in Kambodscha beendet hat, nicht unbedingt durch internationale Beschlüsse der Vereinten Nationen gedeckt war. Aber ich mache keinen Hehl aus
meiner Meinung, dass dieser Einsatz der Vietnamesen
wahrscheinlich Millionen, zumindest aber Hunderttausenden von Menschen das Leben gerettet hat.
({5})
Das sollte man an dieser Stelle erwähnen, auch wenn
man keine Sympathien für das kommunistische Regime
in Hanoi hegt. Zur historischen Wahrheit gehört auch,
dass 1978 der Vietnamkrieg erst drei Jahre beendet war
und es deshalb schwer ist, diesen Vorgang im Jahre 2005
korrekt zu bewerten.
Wir sollten diesen Vorgang aber zum Anlass nehmen,
in Zukunft bei anderen sich abzeichnenden oder schon
stattfindenden Verbrechen rechtzeitig zu intervenieren.
Auch das ist heute mehrmals gesagt worden. Morgen
früh wird es in diesem Haus eine Debatte und eine Abstimmung über einen Bundeswehreinsatz im Sudan geben. Man kann sich heute durchaus fragen, ob die internationale Gemeinschaft dort nicht schon viel früher hätte
intervenieren müssen.
({6})
Ich möchte mich sowohl bei den Kolleginnen und
Kollegen der FDP wie auch bei den Kolleginnen und
Kollegen der Koalition für die beiden Anträge bedanken.
Damit wird deutlich, dass sich das deutsche Parlament
nicht einfach zurücklehnt, wenn irgendwo in der Ferne
die Völker aufeinander einschlagen. Wir wissen durchaus, dass wahrscheinlich - ich werde jetzt einmal pathetisch - für die Menschheit die Zeiten, in denen man sich
gelassen zurücklehnen konnte, wenn Verbrechen begangen wurden, ein für allemal vorbei sind.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Koppelin das Wort.
Frau Präsidentin! Ich möchte nach diesem Redebeitrag sagen, dass ich die große Übereinstimmung in dieser Frage, die zwischen allen Fraktionen besteht, begrüße. Ich selber bin seit längerer Zeit in Kambodscha
sehr engagiert.
Was mir bei beiden Anträgen zu kurz kommt - das
sage ich ganz offen, auch wenn ich beiden Anträgen zustimmen werde -, ist, dass wir die Notwendigkeit, unsere politischen Stiftungen, die in Kambodscha arbeiten, mehr zu unterstützen, nicht deutlich machen. Sie
haben einfach zu wenig Geld, um dort die Demokratiebewegung zu unterstützen.
({0})
Mein Wunsch an alle Fraktionen ist es, dass wir uns darum bemühen.
({1})
Ein anderer Punkt ist - diesen haben wir schon im
Haushaltsausschuss angesprochen; ich will dies aber mit
Blick auf die Rede des Kollegen Hedrich, von dem ich
weiß, dass er mich darin unterstützen wird, noch einmal
sagen -, dass die Asiatische Entwicklungsbank Geld in
erheblichem Umfang aus Deutschland bekommt. 50 Prozent des Etats von Kambodscha stammen von der Asiatischen Entwicklungsbank. Deshalb sollten wir uns als
Deutsche viel stärker darum bemühen, dass, wenn dieses
Land schon von uns Geld bekommt, die Demokratie dort
eine stärkere Stellung hat. Es kann nicht sein, dass die
einzige Oppositionspartei, die Sam-Rainsy-Partei, so
stark unterdrückt wird, wie es zurzeit der Fall ist. Das
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16155
sage ich auch mit Blick auf Sam Rainsy, mit dem ich seit
zwölf Jahren eng befreundet bin.
({2})
Vielen Dank. Diese Kurzintervention erfordert keine
unmittelbare Antwort, weil sie sich auf die Debatte insgesamt bezieht.
Dann hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Starke Reden und große Übereinstimmung: Das ist sehr
zu begrüßen und macht uns sehr froh. Ich möchte in Anbetracht der Armeniendebatte, die wir vor einigen Stunden geführt haben, kurz erläutern, was damals in Kambodscha passiert ist. Ich sehe viele junge Menschen auf
der Zuschauertribüne, die diesen Konflikt, den man immer in Erinnerung haben muss, wahrscheinlich nicht
kennen.
Als Pol Pots Steinzeitkommunisten vor circa 30 Jahren die Macht in Kambodscha übernahmen, errichteten
sie eine Schreckensherrschaft. In knapp vier Jahren vielen ihnen circa 2 Millionen Menschen zum Opfer. Das
entspricht jedem vierten Bürger.
Noch am Tag der Machtübernahme hatten die Roten
Khmer mit der Umsetzung ihrer menschenverachtenden
Ideologie begonnen. Die Menschen der Hauptstadt
Phnom Penh wurden vertrieben. Die gesamte Stadtbevölkerung wurde zur Landarbeit gezwungen. Die Menschen wurden ermordet, gefoltert, arbeiteten sich zu
Tode oder verhungerten auf den Killing Fields. Ärzte
und Krankenhäuser zur Behandlung von Kranken gab es
nicht mehr. Die Schulen wurden geschlossen, Bücher
verbrannt, Geld und Handel abgeschafft, die Religionsausübung verboten. Wer schreiben konnte oder nur eine
Brille trug, wurde hingerichtet.
Der Albtraum fand erst sein Ende, als die kommunistischen Vietnamesen in Kambodscha einmarschierten
und das Regime der Roten Khmer beendeten. Aber der
Bürgerkrieg der unterschiedlichen Parteien wie der
Roten Khmer, der Royalisten und der bürgerlichen
Gruppen gegen die vietnamesischen Besatzer dauerte
noch lange an. Erst in den späten 90er-Jahren und mithilfe der internationalen Gemeinschaft - der deutsche
Beitrag wurde erwähnt - kam Kambodscha langsam zur
Ruhe.
Kambodscha ist ein Land, in dem die Geschichte der
Roten Khmer zu den traurigsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts gehört. Phnom Penh ist eine Stadt mit ausradiertem Gedächtnis. Kambodscha fehlt ein großer Teil
seiner Geschichte. Dieser Teil der Geschichte, der bis in
die heutige Gegenwart hineinreicht, hat noch immer
Auswirkungen auf die politische Entwicklung im Land.
Die intellektuelle Schicht fehlt auf jedem Gebiet.
Dem einst so reichen Land fehlt die Grundlage für den
Aufbau einer Zivilgesellschaft. Es ist ein Land, in dem
es einen großen Bedarf an Informationen, Bildung und
politischer Aufklärung gibt. Es gibt in der Bevölkerung
einen großen Bedarf an Informationen zu Fragen der
Menschenrechte und der demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Von daher kann ich das Ansinnen
der Kollegen der FDP durchaus unterstützen.
Die internationale Staatengemeinschaft darf nicht
wegschauen, wenn es auch nur den Schatten eines Verdachtes gibt, dass die Demokratie, die Menschenrechte
und die Rechtsstaatlichkeit in Kambodscha wieder gefährdet sein könnten.
({0})
Anlass unserer Diskussion heute ist, dass der Premierminister höchstselbst die Opposition im kambodschanischen Parlament unter anderem durch Verhaftung
einfach ausgeschaltet hat. Eine Demokratie funktioniert
aber nur mit einer arbeitsfähigen parlamentarischen Opposition. Sie funktioniert nur, wenn die Rechtsstaatlichkeit gesichert ist, wenn Menschenrechte, Meinungs-,
Presse- und Versammlungsfreiheit gewährleistet sind.
Der Premierminister hat dem demokratischen Prozess in
Kambodscha einen sehr schweren Schaden zugefügt,
({1})
und das in einer Zeit, in der die berechtigte Hoffnung bestand, dass sich Kambodscha der Vergangenheit stellt
und die schweren Verbrechen der Roten Khmer aufklären und bestrafen will.
Im Juni 2003 - das ist bereits mehrmals erwähnt worden - hat sich die kambodschanische Regierung nach
langjährigen Verhandlungen mit den Vereinten Nationen
auf die Einsetzung eines Sonderstrafgerichtshofes geeinigt. Erst im Oktober 2004 wurde diese Vereinbarung
vom kambodschanischen Parlament ratifiziert. Es wird
ein gemischtes Tribunal. Das heißt, zwei von fünf Richtern werden aus dem Ausland kommen. Dadurch sollen
ein faires öffentliches Verfahren nach internationalem
Standard und eine große nationale Beteiligung garantiert
werden.
Jetzt gibt es - auch vonseiten des Premierministers massive Störmanöver gegen das Tribunal. Das kann
und darf nicht sein.
({2})
Einflussreiche Politiker verhindern die für das Tribunal
dringend erforderlichen Schulungen von Juristen. Die
oberste Justizverwaltung schlägt als Kandidaten für die
zweite Kammer des Tribunals quasi sich selbst vor. Der
oberste Richter hat Ende der 70er-Jahre Pol Pot im Prozess als Verteidiger vertreten. Es gibt kaum Berichterstattungen durch die Presse zum bevorstehenden Gerichtsverfahren.
In Anlehnung an Armenien: Die Zukunft kann nur gestaltet werden, wenn die Vergangenheit bewältigt wurde.
Darum kann man in Fragen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit keinerlei Zugeständnisse machen. Kambodscha
16156 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
steht noch vor großen Herausforderungen. Wir sind bereit, das Land dabei zu unterstützen, erwarten aber deshalb - und gerade deshalb - die volle Herstellung der
Rechtsstaatlichkeit. Ich bin froh, dass es hier im Parlament eine übereinstimmende Meinung dazu gibt und unser Anliegen nicht in einem Parteienhickhack untergeht.
Danke.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
hier schon von allen der lange Leidensweg Kambodschas geschildert worden, den wir in den letzten
50 Jahren erleben mussten und den das Land in den letzten 50 Jahren erleiden musste. Deswegen will ich das
hier nicht wiederholen. Das, was in Kambodscha passiert ist - und aktuell passiert -, bildet aber natürlich den
Hintergrund für unsere Betroffenheit.
Ich will an dem Punkt einsetzen, an dem sich Kambodscha auf den Weg in die Demokratie gemacht hat;
das war vor ungefähr 15 Jahren. Wir als Deutsche haben
Kambodscha auf diesem Weg immer unterstützt. Ich
finde, es ist wichtig, dass wir mit der heutigen Debatte
deutlich machen, dass wir den Weg Kambodschas in die
Demokratie weiterhin unterstützen. Es ist ein sehr steiniger Weg.
({0})
Lieber Kollege Hedrich, ich kann mir leider an dieser
Stelle die Bemerkung nicht verkneifen, dass es zwar sehr
schön ist, wenn die CDU/CSU nun beiden Anträgen zustimmt, ich es aber noch viel schöner gefunden hätte,
wenn sich die CDU/CSU der überfraktionellen Initiative
angeschlossen hätte und wir jetzt einen gemeinsamen
Antrag zu dem Thema auf den Weg bringen könnten.
Ich glaube, das hätte noch etwas mehr Eindruck gemacht. Ich sage das gerade vor dem Hintergrund der Armeniendebatte. Wir haben hier viele Redner mit einer
Menge Pathos gehört, gerade auch den außenpolitischen
Sprecher der Unionsfraktion; da ging es in bewegenden
Worten um Wichtiges. Ich frage mich: Warum sind wir
dann nicht in der Lage, in solch einer vergleichsweise
einfachen Frage, in der wir uns wirklich einig sind, einen
gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen, sondern
verfallen in parteipolitischen Hickhack? Das finde ich
schade und enttäuschend.
({1})
Ich freue mich, dass die Unionsfraktion den Anträgen
zustimmt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass es eine gemeinsame Initiative gibt; denn es ist wichtig, dass wir
uns für unsere Kollegen, die Parlamentarier, einsetzen.
Wir reden viel über Entwicklungszusammenarbeit und
über Außenpolitik. Es kommt aber oft zu kurz, dass wir
uns für Kollegen einsetzen, dass wir uns für die Durchsetzung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit einsetzen. In den technischen Diskussionen, die wir führen,
kommt auch oft die Frage zu kurz: Wie baue ich ein
Land auf? Wir müssen darauf bestehen: Es kann den vernünftigen Aufbau eines Landes nicht geben ohne Demokratie, ohne Rechtsstaatlichkeit und auch ohne Immunität von Abgeordneten.
({2})
Darum, meine Damen und Herren, geht es hier heute.
Deswegen diskutieren wir. Ich finde es richtig, hier das
Signal auszusenden, dass wir an unsere Kollegen in
Kambodscha denken, dass wir sie nicht vergessen werden und dass wir uns hier für sie einsetzen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer
Eppelmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Trotz der kritischen Töne des letzten Redners, die ich
verstehen kann, habe ich den Eindruck, dass die Debatte,
in der ich als Letzter rede, inhaltlich - zumindest auf
Kambodscha bezogen - nicht von Differenzen geprägt
gewesen ist. Darum - da reizt es mich, an das anzuschließen, was Sie gesagt haben - würde ich gerne ein
bisschen mehr über uns reden.
Auch ich stelle wie alle anderen fest, dass die beiden
Anträge, die wir heute beraten, große Ähnlichkeiten aufweisen. Lassen Sie mich darum kurz ausführen, wie es
aus meiner Kenntnis zu diesen fast gleich lautenden Anträgen gekommen ist.
Ursprünglich wurde im Auswärtigen Ausschuss auf
Vorschlag der FDP ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen vorgesehen und beraten. Den Außenpolitikern
meiner Fraktion war die Thematik des Antrages aber
letztlich zu speziell, sodass mit unserer weiteren Unterstützung nicht mehr zu rechnen war. Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen zogen es daraufhin vor, einen eigenen
Antrag einzubringen, der allerdings, wie wir feststellen
können, zum Teil wortwörtlich den FDP-Antrag übernimmt.
Inhaltlich kann und werde ich - wie offensichtlich erfreulicherweise alle anderen auch - beiden Anträgen zustimmen. Eben tauchte hier noch die Frage auf, ob das
Premiere ist. Das müsste man vielleicht einmal feststellen; aber auch wenn es denn so wäre, wäre es gut. Darum bin ich gespannt, ob wir alle diesen beiden Anträgen
folgen werden.
In beiden Anträgen vermisse ich aber drei wichtige
Aspekte, die meines Erachtens unbedingt hineingehören.
Erstens wird die kambodschanische Regierung nicht aufgefordert, gegen die allgegenwärtige Korruption im
Lande - speziell in der Justiz - vorzugehen und schlüssige Konzepte zu ihrer Bekämpfung vorzulegen.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16157
Zweitens findet der problematische Umgang der kambodschanischen Regierung mit Flüchtlingen keine angemessene Berücksichtigung. Menschen vietnamesischer
Abstammung sind in Kambodscha weiterhin gefährdet
und vietnamesische Flüchtlinge sind von Verhaftung und
Abschiebung bedroht. Kambodschaner, die ihnen helfen
wollen, werden ebenfalls bedroht. Kambodscha hat zwar
die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ratifiziert,
verstößt aber seit Jahren gegen die daraus hervorgehenden Verpflichtungen.
Drittens vermisse ich die Erwähnung der sich aus
Art. 1 des Kooperationsabkommens der EU mit Kambodscha ergebenden Verpflichtungen für die kambodschanische Regierung. Darin verpflichtet sich diese zur
Wahrung der Grundsätze der Demokratie und zur Achtung der Menschenrechte. Man muss die kambodschanische Regierung häufiger, intensiver und deutlicher auffordern, ihren Verpflichtungen aus diesem Abkommen
nachzukommen, auch was die Rechte der Parlamentarier
- besonders der Opposition - im eigenen Land angeht.
Ich bin froh, dass wir in unserem Bemühen an dieser
Stelle versucht haben, auch im Hinblick auf Kambodscha ein Zeichen dafür zu setzen, dass sich Parlamentarier der Bundesrepublik Deutschland für Parlamentarier
in anderen Ländern einsetzen, die - auch wegen ihres
Engagements - in ihren Menschenrechten beeinträchtigt
oder verfolgt werden.
({0})
Ich habe durch die Art und Weise, wie die beiden Anträge entstanden sind und inhaltlich ausgestattet wurden,
den Eindruck gewonnen, dass die Achtung der Menschenrechte in Kambodscha nicht zu den Themen gehört, die von uns als besonders dringend betrachtet werden. Ich habe die Vermutung, dass wir zum Jahrestag des
Einmarschs der Roten Khmer in Phnom Penh, der sich
am 17. April zum 30. Mal jährte, das Gefühl hatten, etwas tun zu müssen. Das Ergebnis dieser Überlegungen
- zwei unvollständige Anträge statt eines vollständigen
Antrags - stellt meines Erachtens keine besondere Leistung des Deutschen Bundestages im Allgemeinen und
der deutschen Menschenrechtspolitik im Besonderen
dar.
Wir alle müssen uns fragen, ob es nicht besser wäre,
uns in Zukunft noch ernsthafter darum zu bemühen, zumindest in Menschenrechtsfragen mit einer Stimme
zu sprechen. Es ist nicht überzeugend, sich aus den gemeinsamen Beratungen mit dem Argument zurückzuziehen, die Einbringung eines Antrags zu einem einzigen
Land sei zu speziell.
({1})
- Ja, warum nicht? - Meine Hoffnung ist, dass es uns
von der Union rasch gelingt, den von Klaus-Jürgen
Hedrich bereits angedeuteten gemeinsamen Antrag für
den ganzen ASEAN-Raum gut und deutlich zu formulieren.
Ebenso wenig überzeugend ist die Weigerung anderer, dem Antrag der jeweils anderen Fraktion nicht zuzustimmen. Das ist aber erfreulicherweise nicht mehr der
Fall; insofern kann ich in dieser Debatte einen positiven
Lernprozess bei uns allen beobachten, was mich richtig
froh stimmt.
({2})
- Das ist doch schön.
Müssen wir uns nicht fragen, ob dieses Verhalten des
Parlaments eines Landes, das Ambitionen auf einen
ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat, angemessen
ist? Zu einem allgemeinen schlüssigen deutschen Konzept, sich für Demokratie und Menschenrechte ausnahmslos in der ganzen Welt stark zu machen, fehlt uns
noch einiges an Glaubwürdigkeit und kraftvollem Handeln. Vielleicht bringen uns aber die heutige Debatte und
die Zustimmung zu zwei von unterschiedlichen Parteien
formulierten Anträgen einen guten Schritt voran.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/5256 mit dem Titel „Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Kambodscha“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig angenommen
worden.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 15/5071 mit dem Titel „Die Demokratie
in Kambodscha wieder herstellen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch
dieser Antrag ist einstimmig angenommen worden.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung
- Drucksache 15/2998 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 15/4796 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
16158 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Kristina Köhler ({4})
Ernst Burgbacher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Kollegin Petra Pau bittet, ihre Rede zu Protokoll
geben zu dürfen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.1)
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Abgeordneten Dr. Michael Bürsch das Wort.
({5})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal fragt man sich, warum die FDP bestimmte Anträge stellt und welche Ziele sie damit verfolgt. Wenn man sich mit dem vorliegenden FDP-Antrag
auf Einführung eines Volksentscheides über eine
europäische Verfassung beschäftigt, dann hat man den
Verdacht, dass das etwas mit dem Kalender zu tun hat.
Als der Deutsche Bundestag den vorliegenden Antrag
der FDP-Fraktion das erste Mal beraten hat, standen wir
kurz vor der Europawahl. Der Verdacht lag nahe - das
gilt nicht nur für meine Fraktion -, dass die FDP ein Referendum über die europäische Verfassung nur fordert,
um bei der Europawahl Punkte zu machen, und dass sie
insofern kein wirkliches Interesse an mehr direkter Demokratie hat.
({0})
Nun lag es nahe, den Lackmustest zu machen und zu
schauen, wie sich die FDP bei dem eigentlichen Thema
- mehr direkte Demokratie, Einführung von plebiszitä-
ren Elementen wie Volksinitiative, Volksbegehren und
Volksentscheid - im Deutschen Bundestag verhalten hat.
Dabei ist ein interessantes Ergebnis herausgekommen,
das vielleicht ein bisschen erhellen kann, wie die Ge-
müts- und Verfassungslage der FDP aussieht. Am 7. Juni
2002 ist die entsprechende Entscheidung gefallen. Es
gab 348 Jastimmen. Mit Nein haben 199 gestimmt. Da-
mals hat es zu einer Zweidrittelmehrheit nicht ganz ge-
reicht.
Ein Blick auf das Abstimmungsverhalten einzelner
Abgeordneter ist noch erhellender. 14 Abgeordnete der
FDP-Fraktion haben mit Ja gestimmt, darunter führende
FDP-Vertreter wie Ulrike Flach, Dr. Wolfgang Gerhardt,
Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Hermann
Otto Solms und Dr. Guido Westerwelle. Schauen wir
einmal auf die Neinstimmen! Oha! Es kommen 18 Nein-
stimmen zusammen. Mit Nein haben zum Beispiel Herr
Ernst Burgbacher, Dirk Niebel und Hans-Joachim Otto
gestimmt. Diese Liste könnte ich fortsetzen.
1) Anlage 4
Ich kann nur feststellen: Die FDP ist zu dem Thema
„direkte Demokratie“ - genauso wie damals Willy
Brandt - mit einem deutlich Sowohl-als-auch aufgestellt. Das zeigt, welche Meinung Sie, meine Damen und
Herren von der FDP, tatsächlich haben. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass die FDP eine direkte Demokratie unterstützen will.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Löning?
Das gestatte ich natürlich gerne.
Bitte sehr, Herr Löning.
Herr Kollege, gestehen Sie mir zu, dass es einen Unterschied macht, ob es ein Plebiszit über eine Verfassung
gibt, also über das grundlegende Gesetz, das letztlich
auch uns Parlamentarier legitimiert, oder ob man eine
Volksabstimmung über alle möglichen anderen Fragen
durchführt, also sozusagen ersatzweise für das Parlament?
Ich stimme Ihnen gerne zu, dass es einen Unterschied
gibt. Aber ich habe meine ganze Rede darauf angelegt,
deutlich zu machen, dass man es, wenn man die Meinung des Volkes ernst nimmt und die Ansicht vertritt,
dass die Bürgerinnen und Bürger mündig sind, dem Volk
überlassen sollte, über was und wie entschieden wird.
Mit meinem Verständnis von direkter Demokratie ist
nicht vereinbar, wenn man eine Frage auswählt und dann
sagt: Bitte schön, das geben wir euch vor; darüber sollt
ihr entscheiden. Das ist mit meinem Verständnis von
ernst gemeinter direkter Demokratie nicht vereinbar. Ich
komme darauf in meiner Rede zurück. Ihre Frage habe
ich damit aber schon einmal beantwortet.
Mit Ihrem Antrag ist ein großes Problem verbunden.
Warum dies so ist, kann die FDP weder dem Parlament
noch der Öffentlichkeit erklären. Auch Freunde der liberalen Partei haben sich gefragt, warum Sie einerseits als
Partei und Fraktion so uneinig sind,
({0})
wie Sie es bei der Abstimmung am 7. Juni 2002 waren,
und warum Sie andererseits in großer Einigkeit diesen
Gesetzentwurf einbringen, mit dem Sie erreichen wollen, dass ein einzelnes, wenn auch herausgehobenes
Thema dem Volk zur Zustimmung vorgelegt wird.
Mein Kollege Rüdiger Veit und ich sind der Meinung,
dass es verfehlt ist, eine Volksabstimmung über einen
einzelnen, wenn auch sicherlich bedeutsamen Punkt der
europäischen Politik durchzuführen. Es gab und gibt andere wirklich bedeutsame Punkte der europäischen Politik: die Römischen Verträge, die Einführung des Euro
oder die Osterweiterung. All das war von gewaltiger
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16159
Bedeutung. Warum soll aus dem ganzen Spektrum europäischer Fragen nun die europäische Verfassung herausgegriffen werden? Warum sollen nicht auch andere bedeutsame Fragen zur Abstimmung gestellt werden?
Es gab also genügend andere Schritte zur europäischen Einigung, die von ähnlicher politischer Bedeutung
wie die europäische Verfassung waren. Das können wir
heutzutage beim Euro spüren, zum Beispiel wenn es um
die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank speziell in
Bezug auf Deutschland geht. Das merken wir bei allen
Fragen, die mit der Osterweiterung zusammenhängen.
Das merken wir auch, wenn es zum Beispiel um den heimischen Arbeitsmarkt oder um die europäische Dienstleistungsrichtlinie geht. Wenn die FDP an der EU-Politik
so interessiert ist, dann wäre es konsequent, dafür einzutreten, dass auch andere Fragen aus dem ganzen Spektrum wichtiger europapolitischer Fragen zur Abstimmung gestellt werden.
Ein Wort noch zum Referendum: Anders als Volksentscheide führen Referenden, bei denen die Politik selber das Thema vorgibt und das Volk nur mit Ja oder Nein
abstimmen kann, immer wieder zu unerwünschten Entwicklungen. Ich habe vor zwei Tagen eine sehr interessante Diskussion mit dem früheren Bundespräsidenten
Richard von Weizsäcker miterlebt. Er hat auf die derzeitige Entwicklung in Frankreich hingewiesen: In Frankreich obliegt es nach Art. 11 der französischen Verfassung dem Präsidenten, ein Referendum über eine von
der Regierung bestimmte Frage anzusetzen. Nach der
Beschreibung von Richard von Weizsäcker hat das in
Frankreich offensichtlich entscheidend zur Entstehung
eines innenpolitischen Konflikts beigetragen, weswegen
die Franzosen in breiter Aufstellung über alles andere als
über Europa und über europapolitische Fragen diskutieren.
Auch so etwas kann die Konsequenz aus der Forderung nach einem Referendum sein, dessen Gegenstand
der Präsident oder das Parlament bestimmen. Dieser
schwierige Aspekt ist mit der Forderung nach einem Referendum verbunden. Wenn eine politische Partei meint,
es sei an der Zeit, ein Referendum durchzuführen, dann
glaubt oft eine andere politische Partei, dies für sich ausnutzen zu können.
Meine feste Überzeugung ist, was das Thema „Referendum/direkte Demokratie“ angeht: Kommt die Initiative, über bestimmte politische Fragen abzustimmen,
hingegen aus dem Volk selbst für das Volk, dann wird es
sich keine Partei erlauben können, in einem solchen
Volksentscheidsverfahren ein ganz anderes Thema auf
die Agenda zu setzen oder aus einem außen-, beispielsweise europapolitischen Thema plötzlich ein innenpolitisches zu machen. Anders gesagt: Nach meinem Verständnis wird die Mündigkeit der Bürgerinnen und
Bürger erst dann in angemessener Weise ernst genommen, wenn sie selbst darüber entscheiden können, worüber abgestimmt wird und wie die Fragestellung lautet.
({1})
- Herzlichen Dank, Herr Kollege.
({2})
- Ich werte diese Aufmerksamkeit als Ermunterung fortzufahren.
Wir müssen diesen Antrag noch aus einem anderen
Grund ablehnen.
({3})
Herr Burgbacher, es gibt auch eine Verantwortung für
Deutschland und für diesen europäischen Prozess. Diesen Prozess und diese Verantwortung nehmen wir ernst.
({4})
Es ist nämlich auch ein Zeitplan vereinbart. Dieser Zeitplan sieht vor, dass darüber jetzt entschieden wird. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir im Mai bei der
nächsten Sitzung über die europäische Verfassung entscheiden.
Wenn der FDP-Entwurf Gesetz werden sollte, wäre
nicht abzusehen, wann ein solches Referendum überhaupt durchgeführt werden könnte.
({5})
Das können wir anderen Mitgliedstaaten nicht zumuten.
Selbst wenn wir es ihnen zumuten sollten: Wir wollen
doch in dem Punkt das Ansehen Deutschlands sicherlich
nicht gefährden. Deswegen finde ich es gut, dass sich
Bundestag und Bundesrat im Mai mit der europäischen
Verfassung abschließend beschäftigen werden.
Ich weise noch auf etwas hin, was der FDP peinlich
sein müsste, wenn es um Verfassungsänderungen geht.
({6})
Dieser Entwurf, werte Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, hat deutliche handwerkliche Fehler. Satz 1 der
von Ihnen vorgeschlagenen Fassung des neuen Abs. 1 a
des Art. 23 Grundgesetz lautet:
Die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland
zu einem Vertrag, mit dem eine europäische Verfassung eingeführt wird, bedarf der Zustimmung durch
einen Volksentscheid.
Bedeutet das verfassungsrechtlich, dass die Politik das
Volk so lange abstimmen lassen darf, bis die notwendige
Mehrheit steht? Was passiert, wenn Bundestag und Bundesrat zustimmen, aber das Volk nicht? Wo sind die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die eine solche Kollision regeln?
Auf ein weiteres juristisches Eigentor hat der Kollege
Röttgen schon in der ersten Lesung hingewiesen: Das
gemeinschaftliche Primärrecht stellt bereits die Verfassung Europas dar. Die europäischen Verträge besitzen
16160 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Verfassungsqualität. Wenn Sie also in Ihrem Änderungsvorschlag von „einem Vertrag, mit dem eine europäische
Verfassung eingeführt wird“, sprechen, dann frage ich
mich, welchen Vertrag oder welche Verfassung Sie eigentlich meinen.
Die Verfassung ändert man jedenfalls nicht im
Schnellverfahren. Die Verfassung ändert man nicht einfach so, vielleicht weil Europawahlen anstehen und Umfrageergebnisse, die nicht ganz so gut sind, verbessert
werden sollen.
({7})
Erst recht reicht man einen solchen Entwurf nicht ein,
wenn man nicht bis ins letzte Komma geprüft hat, ob alles das, was man hingeschrieben hat, auch verfassungsmäßig ist. Also: handwerklich fehlerhaft. Einen solchen
Entwurf vorzulegen entspricht wirklich nicht dem Ernst,
mit dem man an eine Verfassungsänderung herangehen
sollte.
({8})
Ich sage noch ein paar Worte zu einem Thema, das
uns als Sozialdemokraten besonders bewegt, nämlich die
allgemeine Einführung von mehr direkter Demokratie
und entsprechende Änderung des Grundgesetzes, Mitbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern in wichtigen
politischen Fragen, in denen sie dies wünschen. Wir
meinen, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Tat
mündig sind. Nach 50 Jahren Republik können wir es
uns erlauben,
({9})
solche für uns manchmal vielleicht auch unbequemen
Änderungen vorzunehmen. Wir fordern Sie auf - den
Ball spiele ich gern an die FDP zurück - mitzumachen.
Lassen Sie uns eine neue Initiative starten
({10})
mit dem Ziel, Möglichkeiten dafür zu eröffnen, dass die
Menschen in der Bundesrepublik selbst entscheiden dürfen, was zu einer solchen Abstimmung gestellt wird!
({11})
Wir werden unsere Initiative, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in die Verfassung einzuführen, wieder aufnehmen, weil das für uns weiterhin ein
Herzensanliegen ist.
({12})
- Warten Sie auf unsere Initiative!
({13})
Wenn der Pulverrauch verdampft ist und wir über diesen
Entwurf heute entschieden haben, werden Sie die
nächste Initiative von uns sehr schnell auf dem Tisch haben. Ich bin darauf gespannt, ob die Abstimmung wieder
dieses wunderbare Bild von Kraut und Rüben ergeben
wird, wenn wir unsere Initiative erneuern. 14 dafür und
18 dagegen, das ist kein Abstimmungsbild, mit dem man
klar machen kann, dass man wirklich eine direkte Demokratie will.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kristina Köhler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Grundargument der FDP, über das wir heute diskutieren, ist an sich bestechend. Ganz im Geist John
Lockes will die FDP, dass der Souverän, das Volk, seine
Macht in einem ersten Akt an ein Institutionengefüge abgibt.
({0})
- Danke schön für das Kompliment. Das Gefühl hatte
ich auch. - Die FDP möchte also, dass bei einer Verfassung eine Primärdelegation der Macht durch das Volk
stattfindet. Allein: Dieses Argument trägt im konkreten
Fall leider nicht. Denn worüber reden wir heute? Wir reden über ein Regelwerk, das vor allem die Existenz und
den Aufgabenbereich einzelner EU-Organe festlegt. Dieses Regelwerk nennen wir Verfassung - aus gutem
Grund; damit tragen wir seiner Bedeutung Rechnung.
Aber handelt es sich hier wirklich um eine Verfassung
im Rechtssinne? Ich zitiere:
In einer Verfassung verständigen sich die Bürger
über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestaltung
und Verteilung politischer Macht.
Das stellt die FDP in ihrem Gesetzentwurf richtig
fest. Aber wird all dies wirklich erst in dem Verfassungsvertrag, über den wir heute abstimmen sollen, geregelt?
Nein.
({1})
Diese Inhalte sind doch längst in den einzelnen Verträgen der Europäischen Union geregelt. Die Macht ist
doch längst delegiert, und zwar in einem Prozess, der
seit der Gründung der Montanunion über den EWG-Vertrag schließlich in der EU geendet hat. Selbst der Europäische Gerichtshof und das Verfassungsgericht sagen,
dass der EWG-Vertrag die Verfassung der EU ist, wenn
man denn einen solchen Terminus gebrauchen möchte.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16161
Kristina Köhler ({2})
Die Europäische Union ist doch schon längst bei den
Bürgern zu Hause angekommen. Unzählige Gesetze wie
das Haustürwiderrufsgesetz oder das Verbraucherkreditgesetz sind doch alle schon Ausfluss europäischen
Rechts. Europäisches Recht wirkt schon längst. Die
Macht ist schon delegiert. Deswegen handelt es sich bei
diesem Regelwerk nicht um eine Verfassung im Rechtssinne. Deswegen sollten wir dem Bürger auch nicht vorgaukeln, er könne hier über eine Verfassung abstimmen.
({3})
Wir haben heute in diesem Hause eine wirklich interessante Konstellation. Da ist die FDP. Die FDP ist generell gegen Volksabstimmungen,
({4})
in diesem Fall aber dafür. Dann haben wir Rot-Grün.
Rot-Grün ist generell für Volksabstimmungen, in diesem
Fall aber dagegen.
Bei dieser Gelegenheit, Herr Kollege Bürsch: Sie haben eben mit so freundlichen Worten angekündigt, dass
man ja eine neue Initiative zum Thema Volksabstimmung starten wolle.
({5})
Bereits 2002, in seiner Regierungserklärung zum Anfang der Legislaturperiode, hat der Bundeskanzler dies
weihevoll angekündigt. Die Koalition gibt sich ja gern
plebiszitär. Allein: Sie haben in dieser Wahlperiode noch
keinen einzigen dementsprechenden Antrag eingebracht.
({6})
Ich habe noch kein einziges Wort von Ihnen hier in diesem Plenum dazu hören können und das finde ich nicht
ganz konsequent.
({7})
Die einzig konsequente Fraktion in diesem Hause ist
die Union.
({8})
- Wollen Sie meinen Argumenten nicht einmal zuhören? Denn die CDU/CSU ist der Auffassung, dass es von den
Vätern des Grundgesetzes klug war, Deutschland als repräsentative Demokratie auszugestalten. Daher ist es unklug, ständig nach Punkten zu suchen, bei denen man
von dieser grundlegenden Weichenstellung unseres
Grundgesetzes abweicht.
({9})
Wir sind nämlich nicht der Auffassung, dass wahre
Legitimation immer nur direkte Legitimation durch das
Volk ist, so wie es im Antrag der FDP durchschimmert.
({10})
Denn dann kann man schon die Frage stellen, ob denn
Rechtsakte ohne direkte Legitimation durch das Volk
weniger legitimiert sind. Ich weiß nicht, ob Sie dieser
Auffassung sind. Darunter fallen immerhin solche Kleinigkeiten wie das Grundgesetz, die deutsche Einheit
oder die europäischen Verträge, Frau Kollegin. Ich
glaube daher nicht, dass es ernsthaft in Ihrem Sinne ist,
diese Rechtsinstitute oder diese konstituierenden Akte
infrage zu stellen.
Und: Wenn Sie meinen, das Volk solle über die Verfassung abstimmen, warum denn dann nicht auch zum
Beispiel über die Mitgliedschaft weiterer Länder in der
EU?
({11})
Warum wollen Sie denn über ein wichtiges Regelwerk
abstimmen lassen, aber zum Beispiel nicht über den Türkeibeitritt?
({12})
Denn schließlich würde die EU-Verfassung doch am tatsächlichen Charakter der Europäischen Union wesentlich weniger ändern als ein Beitritt der Türkei, der den
Charakter der EU entscheidend prägen würde.
Deswegen hielten wir es für konsequent, dann auch
hier einen Volksentscheid zuzulassen. Aber das ist der
Punkt: Bei eher formellen Fragen wollen Sie das Volk
abstimmen lassen, bei folgenreichen, die EU verändernden Fragen aber nicht. Auch das erscheint uns nicht ganz
konsequent.
({13})
Damit komme ich zum Schluss, zum vielleicht sogar
wichtigsten Punkt, und zwar zur Frage der Verantwortlichkeit. In einer repräsentativen Demokratie sind Parlament und Regierung verantwortlich vor den Bürgern. Sie
müssen für Entscheidungen geradestehen. Wenn sie aus
Sicht des Volkes Fehler gemacht haben, können sie auch
abgewählt werden.
Wer wäre denn bei einer Volksabstimmung verantwortlich? Wer würde da zur Rechenschaft gezogen werden? Soll sich das Volk selbst zur Rechenschaft ziehen?
({14})
- Sie sagen Ja und ich hätte ein eigenartiges Demokratieverständnis. Sie finden vermutlich, dass das total basisdemokratisch klingt. Sagen Sie mir aber einmal, was das
konkret heißt. Wer handelt? Wer steht für die Folgen gerade?
16162 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Kristina Köhler ({15})
({16})
Wer nimmt denn dann eine eventuelle Rücknahme der
Entscheidungen vor?
Ich glaube, dass diese Punkte zeigen, dass die Idee einer einmaligen Volksabstimmung unausgereift ist, weil
sie unserer repräsentativen Demokratie wesensfremd ist.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Winkler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst eine kurze Richtigstellung: Frau Kollegin Köhler, Sie haben die Väter des Grundgesetzes zitiert. Es gab auch drei Mütter. Sie haben sinngemäß gesagt, die Beschlussfassung im Parlamentarischen Rat
habe dazu geführt, dass direkt demokratische Elemente
ausgeschlossen wären. Das solle man befolgen. Ich will
aus Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes zitieren:
({0})
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und
durch besondere Organe der Gesetzgebung, der
vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
({1})
Also: Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt.
Wenn Sie das, was die Väter und Mütter damals beschlossen haben, durchlesen,
({2})
dann können Sie nachvollziehen, dass es bei der Debatte
damals sehr hoch herging. Am Ende hat man sich darauf
geeinigt, in das Grundgesetz hineinzuschreiben, dass in
Zukunft auch Abstimmungen zu den Rechten des Volkes
gehören. Man konnte sich aber nicht auf ein Verfahren
einigen. Das ist eine noch immer nicht eingelöste Verpflichtung des Deutschen Bundestages. Dieser müssen
wir noch nachkommen. Das werden wir, wie der Kollege
Bürsch richtig ausgeführt hat, so schnell wir es ermöglichen können, tun.
({3})
Richtig ist natürlich auch, dass wir im letzten Herbst
an die Fraktionsvorsitzenden der Oppositionsfraktionen
in dieser Sache geschrieben haben. Frau Dr. Merkel und
Herr Stoiber, der als Parteivorsitzender angeschrieben
wurde, haben es deutlich abgelehnt, über direktdemokratische Elemente ins Gespräch einzutreten. Insofern haben wir uns gesagt: Warum sollen wir noch vor den
Europawahlen einen Schauantrag ins Parlament einbringen? - Das machen wir nicht.
({4})
Wir überlegen. Zusammen mit der FDP werden wir
gerne den Druck auf die Union vergrößern. Diese Verpflichtung, die dem Deutschen Bundestag aufgegeben
ist, werden wir umsetzen.
({5})
- Herr Löning, warum regen Sie sich eigentlich so auf?
Haben Sie schlecht geschlafen? Die ganze Zeit plustern
Sie sich schon auf. Ich kann ja verstehen, dass sich die
FDP ein bisschen aufregt; denn die Beschlussfassung zur
direkten Demokratie ist wirklich etwas verwirrend.
({6})
Das wird der Kollege Burgbacher sicherlich gleich aufklären.
({7})
Kommen wir zu dem, was sich in der Union abspielt.
Einer Ihrer Kollegen, der Kollege Kolbe, der heute durch
Abwesenheit glänzt, hat jetzt, obwohl wir zwei Jahre
über nichts anderes reden als darüber, wie wir mit dem
europäischen Verfassungsgebungsprozess umgehen, gesagt, ein Volksentscheid müsse her. Das ist genauso billiger Populismus wie der Antrag der FDP. Er ist noch
nicht einmal anwesend.
({8})
Das kennen wir seit Jahren. Wir sagen seit Jahren, dass
wir das Volk zu jedem denkbaren Thema entscheiden
lassen wollen. Wir wollen keine Rosinenpickerei betreiben. Das ist eine klare Ansage. Das, was Sie machen, ist
Wischiwaschi. Das machen wir nicht mit.
({9})
Im Übrigen sind mir standhafte Kollegen wie der
Kollege Dr. Gauweiler lieber, die kontinuierlich, über
viele Jahre hinweg, in aller Deutlichkeit sagen, was sie
davon halten, nämlich dass sie für Volksentscheide sind.
({10})
Mit einer etwas irrigen Rechtsauffassung hat er heute dafür gesorgt, dass sich die Tickermeldungen überschlagen
haben. Ich finde es natürlich auch nicht korrekt, wenn
der Kollege Gauweiler sagt, das Verfassungsgericht solle
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16163
dem Bundestag vorschreiben, womit er sich zu befassen
habe. Mich würde wirklich interessieren, ob Sie das gut
durchdacht haben. Ich halte das nämlich für etwas abwegig.
({11})
- Herr Kollege Löning, ich kann Sie nur sehr schlecht
verstehen. Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen oder
mich in Ruhe reden lassen? Für eines müssen Sie sich
entscheiden.
({12})
Deshalb ist es aus meiner Sicht nicht nur sinnvoll,
sondern auch erforderlich, die Mitspracherechte der nationalen Parlamente auszubauen - darüber wurde in den
letzten Tagen diskutiert -, und zwar nicht nur, was die
Mitwirkung bei der Gesetzgebung auf europäischer
Ebene angeht, sondern auch, wenn es um die UNO geht.
Der Unterausschuss Vereinte Nationen des Auswärtigen Ausschusses hat sich damit in letzter Zeit im Rahmen verschiedener Anhörungen befasst. Sowohl die europäische als auch die parlamentarische Dimension der
Vereinten Nationen spielen hier eine Rolle. Meiner Meinung nach sind nationale Volksentscheide nur ein erster
Schritt auf dem Weg zu europaweiten Volksentscheiden.
Das wäre eine klare Ansage. Ich sage Ihnen: Wir müssen
die Chance nutzen, die europäische Verfassung so
schnell wie möglich zu ratifizieren. Jede Verzögerung
wäre sträflich.
({13})
Wir werden Ihren Antrag ablehnen und die europäische
Verfassung hoffentlich am 12. Mai dieses Jahres ratifizieren.
({14})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Peter
Gauweiler das Wort.
({0})
Herr Kollege Winkler, es geht mir nicht darum, dass
das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag Vorschriften macht, sondern darum, dass mithilfe des Bundesverfassungsgerichts die Wiederholung einer Situation
vermieden wird, wie wir sie im Zusammenhang mit dem
Europäischen Haftbefehl gerade erleben durften. Um
den europäischen Verfassungsvertrag überhaupt zustimmungsfähig zu machen, gibt es aus meiner Sicht in der
Tat nur die Möglichkeit der Zustimmung zu einem Referendum und durch ein Referendum, wie sie im Antrag
der FDP vorgesehen ist.
({0})
Warum? Das ist aus zwei Gründen so.
Erstens. Im europäischen Verfassungsvertrag wird ein
absoluter Vorrang der europäischen Verfassung vor dem
nationalen Recht, also auch vor dem nationalen Verfassungsrecht, also auch vor den Grundrechten des Grundgesetzes, statuiert.
Zweitens. In Art. I Ziff. 6 des europäischen Verfassungsvertrags wird erstmalig zum Ausdruck gebracht,
dass dieser Vorrang nicht nur für die Verfassung, sondern auch für das von den Organen der Europäischen
Union gesetzte Recht gilt. Das Grundgesetz auf diese
Weise durch ein anderes Systemkonzept zu ersetzen, worüber man in einem freiheitlichen Gemeinwesen zwar
immer reden können muss, steht dem Deutschen Bundestag - das sage ich mit allem Respekt vor diesem Hohen Hause - auch nicht mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder zu.
Warum nicht? In Art. 146 des Grundgesetzes, der im
Zusammenhang mit der deutschen Einheit in aller
Munde war, aber entgegen mancher Meinung nicht abgeschafft ist, heißt es ganz klar, dass das Grundgesetz
seine Gültigkeit erst dann verliert darf, wenn eine neue
Verfassung in Kraft tritt, die sich das deutsche Volk in
freier Entscheidung gegeben hat. Also kann es für diejenigen, die dem europäischen Verfassungsvertrag und damit der Ersetzung des Grundgesetzes durch ein anderes
System zustimmen wollen, nur den Weg über ein Referendum geben. Alle anderen Wege würden gegen unsere
Verfassung verstoßen.
({1})
Herr Kollege Ströbele, Sie dürfen leider nicht antworten, aber Ihr Kollege Winkler darf das tun. - Bitte.
Das Wort „leider“ nehme ich zur Kenntnis.
({0})
Das war nur ein geschäftsleitendes „leider“.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Gauweiler, ich sehe mich nicht in der Lage, Ihren juristischen Sachverstand in irgendeiner Weise ausreichend
16164 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
konterkarieren zu können. Trotzdem halte ich Ihre Auffassung für falsch.
Zum Ersten. Der Deutsche Bundestag ist sehr wohl
berechtigt, die Verfassung zu ändern. Ich gehe fest davon
aus, dass jeder Bürger, wenn er bei einer Bundestagswahl - in Unkenntnis des Art. 146 des Grundgesetzes seine Entscheidung trifft, davon ausgeht, dass der Bundestag diese Rechte hat und dass er in seine Wahlüberlegung einbezieht, dass wir auch über Fragen wie die Ratifizierung der europäischen Verfassung abstimmen
können.
Was mich mehr interessiert, ist, wieso Sie für diese
Auffassung eigentlich nicht in Ihrer eigenen Fraktion geworben haben; das ist ja ein Misstrauensvotum gegenüber dem Kollegen Altmaier, der gleich noch sprechen
wird, und auch gegenüber dem Vertreter des Bundesrats,
der auch Ihrer Parteienfamilie entstammt, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Teufel. Ich finde es freundlich,
dass Sie mit Ihrer Pressemitteilung immerhin gewartet
haben, bis er gestern seinen Rücktritt erklärt hat. Nichtsdestotrotz finde ich, Sie hätten genügend Gelegenheit
gehabt, diese Dinge in Ihrer Fraktion zu thematisieren.
Dass Sie das jetzt wenige Wochen vor der Ratifizierung
der EU-Verfassung in dieser etwas populistischen Weise
machen, halte ich für falsch; ich rechne auch nicht damit,
dass sich das Bundesverfassungsgericht in irgendeiner
Weise dem anschließt, was Sie da vorgetragen haben.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Bürsch, lieber Herr Winkler, wenn man
selbst eiert, fängt man an, auf andere zu schießen. Mit
dieser Munition werden Sie allerdings nichts gewinnen.
Es war ja teilweise geradezu lächerlich, was da von Ihnen kam.
({0})
Herr Bürsch, Sie haben den 7. Juni 2002 noch einmal angesprochen. Es ist richtig: Damals haben viele von uns
dagegen gestimmt, manche dafür. Sie wissen aber genau,
was der tiefere Grund dafür war: Wir wollten die Situation retten und haben einen eigenen Gesetzentwurf zur
Volksinitiative eingebracht, weil wir dachten, damit ist
eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen.
({1})
Das ist damals gescheitert. Ich sage Ihnen ganz persönlich, Herr Bürsch: Ich habe meine Meinung in der Zwischenzeit auch geändert, weil ich einige Erfahrungen gemacht habe, unter anderem mit der unsäglichen
Föderalismuskommission.
({2})
Was da in diesem Land passiert ist, hat dazu geführt,
dass ich sage: Ohne das Volk geht es gar nicht mehr.
Deshalb bin ich da inzwischen dezidiert anderer Meinung.
({3})
Herr Gauweiler, was Sie getan haben, kann ich in einem Punkt vielleicht noch mittragen, aber ich muss Ihnen eines sagen: Das heute zu bringen, halte ich für
schieren Populismus.
({4})
Sie haben über ein Jahr Zeit gehabt, in Ihrer Fraktion um
Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf zu werben; hätten Sie das getan, dann hätten wir heute vielleicht eine
andere Situation.
({5})
Meine Damen und Herren, worum geht es? Wir wollten mit unserem Gesetzentwurf einen Volksentscheid
über die europäische Verfassung ermöglichen. Es war
uns klar, dass es nicht möglich sein wird, in dieser kurzen Zeit ein umfassendes Konzept für mehr direkte Demokratie zu verabschieden. Deshalb haben wir den Gesetzentwurf über einen Volksentscheid über die
europäische Verfassung eingebracht. Viele von Ihnen
hatten das eigentlich unterstützt; es steht in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Wir wissen, dass auch viele von der
Union durchaus große Sympathien dafür haben. Aber
was sich heute abspielt, halte ich wirklich für ein Trauerspiel: Viele, die dafür sind, lehnen es deshalb ab, weil es
von der FDP kommt ({6})
so kann Demokratie in unserem Land doch wirklich
nicht funktionieren.
({7})
Um es klar zu sagen: Die FDP will ein Ja zur Verfassung und wir hätten uns darüber gefreut, wenn ein
Volksentscheid eine breite Kampagne in unserem Land
ausgelöst hätte.
({8})
Wir hätten uns darüber gefreut, wenn wir das Volk informiert hätten, wenn wir alle auf der Straße mit den Leuten
diskutiert
({9})
und die Bevölkerung auf dem Weg nach Europa endlich
mitgenommen hätten.
({10})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16165
Ihr Nein hat das verhindert; das müssen Sie auf Ihre Fahnen schreiben.
({11})
Sie breiten hier Scheinargumente aus. Lieber Herr
Winkler, ich lese Ihnen einmal vor, was ich vor drei Monaten auf der Homepage der Grünen gefunden habe; ich
dachte, es wäre inzwischen geändert, aber es steht dort
immer noch. Da heißt es wörtlich:
Um auch einen Volksentscheid über die EU-Verfassung zu ermöglichen, hat sich die Koalition darauf
verständigt, dass auch der Bundestag in bestimmten
Fällen Volksentscheide initiieren kann.
({12})
Sie sagen nach außen, Sie sind für den Volksentscheid hier stimmen Sie dagegen. Nach außen sagen Sie, Sie
sind gegen MEADS, morgen stimmen Sie dafür.
({13})
Das ist doch das Spiel der Grünen: Sie lügen die Leute
an.
({14})
Sie behaupten draußen Dinge und im Parlament machen
Sie genau das Gegenteil. Wir haben genug von diesem
Spiel.
({15})
Herr Kollege, achten Sie bitte trotz Ihrer großen Lautstärke darauf, dass Ihre Redezeit vorbei ist.
Es ist schwierig, in drei Minuten die einzige Gegenposition zu begründen.
({0})
Aber das sind nun einmal die Regeln hier.
Sie treiben hier ein doppelbödiges Spiel. Das muss
ich wirklich noch einmal an die Adresse der Grünen sagen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen:
Nein, Herr Kollege.
Wir haben eine Chance verpasst, für mehr Bürgernähe
und mehr Transparenz zu sorgen.
({0})
Wenn wir in der nächsten Sitzungswoche wahrscheinlich
über 90 Prozent - ({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier.
({0})
- Herr Kollege, Sie wissen, dass die Sitzungsleitung
während der Sitzung nicht von Ihnen kritisiert werden
kann. Ich rufe Sie zur Ordnung. - Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Verfassung, die wir am 12. Mai 2005 verabschieden werden, ist zweifellos ein großer Fortschritt. Sie bringt viele
Veränderungen mit sich; sie hat auch manche Defizite
und Probleme.
Sehr geehrter Herr Gauweiler, Sie wissen, dass ich
Ihre Argumentationen durchaus schätze und genieße. In
einem irren Sie allerdings profund: Durch diese Verfassung wird das deutsche Grundgesetz weder ausgehöhlt
noch außer Kraft gesetzt.
({0})
Die Europäische Union ist kein Staat und sie wird durch
diese Verfassung auch nicht zu einem Staat. Im Gegenteil: Wir haben im Verfassungsvertrag eine Reihe von
Vorkehrungen getroffen, durch die die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten gestärkt und ausgebaut wird:
Wir haben die Rolle der Mitgliedstaaten als Herren
der Verträge erstmals ausdrücklich in der Verfassung erwähnt. Wir haben das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erstmals erwähnt und durch unsere Klarstellung gestärkt, dass allgemeine Zielbestimmungen keine
Kompetenznormen für die Gemeinschaft begründen.
Wir haben in dieser Verfassung zum ersten Mal ein System der Kompetenzabgrenzung verankert, so unvollkommen es auch sein mag. Wir haben das Austrittsrecht
der Mitgliedstaaten normiert. Auch das gab es bisher
nicht. Wir haben in Art. I-5 festgelegt, dass diese Verfassung die nationale Identität der Mitgliedstaaten, in denen
auch die politische und verfassungsrechtliche Struktur
zum Ausdruck kommt - das war ein ausdrückliches
Zitat -, zu achten hat. Zum ersten Mal sind die grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen der Staaten ausdrücklich geschützt.
Das alles zeigt: Es gab noch kein Dokument auf europäischer Ebene, das die Eigenständigkeiten der
16166 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Mitgliedstaaten für die Zukunft so positiv und auch deutlich unterstreicht.
Sehr verehrter Herr Kollege Gauweiler, Sie sagen, der
Umstand, dass wir das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts in der Verfassung ausdrücklich erwähnt haben, sei eine neue Qualität. Auch in dieser Hinsicht irren Sie. Dieses Prinzip hat der Europäische
Gerichtshof vor über 40 Jahren in seiner Rechtsprechung
entwickelt. Wir haben es seit vielen Jahrzehnten gewusst. Wir hätten auf Regierungskonferenzen - Vertrag
von Maastricht, Vertrag von Amsterdam, Vertrag von
Nizza - die Möglichkeit gehabt, dieses Prinzip zu korrigieren. Wir haben es nicht getan. Jetzt haben wir es sogar ausdrücklich in die Verfassung hineingeschrieben
und wir haben in einer Erklärung der Regierungskonferenz darauf hingewiesen, dass wir uns damit auf die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes beziehen - nicht mehr und nicht weniger. Es gibt in diesem
Bereich keine Veränderung.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag
wird dem Verfassungsvertrag mit großer Mehrheit zustimmen. Auch die Kolleginnen und Kollegen von der
FDP werden diesem Verfassungsvertrag mit großer
Mehrheit zustimmen. Weil das so ist und weil wir die
Ausarbeitung der Verfassung von Anfang an mit einem
Höchstmaß an Transparenz und Bürgerbeteiligung ausgestattet haben - das wird die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger aus dem Europaausschuss bestätigen
können -, ist für die Ratifizierung dieses Vertrages eine
Volksabstimmung, ein Referendum, weder erforderlich
noch sinnvoll.
Wir haben in den letzten 50 Jahren gute Erfahrungen
mit unserem System der repräsentativen Demokratie gemacht. Ich will die direkte Demokratie gar nicht grundlegend ablehnen, aber wir haben auf Bundesebene eben
keine Erfahrungen mit Referenden und Volksabstimmungen.
({1})
Ich bin strikt dagegen, sehr geehrter Herr Kollege
Ströbele, dass wir ausgerechnet die europäische Verfassung, die für die Zukunft unserer Bürger ein wichtiger
Fortschritt und ein wichtiges Dokument ist, zum Versuchskaninchen für ein Verfahren machen,
({2})
das wir bislang in keinem anderen Bereich der bundesdeutschen Gesetzgebung erprobt haben.
({3})
Schauen wir einen Augenblick nach Frankreich.
Dort wird es ein Referendum über die Verfassung geben.
Aber die Debatte in Frankreich vermengt die Frage der
Verfassung mit der Frage des Beitritts der Türkei, der
Dienstleistungsrichtlinie, der Osterweiterung und vielen
anderen Fragen, die mit diesem Verfassungsdokument
nicht das Geringste zu tun haben. Im Übrigen ist es so
- der Kollege Burgbacher wird es aus eigener Anschauung und Erfahrung wissen; Sie sind genau wie ich oft
vor Ort -, dass in Frankreich die Unzufriedenheit mit der
wirtschaftlichen Situation mit ein Auslöser dafür sein
wird, dass diejenigen, die diese Unzufriedenheit zum
Ausdruck bringen wollen, gegen die Verfassung stimmen werden, um damit ihrer politischen Führung die
rote Karte zu zeigen.
Angesichts der wirtschaftlichen Lage in Deutschland
mit 5 Millionen Arbeitslosen und dem Verlust von täglich Tausend Arbeitsplätzen, einer wirtschaftlichen Situation, die nicht besser, sondern schlechter wird, meine
ich: Wir sollten die europäische Verfassung davor bewahren, zum Sündenbock für eine schlechte und unfähige Regierung zu werden,
({4})
die nicht imstande ist, die Probleme dieses Landes zu lösen.
({5})
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten in diesem Hohen Haus oft über die europäische Verfassung
diskutiert. Es fanden Anhörungen sowie Hunderte und
Tausende Veranstaltungen mit vielen Bürgerinnen und
Bürgern vor Ort statt. Wenn wir es schaffen, bei der Ratifizierung dieses Verfassungsvertrages am 12. Mai über
die Parteigrenzen hinweg ein deutliches Signal unseres
Bekenntnisses zur europäischen Integration und zur europäischen Einigung zu geben, wenn wir bereit sind, im
Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger die neuen
Möglichkeiten der Subsidiaritätskontrolle und der Klage
vor dem Europäischen Gerichtshof, die diese Verfassung
den nationalen Parlamenten einräumt, offensiv zu nutzen, dann werden wir auch die Kluft, die manchmal zwischen Europa und den Bürgern besteht, ein gutes Stück
verringern können. Dieses Ziel ist aller Mühe wert.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
wir haben in Deutschland so viel wichtigere Themen.
Davon sollten wir nicht mit einer Diskussion über ein
Referendum ablenken, nachdem wir klar und deutlich
über alle Parteigrenzen hinweg gezeigt haben, das wir
diese Verfassung für notwendig und richtig halten.
({6})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Art. 23
des Grundgesetzes zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung auf Drucksache 15/2998. Der Innenausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/4796, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16167
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Grünen, der CDU/CSU - bis auf zwei Stimmen - gegen
die Stimmen der FDP und der Abgeordneten Gauweiler
und Girisch abgelehnt worden. Enthaltungen gab es
keine. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
4. November 2003 betreffend den Prospekt,
der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu
veröffentlichen ist, und zur Änderung der
Richtlinie 2001/34/EG ({0})
- Drucksachen 15/4999, 15/5219 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 15/5373. -
Berichterstattung:
Abgeordnete Nina Hauer
Patricia Lips
Jutta Krüger-Jacob
Dr. Volker Wissing
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Nun ha-
ben aber die Abgeordneten Lips, Krüger-Jacob, Wissing,
Hauer und die Parlamentarische Staatssekretärin
Hendricks gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu
können. Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren
wir so.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf, den
ich eben genannt habe. Der Finanzausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5373,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3}) zu dem Antrag
1) Anlage 5
der Abgeordneten Horst Seehofer, Andreas
Storm, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wirkungen und Nebenwirkungen des GKVModernisierungsgesetzes - Kritische Bestandsaufnahme
- Drucksachen 15/4135, 15/5364 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust
ZP 8 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Sicherung der Arzneimittelversorgung bei
Kindern und Jugendlichen
- Drucksache 15/5318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
gibt es keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Wolfgang Zöller.
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei den gemeinsamen Verhandlungen zum
GKV-Modernisierungsgesetz hatten wir mit der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen abgesprochen,
dass wir nach dem ersten Jahr über die Folgewirkung des
Gesetzes Bilanz ziehen wollen. Wir haben in unserem
Antrag eine Reihe von Punkten benannt, bei denen wir
Diskussionsbedarf sehen und die einer vertieften Prüfung bedürfen. Die Anhörung vor wenigen Wochen hat
gezeigt, dass unsere Auffassung bestätigt worden ist.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Anhörung sorgfältig auswertet und dem Deutschen Bundestag noch vor der Sommerpause eine entsprechende Stellungnahme zukommen lässt.
Besonders ärgerlich bleibt nach wie vor die Tatsache,
dass die Bundesregierung bei den Verhandlungen zu
dem Gesetz von falschen Zahlen zur Verschuldung der
Krankenkassen ausgegangen ist. Hätten wir nämlich im
Sommer 2003 nicht über 4 Milliarden Euro, sondern
über die tatsächlichen 8 Milliarden Euro gesprochen,
({0})
dann hätte es realistischere Prognosen zur Beitragsentwicklung gegeben. Dass wir nun eine andere Situation
haben und die Beiträge nicht wie erwartet sinken, hat das
Gesetz bei den Menschen viel Akzeptanz gekostet. Es
scheint im Übrigen ein Grundproblem dieser Bundesregierung zu sein, ständig falsche und viel zu optimistische
Prognosen über die finanzielle Lage der Sozialversicherungen abzugeben.
({1})
16168 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Das verunsichert die Menschen und beschädigt auch das
Vertrauen in die Solidität der Regierung. Das schadet
aber auch der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes, weil verlässliche Perspektiven ein wichtiges Element der Standortentscheidung von Unternehmen sind.
({2})
Unter den vielen Punkten, die im Rahmen der Anhörung angesprochen wurden, gibt es einen, bei dem wir
dringenden Handlungsbedarf sehen. Deshalb haben wir
einen Gesetzentwurf eingebracht. Es geht um die Arzneimittelversorgung von Kindern und Jugendlichen.
Im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes haben
wir gemeinsam beschlossen, dass Kinder und Jugendliche von allen Zuzahlungen in der Arztpraxis und bei
Medikamenten befreit bleiben. Dies ist eine wichtige
und richtige Entscheidung zugunsten von Familien.
Familien sind ohnehin finanziell mehr belastet als
kinderlose Paare und wir sollten alle zusätzlichen Belastungen vermeiden, die die wirtschaftliche Situation der
Familien mit Kindern verschlechtern.
({3})
Wir wollen eine kinderfreundliche Gesellschaft, in der
die Tatsache, Kinder zu haben, nicht zu Benachteiligungen führt. Dies ist eine grundsätzliche Werteentscheidung, an der wir uns bei all unserem politischen Handeln
orientieren müssen.
Wir als Union haben uns deshalb sehr schwer getan,
bei den Konsensverhandlungen auf die Forderungen der
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen einzugehen, Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr grundsätzlich
aus der Erstattungsfähigkeit für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel herauszunehmen. Wir haben
auch damals davor gewarnt, konnten uns aber, wie es bei
Konsensen üblich ist, in diesem Punkt nicht durchsetzen.
({4})
- Wenn Sie sagen, dass Sie das anders in Erinnerung haben, muss ich feststellen, dass Sie bei diesen Verhandlungen überhaupt nicht dabei waren.
Um größere Versorgungsprobleme zu vermeiden, hat
der Gesetzgeber der Selbstverwaltung von Ärzten und
Krankenkassen die Aufgabe übertragen, für schwerwiegende Erkrankungen eine Ausnahmeliste für solche
Arzneimittel zu erstellen, die weiterhin von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden sollen. Der
Gemeinsame Bundesausschuss hat damit eine Verantwortung übernommen, der er meines Erachtens nicht in
dem von uns erwarteten Maße gerecht geworden ist.
Dies trifft im Übrigen auch auf andere Fragen wie zum
Beispiel die Richtlinie zur Verordnung künstlicher Ernährung oder die Positronen-Emissions-Tomographie
zu. Man hat den Eindruck, dass bei einigen Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses ökonomische
Argumente zulasten von medizinischen Aspekten im
Vordergrund stehen.
Ich hätte mir bei der Zusammenstellung der Ausnahmeliste vom Bundesausschuss erwartet, dass die besonderen medizinischen Bedürfnisse des jugendlichen Organismus berücksichtigt werden. Die Verbände der
Kinder- und Jugendärzte sowie Hautärzte haben in mehreren Stellungnahmen deutlich gemacht, dass insbesondere Jugendliche mit Hautkrankheiten und Allergien wie
zum Beispiel Heuschnupfen und Asthma auf die Behandlung mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln angewiesen sind. Ein Ausweichen auf wirkungsstärkere Arzneimittel, die verschreibungspflichtig sind,
ist wegen der stärkeren Nebenwirkungen für den jugendlichen Organismus in vielen Fällen medizinisch nicht
vertretbar.
Leider hat der Bundesausschuss diese Argumente unter Hinweis auf den Gesetzestext nicht berücksichtigt.
Die Folge ist, dass, insbesondere bei Jugendlichen aus
einkommensschwachen Haushalten, die notwendige Behandlung eingeschränkt wird oder unterbleibt. Damit besteht die Gefahr, dass die Krankheiten chronisch werden
und ein Dauerschaden entsteht. Dies ist nicht nur ein medizinisches Problem für die Betroffenen, sondern es
führt auch zu erheblichen Kostensteigerungen für die
Versichertengemeinschaft. Angesichts dieser Entwicklung ist die Heraufsetzung der Altersgrenze für die Erstattungsfähigkeit von nicht verschreibungspflichtigen
Arzneimitteln vom zwölften auf das 18. Lebensjahr geboten, damit in diesem Bereich endlich wieder Rechtssicherheit geschaffen wird.
({5})
Es ist auch nicht so, dass dadurch erhebliche Mehrkosten entstehen würden. In dem Gesetzentwurf gingen
wir nämlich von einem Einsparvolumen von rund
1 Milliarde Euro aus, aber tatsächlich wurden in diesem
Bereich 1,4 Milliarden Euro eingespart. Das heißt, hier
könnte ohne weiteres eine Kompensation stattfinden.
Außerdem würden nach Ansicht der ärztlichen Berufsverbände durch diese Maßnahme erhebliche Folgekosten
eingespart, die aus einer Fehl- und Unterbehandlung resultieren würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von
dieser Problematik gibt es, wie schon kurz erwähnt, auch
noch andere Entscheidungen des Bundesausschusses,
die zu Kritik Anlass geben. Dies gilt insbesondere für
den neuerlichen und mittlerweile dritten Entwurf einer
Richtlinie zur Erstattung künstlicher Nahrung. Die
Verbände der betroffenen Patienten haben bereits darauf
hingewiesen, dass sie diese Richtlinie als eine Entscheidung gegen die Interessen chronisch Kranker und Behinderter sehen. Einige Sachverständige haben kritisiert, die
Richtlinie enthalte gravierende ernährungsmedizinische
Fehler. So werde die Bedeutung der Sondennahrung für
Krebskranke verkannt. Völlig unakzeptabel sei nach Ansicht der Sachverständigen, dass Kinder mit schweren
Entwicklungsstörungen keine Behandlung mehr mit
Supplementen und bilanzierter Trinknahrung erhalten
können.
Ich schließe mich in ein paar Punkten der berechtigten Kritik der betroffenen Patienten und deren Ärzten an
und fordere vom Bundesgesundheitsministerium, dass
die Richtlinie gestoppt wird. Nachdem der Bundesausschuss nun schon mit seinem dritten Anlauf, eine RichtDeutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16169
linie für künstliche Ernährung zu schaffen, sehr wahrscheinlich ebenfalls wieder scheitern wird, sollte das
Ministerium klare Vorgaben machen, wie diese Richtlinie zu gestalten ist. Es muss Schluss sein in diesem Bereich mit der Verunsicherung schwer kranker Menschen.
Deshalb sollte die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu unserem Antrag auch auf die Rolle und Funktion des Gemeinsamen Bundesausschusses und die Aufsicht durch das Gesundheitsministerium eingehen. Wir
können nicht zulassen, dass ständig Entscheidungen des
Bundesausschusses in der Öffentlichkeit zu Kontroversen führen und das Ministerium wiederholt eingreifen
muss. Bessere Kommunikation und frühzeitige Abstimmung würde den von der Entscheidung Betroffenen viel
Zeit und Aufwand ersparen und zur Rechtssicherheit
beitragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten Lösungen, die sicherstellen, dass den Menschen in
Deutschland hochwertige und innovative medizinische
Leistungen zur Verfügung gestellt werden, dass die
Ärzte und andere Leistungserbringer nicht durch bürokratische Regelungen stranguliert werden und dass bei
den Entscheidungen ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Gesichtspunkten und medizinischen Erfordernissen hergestellt wird. Wir müssen darauf achten,
dass die Patienten bekommen, was medizinisch notwendig ist. Dabei dürfen ökonomische Gesichtspunkte nicht
die erste Rolle spielen. Man muss den medizinischen
Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen.
Recht herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Zöller, das waren jetzt wahrhaftig Krokodilstränen. Wer
jagt denn diese Regierung mit der Forderung, dass die
Beiträge runter müssen? Wer hat denn diese Forderung
von morgens bis abends erhoben? Wer hat denn die Forderung erhoben, dass alle Sozialhilfeempfängerinnen
und -empfänger und alle Bezieher von Arbeitslosenhilfe
- dazu gehören auch Familien - voll und genau wie alle
anderen Versicherten in die Zuzahlung einbezogen werden?
Wer aber war es, der für chronisch Kranke eine Sonderregelung erstritten hat? Das waren nicht Sie; das waren wir.
({0})
Jetzt stellen Sie sich hin, erklären, Sie müssten die Welt
retten, und machen der Bundesregierung Vorwürfe dafür,
dass die Krankenkassen sie belogen haben. Auch Ihre
Landesaufsicht bei der AOK in Bayern hat ja vermutlich
versagt und erlaubt, dass über Jahre Schulden aufgebaut
wurden, die hervorragend vertuscht werden konnten.
({1})
Das hat alles nicht funktioniert und jetzt beklagen Sie
das.
Sie weisen zu Recht darauf hin - da stimme ich Ihnen
zu -: Wir haben in der Umsetzung, besonders bei den
Arzneimitteln, die verschreibungsfrei sind und nicht
mehr von den Kassen erstattet werden, in Bezug auf drei
Erkrankungsgruppen ein Problem. In allen anderen Bereichen sind die Probleme gelöst. Auch das, was Sie vom
Ministerium in der Frage der Ernährung eingefordert haben, ist erfolgt. Aber ich muss Sie einmal darauf aufmerksam machen, dass es sich um eine Rechtsaufsicht
und nicht um eine Fachaufsicht handelt.
({2})
Mit einer Fachaufsicht wären wir auch alle überfordert.
Ich kann doch nicht nachprüfen, was wo hinein muss.
Ich denke, wir müssen auf unserem Weg bleiben.
Ich komme zu einer anderen Forderung als Sie. Für
unsere Fraktion komme ich zu der Forderung: Das, was
medizinisch notwendig ist, muss es für alle geben und
nicht nur bis zum Alter von 18 Jahren.
({3})
Das ist aber letztlich das, was Ihr Gesetzentwurf fordert.
Sie haben es gut beschrieben: Wir haben gemeinsam
gesagt, dass wir in dieses Gesundheitssystem mehr Qualität, mehr Effizienz und damit am Ende auch mehr Wirtschaftlichkeit bringen wollen. Nun sind wir an einem
Punkt, an dem es zugegebenermaßen schwierig wird: Es
ist den Menschen oftmals sehr schwer zu erklären, dass
es auch ein Mehr an Qualität sein kann, wenn es das eine
oder andere nicht mehr gibt. Wir haben uns auf diesen
Weg gemacht und haben den Auftrag dem Gemeinsamen Bundesausschuss gegeben. Ich finde, er hat bis
jetzt besser als in den vorherigen Jahren, als er noch andere Strukturen hatte, gearbeitet.
({4})
Wir haben deutlich angemahnt - das ist unsere Verpflichtung -, dass wir in diesen drei Bereichen von ihm
Lösungen erwarten.
({5})
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir sind sehr zuversichtlich.
Ich bin sicher, wir werden diese Lösungen bekommen.
Dann werden wir bei den Hauterkrankungen und bei den
Allergien das haben, was uns jetzt fehlt. Es wird die Indikation geben. Außerdem werden die Kosten auch für
nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel erstattet
werden, wenn sie zur Indikation gehören und notwendig
sind.
({6})
- Generell.
({7})
16170 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Ich nehme das Beispiel eines an Neurodermitis Erkrankten. Weil seine Erkrankung als chronisch anerkannt
ist, bekommt er nach Ihren Vorstellungen die Behandlung nicht mehr bis zu einem Alter von Zwölf Jahren,
sondern bis zu einem Alter von 18 Jahren bezahlt. Wie
aber erklärt man diesem jungen Menschen, der vielleicht
noch zur Schule geht oder sich in der Ausbildung befindet, dass dies an seinem 19. Geburtstag aufhört, obwohl
seine Krankheit fortbesteht? Die Konsequenz kann doch
nur sein, zu der Auffassung zu gelangen, dass die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung sowohl
mit 19 als auch mit 90 Jahren notwendig ist.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Widmann-Mauz?
Ich möchte erst einmal zu Ende ausführen.
({0})
- Doch, aber ich möchte diese Ausführungen zunächst
beenden.
Wir haben uns gemeinsam auf diesen Weg begeben.
Aber Sie wollen jetzt einfach eine qualitätsorientierte
Politik durch eine sozialorientierte Politik ablösen. Wenn
es in diesem Land so ist, wie Sie sagen, nämlich dass die
Familien Probleme haben, dann bin ich der Meinung,
dass wir diese Probleme familienpolitisch lösen müssen.
Wir können sie aber nicht gesundheitspolitisch lösen, indem die Menschen abhängig vom Alter eine medizinisch
notwendige Versorgung bekommen. Dieser Lösungsweg
ist mit uns schlicht und einfach nicht zu beschreiten.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage
der Kollegin Widmann-Mauz?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Schaich-Walch, können Sie mir sagen,
ob Heuschnupfen eine schwerwiegende Erkrankung
ist? Wenn Heuschnupfen, wie der Gemeinsame Bundesausschuss festgelegt hat, keine schwerwiegende Erkrankung ist, dann gilt diese Entscheidung für über 18-Jährige wie auch für unter 18-Jährige. Bis jetzt konnten die
Kinder nicht mit entsprechenden Medikamenten versorgt werden. Damit bestand die Gefahr einer chronischen Asthmaerkrankung.
Sie werden schlechterdings nicht sagen können, dass
bei einem Erwachsenen Heuschnupfen eine schwerwiegende Erkrankung ist. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat auch darüber diskutiert, ob bestimmte Hauterkrankungen schwerwiegende Erkrankungen sind,
vergleichbar beispielsweise mit Diabetes. Sie müssen
die Fachkompetenz, die Sie dem Gemeinsamen Bundesausschuss vorhin mit sehr salbungsvollen Worten im
Hinblick auf die medizinische Ausgestaltung zugestanden haben, auch in diesem Punkt gelten lassen. Wenn es
sich also nicht um eine schwerwiegende Erkrankung
handelt, dann kann der Gemeinsame Bundesausschuss
diese Regelung nicht für unter 18-Jährige treffen, weil
die entsprechenden Präparate von der Versorgung ausgeschlossen sind.
Frau Kollegin, nur eine Zwischenfrage und eine Zwischenbemerkung sind erlaubt, aber keine Kurzintervention.
Ich frage Sie: Stimmen Sie mir zu, dass es nur die
Möglichkeit einer klaren gesetzlichen Regelung gibt, so
wie wir sie vorschlagen?
Frau Widmann-Mauz, ich muss Ihnen nicht zustimmen, aber ich gebe Ihnen sehr gern eine Antwort. Wir
werden hier nicht zu befinden haben, wann ein Heuschnupfen eine schwerwiegende Erkrankung ist.
({0})
Der Gemeinsame Bundesausschuss wird sich dieser
Frage - das ist besprochen - erneut widmen. Es gibt
Menschen, die ein oder zwei Wochen unter einem Heuschnupfen leiden, und es gibt Menschen, die vom Pollenverlauf nahezu das gesamte Jahr betroffen sind. Darunter sind Menschen, die unter Asthma leiden.
({1})
- Nein, das wird der Arzt für den Einzelnen abklären
und nicht der Gemeinsame Bundesausschuss. In dem
Gesetz ist keine Regelung enthalten, dass einzelne Patienten ihr Anliegen dem Gemeinsamen Bundesausschuss vortragen können. Das wollen wir auch in Zukunft nicht.
({2})
Wenn ein Patient unter Heuschnupfen und Asthma
leidet, dann wird diese Erkrankung behandelt. Ich kann
Ihnen versichern: Unter Heuschnupfen und Asthma zu
leiden
({3})
ist eine schwerwiegende Beeinträchtigung, egal ob der
Patient 16 oder 17 Jahre bzw. 75 oder 80 Jahre alt ist.
Deshalb ist der Weg, den Sie gehen wollen, indem Sie
glauben, ein gesundheitliches Problem dadurch lösen zu
können, dass Sie die Altersgrenzen verschieben, ein
Trugschluss. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss
sich noch einmal mit diesen Problemen, zum Beispiel
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16171
mit dem Problem der Sondennahrung, beschäftigen.
Wenn gesagt wird: „Wir haben den Eindruck, das eine
oder andere, was im Verfahren hätte berücksichtigt werden müssen, ist nicht berücksichtigt worden“, dann muss
er sich damit beschäftigen und eine Lösung dafür finden.
({4})
Ich bin zum Beispiel der festen Überzeugung, dass
man die Psoriasis in dem Bereich der chronischen Erkrankungen, so wie sie heute definiert werden, ansiedeln
kann. Es muss möglich sein, dass eine solche Erkrankung auf die eine oder andere Weise behandelt werden
kann. Mit Ihrer Öffnungslösung sehen Sie nur vor, dass
die Altersgrenze von zwölf auf 18 Jahre verschoben
wird. Auf diese Weise bezahlen die Krankenkassen allen
möglichen Schrott, wobei wir immer wollten, dass sie
dies nicht tun. Sie wollen für diese Gruppe, die nun hinzukommen und plötzlich wieder jedes Medikament bekommen soll, eine halbe Milliarde Euro ausgeben. Diese
halbe Milliarde kann man zielgerichtet zur Qualitätssicherung in der Versorgung einsetzen. Das werden wir
auch tun.
({5})
Herr Kollege Kirschner, ich konnte Ihre Zwischenfrage nicht mehr zulassen, weil die Redezeit bereits
überschritten war.
Das Wort hat der Kollege Dieter Thomae, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich stelle fest: Der Konsens zwischen SPD und
CDU/CSU scheint zu Ende zu sein.
({0})
Denn es wurden in dem vorliegenden Antrag Fragen gestellt, die mich schon erstaunen. Wer sich mit der Thematik intensiv beschäftigt hat, wusste, dass die Verschuldung der gesetzlichen Krankenkassen erheblich höher
war als 4 Milliarden Euro. Das war eindeutig feststellbar. Man wusste auch, dass Krankenversicherungsbeiträge auf Betriebsrenten nur bei gleichzeitiger Einführung von Übergangsfristen und nicht spontan von heute
auf morgen erhoben werden können, weil das meiner
Ansicht nach verfassungsrechtlich größte Bedenken hervorruft. Für Versicherte, die eine Betriebsrente erhalten,
ist es ein inhumaner Akt, diese von heute auf morgen zu
kappen.
({1})
Über die Thematik „Beitragsrückgewähr und Selbstbehalt“ ist in den letzten Jahren so intensiv diskutiert
worden und so viele Gutachten sind dazu erstellt worden, dass man wusste, wie man sich hier zu entscheiden
hat.
Wir wussten auch, zu welchen Konsequenzen es führen würde, wenn man die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der Erstattung herausnimmt. Auch
dazu gibt es und gab es eine Menge Gutachten. In jedem
Gutachten wurde gesagt: Wenn diese Arzneimittel herausgenommen werden, verlagern sich die Belastungen
in einen anderen Bereich. Es entstehen Kosten und eventuell auch Nebenwirkungen, die nicht sinnvoll sind.
Von daher halten wir es für den falschen Weg, einen
Gesetzentwurf einzubringen, in dem hinsichtlich der
Verschreibungen Altersbegrenzungen vorgesehen sind.
Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel sollen die
gleiche Chance haben wie die anderen Arzneimittel.
Denn es geht hier um die Therapiefreiheit, um die Entscheidung zwischen Patient und Arzt, welche Therapie
angewandt wird. Ich als Gesetzgeber möchte den Bürgern nicht vorgeben, wie sie therapiert werden. Das ist
keine Aufgabe des Gesetzgebers, sondern Sache zwischen Patient und Arzt.
({2})
Sie haben der jetzigen Konstruktion des Bundesausschusses zugestimmt. Wer sich damit beschäftigt hat,
wusste, dass die Politik im Grunde genommen einen
großen Teil der Verantwortung auf den Bundesausschuss
verlagert, weil Sie nicht bereit sind, die Entscheidungen,
die dort getroffen werden sollen, selber zu tragen.
({3})
Das muss man eindeutig sehen. Jeder, der einer solchen
Konstruktion des Bundesausschusses zugestimmt hat
- Sie alle wollten eine solche Konstruktion -,
({4})
wusste, dass dabei Konflikte entstehen. Jetzt permanent
auf den Bundesausschuss zu schimpfen halte ich für keinen sinnvollen Weg. Es muss eine vernünftige Auseinandersetzung stattfinden, damit eine vernünftige Entscheidung getroffen wird,
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kirschner?
- um die Problematik der künstlichen Ernährung zu
lösen. Aber man sollte nicht so vorgehen, wie Sie es machen: Sie hauen nur drauf und sagen: Die sind alle
schuld. Mit diesem Verhalten werden Sie nicht weiterkommen.
({0})
Bitte schön.
Nein, Herr Kollege, jetzt kann ich das leider nicht
mehr zulassen, weil Ihre Redezeit deutlich überschritten
ist.
16172 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({0})
Es tut mir leid.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier einen Antrag und
einen Gesetzentwurf der Union vor uns liegen. Mit dem
Antrag „Wirkungen und Nebenwirkungen des GKV-Modernisierungsgesetzes“ soll die Bundesregierung dazu
aufgefordert werden, eine Einjahresbilanz zu den finanziellen und strukturellen Wirkungen unseres gemeinsam
beschlossenen Gesetzes vorzulegen und zu prüfen, ob
bei bestimmten Details im Versorgungsgeschehen gesetzliche Änderungen vonnöten sind, und für Vergütungsfragen in der integrierten Versorgung Sorge zu tragen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, grundsätzlich halte ich einen solchen Antrag, sofern er von den richtigen Annahmen ausgeht,
durchaus für legitim; denn für so unfehlbar sollte sich
kein Gesetzgeber halten, dass er die Implementierung eines Gesetzes nicht im Auge behält, schon gar nicht bei
einer Reform wie dieser. Aber bei dem Begriff „Gesetzgeber“ schließe ich Sie bei der Gesundheitsreform einfach mit ein. Im Übrigen, Herr Zöller, ist es auch vollkommen richtig: Wir hatten in den Konsensgesprächen
vereinbart, eine Bilanzierung vorzunehmen.
Nicht legitim allerdings wäre es, wenn die Antragsteller einen solchen Antrag stellen, um sich im Nachhinein
aus der Verantwortung für einen gefundenen Kompromiss herauszustehlen. Dieser Kompromiss wurde stark
von Ihnen geprägt.
({0})
Aber derlei Fluchtversuche möchte ich der Opposition
überhaupt nicht unterstellen. Ich gehe davon aus, dass
auch Sie natürlich die Interessen der Patienten, der Versicherten, der Leistungserbringer und der Krankenkassen im Auge haben. Ich möchte Ihnen aber trotzdem sagen, warum ich Bauchschmerzen habe.
Zum Aspekt der Berichtspflicht. Zum einen halte ich
sie hinsichtlich der integrierten Versorgung für gar nicht
aussagekräftig. So etwas braucht Zeit. Tun Sie bitte nicht
so, als würden Sie seit der Verabschiedung des Gesetzes
ständig im Dunkeln tappen. Das stimmt schon deshalb
nicht, weil Sie im Gesundheitsausschuss ständig Anträge
stellen. Dort beraten wir im Übrigen regelmäßig und
dort informiert das BMGS regelmäßig über Kosten-,
Einnahmen- und Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich kann ein Informationsdefizit überhaupt nicht entdecken.
Des Weiteren richtet Ihr Antrag auch noch unkorrekte
Vorwürfe an die Ministerin und beinhaltet Widersprüchlichkeiten.
({1})
So behauptet die Union, dass der Bundeszuschuss für
versicherungsfremde Leistungen wegen fehlender Einnahmen aus der Tabaksteuer von uns infrage gestellt
werde. Dazu muss ich als stellvertretendes Mitglied im
Haushaltsausschuss sagen: Das ist schlichtweg falsch.
Die Tabaksteuer hat überhaupt nichts mit dem festgeschriebenen Bundeszuschuss zu tun.
({2})
Ich möchte Ihnen auch noch sagen: Ihre eigenen Fraktionskollegen beantragen im Haushaltsauschuss, die Erhöhung des Bundeszuschusses um 2,5 Milliarden Euro
zu sperren.
({3})
Noch etwas zur Entwicklung der Beitragssätze. Natürlich ist es richtig, wenn Sie sagen, wir hätten die Beitragssätze nicht richtig gesenkt, weil die Kassen verschuldet sind. Ich möchte Ihnen aber auch sagen: Ihr
Vorwurf an uns ist falsch. Erst im Juli 2004 haben auch
wir die korrekten Zahlen erhalten und waren somit auf
dem gleichen Informationsstand wie Sie.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer
Kollegin Widmann-Mauz?
Ja.
({0})
Frau Kollegin Selg, Sie haben gerade das Thema Tabaksteuer angesprochen und waren der Meinung, dass
niemand die dritte Stufe der Steuerreform infrage stellen
würde. Ist Ihnen ein Schreiben der Parlamentarischen
Staatssekretärin Caspers-Merk bekannt, das sie an Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion gerichtet hat, in
dem sie noch einmal nachdrücklich die Wirkungsweise
der Stufen darstellt, um insbesondere auf die Mitglieder
des Haushaltsausschusses einzuwirken und sie von der
Notwendigkeit der Stufen zu überzeugen?
Das ist mir durchaus bekannt, Frau Widmann-Mauz.
Dennoch haben die Einnahmen aus der Tabaksteuer
nichts damit zu tun, ob die versicherungsfremden Leistungen finanziert werden können oder nicht.
({0})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16173
Ich möchte aber nicht die Redezeit überschreiten und
komme deshalb bezüglich der nicht verschreibungspflichtigen Medikamente für Kinder und Jugendliche
wieder auf Ihren Gesetzentwurf zurück. Sie wollen die
Altersgrenze von zwölf auf 18 Jahre anheben. Es ist sicherlich vor allem in Bezug auf Allergien und Neurodermitis ein gemeinsames Ziel, Kinder und Familien vor
hohen Belastungen zu schützen. Es soll auch vermieden
werden, dass chronische Gesundheitsschäden entstehen.
Wir sind durchaus gesprächsbereit. Aber sollten wir
nicht erst einmal prüfen, ob nicht auch die derzeitige gesetzliche Regelung die angestrebten Ausnahmen bei Allergien und Neurodermitis ermöglicht?
({1})
Wie Sie wissen, werden hierzu bereits intensive Gespräche mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss geführt.
Eines muss klar sein: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie
gegenüber der Öffentlichkeit mit diesem Thema ehrlich
umgehen. Es kann nicht angehen, dass Sie sich als soziale Wohltäter und als familienfreundlich präsentieren
und so tun, als hätten Sie die jetzige Regelung schon immer für Unfug gehalten.
({2})
Über diese Regelung bestand in den GMG-Beratungen
Konsens. Es mag sein, dass sie von Ihnen nicht vollständig mitgetragen wurde. Wir müssen aber bei allen Änderungen auch die finanziellen Auswirkungen im Blick behalten. Im Übrigen hätten auch wir von der Koalition
viele Wünsche, die wir gerne mit einbringen würden.
Ich möchte Sie aber auch daran erinnern, dass es die
Union war, die auf der Schaffung der OTC-Regelung bestanden hat. Wenn Sie, wie wir es wollten, einer Positivliste zugestimmt hätten, dann müssten wir die von Ihnen
losgetretene Diskussion um Altersgrenzen nicht führen.
({3})
Kurzum: Wir können gerne über Ihren Vorschlag reden. Aber neben der fachlichen Klarheit vermisse ich dabei gegenwärtig noch Klarheit darüber, was wirklich
hinter Ihrem Antrag steckt. Korrigieren Sie gerade Ihre
Gesundheitspolitik oder wollen Sie lediglich ein paar
billige Punkte ergattern?
({4})
Wir sind gerne zu Gesprächen bereit, um zu einer Lösung im Sinne der Betroffenen zu kommen. Aber wir
sollten gerade in so sensiblen Bereichen wie der künstlichen Ernährung keine Debatten im „Bild“-Zeitungsstil
führen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Erika Ober, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben
- mit Ausnahme der FDP - gemeinsam ein Gesundheitsmodernisierungsgesetz verabschiedet, das seit 15 Monaten in Kraft ist. Heute legen Sie uns mit Ihrer Bestandsaufnahme einen Rundumschlag vor, der sich gegen
große Teile unseres gemeinsamen Konsenses richtet. Ich
finde das absurd.
Vielleicht ist diese Diskussion auch den anstehenden
Wahlen in NRW geschuldet. Aber so einfach entlassen
wir Sie nicht aus der Verantwortung, die Sie durch den
Konsens mit uns mitzutragen haben, Herr Zöller.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, unsere Einschätzung der Wirkungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes unterscheidet sich von Ihrer. Wir
bewerten die Wirkungen der Gesundheitsreform insgesamt als positiv.
({1})
Ich nenne Ihnen einige Punkte, die wir positiv bewerten: Die von Ihnen angesprochenen Schulden der Krankenkassen sind deutlich gesunken. Die Krankenkassen
hatten 2004 ausgezeichnete Einnahmen zu verzeichnen
und die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung
wurden gesenkt. Das ist zwar nicht in dem von uns gewünschten Maße geschehen - das gestehen wir zu -,
aber wir sollten uns auch klar machen, dass die Beiträge
ohne das Gesundheitsmodernisierungsgesetz heute bei
über 15 Prozent liegen würden.
({2})
Die Praxisgebühr hat ihre steuernde Wirkung entfaltet.
Daneben wurden strukturelle Änderungen im Gesundheitssystem wie Hausarztmodelle, Disease-Management-Programme oder die integrierte Versorgung etabliert. Diese Systeme finden zunehmend Anwendung.
In dieser Phase der beginnenden Strukturänderung
wollen Sie das Gesundheitsmodernisierungsgesetz wieder öffnen. Sie berühren in Ihrem Antrag nahezu jeden
Punkt dieses Gesetzes, dem Sie noch vor kurzem zugestimmt haben.
Sie haben uns heute darüber hinaus einen Gesetzentwurf zur Erhöhung der Altersgrenze für die Erstattung
von Arzneimitteln vorgelegt, von dem schon mehrfach
die Rede war. Meine Kollegin Frau Schaich-Walch
- auch Frau Selg hat es angesprochen - hat betont, dass
in Ihrem Gesetzentwurf die Anhebung der Altersgrenze
von zwölf auf 18 Jahre als Lösung innerhalb dieses Systems angesehen wird.
16174 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Wir sollten aber den Blick auch darauf richten, was
nach Ihrem Vorschlag von der Versichertengemeinschaft
bezahlt werden soll. Hierzu beziehe ich mich auf eine
Liste der meistverordneten Medikamente des Jahres
2003. Damals waren Arzneimittel gegen Erkältungskrankheiten und andere geringfügige Gesundheitsstörungen aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen; davon
ausgenommen waren Versicherte unter 18 Jahren.
Wenn ich mir diese Liste anschaue, dann finde ich unter den 40 am häufigsten verordneten Medikamenten
zehn Arzneimittel gegen geringfügige Gesundheitsstörungen, zum Beispiel Nasentropfen bzw. Nasenspray bei
Erkältungskrankheiten, hustendämpfende und -lösende
Mittel sowie Abführmittel. Unter den meistverordneten
Medikamenten des Jahres 2003 findet man - bis zu
Platz 80 - kein Mittel, das der Behandlung schwerwiegender chronischer Erkrankungen dient. Die Verschreibungspraxis vor der Gesundheitsreform zeigt ein großes
Potenzial an Mitnahmeeffekten. So viel Nasenspray, wie
hier verordnet wurde, verträgt keine Kindernase. Auch
die Wirkung von Schleimlösern entspricht nicht zwingend den Maßgaben evidenzbasierter Medizin. Das
heißt, viele dieser auf Kosten der Solidargemeinschaft
verordneten Bagatellarzneimittel haben wenig bis gar
keinen Nutzen. Das hat meine Kollegin schon betont.
({3})
Wir setzen uns für eine qualitätsgesicherte Versorgung ein, die selbstverständlich von der Solidargemeinschaft getragen werden muss, und das unabhängig von
einer bestimmten Altersgrenze. Aber wir wollen keine
Öffnung der getroffenen OTC-Regelung. Was würde die
Umsetzung Ihres Vorschlags kosten, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel bis zum 18. Lebensjahr auf
Kosten der Kassen zu verordnen? Herr Zöller, Sie erwecken den Eindruck, dass man die Erfüllung Ihrer geforderten Änderungswünsche im OTC-Bereich bezahlen
könnte, weil wir Einsparungen in Höhe von
1,4 Milliarden Euro erreicht hätten. Das ist aber falsch;
denn die Zahl 1,4 Milliarden Euro bezieht sich auf den
Rückgang des OTC-Umsatzes zu Apothekenverkaufspreisen. Das effektive Einsparpotenzial liegt aber nicht
bei 1,4 Milliarden Euro, weil man noch die Zuzahlungen
abziehen muss. Wenn man das tut, kommt man auf
1 Milliarde Euro. Das ist genau das Einsparziel, das wir
errechnet haben.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu Ihren Aussagen über die enterale Ernährung sagen. Sie haben vorgeschlagen, dass wir das beurteilen sollten. Das finde ich
sehr schwierig; denn es gibt bereits einen Gemeinsamen
Bundesausschuss, der diese Aufgabe zu erfüllen hat.
Dieser Ausschuss ist besser ausgestattet als jemals zuvor. Ihm steht ein Institut für Qualitätssicherung zur
Seite, das zuarbeitet. Ich denke, das Bundesministerium
hat zwar die Rechtsaufsicht, kann aber keine Fachaufsicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss haben.
Das möchte ich noch einmal herausstellen.
({4})
Das Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems ist insgesamt auf mehrere Jahre angelegt. Strukturelle Veränderungen sind auf den Weg gebracht und werden ihre Wirkung sukzessive entfalten. Gerade aus
diesem Grunde eignet sich ein Bericht, wie Sie ihn einfordern, nicht, um die Wirkungen des GMG ad hoc zu
analysieren. Ich betone: Die Bundesregierung unterrichtet schon seit 15 Monaten kontinuierlich über den Umsetzungsstand der Gesundheitsreform, und zwar sowohl
im Ausschuss als auch öffentlich.
Unser Ansatz bleibt, Qualität und Evidenz im gesamten Gesundheitssystem zu sichern und zu verbessern.
Wir brauchen keine gesetzliche Änderung des GMG,
sondern indikationsbezogene Lösungen. Das schließt
auch die Anpassung bei schweren chronischen Erkrankungen ein; denn diese machen vor Altersgrenzen bekanntlich nicht Halt.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 12: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Gesundheit und Soziale Sicherung auf Drucksache
15/5364 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Wirkungen und Nebenwirkungen des GKVModernisierungsgesetzes - Kritische Bestandsaufnahme“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/4135 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 8: Interfraktionell wird Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5318 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes
- Drucksache 15/4977 ({0})
a)Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
- Drucksache 15/5309 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
b)Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/5310 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16175
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Uwe Göllner
Franziska Eichstädt-Bohlig
Die Redner Wolfgang Spanier, Gero Storjohann,
Renate Blank, Franziska Eichstädt-Bohlig, Joachim
Günther ({3}) und die Parlamentarische Staatssekre-
tärin Iris Gleicke haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Wohngeldgesetzes, Drucksache 15/4977. Der
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/5309, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit mit demselben Abstimmungsergebnis wie
in der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a bis 14 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Steffen Kampeter, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Konversionsregionen stärken - Verbilligte Abgabe von zu Verteidigungszwecken nicht mehr
benötigten Liegenschaften ermöglichen
- Drucksachen 15/4531, 15/4767 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({5})
Anja Hajduk
Dietrich Austermann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dagmar Wöhrl, Anita Schäfer ({7}), Karl-
Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Konversionsregionen stärken - Sechs-Punkte-
Plan zur Strukturpolitik
- Drucksachen 15/4029, 15/4789 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
1) Anlage 6
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({8})
zu dem Antrag der Abgeordneten Bernhard
Brinkmann ({9}), Ernst Bahr ({10}), Lothar Binding ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Anja Hajduk, Volker Beck ({12}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bewältigung der Konversionslasten durch gemeinsame Anstrengungen von Bund, Ländern
und Kommunen
- Drucksachen 15/4520, 15/4766 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Bernhard Brinkmann ({13})
Anja Hajduk
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({14})
zu dem Antrag der Abgeordneten Helga Daub,
Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich Nolting,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung
und Schließung betroffenen Bundeswehrstandorte ist unverzichtbar
- Drucksachen 15/1022, 15/4768 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({15})
Anja Hajduk
Die Redner Bernhard Brinkmann ({16}), Anita
Schäfer ({17}), Alexander Dobrindt, Winfried
Nachtwei und Gudrun Kopp haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.2)
Tagesordnungspunkt 14 a: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses auf Drucksache 15/4767 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Kon-
versionsregionen stärken - Verbilligte Abgabe von zu
Verteidigungszwecken nicht mehr benötigten Liegen-
schaften ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/4531 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf
Drucksache 15/4789 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Konversionsregionen stär-
ken - Sechs-Punkte-Plan zur Strukturpolitik“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4029
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
2) Anlage 7
16176 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 c: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses auf Drucksache 15/4766 zu dem
Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel „Bewältigung der Konversionslasten durch gemeinsame Anstrengungen von
Bund, Ländern und Kommunen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4520 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 d: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses auf Drucksache 15/4768 zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Hilfe durch
den Bund für die von Reduzierung und Schließung betroffenen Bundeswehrstandorte ist unverzichtbar“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1022
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({18}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Rolf Bietmann,
Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Keine weitere Verzögerung in der Frage der
Entsorgung nuklearer Abfälle
- Drucksachen 15/3492, 15/4889 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Michaele Hustedt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Martina Eickhoff, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum
wiederholten Mal über die Entsorgung bzw. Endlagerung nuklearer Abfälle. Sie werden mir zustimmen
- oder auch nicht -, dass wir hier ein schweres Erbe der
früheren Regierungskoalition zu tragen haben,
({0})
vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass die Frage
der Entsorgung während der Anfänge der Kernenergienutzung völlig außer Acht gelassen wurde. Aus meiner
Sicht ist gerade die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle ein sehr entscheidendes Argument gegen die Nutzung von Atomkraft.
({1})
Sie werfen der Bundesregierung in Ihrem Antrag vor,
die Verantwortung in dieser Frage auf kommende Generationen zu verschieben.
({2})
Das ist, wie Sie sehr wohl wissen, nicht der Fall.
({3})
Ein gutes Beispiel für das Verantwortungsbewusstsein dieser Regierungskoalition ist meiner Meinung
nach der eingeleitete Ausstieg aus der Atomenergienutzung.
({4})
Ich möchte zum Thema Verantwortungsbewusstsein
aus der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und
den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000
zitieren. In Anlage 4 heißt es:
Gemäß § 9 a Abs. 3 des Atomgesetzes hat der Bund
die gesetzliche Aufgabe, Anlagen zur Endlagerung
radioaktiver Stoffe einzurichten. Die Bundesregierung bekennt sich zu dieser Aufgabe und erklärt,
dass sie die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um
unbeschadet des Ausstiegs aus der Kernenergie die
benötigten Endlagerkapazitäten für radioaktive Abfälle rechtzeitig zur Verfügung zu stellen.
Bei dieser Erklärung handelt es sich nicht um ein bloßes
Lippenbekenntnis.
Der durch die Bundesregierung initiierte „Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerung“ ist ein weiterer
Beweis für die engagierte Arbeit der Bundesregierung
gerade in der Endlagerungsfrage,
({5})
und das unter dem für die heutige Generation wichtigen
Aspekt der Sicherheit.
({6})
Dass die Einsetzung und die Arbeit des so genannten Ak
End als Verzögerungsstrategie bezeichnet wird, kann ich
nicht nachvollziehen.
Gern weise ich daraufhin, dass für uns als SPD-Fraktion grundsätzlich das Verursacherprinzip an vorderster
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16177
Stelle steht. Wir haben die unausweichliche Pflicht, die
national verursachten Nuklearabfälle in Deutschland und
nirgendwo sonst zu entsorgen. Das ist unser erklärtes
Ziel. Wir können und wollen diese Verantwortung nicht
an Dritte abgeben. Dafür müssen wir gemeinsam auf
eine sicherheitspolitisch sinnvolle und wissenschaftlich
fundierte Lösung der Endlagerung hinarbeiten. Schnellschüsse helfen uns in Anbetracht der bisher nicht ausgeräumten Zweifel bezüglich der Endlagerung nuklearer
Abfälle nicht weiter.
({7})
Insofern ist die Eile, die in Ihrem Antragstitel vorgetäuscht wird, nicht nachzuvollziehen. Die Realisierung
eines Endlagers muss auf der Basis aller zur Verfügung
stehenden Erkenntnisse der Wissenschaft bis zum Jahr
2030 erfolgen. Ein dringendes, weil Mensch und Umwelt betreffendes Problem liegt - darüber sind wir uns
sicherlich einig - in jedem Fall vor.
Meine Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion,
Sie schreiben im Feststellungsteil Ihres Antrags:
Die dezentralen Zwischenlager … drohen infolge
der Politik der Bundesregierung zu „Quasi-Endlagern“ zu werden.
Diese Behauptung ist nicht haltbar. Sie entspricht nicht
dem politisch vereinbarten Kurs der Regierungskoalition.
({8})
Ich zitiere aus der Koalitionsvereinbarung vom
20. Oktober 1998:
Die Zwischenlager werden nicht zum Zweck der
Endlagerung genutzt.
An diesem Grundsatz halten wir fest.
({9})
Wie Sie wissen ist die Genehmigung von Zwischenlagern befristet. Weiter sieht der Zeitplan vor, dass bis zum
Jahr 2030 ein Endlager für nukleare Abfälle bereitgestellt wird.
Ich möchte jetzt noch auf einzelne Antragspunkte eingehen. Eine Forderung des zu beratenden Antrags lautet,
Schacht Konrad ohne weitere Verzögerung auszubauen
und „schnellstmöglich“ in Betrieb zu nehmen. Der Begriff schnellstmöglich ist meiner Meinung nach eher relativ. Hierzu heißt es in der Antwort der Bundesregierung vom 26. Januar 2005 auf die Kleine Anfrage der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Vorstellungen der Bundesregierung zur Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle“ - das ist die Drucksache 15/4729 -:
Eine Inbetriebnahme von Schacht Konrad als Endlager ist kurzfristig nicht möglich. Derzeit ist der
Planfeststellungsbeschluss nicht vollziehbar.
Weiter heißt es:
Auch wenn der Planfeststellungsbeschluss vollziehbar wäre, wäre Konrad nicht sofort nutzbar. Die
Wiederherstellung der Umrüstbereitschaft und die
Umrüstung der Schachtanlage zum Endlager würden voraussichtlich bis zu sechs Jahre in Anspruch
nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSUFraktion, abschließend möchte ich auf Punkt 6 Ihrer Forderung eingehen. In einem Halbsatz heißt es dort, die
Bundesregierung solle das Erkundungsbergwerk Gorleben unter anderem für die interessierte Öffentlichkeit
öffnen, um hierdurch Transparenz und Vertrauen zu
schaffen. Um ehrlich zu sein: Beim Lesen dieser Forderung konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Die Besichtigung eines Endlagers für radioaktive Abfälle ist nicht die Art von Sonntagsausflug, wie ich ihn
mir für eine Familie vorstelle.
({10})
Oder welche Öffentlichkeit sprechen Sie in diesem Fall
an?
Grundsätzliche Erfahrungen zeigen doch, dass die
Menschen die Nähe zu Atomkraftwerken eher meiden,
getreu dem Prinzip: Aber nicht in meiner Nachbarschaft!
Das trifft in erhöhtem Maße für Endlager zu. Ich meine
auch, dass die wiederkehrenden Demonstrationen gegen
Atommülltransporte zeigen, was die Menschen in
Deutschland über Atomenergie und ihre Folgen denken.
Sie halten sie für äußerst gefährlich und lehnen sie deshalb ab.
({11})
Genauso lehnen wir Ihren Antrag ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Frau Kollegin Eickhoff, Sie sind in den Deutschen
Bundestag nachgerückt und hielten heute Ihre erste
Rede. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hohen Hauses
recht herzlich und wünsche Ihnen persönlich alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf
Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Eickhoff, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich
habe sie mit Interesse gehört, aber ich muss Ihnen
gleichwohl direkt am Anfang widersprechen.
({0})
16178 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Dass Sie beklagen, dass die Frage der Entsorgung verschleppt worden ist, ist geradezu ein Witz. Denn in der
Tat: Seit es die rot-grüne Bundesregierung gibt, also mithin seit 1998, tut sich in der Frage der Entsorgung des
atomaren Mülls in Deutschland überhaupt nichts mehr.
({1})
Dass Sie das dann noch beklagen, ist schon recht interessant. Aber sei es drum.
Jedenfalls ist die Diskussion um die weitere friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland unverändert bedeutsam. Dabei geht es immer auch um die Frage,
wie atomarer Müll in Verantwortung für zukünftige Generationen sinnvoll entsorgt werden kann. Dieses Thema
stellt sich unabhängig davon, ob man nun für eine weitere Nutzung der Kernenergie eintritt oder nicht. Das
Thema eignet sich von daher nicht für ideologisch motivierte Auseinandersetzungen. Es geht vielmehr um die
Frage, wie wir die Entsorgung gegenüber heutigen und
künftigen Generationen lösen können.
Dabei können wir nicht übersehen, dass sich in den
Landessammelstellen, in den zentralen und in den dezentralen Zwischenlagern heute oberirdisch große Mengen nuklearen Abfalls sammeln. Allein in Karlsruhe
lagern etwa 60 Prozent der anfallenden leicht- und mittelradioaktiven Stoffe oberirdisch. Die baden-württembergische Landesregierung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Regelung der Entsorgung unabdingbar
notwendig ist, da die dort vorhandenen atomaren Abfälle
aufgrund ihrer Verpackung lediglich bis etwa 2010 im
derzeitigen Zustand belassen werden können.
Es handelt sich hierbei um nukleare Abfälle, die im
Wesentlichen nicht aus Kernkraftwerken stammen. Es
geht vielmehr um Abfälle aus Forschung und Wissenschaft und insbesondere aus der Medizin.
({2})
Niemand wird bestreiten wollen, dass die Nutzung von
Kernenergie im Bereich der wissenschaftlichen Forschung für den Fortschritt der medizinischen Versorgung
für uns alle von allerhöchster Bedeutung ist. Wir alle haben heute den Nutzen vom Einsatz radioaktiver Stoffe.
Darum sind wir alle selbstredend verpflichtet, die Entsorgung der Abfälle sicherzustellen.
({3})
Darum brauchen wir dringend ein stimmiges Konzept
zur Lösung der Entsorgung. Ein solches Konzept gibt es.
Jedenfalls ist es bis 1998 konsequent verfolgt worden.
Getragen von einem breiten politischen Konsens, über
Parteigrenzen hinweg, wurde seit den 70er-Jahren an der
Lösung dieses Themas gearbeitet. Der von Deutschland
bis dahin beschrittene Weg galt international als vorbildlich. Ergebnis dieser Planungen war das so genannte
Zwei-Endlager-Konzept.
Für den Schacht Konrad wurde ein Planfeststellungsverfahren als Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle auf den Weg gebracht. Dieses ist seit 2002
abgeschlossen. In Gorleben fanden mit finanziellem
Aufwand in Milliardenhöhe Untersuchungen der Eignung des Salzstockes Gorleben als Endlager für hochradioaktive Abfälle statt. Die rot-grüne Bundesregierung
hat 1998 das bis dahin im Konsens vorangetriebene Endlagerkonzept einseitig verlassen und die Endlagerfrage
seitdem nicht einen einzigen Schritt vorangebracht. Im
Gegenteil: Der Bundesumweltminister unternimmt in
Sachen Endlagerung alles, um eine möglichst schnelle,
sachgerechte Lösung zu hintertreiben.
({4})
Dies beginnt mit dem plötzlichen Ausrufen der neuen
Ein-Endlager-Strategie. Minister Trittin ist es dabei
gleichgültig, dass sich Deutschland mit dieser Strategie
international isoliert und ein seit mehr als 20 Jahren verfolgtes Konzept, welches mit Aufwand in Milliardenhöhe entwickelt worden ist, über den Haufen geworfen
wird.
Durch das seit fünf Jahren anhaltende GorlebenMoratorium sind darüber hinaus ganz bewusst Jahre
zur Entwicklung eines Endlagerstandortes verschenkt
worden.
({5})
In einem Zeitraum von knapp fünf Jahren sind allein
durch das Offenhalten ohne Aktivität Kosten in Höhe
von rund 125 Milliarden Euro entstanden. Zu einer Weitererkundung ist es aber nicht gekommen. Fachkräfte
mit international anerkanntem Renommee und hoher
Kompetenz im Endlagerbereich wandern zwischenzeitlich ab, verlassen den Standort, da sie in Deutschland
keine fach- und sachgerechte Endlagerpolitik feststellen
können.
Bewusst wird die Frage der Endlagerung atomaren
Mülls offen gelassen, obwohl weder die Bundesregierung noch Minister Trittin noch Wissenschaftler die Eignung des Salzstockes Gorleben und des Schachtes
Konrad für die Unterbringung mittel- und leichtradioaktiver Stoffe ausschließen können. Darum ist es höchste
Zeit, das Moratorium für Gorleben zu beenden und die
Weitererkundung voranzutreiben.
({6})
Das sind wir unserer Generation und den nach uns kommenden Generationen schuldig.
Frau Eickhoff, auch die Einsetzung des AK End
diente letztlich nur zur Verzögerung. Der Abschlussbericht ist im Dezember 2002 vorgelegt worden. Bis heute
hat das Bundesumweltministerium keine abschließende
Konsequenz aus dem AK-End-Bericht gezogen. Ganz
im Gegenteil: Die Endlagerfrage ist dort faktisch ad acta
gelegt worden.
({7})
Jetzt komme ich zu dem eigentlich politischen Punkt.
Gleichzeitig versucht man, die Bürger mit der Behauptung zu verunsichern, die Endlagerung atomarer Stoffe
sei nicht lösbar. So haben auch Sie es formuliert, Frau
Kollegin. Damit rechtfertige sich der Atomausstieg.
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16179
Hier wird zielgerichtet an einem Argument für den
Atomausstieg festgehalten, obwohl man dieses Argument durch eine konsequente Fortsetzung der bislang beschlossenen Endlagerpolitik selbst entkräften könnte.
Genau das will man aber nicht. Es passt nicht in das rotgrüne Weltbild vom Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie. Ein solches, rein politisch-ideologisch gefärbtes
Verhalten ist mit Blick auf die Interessen der Bürgerinnen und Bürger unverantwortbar.
({8})
Wenn selbst der BUND in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. April 2005 rügt, dass die Bundesregierung die dringend erforderliche Endlagersuche verschleppe, dann spricht dies für sich. Die These, man
werde bis 2030 ein Endlager haben, wird durch noch so
häufiges Wiederholen nicht richtiger. Wissenschaftlich
ist längst nachgewiesen, dass unter Berücksichtigung der
Auswahlkriterien ein Endlager frühestens um 2050 zur
Verfügung stehen könnte.
({9})
Die Endlagerpolitik dieser Bundesregierung führt in
eine gefährliche Sackgasse. Steht nämlich kein Endlager
zur Verfügung, müssen die Abfälle zwangsläufig, weiterhin in oberirdischen Zwischenlagern verteilt, im Bundesgebiet bleiben. Die daraus entstehenden Sicherheitsrisiken potenzieren sich zum Nachteil der Bürgerinnen
und Bürger.
({10})
Die Bundesregierung schafft damit sehenden Auges ein
Gefahrenpotenzial für diese und künftige Generationen,
nur weil ihr an der Lösung der Endlagerfrage nicht gelegen ist.
({11})
CDU und CSU stehen zu ihrer Verantwortung. Das wird
durch unsere Initiative dokumentiert.
Unsere wichtigsten Forderungen an die Bundesregierung lauten: Erstens. Kehren Sie zur erprobten ZweiEndlager-Strategie zurück, die international anerkannt
ist und akzeptiert wird!
Zweitens. Nehmen Sie den Schacht Konrad in Betrieb! Das ist unabdingbar notwendig, um die oberirdisch lagernden mittel- und leichtradioaktiven Abfälle
sicher verschließen zu können. Wer zulässt, dass diese
Abfälle weiterhin oberirdisch gelagert und nach dem
Jahr 2010 nochmals verpackt werden, der potenziert die
möglichen Gefahren, nur weil er aus politisch-ideologischen Erwägungen nicht bereit ist, endlich die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das werden sich die Bürger merken.
({12})
Drittens. Heben Sie das Gorleben-Moratorium auf.
Das seit fünf Jahren ohne sachlichen Grund bestehende
Moratorium für den Salzstock Gorleben kann so nicht
bestehen bleiben. Die Erkundungsarbeiten müssen weitergeführt werden. Obwohl hier viele Milliarden Euro
investiert worden sind, sagen Sie nun, dass Sie nicht
weiter erkunden, sondern einen Stopp durchführen wollen. Hätten wir die fünf Jahre genutzt, wüssten wir heute
endlich, ob Gorleben geeignet ist oder nicht.
({13})
Dann könnten wir dieser Generation und den folgenden
Generationen ein schlüssiges Konzept anbieten.
({14})
Meine Damen und Herren, wir können es uns wahrhaft nicht länger erlauben, die Endlagerfrage aus politisch-ideologischen Gründen auszublenden. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien müssen ihrer
Verantwortung gerecht werden. Eine Verzögerungspolitik verlagert die bestehenden Probleme in die Zukunft
und schafft zusätzlich beträchtliche Gefährdungspotenziale, gegen die sich die Menschen mit Recht zur Wehr
setzen.
Die Bundesregierung bzw. Minister Trittin ist aufgefordert zu handeln. Wenn er dieser Verantwortung nicht
gerecht wird, werden wir ihn im Deutschen Bundestag
und gegenüber der deutschen Öffentlichkeit fortlaufend
stellen. So entlassen wir ihn nicht aus seiner Verantwortung. Er kann nicht auf der einen Seite mit dem Argument, wir könnten die Endlagerfrage nicht lösen, für den
Ausstieg aus der Kernenergie eintreten, auf der anderen
Seite aber alle Anstrengungen, die unternommen werden
könnten, verhindern, um die Endlagerfrage zu lösen. Das
ist eine Politik, die in sich widersprüchlich ist. Das werden wir für die Bürgerinnen und Bürger fortlaufend dokumentieren.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Kubatschka,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bietmann, Sie
haben gerade so getan, als könnte Gorleben sofort in
Betrieb genommen werden.
({0})
Sie haben gesagt: „Nehmen Sie … in Betrieb.“ Auch Sie
wissen, dass wir noch Hunderte von Millionen Euro investieren müssen, um dieses Vorhaben zu beenden.
({1})
Das dauert noch Jahre. Aus einer sofortigen Inbetriebnahme wird also nichts.
({2})
16180 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Was ist mit Gorleben, Herr Kollege?
({3})
Falls Gorleben nicht geeignet ist, dann sind wir auf dem
gleichen Stand wie jetzt.
({4})
- Ja, natürlich. ({5})
In diesem Fall hätten wir Millionen Euro in den Sand
bzw. in Salz gesetzt, also sinnlos Geld aus dem Fenster
geworfen. Auch wissen Sie, dass darüber nachgedacht
wird, ob außer Salz noch andere Würzgesteine infrage
kommen. Darüber wird von internationalen Wissenschaftlern nach wie vor diskutiert. Nehmen Sie das bitte
zur Kenntnis.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie werden sicherlich nicht darüber erstaunt sein, dass
wir Ihren Antrag ablehnen; mit diesem Antrag wollen
Sie ja auch keine andere Mehrheit erreichen.
({7})
Schon der Inhalt Ihrer ersten Forderung, die Bundesregierung solle sich endlich ihrer Verantwortung für die
Endlagerung nuklearer Abfälle stellen und diese nicht
auf kommende Generationen verschieben, ist falsch. In
den 16 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung ist auf
diesem Gebiet nichts Entscheidendes geschehen.
({8})
Jahrzehntelang wurden die Probleme der Endlagerung
auf die zukünftigen Generationen geschoben. Für diese
Probleme gibt es nicht nur in Deutschland, sondern weltweit keine Lösung. Dies war einer der Gründe, warum
die rot-grüne Koalition die Nutzung der Atomkraft nicht
mehr für verantwortbar hielt und den Atomausstieg eingeleitet hat.
({9})
Vor knapp zwei Wochen veröffentlichte das Bundesamt für Strahlenschutz die Daten über die im Jahre 2004
in deutschen Kernkraftwerken erzeugte Strommenge
und stellte fest, dass bereits fast ein Drittel des Atomausstiegs geschafft ist. Vom 1. Januar 2000 bis zum
31. Dezember 2004 sind knapp 31 Prozent der im Atomkonsens festgelegten Gesamtstrommenge produziert
worden; wahrlich eine schöne Nachricht. Weiter meldet
das Bundesamt für Strahlenschutz, dass das Kernkraftwerk Obrigheim vermutlich im Mai dieses Jahres
- vielleicht sogar schon Ende April - abgeschaltet wird;
wiederum eine schöne Nachricht.
({10})
Obrigheim ist derzeit das älteste von insgesamt 18 noch
betriebenen Kernkraftwerken; es ging 1968 in Betrieb.
Nach dem Kernkraftwerk Stade, das im November letzten Jahres vom Netz ging, ist es das zweite Kernkraftwerk, das im Rahmen des vereinbarten Atomausstieges
vom Netz gehen wird.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
wollen eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke.
Sie wollen damit das Problem des hochradioaktiven
Mülls noch weiter vergrößern. In Ihrem Antrag schreiben Sie:
Die dezentralen Zwischenlager … drohen … zu
„Quasi-Endlagern“ zu werden.
({11})
Das ist Panikmache. Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Die Nutzungsdauer der Zwischenlager an den Kernkraftwerksstandorten wurde zeitlich
auf maximal 40 Jahre begrenzt.
({12})
Damit wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass
aus den Zwischenlagern keine faktischen Endlager werden.
({13})
Und Sie wissen ganz genau: Mit den Zwischenlagern
entfallen die umstrittenen und auch gefährlichen innerdeutschen Castortransporte nach Gorleben und nach
Århus.
({14})
Mit unserem Ausstiegsgesetz wurde auch die Entsorgung radioaktiver Abfälle ab 1. Juli dieses Jahres auf die
direkte Endlagerung beschränkt. Transporte zur Wiederaufbereitung nach La Hague in Frankreich und nach
Sellafield in Großbritannien sind also nur noch bis zum
30. Juni zulässig; wiederum eine schöne Meldung.
({15})
Die Opposition will allerdings weiterhin allen Ernstes
den strahlenden Müll durch Deutschland fahren und ihn,
wie es früher üblich war, im Ausland zwischenlagern.
({16})
Meine Damen und Herren von der Opposition, erzählen
Sie uns nichts von Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen!
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({17})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16181
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir reden hier zum wiederholten Male über die Endlagerung radioaktiver Abfälle.
({0})
- Herr Kubatschka, dass wir hier immer noch darüber reden müssen - Jahre nachdem Sie den Ausstieg aus der
Atomenergie vereinbart haben -, ist ein Armutszeugnis
für die Bundesregierung; sie hätte längst einen Gesetzentwurf vorlegen müssen, um ein Endlager festzulegen.
({1})
Bezüglich der Frage, ob wir ein oder zwei Endlager
brauchen, sagen Sie immer, man müsste sich darüber
einmal unterhalten. Dabei haben Sie dem AK End - aus
ideologischen Gründen - klar ein Ein-Endlager-Konzept vorgegeben. Bis 1998 haben wir in Deutschland dagegen ein Zwei-Endlager-Konzept verfolgt: zum einen
für hochradioaktive Abfälle - damals mit Blickrichtung
Gorleben -, zum anderen für schwach- und mittelradioaktive Abfälle - mit dem Schacht Konrad. Es gibt keinen
anderen Staat, der nur ein Endlager vorsieht. Alle Experten sagen uns eindeutig, dass wir die beiden Abfallarten
unterschiedlich behandeln müssen und die hochradioaktiven von den schwach- und mittelradioaktiven trennen
müssen. Genau daran wollen wir anknüpfen und genau
hier fordern wir die Bundesregierung auf, das, was schon
an Erkundung vorgenommen wurde, fortzusetzen, um
endlich zu einem Endlager, um endlich zu einer Lösung
zu kommen.
({2})
Seit dem Koalitionsvertrag aus dem Jahre 1998 hat
sich im Prinzip sieben Jahre lang nichts getan. Damals
haben Sie apodiktisch erklärt, dass ein einziges Endlager
ausreicht und dass das bis etwa 2030 einsatzbereit sein
soll. Der vom Umweltminister eingesetzte AK End hat
selbst gesagt, dass allerspätestens im letzten Jahr ein Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag hätte verabschiedet werden müssen, wenn man diesen Zeitplan auch nur
annähernd hätte erreichen wollen. Sie haben hier im
Deutschen Bundestag nichts vorgelegt. Sie haben das
nicht deshalb versäumt, weil Sie es nicht hinbekommen
haben, sondern weil Sie es bewusst verzögern und verschleppen. Sie müssen sich gefallen lassen, dass wir Ihnen das vorhalten. Es ist Tatsache, dass Sie keinerlei Interesse daran haben, in Deutschland wirklich ein
Endlager zu errichten,
({3})
weil Sie sich dann nämlich auch vor Ort mit denjenigen
auseinander setzen müssten, denen Sie vorgaukeln, dass
Sie ein Endlager verhindern wollen. Das ist Fakt, Herr
Kubatschka.
({4})
Es wurde hier davon geredet, dass die Zwischenlager
Zwischenlager seien, deren Nutzungsdauer begrenzt sei.
({5})
Entschuldigung, wenn wir bei der Suche nach einem
Endlager nicht weiterkommen und es de facto kein Endlager gibt, dann wird man irgendwann entweder die Nutzung der Zwischenlager verlängern oder eine andere Lösung finden müssen. Diese Antwort geben Sie uns nicht.
Es ist auch keine Antwort, wenn Sie hier erklären, Sie
hätten die Verantwortung für die künftigen Generationen dadurch wahrgenommen, dass Sie den Atomausstieg beschlossen haben. - Damit haben Sie Ihre Verantwortung überhaupt nicht wahrgenommen, weil Sie auf
der einen Seite nicht sagen, wie Sie die Klimaschutzziele, die Sie sich gesetzt haben, bei einer gleichzeitigen
Energieversorgungssicherheit für Deutschland erreichen
wollen, und weil Sie auf der anderen Seite die Antwort
auf die Frage nach einem Endlager nach wie vor schuldig bleiben. Wir müssen hier einfach feststellen, dass es
auch im Sinne zukünftiger Generationen dringend notwendig ist, dass diese Fragen beantwortet werden. Dazu
werden Sie durch den Antrag aufgefordert. Deswegen
unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Es ist bemerkenswert, dass der Bundesumweltminister zum wiederholten Mal in einer Debatte zu diesem
Thema nicht spricht. Das gilt auch für die Staatssekretärinnen. Das hat ja auch einen Grund: Sie haben natürlich
keine Lust, sich vor die Öffentlichkeit zu stellen und zu
sagen, dass Sie in dieser Frage nichts, aber auch gar
nichts gemacht haben. Was sollen Sie hier denn auch sagen?
({7})
Es ist ganz klar und eindeutig: Sie spielen auf Zeit
und verschieben das Problem der Endlager auf zukünftige Generationen. Ich sage Ihnen klar und eindeutig:
Das, was Sie hier tun, ist verantwortungslos, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün.
Wir haben natürlich nicht nur die Frage nach der Lagerung der hochradioaktiven Abfälle, sondern auch die
der schwach- oder mittelradioaktiven Abfälle zu beantworten. Hier ist die Situation so: Zwei Drittel dieser Abfälle - das betrifft jetzt den Schacht Konrad - kommen
aus dem Verantwortungsbereich des Bundes, sprich: aus
Forschungseinrichtungen des Bundes. Nicht umsonst hat
Ihre Bundesbildungs- und -forschungsministerin, Frau
Bulmahn, klar und eindeutig darauf hingewiesen, welche
Gefahren dadurch drohen, dass dieses Lager, der
16182 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Schacht Konrad, nicht zur Verfügung steht und dass zwischengelagert und umkonditioniert werden muss, wodurch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer zusätzlichen Strahlenbelastung ausgesetzt werden. Auf der
einen Seite werden Sie dadurch Ihrer Verantwortung gegenüber diesen Mitarbeitern nicht gerecht und auf der
anderen Seite produzieren Sie hohe Kosten. Das hat Ihnen der Bundesrechnungshof nicht ohne Grund gesagt.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Die
Endlagerpolitik unter Federführung von Bundesumweltminister Jürgen Trittin ist nicht zielgerichtet. Sie ist intransparent und mit erheblichen Kostenrisiken behaftet.
Mit anderen Worten: Sie ist eine glatte Katastrophe und
geht zulasten zukünftiger Generationen. Wir wollen das
ändern. Deswegen werden wir dem Antrag der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion zustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die
Grünen, und der Kollege Wilhelm Schmidt, SPD-Frak-
tion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deswegen rufe ich als letzten Redner in dieser Debatte den
Kollegen Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion, auf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der
Rede der Kollegin Homburger sind mir ein paar Stichpunkte durch den Kopf gegangen: Die Politik der Bundesregierung in Sachen Entsorgung ist teuer, sinnlos,
falsch und verlagert die Verantwortung auf kommende
Generationen.
({0})
Verehrte Kollegin Eickhoff, ich lade Sie als Bergbauingenieurin herzlich ein, mit mir in den Salzstock einzufahren, und zwar nicht an einem Sonntag - darüber haben wir nie geredet -, sondern - die nächsten Termine,
die Herr König genannt hat, sind der 22./23. Juni dieses
Jahres - an einem Wochentag.
({1})
1) Anlage 8
Es geht hier um simple Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie verhindern, dass sich Bürgerinnen
und Bürger über die Realität im Salzstock Gorleben ein
Bild machen können. Es geht nicht um Tourismus, sondern um Information und Transparenz. Genau diese verhindern Sie.
({2})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Ihnen als junger Kollegin, die sich mit der Geschichte nicht beschäftigt hat,
sehe ich es nach, dass sie hier eine solche Rede halten.
({3})
- Ich habe das an ihrer Rede gemerkt, Frau Mehl. Wer
der Union die Formulierung „schnellstmöglich in Betrieb zu nehmen“ zum Schacht Konrad vorwirft, weiß
nicht, dass im Jahre 1990 auf Wunsch des ehemaligen
nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rau mit
Zustimmung des jetzigen Bundeskanzlers und damaligen Ministerpräsidenten in Niedersachsen ein Beschluss
zustande gekommen ist, in dem steht: Der Bund wird
aufgefordert, für nichtwärmeentwickelnde Abfälle
schnellstmöglich ein Endlager, Konrad, zur Verfügung
zu stellen. - Diese Formulierung hat im Oktober 1990
Herr Rau zusammen mit Herrn Clement eines Abends
am Kamin zur schriftlichen Abstimmung vorab gewählt,
damit keiner mehr diskutieren muss.
Sie haben von der Geschichte der SPD in Sachen
Kernenergienutzung in Deutschland und der Frage der
Entsorgung auch nicht den Hauch einer Ahnung. Die Situation im Zwischenlager Gorleben, im Schacht Konrad
und im Zwischenlager Ahaus ist die Folge der Politik einer SPD-geführten Bundesregierung vom Ende der 60erJahre bis zum Ende der 70er-Jahre. Nichts anderes ist die
Wahrheit.
({4})
- Ja, auch darüber reden wir, Frau Mehl. Der Punkt ist,
dass wir 1979, 1981 und 1990 im Konsens mit den Ministerpräsidenten von SPD, CDU und CSU genau diese
Politik, die sich an diesen Standorten manifestiert, einstimmig beschlossen haben. Wir haben diese Beschlüsse
umgesetzt. Es ist doch nicht so, dass wir uns dieser Verantwortung nicht gestellt haben. Das wissen Sie doch
ganz genau. Genauso müssen Sie wissen, dass die Mär,
dass am Anfang der Kernenergienutzung niemand über
Entsorgung nachgedacht hat, schlicht und einfach falsch
ist.
In den 60er-Jahren sind in Deutschland 225 Standorte
wissenschaftlich miteinander verglichen worden. Das
Ergebnis waren die fünf Salzstöcke in Gorleben. Ich
wollte es heute eigentlich nicht sagen, aber ich will es
nun doch aussprechen: Nach dem Regierungswechsel in
Niedersachsen sind Ihre Bundesminister im November
1976 bei Ernst Albrecht von der Minderheitsregierung
gewesen und haben erklärt: Wir wollen in 14 Tagen die
Einlösung der Zusage von Herrn Kubel, SPD, für den
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16183
Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum. - Das
bezog sich nicht nur auf ein Endlager, sondern auf
1 400 Tonnen Nuklearabfall für die Wiederaufarbeitung
und 55 000 Megawatt geplante Kernenergie der Regierung Schmidt in Deutschland. Das ist Ihre und nicht unsere Politik gewesen.
({5})
- Entschuldigung, Sie reden doch dauernd darüber - dieses Spiel haben Sie auch heute Abend gespielt -, hier sei
etwas verschleppt worden. Nein, wir haben Ihre Politik
mitgetragen. Dessen schämen wir uns auch nicht.
({6})
Sie haben das, was in der Republik Konsens war, 1998
aufgekündigt, ohne eine Alternative zur Verfügung zu
stellen. Das ist der entscheidende Punkt.
({7})
Was Sie mit Ihrer Vergangenheit machen, mag mir
egal sein. Aber Sie haben uns in Lüchow-Dannenberg
eine Verantwortung aufgebürdet, über die der Kanzler
Schmidt gesagt hat: Die knorrigen Eichen aus dem
Wendland tragen die Last der Entsorgung in Deutschland. - Das war das Lob der SPD für die Kommunalpolitiker in Lüchow-Dannenberg.
Ihre Bilanz nach sieben Jahren ist ({8})
- Herr Tauss ist da!
({9})
Ich hatte irgendetwas vermisst,
({10})
wahrscheinlich Zwischenrufe. Ich habe aber nichts über
die Qualität der Zwischenrufe gesagt.
Vergegenwärtigen wir uns doch einmal, was vor dem
Regierungswechsel und auch noch kurz danach gesagt
worden ist: kriminelle Abfallschieberei - Originalton
von Trittin im Bundestag. Sie machen es. Früher waren
es Merkels Transporte. Heute sind Sie so klein mit Hut
vor Ort. Heute sprechen Sie nicht mehr von TrittinTransporten, aber es sind Trittin-Transporte. Sie nutzen
die Entsorgungsstruktur, die in 30 Jahren aufgebaut worden ist und die Sie kritisiert haben, ohne jede Scham
weiter. Wenn die Regierung rot und grün ist, dann ist alles sicher, wenn die Regierung aber schwarz ist, dann ist
das gleiche Bauwerk eine unsichere Angelegenheit. So
verlogen ist Ihre Argumentation.
({11})
- Sie, Herr Kubatschka, bauen ein anderes Problem auf.
Das haben Ihnen Frau Homburger und der Kollege
Bietmann nachgewiesen.
Die Konstruktion der dezentralen Zwischenlager
war, was die zeitliche Dimension betrifft, so nie vorgesehen. Das ist die Realität.
({12})
- Ach was, das hat doch mit der Wiederaufbereitung
nichts zu tun. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich als jemand, der davon betroffen ist, bin durchaus froh, dass es
dezentrale Zwischenlager gibt. Das sage ich auch zum
Ärger mancher Freunde. Die dezentralen Zwischenlager
sind ein gesellschaftspolitischer Beitrag zur Entkrampfung der Transportsituation.
({13})
Aber die Sicherheitsfrage hat sich damit überhaupt nicht
verändert.
({14})
Sie müssen mir die Antwort auf die Frage geben, warum
unter Ihrer Regierung ein Endlager frühestens 2050 zur
Verfügung steht.
({15})
- Sie schaffen es nicht. Herr Kubatschka, der Kollegin
Eickhoff sehe ich manches nach, weil ihr die Historie
nicht bekannt ist.
({16})
Sie als jemand, der lange genug in der sozialdemokratischen Partei Verantwortung trägt, wissen ganz genau,
dass das, was Sie hier im Deutschen Bundestag vortragen, nicht der Wahrheit entspricht.
Glauben Sie eigentlich, dass Ihre sozialdemokratischen Freunde im Samtgemeinderat in Gorleben alle
Spinner sind, leichtsinnige Menschen?
({17})
Sie haben zusammen mit meinen christdemokratischen
Freunden in Gartow die Forderung gestellt, den Salzstock so schnell wie möglich zu untersuchen, damit die
Menschen in Lüchow-Dannenberg wissen, woran sie
sind. Zu Ihrer Regierung kann ich nur sagen: Sie haben
elf Zweifel aufgeschrieben. Nach sieben Jahren Regierung haben Sie nicht einen wissenschaftlichen Beleg für
die Nichteignung von Gorleben vorgelegt.
({18})
Das ist der Kern Ihrer Politik. Sie jagen den Leuten
Angst ein, haben aber keine Lösung; Sie machen sich
vom Acker und nehmen Ihre Verantwortung für die Entsorgung der nuklearen Abfälle, die Sie selber mitverursacht haben, nicht wahr. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen.
({19})
16184 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 15/4889 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Keine weitere Verzögerung in
der Frage der Entsorgung nuklearer Abfälle“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3492
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Büttner
({1}), Reinhold Hemker, Lothar Binding
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Hermann, Volker Beck ({3}),
Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sportförderung in den auswärtigen Kulturbeziehungen ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Riegert, Peter Letzgus, Günter Nooke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Sportförderung des Bundes im Ausland
stärken und als Teil der auswärtigen Kulturpolitik begreifen
- Drucksachen 15/1879, 15/2575, 15/4691 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Freitag
Klaus Riegert
Detlef Parr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe mir seit Dienstag, seit der Veranstaltung
im Auswärtigen Amt „Global Players - Fußball, Globalisierung und Außenpolitik“, Motto des 11. Forums Globale Fragen, wo ich Reiner Calmund, den früheren Manager von Leverkusen getroffen habe
({0})
- ja, und einiges mehr, wie du weißt, lieber Detlef -,
überlegt, dass wir, wenn wir zur Umsetzung unseres Anliegens, das wir als SPD-Fraktion mit den Grünen vor
anderthalb Jahren formuliert haben und das unsere
christdemokratischen Sportkolleginnen und -kollegen etwas später in einem Antrag formuliert haben, die Unterstützung von solchen gewichtigen Leuten gehabt hätten
und wenn zu der Kampagne, die wir damals eigentlich
initiieren wollten, Franz Beckenbauer oder der Präsident
des Weltverbandes Fußball oder vielleicht sogar Jürgen
Klinsmann oder andere aufgerufen hätten, in vergleichbarer Art und Weise erfolgreich gewesen wären wie jetzt
diejenigen, die die Streetfootballworld-Kampagne unterstützen. Ebenso habe ich überlegt, wie die Beteiligung
gleich mehrerer Ministerien erreicht werden kann.
Ich meine, es lohnt sich darüber nachzudenken. Denn
der Ansatz, der in beiden Anträgen, sowohl in dem Antrag von der Union als auch in dem Koalitionsantrag,
enthalten ist, verfolgt das Ziel, eine breitere Plattform zu
schaffen für die Integration des Themas Sport und damit der Gesundheitsprävention und vieler anderer Themen für die Ärmsten der Armen dieser Welt, und das zugleich eingebunden in ein Konzept der Kulturarbeit in
Entwicklungs- und Schwellenländern, wie wir uns das
eigentlich nur erträumen können.
Deswegen träume ich jetzt seit Dienstag wieder ein
bisschen, nachdem ich die wunderbaren Prospekte gesehen habe, die von Organisationen mit herausgegeben
werden, die sich offiziell dem Sport in der Entwicklungszusammenarbeit verschrieben haben. Ich denke
- die Älteren von uns werden das noch wissen - an die
Zeit vor über 30 Jahren zurück, als unter Minister Erhard
Eppler Sport immer mehr zum Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit wurde und damit indirekt auch
Bestandteil der internationalen Kulturarbeit mit den
Schwerpunkten - ich sage das jetzt einmal für Afrika Leichtathletik und Laufen, natürlich überall in der Welt
Fußball und andere populäre Sportarten. Das muss man
sich klar machen.
Man muss sich einmal die Größenordnungen in der
Werbung für die Fußballweltmeisterschaft in
Deutschland vorstellen. Ich denke, all diejenigen, die im
Sport engagiert sind, sind dafür, dass wir die Fußballweltmeisterschaft hier austragen. Ich füge hinzu: Wir
alle - insbesondere diejenigen, die international engagiert sind - freuen uns darüber, dass vier Jahre später
zum ersten Mal eine Fußballweltmeisterschaft in Afrika
stattfinden wird, nämlich in Südafrika. Aber angesichts
der Größenordnungen, über die wir reden, ist es überhaupt nicht verständlich, dass sich der Etatansatz beim
Auswärtigen Amt - es wird ja auch im Antrag der CDU/
CSU kritisiert, dass der Etatansatz so niedrig ist, nachdem er vorübergehend ein bisschen höher war; das haben wir ja noch vor einem Jahr diskutiert, mittlerweile
sieht die Welt bzw. der Etat des Außenministers ein bisschen anders aus -, wenn ich es richtig im Kopf habe, auf
2,7 Millionen Euro beläuft. Die Beträge für das ganze
Drumherum und die Werbung für die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland hingegen gehen in die zig Millionen. Es ist ja immer schwierig, auszurechnen, wer
jetzt gerade an welchem Standort noch Sponsoren angeworben hat, die richtig Geld ausgeben.
({1})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16185
- Das ist mir klar. Deshalb sage ich auch, lieber Detlef
Parr: Wenn wir dafür werben, dann können wir auch
weltweit und verstärkt im Rahmen der Kulturarbeit dafür werben - ich stehe ja auch dafür, dass wir das neu in
die Entwicklungszusammenarbeit einbringen - und vor
allen Dingen auch definieren, dass der Sport nicht nur etwas mit Sportveranstaltungen zu tun hat, sondern einen
Beitrag zur Volksgesundheit in Deutschland leistet, aber
vor allen Dingen in den Ländern der Dritten Welt Kriminalitätsprävention, Aidsprävention und vieles mehr bedeutet.
({2})
Nicht von ungefähr heißt ja eine Werbekampagne:
„Kick Aids“. Darunter steht: Deutsche Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit. Das ist die Ausführungsorganisation für die Maßnahmen und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands. Da geht das
plötzlich, weil hier eine Verbindung zum deutschen Interesse hergestellt wird: Werbung mit Fußball, Werbung
mit Weltmeisterschaft. Ich bin einmal gespannt, wie sich
das in den Jahren danach in vernünftigen Projekten niederschlägt, die von Sportlern geleitet werden und die
dann auch Kinder, gerade jüngere Kinder, Mädchen und
Jungen, aus Ländern der so genannten Dritten Welt einbezieht. Ich denke, dass es für uns wichtig ist, das im
Kontext beider Anträge - das sage ich ganz bewusst - zu
sehen. Es ist ganz klar: Wenn zwei solche Anträge vorliegen und in dem einen, lieber Klaus Riegert, lieber
Eberhard Gienger und lieber Detlef Parr, die Bundesregierung meiner Meinung nach unberechtigterweise kritisiert wird, dann können wir, die Fraktionen von Grün
und Rot, diesem Antrag nicht zustimmen, sondern werden mit unserem deutlich machen, dass wir Kontinuität
in diesem Denk- und damit letztlich Handlungsansatz
wollen. Wir wollen dieses Thema wieder in den Gesamtkontext von Außen- und Entwicklungspolitik einbringen.
({3})
Im Übrigen sage ich an dieser Stelle, dass wir gerade
jetzt nach den positiven Erfahrungen der ersten Monate
des UNO-Jahres für „Sport and Physical Education“,
also des UNO-Jahres für Sport und - jetzt wird es wieder
schwierig, weil wir leider noch nicht das richtige deutsche Wort dafür gefunden haben - Körperertüchtigung,
Leibeserziehung oder wie auch immer, und nach den
vielen guten Projektvorschlägen von Landessportbünden, von Fachorganisationen, von entwicklungspolitischen Aktionsgruppen heute schon absehen können,
dass wir am Ende des Jahres wahrscheinlich sagen können, dass Deutschland, ausgehend von den Aktivitäten
von Nichtregierungsorganisationen unter Einbeziehung
des Sports, einen guten Beitrag leisten wird. Dann sind
die 700 000 Euro aus dem Etat des Innenministers gut
ausgegeben worden.
Vor dem Hintergrund unserer beiden vorliegenden
Anträge sage ich aber auch, dass ich befürchte, dass es
dann dabei bleibt. Das war dann eine einmalige Aktion,
eine Beteiligung an diesem UNO-Jahr. Danach erfolgt
dann nichts Weiteres; man zieht sich auf das zurück, was
früher die Fachverbände, das NOK, die Deutsche Sportjugend oder die Landessportbünde gemacht haben. Von
der Resolution 55/8 der UNO aus dem Jahr 2003 wird es
dann nicht heißen: Wir haben Signale gesetzt und diese
Signale haben dazu geführt, dass diese Themen auch in
der politischen Arbeit verankert worden sind. Das ist
meine heutige Befürchtung, die ich auch so ausspreche.
Deswegen appelliere ich an die Abgeordneten aller Fraktionen, in absehbarer Zeit - wenn die ersten positiven
Ergebnisse vorliegen - vor dem Hintergrund der Zielsetzungen, die wir in den Anträgen finden, darüber zu reden, wie es weitergehen kann.
({4})
- Danke, lieber Winfried, nicht nur im Kuratorium Natur
und Sport, sondern auch in dieser Frage sind wir uns ja
meistens einig. Ich bedanke mich für diesen Einzelbeifall, der, wie ich gesehen habe, aus seinem Herzen kam.
({5})
Ich hoffe, dass diese fantasievollen Ansätze in einem
breiten, partei- und fraktionsübergreifenden Bündnis in
die Politik eingebracht werden. Vor einiger Zeit habe ich
der Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und auch der zuständigen Staatssekretärin
einmal deutlich gemacht, an welchen Stellen heute
schon Methoden aus dem Bereich des Sportes einen hervorragenden Beitrag bei der Grundbildung und bei der
Erziehung von Kindern auch und gerade in der Armutssituation leisten. In Südafrika gibt es Programme wie
„Sport Against Crime“, die überall kommuniziert werden. Das zum Beispiel ist Kriminalitätsprävention; es
gibt aber auch - ich sehe meine liebe Kollegin Gabi gerade lächeln - Programme zur Gesundheitsprävention.
Das gibt es also nicht nur bei uns, die wir uns jetzt auf
den Weg machen, Gesundheitsprävention wieder weiter
nach vorn zu bringen und mit Maßnahmen zu unterstützen, sondern gerade auch in der Projektarbeit der Entwicklungsländer.
Die Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, unsere Entwicklungshelfer, die über den
Deutschen Entwicklungsdienst ins Ausland gehen, und
all diejenigen, die in den Entwicklungsprozessen in den
Ländern mithelfen und die aus dem Bereich der Kirchen
oder aus Nichtregierungsorganisationen kommen, sagen:
Weist bitte die körperliche Ertüchtigung, die Körpererziehung und damit die Gesundheitserziehung wieder
mehr als elementaren Bestandteil nicht nur der Kulturarbeit, sondern auch der Entwicklungszusammenarbeit
aus.
({6})
Wir haben das in den Diskussionen im Fachausschuss
immer wieder gesagt. Wenn es in Deutschland zu herausragenden Veranstaltungen kommt, dann wird aber
immer auf die einzelnen Maßnahmen gezeigt: „Kick
Aids“, fair gehandelte Fußbälle, Streetfootball und was
da noch an schönen Bildern gekommen ist. Ich erinnere
an das schöne Bild von Bundestrainer Jürgen Klinsmann,
16186 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
der einem jungen Burschen die Schuhe schnürt. Das sind
dann jedoch nur Werbemaßnahmen für dieses Jahr; aber
es gibt noch keine Nachhaltigkeit.
Ein letzter Punkt. Mein Wunsch ist, dass ich mich im
nächsten Jahr an einem Fußballprojekt in dem afrikanischen Land Sambia beteiligen kann, das von einem
jungen Burschen mit Vornamen Clement initiiert wird,
den ich auf der großen internationalen Konferenz in Bad
Boll kennen gelernt habe. Er verteilt überall da, wohin er
eingeladen wird, einen kleinen Ball, ein zusammengeschnürtes Plastikbündel, schwarz mit weißen Fäden.
Darauf steht „Football - a work for peace“. Er lädt ein,
im nächsten Jahr in Sambia - nicht in Deutschland - Basisfußballtuniere zu organisieren und diese Turniere
gleichzeitig mit Programmen gegen den Hunger zu verbinden. Wenn das funktioniert und davon sogar noch ein
Signal für unsere weitere Arbeit ausgeht, dann hat es
sich gelohnt, dass wir die vorliegenden Anträge eingebracht haben. Dann wird es sich auch lohnen, daran noch
ein bisschen weiter zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gerlinde Kaupa,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Eigentlich könnte man das, worüber wir
heute Abend diskutieren, auf einen Nenner bringen:
Sportpolitik ist auswärtige Kulturpolitik und damit integraler Bestandteil deutscher Außenpolitik - wenn da
nicht die Finanzen wären.
Integraler Bestandteil Ihrer auswärtigen Kulturpolitik
sind nicht kontinuierliche und in jedem Haushalt wiederkehrende Fördermittel, sondern ein Zusammenstreichen
der sowieso schon knapp bemessenen finanziellen Mittel. So kann man unsere Kultur und - damit verbunden unsere Wirtschaftskraft nicht ins Ausland tragen. Sportler sind positive Multiplikatoren, die auch Ihre Anerkennung brauchen.
Meine Damen und Herren von der Regierung - es ist
leider niemand von der Regierung anwesend; die sind
wohl alle zu Hause oder im Untersuchungsausschuss -,
ich will Ihnen sagen: Von nichts kommt nichts. Auch
Ihre Träume, Herr Kollege, die Sie in Bezug auf Sport
haben, müssen finanziert werden. Die deutsche Sportförderung ist das beste Beispiel dafür, dass mit geringem
Finanzaufwand stets eine große Wirkung erzielt werden kann. Nehmen Sie unseren Rat an und schöpfen Sie
endlich wieder das Potenzial des Sports aus! Haben Sie
endlich wieder Vertrauen in die deutsche Sportförderung
im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik und nehmen
Sie Abstand von den permanenten Finanzstreichungen!
Es reicht!
2,7 Millionen Euro weniger haben Sie von 1998 bis
zum vergangenen Jahr, ausgehend von der Summe im
Jahr des Regierungsantritts, aufgewandt. Auf diese Leistung brauchen Sie wirklich nicht stolz zu sein. Sie erweisen dem deutschen Sport und damit unserer auswärtigen
Kulturvertretung einen Bärendienst. Wenn Sie von
700 000 Euro sprechen, die im Europäischen Jahr der
Erziehung für Sport ausgegeben werden, frage ich mich,
für was dieses Geld ausgegeben wird. Die größten Summen werden für Schauveranstaltungen und die geringsten Summen für Projekte ausgegeben.
({0})
Wir von der Union bitten Sie inständig: Lassen Sie
die Sportförderung nicht in der Versenkung verschwinden! Das wollen Sie, liebe Sportkolleginnen und -kollegen von Rot-Grün, doch auch nicht. Aber da Ihr Außenminister schon genug Schlamassel am Hut hat,
({1})
brauchen Sie ihm mit der auswärtigen Sportförderung
nicht auch noch zu kommen und Forderungen zu stellen.
Zwar müssen Sie nun schon bei Ihrem Minister bleiben,
aber mal sehen, wie lange noch. Dann reden wir noch
einmal darüber. Vielleicht stimmen Sie dann einer Mittelaufstockung zu.
Lassen Sie mich kurz aus eigener Erfahrung sprechen.
Über Ostern war ich in Südafrika und habe mit Leuten
gesprochen, die an Projekten im Sportbereich mitwirken.
Die Bundesländer bieten dort Projekte an - das gilt weniger für den Bund -, bei denen die Menschen angeleitet
werden, wie man beispielsweise Sportplätze baut. Das
ist eine nachhaltige Sportpolitik, die wir unbedingt
nachmachen müssen.
Zur gleichen Zeit war eine Jugendgruppe aus meinen
Sportkreis dort. Ich muss sagen, dass ich mehr Dialog
und mehr Verständnis füreinander vorher noch nicht erlebt habe. Die Sportjugend war von der Gastfreundschaft
und der Herzlichkeit der Südafrikaner so angetan, dass
der Abschied so manchem sehr schwer fiel. Bereits im
letzten Jahr waren die Südafrikaner bei uns in Niederbayern zu Gast. Das Wiedersehen nach einem Jahr war
bombastisch.
Von diesen Erlebnissen und Erfahrungen werden die
jungen Sportler mit Sicherheit ein Leben lang erzählen.
Das Fazit der Reise für alle Jugendlichen war: Es fand
das statt, was viele Politiker oft vergeblich versuchen,
nämlich die Verständigung zwischen den Kulturen
und Rassen.
Bei uns daheim findet dieser Austausch bei allen Anklang und positive Unterstützung. Familien, Kommunen
und Sponsoren unterstützen diesen Austausch. Warum?
Sie haben den Wert, die Werbung, die Wichtigkeit und
den Stellenwert des Sports erkannt. In Südafrika wird
uns gesagt, dass die deutsche Sportförderung viele positive Aspekte mit sich brachte und die Kinder und Jugendlichen sehr dankbar für dieses deutsche Engagement sind.
({2})
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16187
Denn die internationale deutsche Sportförderung holt
die Kinder von der Straße. Die Kinder blühen auf, wenn
sie in ihrem sportlichen Eifer gefördert werden und ihnen
eine Zukunftsperspektive gegeben wird. Sie profitieren
von dem geregelten Leben und verbessern ihre Lebenssituation. Das gilt übrigens auch für die Familienangehörigen. Der sportliche Jugendaustausch trägt goldene
Früchte. Es gibt keine friedvollere Völkerverständigung
als den Jugendaustausch besonders im sportlichen Bereich. Die Sprache des Sports verstehen alle.
Doch das alles hilft nichts, wenn es keine langfristigen Perspektiven ohne Unterbrechung gibt. Nur nachhaltige Projekte zeigen wirklich in die Zukunft und helfen. Kurzfristige Geldgaben bringen gar nichts. Für die
betroffenen Entwicklungsländer ist die Verlässlichkeit
und die Nachhaltigkeit der Sportförderung eine Garantie für den Auf- und Ausbau ihrer sportlichen Infrastruktur und für die Aus- und Weiterbildung ihrer Sportler. Andauernde Garantie bedeutet für die dortigen
Kinder und Jugendlichen, nach vorne blicken zu können
und einem Idol aus ihrem Land nachzueifern. Wichtig ist
hierbei auch die Sportförderung der Mädchen. Wenn wir
natürlich in erster Linie Fußball und Boxen anbieten,
können wir nicht damit rechnen, bei den Mädchen einen
großen Zulauf zu finden.
({3})
- Ich weiß, dass auch Mädchen Fußball spielen. Aber
schauen Sie sich einmal die Zahlen an! Der Deutsche
Turner-Bund hat viel eher Angebote für Mädchen. Wenn
man verschiedene Zielgruppen ansprechen will, muss
man auch verschiedenste Angebote machen.
Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren: Hören
Sie endlich auf mit der planlosen Zusammenstreichung
des Etats und damit, so zu tun, als würden wir nicht bemerken, wie wenig wichtig Ihnen die Kultur und der
Sport sind! Wir bemerken es doch und klopfen Ihnen immer wieder auf die Finger.
({4})
Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Sportsfreunde! Lange ist der Sport verkannt worden.
Man hat übersehen, dass der Sport auch eine Dimension
auswärtiger Kulturpolitik darstellt. Vielleicht gab es zu
viele, die auf die traditionelle deutsche Kultur gesetzt
haben, als man auswärtige Kulturpolitik betrieben hat.
Es hat lange gedauert, bis man gemerkt hat, dass viele
Fußballer aus Deutschland im Ausland weit berühmter
sind als große Poeten, Lyriker oder auch Musiker.
Heute sehen wir, dass der Sport und die Sportler in erheblichem Maße das Bild Deutschlands und der Deutschen im Ausland prägen. Ich glaube, es ist klug, wenn
die Politik dies zur Kenntnis nimmt und daraus Konsequenzen zieht.
({0})
Denn Sport kann ganz offensichtlich Brücken schlagen.
Durch Sport kann dazu beigetragen werden, dass Kontakte geknüpft werden, wie dies in anderen Kulturformen so nicht möglich ist, weil vielfach die Menschen
nicht erreicht werden. Sport erschließt einfach ganz andere Gruppen von Menschen, vor allem junge Menschen. Das ist auch gut so; das ist eine Chance. Sport ist
übrigens längst international eine Kulturform, ohne
dass dies die Politik wahrnimmt und nutzt. Der Sport ist
wahrscheinlich eines der ganz frühen globalen kulturellen Phänomene. Insofern tut die Politik gut daran, dies
endlich in Konzepte umzusetzen. Dazu später mehr.
Welche Chancen sehen wir, wenn wir sagen, wir wollen Sport in die auswärtige Kultur- und Entwicklungspolitik einbauen?
Sport bietet zuallererst eine Chance, einen Beitrag zur
zivilgesellschaftlichen Struktur zu leisten bzw. eine
Zivilgesellschaft überhaupt erst aufzubauen. Denn Sport
ist Selbstorganisation, das machen Menschen zusammen; dazu brauchen sie keinen Staat, da handeln sie einfach gemeinsam.
Sport ist - Kollege Hemker hat das schon ausgeführt - natürlich auch weltlich bildend, nicht nur charakterlich, sondern auch körperlich, geistig und intellektuell
und ist eigentlich im besten Sinne ein Kernelement eines modernen Bildungssystems. Insofern meine ich,
dass Breitensport, Gesundheitssport und Schulsport ein
wichtiges Element auswärtiger Kulturpolitik sein müssen.
({1})
Sport ist in jedem Fall soziales Lernen bezüglich Herausbildung von Teamgeist und bezüglich Zusammenwirken, Streiten und Kämpfen unter geregelten Bedingungen. Sport als Beitrag zum Erlernen von sozialen
Regeln bietet insofern eine hervorragende Inkulturationsmöglichkeit von Regelwerken und Gesetzen. Sport
ist damit eigentlich ein Beitrag zum Erlernen von Demokratie.
({2})
Sport fördert natürlich auch die Fähigkeit, Konflikte
friedlich und sportlich auszutragen und dabei Fairness
zu entwickeln.
Das sind nur vier Elemente, von denen ich glaube:
Das ist sinnvoll, da müssen wir mehr machen - etwa
durch die Gestaltung vieler Projekte.
Frau Kollegin Kaupa, Sie haben, wie ich finde, zu
Unrecht das internationale Jahr und die Projekte be16188 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
schimpft; denn dadurch werden zahlreiche kleine und interessante Projekte gefördert.
({3})
Es ist richtig: Würden wir dabei stehen bleiben, dann
wäre das zu wenig. Diese Kritik teilen wir; das war auch
der Grund für unsere parlamentarische Initiative. Wir sagen: Wir brauchen mehr, wir brauchen nicht nur Einzelprojekte, sondern wir brauchen ein umfassendes
Gesamtkonzept, das den Sport in Entwicklungszusammenarbeit und in auswärtige Kulturpolitik integriert. Wir
brauchen eine systematische Entwicklung von Projekten
und - da gebe ich Ihnen Recht - wir brauchen ein langfristig angelegtes Konzept und eine langfristige Finanzierungsperspektive. Denn eines ist klar: Im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit ist mit einem Jahr nichts
getan, da geht es um zehn, 20 oder 30 Jahre.
({4})
Ich plädiere sehr dafür, dass wir die Sportförderung in
die Finanzierung einbauen, die wir für Entwicklungszusammenarbeit gewähren. Wenn wir die Mittel im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in den kommenden Jahren systematisch erhöhen wollen, dann muss
daran auch der Sport partizipieren.
Nun fragen Sie zu Recht dazwischen: Wer regiert eigentlich? In der Tat, das ist auch unsere Kritik. Der Bereich der sportlichen Entwicklungszusammenarbeit ist in
den letzten Jahren - sowohl unter Rot-Grün, aber auch in
den 14 bis 16 Jahren zuvor unter der vorherigen Bundesregierung - systematisch heruntergefahren worden.
Heute sind wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit auf diesem Gebiet leider bei null angelangt. Wir
haben das teilkompensiert durch eine Stabilisierung im
Bereich der auswärtigen Kulturarbeit. Dort haben wir
die Mittel zum Teil erhöht. Wir haben die Finanzierung
von Trainerlehrgängen dauerhaft sichergestellt und zum
Teil auch erhöht. Das ist aus unserer Einsicht heraus insgesamt aber zu wenig. Wir wollen mehr.
Wir wollen mit dem vorliegenden Antrag einen Anstoß dazu geben, dass in den kommenden Jahren ein Gesamtkonzept für die sportpolitische Entwicklungszusammenarbeit gemeinsam mit dem Sport erarbeitet wird. Ich
wünsche mir sehr, dass wir, die Opposition wie auch die
Regierungsfraktionen, gemeinsam für mehr Mittel und
für eine langfristige Orientierung kämpfen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2005
befinden wir uns gerade im UNO-Jahr des Sports. Die
Kernvoraussetzungen für die Bewilligung der Projekte
seitens des BMI im Rahmen dieses Jahres sind Integration, Internationalität und Toleranz. Gerade in dieser
Hinsicht ist es wichtig, den Sport so weit wie möglich
als Brücke für internationale Integration zu nutzen, zum
Beispiel innerhalb der auswärtigen Kulturbeziehungen.
Für viele Menschen, gerade in den ärmeren Ländern
der Welt, ist die durch uns erbrachte Unterstützung lebensnotwendig. Wir müssen den Bedürfnissen dieser
Länder entgegenkommen und damit auch weltweite Anerkennung für unsere Programme gewinnen und gegenseitiges Vertrauen aufbauen.
In den nächsten Monaten ist eine Reihe von Maßnahmen geplant, um uns international zu positionieren. Die
meisten Maßnahmen werden im Rahmen der FußballWM 2006 durchgeführt. Das Motto „Die Welt zu Gast
bei Freunden“ muss mit Leben erfüllt werden. Werbung
dafür findet nicht zuletzt jenseits unserer nationalen
Grenzen statt.
({0})
Dabei ist die Nachhaltigkeit der aufgeführten Maßnahmen eine wichtige Messlatte. Es bleibt zu hoffen, dass
alle genannten Projekte und Vorhaben diesen Anspruch
erfüllen.
Die heutigen Erfolge vieler Entwicklungsländer bei
unterschiedlichen Sportveranstaltungen zeigen, dass die
Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig und effektiv
gewesen ist. Das ist sicherlich richtig, Herr Herrmann,
auch wenn sie noch nicht ausreichend ist, wie Sie zu
Recht angemerkt haben.
Darüber hinaus werden in Zukunft manche dieser
Länder Austragungsorte für Großveranstaltungen sein.
Kollege Hemker hat auf die übernächste Fußball-WM
hingewiesen, die - sicherlich auch als eine Anerkennung
für die sportlichen Erfolge des gesamten afrikanischen
Kontinents - in Südafrika stattfindet.
({1})
Unter diesen geänderten Rahmenbedingungen ist es
wichtiger denn je, dass die Bundesrepublik international
im Sport präsent ist. Das gilt für die politische Ebene,
aber auch für die Ebene der internationalen Fachverbände, auf der Deutschland stärker vertreten sein könnte.
Die vorliegenden Anträge weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Sie erkennen die Wichtigkeit des Sports als
ein Mittel an, um wichtige Werte zu vermitteln. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion geht über diese Lyrik hinaus auf die Finanzierungsproblematik der Vorhaben
ein. Der Antrag der Regierungskoalition dagegen verschweigt leider, dass für die Sportförderung im Rahmen
der auswärtigen Kulturpolitik nicht in dem Maße Zuwendungen erfolgen, wie wir alle uns dies wünschen.
Auch aus diesem Grund können wir nur dem Antrag der
CDU/CSU zustimmen, da der darin postulierte Ansatz
unseren Vorstellungen entspricht.
({2})
SPD und Grüne sprechen leider nur von der Bereitstellung angemessener Mittel und lassen offen, ob sie
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16189
darunter die internationale Sportförderung auf dem
Niveau von 1998 oder auf dem gekürzten Niveau von
2003 meinen. Das findet nicht unsere Zustimmung.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung zu der Rede
von Reinhold Hemker. Lieber Reinhold, du hast zu
Recht das Motto „Football - a work for peace“ angesprochen. Die FDP-Fraktion hat im Rahmen des UNJahres des Sports ein Projekt angemeldet, mit dem Nordkorea, Südkorea und Deutschland zusammengeführt
werden sollen und über den Sport eine Brücke zur gegenseitigen Verständigung geschaffen werden soll. Ich
würde mir wünschen, dass wir über die bereits beschlossenen UN-Projekte hinaus ein solches international bedeutendes Projekt auf die Beine stellen könnten, und
würde mich über die Unterstützung der Kolleginnen und
Kollegen sehr freuen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Eberhard Gienger, CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Nicht nur im Ausland stellt der Sport ein
friedenspolitisches Instrument dar, sondern auch im
Parlament des Deutschen Bundestages eint das Thema
Sport die etablierten Parteien. Wir verfolgen das gemeinsame Ziel, Sport auch als Mittel der Konfliktprävention
und der Konfliktbewältigung im Ausland einzusetzen.
Wie schon öfter angeklungen, stellt die Finanzierung den
einzigen Streitpunkt dar.
Deutschland zählt zu den weltweit führenden Sportnationen und bringt auch in sportpolitischer Hinsicht
seine Erfahrungen immer wieder ein. Damit leistet
Deutschland einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung des Sports innerhalb und außerhalb Europas.
Um der Verantwortung Deutschlands als Sportnation
gerecht zu werden, fordern wir die Bundesregierung auf,
die dafür erforderlichen Mittel in den Etats des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu erhöhen.
Mit der Regierungsübernahme von Rot-Grün wurden
die Mittel für die internationale Sportförderung kontinuierlich zurückgefahren. Der Etat des Auswärtigen
Amtes zur Sportförderung betrug 1998 und 1999 noch
jeweils 3,2 Millionen Euro. 2000 begann der Rückgang
auf 2,75 Millionen Euro, der sich bis 2005 fortgesetzt
hat. Lediglich 2004 wurde noch einmal das Niveau von
1998 erreicht. Noch schlimmer sieht es im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus: 1999 wurden für die Sportförderung rund
225 000 Euro eingesetzt. Im Jahr 2005 war die Förderung plötzlich bei Null angelangt. - Das ist die Bilanz
der vergangenen sechs Jahre. Große Sprüche ersetzen
dabei keine finanziellen Mittel.
({0})
Sie haben also die Mittel für die Sportförderung im
Rahmen der ausländischen Kultur- und Entwicklungspolitik um mehr als 2 Millionen Euro gekürzt. Diese
Entscheidung der Bundesregierung hat zur Folge, dass
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Unterstützung nationaler
Sportmannschaften im Ausland durch deutsche Trainerinnen und Trainer ganz einstellen will. Ich frage Sie,
mit welcher Begründung. Das trägt sicherlich nicht zum
Ansehen der Bundesrepublik Deutschland als Sportnation bei und zeigt, dass die Regierung im Rahmen der
auswärtigen Kulturpolitik und der Entwicklungszusammenarbeit die internationale Sportförderung nur halbherzig betreibt.
({1})
Ich frage Sie: Warum soll eine seit Jahrzehnten etablierte Sportförderung im Ausland gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern sowie nicht zuletzt in
Krisengebieten durch eine Schmälerung der Etats der dafür zuständigen Ministerien gefährdet werden? Das ist,
wie ich finde, unverantwortlich; denn dem Sport und seinen Organisationen kommt eine herausragende Bedeutung zu. Sie sind nicht nur Mittler und Botschafter, die
der Sympathiewerbung für die Bundesrepublik
Deutschland dienen, sondern sie haben auch die Möglichkeit, auf die internationalen Verbände Einfluss zu
nehmen.
Ich habe ebenfalls an der von Reinhold Hemker angesprochenen Veranstaltung am vergangenen Montag teilgenommen und habe dabei den ehemaligen Fernsehjournalisten Holger Obermann getroffen, der mittlerweile
anerkannter Sportentwicklungshelfer und Fußballlehrer
in Entwicklungsländern ist. Ich habe ihn gefragt, welches das Ergebnis seines Tuns in den Entwicklungsländern ist. Er hat gesagt: Das ist die beste Werbung für
Deutschland
({2})
und setzt obendrein enorme soziale Kräfte frei. Deswegen finde ich, dass die angemessene Bereitstellung von
finanziellen Mitteln zur Förderung des Sports in der
dritten Welt ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung
sportlicher Strukturen und Organisationen sowie zur
Entwicklung von Trainingsmethoden und praktischer
Sportausübung im Ausland ist. In diesem Bereich ist die
Sportförderung mit dem Einsatz öffentlicher Mittel ein
Beispiel für Subsidiarität, da sie in Hilfe zur Selbsthilfe
mündet.
Von herausragender Bedeutung ist, abgesehen von der
gesundheitlichen Perspektive und der Stärkung der Bildung, dass Sport auf internationaler Ebene Menschen
zusammenführt und einen friedlichen Dialog zwischen
ethnischen Gruppen bewirkt. Als Beispiel sei hier ein
Fußballspiel genannt, das vor einem Jahr zwischen
Israeliten und Palästinensern durchgeführt wurde. Die
Jugendlichen, die dieses Spiel bestritten haben, haben
nachher, als sie interviewt wurden, gesagt, sie seien stolz
darauf, zum Aufbau des Friedens beitragen zu dürfen.
16190 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005
Daran lässt sich doch deutlich erkennen, dass der Sport
hilft, Brücken zu bauen bzw. zu schlagen, zur Erziehung
beiträgt und die Hoffnung auf einen friedvollen Umgang
miteinander nährt.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie
wollen Sie die Sportförderung im Ausland als Teil der
auswärtigen Kulturpolitik stärken, was ja unser gemeinsames Ziel ist, bzw. sogar, wie es in Ihrem Antrag steht,
ausbauen, wenn Sie gleichzeitig die Mittel dafür reduzieren bzw. die Förderung ganz einstellen? Das ist, wie
ich finde, nicht glaubwürdig. Trotz der schwierigen
Haushaltssituation müssen wir die Sportförderung im
Ausland auf angemessenem Niveau weiterführen. Die
Argumente dafür habe ich Ihnen bereits genannt. Unseren Antrag aber hat die rot-grüne Koalition im Ausschuss mit der Begründung abgelehnt, dass er keine Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise enthalte. Diese
Aussage erscheint mir fadenscheinig. Sie machen es sich
hier etwas zu leicht; denn erstens stehen Sie als Regierung in der Verantwortung und zweitens gibt es keine
gute Regierungsarbeit, wenn Sie die Mittel einfach reduzieren, anstatt eine attraktive Finanzierungsmöglichkeit
zu bieten.
Auch in der Entwicklungspolitik sprechen Sie mit gespaltener Zunge. Zwar haben erst vor kurzem Außenminister Fischer und der UN-Botschafter Pleuger gegenüber der UN eine Erhöhung des deutschen Anteils an der
Entwicklungshilfe von 0,3 auf 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes bis 2014 zugesagt, aber Minister Eichel
hat sie wieder zurückgepfiffen. Ich kann Ihnen versichern, dass sich die Sportförderung im Ausland refinanziert; denn dank des Einflusses von Vertretern des
deutschen Sports im Ausland können wir Sportgroßveranstaltungen nach Deutschland holen, was zu positiven
ökonomischen Ergebnissen führen wird.
Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Ich komme zum Schluss, verehrte Frau Präsidentin.
({0})
- Der Abgang folgt auf dem Fuße.
Ich möchte der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es
beim nächsten Mal gelingen wird, einen gemeinsamen
Antrag zu formulieren. Diesem Wunsch, den Winfried
Hermann ausgesprochen hat, möchte ich beipflichten.
Ich hoffe, dass es uns in der kommenden Legislaturperiode gelingt, einen solchen Antrag zu formulieren - zum
Wohle des Sports!
Schönen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 15/4691. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1879 mit
dem Titel „Sportförderung in den auswärtigen Kulturbeziehungen ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/2575 mit dem Titel
„Sportförderung des Bundes im Ausland stärken und als
Teil der auswärtigen Kulturpolitik begreifen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({1}), Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD, der Abgeordneten Christa
Reichard ({2}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Undine Kurth ({3}), Thilo Hoppe,
Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Biologische Vielfalt schützen und zur Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklung
nutzen
- Drucksachen 15/4661, 15/5337 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt ({5})
Christa Reichard ({6})
Thilo Hoppe
Ulrich Heinrich
Die Rednerinnen und Redner Dagmar Schmidt ({7}), Christa Reichard ({8}), Thilo Hoppe und
Ulrich Heinrich haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 15/5337 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Biologische
Vielfalt schützen und zur Armutsbekämpfung und nach-
haltigen Entwicklung nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/4661 in der Ausschuss-
1) Anlage 9
Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16191
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
fassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Conny Mayer ({9}), Dr. Christian Ruck,
Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Togos Weg in die Demokratie unterstützen Afrikanische Union ({10}) und ECOWAS beim
Engagement für Demokratie, Menschenrechte
und Rechtsstaatlichkeit unterstützen
- Drucksache 15/5324 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Rednerinnen und Redner Gabriele Groneberg,
Anke Eymer ({12}), Dr. Conny Mayer, Christian
Ströbele und Ulrich Heinrich haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5324 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. April 2005, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.