Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich bitte Sie, sich zu erheben.
({0})
Am späten Abend des 2. April verstarb nach langem
Leiden das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst
Johannes Paul II. Sein Tod ist in Deutschland und in
der ganzen Welt mit großer Trauer aufgenommen worden. Ich habe gegenüber dem Dekan des Kollegiums der
Kardinäle, Joseph Kardinal Ratzinger, im Namen des
Deutschen Bundestages unser tief empfundenes Beileid
ausgesprochen und das Wirken von Papst Johannes
Paul II. gewürdigt.
Die millionenfache Anteilnahme in der vergangenen
Woche hat einmal mehr die große Anerkennung und
Zuneigung in der ganzen Welt für einen der wahrhaft
großen Päpste der Kirchengeschichte deutlich werden
lassen. Der bewegende Abschied im Rahmen der Trauerfeierlichkeiten in Rom und in vielen Städten und Ländern, vor allem auch in unserem Nachbarland, dem Heimatland des Papstes, in Polen, wird uns noch lange in
Erinnerung bleiben.
Papst Johannes Paul II. hat in den fast 27 Jahren seines Pontifikats nicht nur den Christen katholischen
Glaubens in aller Welt Beispiel und Orientierung gegeben, sondern viele, gerade auch junge Menschen, die seinen Glauben und seine Überzeugungen nicht teilten, mit
seiner Kraft und Ausstrahlung, seiner Authentizität und
menschlichen Zugewandtheit tief beeindruckt.
Im Dialog mit den anderen Weltreligionen galt der
Versöhnung von Christen und Juden sein besonderes Augenmerk. Dank seiner hohen moralischen Autorität
konnte er den Einsatz der Christen für eine friedliche
und gerechte Weltordnung glaubhaft vermitteln. Gerade
deshalb wurde ihm bei seinem entschiedenen Einsatz für
eine friedliche Konfliktlösung und gegen den Krieg im
Irak weltweite Anerkennung zuteil.
In besonderer Weise hat der verstorbene Papst sich
um die Überwindung des kommunistischen Regimes
verdient gemacht: in seiner polnischen Heimat - vor allem durch seine Ermutigung der Solidarnosc-Bewegung und insgesamt in ganz Mittel- und Osteuropa. Das hat
die Wiedervereinigung Deutschlands erst ermöglicht
und dafür sind wir Johannes Paul II. zu großer Dankbarkeit verpflichtet.
Sie haben sich zu Ehren des verstorbenen Papstes erhoben; ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Religionspolitik des Berliner Senats und Grundgesetz
({1})
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Aufbruch und Perspektiven - Zukunftschancen für Jugendliche in Deutschland
stärken
- Drucksache 15/5255 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Die Chancen der jungen Generation in Deutschland durch Bildung und Ausbildung verbessern
- Drucksache 15/5259 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISESS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
- Drucksache 15/5244 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der Gefahren
bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen
- Drucksache 15/5220 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Beratung des Antrags der Bundesregierung: Beteiligung
deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan UNMIS ({7}) auf Grundlage der Resolution 1590
({8}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
24. März 2005
- Drucksache 15/5265 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Unterschiedliche Forderungen aus der CDU zur Zukunft des
BAföG
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst Friedrich
({10}), Daniel Bahr ({11}), Rainer Brüderle, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/5258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Harald Leibrecht, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Glaubwürdigkeit des nuklearen
Nichtverbreitungsregimes stärken - US-Nuklearwaffen
aus Deutschland abziehen
- Drucksache 15/5257 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Verteidigungsausschuss
ZP 8 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Die
aktuelle Werbekampagne der Ruhrkohle AG vor dem
Hintergrund der von der Bundesregierung aus dem Bundeshaushalt in Milliardenhöhe gewährten Steinkohlensubventionen
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Ferner wurde vereinbart, nach der Wahl des Wehrbeauftragten und der Debatte über die geänderten Kernzeitthemen „Zukunftschancen für Jugendliche“ und „Waffenembargo gegen China“ die Tagesordnung nunmehr wie
folgt umzustellen: Punkt 4: Zukunft der Freiwilligendienste, Punkt 9: Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, Punkt 6: Rüstungskontrolle, Punkt 15: Armutsbekämpfung, Punkt 8: Welternährung, Punkt 11: Wettbewerbsschutz, Punkt 10: Tourismuspolitik, Punkt 17:
Bürokratieabbau bei Kreditvergabe, Punkt 12: nachwachsende Rohstoffe, Punkt 14: Entwicklungszusammenarbeit der EU, Punkt 16: Energieeinsparungsgesetz,
Punkt 18: Künstlersozialversicherung. Die Punkte 5,
22 c und 23 werden abgesetzt.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 167. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung
des Personenbeförderungsgesetzes
- Drucksache 15/3424 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Sodann möchte ich den Kolleginnen Marga Elser
und Sigrid Skarpelis-Sperk sowie dem Kollegen
Joachim Hörster nachträglich zum 60. Geburtstag gratulieren.
({14})
Ebenso möchte ich dem Kollegen Erwin Marschewski
nachträglich zu seinem 65. Geburtstag die Glückwünsche des Hauses aussprechen.
({15})
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a und
3 b auf:
a) Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages
- Drucksache 15/5207 -
b) Wahlvorschlag der Fraktion der FDP
Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages
- Drucksache 15/5228 Sehr geehrter Herr Dr. Penner, anlässlich der heutigen Wahl eines neuen Wehrbeauftragten möchte ich Ihnen im Namen des Deutschen Bundestages für Ihre Arbeit danken.
({16})
Ihr Amt ist vom Grundgesetz als Hilfsorgan des Bundestages bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte geschaffen. In dieser Funktion haben Sie Missstände, soweit vorhanden, und Fehlentwicklungen in der
Bundeswehr klar und deutlich beim Namen genannt und
Korrekturen eingefordert. So konnten sich die Soldaten
Präsident Wolfgang Thierse
auch in den vergangenen fünf Jahren auf den Wehrbeauftragten verlassen, der ihre Sorgen und Nöte ernst
nahm und sich nicht scheute, berechtigte Anliegen der
Soldaten vorzubringen und auf Besserung zu drängen.
Wir möchten Ihnen deshalb auch im Namen der Soldaten für Ihre Arbeit als Wehrbeauftragter danken und
wünschen Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles
Gute.
({17})
Wir kommen jetzt zur Wahl. Die Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen haben den Abgeordneten Reinhold Robbe, die Fraktion der FDP hat den Abgeordneten Günther Friedrich Nolting vorgeschlagen.
Ich bitte zunächst um Aufmerksamkeit für einige
Hinweise zum Wahlverfahren:
Zur Wahl sind nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages die Stimmen
der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt:
mindestens 301 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauftragte wird mit verdeckten Stimmzetteln, also geheim,
gewählt. Sie benötigen eine Stimmkarte mit Wahlumschlag sowie Ihren Wahlausweis. Die Stimmkarten mit
Umschlag erhalten Sie links und rechts neben den Wahlkabinen. Den Wahlausweis entnehmen Sie bitte, soweit
Sie das noch nicht getan haben, Ihrem Stimmkartenfach.
Da die Wahl geheim ist, dürfen Sie die Stimmkarte
nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und dort in den
Wahlumschlag legen. Die Schriftführer sind verpflichtet,
jeden zurückzuweisen, der seine Stimmkarte außerhalb
der Wahlkabine angekreuzt oder in den Umschlag gelegt
hat. Die Wahl kann in diesem Falle jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmkarten
sowie Stimmkarten, die kein Kreuz, mehr als ein Kreuz,
andere Namen oder Zusätze enthalten. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der neben dem Stenografentisch aufgestellten Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren
Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne.
Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur
durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.
Noch ein praktischer Hinweis: Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewährleisten, bitte ich Sie, sich
auf folgenden Wegen zu den Wahlkabinen und von dort
später zu den Wahlurnen zu begeben: Zu den Wahlkabinen nehmen Sie den Weg von der Seite her, das heißt
über die Gänge zwischen Ihren Sitzreihen.
({18})
Von den Wahlkabinen können Sie direkt zu den Wahlurnen neben dem Stenografentisch herunterkommen.
So weit das, was Sie hoffentlich alle gut verstanden
haben.
({19})
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre
Plätze eingenommen? - Das ist offenbar der Fall. Ich eröffne die Wahl und bitte, zum Empfang der Stimmkarte
zu den Ausgabetischen zu gehen.
Ich stelle die obligate Frage: Haben alle Mitglieder
des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben?
({20})
Ich frage noch einmal: Haben alle Mitglieder des
Hauses gewählt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Zur Auszählung unterbreche ich die Sitzung für circa
zehn Minuten.
({21})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die un-
terbrochene Sitzung wieder und bitte Sie, Platz zu neh-
men.
Ich gebe das Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten
bekannt. Abgegebene Stimmen 599, gültige Stimmen
598, ungültige Stimmen eine, Enthaltungen 15. Der Ab-
geordnete Günther Friedrich Nolting hat 276 Stimmen
erhalten.1)
({0})
Der Abgeordnete Reinhold Robbe hat 307 Stimmen erhalten.
({1})
Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - das
sind 301 Stimmen - auf sich vereinigt. Ich stelle fest,
dass der Abgeordnete Reinhold Robbe mit der erforderlichen Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Deutschen Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist.
Ich frage Sie, Herr Abgeordneter Robbe: Nehmen Sie
die Wahl an?
Herr Präsident, ich nehme die Wahl an und bedanke
mich für das ausgesprochene Vertrauen. Herzlichen
Dank.
({0})
Herr Abgeordneter Robbe, ich gratuliere Ihnen per-
sönlich und im Namen des Hauses und wünsche Ihnen
Kraft und eine gute Hand bei der Führung Ihres Amtes.
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2.
Präsident Wolfgang Thierse
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Zusatzpunkte 2 und 3 sowie die Tagesordnungspunkte 13
und 24 auf:
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Aufbruch und Perspektiven - Zukunftschancen für Jugendliche in Deutschland stärken
- Drucksache 15/5255 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Chancen der jungen Generation in
Deutschland durch Bildung und Ausbildung
verbessern
- Drucksache 15/5259 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Gerald Weiß ({2}),
Katherina Reiche, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Rahmenbedingungen für lebenslanges Lernen
verbessern - Wachstumspotenzial der Weiterbildung nutzen
- Drucksache 15/5024 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Thomas
Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Konsequenzen aus dem Studiengebührenurteil
für die Bildungs- und Hochschulfinanzierung
des Bundes
- Drucksache 15/4931 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache Eineinviertelstunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Herr Kollege Robbe, darf ich Sie bitten, sich ein wenig nach hinten „zu verziehen“?
({5})
Dort können Sie die Gratulationen entgegennehmen. Wir
wollen jetzt die Debatte fortsetzen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
({6})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! So viel Zeit muss sein: Lieber
Reinhold, auch von mir noch einmal einen ganz herzlichen Glückwunsch zu diesem guten Ergebnis.
({0})
Meine sehr geehrten Herren und Damen, Zukunftschancen für Jugendliche - das ist ein Thema, das uns alle
angeht. Wie sonst nur beim Wetter, können dabei auch
alle mitreden und sollen es auch: Eltern, Lehrer, Schüler,
Auszubildende und Studierende, die Wirtschaft, gesellschaftliche Gruppen aller Art sowie die Politik auf allen
Ebenen. Eines geht allerdings nicht, nämlich die, die es
betrifft, einfach zu ignorieren. Wer über Jugend und
Zukunft spricht, muss vor allem auch zuhören können.
Dabei werden Sie dann zwei Dinge immer wieder erfahren: Erstens haben die meisten Jugendlichen eine ganz
klare Vorstellung von dem, was auf sie zukommt. Es
kommt auf eine gute Ausbildung und auf gute Ausbildungschancen an. Das wissen die Jugendlichen.
({1})
Sie wissen, was sie wollen. Sie wollen die Chance haben, sich selbst zu beweisen, und sie wollen die Chance
haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zweitens
will die Mehrheit der jungen Menschen keine pessimistische Grundstimmung in unserem Land. Sie wollen ihre
Zukunft; sie wollen sie aufbauen und erhalten.
({2})
Wissen und Bildung verschaffen Möglichkeiten. Nur
wer Bescheid weiß, kommt voran. Nur wer die Möglichkeit hat, sich Bildung und Qualifizierung anzueignen,
kann seine Anstrengungen zu vollem Erfolg führen. Das
ist zugleich eine der wichtigsten Leitlinien sozialdemokratischer Politik. Der Bundeskanzler hat es in seiner
Regierungserklärung vom 17. März deutlich gemacht:
Jeder und jede muss die Chance für einen Einsteig in
das Arbeitsleben erhalten.
({3})
Das ist das, wofür wir alle gemeinsam arbeiten.
Wir müssen Menschen dort, wo Bildungsbarrieren
sind, und dort, wo sie abgedrängt und vergessen werden,
eine zweite Chance bieten. Mit den Reformen der
Agenda 2010 haben wir genau das getan. Die Agenda
2010 ist deshalb vor allem eine Agenda der neuen Möglichkeiten. Dazu gehört, dass wir jetzt durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bis
zu 400 000 Menschen aus der Sackgasse der Sozialhilfe
geholt haben. Es geht dabei um viel mehr als um eine
ehrliche Statistik. Um die Statistik geht es auch, aber es
geht wirklich um viel mehr, und dabei geht es zuallererst
um die Menschen.
({4})
Wir haben die Menschen aus der Unsichtbarkeit der Sozialstatistik herausgeholt. Wir holen sie weg von den
Fluren des Sozialamtes, auf denen es allenfalls noch um
die Frage ging, ob der Wintermantel noch in diesem Jahr
bewilligt wird oder ob es der alte auch noch tut. Das
kann aber nun wahrlich nicht die lebensentscheidende
Frage für junge Menschen sein.
Wir wollen einen Perspektivwechsel: weg vom Sozialamt, hin zur Agentur für Arbeit. Auch wenn es dort
zunächst wieder einen Flur gibt, stehen am Ende dieses
Flures ein Angebot
({5})
und eine klare Vereinbarung für die jungen Menschen:
Seit dem 1. Januar dieses Jahres haben Jugendliche unter
25 Jahren, die das neue Arbeitslosengeld II beantragen,
einen Rechtsanspruch auf Vermittlung in einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz. Damit haben sie
endlich wieder Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben
ohne staatliche Unterstützung. Das, meine sehr geehrten
Herren und Damen, ist verantwortliche Politik des Handelns.
({6})
Jeder von Ihnen kann sich vor Augen führen, wie man
sich fühlt, wenn man über 100 Bewerbungen geschrieben und nur Absagen erhalten hat.
({7})
Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition, scheinen sich aber diesem Blick zu verschließen.
({8})
Denn sonst würden Sie Wege für die jungen Menschen
aufzeigen,
({9})
statt durch ständige Miesmacherei
({10})
nur Pessimismus und Perspektivlosigkeit zu vermitteln.
Versuchen Sie doch wenigstens, mehr Ehrlichkeit an
den Tag zu legen! Schauen Sie sich die Zahlen einmal
genau an: Im Jahre 1998, als die SPD in Hessen regierte,
lag die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze deutlich
über der Zahl der nachgefragten Ausbildungsplätze.
Kurz gesagt: Die Jugendlichen hatten deutlich mehr
Chancen. Heute hat sich das umgekehrt; heute hat sich
das verändert: Es gibt weniger Ausbildungsplätze und
die Jugendlichen haben deutlich mehr Schwierigkeiten.
Schauen Sie nach Nordrhein-Westfalen: Dort lag
das Verhältnis von Ausbildungsplätzen und Nachfragern
seit 1998 zugunsten der Jugendlichen deutlich über dem
Bundesdurchschnitt. Dass der Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen gelingt, zeigt sich im Übrigen auch an
der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in
den neuen Berufen, die für die Zukunft unseres Landes
von ganz entscheidender Bedeutung sind. Seit der Einführung dieser neuen Berufe ist die Zahl der Auszubildenden in diesen Berufen in Nordrhein-Westfalen Jahr
für Jahr höher als im Bundesdurchschnitt und höher als
im Durchschnitt der alten Länder. Anders als das manche verzerrende Darstellung versucht nahe zu legen, ist
diese Zahl im Übrigen auch höher als die in Bayern oder
in Baden-Württemberg. Das sind die Fakten, mit denen
man sich auseinander setzen muss.
({11})
Sie sollten diese Fakten zur Kenntnis nehmen, anstatt
immer nur zu polemisieren.
Wenn Sie nur Pessimismus an den Tag legen, nehmen
Sie den jungen Menschen die Hoffnung und die Zuversicht. Wir kämpfen für Zugänge zu Bildung und Qualifikationen, für Chancen auf Ausbildung und Arbeit.
({12})
Der Unterschied zwischen der Opposition und der Regierungspartei ist: Wir kämpfen dafür, dass die Jugendlichen Chancen erhalten.
Das lässt sich an ganz konkreten Reformprojekten
dieser Bundesregierung festmachen:
Beispiel eins: der Pakt für Ausbildung. Erstmals seit
1999 haben wir eine ganz klare Trendwende geschafft.
Durch diesen Pakt ist es uns gelungen, im Ausbildungsjahr 2004/2005 59 000 neue Ausbildungsplätze und
mehr als 30 000 Einstiegsqualifikationen zu schaffen.
Das ist also weit mehr, als wir in diesem Pakt vereinbart
hatten. Es sind Ausbildungsplätze zusätzlich geschaffen
worden. 22 500 Ausbildungsplätze sind hinzugekommen.
Beispiel zwei: Berufsbildungsgesetz. Vor wenigen Tagen ist die größte Reform seit Bestehen dieses Gesetzes in
Kraft getreten. Mit dem neuen Gesetz werden die Qualität
und die Attraktivität der beruflichen Bildung verbessert.
Die Flexibilität der dualen Ausbildung wird gestärkt und
die internationale Wettbewerbsfähigkeit gesichert. So
verhindert die Reform die zeitraubenden und teuren Warteschleifen, die für alle Beteiligten deprimierend sind.
Durch diese Reform gelingt es uns, Jugendliche schneller
an eine qualifizierte Ausbildung heranzuführen.
Beispiel drei: Mit modernen Berufen werden neue
Ausbildungsplätze geschaffen. Das ist im Übrigen die
beste Prävention gegen Jugendarbeitslosigkeit.
({13})
Wir haben seit 1998 insgesamt mehr als
180 Ausbildungsberufe modernisiert bzw. neu geschaffen. In diesem Jahr kommen 19 hinzu. Auch das ist eine
Politik des Handelns.
({14})
Beispiel vier: Unsere Gesellschaft braucht gut ausgebildete junge Menschen. Wir müssen schon aufgrund der
demographischen Kerndaten davon ausgehen, dass uns
sonst in zehn Jahren zig Millionen gut ausgebildete
Fachkräfte fehlen. Das heißt, dass wir auch den Jugendlichen, die in der Schule schlecht waren, weil sie die
Sprache nicht konnten, eine zweite Chance geben müssen. Das tun wir mit den neuen Einstiegsqualifikationen,
mit den Qualifikationsbausteinen, die wir diesen Jugendlichen jetzt anbieten. Das ist im Übrigen nicht nur ein
Gebot der Ökonomie, sondern auch eine Voraussetzung
für den sozialen und solidarischen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
({15})
Beschäftigungs- und Lebenschancen werden früh eröffnet, leider aber auch oft früh verbaut. Damit können
und damit wollen wir uns nicht abfinden. Deshalb haben
wir gehandelt. Wir sind nämlich nicht dafür, dass es für
wenige aus den wohlhabenden Familien den Königsweg
und für alle anderen den Trampelpfad gibt. Das werden
wir nicht mitmachen.
({16})
„Frühe Förderung“ und „individuelle Förderung“ sind
daher die beiden entscheidenden Stichworte. Das fängt
mit Angeboten für die Kleinsten an. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz, das am 1. Januar dieses Jahres in
Kraft getreten ist, verbessern wir das Betreuungs- und
Erziehungsangebot für Kinder unter drei Jahren erheblich und wir rücken damit endlich auch die frühkindliche Bildung und Erziehung in das Zentrum. Das ist
wirklich dringend notwendig; das war überfällig. Wir
setzen dabei auf ein bedarfsgerechtes Angebot für alle
Altersgruppen, zeitlich flexibel, bezahlbar und vielfältig.
Ich halte es im Übrigen auch für ein gutes Signal, dass
sich inzwischen alle Länder auf vorschulische Bildungsziele verständigt haben und dass unsere nationale Qualitätsinitiative
({17})
mit der Mehrzahl der Länder durchgeführt wird.
({18})
Das, was wir gemeinsam mit den Kindern im Vorschulalter beginnen, müssen wir in der Schule konsequent fortsetzen. Kindern möglichst früh eine gute individuelle Förderung zu geben, ihnen damit bessere
Bildungschancen zu eröffnen und dann in der Schule damit weiterzumachen und ihnen auch dort eine sehr gute
Ausbildung zu geben und neue Chancen zu eröffnen das ist die Zielsetzung, die wir mit unserem Ganztagsschulprogramm im Investitionsprogramm „Zukunft,
Bildung und Betreuung“ verfolgen. Mit diesem größten
Schulentwicklungsprogramm, das es in Deutschland
bundesweit je gab, unterstützt der Bund die Länder,
Städte und Kommunen mit 4 Milliarden Euro beim Aufund Ausbau von Ganztagsschulen.
({19})
Ich freue mich sehr, dass zumindest die SPD-geführten
Länder - das gilt insbesondere für Nordrhein-Westfalen,
aber auch für andere - die Chancen dieses Programmes
wirklich nutzen
({20})
und nicht wie einige andere, CDU-regierte Länder gegen
den erklärten Willen der Eltern, die nämlich die Ganztagsschulen wollen, und der Lehrerinnen und Lehrer
diese Chancen einfach verspielen.
({21})
- Beispiel Hessen; völlig richtig.
({22})
Leider muss ich sagen, dass das auch in BadenWürttemberg so ist. Es gibt auch noch viele andere.
Insgesamt 7 Milliarden Euro investiert der Bund damit allein in dieser Legislaturperiode in Ganztagsschulen
und frühkindliche Betreuung. Ich sage ganz offen: Wir
hätten uns viel Ärger ersparen können, wenn wir diese
7 Milliarden Euro in die Rente gesteckt hätten. Dafür
gäbe es ja auch gute Gründe, aber wir haben das trotzdem nicht getan und stattdessen in die Zukunft unserer
Kinder investiert. Ich bin davon überzeugt, dass das die
richtige Entscheidung ist.
({23})
Viele Großeltern teilen im Übrigen diese Auffassung.
Wir haben genau die richtige Entscheidung getroffen.
Ich frage mich allerdings, meine sehr geehrten Herren
und Damen von der Opposition: Was ist eigentlich Ihr
Weg? Welches Bild haben Sie eigentlich von der Zukunft unserer Gesellschaft und von der Zukunft der Kinder und Jugendlichen?
({24})
Sie wollen das BAföG abschaffen.
({25})
Sie wollen Studiengebühren einführen.
({26})
Sie wollen, dass junge Menschen mit einem riesengroßen Schuldenberg ins Berufsleben starten.
({27})
Dabei würde es sich um 50 000, 60 000 oder sogar
90 000 Euro handeln, wenn Sie das BAföG abschaffen.
Das sind die realen Zahlen.
Sie wollen keinen Ausbau der frühkindlichen Betreuung; Sie wollen keine Ganztagsschulen.
({28})
Sie torpedieren das Programm mit allen Mitteln.
({29})
Sie sagen nichts zu der Frage, wie Jugendliche mit
schlechten schulischen Voraussetzungen neue Chancen
erhalten sollen. Sie sagen nichts dazu, wie junge qualifizierte Frauen Berufstätigkeit und Kindererziehung vereinbaren sollen.
({30})
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, lassen Sie mich ganz klar sagen: Was Sie betreiben,
ist das Gegenteil von Perspektive und Aufbruch.
({31})
Denken Sie um! Zeigen Sie Verantwortung und eröffnen Sie jungen Menschen die Möglichkeiten, die sie
brauchen! Geben Sie ihnen Motivation und Selbstvertrauen und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({32})
Ich erteile das Wort Kollegen Karl-Josef Laumann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundesministerin, wenn
man Ihrer Rede zugehört hat,
({0})
dann hat man das Gefühl: Alles ist gut; wir sind in
Deutschland auf einem guten Weg; Probleme sind
eigentlich nicht vorhanden. Aber die Zahlen sind nun
einmal so, wie sie sind, und auch die Stimmung im Land
ist so, wie sie ist, weil sie den Realitäten entspricht.
Zurzeit befinden sich 665 000 Jugendliche unter
25 Jahren in der Arbeitslosigkeit.
({1})
Weitere Hunderttausende Abgänger von Haupt- und
Realschulen - diese Zahl gibt es auf Bundesebene gar
nicht - befinden sich in so genannten Warteschleifen unserer Berufsschulen. Schauen Sie sich nur einmal an, wie
stark die Anzahl der Absolventen eines Berufsgrundschuljahres, die in keiner Statistik steht, zugenommen
hat.
Viele Schüler, die in den Schulen gut vorbereitet sind,
machen die Erfahrung, dass sie, wenn sie im zehnten
Schuljahr sind, Hunderte von Bewerbungen für eine
Lehrstelle schreiben müssen. Nehmen Sie einmal zur
Kenntnis, dass ein Mittelständler, der Pleite gegangen
ist, nicht mehr ausbildet. Das ist die Wahrheit. Diese
Situation wird immer schwieriger, weil die Anzahl der
Betriebe, die ausbilden, immer geringer wird. Deswegen
hat die Jugendarbeitslosigkeit im letzten Jahr sogar um
mehr als 145 000 junge Leute zugenommen. Wenn Sie
eine Bilanz vorlegen, die ausweist, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in den Jahren Ihrer Regierungszeit um 200 000 junge Leute zugenommen hat,
dann sind Sie in diesem Bereich die Bundesregierung
der Perspektivlosigkeit.
({2})
Ich gebe zu: Für diejenigen, die keine Lehrstelle finden, wird eine Menge getan. Heute befinden sich rund
383 000 junge Leute in Maßnahmen der Bundesagentur
für Arbeit. Wir sind schon fast so weit, dass ähnlich viele
junge Leute in Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit sind, wie das duale Ausbildungssystem noch reguläre Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt.
({3})
Allein 116 000 junge Leute nehmen an Maßnahmen zur
Berufsvorbereitung, 215 000 an Maßnahmen für Benachteiligte teil.
({4})
Ich will Ihnen einmal sagen, wie es dazu kam, dass
dieses Problem zugenommen hat: Im Jahr 1998 befanden sich 33 000 junge Leute in berufsvorbereitenden
Maßnahmen, jetzt sind es 116 000. Das zeigt, wie sich
die Situation in den letzten Jahren entwickelt hat. Derjenige, der dies zahlt, ist der Beitragszahler der Bundesagentur für Arbeit. Dafür werden mittlerweile Mittel von
mehr als 1 Milliarde Euro ausgegeben.
Jetzt bin ich bei meinem ersten Punkt. Es kann doch
nicht richtig sein, dass die berufliche Ausbildung in diesem Umfang von den Beitragszahlern - den
26,2 Millionen Arbeitsplätzen, die in diesem Land noch
sozialversicherungspflichtig sind - bezahlt wird.
({5})
Das ist nicht in Ordnung
({6})
und unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten der
wohl größte Fehler, den ich in den letzten Jahren
beobachtet habe: Die Probleme des Schulwesens, dass
zum Beispiel viele Kinder Abschlüsse machen, mit denen sie nicht berufsfähig sind, werden durch Beitragsmittel behoben; das ist nicht in Ordnung.
({7})
Ich hoffe, dass Sie irgendwann einmal die Kraftanstrengung unternehmen werden, hier zu einer Steuerfinanzierung überzugehen. Ich kann mir überhaupt
nicht erklären, warum man mit der Finanzierung dieses
Bereichs nur einen Teil der Arbeitsplätze in Deutschland
belastet.
({8})
Wer so weit ist, einen großen Teil der Berufsausbildung junger Leute durch Beiträge zu finanzieren, der
sollte sich beim Thema Einführung von Studiengebühren an Universitäten ein bisschen zurückhalten.
({9})
Denn wenn Studiengebühren nachgelagert finanziert
werden, können sie für die Universitäten Steuerungswirkungen haben, die man, wenn man an den Unterschied
zwischen akademischer Ausbildung und Ausbildung im
dualen System denkt, mehr als begrüßen müsste. Diese
Diskussion können wir gerne jeden Tag führen.
({10})
- Das tun wir und das steht auch in unserem Wahlprogramm.
({11})
Aber auch das wird Sie in Nordrhein-Westfalen nicht
mehr retten; denn die Leute wissen, wie Hochschulen
unter Ihrer Führung aussehen.
({12})
- Aber danach haben Sie sie nicht mehr unterhalten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir alle wissen, dass der
einzige Schlüssel, um durch Arbeit ein Einkommen zu
erzielen, von dem man leben kann, in der arbeitsteiligen
Gesellschaft, in der wir in Europa und insbesondere in
Deutschland mittlerweile leben, die qualifizierte Schulund Berufsausbildung ist.
({13})
Wir Politiker machen uns viele Gedanken über die
Demographie und fragen uns zu Recht: Warum gibt es
bei uns so wenige Kinder? Warum haben ganze Schichten der Bevölkerung sehr wenige - auf jeden Fall: zu wenige - Kinder? Ich teile diese Analyse. Aber ich glaube,
dass wie ich ganz viele Eltern, die Kinder haben, die
keine Lehrstelle finden, meinen: Kümmern wir uns doch
erst einmal um die Kinder, die wir in diesem Land haben, und bauen wir deren Entwicklungschancen vernünftig aus!
Einige Dinge fallen doch auf. Nehmen wir zum Beispiel Nordrhein-Westfalen: Dort haben wir ohne Frage
seit 25 Jahren eine Bildungspolitik, die mehr von der
GEW bestimmt wird wie von allen anderen.
({14})
Dort ist die Chance der Kinder, deren Elternhäuser als
„bildungsfern“ gelten, der Kinder, die einen Immigrationshintergrund haben, schlecht.
({15})
Wir sind mittlerweile so weit, dass in Nordrhein-Westfalen von den ausländischen Kindern 21,8 Prozent auf
Sonderschulen, auf Schulen für Lernbehinderte, gehen.
({16})
Stellen Sie sich das nur einmal vor! Das liegt doch an
den Defiziten in unseren Grundschulen! Das liegt doch
daran, dass Sie sich immer verweigert haben, die Kinder
mit vier Jahren auf ihre Sprachkenntnisse zu prüfen, woraufhin man gezielt hätte fördern können. Das ist doch
Ihr Versagen in der Ausländerpolitik, in der Zuwanderungspolitik, in der Immigrationspolitik!
({17})
Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
Nein.
({0})
Der nächste Punkt: Dadurch dass man teilweise den
Leuten einen deutschen Pass gibt, wodurch sie statistisch
natürlich keine ausländischen Schüler mehr sind, ist das
Problem in den Schulen weder was die Integration noch
was die Sprachfähigkeit angeht gelöst. Aber genau daran
orientieren Sie Ihre Möglichkeiten, in den Klassen zu
differenzieren. Aber in einem Schulsystem, in dem es so
ist, dass fünf Millionen Unterrichtsstunden ausfallen,
sind die Voraussetzungen für differenzierten Unterricht
einfach nicht gegeben.
({1})
Deswegen haben Sie in dem größten Bundesland in dieser Frage kläglich versagt.
({2})
Ich habe mir nie vorstellen können, dass wir einmal
eine Zeit erleben, wo nach fast 40 Jahren sozialdemokratischer Verantwortung für Bildungspolitik die Chancen
der Bevölkerungsgruppen, die aus benachteiligten sozialen Verhältnissen kommen, so schlecht sind, wie sie
heute sind.
({3})
Wissen Sie, die Generation unserer Großeltern hat es,
aus der christlich-sozialen Bewegung oder aus der sozialdemokratischen Bewegung kommend, richtigerweise
durchgesetzt, dass Kinder aus Elternhäusern, wo das
Portemonnaie klein ist, studieren können.
({4})
Das haben wir hingekriegt. Aber Sie haben versagt bei
der Bildungspolitik und bei der Integration von Kindern,
die aus schwierigen sozialen Umfeldern kommen. Das
sind in Wahrheit die Gründe, warum das Finden von
Lehrstellen und die Lage der beruflichen Bildung so
schwierig sind.
({5})
Sie besuchen wie ich die Einrichtungen der Bildungsträger, in denen benachteiligte Jugendliche geschult werden. Wir wissen doch alle aus den Gesprächen, die wir
dort geführt haben - man spürt es nahezu -, aus welchen
Strukturen der größte Teil derjenigen kommt, die dieser
Maßnahmen bedürfen.
({6})
Deswegen muss das Schulsystem so geändert werden,
dass in einigen Jahren die Ausbildungsfähigkeit nach
zehn Jahren Schule besser ist wie heute.
({7})
Der nächste Punkt - hören Sie sich das doch einfach
einmal an! -:
({8})
Es gibt eine Gesamtverantwortung für Politik. Deshalb
will ich Ihnen diesen weiteren Punkt ins Stammbuch
schreiben: Bei den Maßnahmen, die die Bundesagentur
für Arbeit zurzeit für Benachteiligte ausschreibt, läuft es
doch so ab, dass immer der Preis der Träger mehr zählt
wie die Qualifikation. Jetzt stellen Sie sich einmal vor,
wir würden in einem Landkreis ausschreiben: „Wer
macht in diesem Jahr die billigste Handelsschule?“ und
egal wer es ist, der Billigste bekommt den Zuschlag. So
läuft es zurzeit unter Ihnen in Deutschland bei den Programmen für Benachteiligte: Vernünftige und erfahrene
Träger mit einer regionalen Verantwortung scheiden aus
dem Markt aus und Billiganbieter bekommen den Zuschlag. Dafür tragen Sie Verantwortung: für das, was Sie
in den letzten Jahren bei der beruflichen Qualifikation
angerichtet haben!
({9})
Das haben Sozialdemokraten geschafft: Auf der einen
Seite haben wir in Deutschland auf die Unterrichtsstunde
bemessen die bestbezahlten Lehrer der Erde, auf der anderen Seite bekommen diejenigen, die in den Programmen für beruflich Benachteiligte als Dozenten arbeiten,
Löhne von teilweise nicht einmal mehr 1 500 Euro. Das
ist unter Ihnen die Realität in der Bildungslandschaft in
Deutschland geworden!
({10})
Das können Sie doch nicht leugnen!
({11})
Das hat es unter uns nicht gegeben, weil wir eine regionale Struktur in diesen Bereichen wollen.
Hätten Sie bei Hartz auf uns gehört und die Integrationsprogramme kommunal angesiedelt, dann hätten wir
jetzt kommunale Strukturen. Sie haben über die Bundesagentur für Arbeit aber Bundesstrukturen geschaffen. Die Landesarbeitsämter haben nun nicht einmal
mehr Einfluss darauf, wer es in der Region machen
kann. Dafür tragen Sie die politische Verantwortung.
({12})
Das werden wir in den entsprechenden Kreisen auch sagen. Wir sind in dieser Frage für eine kommunale Betreuung.
({13})
- Wissen Sie, zum Zuverdienst werden Sie ab Freitagmittag neue Nachrichten erhalten. Das Problem kriegen
wir schnell geregelt.
({14})
Wenn wir etwas machen wollen, dann sollten wir erst
einmal dafür sorgen, dass es, solange es im dualen
System nicht geht, bei den Bildungsträgern eine über
Steuern finanzierte qualifizierte Berufsausbildung für
die Benachteiligten gibt. Das duale System und lange
Praktika im dualen System müssen dabei absolute Vorfahrt erhalten.
Ich nenne Ihnen jetzt einen weiteren Punkt, der Sie
zur Weißglut bringen wird; ich weiß es. Meinetwegen
können Sie daraus auch eine Kampagne in NordrheinWestfalen machen. Viele von meiner Fraktion, die hier
sind - ich gehöre dazu -, und viele von Ihnen haben in
ihrem Leben nach der Schule ganz natürlich zunächst
einmal eine ganz normale Lehre gemacht.
({15})
Ich gehöre einer Generation an, die sich wenigstens in
der Region, in der ich groß geworden bin, zumindest die
Ausbildungsplätze im Handwerk - Mitte der 70er-Jahre nahezu aussuchen konnte. Warum war das damals so?
Damals galt folgende Faustregel: Im ersten Lehrjahr
setzt der Meister beim Lehrling ein wenig zu, im zweiten
ist es gleich und im dritten verdient er an dem Lehrjungen so viel, wie er im ersten gekostet hat. Als diese Proportion noch stimmte, gab es genug Ausbildungsplätze.
Da es heute einige Branchen gibt, in denen die tariflichen Ausbildungslöhne so hoch sind, dass ein Hilfsarbeiter manchmal preiswerter ist, darf man sich nicht
wundern, dass auch in diesem Bereich geschaut wird,
wie viele Lehrstellen es eigentlich noch gibt und ob sich
das eigene Unternehmen dies überhaupt noch erlauben
kann.
({16})
Hier stellt sich auch die Frage, ob noch über Bedarf
ausgebildet wird. Man denkt: Soll ich noch jemanden
hinzunehmen, weil ich meine, dass wir eine Verpflichtung dazu haben, obwohl die Zeugnisse eigentlich nicht
entsprechend sind? Na ja, wir probieren es noch mal. Für die ganz Qualifizierten passt all das, was bei Ihnen
geschieht, vielleicht noch; die Schwächeren, die keine so
guten Zeugnisse vorzuweisen haben, trifft es zuerst.
Denken Sie einfach einmal darüber nach, ob nicht auch
wir eine Entwicklung mit einleiten müssen, dass wieder
der Grundsatz gilt: Eine Berufsausbildung muss so organisiert werden, dass die Kostenverteilung am Ende so
wie früher aussieht.
({17})
Die goldene Regel, die jeder Handwerker kannte, habe
ich Ihnen genannt.
Sie mögen sagen: Die Berufsausbildung ist besser als
früher. Ich kann Ihnen nur sagen: Die handwerkliche Berufsausbildung in Deutschland war auch vor Jahren und
auch in der Generation vor uns schon von einer hohen
Qualität. Wenn wir diese in die Zukunft retten würden,
dann wäre mir zumindest vor der Zukunft des Teils der
jungen Leute, der dort ausgebildet wird, nicht mehr
bange.
Schönen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort Kollegin Thea Dückert, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege und Wahlkämpfer
Laumann - das muss man heute hier wohl sagen -:
({0})
Vieles habe ich nicht verstanden, weshalb ich zurückfragen möchte.
({1})
- Ja, ja.
Sie haben hier die sehr richtige und nicht zu bezweifelnde Feststellung an den Anfang gestellt, dass
665 000 arbeitslose Jugendliche existieren und dass das
zuviel ist. Ich möchte hinzufügen: In einer so kurzen Redezeit, wie ich sie habe, ist gar nicht zu beschreiben,
welche Schicksale von jungen Menschen, die in Ausbildung kommen wollen, und ihren Eltern sich dahinter
verbergen. Herr Laumann, gerade vor diesem Hintergrund verstehe ich eines nicht: Sie haben beispielsweise
beklagt, dass die Bundesagentur für Arbeit über
360 000 Maßnahmen für arbeitslose Jugendliche anbietet.
({2})
Herr Laumann, was war die Botschaft dieser Aussage?
({3})
Wollen Sie uns in einer Zeit, in der es zu viele jugendliche Arbeitslose gibt, nahe legen, dass die Bundesagentur
für Arbeit diese Maßnahmen nicht durchführen soll?
Herr Laumann, wollen Sie also über 360 000 junge
Leute in die Wüste schicken?
({4})
Wie können Sie in dieser Situation, in der in den Ländern junge Menschen von den Schulen und Ausbildungssystemen zum Teil ohne Schulabschlüsse ins Berufsleben geschickt werden, beklagen, dass die
Bundesagentur für Arbeit mit Beitragsmitteln versucht,
den jungen Menschen eine Hilfestellung zu geben?
({5})
Ich finde das unsäglich. Genauso unsäglich finde ich
Vorschläge - das ist Ihr Konzept beim Pakt für Deutschland -, die über Beitragssatzsenkungen bei der Arbeitslosenversicherung gegenfinanziert werden sollen und
darauf hinauslaufen, Maßnahmen für LangzeitarbeitsDr. Thea Dückert
lose, für Menschen in einer Umschulung, für junge und
alte Menschen zu streichen. Nein, so geht das nicht. Daher ist Ihre Politik nicht durchdacht und unglaubwürdig.
({6})
Wir müssen allen den Zugang zu Bildung und Arbeit
ermöglichen, und zwar völlig unterschiedslos von Geschlecht, sozialer Herkunft und übrigens auch von der
entsprechenden Landesregierung, egal ob man aus Bayern oder aus einem anderen Bundesland stammt. Es ist
heute in Deutschland leider Realität, dass der Zugang zu
Ausbildung ein Nadelöhr ist, statt ein Scheunentor zu
sein.
Sie haben auf die Schulausbildung in NordrheinWestfalen angespielt. Ich will Ihnen etwa sagen, Herr
Laumann: Das faktische Schlusslicht in Deutschland bei
Jugendlichen ohne Schulabschluss - das eigentliche
Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt - ist Bayern.
({7})
Nur so viel dazu, wie Sie es mit der Ehrlichkeit in dieser
Debatte halten. Wir alle zusammen haben es damit zu
tun, dass unsere Schulsysteme - die PISA-Studie hat uns
das bewiesen - die Jugendlichen nicht hinreichend auf
Ausbildung und Beschäftigung vorbereiten.
Ich sage Ihnen noch etwas: Die Hartz-Gesetze sind
der richtige Ansatz. Aber sie können nicht das, was in
unserem Bildungssystem verändert werden muss, was
zum Beispiel durch eine neue Art von Schule angegangen werden muss, ausgleichen; das ist völlig klar.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine andere
wahlkampfbedingte Unehrlichkeit ansprechen, Herr
Laumann. Sie haben gesagt, dass die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen in diesem Jahr um 145 000 gestiegen
ist. Sie haben aber verschwiegen, Herr Laumann, dass
wir in diesem Jahr 120 000 arbeitslose Jugendliche über
die Hartz-Reformen aus der Grauzone herausgeholt
und in die Statistik aufgenommen haben.
({8})
Diese 120 000 Jugendlichen haben erst dadurch die
Möglichkeit bekommen, durch Instrumente zur Wiedereingliederung, die ihnen individuell helfen, zum Beispiel
durch Beratung mit Eingliederungsvereinbarungen und
Angebote für jeden - das streben wir an -, eine Beschäftigung zu finden. Diese 120 000 Jugendlichen, die vorher in keiner Statistik aufgetaucht sind und auch nicht
Gegenstand der Politik waren, haben jetzt eine Chance
erhalten. Ich finde, Herr Laumann, es gehört zu der von
Ihnen geforderten Ehrlichkeit dazu, auch das zu benennen.
({9})
Aber auch Folgendes ist wichtig: Die Hartz-Gesetze
haben viele neue Instrumente geschaffen, doch viele
werden noch nicht so eingesetzt, wie es geplant war; das
ist wahr. Die notwendige Relation von 1 : 75 bei den
Fallmanagern ist an vielen Orten noch nicht erreicht,
aber an vielen anderen konnte sie umgesetzt werden. Ich
muss Ihnen sagen: Wenn ich durch das Land reise, stelle
ich fest - das ärgert mich sehr -, dass fest verankerte
Strukturen und Netzwerke für Jugendliche, die in die
Betriebe vermittelt werden sollen, in einem bürokratischen Clinch und Wirrwarr zwischen Behörden und
Kommunen zum Teil auf der Strecke bleiben. Das darf
nicht sein. Wir müssen erreichen, dass die Jugendhilfe
vor Ort, die Arbeitsvermittlung und die Jobcenter an einem Strang ziehen.
Die erste Priorität bei der Bewältigung der Schwierigkeiten - diese sehe ich durchaus -, eine so große Behörde umzustrukturieren, muss sein, die Vermittlung
der Jugendlichen zu organisieren.
({10})
Das geht. Wir haben heute schon Kommunen, die das
machen. Schauen Sie sich Köln an. Dort wird vorgeführt, dass wir mit den Instrumenten und Mitteln von
Hartz und der Dezentralität jedem Jugendlichen ein Angebot machen können. Deswegen ist es richtig, dass wir
das in unseren Antrag hineingeschrieben haben. Es ist
auch richtig, dass wir die Schwierigkeiten für die Jugendlichen in einem Zeitraum, der kleiner als drei Monate ist, ausräumen wollen.
Ich muss zum Schluss kommen. Ich möchte aber eines noch einmal in Richtung Union sagen. Sie sprechen
von lebenslangem Lernen. Sie haben einen Antrag eingebracht, in dem man wieder eine Wende feststellen
kann, die wahlkampfbedingt ist. Wenn Sie lebenslanges
Lernen und Bildung ernst nehmen, dann lassen Sie uns
mehr in Bildung investieren. Geben Sie Ihre Blockade
bei der Abschaffung der Eigenheimzulage auf!
({11})
Wenn Sie lebenslanges Lernen in den Betrieben ernst
nehmen, dann hören Sie auf, den Kündigungsschutz
schleifen zu wollen und das Prinzip des „hire and fire“
einführen zu wollen!
({12})
Wir brauchen Weiterbildung in den Betrieben. Das heißt,
wir brauchen auch Kontinuität in der Beschäftigung. Die
Wirtschaft und die Politik haben eine Verantwortung gegenüber den Jugendlichen und nicht umgekehrt.
Danke schön.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen haben uns heute einen Antrag vorgelegt,
der wieder einmal die schöne heile Welt darstellen soll:
({0})
auf der linken Seite die Tollen und die Sozialen, die in
die Zukunft schauen, und auf der rechten Seite diejenigen, die nur die Reichen erfreuen wollen und den anderen in diesem Land die Chancen verbauen wollen.
({1})
Mit dieser Legendenbildung werden wir heute aufräumen.
({2})
Chancen und Perspektiven für eine Bildungskarriere
- Frau Bulmahn, das haben Sie eben sehr richtig gesagt - werden in der Schule und auch schon vor der
Schule aufgebaut. Da stimme ich Ihnen zu. Wir haben
aber alle in dieser Woche den „Spiegel“ gelesen, in dem
aufbereitet wird, wie viel Deutschland für den Elementarbereich ausgibt. Wir geben gerade einmal 3 448 Euro
pro Kind aus. Selbst in Italien, in einem Land, von dem
der Durchschnittsdeutsche meint, dort laufe es nicht so
richtig, werden 6 468 Euro pro Kind ausgegeben. Das ist
das Doppelte. In Großbritannien sind es sogar
8 000 Euro pro Kind. Deutschland knausert bei den
Kleinen und das gerade in den SPD-regierten Ländern.
({3})
Sie, Frau Bulmahn, haben eben wieder versucht, diese
Entwicklung zumindest rein theoretisch ein bisschen zu
banalisieren, und Sie haben davon gesprochen, dass Sie
den Kommunen durch das Gesetz mit dem „wunderschönen“ Namen Tagesbetreuungsausbaugesetz 1,5 Milliarden Euro zukommen lassen wollen. Aber es ist völlig
unklar, wie viel von diesem Geld ankommt, wie es verteilt wird und wer überhaupt jemals davon profitieren
wird.
({4})
In Nordrhein-Westfalen kann Ihnen kein Mensch sagen,
wie sich das überhaupt auf die Kommunen auswirken
wird. Das ist doch die Realität. Das geschieht in einem
Bundesland, in dem trotz des Rechtsanspruchs gerade
einmal 84 Prozent der drei- bis sechsjährigen Kinder einen Kindergartenplatz bekommen. Im vorschulischen
Bereich, in dem das Fundament für Bildung gelegt wird,
haben wir eine Abdeckung von 2,3 Prozent. Das erinnert
an ein Entwicklungsland, liebe Frau Bulmahn, und das
ist ein SPD-geführtes Land.
({5})
Im Schulbereich haben Sie versucht, mit dem 4-Milliarden-Euro-Ganztagsschulprogramm gegenzusteuern.
Das haben Sie eben erwähnt. Damals haben Sie „Zeit für
mehr“ plakatiert. Fakt aber ist - auch das können Sie im
„Spiegel“ dieser Woche nachlesen -, dass die Länder
diese Mittel nicht abrufen. Da ist Nordrhein-Westfalen
nicht vorneweg, wie Sie eben behauptet haben. Nur
23 Prozent der Mittel werden in NRW abgerufen.
({6})
An der Spitze steht Bremen. Mecklenburg-Vorpommern
hat nur 20 Prozent der Mittel abgerufen. Berlin ist mit
46 Prozent toll; es ist ja auch toll verschuldet. Schleswig-Holstein hat 27 Prozent der Mittel abgerufen. Das
alles sind SPD-regierte Länder, Frau Bulmahn. Sie
stehen damit einer weitgehend geschlossenen Front von
Verschleppern der Ganztagsschulbetreuung gegenüber - und das als SPD-Ministerin. Das sind alles Ihre
Länder.
({7})
- Lieber Herr Tauss, jedes Jahr verlassen immer noch
rund 80 000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss.
Fast jeder zweite arbeitslose Jugendliche hat keine abgeschlossene Ausbildung. Nur knapp über 50 Prozent derjenigen, die keinen Sek-II-Abschluss haben, finden eine
Beschäftigung. Damit erreichen wir den mageren
Platz 20 unter 28 untersuchten Ländern, Frau Bulmahn.
({8})
Das können Sie doch nicht allen Ernstes als soziale Teilhabe in diesem Lande bezeichnen!
({9})
Sie haben eben die Bundesregierung gelobt - das
steht Ihnen frei und das wird Ihnen wahrscheinlich auch
niemand übel nehmen - und dabei die Hartz-Reformen
hervorgehoben. Das mag zwar damals für Sie ein Kraftakt für die sozialdemokratische Seele gewesen sein - wir
alle waren Zeuge -, aber bisher ist von gezielter Förderung und besserer Vermittlung nichts zu merken. Im Gegenteil: Neben den Zahlen, die Herr Laumann eben erwähnt hat, leben wir doch inzwischen mit der Tatsache,
dass nach der Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit
die Berufsberatung der Arbeitsämter faktisch aufgegeben wurde.
({10})
Nun will ich nicht behaupten, Frau Bulmahn, dass wir
Liberalen meinten, die Arbeitsämter müssten das alles
tun. Aber Sie haben keinen neuen Weg aufgezeigt. Die
Jugendlichen - gerade diejenigen, die besonders gestützt
und gefördert werden müssen - erhalten durch die Arbeitsämter keine Beratung mehr. Ist das die soziale Teilhabe?
Sie tragen weiterhin die Ausbildungsplatzabgabe
wie eine Monstranz vor sich her, Frau Bulmahn - in dieUlrike Flach
sen Tagen geht aus der Presse hervor, dass Sie sie offensichtlich wieder für den Herbst androhen wollen -,
({11})
obwohl die Unternehmen Ihnen gezeigt haben, dass man
in diesem Land gemeinsam in der Lage ist, gerade etwas
für Jugendliche in diesem Alter zu tun.
({12})
Es gibt inzwischen 15 400 Ausbildungsplätze mehr
- das sind 2,8 Prozent -, und zwar ohne eine Abgabe.
Was haben Sie damals für diese Abgabe gekämpft, Frau
Bulmahn. Wie viele Anhörungen in unserem Ausschuss
haben wir durchführen müssen, bis Ihnen klar wurde,
dass es so nicht geht.
({13})
Die Ausbildungsplatzabgabe und der dann erfolgte Pakt
für mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche
({14})
haben gezeigt, dass in diesem Lande nicht mit Druck
oder einer Abgabe vorzugehen ist; vielmehr wird in diesem Fall im Einvernehmen mit den Unternehmen gehandelt. Denn sie - nicht der Staat - sind diejenigen, die die
Arbeitsplätze schaffen.
({15})
Die Bundesregierung hat ein Berufsbildungsgesetz
beschlossen - wir haben uns seinerzeit der Stimme enthalten -, das zumindest in die richtige Richtung ging.
Sie haben aber dabei keine Verbesserung in den entscheidenden Punkten vorgenommen. Sie wollen nach
wie vor die Ausbildungszeiten nicht in ausreichendem
Maße verkürzen. Sie wollen nach wie vor nicht in der
notwendigen Weise mit Modulen für benachteiligte Jugendliche arbeiten und Sie haben in dem einen Jahr nach
der Verabschiedung des Gesetzes gerade zwei neue Berufe mit einer zweijährigen Ausbildung geschaffen.
Das kann ich nicht als Schritt in die Zukunft bezeichnen. Das ist wirklich nicht der Fall, Frau Bulmahn.
Wir als FDP wollen mehr Spielräume für die betriebliche Gestaltung in den Ausbildungsverordnungen schaffen. Sie hingegen setzen auf die weitere Verschulung.
Wir wollen die Verkleinerung der Berufsbildungsausschüsse. Sie wollen das nicht. Wir wollen eine Erleichterung bei den Vorschriften über Sozialräume und eine flexiblere Handhabungsmöglichkeit für Unternehmen bei
der Höhe der Ausbildungsvergütung.
({16})
All dies haben Sie auf Druck Ihres linken Flügels
nicht machen können, Frau Bulmahn. Daraus ergeben
sich die Probleme in diesem Bereich. In diesem Fall sind
Sie nicht in der Lage, den Jugendlichen schnell und unbürokratisch das zu bieten, was sie brauchen, nämlich einen Arbeitsplatz und damit einen Platz in der Gesellschaft, damit sie mitmachen können.
({17})
Ich würde gerne noch etwas zu den Hochschulen
ausführen, aber wir führen heute noch eine wunderschöne Debatte über das BAföG, in der wir uns gegenseitig etwas erklären können. Deshalb will ich nur Folgendes anmerken: Wir haben seit 1998 mit Ihnen viel
erlebt. Wir haben von Ihnen viele tolle Reden
({18})
und Versprechungen gehört, Frau Bulmahn. Aber wie
sieht die Realität aus? Realität ist, dass wir nach wie vor
in einem Land leben, in dem die Leute, die mit einem
goldenen Löffel geboren werden, bessere Chancen haben, während die Armen sehen müssen, wie sie sich eingliedern können.
({19})
Das ist die Bilanz der rot-grünen Regierung seit 1998.
Die Armen sind nach wie vor so weit von der Bildung
entfernt, wie sie es 1998 waren. Deswegen ist es Zeit,
dass sich die Situation am 22. Mai dieses Jahres - darin
stimme ich Herrn Laumann zu - verändert. NordrheinWestfalen wird vorangehen und Berlin wird folgen.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! „Aufbruch und Perspektiven - Zukunftschancen für Jugendliche in Deutschland stärken“,
das ist der Titel unseres Antrags, der deutlich macht, wofür Rot-Grün steht, kämpft und eintritt.
({0})
Heute Morgen durften wir gleich beim ersten Tagesordnungspunkt den Aufbruch miterleben. Bei der Wahl des
neuen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe ist deutlich geworden, dass Sie selbst in den Kreisen der Opposition
nicht geschlossen auftreten. Schließlich waren auch Sie
von diesem qualifizierten Kandidaten überzeugt, sodass
große Zustimmung aus Ihren Reihen kam. Das ist ein
Stück Aufbruch.
({1})
Wir haben des Weiteren miterleben dürfen, dass wir in
Nordrhein-Westfalen einen guten Wirtschafts- und Arbeitsminister haben. Er heißt Harald Schartau. Heute
Morgen ist deutlich geworden: Zu ihm hat die Opposition keine Alternative zu bieten. Auch das muss festgestellt werden.
({2})
Wir müssen die Reformen, die wir mit der Agenda
2010 begonnen haben, engagiert fortsetzen. Das ist unser
Auftrag. Mit „wir“ meine ich nicht nur die Regierung,
sondern auch all diejenigen, die mit ihrer Arbeit in den
Schulen, in den Kindergärten, bei den Bildungsträgern
und in den Arbeitsgemeinschaften mithelfen, damit die
Arbeitslosigkeit in diesem Land gesenkt wird. Junge
Menschen in unserem Land brauchen eine Perspektive.
Sie dürfen nicht ängstlich, sondern sie sollen mit Zuversicht der Zukunft entgegensehen, und zwar nach unserer
Überzeugung ganz unabhängig davon, in welcher Lebenssituation sie sich befinden. Junge Menschen müssen
eine Chance bekommen. Dafür steht Rot-Grün. Das wollen wir mit unserem Antrag noch einmal deutlich machen. Wir haben letztlich mit der Agenda 2010 die Zukunftsfähigkeit dieses Landes organisiert. Wir sind auf
einem Weg, der letztlich die Chancen für junge Menschen deutlich verbessern wird.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland hängt nach unserer Überzeugung nicht davon ab,
wie lange und für wie viel - noch weniger - Geld in diesem Land gearbeitet werden muss. Denn eines will ich
klar sagen: Wir können und wollen uns nicht mit Billiglohnländern messen lassen. Mit ihnen wollen wir nicht
konkurrieren. Unser Grundsatz lautet: Wir wollen nicht
billiger sein, sondern wir müssen besser sein. Das ist die
Losung, mit der wir in die Auseinandersetzung gehen.
({3})
Lassen Sie mich klar sagen: Im Zuge der Dienstleistungsfreiheit ist es deshalb wichtig, dass wir nicht an der
Spirale nach unten drehen. Vielmehr müssen wir auch in
einer erweiterten EU Mindeststandards sichern. Die
Opposition macht zwar interessante Aussagen. Aber
während die einen wie Herr Laumann und Herr Stoiber
Mindestlohn und Mindestbedingungen bejahen, sagen
andere wie Frau Merkel und Herr Pofalla: unter keinen
Umständen. Dieses Hott-und-Hü macht dieses Land
noch nervöser und bietet keine Zukunftsperspektive. Ich
will hier klar sagen: Wir stehen dafür, dass in diesem
Land die sozialen Standards nicht der Globalisierung
zum Opfer fallen.
({4})
Eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bedeutet
für uns keine Spirale nach unten. Es geht nicht um weniger Lohn und längere Arbeitszeiten. Die Wettbewerbsfähigkeit hängt vielmehr von der Sicherung der Standortfaktoren ab. Dabei sind das Bildungsniveau, die
Rechtssicherheit und die Zuverlässigkeit in dieser Gesellschaft ganz wesentliche Faktoren. Im Übrigen sehen
das ausländische Investoren genauso. Diese beurteilen
die Situation in Deutschland mehr und mehr positiv und
loben sie. Das, was in Nordrhein-Westfalen geschieht,
was Herr Rüttgers und Frau Merkel fordern, nämlich
ohne Lohnausgleich länger zu arbeiten, ist nichts anderes als eine Aufforderung zum kollektiven Tarifbruch.
Das muss deutlich gesagt werden. Das bringt dieses
Land nicht nach vorne. Das machen wir nicht mit.
({5})
Wir treten dafür ein, dass die Teilhabe am sozialen,
wirtschaftlichen und kulturellen Leben gewährleistet
ist. Das ist für Sozialdemokraten oberstes Ziel.
Arbeit ist insbesondere für Jugendliche ein zentraler
Teilhabefaktor; wie wir wissen, lösen sich nämlich andere Bindungen - Bindungen in Vereinen und Organisationen - immer stärker auf. Gerade deshalb ist die Möglichkeit, in Arbeit oder in einer Bildungsmaßnahme zu
sein, für uns ein Faktor von grundlegender Bedeutung.
Herr Laumann, es ist nicht redlich, hier zu erklären
- das will ich ganz deutlich sagen -: Ja, auch wir wollen,
dass es berufsvorbereitende Maßnahmen gibt; auch wir
wollen Angebote für die Jugendlichen schaffen; aber das
alles muss steuerfinanziert werden. Erst sagen Sie, diese
Maßnahmen seien nicht bei der Bundesagentur für Arbeit anzusiedeln, vielmehr sei dafür die gesamte Gesellschaft zuständig.
({6})
Dann sagen Sie: Lassen Sie uns das steuerfinanzieren.
Gleichzeitig ziehen Sie tagaus, tagein in diesem Lande
umher und sagen: Wir müssen Steuern senken; im Kern
muss dieser Staat bei seinen überbordenden Ansprüchen
zurückstecken. Auf der einen Seite fordern Sie, dass Beiträge nicht genutzt werden und dass diese Maßnahmen
steuerfinanziert werden, und auf der anderen Seite sind
Sie gegen irgendwelche sicheren Finanzierungsgrundlagen. Das ist ein Widerspruch. Hier muss ganz deutlich
gesagt werden: Das ist nicht redlich.
({7})
Wir haben die Arbeitslosigkeit sichtbar gemacht. Wir
sagen nicht: Es ist alles gut. Wir haben die Jugendlichen
aus dem statistischen Dunkel herausgeholt. Es gibt rund
660 000 arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahre.
16 Prozent von ihnen haben keinen Schulabschluss. Im
SGB-II-Bereich, also bei den Beziehern von steuerfinanzierten Grundsicherungsleistungen, ist sogar ein Drittel
der Personen ohne Schulabschluss. 68 Prozent von ihnen
haben keine Ausbildung. Viele von ihnen haben einen
Migrationshintergrund. Die Versäumnisse der Bildungsund Zuwanderungspolitik der 80er- und 90er-Jahre lassen hier ganz deutlich grüßen.
({8})
Wie so oft ist dabei wieder einer durchgebrannt, Herr
Laumann. Er sagt: 21 Prozent der Jugendlichen in NRW
({9})
gehören zu den Lernbehinderten und sind in Sonderschulen untergebracht. Richtig ist, dass 4,9 Prozent der
Schüler Lernbehindertenschulen, also Sonderschulen,
besuchen. Richtig ist aber auch, dass es auf diesem Gebiet im letzten Jahr eine Steigerungsrate von 21 Prozent
gab. Das hat etwas damit zu tun, dass man diesen Personenkreis ganz besonders fördert. Auch deshalb wird dieKlaus Brandner
ses statistische Dunkel gelichtet. Wir widmen uns diesem Problem ganz konkret. Wir widmen uns den
Menschen und wir banalisieren nicht und pauschalisieren nicht.
({10})
Wir sind dabei, die Umsetzung der Reformen zu optimieren. Die Einführung von Hartz IV hat trotz einer
knappen Vorlaufzeit gut geklappt. Die CDU hat dieses
Gesetz zwar mitbeschlossen, aber wenig mitgeholfen, es
in die Praxis umzusetzen. Sie mäkelt: Eigentlich sollte
die BA nicht zuständig sein; sie ist überfordert; die
Kommunen sollten es machen. Ob das richtig ist, wird
sich zeigen.
Aber es wird sich auch zeigen, ob es redlich ist, dass
Sie in Bezug auf Ausschreibungsmaßnahmen sagen:
Preis und Qualität müssen in den Vordergrund gerückt
werden. Genau das hat Rot-Grün organisiert. Die BA hat
am Anfang falsch gesteuert. Wir, nicht Sie, haben dafür
gesorgt, dass Preis und Qualität im Vordergrund stehen.
Es wird darum gehen, in die Vergabeordnung zum Beispiel die Tariftreue aufzunehmen. Ich bin gespannt, inwieweit Sie diesen Ansatz für einen fairen Wettbewerb
mittragen.
({11})
An genau dieser Stelle kneifen Sie nämlich. In der
Vergangenheit haben Sie all das verhindert, was dazu geführt hat, dass gerade ein geordneter Wettbewerb überhaupt stattfinden konnte. Hier stellen Sie sich hin und
behaupten großspurig: Die Qualität gehört in den Vordergrund; nicht der Preis, sondern der Mensch muss
Priorität haben. Hier muss deutlich gesagt werden: Das
ist heuchlerisch.
({12})
Wir sind für eine intensive Betreuung. Wir wollen,
dass auf 75 längere Zeit arbeitslose Jugendliche ein Ansprechpartner kommt. In Nordrhein-Westfalen beträgt
dieses Verhältnis schon eins zu 78. Dort ist eine tolle
Leistung erbracht worden. Ich will nicht sagen, dass da
alles schon gut ist; schließlich müssen diese Jugendlichen noch weiter ausgebildet werden.
({13})
Wir stellen 6,55 Milliarden Euro zur Verfügung, damit
diese Menschen eine Chance bekommen.
({14})
Dieses Beispiel sucht auf der ganzen Welt seinesgleichen. Unterstützen Sie diesen Prozess und mäkeln Sie
nicht dauernd an ihm herum!
({15})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Arbeitslosigkeit ist kein Problem Einzelner, sondern der gesamten
Gesellschaft. Darum müssen wir alle mithelfen. Wir dürfen nicht immer nur auf den anderen zeigen, sondern wir
alle, das heißt auch die Unternehmen, die Tarifpartner,
die Menschen in den Jobcentern, in den Arbeitsagenturen, die Beschäftigungs- und Bildungsträger, müssen
mithelfen, damit wir die Jugendarbeitslosigkeit zurückdrängen. Wenn ich von „wir“ spreche, dann meine ich,
dass jeder Einzelne das zu seinem ganz privaten Anliegen machen muss, sei es bei der Mithilfe bei der Organisation von Arbeitsgelegenheiten oder Weiterbildungsmaßnahmen oder der Organisierung eines neuen
Ausbildungsplatzes.
Kollege Brandner, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist eine Gemeinschaftsaktivität, zu der wir gemeinsam stehen sollten. Dazu rufe ich Sie alle auf.
({0})
Ich erteile Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die SPD zeichnet in ihrem Antrag das Bild einer schönen neuen Welt. Nur: Die Realität sieht leider
anders aus.
({0})
- Nein, das ist keine Schwarzmalerei. - Mehr als
660 000 Jugendliche sind arbeitslos.
({1})
Es gibt 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das
sind Fakten, an denen wir nicht vorbei können.
Die Jugendlichen, die uns heute auf der Tribüne im
Deutschen Bundestag zuhören, wollen wissen, wie es
weitergeht.
({2})
Sie wollen keine Warteschleifen, sondern ganz konkret
die Chance auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz
haben. Da ist ihnen mit Schönfärberei nicht gedient.
({3})
Ich will aus Ihrem Antrag zitieren. Sie schreiben:
Hartz IV sieht vor, hilfebedürftigen Jugendlichen
unter 25 Jahren unverzüglich eine Ausbildung, Arbeit oder eine Arbeitsgelegenheit anzubieten.
Ich war wie viele von Ihnen in einer Arbeitsgemeinschaft, die vor Ort Hartz IV umsetzt. Ich habe mir die
Statistik angesehen. Ich habe gefragt: Wie sehen die
Einzelschicksale aus, die sich hinter diesen Zahlen verbergen? Die Mitarbeiter haben mir gesagt: Wir können
es Ihnen nicht sagen. Uns fehlen die Daten. Wir sind
noch nicht so weit. - Das bedeutet: Es ist gegenwärtig
schier unmöglich, diesen Jugendlichen gegenüber das
Versprechen einzulösen, mit ihnen eine individuelle Eingliederungsvereinbarung zu treffen.
({4})
Das Schicksal der vielen allein erziehenden Mütter
und Väter ist besonders dramatisch.
({5})
Es gibt eine Riesenzahl von Alleinerziehenden, die
nach Hartz IV besonderen Anspruch auf Kinderbetreuung haben.
({6})
Fragen Sie einmal in der Arbeitsagentur oder in der
Kommune, ob man dort weiß, wie die reale Situation ist,
und ob man Ihnen die Zahlen aufschlüsseln kann!
({7})
Fehlanzeige! Die Hilfe fehlt. Deshalb entspricht das, was
Sie hier sagen, nicht den Tatsachen;
({8})
es entspricht nicht der Wirklichkeit in unserem Land.
({9})
1,1 Milliarden Euro werden von der Bundesagentur
allein nur für die Förderung benachteiligter Jugendlicher in unserem Land ausgegeben. Der Kollege
Laumann hat völlig Recht, wenn er den Blick auf diesen
Punkt richtet. Das ist eine enorme Summe. Sie zeigt
auch, dass vorher etwas schief gelaufen ist - in der
Schule und im Elternhaus. Es kann nicht sein, dass wir
immer nur reparieren. Wir müssen an den Wurzeln ansetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Kinder
eine bessere Bildung bekommen und dass die Erziehung
im Elternhaus besser klappt. Das Ziel muss heißen: Ursachen der Bildungsmängel beseitigen, um nicht reparieren zu müssen.
Laut PISA haben 200 000 Schüler jedes Jahrgangs
schwere Lese- und Schreibprobleme. 100 000 Schüler
verlassen die Schule ohne Abschluss. 85 000 von ihnen
kommen aus der Hauptschule. Die BDA stellt fest: Mängel im Lesen, Rechnen und Schreiben sind genau so verbreitet wie fehlende Verantwortungsbereitschaft oder
fehlendes Durchhaltevermögen.
Wenn Sie sich noch einmal mit der Nachvermittlungsaktion der Industrie- und Handelskammern des
letzten Jahres befassen, dann werden Sie feststellen, dass
ein Drittel der Kandidaten gar nicht erst erschienen war
und dass nur 42 Prozent der Jugendlichen für eine berufliche Ausbildung geeignet waren. Das ist ein dramatisch
schlechtes Zeugnis für das, was vorher in der Schule geschehen ist.
Wer genau darauf schaut, wie es um Bildungs- und
Schulpolitik bestellt ist, erkennt: Die schlechtesten Ergebnisse - das zeigt PISA, das zeigt IGLU und das zeigt
TIMSS - sind in den sozialdemokratisch regierten Ländern.
({10})
Sie sind mit dem Ziel angetreten, Chancengleichheit
herzustellen. Das ist Ihnen nicht gelungen. Sie haben in
Nordrhein-Westfalen das große Experiment Gesamtschule durchgeführt. Sie sind mit dieser Schule kläglich
gescheitert.
({11})
PISA zeigt uns: Nirgendwo sind die Bildungschancen so
stark vom sozialen Hintergrund abhängig wie in Nordrhein-Westfalen
({12})
und in keinem Bundesland sind die Leistungsunterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund so groß wie in Nordrhein-Westfalen.
({13})
Ein Viertel der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler
dort kann nicht ordentlich lesen, schreiben und rechnen
und mehr als jeder zehnte Hauptschüler in NordrheinWestfalen verlässt die Schule ohne Abschluss.
({14})
Das entspricht 244 kompletten Hauptschulklassen, die
ohne Abschluss ins Leben gehen.
Angesichts dieser Situation und des Ausfalls von
5 Millionen Unterrichtsstunden streicht Nordrhein-Westfalen jetzt Lehrerstellen an Gymnasien, Hauptschulen,
Realschulen, Gesamtschulen und Sonderschulen.
({15})
Das ist die Realität und nicht die schöne neue Welt, die
Sie hier zeichnen.
({16})
Und wie wollen Sie diese Probleme lösen? Ich habe
es hier von Frau Bulmahn gehört, als es um PISA ging.
Wir haben die Auseinandersetzungen in Schleswig-Holstein und auf dem Berliner SPD-Parteitag vor wenigen
Tagen erlebt und wir erleben es in Nordrhein-Westfalen.
Gegen den Rat aller Experten wollen Sie die Einheitsschule durchsetzen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen:
Lassen Sie ab von diesem Irrweg. Er führt Schüler in die
denkbar schwierigste und schlechteste Ausgangssituation.
({17})
- Ich freue mich über Ihren Zuruf und möchte mit einer
Aussage von Professor Baumert, Chef des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung und einer der großen Bildungsexperten in unserem Land, darauf eingehen. Er
bringt es auf den Punkt, indem er ganz deutlich sagt: Es
geht nicht darum, die Schulstruktur umzustülpen, sondern vorhandene Schulsysteme intelligent zu nutzen.
({18})
An dieser Stelle scheitern Sie. Wir müssen die Hauptschule stärken.
({19})
Wir müssen Praxis in die Schule bringen. Wir brauchen
die Verknüpfung von betrieblicher und schulischer
Wirklichkeit. Wir können nicht schulmüde Schüler immer länger auf der Schulbank halten, sondern wir müssen ihnen die Chance geben, sich in der betrieblichen
Praxis zu bewähren. Hierfür gibt es Beispiele: in Hessen
die SchuB-Klasse, in Bayern und Baden-Württemberg
die Praxisklassen. Diesen Beispielen muss man folgen.
({20})
Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ganztagsschulen
und zu frühkindlicher Bildung und Erziehung sagen. Wir
unterstützen die Einführung von Ganztagsschulen in unserem Land. Diese Entwicklung muss gestärkt werden.
Aber es darf kein Milliardenbluff sein, wie wir es im
„Spiegel“ nachlesen können. Die Anwürfe gegenüber
den CDU-regierten Ländern sind völlig falsch, wenn in
Nordrhein-Westfalen von den bereitgestellten 297 Millionen Euro gerade einmal 23 Prozent abgerufen werden.
Die Fehler sind in Ihrem eigenen Bundesland zu suchen,
Herr Müntefering, und nicht bei der Union.
({21})
Sie sind auch dort zu suchen, wo es um die Qualität von
Ganztagsschulen geht. Es ist nicht allein mit der Bereitstellung von Mittagessen, mit Hausaufgabenbetreuung
und mit Betreuungsangeboten am Nachmittag wie Sport
oder Theaterspiel getan.
({22})
Wer Ganztagsschulen in unserem Land will, der muss
dafür sorgen, dass dort, wo Schule drauf steht, auch
Schule drin ist. Das heißt: Wir brauchen Bildung in den
Ganztagsschulen. Dafür werden sich die CDU- und
CSU-regierten Länder einsetzen. Dafür ist es an der Zeit.
({23})
Dasselbe gilt im Bereich der frühkindlichen Bildung
und Erziehung. Wir haben das Tagesbetreuungsausbaugesetz mitgetragen.
({24})
Wir haben an dieser Stelle aber auch deutlich gemacht:
Der Ausbau der Kinderbetreuung in unserem Land darf
finanziell nicht auf tönernen Füßen stehen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Kressl?
Ich gestatte natürlich gern der Frau Kollegin Kressl
eine Zwischenfrage, weil es immer spannend ist, mit ihr
zu diskutieren.
Sehr geehrte Frau Kollegin Böhmer, das nette Kompliment wird mich nicht daran hindern, Sie zu fragen,
nachdem Sie gerade behauptet haben, CDU-regierte
Länder würden ihre Ganztagsschulen mit pädagogischem Personal ausstatten, warum beispielsweise die
Kultusministerien weder in Niedersachsen noch in Baden-Württemberg
({0})
bereit sind, die von uns geförderten Ganztagsschulen
auch nur mit etwas mehr pädagogischem Personal auszustatten.
({1})
In Baden-Württemberg wird sogar argumentiert, eine zusätzliche pädagogische Ausstattung sei nur für Schulen
in sozialen Brennpunkten nötig. Das bedeutet eine Stigmatisierung von Ganztagsschulen. Ich finde, Sie sollten
wirklich aufpassen, wie Sie argumentieren.
({2})
Frau Kollegin Kressl, wir streiten hier nicht um die
Tatsache, dass man pädagogische Konzepte braucht, dass
man qualifizierte und motivierte Lehrkräfte im Ganztagsschulbereich braucht, dass es eine Umstellung hin zu
wirklichen Ganztagsschulkonzepten geben muss, sondern wir streiten darüber, was in den Ländern passiert.
({0})
Dazu sage ich Ihnen als jemand, der aus dem Land
Rheinland-Pfalz kommt, das ja sozusagen für die SPD
die Vorreiterfunktion im Bereich der Ganztagsschulen
übernommen hat, ganz deutlich:
({1})
Dort werden Vereine gebeten, die Nachmittagsbetreuung
zu übernehmen. Dabei handelt es sich nicht um pädagogisch qualifizierte Kräfte.
({2})
Es handelt sich um Landfrauen - die ich sehr schätze -,
die Kochkurse machen,
({3})
und Übungsleiter von Sportvereinen, die normalerweise
Kurse für Erwachsene geben.
({4})
Nach den Besuchen, die ich in jüngster Zeit in Schulen
gemacht habe, muss ich Ihnen sagen: Mittlerweile erklären mir die Schulleiterinnen und Schulleiter, dass sie
endlich auf pädagogische Kräfte zurückgreifen wollen.
Deshalb ist es notwendig, dass Sie vor Ihrer eigenen
Haustür kehren und dort für Ordnung sorgen. Wir sorgen
in den CDU-regierten Ländern dafür. Die von uns dort
betriebene Schulpolitik ist ja auch von PISA, IGLU und
TIMSS mit den besten Noten bewertet worden.
({5})
Ich möchte noch ein Wort zum Ausbau der frühkindlichen Bildung und Erziehung sagen. Wir brauchen
Bildung von Anfang an. Da die Finanzen nicht stimmen
- die versprochenen 1,5 Milliarden Euro sind bei den
Kommunen nicht angekommen -, stehen die Kommunen mit dem Rücken zur Wand. Wir halten es aber für
richtig, dass alle Anstrengungen unternommen werden,
um Kinder früh, das heißt von Anfang an zu fördern.
Was tut sich an dieser Stelle? Das Saarland ist beispielhaft vorangegangen, indem das dritte Kindergartenjahr
beitragsfrei gestellt worden ist. Im Unterschied dazu
müssen die Eltern im SPD-geführten Berlin bis zu
500 Euro für einen Ganztagsplatz zur Kinderbetreuung
zahlen. Das führt zu Abmeldungen; das ist kontraproduktiv. Folgen Sie unserem Weg! Setzen Sie sich dafür
ein, den Bereich des Kindergartens beitragsfrei zu stellen. Das gibt bessere Chancen im Bildungsbereich. Das
schafft Möglichkeiten für Integration. Das führt dazu,
dass Kinder von Anfang an eine gute Förderung erfahren
können.
({6})
Zum Abschluss möchte ich an dieser Stelle noch ein
Wort zu dem sagen, was Sie uns in den letzten Tagen
böswilligerweise immer wieder unterstellt haben, nämlich dass wir das BAföG abschaffen wollten.
({7})
Ich sage Ihnen an dieser Stelle noch einmal in aller Deutlichkeit:
({8})
Wir wollen BAföG nicht abschaffen. Sie nehmen hier
eine böswillige Unterstellung vor, um von Ihren eigenen
Fehlern im Bildungsbereich und beim BAföG abzulenken.
({9})
Die Wahrheit ist: Seit 2001 sind die Bedarfssätze und die
Freibeträge nicht mehr angehoben worden. Das ist die
Wahrheit in Bezug auf die Förderung von Studierenden
in unserem Land.
({10})
Deshalb sage ich: Es muss Schluss sein mit Schönfärberei. Es muss Schluss sein mit dem Verweigern von
Analysen. Wir müssen uns die Fakten vor Augen führen
und eindeutig handeln, damit Jugendliche in unserem
Land eine Perspektive erhalten. Dafür brauchen wir einen Perspektivwechsel in der Politik. Der Anfang wird
in Nordrhein-Westfalen gemacht. Dort werden die Bürgerinnen und Bürger die Weichen neu stellen. Wir werden für die Jugendlichen kämpfen. Uns wird das gelingen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Schwarz-Weiß-Bilder, die Sie, liebe Opposition,
({0})
heute hier in der Debatte aufzeigen wollen, sind zwar
einfach, aber sie helfen uns, gerade den Jugendlichen in
unserem Land, in dieser Situation absolut nicht weiter.
Konstruktive Lösungsansätze habe ich von Ihnen heute
in der Debatte nicht gehört.
({1})
Aber es ist doch klar: Viele Rädchen, große und
kleine, müssen in Deutschland, im Bund, in den Ländern
und Kommunen, gedreht werden, damit wir unser Bildungs- und Ausbildungssystem an die Herausforderungen anpassen können. Wir sind uns hier hoffentlich alle
darin einig, dass Bildungschancen Lebenschancen sind.
Wir alle sind aufgefordert, gerade den Jugendlichen in
diesem Land diese so notwendigen Lebenschancen mit
auf den Weg zu geben. Jeder Mensch braucht, gerade in
der Wissensgesellschaft, eine gute Erstausbildung und
muss sein ganzes Leben lang ständig weiterlernen, um
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Die vier Anträge, die wir heute hier gleichzeitig beraten, befassen sich mit den Rahmenbedingungen für ein
Lernen in allen Lebensphasen. Ich will mich auf ein paar
Kernpunkte beschränken. In dem Antrag der Koalition
wird sehr deutlich, dass wir erhebliche Ressourcen für
Jugendliche bereitstellen und die Rahmenbedingungen
stark zugunsten der Wirtschaft verändert haben, um das
Ausbilden attraktiver zu machen. Trotzdem haben wir in
diesem Jahr wieder weniger Ausbildungsplätze als Ausbildungswillige. Wenn hier immer wieder mit mangelnder Ausbildungsreife argumentiert wird, ist das meiner
Meinung nach sehr fadenscheinig.
({2})
In Sachsen zum Beispiel sind letztes Jahr 2 600 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz geblieben. Für ganze
85 Lehrstellen konnte kein geeigneter Bewerber gefunden werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein riesiges
Problem, dass die Jugendlichen trotz des Ausbildungspaktes und trotz des absehbaren Fachkräftemangels so
im Stich gelassen werden. Natürlich ist es verheerend,
wenn fast ein Viertel aller Schulabsolventen das Lesen,
Schreiben und Rechnen nicht beherrscht. Hier sind neben weiteren Reformvorhaben der Länder in Sachen Bildungspolitik auch Initiativen der Wirtschaft gefragt, die
sich damit befassen, wie die Jugendlichen zu Fachkräften ausgebildet werden können. In fünf bis sechs Jahren
werden wir diese Fachkräfte dringend benötigen.
Darüber hinaus ist es auch aus Sicht der Wirtschaft
wichtig, dass alle Menschen Impulse und Möglichkeiten
bekommen, ständig weiterzulernen. Der Weiterbildungsantrag der Union liest sich da gar nicht so
schlecht; dort ist die Rede von Bildungssparen und Weiterbildungs-BAföG. Wenn Sie das ernst meinen würden,
könnten wir in diesen Punkten sehr schnell einig werden.
Aber Sie verweigern sich gleichzeitig total, wenn es um
eine vernünftige Bildungsfinanzierung geht. Ich nenne
nur das Stichwort Eigenheimzulage. Außerdem wollen
Sie das BAföG eigentlich abschaffen. Glauben Sie im
Ernst, Sie könnten dann ein Erwachsenen-BAföG einführen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema Hochschulfinanzierung wird heute Nachmittag in der
BAföG-Debatte noch einiges gesagt werden; deshalb
werde ich auf diesen Punkt jetzt nicht weiter eingehen.
Aber wenn, wie der Bundespräsident sagt, „Vorfahrt für
Arbeit“ gilt, dann müssen wir in diesem Sinne die entsprechenden Grundlagen schaffen. Die Grundlage für
die Teilhabe am Arbeitsmarkt sind gerechte Bildungschancen. Es ist aber - das möchte ich abschließend
noch einmal betonen - nicht allein die Politik, die für
diese Chancen verantwortlich ist. Verantwortlich sind
auch die Unternehmen, die sich mehr für die Zukunft der
Jugendlichen einsetzen sollten,
({3})
statt immer nur das finanzielle Wohl ihrer Aktionäre im
Auge zu haben.
({4})
Das ist meiner Ansicht nach verdammt kurzsichtig und
das sollten wir ihnen nicht durchgehen lassen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Der Genosse
Müntefering geißelte gestern in einer Rede die „Macht
des Kapitals“ und die „totale Ökonomisierung“. Das war
eine wahrhaft revolutionäre Rede. Ich selbst fühlte mich
von ihm dreimal links überholt.
({0})
Die Rede, Kollege Müntefering, klang radikal und klang
vor allem nach Wahlkampf.
Nun ist die Bundesregierung zwar nicht allmächtig,
aber es liegt doch in ihrer Macht, etwas gegen die Macht
des Kapitals und gegen die totale Ökonomisierung zu
tun.
Ich kann mich noch gut an den Wahlkampf in Niedersachsen erinnern. Der Spitzenkandidat der SPD forderte
damals die Wiedereinführung der Vermögensteuer zur
Finanzierung der Bildung. Der Kanzler lehnte ab. Seitdem habe ich aus SPD-Kreisen nichts mehr von der Vermögensteuer gehört und auch von den Grünen ist - trotz
Parteitagsbeschluss zur Wiedereinführung der Vermögensteuer - gar nichts mehr zu hören.
Wir als PDS fordern die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Erhöhung der Erbschaftsteuer zur
Finanzierung der Bildung. Ein Zehntel der Haushalte in
unserem Land besitzt fast die Hälfte des gesamten Vermögens. Ich bin mir sicher, dass diese Haushalte
schmerzfrei einen Beitrag für die Zukunft der Jugend
leisten können und vielleicht sogar wollen.
({1})
Doch sie werden von der Bundesregierung nicht behelligt.
Wir als PDS wollen den breiten Zugang zur Bildung
für alle Jugendlichen herstellen und sichern. Leider liegen die Studienchancen der Kinder aus Facharbeiterfamilien um das Vierzehnfache niedriger als die der Kinder von Selbstständigen. Wir als PDS wollen diese
massive Ausgrenzung beenden.
Im Übrigen, meine Damen und Herren von der CSU,
ist die Selektion nach Einkommensschichten laut einer
OECD-Studie am stärksten in Bayern. Da Sie es sich sozusagen zum Hobby gemacht haben, landespolitische
Themen im Bundestag zu behandeln, wäre es vielleicht
auch einmal ein Thema für eine Aktuelle Stunde, warum
denn in Bayern so früh aussortiert wird.
({2})
Die Kollegin Böhmer hat die SPD-Parteitagsbeschlüsse zur Einheitsschule angesprochen. Da sich die
SPD gestern weggeduckt hat und sich nicht zu den Beschlüssen der Berliner SPD verhalten hat, darf ich Ihnen
vielleicht einmal ganz kurz erklären, warum in der Berliner Landespolitik der rot-rote Senat sich für ein längeres
gemeinsames Lernen ausgesprochen hat. Wissenschaftliche Untersuchungen, die es in vielen Ländern gibt, haben bewiesen, dass die Chancen in Bezug auf die spätere
Ausbildung erhöht werden, wenn Kinder lange gemeinsam lernen. Viele Bildungspolitiker pilgern jetzt nach
Finnland und schauen sich die Situation vor Ort an. Es
gibt auch noch andere Möglichkeiten. Ich denke, der
Praxistest ist überzeugend ausgefallen und zeigt, dass
eine frühe Selektion nicht sinnvoll ist. In Bayern ist, wie
gesagt, diese Selektion besonders stark ausgeprägt.
({3})
Die Einführung von Studiengebühren und die Abschaffung des BAföG, wie von CDU und CSU gefordert,
sind ein Irrweg. Sie führen zu einer weiteren Ausgrenzung der Jugendlichen. CDU und CSU schreiben in ihrem Antrag, Drucksache 15/4931, dass „Selbstverständlich … Studienbeiträge sozial verträglich ausgestaltet
sein müssen“.
Studiengebühren sind aber nicht sozial verträglich. Es
gibt keine sozial verträglichen Studiengebühren. Wer
selber davon nicht überzeugt ist, kann sich beispielsweise eine wissenschaftliche Ausarbeitung aus diesem
Hause anschauen. Der Wissenschaftliche Parlamentsdienst hat in einer vergleichenden Studie festgestellt:
In keinem der untersuchten Staaten konnte schlüssig die Sozialverträglichkeit von Studiengebühren
dargelegt werden. … Auch das immer wieder vorgebrachte Argument, wonach Studiengebühren zu
einem zügigeren Studienverlauf führen, konnte
nicht belegt werden.
In den USA - sie werden von CDU und CSU gerne
als Beispiel herangezogen - sind in den letzten zehn Jahren die Kosten staatlicher Colleges um fast 80 Prozent,
die Einkommen aber nur um 38 Prozent gestiegen. Das
motiviert nicht gerade zur Übernahme des amerikanischen Modells.
Wir als PDS beklagen nicht wie der Genosse
Müntefering die Macht des Kapitals, sondern wir haben
konkrete Finanzierungsvorschläge, die nur mutig umgesetzt werden müssen. Diesen Mut, Kollege Müntefering,
muss die von Ihnen unterstützte Regierung aufbringen,
wenn sie der Jugend eine Zukunft geben will.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit unserem heutigen Antrag zeigen wir die Zukunftsperspektiven der Jugend auf. Es geht in der Tat um
die Frage: Wie schaffen wir es gemeinsam, jungen Menschen genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur
Verfügung zu stellen? Ich möchte ergänzen, dass es bei
dieser Debatte auch darum geht, die Zukunftschancen
der Unternehmen im Blick zu haben. Denn nicht ausgebildete Menschen bedeuten gleichzeitig Facharbeitermangel in der Zukunft.
Die negative demographische Entwicklung wird oft
beschworen, aber ihre beschäftigungspolitischen Konsequenzen werden unterschätzt. Es droht ein Fachkräftemangel in der Industrie, im Handwerk und im Dienstleistungsbereich, wenn es nicht gelingt, allen Jugendlichen
eine Ausbildung zukommen zu lassen. Das ist eine der
größten Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Der gemeinsame Ausbildungspakt der Bundesregierung und der Wirtschaft, die sich verpflichtet hat, allen Ausbildungswilligen und Ausbildungsfähigen einen
Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, ist dabei ein
richtiger und wichtiger Ansatz.
({0})
Die positive Bilanz, die wir bisher zu verzeichnen haben, müssen wir auch in diesem Jahr erreichen, damit die
Jugendlichen eine Ausbildungsperspektive haben. Nur
so kann die Wirtschaft ihren Kräftenachwuchs sichern
und nur so ist gewährleistet, dass eine Produktion mit einer hohen Produktivität und Qualität ermöglicht wird.
Deshalb appelliere ich an die Wirtschaft, alles zu tun, damit die ausbildungsbereiten Jugendlichen auch in diesem
Jahr nicht in unnötige Warteschleifen geschickt werden,
sondern die Ausbildung erhalten, die sie auch brauchen.
Wir erwarten, dass die Arbeitgeber ihre Verpflichtung
aus dem Ausbildungspakt ohne Wenn und Aber erfüllen,
und gleichzeitig setzen wir darauf, dass vermehrt Tarifverträge zur Schaffung von Ausbildungsplätzen abgeschlossen werden.
({1})
Auch das ist ein Hebel, um mehr Ausbildung zu erreichen.
Wer heute die Bildungspotenziale der Jugend verspielt, versündigt sich nicht nur an dieser Generation,
sondern gleichzeitig auch am gesamten Wirtschaftsstandort. Es geht also um die Wahrnehmung von Verantwortung und dabei vor allem um Verantwortung im Bereich der Wirtschaft. Wir haben die Rahmenbedingungen
dafür gesetzt. Das Berufsbildungsgesetz wurde modernisiert und zum ersten Mal sind die Berufsausbildungsgänge auch international anerkannt. Das ist ein wichtiger
Schritt in Richtung Europa.
({2})
Mit unserem Gesetz zur Förderung der Ausbildung
und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen - man
Karin Roth ({3})
muss betonen: es geht um behinderte Jugendliche - haben wir es geschafft, betriebliche und überbetriebliche
Ausbildung besser zu verzahnen. Jetzt sind die Unternehmen an der Reihe, diese Jugendlichen auch einzustellen, damit diesen benachteiligten Jugendlichen eine Zukunftschance gewährt wird.
({4})
Zum ersten Mal haben wir als Regierung die
Verpflichtung übernommen, in einem Gesetz einen
Rechtsanspruch für Jugendliche unter 25 Jahren auf
Vermittlung in Ausbildung, Arbeit und Beschäftigung
festzuschreiben. Vorher hat das noch keine Bundesregierung getan. Wir haben das wohl wissend, dass das eine
wichtige Zukunftsaufgabe ist, getan.
({5})
Bei den arbeitslosen Jugendlichen setzen wir ganz besonders auf die Förderung von benachteiligten Jugendlichen. Deshalb, Herr Laumann, verstehe ich gerade
nicht, dass Sie die benachteiligten Jugendlichen nicht
fördern wollen, sondern die Finanzierungsfrage in den
Mittelpunkt stellen. Sie wissen ganz genau: Im Rahmen
von SGB II werden die Jugendlichen aus Steuermitteln
und nicht aus Beitragsmitteln finanziert. So viel Ehrlichkeit muss sein.
({6})
Es ist auch richtig, dass die Berufsvorbereitungsmaßnahmen zum Teil aus dem SGB III finanziert werden.
({7})
Aber die jugendlichen Empfänger von Arbeitslosengeld II erhalten Eingliederungsmaßnahmen aus Steuermitteln. Dafür haben wir gesorgt und nicht Sie.
({8})
In diesem Zusammenhang geht es auch um die Vermittlung von Sprachkompetenz. Auch das haben wir gemacht: In unseren Maßnahmen ist die Vermittlung von
deutscher Sprachkompetenz vorgesehen. Natürlich haben Sie Recht, dass es besser wäre, wenn die Länder in
diesem Bereich ihre schul- und bildungspolitischen Aufgaben wahrnehmen würden.
({9})
Aber genauso richtig ist, dass wir, wenn es den Ländern
nicht gelungen ist, das zu machen, diese Aufgaben übernehmen. Wir können doch nicht die Jugendlichen im
Stich lassen, nur weil die Bildungspolitik versagt hat.
({10})
- Natürlich die Länder. Ich denke hier beispielsweise an
Baden-Württemberg, das Land, aus dem ich komme.
({11})
Es geht darum, Eingliederungsmaßnahmen für Jugendliche zu organisieren, und darum, dass die Träger
der Jugendhilfe und der Wirtschaft jetzt gemeinsam vor
Ort regionale Ausbildungs- und Beschäftigungsinitiativen starten. Sie sollten uns dabei vor allen Dingen in
den Regionen unterstützen. Sie sollten nicht blockieren
und mäkeln, sondern die Unternehmen gemeinsam mit
uns auffordern, die Jugendlichen zu integrieren.
Ein letzter Punkt, der wichtig ist.
Nein, Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit leider
schon überschritten. Bitte nur noch einen Schlusssatz!
Schade, ich hätte so gerne noch gesagt,
({0})
dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein
wichtiger Punkt ist und dass deshalb Jugendliche, insbesondere junge Frauen, vorrangig
Frau Kollegin!
- Tagesplätze zur Betreuung ihrer Kinder erhalten
sollten.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Scheuer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Wichtigkeit dieser Jugenddebatte sieht man an der Präsenz der
Regierungsmitglieder: Nicht einmal die zuständige Ministerin, die Jugendministerin, ist anwesend; sie hat sich
während dieser Debatte fortgeschleppt. Das ist wirklich
traurig, traurig, traurig.
({0})
Man kann nur drei Vermutungsvarianten anstellen,
weshalb die Koalition ihren Antrag in dieser Form in
den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Entweder haben erstens die Fachpolitiker von Rot-Grün über Ostern
ihr Büro entrümpelt und noch schnell einen Antrag geschrieben. Oder die Jugenddebatte, angestoßen durch die
CDU/CSU-Fraktion am 11. März 2005, hat Rot-Grün
zweitens so wachgerüttelt, dass man sagte: Mein Gott,
wir müssen vor der Landtagswahl in NRW auf diesem
Gebiet noch etwas machen. Oder die Panik vor der
Landtagswahl in NRW ist bei Ihnen drittens so groß,
dass Sie sich an jeden Strohhalm klammern. Aber die Jugend in Deutschland bzw. in NRW wird die Zukunft
wählen und Sie damit abwählen.
({1})
Sie belügen sich doch selbst mit Ihren vielen Allgemeinplätzen und Ihrem Schönreden in Ihrem Antrag.
Betrachtet man die Ausführungen, so stellt man fest,
dass alles schön ist und in perfekten Bahnen läuft. Tenor
dieses Antrages ist: Es sind im Bildungsbereich umfassende und weit reichende Reformen erfolgt. Voraussetzungen für mehr Wachstum sind geschaffen worden. Der
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für junge Menschen unter 25 Jahren floriert. Die Ganztagsschulen werden bis
2007 in neuem Glanz erstrahlen.
({2})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, von welchem
Land reden Sie eigentlich in Ihrem Antrag?
({3})
Das ist wirklich peinlich.
Wenn man dann noch auf der Homepage der SPD die
Programmdebatte verfolgt,
({4})
dann stellt man fest: Sie haben sich ein stolzes Programm vorgenommen. Es ist nur bitter, dass in all den
Sitzungen, die in diesem Zusammenhang durchgeführt
wurden - es sind insgesamt sechs, wenn ich es richtig
sehe -, kein einziges Mal der Punkt „Jugend“ vorkam.
Das spricht Bände.
({5})
Ein aufmerksamer Leser wird den Text weiter analysieren. Ich nehme gerne einen Zuruf meiner grünen Kollegin Dümpe-Krüger aus der letzten Debatte zu diesem
Thema auf, die gesagt hat: Lesen bildet! Auf Ihren Antrag trifft das leider nicht zu. Dort wird ausgeführt, „dass
die Bundesregierung … mit der Agenda 2010 einen
Schwerpunkt auf Bildung und Innovation gelegt und seit
1998 die Bildungspolitik im Rahmen ihrer Zuständigkeit
als eine zentrale Aufgabe wahrgenommen … hat …“
Meine Damen und Herren, damit rechnet eigentlich
jeder Bürger und jede Bürgerin. Das ist Regierungsverantwortung. Das muss eine Selbstverständlichkeit sein
und sollte kein Allgemeinplatz sein, wie es in Ihrem Antrag der Fall ist.
Entscheidend ist, dass wir gemeinsam um die besseren Konzepte streiten. Aber wo sind die umfassenden
Reformen? Wo ist die Diskussion zur Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen durch strukturelle Ansätze? Sie
lassen wegen der Bildung sogar die Föderalismuskommission scheitern.
({6})
Dieses maßgebliche staatspolitische Reformprojekt ist
doch an der Bundesbildungsministerin, SPD, und dem
Noch-Ministerpräsidenten in NRW, Peer Steinbrück,
auch SPD, gescheitert,
({7})
weil Sie das Bildungsthema für 2006 brauchen, um
Wahlkampf zu machen. Damit missbrauchen Sie die Anliegen der jungen Generation.
({8})
Die bahnbrechenden Errungenschaften der Agenda 2010
verkommen zunehmend zu einer Werbekampagne. Ich
habe hier eine Anzeige aus einer deutschen Tageszeitung
in einer Kopie. Im Original ist die Anzeige vierfarbig.
Diese Anzeige zur Agenda 2010 kostet montags bis freitags ganzseitig und farbig jeweils 60 610 Euro. In der
Samstagsausgabe kostet sie 8 000 Euro mehr. Die Bürgerinnen und Bürger, die diese Debatte verfolgen, können sich vorstellen, was Sie mit den Steuergeldern
machen. Mit 60 000 Euro, multipliziert auf viele Tageszeitungen, könnte man zahlreiche Ausbildungsmaßnahmen durchführen.
({9})
Der „Spiegel“ ist in dieser Debatte schon des Öfteren
mit dem Milliardenbluff angeführt worden. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Müntefering, wird mit den
Worten zitiert, dass die Ganztagsschulen eine wirkliche
Großtat sind. Aber, meine Damen und Herren, Sie geben
sich schon mit kleinen Dingen zufrieden. Wenn man die
Trauermiene des zuständigen Wirtschaftsministers
Clement bei der Bekanntgabe der Arbeitslosenstatistiken
richtig deutet, dann hat er das berauschende Tremolo,
das sich auch in Ihrem Antrag findet und in dem das in
vielen Punkten ausgemalt wird, anscheinend noch nicht
so richtig mitbekommen. Vielleicht müsste man ihm
Aufklärung geben.
Der Fraktionsvorsitzende Müntefering hat ja den Saal
leider schon verlassen.
({10})
Er wirbt ja immer mit dem Satz: Wir machen Tempo. Aber bei Ihnen ist die Frage: Wohin? Auf der einen Seite
sprechen Sie von Entbürokratisierung; auf der anderen
Seite macht man ein Antilehrstellen-, ein Antiausbildungsplatz-, ein Antijugendgesetz. Denn nichts anderes
ist doch das Antidiskriminierungsgesetz. Es ist eben
scheinheilig, wenn Sie dann von Entbürokratisierung reden.
({11})
Deutschland muss sich bewegen, damit die Jugendlichen in unserem Land wieder eine gute Zukunft haben.
Bewegen muss sich Deutschland auf einem klaren Kurs;
den haben Sie nicht, den haben wir. Das spüren die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land und sie werden
Sie abwählen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Berg.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich verkneife es mir jetzt, auf die Polemik-pur-Rede
meines Vorredners einzugehen. Das lohnt sich einfach
nicht.
({0})
Ich konzentriere mich bei der heutigen Debatte über
die Zukunftschancen für Jugendliche abschließend besonders auf die Gruppe der jungen Menschen, die ein
Studium aufnehmen wollen. Da muss ich schon sagen:
Bei Ihren Anträgen zur Hochschulpolitik, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, beschleicht mich manchmal das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Ich dachte eigentlich immer,
das gibt es nur beim Raumschiff „Enterprise“, aber Sie
haben mich eines Besseren belehrt. Sie spulen hier mit
großer Verlässlichkeit immer wieder dasselbe Programm
ab: Erst klopfen Sie dem Bund auf die Finger, wenn er
die Hochschulen unterstützen will, und dann fordern Sie
vom Bund ebendiese Unterstützung ein.
Auch Ihrem heutigen Antrag zur Studienfinanzierung liegt diese Logik wieder zugrunde: Sie schreiben
richtig, dass laut Bundesverfassungsgericht die Länder
für Studiengebühren zuständig sind. Im nächsten Absatz
legen Sie der Bundesregierung eine „to do“-Liste zur
Umsetzung von Studiengebühren vor. Dabei behaupten
Sie: Wenn es Studiengebühren gäbe, bekämen die Hochschulen mehr Geld. Genau das ist aber äußerst fraglich.
Wer garantiert denn, dass das Geld aus Studiengebühren
wirklich bei den Hochschulen ankommt?
Einnahmen aus Studiengebühren dürfen nicht an einen bestimmten Zweck gebunden werden; das ist juristisch nicht möglich, wie der Tübinger Rechtsprofessor
Kirchhof gerade letzte Woche noch einmal betont hat,
derselbe Herr Kirchhof im Übrigen, der den Vorsitzenden Ihres Fanclubs für Studiengebühren, den Minister
Frankenberg aus Baden-Württemberg, berät. Wer garantiert denn, dass die Finanzminister der CDU/CSU-regierten Länder die Millionen, die sie den Studierenden
aus der Tasche ziehen, nicht peu à peu bei ihren Hochschulausgaben kürzen? Die Erfahrungen in Österreich,
Australien oder Großbritannien haben gezeigt, dass das,
was durch Studiengebühren hineinkommt, mittelfristig
bei den staatlichen Ausgaben zurückgefahren wird. Damit kommen die Unis dann letztlich auf plus/minus null
und die Studierenden müssen das teuer bezahlen.
Das scheint Sie aber nicht abzuschrecken, meine Damen und Herren von der Opposition. Sie wollen trotzdem Studiengebühren einführen, und das auch noch sozialverträglich, wie Sie sagen. Bis heute hat aber keiner
von Ihnen ein durchdachtes Konzept vorgelegt, wie das
wirklich sozialverträglich funktionieren kann.
({1})
Das Einzige, was Ihnen mal wieder einfällt, ist, am
Rockzipfel des Bundes zu zupfen. Der Bund soll für Sie
das Konzept eines Kreditsystems entwerfen und die
Ausfallbürgschaften für das Geld, das nicht zurückgezahlt wird, übernehmen. Aber damit beißen Sie bei uns
auf Granit. Denn auf diesem Wege würde viel Geld dafür
ausgegeben, Studierwillige aus finanzschwachen Elternhäusern mehr und mehr vom Studium abzuhalten.
Aber was kümmert das die Union? Wie wir letzte
Woche gehört haben, will Frau Schavan auch noch das
BAföG abschaffen.
({2})
Unter Sozialverträglichkeit verstehe ich etwas anderes.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schaaf?
Gern.
Sehr geehrte Frau Kollegin Berg, ich unterbreche Ihre
gute Rede ausdrücklich ungern. Da Sie aber aus Nordrhein-Westfalen kommen, möchte ich Ihnen gern zwei
Fragen stellen. Erstens. Kollege Laumann hat wortgewaltig, pathetisch und mit einer Miene, die einen zum
Weinen bringt, verkündet, dass in Nordrhein-Westfalen
pro Jahr 5 Millionen Unterrichtsstunden ausfallen. Würden Sie dem Kollegen Laumann, der das offensichtlich
nicht weiß, bitte erklären, wie viel Prozent des insgesamt
erteilten Unterrichtes das entspricht, und das mit anderen
Bundesländern vergleichen?
Zweitens. Kollegin Flach hat gesagt, dass die für das
Ganztagsschulprogramm in Nordrhein-Westfalen bereitgestellten Gelder nur in geringem Umfang abgerufen
werden. Könnten Sie mir vielleicht bestätigen, dass insbesondere sozialdemokratisch geführte Kommunen
diese Gelder sehr wohl in großem Umfang abrufen, dass
aber CDU-geführte Kommunen dies - offensichtlich aus
ideologischen Gründen - nicht tun?
({0})
Wie Sie sich denken können, freue ich mich über
diese Zwischenfragen des Kollegen Schaaf,
({0})
weil er mir damit die Möglichkeit gibt, auf die von Herrn
Laumann genannten Wahrheiten, Halbwahrheiten und
Unwahrheiten einzugehen und das, was Frau Kollegin
Flach gesagt hat, geradezurücken.
({1})
Sie von der CDU plakatieren in Nordrhein-Westfalen
ganz groß, dass pro Jahr 5 Millionen Unterrichtsstunden ausfallen. Was Sie aber nicht sagen - das ist wirklich verdammt unredlich -, ist, dass diese Zahl 5 Prozent
der Stunden, die insgesamt erteilt werden, entspricht.
Damit liegt Nordrhein-Westfalen genau im Schnitt aller
Bundesländer. Insofern wird hier wieder einmal ein
Popanz aufgebaut, der wunderbar in das Konzept der
CDU passt.
({2})
Nun zu dem, was Frau Flach erzählt hat. Frau Flach,
es tut mir Leid, dass auch Sie zu einer Verzerrung beigetragen haben; denn das Ganztagsschulprogramm wird
in Nordrhein-Westfalen besonders gut angenommen.
Das haben Sie nicht gesagt. In den Jahren 2003 und 2004
beteiligten sich bereits 785 Schulen an diesem Programm. Damit liegt das Bundesland Nordrhein-Westfalen an der Spitze. Das ist doch schon einmal etwas.
({3})
- Doch.
Jetzt möchte ich meine Rede fortsetzen. Ich komme
noch einmal auf das Problem der Sozialverträglichkeit
zu sprechen und möchte untermalen, was wir damit verbinden. Wir müssen Bildungshunger fördern und den
jungen Menschen Zukunftsperspektiven eröffnen. Aber
wir dürfen nicht, wie ich bereits ausgeführt habe, durch
Studiengebühren neue Hindernisse aufbauen.
Das BAföG gehört zu einer Reihe von Instrumenten
und Maßnahmen, die eingeführt wurden, um die Beteiligung an Bildung für alle zu erhöhen. Dazu gehören eine
intensivere Betreuung und Förderung von Kindern bereits im Vorschulbereich, eine stärkere individuelle
Förderung von Schülerinnen und Schülern in Ganztagsschulen - das hatte ich bereits ausgeführt -, eine Modernisierung der Berufsausbildung, eine Erweiterung des
Ausbildungsplatzangebotes durch den Pakt für Ausbildung und eine intensivere Unterstützung benachteiligter
und arbeitsloser Jugendlicher.
Frau Böhmer, da Sie Herrn Professor Baumert zitiert
haben, möchte auch ich eine Aussage von ihm anführen.
Er sagt, dass Arbeiterkinder in keinem anderen Bundesland so schlechte Bildungschancen wie in Bayern haben;
({4})
auch das müssten Sie einmal sagen. Dort haben sie
sechsmal schlechtere Chancen, das Abitur zu schaffen,
als Kinder aus Akademikerfamilien.
({5})
Wie ich gerade sehe, blinkt die Leuchte am Rednerpult, sodass ich zum Schluss kommen muss.
Abschließend appelliere ich an Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition: Unterstützen Sie uns dabei,
allen jungen Menschen in diesem Land unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft eine realistische Chance auf eine
qualifizierte Ausbildung und Arbeit und damit auf eine
selbstbestimmte Teilhabe an unserer Gesellschaft zu geben!
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Laumann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Kollegin Berg, zunächst einmal bin ich Ihnen dankbar, dass
Sie als Lehrerin und als Sozialdemokratin aus Nordrhein-Westfalen bestätigt haben, dass dort 5 Millionen
Unterrichtsstunden im Jahr ausfallen.
({0})
Gerade als Lehrerin wissen Sie ja, was der Ausfall von
Unterrichtsstunden für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, für die Planbarkeit eines Familienlebens bedeutet. Auch meine drei Kinder gehen zurzeit in Nordrhein-Westfalen zur Schule, noch dazu auf unterschiedliche Schulen. Man kann sich auf eins verlassen: dass man
nie genau weiß, wann sie mittags wiederkommen.
({1})
Wenn Sie sagen, diese 5 Millionen Unterrichtsstunden sind nur 4 Prozent, und das als eine Petitesse darstellen, dann zeigt das, dass Sie die Probleme in NordrheinWestfalen nicht erkennen.
({2})
Deswegen geht es in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai
auch um eine Mehrheit für eine Politik, die 4 000 zusätzliche Lehrer einstellt, um überhaupt die Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass der Unterricht in diesem Land in
aller Differenziertheit und in ausreichender Menge erteilt werden kann.
({3})
Das wiederum ist die ganz entscheidende Voraussetzung
dafür, dass möglichst viele Kinder am Ende ihrer SchulKarl-Josef Laumann
zeit lesen, rechnen und schreiben können, was wiederum
die Voraussetzung für eine Berufsausbildung ist.
Schönen Dank.
({4})
Frau Berg, bitte.
Sehr verehrter, lieber Herr Laumann, ich bin froh,
dass Sie durch Ihren letzten Beitrag noch einmal unterstrichen haben, dass es Ihnen hier gar nicht um Ihre Politik als Bundestagsabgeordneter geht, sondern einfach
darum, eine flammende Wahlkampfrede, gespickt mit
ganz vielen Unwahrheiten, an den Mann zu bringen.
({0})
Jetzt zu Ihrer Intervention: Sie haben praktisch das
ausgeführt, was ich Ihnen eben schon erläutert habe. Sie
haben wieder von 5 Millionen Unterrichtsstunden, die
ausfallen, gesprochen. Das bestreitet keiner. Aber ich
habe es in Relation zum Unterrichtsausfall in anderen
Bundesländern gesetzt; ich habe Ihnen aufgezeigt, welchem Prozentsatz das letztlich entspricht. Ich sage Ihnen
jetzt noch einmal, damit Sie es verstehen:
({1})
Nordrhein-Westfalen liegt damit absolut im Schnitt aller
Bundesländer. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis und
unterlassen Sie an dem Punkt Ihre Polemik und Ihre
Hetze gegen die NRW-Landesregierung!
({2})
Genau so, wie Sie Partei für Ihre Union ergreifen, unterstütze ich meine Landesregierung,
({3})
die eine sehr gute Politik macht.
({4})
Zum Zweiten, das Sie vorgebracht haben: Ihre armen
Kinder kommen immer zu völlig unabsehbaren Zeiten
nach Hause. Ich weiß nicht, wie alt Ihre Kinder sind
- ich will es im Moment auch gar nicht wissen -, aber
generell ist es so, dass wir in Nordrhein-Westfalen die
Verlässliche Grundschule haben. Wenn Eltern also auf
verlässliche Zeiten angewiesen sind, können sie ihre
Kinder in die Verlässliche Grundschule schicken.
Im Übrigen, mein lieber Herr Laumann,
({5})
haben wir das Ganztagsschulprogramm angestoßen, damit genau das, was Sie gerade moniert haben, in Zukunft
immer weniger passiert. Wir wollen, dass die Kinder zuverlässig den Tag in der Schule sind, betreut und gefördert werden.
({6})
Ich nehme an, dass Sie nach der Erkenntnis, die Sie gerade geäußert haben, jetzt mit fliegenden Fahnen auf unseren Zug aufspringen und uns unterstützen werden.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5255, 15/5259, 15/5024 und 15/4931
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Keine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China
- Drucksache 15/5103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Wolfgang Schäuble.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! China
ist ein wichtiges Land mit wachsender Bedeutung. Die
Gestaltung der Zusammenarbeit, die Entwicklung der
Beziehungen mit China und die Einbeziehung von China
in die internationale, globale Zusammenarbeit und Verantwortung sind in unser aller Interesse. Das gilt sowohl
wirtschaftlich als auch politisch.
China ist auch ein wichtiger und notwendiger Partner
im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen
die Proliferation von Nuklearwaffen und gegen all die
vielen globalen Risiken, Spannungen und Spaltungen,
die im Bericht von Kofi Annan so eindrucksvoll beschrieben sind. Das sehen die Europäer und die Amerikaner, die Vereinigten Staaten von Amerika, in der gleichen Weise.
Das Eintreten für Zusammenarbeit und die Entwicklung der Beziehungen dürfen aber nicht in einen Gegensatz zum Eintreten für Menschenrechte und Demokratisierung gebracht werden. Es ist immer falsch, wenn man
das eine gegen das andere ausspielt.
({0})
Das ist kein Widerspruch, sondern das eine bedingt das
andere. In den Jahren vor dem Fall des Eisernen Vorhangs und vor dem Ende des Ost-West-Konflikts haben
wir in Europa übrigens gute Erfahrungen damit gemacht.
Immer dann, wenn wir die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Eintreten für unsere grundsätzlichen
Überzeugungen richtig verbunden haben, waren wir erfolgreich.
({1})
Das ist übrigens im Interesse der Länder selbst. Wir
treten gegenüber Russland und China ja nicht nur deshalb für die Menschenrechte und für die Demokratisierung ein, weil wir davon überzeugt sind und weil es
unserem Interesse entspricht, sondern weil das nach unserer festen Überzeugung auch dem langfristigen Interesse Russlands so sehr wie dem der Volksrepublik
China entspricht.
Herr Bundeskanzler, deswegen ist es falsch, dass Sie
den Eindruck einer nicht ausbalancierten Politik gegenüber China und Russland erwecken. Im Zeichen der
Hannover-Messe haben wir in diesen Tagen die großen
Meldungen und schönen Bilder über große Verträge gesehen, zum Beispiel auch die von Siemens. Heute lesen
wir in den Zeitungen vom großen Rückschlag von Siemens in Bezug auf Russland. Das zeigt: Eine Politik, die
nicht beide Seiten langfristig in der Balance und im Miteinander hält, wird den wirtschaftlichen Interessen unseres Landes nicht dienen, sondern das Gegenteil bewirken. Eine situative, opportunistische Politik dient den
langfristigen Interessen unseres Landes politisch und
wirtschaftlich nicht.
({2})
In diesem Grundraster muss sich unsere Politik in Bezug auf Waffenlieferungen und das Waffenembargo,
das die Europäische Union 1987 als Reaktion auf die
Vorgänge auf dem Platz des Himmlischen Friedens verhängt hat, bewegen.
({3})
- Richtig, 1989.
Wenn ich nun lese, was in der Sitzung der SPD-Fraktion am heutigen Vormittag gesagt wurde - ({4})
- Nein, aber mir liegt eine dpa-Meldung vor. Es gibt ja
glücklicherweise Medien, die bestimmte Dinge veröffentlichen.
({5})
- Ich bitte Sie, bleiben Sie doch völlig entspannt. - Die
Meldung der Deutschen Presse-Agentur von 9.03 Uhr
lautet:
Kanzler: Fühle mich an EU-Beschluss gebunden
Bundeskanzler Gerhard Schröder fühlt sich im
Streit um die Aufhebung des EU-Waffenembargos
gegenüber China an den entsprechenden Beschluss
der EU-Regierungschefs gebunden.
Wie Teilnehmer einer SPD-Fraktionssondersitzung
am Donnerstag berichteten, habe der Kanzler deutlich gemacht, dass er als deutscher Regierungschef
diesen Beschluss mitvertreten müsse. Die Staatsund Regierungschefs der EU hatten im Dezember
beschlossen, auf eine Aufhebung des Embargos
hinzuarbeiten. Auf die Menschenrechtsfrage und
auch Chinas jüngste Drohungen gegenüber Taiwan
sei der Kanzler nicht eingegangen, hieß es.
Genau das ist der Ausdruck dieser nicht ausbalancierten
Politik, die der Zusammenarbeit mit China und unseren
Interessen schadet. Das ist der falsche Weg.
({6})
- Ich rede nach der SPD-Fraktionssitzung. Im Übrigen
spreche ich als Erster in dieser Debatte, weil ich unseren
Antrag begründe, dem Sie gerne zustimmen würden, da
Sie, wie wir aus vielen Quellen wissen, sagen, dass man
das EU-Embargo gegenüber China bis auf weiteres nicht
einseitig aufheben sollte, sondern auf eine Politik hinwirken sollte, die beides in der richtigen Weise miteinander verbindet.
Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass sich
seit den Vorgängen auf dem Platz des Himmlischen Friedens vieles in China weiterentwickelt und verändert hat.
Natürlich ist aber auf der anderen Seite auch wahr, dass
insbesondere Amnesty International, aber auch viele andere sagen: In der Menschenrechtsfrage sind die Dinge
in China nicht so, wie wir es China im eigenen Interesse
wünschen und wie wir dafür eintreten müssen. Ich zitiere aus dem letzten Länderbericht von Amnesty International, der mir vorliegt:
… in vielen Bereichen hat sich die Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China nicht
grundlegend gebessert, in manchen ist sogar eine
deutliche Verschlechterung zu verzeichnen. Weiterhin wird jede Form von Opposition unterdrückt und
gehören schwere Menschenrechtsverletzungen zum
Alltag. … Zwar hat sich die chinesische Führung in
der Frage der Menschenrechte offener gezeigt, jedoch hat sie kaum Maßnahmen getroffen, die geeignet wären, den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu bereiten und Menschen
wirksam vor Übergriffen zu schützen.
All das wissen wir und auch Sie wissen das. Wir sollten darüber nicht hinwegtäuschen und hinwegsehen. Das
hat der Deutscher Bundestag Ende vergangenen Jahres
gemeinsam zum Ausdruck gebracht. Das hat das Europäische Parlament zum Ausdruck gebracht. Das haben
vor kurzem deutsche Abgeordnete aller Fraktionen des
Europäischen Parlaments dem Bundeskanzler noch einmal geschrieben. Darüber sollten wir uns nicht hinwegsetzen.
Herr Bundeskanzler, die Darstellung, Sie fühlten sich
nur an einen Beschluss des Europäischen Rats vom DeDr. Wolfgang Schäuble
zember letzten Jahres gebunden, ist eine gewisse Verschiebung der Tatsachen. Es ist doch so gewesen, dass
Sie bei Ihrer Reise nach China vor dem Beschluss des
Europäischen Rats einseitig verkündet haben, dass Sie
für eine Aufhebung des Beschlusses der Europäischen
Union sind. Auf die Frage, ob das in der Europäischen
Union abgestimmt sei, haben Sie geantwortet, Sie hätten
das mit Herrn Chirac besprochen. Das ist eine Art, die
anderen Länder in Europa gegen die deutsch-französische Zusammenarbeit aufzubringen. Das ist die falsche
Europapolitik.
({7})
Auch diesen Beschluss muss man hier einmal zitieren. Der Europäische Rat hat am 16./17. Dezember des
letzten Jahres beschlossen:
In diesem Zusammenhang bekräftigt der Europäische Rat erneut den politischen Willen, weiter auf
eine Aufhebung des Waffenembargos hinzuarbeiten. Er fordert den künftigen Vorsitz auf, die schon
weit fortgeschrittenen Arbeiten abzuschließen, damit ein Beschluss gefasst werden kann. Er betont,
das jeglicher Beschluss weder in quantitativer noch
in qualitativer Hinsicht eine Steigerung der Waffenausfuhren aus EU-Mitgliedstaaten nach China bewirken sollte.
({8})
- Natürlich, ich lese aus der Originalquelle vor.
Nun lese ich aber in der „Frankfurter Rundschau“,
dass der Bundeskanzler nach einer Sitzung des SPD-Präsidiums von vor ein paar Tagen
({9})
seine Position damit begründet habe, Deutschland habe
zwar kein Interesse an einer Steigerung der Waffenlieferung nach China, aber Frankreich habe im Sinne seiner
Rüstungsindustrie ein massives Interesse daran; insbesondere mit Blick auf das französische Referendum zum
EU-Verfassungsvertrag müsse man diese Position vertreten. Das ist wieder die falsche Politik und das sind wieder die falschen Motive. Genau so wird es keine verlässliche, überzeugende und berechenbare Politik.
({10})
- Ich habe eine dunkle Erinnerung daran, dass sich eine
der Fraktionen, die in diesem Haus vertreten ist, in einer
gewissen Eigentümerposition in Bezug auf die „Frankfurter Rundschau“ befindet.
({11})
Deswegen ist die Vermutung, dass die Berichterstattung
von SPD-Präsidiumssitzungen seriös ist, sicherlich zutreffend.
({12})
- Überhaupt nicht. Aber bis auf den heutigen Tag hat
niemand von Ihnen diese Berichterstattung in der
„Frankfurter Rundschau“ dementiert.
({13})
Ich kann Ihnen die Originalmeldung vortragen.
Im Übrigen ist dies nicht richtig. Die Darstellung des
Bundeskanzlers, er sei durch den Beschluss des Europäischen Rats quasi zu dieser Position gezwungen, ist das
genaue Gegenteil von dem, was stattgefunden hat. Das
wollte ich bei dieser Gelegenheit nur klarstellen.
({14})
Man muss in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass der Eindruck, der erweckt wird - für die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zu China
insgesamt müssten wir diese Position einnehmen -,
falsch ist und mit der Wirklichkeit der Entwicklung der
wirtschaftlichen Beziehungen zu China in den letzten
Jahren überhaupt nichts zu tun hat. Man muss auch hinzufügen, dass sich innerhalb von zwei Jahren - von 2001
bis 2003 - die Rüstungslieferungen der Europäischen
Union nach China verachtfacht haben. Das heißt, es findet ziemlich viel statt. Deswegen ist die Darstellung Ihrer
Motive, Herr Bundeskanzler, für diesen völlig einseitigen und schädlichen Vorstoß, der in den Koalitionsfraktionen auf massiven Widerstand stößt, das Gegenteil von
dem, was unserem wirtschaftlichen wie politischen Interesse entspricht.
({15})
Nun kommt seit dem Europäischen Rat im Dezember
des vergangenen Jahres erschwerend hinzu, dass sich die
strategische Lage in Ostasien erheblich verschlechtert
hat - um auch dieses zurückhaltend zu formulieren. Die
Auseinandersetzungen zwischen der Volksrepublik China
und Taiwan, das Antisezessionsgesetz, das von der
Volksrepublik China erlassen worden ist, die Auseinandersetzungen mit Japan und die Zunahme von Spannungen in der Region insgesamt legen es nun wirklich dringend nahe, dass es bei der Frage über Waffenlieferungen
an China keine einseitige Entscheidung der Europäischen Union ohne eine vorherige enge Abstimmung mit
dem wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten
von Amerika, gibt. Das ist der entscheidende Punkt.
({16})
Die Vereinigten Staaten von Amerika - die Außenministerin hat das vor kurzem während ihrer Reise nach
Ostasien ganz klar gesagt - haben ein Interesse an einer
engen Zusammenarbeit mit China. Die Vereinigten Staaten von Amerika bemühen sich gemeinsam mit China,
Russland, Japan und Südkorea, das Problem des nordkoreanischen Strebens nach Nuklearwaffen so zu lösen,
dass keine Gefahr für Frieden und Stabilität in Ostasien
und damit für den Frieden in der Welt entsteht. Europa
ist an diesen Gesprächen nicht einmal beteiligt. Wir können zur Stabilität in Ostasien ziemlich wenig beitragen.
Deswegen wäre es verheerend, wenn die Europäische
Union in einer solchen Situation keine Abstimmung mit
denjenigen, die nicht nur im amerikanischen, sondern im
Weltinteresse und damit auch im deutschen und europäischen Interesse für die Stabilität in Ostasien die Verantwortung tragen und alleine tragen können - ich meine
die Amerikaner -, suchen und den Amerikanern in den
Rücken fallen würde. Genau dies darf nicht geschehen.
Das ist der entscheidende Punkt.
({17})
Deswegen lautet unser beschwörender Appell, alles
zu unterlassen, was zu einer neuen dramatischen Zuspitzung im transatlantischen Verhältnis führt. Wir werden übrigens nicht nur das transatlantische Verhältnis
enorm beschädigen - wir werden die wirtschaftlichen Interessen Europas und Deutschlands durch eine Zuspitzung des transatlantischen Konflikts noch mehr beschädigen -, sondern wir werden insbesondere auch an China
völlig falsche Signale aussenden.
Wenn Europäer und Amerikaner in den zentralen Fragen und bei den großen Krisen dieser Zeit am selben
Strang ziehen, dann haben sie ziemlich viele Möglichkeiten, für Frieden und Stabilität zu wirken.
Ich finde, die Bemühungen, den Iran von seinem Streben nach Atomwaffen abzubringen, sind ein gutes Beispiel. Jetzt ist es gelungen - auch im Zusammenhang mit
der Reise des amerikanischen Präsidenten nach Europa -,
die europäische und die amerikanische Position besser
zusammenzubringen. Die Europäer haben endlich klargestellt, dass sie für den Fall des Scheiterns des Verhandlungsansatzes, den wir unterstützen, Herr Außenminister, bereit sind, den Fall vor den Weltsicherheitsrat zu
bringen. Das war der entscheidende Punkt. Die Amerikaner ihrerseits haben klar gemacht, dass sie jetzt schon
bereit sind, dem Iran Schritte der Kooperation anzubieten, um den europäischen Verhandlungsansatz gegenüber dem Iran voranzubringen. Das ist die richtige Politik.
Genau diese Politik muss auch gegenüber China, gegenüber Nordkorea und gegenüber ganz Ostasien betrieben
werden. Deswegen darf es keinen Alleingang der Europäischen Union in dieser Frage geben. Das ist der Sinn
unseres Antrags.
Wenn dieser Antrag dazu führt, dass der Bundeskanzler heute seine Position ein bisschen besser darstellt und
gegenüber dem, was er bisher völlig falsch gemacht hat,
etwas modifiziert, dann liegt das nicht zuletzt im Interesse der Koalition. Sie sehen, Herr Kollege Müntefering,
wir helfen Ihnen so gut wir können, weil wir ein Interesse daran haben, dass dieses Land nicht noch schlechter regiert wird.
({18})
Es sind - das ist der entscheidende Punkt; es ist keine
Kleinigkeit - in den zurückliegenden Jahren sehr viele
Fehler gemacht worden. Angesichts der Vielzahl von
Gefahren und krisenhaften Zuspitzungen müssen wir alles daransetzen, die gemeinsame Verantwortung der Europäer und Amerikaner für eine Welt, in der die Gefahr
gewalttätiger Eskalation nicht größer, sondern kleiner
wird, richtig wahrzunehmen. Deshalb darf es keine Alleingänge geben.
Wir brauchen eine abgestimmte Politik. Das ist der
Sinn unseres Antrags. Wir hoffen, dass wir ihn nach
sorgfältigen Beratungen in diesem Parlament gemeinsam verabschieden können.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt Herr Bundeskanzler Gerhard
Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Schäuble, ich könnte es mir leicht machen
und in dieser Debatte darauf hinweisen, wie Sie sich zu
Anträgen verhalten haben, die die damalige Opposition
1992 zu exakt diesem Thema vorgelegt hat. Ich könnte
es mir noch leichter machen und Ihnen vorlesen, was
mein Vorgänger in einer Debatte gesagt hat, die anlässlich seines Besuches bei der chinesischen Volksbefreiungsarmee sechs Jahre - nicht 15 Jahre - nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens
stattgefunden hat. Ich will mir das aber schenken. Es war
übrigens eine Rede, der ich in weiten Teilen durchaus
zustimmen kann.
Ich will nur ein Zitat anführen, damit Sie erkennen,
dass es insbesondere bei Ihnen eine Menge Heuchelei
gibt.
({0})
Herr Kohl hat in der erwähnten Rede am 23. November 1995
({1})
auf die Bedeutung Chinas hingewiesen und darauf, wie
wichtig es sei, dieses Land zu integrieren. Er hat weiter
gesagt:
Dies ist eine Schicksalsfrage, nicht nur für die
Nachbarländer in Asien, sondern letztlich für die
ganze Welt.
Dann folgt die entscheidende Stelle:
Wir
- damit ist wohl die Bundesrepublik gemeint verfolgen mit unserer Chinapolitik eine langfristig
angelegte Partnerschaft in allen Bereichen, in der
Politik - einschließlich der Sicherheitspolitik ebenso wie in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
({2})
Genau das tun wir und werden es auch weiterhin tun.
({3})
Ich sage es noch einmal: Die Reise zur Volksbefreiungsarmee in China fand sechs Jahre nach der Verhängung des Embargos statt und ist ganz bewusst erfolgt.
Ich habe das damals übrigens nicht kritisiert.
({4})
Im Bundestag ist es kritisiert worden. Sie haben damals
- zu Beginn der 90er-Jahre - Anträgen zugestimmt,
({5})
mit denen Sie die Anträge der Opposition auf Beachtung
dessen, was Sie jetzt hier fordern, überstimmt haben.
({6})
Das ist die Politik, die Sie vertreten, und es zeigt die Widersprüchlichkeit und Heuchelei in Ihren eigenen Aussagen, Herr Schäuble.
({7})
Das tut mir Leid. Es passt nicht zusammen.
Jetzt zur Sache. Wir reden über einen Beschluss der
Staats- und Regierungschefs vom Juni 1989, und zwar
als Reaktion auf den blutigen Militäreinsatz gegen demonstrierende Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Alle anderen Sanktionen, die seinerzeit
verhängt worden sind, wurden bereits nach wenigen Monaten aufgehoben. Nur das politisch-symbolische Instrument des Embargos ist in Kraft geblieben.
Seit der Niederschlagung der Studentenproteste sind
mehr als 15 Jahre vergangen, Jahre, in denen sich China
wirtschaftlich und gesellschaftlich gewandelt und sich
eine neue Führung gegeben hat. Die Rede von Herrn
Kohl und Ihr Abstimmungsverhalten zu Beginn der
90er-Jahre fanden statt - daran will ich Sie noch einmal
erinnern -, als es diese neue Führung in China noch
nicht gegeben hat. Auch das gehört zur historischen
Wahrheit.
({8})
Klar ist: Das China von heute ist nicht mehr das
China von 1989. Das wird im Übrigen von kaum jemandem auf der Welt bestritten. Das ist der Grund, warum
die Europäische Union im Herbst 2003 eine neue
Chinastrategie verabschiedet hat. Deswegen hat die
Europäische Union beschlossen, auf eine Aufhebung des
Waffenembargos hinzuarbeiten. Das ist auf dem EUChina-Gipfel am 8. Dezember 2004 von der damaligen
niederländischen Präsidentschaft ausdrücklich erklärt
worden. Die Staats- und Regierungschefs haben das
- Sie haben es zitiert - ausdrücklich bestätigt.
Nun glauben Sie doch nicht alles, was aus internen
Sitzungen von wem auch immer berichtet wird. Ich habe
auch in der Fraktionssitzung das gesagt, was ich Ihnen
hier sage. Es ist richtig: Ich war und bin der Überzeugung, dass das Embargo entbehrlich ist. Deswegen habe
ich natürlich an den Beschlüssen, die Sie zitiert haben,
aktiv mitgearbeitet. Ich habe davon überhaupt nichts abzustreiten und abzustreichen. Keineswegs ist es so, dass
ich nur einen Beschluss verteidige, den andere getroffen
haben. Ich verteidige vielmehr einen Beschluss, den ich
mitinitiiert habe und der von allen europäischen Staatsund Regierungschefs einstimmig gefasst worden ist.
({9})
Auch das gehört zur historischen Wahrheit.
Sie haben völlig zu Recht zitiert, dass es der Europäischen Union ausdrücklich nicht darum gegangen ist, in
quantitativer oder qualitativer Hinsicht Waffenlieferungen nach China zu verstärken. Deutschland liegt - das
habe ich wiederholt öffentlich erklärt - keine Anfrage
vor. Gäbe es eine, dann könnte Deutschland sie nicht erfüllen und wir würden sie auch nicht erfüllen. Es geht
nicht um Waffenlieferungen nach China. Das muss man
sehr deutlich machen.
({10})
Vor diesem Hintergrund gibt es in der Tat eine von
uns mit herbeigeführte europäische Beschlusslage, die
ich für richtig halte und die ich deshalb nicht verändert
sehen will. Die europäischen Außenminister sind damit
beauftragt, konkret festzustellen, ob die Bedingungen für
einen endgültigen Beschluss erfüllt sind oder nicht. Genau um diese Diskussion geht es. Ich sage noch einmal:
Die Aufhebung des Embargos hat nicht das Ziel, Waffenlieferungen nach China zu verstärken. Das ist Teil des
Beschlusses. Das ist klare deutsche Position. Das wird
auch so bleiben.
({11})
- Was Frankreich tun will, kann ich Ihnen nicht sagen.
Das sollten Sie vielleicht Frankreich überlassen.
({12})
Ich will Ihnen dazu nur eines sagen: Sie haben eine Zeitung zitiert, die über Präsidiumssitzungen der SPD berichtet hat, in denen ich irgendetwas zu Frankreichs Motiven gesagt haben soll. An den letzten drei Sitzungen
des Präsidiums der SPD konnte ich - ich musste mich
bei meinem Parteivorsitzenden entschuldigen - leider
nicht teilnehmen,
({13})
sodass Ihr Versuch, Herr Schäuble, hier auf infame
Weise etwas unterzujubeln, wirklich schrecklich fehlgeht.
({14})
Beim nächsten Mal sollten Sie sich vergewissern, bevor
Sie solche Unterstellungen machen. Das wäre sehr viel
besser. Aber wir kennen ja die Art und Weise, wie hier
gearbeitet wird.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schäuble?
Nein. Ich will das im Zusammenhang darstellen.
({0})
Ich will zu den Waffenlieferungen und zur regionalen
Stabilität in der Region noch etwas sagen. Es wird ständig die Diskussion im amerikanischen Kongress zitiert.
Viele haben sich aufgemacht, dorthin zu fahren, und
haben bei ihrer Rückkehr darauf hingewiesen, was
Deutschland im Unterschied zu den Vereinigten Staaten
von Amerika so alles tue. Ich möchte Ihnen deswegen
sagen: Erstens. Deutschland liefert keine Kriegswaffen,
kann keine Kriegswaffen liefern und wird keine Kriegswaffen liefern.
({1})
Zweitens. Es gibt einen Bericht - er war auch Gegenstand einer Diskussion im amerikanischen Kongress -,
nach dem sich Deutschland bei der Lieferung sonstiger
Rüstungsgüter angeblich auf Platz fünf in Europa befindet. Nach diesem Bericht sieht es so aus: An erster
Stelle liegt Frankreich mit Lieferungen im Wert von
171,5 Millionen Euro, an zweiter Italien, ein sehr enger
Verbündeter, mit 127,1 Millionen Euro, an dritter Großbritannien mit 112,3 Millionen Euro, an vierter Tschechien mit 3,6 Millionen Euro und an fünfter Deutschland
mit Lieferungen sonstiger Rüstungsgüter im Wert von
1,1 Millionen Euro. Wofür haben wir diese 1,1 Millionen Euro bekommen? Wir haben Teile von Humanzentrifugensystemen für die Astronautenausbildung und
Seegravimeter als ozeanographische Messinstrumente
geliefert. Das waren die Lieferungen Deutschlands nach
China!
({2})
Jetzt möchte ich Ihnen etwas zur regionalen Stabilität sagen. Die vereinbarten Waffenlieferungen Amerikas
nach Taiwan belaufen sich im Jahr 2003 auf mehr als
360 Millionen Dollar.
({3})
Auch das gehört zu einer Diskussion über regionale Stabilität.
({4})
Deutschland hat im Jahre 2002 nach China sonstige Rüstungsgüter in einer Größenordnung von 10 - ich wiederhole: 10 - Euro geliefert. Was das war, kann ich Ihnen
nicht sagen. Jedenfalls kann es nicht sehr viel gewesen
sein.
({5})
Ich erwähne das, um deutlich zu machen, dass alle
Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit erhoben worden sind,
wir hätten ein Interesse an der Ausweitung von Waffenlieferungen, schlicht aus der Luft gegriffen sind.
({6})
Auch das muss man in der Diskussion einmal sagen.
Ich glaube, dass diese vordergründige Debatte nicht
weitergeführt werden sollte; denn sie verdeckt, worum
es uns wirklich gehen muss: Im Kern geht es um die
Frage, wie die Europäische Union und Deutschland ihre
Interessen, ihre Anliegen gegenüber China mittel- und
langfristig zur Geltung bringen wollen. Es geht also um
die Frage, wie wir unsere Beziehungen zu diesem in der
Tat großen und wichtigen Land mittel- und langfristig
gestalten wollen, wie wir im Übrigen mithelfen wollen,
in diesem großen Land ein Umfeld zur Förderung einer
friedlichen und demokratischen Entwicklung zu
schaffen, und es geht um die Frage, wie das sich dynamisch entwickelnde China regional und global zu einem
tragenden Pfeiler einer kooperativen und multilateralen Ordnung werden kann.
Wenn man die Frage des EU-Waffenembargos gegenüber China vor diesem Hintergrund sieht, bleibe ich bei
meiner Position, dass dieses Embargo aufgehoben werden sollte. Die Europäische Union strebt wie wir eine
strategische Partnerschaft mit China an. Auch wir haben das bilateral im Mai letzten Jahres beim Besuch von
Ministerpräsident Wen in Berlin so vereinbart. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass wir die Beziehungen
auf allen Feldern - in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft
und Kultur - konsequent ausbauen wollen. Das kann
aber nur gelingen, wenn sich die beteiligten Partner im
gegenseitigen Respekt vor ganz unterschiedlich gewachsenen Kulturen begegnen und ein Vertrauensverhältnis
entwickeln. Nur so werden wir wirklich Einfluss auf die
Entwicklung auch in diesem Land nehmen können.
China ist in den letzten Jahren - das lässt sich nicht
ernsthaft bestreiten - enormes politisches und wirtschaftliches Gewicht zugewachsen. China ist der bevölkerungsreichste Staat und inzwischen die sechstgrößte
Volkswirtschaft der Erde, und das mit eindrucksvollen
Wachstumsraten. Ich stehe ausdrücklich dazu, dass ich
es auch als meine Aufgabe ansehe, ein außenwirtschaftlich so abhängiges Land wie Deutschland in eine enge
Partnerschaft mit diesem Land zu bringen und Verbesserungsmöglichkeiten, wo immer es sie gibt, zu nutzen.
({7})
Die Integration Chinas in die Weltwirtschaft vollzieht sich mit beispielhaftem Tempo. Es gibt Probleme,
über die wir mit China werden reden müssen, zum Beispiel die Frage: Wie entwickelt sich die Währung in Relation zu anderen Währungen?
({8})
Das ist ein ganz wichtiges Thema, über das wir viel zu
wenig diskutieren. Zum Beispiel ist die Frage „Was ist
mit dem Schutz des geistigen Eigentums?“ formal akzeptiert, aber in der politischen Praxis längst nicht so gestaltet, wie wir uns das wünschen.
({9})
Wir diskutieren die Frage: Kann man, darf man bei staatlichen Aufträgen ein Maß an Technologietransfer verlangen, das unsere Unternehmen ökonomisch in Schwierigkeiten bringt?
({10})
Diese Fragen diskutieren wir mit der chinesischen Regierung bei jedem Besuch. Das sind zentrale Fragen der
ökonomischen und der politischen Entwicklung im Verhältnis Deutschlands zu China.
({11})
Das Land ist der zweitgrößte Handelspartner der
Europäischen Union. Umgekehrt ist die Europäische
Union zum größten Handelspartner Chinas geworden.
({12})
Entscheidender Katalysator für den ökonomischen Systemwandel war dabei Chinas Beitritt zur WTO. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an die konstruktive
Rolle Chinas bei der Bewältigung der ökonomischen
Asienkrise 1997/98. In diesem Jahr führt China den Vorsitz im Kreis der 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen der
Welt. Mit diesem gewachsenen Gewicht geht das Land
nach meiner Bewertung durchaus verantwortungsvoll
um - im Wirtschaftlichen ebenso wie im Politischen.
Nach dem 11. September hat sich China mit großem
Nachdruck an der Seite der USA im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus engagiert.
Ohne die Mitwirkung dieses Landes ist heute keine
der großen globalen Herausforderungen mehr zu bewältigen.
({13})
Ich sage das auch und gerade im Hinblick auf die
Klimaschutzpolitik. Die chinesische Regierung hat angekündigt, bis zum Jahr 2010 10 Prozent der Energie aus
regenerativen Quellen zu erzeugen - ein Beispiel für aktiven Umweltschutz, den viele von diesem Land so nicht
erwartet hätten.
({14})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang weiter an die
aktive Vermittlungsrolle Chinas im Nordkoreakonflikt.
({15})
Wir wissen China beim Kampf gegen die Weiterverbreitung nuklearer Waffen an unserer Seite.
Auch die chinesische Unterstützung für die regionale
Integration in Asien weist in dieselbe Richtung. 2002 haben China und die ASEAN-Staaten die Errichtung einer
Freihandelszone bis zum Jahr 2010 vereinbart. Das ist
ein wichtiger Beitrag zur regionalen Sicherheit und zur
regionalen Stabilität.
Ich stimme dem früheren Außenminister HansDietrich Genscher wirklich zu, der vor kurzem sagte,
China habe sich zu einem wirklichen Faktor der globalen Stabilität entwickelt. Diese Rolle - Sie haben es
selbst gesagt - wird zunehmend auch von den USA anerkannt; sonst hätte man dort, auch vor dem Hintergrund
des Kongressbeschlusses, wohl kaum die Einsetzung einer hochrangig besetzten Arbeitsgruppe mit China beschlossen.
Wer Frieden, Stabilität und Wohlstand in Asien und
darüber hinaus fördern will, dem muss daran gelegen
sein, dass China diese verantwortungsvolle Politik multilateral weiterführt. Gerade darauf ist die strategische
Partnerschaft der Europäischen Union und Deutschlands
mit China ausgerichtet: auf konstruktive Zusammenarbeit und Einbindung. Mit diesem Ansatz vertragen
sich Sanktionen gleich welcher Art eben nicht. Sanktionen zielen auf Isolierung und Diskriminierung. Die Bundesregierung setzt dagegen auf Kooperation, auf Integration und damit verbundenen Wandel.
Ich will abschließend einige Bemerkungen zur inneren Situation Chinas machen. Die chinesische Gesellschaft wird offener und pluraler, wenn auch nicht mit der
Geschwindigkeit und in dem Ausmaß, die auch ich mir
gern wünschen würde. Der Schutz der Menschenrechte
und des Privateigentums wurde im Frühjahr 2004 in die
Verfassung aufgenommen. Natürlich kritisieren wir die
Tatsache, dass es die Todesstrafe gibt, und das Ausmaß,
in dem sie verhängt wird. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es gegen unseren Willen die Todesstrafe auch in
anderen Gesellschaften gibt. Die Bundesregierung ist für
die Abschaffung der Todesstrafe überall, in China wie in
allen Ländern der Welt, wo sie noch angewendet wird.
({16})
Es ist nicht ausreichend, aber ein Fortschritt, dass Todesurteile jetzt der Überprüfung durch das oberste Gericht
unterliegen.
Das alles mag nicht weit genug gehen - das ist auch
nach meiner Auffassung so -, zeigt aber: Es gibt unverkennbar Fortschritte bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte. China
modernisiert sich - politisch und wirtschaftlich. Das
streiten im Übrigen auch die Vereinigten Staaten von
Amerika nicht ab. Sie haben erst vor drei Wochen in
Genf bei der Menschenrechtskommission - ich zitiere „bedeutsame Schritte bei der Verbesserung der Menschenrechtslage in China“ festgestellt. Das war die Position der Vereinigten Staaten von Amerika in Genf.
Die Europäische Union und Deutschland sind willens,
China auf dem Weg der Modernisierung seiner Gesellschaft konstruktiv zu unterstützen. Gerade darauf ist der
von mir - nicht von früheren Regierungen - 1999 vereinbarte Rechtsstaatsdialog ausgerichtet. Er ist ein
wichtiger, weil kontinuierlicher Beitrag zur strukturellen
Verankerung rechtsstaatlicher Prinzipien in allen Lebensbereichen Chinas, zu etwas also, das wir wollen und
für das wir uns mit allen Möglichkeiten, die wir haben,
einsetzen.
({17})
Im Rahmen des Rechtsstaatsdialogs führen wir sowohl
bilateral als auch auf europäischer Ebene einen offenen
und ehrlichen Menschenrechtsdialog.
Meine Damen und Herren, die Kritiker einer Aufhebung des Waffenembargos verweisen auf das vom
Volkskongress verabschiedete Antisezessionsgesetz. Ich
glaube, es gibt außer den außenpolitischen Experten, denen ich das unterstelle, nur wenige, die das Gesetz wirklich in vollem Umfang kennen. Es ist deswegen zu empfehlen, das ganze Gesetz zu lesen. Darin wird auf der
Grundlage des Ein-China-Prinzips, das seit Jahrzehnten
der deutschen Chinapolitik zugrunde liegt, zuallererst
eine friedliche Wiedervereinigung postuliert.
Dass China daran gelegen ist, die Beziehungen zu
Taiwan in allen Bereichen zu intensiveren, und zwar
zum Wohle beider Seiten, ist aus meiner Sicht nur zu begrüßen. Klar ist allerdings auch, dass sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung niemals einen Zweifel daran gelassen haben, dass die Taiwanfrage
ausschließlich mit friedlichen Mitteln gelöst werden
kann.
({18})
Meine Damen und Herren, eine auf breit angelegte
Zusammenarbeit und gemeinsame Bewältigung globaler
Herausforderungen ausgerichtete Politik mit China liegt
sowohl im europäischen als auch im deutschen Interesse.
Wir wollen konstruktive Beziehungen zu China zum gegenseitigen Nutzen unserer Völker und zur Stärkung von
Frieden und Stabilität; denn ein im Innern stabiles, modernes und rechtsstaatliches China wird auch in regionalen und internationalen Fragen ein berechenbarer, verlässlicher und verantwortungsvoller Partner sein.
Ich weiß, dass die Entwicklung in China Zeit gebraucht hat und weiter Zeit brauchen wird. Aber die Öffnung des Landes und die Integration in die Weltwirtschaft und in die internationalen politischen Strukturen
werden - dessen bin ich sicher - den Wandel weiter vorantreiben. Jeder Versuch der Isolierung kann nur in die
Irre führen. Deswegen habe ich mich dafür eingesetzt,
dieses Embargo aufzuheben, und deswegen habe ich keinen Anlass, die Position, die alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union eingenommen haben, in
Zweifel zu ziehen.
Das wollte ich Ihnen vermitteln. Vielen Dank für die
Aufmerksamkeit.
({19})
Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege
Schäuble das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Bundeskanzler hat mit dem Hinweis, er habe an der
SPD-Vorstandssitzung
({0})
- oder an der Präsidiumssitzung - nicht teilgenommen,
den Eindruck erweckt, das, was ich gesagt habe, sei
nicht richtig. Deswegen bin ich dankbar, dass ich das
Originalzitat aus der „Frankfurter Rundschau“ vom
5. April 2005 hier noch einmal vortragen kann:
({1})
SPD und Grüne suchen hinter den Kulissen weiter
nach Wegen, den Koalitionsstreit um das EU-Waffenembargo gegen China nicht eskalieren zu lassen.
Während die Grünen am Montag erneut an den
Kanzler appellierten, keinesfalls gegen den Willen
des Bundestags für die Aufhebung des Embargos
zu stimmen, gab es auch im SPD-Vorstand nach
Teilnehmerangaben „keine mehrheitliche Unterstützung“ für die Linie des Kanzlers.
Parteichef Franz Müntefering machte in der SPDVorstandssitzung deutlich, dass Schröder vor allem
aus Rücksicht auf Frankreichs Präsident Jaques
Chirac gegen das Waffenembargo sei. SPD-Außenpolitiker verweisen auf massive Interessen der französischen Rüstungsindustrie in China - und auf die
Zusage des Kanzlers an Chirac, zum Thema Waffenembargo mindestens bis zum heiklen französischen
EU-Verfassungsreferendum Ende Mai die Pariser
Linie zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, der Hinweis, ob der Kanzler an der Sitzung teilgenommen hat oder nicht,
({2})
ist deswegen überhaupt kein Dementi in der Sache.
({3})
Herr Schäuble, es handelt sich doch wieder einmal
um den für Sie so typischen Versuch, aus einer Meldung
über eine Sitzung, an der derjenige, der sie geschrieben
hat, nun wirklich nicht teilgenommen hat, eine Tatsache
zu konstruieren.
({0})
Genau mit dieser Art und Weise haben Sie schon bei
mehr als einer Gelegenheit versucht, Tatsachen zu verdrehen und sich dann auf diese verdrehten Tatsachen zu
berufen.
({1})
Sie kommen mit dieser Art und Weise nicht durch. Das
ist nämlich, Herr Schäuble, kein redlicher Umgang mit
der Wahrheit. Aber dieser unredliche Umgang mit der
Wahrheit ist Ihnen ja durchaus zu Eigen.
({2})
Das Wort hat jetzt für die FDP der Abgeordnete
Guido Westerwelle.
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ein Dementi haben wir jedenfalls nicht gehört
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Rede
versucht, den Eindruck zu erwecken, als handele es sich
bei diesem Konflikt um einen Konflikt zwischen der Regierung und der Opposition. Wir wollen vorab eines festhalten: Wenn der Deutsche Bundestag seine bisherige
Beschlussfassung ernst nimmt, dann handelt es sich um
einen Konflikt zwischen der überparteilichen Mehrheit des Deutschen Bundestages und der Haltung der
Bundesregierung.
({0})
Zweite Vorbemerkung: Herr Bundeskanzler, Sie haben am Anfang Ihrer Rede Zitate eingeführt - ich
möchte mich jetzt nicht mit Ihnen weiter darüber auseinander setzen, ob die „Frankfurter Rundschau“ richtig
liegt oder nicht; Sie können sich ja beim Eigentümer beschweren ({1})
und auf die historische Wahrheit Wert gelegt. Wir erinnern uns noch an die damalige Auseinandersetzung und
vor allen Dingen an das, was derjenige, der heute Vizekanzler, also Ihr Stellvertreter, und Außenminister der
Bundesrepublik Deutschland ist, damals an die Adresse
von Herrn Kohl und Herrn Kinkel gesagt und in diesem
Zusammenhang kritisch angemerkt hat.
({2})
Er sagte damals:
Wir werden eine friedliche Entwicklung Chinas
nicht bekommen, wenn wir vor allen Dingen auf
das Geschäft setzen. … Deswegen müssen wir mit
den Chinesen unnachgiebig über Menschenrechte,
über tibetische Kultur und über den Schutz von
Minderheiten in China sprechen.
({3})
Herr Bundesaußenminister, Sie sagten damals: Man
muss sich klar und deutlich ausdrücken, „auch wenn das
Peking nicht passt“. Sie haben dem Bundesaußenminister Kinkel damals „windelweiche Servilität“ vorgeworfen und höhnten: Herr Kinkel „kriecht vor den Chinesen
auf dem Bauch“. - Wie einen doch die Bilder eines Tages wieder einholen, Herr Außenminister.
({4})
Eine dritte Vorbemerkung halte ich an der Stelle für
notwendig: Es ist fast schon eine zynische Haltung,
wenn Sie, Herr Bundeskanzler, sich hier hinstellen und
sagen, Sie wollten das Waffenembargo aufheben und
keine Waffen exportieren, aber uns auf die Frage, was
Sie davon halten, dass Frankreich dann Waffen exportieren wird, sagen: Wendet euch an die Franzosen. Das
ist, offen gestanden, zynisch. Wenn Sie das Waffenembargo aufheben, sind Sie für jeden Waffenexport
höchstpersönlich mitverantwortlich, komme er auch aus
Frankreich.
({5})
Es war ja auch eine bittere Stunde für die Grünen. Das
hat man ja an der Reglosigkeit bemerkt, mit der sie die
Rede des Bundeskanzlers aufgenommen haben. Es hat
sich ja keine Hand zum Beifall gerührt.
Etwas Viertes finde ich besonders bemerkenswert: So
haben wir vor etwas mehr als einem Jahr im Deutschen
Bundestag eine ausführliche Debatte über die Frage geführt, ob die zur friedlichen Nutzung der Kernenergie
bestimmte zivile Nuklearanlage von Siemens aus
Hanau mit einer deutschen Wertschöpfung von 1 Milliarde Euro nach China exportiert werden darf. Die Chinesen wollten diese Hanauer Nuklearanlage kaufen und
sie wollen es noch immer. Siemens will diese Anlage
verkaufen und will es noch immer. 1 Milliarde Euro ist
kein Pappenstiel. Wenn eine Bundesregierung den Export einer zivilen Nuklearanlage verhindern will, gleichzeitig aber ein Waffenembargo aufhebt, dann ist das
mehr als widersprüchlich; dann ist das die Scheinheiligkeit, vor der wir warnen.
({6})
Schließlich finde ich es erschreckend, wenn Sie, Herr
Bundeskanzler, in Bezug auf das Waffenembargo nicht
nur in früheren Interviews, sondern auch in Ihrer heutigen Rede wörtlich sagen, dass es sich nur noch um ein
„politisch-symbolisches Instrument“ handele - als
würde es sich bei einem Waffenembargo um Symbolik
handeln! Was ist das denn für eine symbolische Geste,
wenn Sie dieses Waffenembargo aufheben? Wofür?
3 700 vollstreckte Todesurteile gab es im vergangenen Jahr weltweit. Sie haben Recht, wenn Sie das kritisieren. Aber Sie haben Unrecht, wenn Sie dabei verschweigen, dass 3 400 davon in China vollstreckt
worden sind. Die Autonomiebestrebungen der Tibeter
werden weiter unterdrückt. Zahlreiche Menschen sitzen
in willkürlicher Administrativhaft, unzählige stecken in
Arbeitslagern. Pressefreiheit, wie wir sie kennen, gibt es
dort überhaupt nicht. Da wäre eine Diskussion wie die
über die „Frankfurter Rundschau“, wie wir sie gerade erlebt haben, gar nicht denkbar. Wir nehmen zur Kenntnis,
dass religiöse Gruppen verfolgt werden, dass nicht nur
die Pressefreiheit, sondern auch die Meinungsfreiheit
unterdrückt wird. Nach dem Bericht der Generalsekretärin von Amnesty International von Anfang dieses Jahres
steht fest, dass heute, 15 Jahre nach dem schrecklichen
Vorfall auf dem Platz des Himmlischen Friedens, noch
immer Menschen, die damals beteiligt gewesen sind, im
Gefängnis sitzen.
Sie fordern die Aufhebung des Waffenembargos aus
Gründen der Symbolik. Wir sagen: Es geht um mehr als
Symbolik. Menschenrechte sind nicht Symbolik. Die
Unterdrückung der Menschenrechte ist für diese Menschen bittere, grausame Realität. Davor warnen wir,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({7})
Niemand bestreitet, dass eine gute zivile, wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China richtig und sinnvoll
ist. Niemand in diesem Hause - egal ob in den Reihen
der Opposition oder der Regierungsfraktionen - erkennt
doch nicht an, welche Entwicklungen es gegeben hat.
Wir alle sind der Auffassung, dass jeder Fortschritt, insbesondere was die Justiz angeht, sinnvoll ist. Wir haben
die Bedingungen damals selber mit auf den Weg gebracht. Sie, insbesondere die Justizministerin, führen das
dankenswerterweise fort. Das soll ausdrücklich anerkannt werden.
Aber es steckt etwas anderes dahinter. Sie sehen in
der Aufhebung des Waffenembargos offensichtlich ein
Instrument zur Beschleunigung einer positiven Entwicklung der Menschenrechte und der Demokratie, während
wir sagen: Waffenexporte können nicht ein Mittel zur
Demokratisierung sein, sondern sie können bestenfalls
als Ergebnis am Ende eines Demokratisierungsprozesses
stehen.
({8})
Wir sagen: Wandel durch Handel ja, aber Waffenhandel
nein; denn er verändert nicht die politischen Zustände,
sondern zementiert Unterdrückung und die Verletzung
von Rechtsstaatlichkeit.
({9})
Deswegen appellieren wir an Sie, die zivile Zusammenarbeit mit China fortzuentwickeln. Wir sind dankbar
für die guten geschäftlichen Beziehungen. Die Vorstellung, wir müssten das Waffenembargo aufheben, um mit
China auch zivil besser ins Geschäft zu kommen,
schwingt in dieser Debatte zwar oft genug mit, ist aber
trotzdem falsch. Andere Länder wie beispielsweise die
Vereinigten Staaten von Amerika haben weit mehr wirtschaftliche Beziehungen und Geschäfte mit China und
bleiben in der Chinapolitik trotzdem dem Prinzip der
Menschenrechte verpflichtet. Wir sagen: Ziviler Handel
und wirtschaftliche Zusammenarbeit ja, ein Waffenhandel jetzt, in dieser Lage, nein.
Wenn der Bundestag seine Aufgaben und auch das,
was er beschlossen hat, ernst nimmt, wenn er sich selbst
ernst nimmt, dann müssten eigentliche alle Fraktionen
dem Bundeskanzler hier die Stirn bieten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesaußenminister
Joschka Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Europäische Rat hat einstimmig den Beschluss gefasst, zu
überprüfen, ob das 1989 nach den furchtbaren Ereignissen auf dem Tiananmenplatz in China, der blutigen Unterdrückung der Freiheitsbewegung, verhängte Embargo
angesichts der zweifellos festzustellenden Veränderungen in China in der bestehenden Form noch angemessen
ist und aufrechterhalten werden soll. Der Europäische
Rat hat den Außenministern den Auftrag erteilt - es war
allerdings kein unkonditionierter Auftrag -, sich in Richtung einer Aufhebung zu bewegen.
Bevor ich auf diesen Punkt näher eingehe, möchte ich
unterstreichen, was der Bundeskanzler über die Bedeutung des Landes gesagt hat. Anders als 1989 hängt die
Weltwirtschaft heute ganz entscheidend von der Frage
ab - das wissen Sie alle -, ob die chinesische Währung
auf- oder abgewertet wird. Heute gibt es eine Abhängigkeit zwischen der amerikanischen und der chinesischen
Volkswirtschaft, die in dieser Form damals noch nicht
existierte.
({0})
- Lassen Sie mich diese Fakten herausstellen. Ich
komme noch zu den Argumenten.
({1})
Die Frage der Integration dieser aufstrebenden Weltmacht - das ist der entscheidende Punkt; da kann ich
Kollegen Schäuble nur nachdrücklich unterstützen - ist
für die Stabilität des internationalen Systems im
21. Jahrhundert eine der zentralen Fragen.
({2})
Wenn wir uns darauf verständigen, dann werden wir sehr
schnell feststellen, dass es keine einfache Lösung gibt.
Die Überprüfung wurde von vielen Staaten unterstützt. Sie können der Bundesregierung durchaus vorwerfen, dass sie aus Ihrer Sicht an der einen oder anderen Stelle falsch gehandelt hat. Aber Sie werden das
beispielsweise Großbritannien nicht vorhalten können.
Ich möchte unterstreichen, dass es eine gemeinsame
Position gibt. Diese wird manchmal so dargestellt, als
gäbe es in der Europäischen Union schon einen Konsens.
Ich möchte betonen, dass wir Prüfkriterien haben,
die sich auf die aktuelle Menschenrechtslage in China,
auf die Stabilität in der Region - vor allen Dingen in der
Straße von Taiwan - und darüber hinaus beziehen. Herr
Westerwelle, es macht sich zwar gut, wenn Sie jetzt davon sprechen, Fischer habe das damals gesagt. Auf meiner letzten Reise nach China, an der Sie nicht teilgenommen haben - ich glaube, Herr Uhl war aber dabei -, gab
es eine Pressekonferenz mit dem chinesischen Kollegen,
auf der ganz offen gesprochen wurden: über Tibet, über
die Menschenrechte, über die Administrativhaft und
über die Unterdrückung der Christen. Ich weiß übrigens,
dass auch der Bundeskanzler diese Punkte in China
ebenso offen angesprochen hat.
Wir haben mit niemandem darüber diskutiert, wo der
Dalai Lama in Deutschland empfangen wird. Er wird
selbstverständlich im Auswärtigen Amt empfangen. Es
gibt heute nicht mehr Bilder wie die, die es damals gegeben hat - Sie als junger Mann können sich daran vielleicht nicht mehr erinnern - und an die ich mich sehr gut
erinnern kann. Der Bundeskanzler hat keinen Diener vor
der Volksarmee gemacht, wie es der damalige Bundeskanzler wenige Jahre nach dem Massaker auf dem
Tiananmenplatz getan hat.
({3})
An diesem Punkt brauchen wir uns Ihre Kritik nicht gefallen zu lassen.
Ich sage Ihnen ganz offen, dass wir sehr optimistisch
waren, was die Perspektive hinsichtlich der Entwicklung
zwischen der Volksrepublik China und Taiwan angeht.
Wir waren sehr froh, als wir festgestellt haben, dass mit
den Wahlen in Taiwan ein Signal in die richtige Richtung ausgesandt wurde. Die Eröffnung einer direkten
Flugverbindung war ebenfalls ein positives Signal. Aber
selbstverständlich gilt auch, dass das Taiwan-Gesetz alles andere als ein Schritt in die richtige Richtung ist,
auch wenn der Bundeskanzler völlig zu Recht unterstreicht, man solle das ganze Gesetz lesen.
({4})
- Kollege Gerhardt, das eigentliche Problem ist - völlig
unabhängig davon, wie die EU entscheiden wird; das sagen Ihnen alle Experten in Australien, Neuseeland, Japan und Ostasien -, dass China alles tun wird, um eine
Sezession Taiwans zu verhindern. Auf der anderen Seite
will Taiwan eine Demokratie bleiben. Den drohenden
Zusammenprall dieser Grundsätze müssen wir verhindern; denn die Eskalationsgefahr, die sich daraus ergibt,
ist nicht unerheblich.
({5})
Das wiederum hängt aber mit der Integration Chinas zusammen. Wir werden - das kann ich Ihnen an dieser
Stelle sagen - die Prüfung in diesem Punkt sehr sorgfältig vornehmen.
Wir brauchen einen Konsens in der Europäischen
Union. Dieser Konsens ist heute noch nicht vorhanden.
Da wir diesen Konsens erreichen wollen, appelliere ich
an die chinesische Regierung: Sie muss begreifen, dass
sie sehr viel dazu beitragen kann, dass ein solcher Konsens möglich wird.
({6})
Das war auch immer die Haltung von Bundesregierung
und Europäischer Union.
({7})
Es war ein Schritt in die richtige Richtung, als sich die
chinesische Regierung direkt mit einem Vertreter des
Dalai Lama zusammengesetzt hat. Bedauerlicherweise
sind die Ergebnisse noch nicht so, dass ich sagen könnte,
dass ein wirklich großer Schritt nach vorn getan wurde.
Wir wollen, dass wenigstens jetzt die Menschenrechtspakte, die ja bereits unterschrieben sind und die seit langem in der Volksvertretung liegen - ({8})
- Ja, China kann sofort ein richtiges und wichtiges Signal setzen. Ich appelliere deshalb an die chinesische
Regierung und an den Volkskongress, die Menschenrechtspakte jetzt zu ratifizieren.
({9})
Das würde meines Erachtens ein Signal setzen, bei dem
man wirklich sagen könnte, dass wir vorankommen.
Nun zur Frage der exzessiven Anwendung der Todesstrafe. Ich unterstreiche, was der Bundeskanzler gesagt
hat: Es ist richtig und wichtig, dass die Todesstrafe jetzt
nicht mehr allein von den Gerichten in den Regionen
verhängt, sondern von dem obersten Gericht der Volksrepublik China überprüft werden soll. Aber wir müssen
nach wie vor darauf drängen, dass die Todesstrafe als
eine inhumane Strafe eingeschränkt und in der Perspektive auch abgeschafft wird. Das gilt übrigens nicht nur
für China; ich könnte auch noch einige andere Fälle nennen. Gerade in der Menschenrechtskonferenz erleben
wir an diesem Punkt recht merkwürdige Koalitionen.
({10})
Europa ist in dieser Frage ein Leuchtturm und wird von
seiner Haltung auch nicht ablassen.
({11})
Selbstverständlich - lassen Sie mich auch das unterstreichen - spielt auch der Einsatz für religiöse Toleranz
eine entscheidende Rolle.
({12})
- Ich erläutere gerade, was wir meiner Meinung nach
brauchen, wenn wir einen Konsens erreichen wollen,
und was die Punkte sind, an denen China konstruktiv
mitarbeiten kann. Das hat viel mit dem Erreichen eines
Konsenses zu tun und es ist meine Aufgabe als Außenminister - wir Außenminister sind von den Regierungschefs entsprechend beauftragt worden -, zu versuchen,
diesen Konsens herzustellen. Ich erläutere Ihnen gerade,
was aus meiner Sicht die konstruktiven Beiträge der anderen Seite sein können und sein sollten. Es geht also
sehr wohl um die Sache.
Meine Damen und Herren, vorhin wurde ja zu Recht
auf die Frage der Toleranz für die christliche Religion
hingewiesen. Auch das ist immer wieder ein zentrales
Thema in den Gesprächen mit der anderen Seite. Im
Rechtsstaatsdialog geht es um die Fortentwicklung der
Herrschaft des Rechts, der Unabhängigkeit der Justiz
und der Humanisierung der Gesetze. All diese Fragen
sind von entscheidender Bedeutung.
Herr Kollege Schäuble - aber ich sage das auch in
Richtung des Kollegen Westerwelle -, Sie sprachen die
Beziehungen zu den USA an. Die Europäische Union
hat eine Delegation entsandt. Wir sind gerade bei der
Auswertung dieser Gespräche und untersuchen, welche
zusätzlichen Anstrengungen zur Herstellung einer gemeinsamen Position unternommen werden sollten. Denn
in der Tat will niemand eine erneute Eintrübung der
transatlantischen Beziehungen. Meines Erachtens ist auf
allen Seiten eine gewisse Ehrlichkeit in der Argumentation dringend notwendig.
Herr Kollege Westerwelle, Sie sind mir also nun
wirklich einer!
({13})
Sie wollen, dass ich die Hanauer Anlage liefere, aber
gleichzeitig soll ich keinen Krach mit den Amerikanern
anfangen. Sie müssen mir einmal zeigen, wie das gehen
soll.
({14})
Die westerwellsche „friedliche Anlage“ zur Plutoniumverarbeitung wird in Washington im Kongress und in der
Administration auf donnernden Beifall stoßen! An diesem Punkt müssen Sie noch ein bisschen arbeiten. Ich
kann Ihnen nur sagen: Entweder wollen Sie keinen
Krach; dann rate ich Ihnen, die Sache mit Hanau weiter
zu prüfen, jedenfalls aber nicht einer Lieferung zuzustimmen. Oder Sie wollen Krach; in diesem Fall verstünde ich dann aber die ganze Debatte hier nicht.
({15})
Kommen wir zur Haltung der Europäischen Union
und der Bundesregierung, die der Kanzler gerade dargestellt hat. Unser Ziel ist es - ({16})
- Der Kanzler ist bei den Kirchen.
({17})
- Er hat sich entschuldigt.
({18})
Der Kanzler hat einen nicht verlegbaren Termin gehabt.
Das wissen auch die Fraktionen. Er musste um
12.30 Uhr weg. Das hat überhaupt nichts mit dieser Debatte zu tun.
({19})
Das zeigt doch offensichtlich, dass Sie selbst die kleinste
Münze nutzen, um dem Kanzler am Zeug zu flicken. Das
ist doch albern.
({20})
Das war doch immer so. Er hat sich entschuldigt.
({21})
Für uns ist ganz entscheidend: Wir wollen einen Konsens erreichen. Dieser Konsens setzt voraus, dass alle in
der Europäischen Union zustimmen. Um diese Zustimmung zu bekommen, wird es notwendig sein, dass sich
auch die chinesische Seite bewegt. Ich habe gesagt: Die
Menschenrechtspakte zu ratifizieren wäre für China relativ schnell machbar und könnte jederzeit umgesetzt werden. Gleichzeitig sollte man im Rechtsstaatsdialog vorankommen, bei der Administrativhaft Erleichterungen
schaffen und vor allen Dingen eine friedliche Streitbeilegung in der Straße von Taiwan anstreben. In all diesen
Dingen ist die chinesische Seite gefordert.
Die Europäische Union ist bereit, all das zu tun, was
in ihrer Macht steht, um sich in die richtige Richtung zu
bewegen. Aber wir erwarten auch von der anderen Seite,
dass sie dies tut. Die Bedingungen sind bekannt und klar.
Wenn wir eines Tages auf dieser Grundlage einen Konsens erreichen können, dann - so bin ich mir sicher wird auch die Opposition nicht widersprechen.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
({0})
- Sie haben sich zu einem Zeitpunkt zu einer Zwischenfrage gemeldet, zu dem die Redezeit schon überschritten
war.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU hat beantragt, das EU-Waffenembargo
gegen China nicht aufzuheben. Ich nehme vorweg: Die
PDS im Bundestag stimmt diesem Antrag zu. Sie können das für eine parlamentarische Stern- oder für eine
politische Geisterstunde halten. Denn dass die PDS und
die Opposition zur Rechten gleicher Meinung sind, ist
selten, sogar sehr selten.
Ich bin ziemlich sicher, dass wir nicht einmal derselben Meinung sind. Das wird spätestens bei den Gründen
deutlich, warum die PDS und weshalb die CDU/CSU
gegen Rüstungsexporte nach China ist. Unsere Position
ist übersichtlich: Jeder Rüstungsexport ist unter dem
Strich ein Geschäft mit dem Tod
({0})
und somit das Gegenteil einer auf Frieden gerichteten
Weltwirtschaft. Das meinen wir ganz grundsätzlich.
CDU und CSU agieren eher taktisch, übrigens auch
Teile der Grünen: Deutsche Waffenexporte nach China
könnten die USA verstimmen. - Das hörte ich von der
CDU/CSU ebenso wie aus der Fraktion der Grünen. Das
heißt ja wohl: Rüstungsexporte sind okay; es müssen nur
die richtigen Käufer gefunden werden. Genau da setzt
übrigens der Konflikt mit dem Bundeskanzler an. Denn
China ist ein großer, profitabler Markt. Deshalb ist der
Kanzler für die Beseitigung aller Exportschranken.
Ich erinnere hier an eine Forderung, die ich schon in
der vorletzten Sitzungswoche zitiert habe:
Die Regierung muss im Blick behalten, dass Unternehmen Rendite erzielen müssen, und dies geht bei
Rüstungsgütern nur selten, wenn man sich allein
auf die Belieferung der nationalen Streitkräfte beschränkt.
Dieses Zitat stammt von Dr. Diehl, dem Vorsitzenden
der gleichnamigen Stiftung, eines Konzerngeflechts im
weltweiten Rüstungsgeschäft, aus dem Jahre 2000 und
wurde damals der rot-grünen Bundesregierung ins
Stammbuch geschrieben.
Seitdem hat - darüber haben wir erst jüngst diskutiert - die Zahl deutscher Waffenlieferungen und Rüstungsexporte massiv zugenommen. Die Beschränkungen, die sich Rot-Grün selbst auferlegt hatte, sind längst
Makulatur. Denn deutsche Waffen- und Rüstungssysteme werden selbst in Krisengebiete exportiert. Diese
Fehlentwicklung ist, wie man weiß, nicht das Gegenargument der CDU/CSU. Sie ist insgesamt nicht gegen
deutsche Rüstungsprofite. Sie ist allerdings gegen neue
Reibereien mit den USA. Dies unterscheidet die Union
und die PDS im Deutschen Bundestag.
({1})
Der Bundeskanzler hat andere Optionen. Dass er
diese durchsetzen will, ließ er vor dieser Parlamentsdebatte durchblicken. Er meinte, er und nicht das Parlament habe die Richtlinienkompetenz. Ich finde, das war
ein kalkulierter Affront gegen die Demokratie. Dass er
dazu heute kein Wort gesagt hat, spricht übrigens Bände.
({2})
Zurück zur Volksrepublik China. China ist gut für
VW-Geschäfte, sagen die einen. China ist schlecht im
Hinblick auf Menschenrechte, sagen die anderen. Wäre
ich unpolitisch neutral, würde ich sagen: Beides stimmt.
Ich bin aber nicht unpolitisch neutral. In China werden Menschenrechte verletzt, und das massiv. So werden
zum Beispiel in China noch mehr Todesurteile vollstreckt als im Mutterland der Todesstrafe, den USA.
In China wird ein Autogeschäft forciert, im Vergleich
zu dem die aktuelle Feinstaubdebatte in Deutschland ein
laues Lüftchen ist.
({3})
Dieses Autogeschäft vollzieht sich übrigens auch mit
deutscher Duldung, mit deutscher Beteiligung und mit
rot-grünem Eifer.
Jeder fünfte Mensch unserer Erde lebt in der Volksrepublik China. Das spricht unbedingt für Dialog und für
Zusammenarbeit mit China. Die PDS ist dafür; sie
wirbt dafür und sie pflegt auch den Dialog. Nur eines
hilft niemandem, nämlich der Versuch, China als gewinnträchtigen Markt für deutsche und europäische
Waffenexporte zu erobern. Dazu sagt die PDS im Bundestag Nein.
({4})
Zum Schluss. Ich bekam vor der heutigen Debatte
Post von einem Journalisten einer linken, einer sehr linken Zeitung. Er mahnte meine Kollegin und mich: Ihr
werdet doch nicht etwa dem CDU/CSU-Antrag zustimmen, noch dazu in einer Zeit, in der die USA ihren Militärring um China zusammenziehen und aufrüsten. Ich
sage sehr deutlich: Wir, die PDS im Bundestag, sind
dennoch dagegen, dass China mit deutscher oder
europäischer Hilfe hochrüstet. Wir wollen generell, dass
weltweit abgerüstet wird, dass Krieg kein Mittel der Politik ist und dass das Geschäft mit dem Tod endlich weltweit geächtet wird.
({5})
Das unterscheidet uns von CDU und CSU. Deshalb werden wir ihrem Antrag dann auch zustimmen.
({6})
Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege
Westerwelle das Wort.
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Herr Minister, ich
wollte meine Worte in Form einer Frage an Sie richten.
Vorab eine kleine Bemerkung: Ich bedanke mich zunächst einmal ausdrücklich dafür, dass Sie der Meinung
sind, dass ich zu jung sei, um mich an die Debatten der
90er-Jahre zu erinnern. Das ist zu viel des Charmes und
das bin ich von Ihnen, Herr Minister, an dieser Stelle gar
nicht gewöhnt. Es ist wirklich enorm, was Druck alles
bewegen kann.
({0})
Jetzt komme ich zu der Frage, die ich angemeldet
hatte. Sie konnten es nicht sehen, weil Sie in diesem Moment in die andere Richtung geguckt haben. Herr Minister, Sie haben eine Rede gehalten, in der vieles enthalten
ist, dem man zustimmen kann, in der aber auch vieles
enthalten ist, dem man überhaupt nicht zustimmen kann.
Hier meine ich vor allem die Lagebeurteilung und die
politischen Konsequenzen. Wozu Sie in der gesamten
Rede nichts gesagt haben, ist: Sind Sie jetzt für die Aufhebung des Waffenembargos oder sind Sie dagegen?
({1})
Ich möchte diese Klarstellung einfach nur aus dem
Grunde haben, damit ich denen, die in zehn Jahren in der
Opposition sind,
({2})
sagen kann: Ihr seid zu jung, um euch daran erinnern zu
können.
„Der Kanzler weiß, dass ich hier eine skeptischere
Haltung habe …“ Das haben Sie in der letzten Woche in
einem bemerkenswerten Interview in der „Zeit“ gesagt.
Was meinen Sie damit, wenn Sie davon sprechen, dass
Sie beim Thema Waffenembargo eine skeptischere Haltung haben als der Bundeskanzler? Können Sie uns das
einmal sagen, damit wir wissen, dass diese Regierung
geschlossen ist - auch wenn das nicht immer eine Beruhigung ist?
({3})
Erstens. Jede Antwort, die ich Ihnen jetzt gebe, wird
selbstverständlich für Sie nicht zureichend sein. Das
wollte ich als Vorbemerkung sagen.
({0})
- Sehen Sie: Der Satz ist noch nicht zu Ende und schon
zeigt die Reaktion, wie Recht ich habe.
Zweitens. Das mit dem Druck sollten Sie sich merken. Diese Erfahrung kann ich als Älterer weitergeben
und Sie haben ja im Moment auch einiges um die Ohren weniger als ich, aber doch einiges.
({1})
- Bitte.
({2})
- Sie sehen: Schon wieder Gefahr im Verzug, Kollege
Gerhardt. Fürchten Sie für sich?
({3})
Ich komme zu meiner dritten Bemerkung und jetzt
bin ich ernsthaft. Ich will Ihre Frage so gut beantworten,
wie ich das kann.
({4})
- Das ist keine Gretchenfrage. Ich habe als Außenminister den Auftrag, daran zu arbeiten, dass es einen Konsens
zur Aufhebung des Waffenembargos gibt. Das ist der
Auftrag, den wir haben.
({5})
Das will ich realisieren. Aber ich weiß, dass wir diesen
Konsens nicht schaffen können, wenn wir in den Bereichen, die ich genannt habe, keine Fortschritte erzielen. Insofern kommt das meiner eigenen Position sehr entgegen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende der CDU/
CSU, Angela Merkel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst einmal zur Aufklärung, wo der Bundeskanzler ist: Er ist
nicht „bei den Kirchen“, sondern beim argentinischen
Staatspräsidenten Kirchner.
({0})
Das ist ein kleiner Unterschied. So ist es jedenfalls uns
übermittelt worden. Von unserer Seite gilt er als entschuldigt.
({1})
Meine Damen und Herren, nun zum Debattengegenstand. Wir diskutieren heute über eine Frage, mit der wir
uns in den nächsten Jahren sicherlich noch häufiger beschäftigen werden: ob das Waffenembargo gegen China
aufgehoben werden sollte oder nicht. Dabei geht es um
außenpolitische Fragen insgesamt.
Ich muss sagen: Wir debattieren dieses Thema erstens
und vor allem vor dem Hintergrund, dass die Sicherung
von Stabilität, Freiheit und Menschenrechten auch in
geographisch weit entfernten Regionen heute essenziell
für unser eigenes Wohlergehen geworden ist.
({2})
Die eine Welt, die lange Zeit nur in sehr theoretischen
Diskussionen ein Thema war, ist heute Wirklichkeit geworden. Durch die Globalisierung müssen wir uns mit
den damit zusammenhängenden Fragen sehr intensiv beschäftigen.
Zweitens diskutieren wir darüber auch deshalb, weil
sich die Welt und die wirtschaftlichen Gewichte verändern. Der asiatische Raum, insbesondere China, ist ein
Bereich großer Dynamik. Zudem verändern sich auch
die politischen Situationen; das ist überhaupt keine
Frage.
Drittens sind wir zu einer solchen Debatte genötigt,
weil wir feststellen müssen, dass die Bundesregierung
zunehmend weniger in der Lage ist, eine konsistente und
auf nachvollziehbaren Werten begründete Außenpolitik
durchzusetzen. Das sind die Gegenstände der heutigen
Debatte.
({3})
Ich glaube, wir sind uns einig, dass eine konsistente
Außenpolitik immer mit einer ganz nüchternen Bestandsaufnahme beginnen sollte. Heute ist bereits oft gesagt worden - ich will das wiederholen -, dass sich seit
1989 einiges getan hat. Neben den wirtschaftlichen Entwicklungen gibt es Ansätze politischer Reformen auch
in China. China ist ein wichtiger Sicherheitspartner in
der Welt. Peking ist zum Beispiel bei der Lösung der
Nordkoreafrage unverzichtbar.
({4})
China spielt als ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat
eine entscheidende Rolle, auch im Blick auf die Reformierung der UNO. Hinzu kommt, dass die ökonomische
Entwicklung Chinas außerordentlich dynamisch ist, dass
China ein wichtiger Handelspartner ist und dass daraus
große Chancen erwachsen. In diesen Punkten gibt es in
diesem Hause keine Unterschiede.
Diese Entwicklungen erkenne ich an. Wir alle haben
Interesse daran - das will ich ausdrücklich sagen -,
China immer stärker in die internationalen Institutionen
und ihre Regelwerke einzubinden. Deshalb teile ich die
Meinung der Bundesregierung, die - übrigens in großer
politischer Kontinuität zu früheren Bundesregierungen sagt: Wir brauchen eine strategische Partnerschaft mit
China. Bundeskanzler Schröder hat uns den Gefallen getan, ein Zitat von Bundeskanzler Kohl anzuführen. Allerdings hat er das Zitat an genau der Stelle abgebrochen, an
der es etwas unsicher wurde. Denn Bundeskanzler Kohl
hat, nachdem er die Bedeutung dieser strategischen Partnerschaft in der entsprechenden Debatte des Jahres 1995
angesprochen hat, hinzugefügt:
Es geht überhaupt nicht um eine Militarisierung unserer Beziehungen. Es geht in keiner Weise um
Rüstungs- oder Waffenhilfe.
Ich finde, es gehört zur Vollständigkeit des Zitats, auch
das zu erwähnen.
({5})
Der Europäische Rat hat dann - das hat die Bundesregierung richtig dargestellt - in Aussicht gestellt, das 1989
ausgesprochene Embargo kontinuierlich im Lichte entsprechender Fortschritte zu überprüfen. Genau in dieser
Kontinuität verstehen sich auch die letzten Beschlüsse
des Europäischen Rates. Deshalb, glaube ich, müsste
man doch Folgendes erwarten können - das hat aber
heute weder der Bundesaußenminister noch der Bundeskanzler gemacht -: dass man einfach einmal überprüft,
ob die Bedingungen für die Aufhebung des Waffenembargos gegeben sind oder nicht.
({6})
Dazu gibt es doch Beschlüsse, einen aus dem Dezember 2003 und einen vom letzten Herbst zu einem Antrag
der Koalitionsfraktionen.
({7})
Wir möchten einfach wissen: Stehen Sie zu diesen Beschlüssen oder nicht?
Sie haben die Aufhebung immer an sehr klare, nachvollziehbare Bedingungen geknüpft: erstens an konkrete Schritte Chinas in den Menschenrechts- und Minderheitsfragen. So haben Sie die Aufhebung immer auch
daran geknüpft - Herr Bundesaußenminister Fischer hat
das heute andeutungsweise gesagt -, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert wird; unter anderem, nicht ausschließlich. Sie haben von China zweitens einen substanziellen Beitrag zur
Entschärfung des Taiwankonflikts erwartet und Sie haben drittens die Einigung auf einen rechtlich verbindlichen EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren gewollt.
Das waren die Bedingungen. Nun sind Sie bei allen drei
Punkten „dran“, wie Sie gerade gesagt haben. Offensichtlich kann dieses „Dransein“ aber lange dauern.
({8})
Die Frage, die wir heute gerne von Ihnen beantwortet
haben wollten, war ja nicht, ob man das Waffenembargo
gegen China vielleicht irgendwann aufheben kann - da
sagen wir in diesem Hause wohl alle: das könnte sein,
das schließt niemand aus -; die Frage ist, ob Sie die Position vertreten, dass es jetzt aufgehoben werden kann.
Oder vertreten Sie die Position, dass es jetzt noch nicht
aufgehoben werden kann?
({9})
Diese Frage muss sich doch daran ausrichten, ob das,
was Sie sich selbst als Bedingungen gestellt haben, nun
als erfüllt gilt. Da muss ich ganz einfach sagen: Ich kann
das nicht erkennen. Ich kann vielleicht erkennen, dass
Schritte in die richtige Richtung da sind, aber ich kann
überhaupt nicht erkennen, dass diese Bedingungen erfüllt sind.
({10})
Oder aber Sie müssen uns mitteilen: Es gibt neue Einsichten, aus denen heraus Sie von den bisher gestellten Bedingungen abweichen. Dann müssen wir uns fragen - das
will ich hier gerne tun, weil es von der Koalitionsseite
nicht gemacht wurde -: Gibt es im deutschen Interesse
vielleicht Gründe, einen ganz anderen Weg einzuschlagen? Ich persönlich bin der Überzeugung - ich hoffe, Sie
sind es auch -, dass sich die Leitlinien der deutschen
Chinapolitik nicht über Nacht verändert haben. Deshalb
muss man noch einmal an vier Punkten festmachen, was
diese Leitlinien sind:
Erstens. Wir haben ein vitales Interesse an der Sicherheit und Stabilität in Ostasien. China hat einen großen
Rüstungshaushalt; keine Frage. Es ist nicht klar, ob
China auf Dauer eine rein defensive Militärstrategie verfolgen oder ob es offensiver vorgehen wird. Der Bundeskanzler hat im Dezember 2003 bei seinem Staatsbesuch
in China vom Waffenembargo als einem Relikt des Kalten Krieges gesprochen. Meine Damen und Herren, ich
rate uns allen trotz der ganz offensichtlich veränderten
Situation in Asien: Wir sollten die Situation, die wir dort
heute vorfinden, nun wirklich nicht mit der Europas
nach dem Kalten Krieg vergleichen.
({11})
In Europa ist der Siegeszug der Freiheit - und damit
auch die deutsche Einheit - in einer Art und Weise möglich geworden, die man nun wirklich nicht eins zu eins
auf die Region in Asien übertragen sollte; ich zumindest
kann davor nur warnen.
({12})
- Wer mit Blick auf das Waffenembargo von einem „Relikt des Kalten Krieges“ spricht, überträgt die Denkmodelle, die wir in Europa angewandt haben, auf die Region, zu der auch China gehört. Das lehne ich ab.
Der japanische Ministerpräsident Koizumi hat sich
anlässlich des Besuchs von Präsident Chirac sehr besorgt
über die Pläne der Europäischen Union geäußert. Wir
müssen uns an dieser Stelle fragen: Nehmen wir diese
Sorgen ernst - das gebietet der Respekt - oder nehmen
wir sie nicht ernst? Früher, als Sie in der Opposition waren, hat Herr Erler Bundeskanzler Kohl zum Beispiel zugerufen, dass er mit der Sensibilität eines hospitalisierten
Nilpferds mit den Sorgen der Region umgeht.
({13})
Meine Damen und Herren, ich würde mich zu solchen
Vergleichen gar nicht in der Lage sehen. Aber ich rate
uns, Japans Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen, wenn
wir zu einer friedlichen Entwicklung, zu einer guten Entwicklung kommen wollen.
({14})
Zweitens. Wir brauchen einen glaubwürdigen Einsatz
für Freiheit und Menschenrechte. Es wird häufig argumentiert, Moral und Interesse stünden in der Außenpolitik in einem Gegensatz.
({15})
Ich glaube, wir selbst haben in Deutschland die wesentliche Erfahrung gemacht, dass es immer auch ein
fundamentaler Sicherheitsfaktor ist, Menschen- und
Bürgerrechte zu gewähren. Wenn man das nicht tut,
kann man jederzeit in eine mögliche explosive Entwicklung geraten. Das müssen wir verhindern. Deshalb müssen wir uns aus Sicherheitsinteressen für die Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen. Das ist der
Zusammenhang, den wir nie aufgeben dürfen.
({16})
In dem von uns geführten Dialog über Sicherheitsund Menschenrechtsfragen, den ich ausdrücklich unterstütze, müssen wir die Betroffenen ernst nehmen. Ein
Studentenführer bei den damaligen Vorgängen auf dem
Platz des Himmlischen Friedens hat ganz klar gesagt:
Ich kann nicht erkennen, wie der Verkauf von modernen
Waffen aus Europa dazu beitragen kann, den Menschen
in China mehr Freiheit zu bringen. Genau über diesen
Punkt müssen wir uns hier auseinander setzen. Der Bundeskanzler hat in seinem Interview in der „Zeit“, in dem
er auch die große Rolle des Parlaments gewürdigt bzw.
nicht gewürdigt hat, die Aufhebung des Waffenembargos damit begründet, dass man so Einfluss auf die Demokratisierung der Gesellschaft in China nehmen
könnte. Genau das bezweifeln wir; genau das halten wir
für falsch. Das muss hier festgestellt werden.
({17})
Herr Bundesaußenminister, auch wenn Sie sich gerne
drücken wollen,
({18})
müssen Sie schon sagen, ob Sie die Aufhebung des Waffenembargos für ein geeignetes Mittel halten, Einfluss
auf die Demokratisierung in China zu nehmen. Was bisher im Menschenrechtsdialog erreicht wurde, wurde
ohne diesen Schritt erreicht. Im Übrigen glaube ich, dass
eine gefestigte, klare und wertebegründete Position viel
mehr Eindruck auf die chinesische Gesellschaft und die
chinesische Regierung macht
({19})
als das Prinzip Hoffnung nach dem Motto: Wenn wir
euch etwas zugestehen, könnte es ja vielleicht sein, dass
ihr euch in bestimmten Fragen bewegt. Das halte ich für
falsch.
({20})
Drittens. Daneben stellt sich natürlich die Frage, wie
Europa Achtung und Anerkennung gewinnt. Gewinnt
Europa Achtung und Anerkennung, wenn es diesen Weg
zerstritten geht und wenn jede Regierung in Europa etwas anderes sagt, oder gewinnt Europa Achtung und Anerkennung, wenn es die gemeinsam gefassten RatsbeDr. Angela Merkel
schlüsse irgendwann auch gemeinsam beurteilt? Dann
sollte es eines Tages auch möglich sein, sie gemeinsam
zu verändern. Aber all das geschieht nicht.
({21})
- Sie sind skeptischer, der Bundeskanzler ist dafür. Der
eine glaubt, die Gesellschaft in China verändern zu können, der andere glaubt, es sei besser, Waffen zu liefern.
Im Übrigen: Der Bundeskanzler hat uns heute gesagt,
er wisse nicht, was die französische Regierung will. Lesen Sie die Worte der französischen Verteidigungsministerin nach!
({22})
Die französische Verteidigungsministerin sagt: Wir wollen Waffen nach China liefern, weil wir glauben, dass
die Chinesen die Technologie nicht erlernen, wenn wir
sie liefern, was immer noch besser ist, als wenn sie die
Technologie selbst entwickeln.
({23})
Das muss man sich bei allem Respekt vor der französischen Regierung einmal überlegen, einerseits im Hinblick auf das Selbstverständnis der Rolle, die man den
Chinesen zutraut, und andererseits im Hinblick auf die
Frage, was mit diesen Waffen passieren kann.
({24})
Ich sage: Wir brauchen einen kraftvollen europäischen Dialog. Damit kommen wir wieder zu einer interessanten Frage. Nach meiner festen Auffassung kann
dieser kraftvolle europäische Dialog nur stattfinden,
wenn sich die westliche Welt an dieser Stelle einig ist
und wenn Japan und vor allen Dingen die Vereinigten
Staaten von Amerika eingebunden sind.
Herr Bundesaußenminister - oder besser: Herr
Bundesverteidigungsminister, falls er noch da ist -, nun
erinnere ich mich daran, dass auf der Münchener
Sicherheitskonferenz eine bedeutende Rede des Bundeskanzlers verlesen wurde.
({25})
Es wurde darüber gesprochen, dass man möchte, dass
die NATO ihre neue Rolle im 21. Jahrhundert findet. Ich
stimme hier mit dem Bundesverteidigungsminister und
General Kujat überein: Es wäre doch am besten, wenn
man der NATO eine neue politische Rolle geben möchte,
Fragen dieser Art nicht bei Staatsbesuchen in China oder
in der „Zeit“ anzusprechen,
({26})
sondern in der NATO selbst, in dem politischen Bündnis,
in dem solche Fragen auch zuerst diskutiert werden müssen.
({27})
Deshalb glaube ich, dass der Menschenrechtsdialog und
unser westliches Auftreten in der Frage, wie wir unsere
Werte auch in China plausibel machen können, nicht dafür sprechen, jetzt voreilig und zerstritten aufzutreten
und zu sagen, was man in Bezug auf das Waffenembargo
gerade denkt.
Viertens zu den wirtschaftlichen Interessen unseres
Landes. Auch da kann ich nur sagen: Aufgrund der Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen spricht
nichts, aber auch gar nichts dafür, dass ein vorschnelles
Festlegen auf die Aufhebung des Waffenembargos mit
unserem wirtschaftlichen Interesse in irgendeiner Weise
positiv in Zusammenhang steht. Die Wirtschaftsbeziehungen sind gut und entwickeln sich prächtig. Die einzige Gefahr, die Sie eingehen, wenn Sie immer wieder
betonen, dass Deutschland sowieso keine Waffen nach
China liefern will, sehe ich in der transatlantischen Rüstungskooperation. Die Amerikaner werden sich nämlich
sehr wohl überlegen, wie viele gemeinsame strategische
Projekte sie mit Europa angehen, wenn Europa nicht
willens ist, eine abgestimmte Haltung zum Waffenembargo gegenüber China zu finden.
({28})
Wir wollen, dass sich China vernünftig entwickelt.
Wir wollen herausragende deutsch-chinesische Beziehungen. Aber wir wollen eine Außenpolitik, die sich auf
Werte gründet und die diese Wertediskussion in der aktuellen Umsetzung jedes Schrittes für die Menschen
auch wirklich nachvollziehbar einbezieht.
({29})
Angesichts dessen, was wir heute von der Bundesregierung gehört haben, besteht völlige Unklarheit darüber,
was der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister
mit dem Spagat erreichen wollen, einerseits die bestehenden Beschlüsse zu akzeptieren und für sie zu werben,
aber andererseits schon jetzt von der Aufhebung des
Waffenembargos zu sprechen. Sie haben sich nicht dazu
durchringen können - und das ist das eigentlich Bedauerliche -, den heutigen Zustand in der Volksrepublik
China zu benennen und zu sagen, ob das reicht, um das
Waffenembargo aufzuheben, oder nicht. Wir sagen: Dafür reicht die jetzige Situation nicht. Damit bekommen
die Bürgerinnen und Bürger wenigstens von der Unionsfraktion eine klare Antwort.
Herzlichen Dank.
({30})
Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen von der
SPD-Fraktion.
Frau Kollegin Merkel, was wäre gewesen, wenn Sie
1995 eine vergleichbar werteorientierte Rede in Ihrer
Fraktion oder im Kabinett gehalten hätten, als der damalige Bundeskanzler zu denen gereist ist, deren Hände
Gert Weisskirchen ({0})
noch von Blut trieften, das vom Massaker auf dem
Tiananmen herrührte?
({1})
Ich wäre im Kabinett gerne Mäuschen gewesen.
({2})
Ich kann mich aber kaum daran erinnern, dass Sie sich
dazu in irgendeiner Weise kritisch geäußert hätten.
({3})
- Herr Gerhardt, Sie waren damals Vorsitzender der
FDP. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie auch nur
eine einzige kritische Bemerkung gemacht haben. Stattdessen hat Herr Haussmann eine Rede ausschließlich
zum Thema der ökonomischen Kooperation gehalten.
({4})
Lieber Kollege Dr. Schäuble, Sie waren damals Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Ich finde es wunderbar - das ist auch berechtigt -, dass
Sie Werteorientierung einfordern. Aber ich bitte Sie:
Bleiben Sie redlich!
({5})
Ich fände es ganz gut, sich, wenn man über Werte redet,
einmal selbstkritisch Gedanken darüber zu machen, was
Werteorientierung bedeutet, etwa in der Frage des Irakkrieges.
({6})
Wie verhalten wir uns in der Frage der Werteorientierung gegenüber unserem interessantesten und wichtigsten Bündnispartner, den USA? Die USA haben Mitte der
90er-Jahre Waffen im Wert von 32 Millionen Dollar
nach China geliefert. Für mehr als 360 Millionen Dollar
wurden im Jahr 2003 Waffen an Taiwan verkauft.
Liebe Frau Kollegin Fraktions- und Parteivorsitzende,
vielleicht sollten Sie noch einmal darüber nachdenken,
wenn Sie sich in Bezug auf den Begriff „Relikt des Kalten Krieges“, wie es der Bundeskanzler in China genannt
hat, kritisch äußern. Schauen Sie sich doch die Spannungen in dieser Region an.
({7})
Schauen Sie sich an, wie sich Japan und China gegenseitig in nationalistischer Weise anfeinden, Stichwort:
Schulbücher. Schauen Sie sich den fast autonomen Rüstungswettlauf in dieser Region an. Erinnert das nicht an
unsere Erfahrungen im Kalten Krieg?
({8})
Sollten wir deshalb nicht alles dafür tun, dass sich Abrüstungsprozesse in jener Region durchsetzen? Das ist
einer der zentralen Punkte.
({9})
Herr Kollege Weisskirchen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röttgen?
Herr Präsident, gerne.
Bitte schön, Herr Röttgen.
Herr Kollege Weisskirchen, ich möchte Ihnen eine
Zwischenfrage zu einem Redeauszug aus der Debatte
vom 23. November 1995 stellen. Ich zitiere den Redner:
Denken Sie vielleicht auch einmal darüber nach,
welche Ängste vor China im südostasiatischen
Raum vorhanden sind. Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, welche Sorgen in Japan, welche
Sorgen überall in der Region gegenüber China bestehen? Es kommt darauf an, in der westlichen
Staatengemeinschaft eine abgestimmte Strategie zu
entwickeln, wie China in eine Allianz der Sicherheitspartnerschaften in Asien eingebunden werden
kann. Das wäre der entscheidende Punkt. Aber wo
bleibt Ihre Rückkoppelung mit den USA? Wo bleibt
Ihre Rückkoppelung mit der Europäischen Union?
Was Sie gemacht haben, war Politik auf eigene
Faust. Alleingänge und Sonderwege, Herr Bundeskanzler, sind für Deutschland allemal schlecht.
({0})
Meine Frage, Herr Kollege: Können Sie bestätigen,
dass der Redner Gert Weisskirchen war?
({1})
Das Argument bleibt aber, wie Sie sehen, immer noch
richtig.
({0})
Das, Herr Kollege Röttgen, ist der zentrale Punkt. Die
Europäische Union hat - das hat Frau Kollegin Merkel
bestätigt - seit 1993, also während Ihrer Regierungszeit,
überlegt, wie sie aus dem Dilemma, das sie selbst geschaffen hat, wieder herauskommt.
({1})
- Selbstverständlich. Da haben Sie aber ein kurzes Gedächtnis. Darüber hat es innerhalb der Europäischen
Union schon eine lange Debatte gegeben. Ich nenne
Ihnen den Schlüssel, mit dem wir aus dem Dilemma
herauskommen.
({2})
- Ja, in der Tendenz stimmt das leider immer noch.
Gert Weisskirchen ({3})
Hören Sie einmal, was der Europäische Rat am 16./
17. Dezember beschlossen hat:
In dieser Hinsicht erinnert der Europäische Rat an
die Bedeutung der Kriterien des Verhaltenskodex
für Waffenausfuhren, insbesondere der Kriterien in
Bezug auf Menschenrechte, Stabilität und Sicherheit in der Region sowie die nationale Sicherheit
von befreundeten Ländern und Bündnispartnern.
Das ist der zentrale Schlüssel.
({4})
Wenn es uns auf der europäischen Ebene gelingt, den
Verhaltenskodex durchzusetzen - das war übrigens auch
der gemeinsame Beschluss des Deutschen Bundestages -, dann kann es gelingen, das Waffenembargo aufzuheben; denn dann haben wir einen verrechtlichten Prozess und dann ist es nicht mehr nötig, überhaupt Waffen
in der Form, in der es bislang geschieht, nach China zu
exportieren. Das ist der Schlüssel. Diesen Schlüssel in
die Hand zu nehmen, hat die Bundesregierung auf dem
Gipfel versprochen. Ich hoffe und wünsche, dass China
bereit ist, all die Bedingungen, die am 16. und
17. Dezember formuliert worden sind, so zu erfüllen,
dass das Waffenembargo aufgehoben werden kann.
Heute können wir diese Antwort noch nicht geben. Ich
hoffe, wir können im Juni erkennen, ob das möglich ist.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte für die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen klar zum Ausdruck bringen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht für eine Aufhebung des Waffenembargos gegenüber China sind.
({0})
Die Gründe dafür sind einfach; wir haben sie in dem
Parlamentsbeschluss des Bundestages vom Oktober vergangenen Jahres dargelegt: Um das Waffenembargo
aufheben zu können, muss es erstens ein klares europäisches Reglement geben, dass aus Europa keine Rüstungsgüter und Waffen nach China oder sonst wohin exportiert werden dürfen, wenn die betreffenden Staaten
nicht bestimmte Bedingungen erfüllen. Ein solches Regelwerk auf europäischer Ebene in einer verbindlichen
und nachprüfbaren Form existiert gegenwärtig noch
nicht. Es wird zwar darüber verhandelt, aber es hat noch
nicht in dem Maße verbindlichen Charakter, wie es sich
der Deutsche Bundestag gewünscht hat.
Zweitens ist es noch nicht zu einer Entspannung des
Konfliktherdes zwischen China und Taiwan gekommen. Das chinesische Gesetz hat in Bezug auf Taiwan
eher zu einer Verschärfung geführt.
Drittens sind keine substanziellen Verbesserungen
hinsichtlich der Menschenrechte erfolgt. Die Nichtratifizierung des Pakts über die politischen und bürgerlichen
Rechte, die Frage der Todesstrafe und der Umgang mit
Minderheiten zeigen, dass in den letzten Monaten bzw.
im letzten Jahr eher eine Verschärfung der Menschenrechtssituation in China stattgefunden hat als eine Entspannung.
({1})
Herr Kollege Kuhn, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Westerwelle?
Gerne.
Bitte schön, Herr Westerwelle.
Herr Kollege Kuhn, Sie haben Ihre Rede in einer bemerkenswerten Klarheit eröffnet. Sie haben eine Begründung gegeben, die in weiten Teilen mit unserer
übereinstimmt bzw. ihr ähnlich ist. Deswegen frage ich
Sie: Wird die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
dem Antrag der FDP und der CDU/CSU im Deutschen
Bundestag zustimmen?
Ich will gleich auf Ihre Frage antworten, Herr
Westerwelle, aber vorher noch ein Argument anführen.
Wir haben im Oktober deutlich gemacht, dass wir nur
unter den von mir wiederholten Bedingungen für eine
Aufhebung des Waffenembargos sind. Ihr Antrag enthält
gegenüber der Situation im Oktober nichts Neues. Neu
ist die Verschärfung der Situation im Zusammenhang
mit Taiwan; ansonsten ist die Situation unverändert. Insofern haben wir eine klare Position. Wir hoffen und setzen darauf, dass die europäische Diskussion über die
Aufhebung des Waffenembargos dazu führen wird, dass
die Aufhebung mit Konditionen verbunden ist und erst
dann erfolgt, wenn bestimmte Fortschritte hinsichtlich
der Menschenrechtslage und gegenüber Taiwan und
auch auf EU-Ebene in der Frage der Rüstungsexporte erreicht werden. Wir werden diese Position im Ausschuss
bekräftigen.
Unsere Fraktion rückt nicht von dem ab, was wir im
Oktober beschlossen haben. Ihr Antrag stellt keine Verstärkung des im Oktober gefassten Beschlusses dar, sondern lediglich eine terminliche Verkürzung.
({0})
Jetzt komme ich zu dem springenden Punkt. Der Bundeskanzler ist zwar leider nicht mehr anwesend - er
konnte nicht länger bleiben -, aber ich will es trotzdem
klar sagen: Wir wollen, dass das Waffenembargo nur
dann aufgehoben wird, wenn es wirklich substanzielle
Verbesserungen gibt.
Wir verstehen den europäischen Diskussionsprozess
so - Sie wissen, Herr Westerwelle, dass die Debatte in
gewisser Weise virtuell ist, weil das Embargo nur dann
aufgehoben werden kann, wenn in Europa Einstimmigkeit darüber besteht -, dass es dabei um die Frage geht,
welche Signale von der chinesischen Regierung kommen werden und müssen.
({1})
Deswegen sollte der Bundestag, wenn es nicht um eine
Vorführung einzelner Fraktionen geht, in klarer Entschlossenheit darauf drängen, dass aus China Signale
kommen dahin gehend, dass es zu substanziellen Veränderungen in der Menschenrechtsfrage kommt. In diesem
Fall kann das Waffenembargo aufgehoben werden, aber
nur dann.
({2})
Herr Kollege Kuhn!
Ich möchte jetzt meine Argumentation zu Ende führen.
Damit kommen wir zu der substanziellen Streitfrage
- auch mit dem Bundeskanzler -, um die es bei diesem
Thema geht; ich will nicht verhehlen, dass es unterschiedliche Auffassungen gibt.
Die Frage ist, was der Menschenrechtssituation in
China mehr nützt. Führt das Vorantreiben des wirtschaftlichen Prozesses zu einem Automatismus bei der
Verbesserung der Menschenrechtssituation?
Herr Schäuble und Frau Merkel, ich finde es interessant, dass Sie diese Position von Bundeskanzler
Schröder einst selbst vertreten haben. Als der Deutsche
Bundestag im Dezember 1992 die Sanktionen, die 1989
gemeinsam hier beschlossen worden waren, mit den
Stimmen der Regierungsfraktionen - damals CDU/CSU
und FDP - gegen die Stimmen der aus den Grünen und
der SPD bestehenden Opposition aufgehoben hat, haben
Sie diesen Beschluss folgendermaßen begründet:
Trotz aller Bemühungen der Führung der Kommunistischen Partei Chinas, die Reformen auf das
Wirtschaftssystem zu begrenzen, wird nach Auffassung des Deutschen Bundestags eine konsequente
Liberalisierung der Wirtschaft Chinas und eine stärkere Integration Chinas in die internationale Gemeinschaft innerchinesische Bestrebungen nach
mehr Rechtssicherheit und politischer Öffnung verstärken und auf Dauer zu politischen und gesellschaftlichen Reformen führen.
Sie haben damals also die Position eingenommen, die
Sie heute dem Kanzler vorwerfen. Diese bedeutet einfach formuliert: Eine wirtschaftliche Öffnung wird automatisch zu Verbesserungen auf politischer, rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Ebene führen. Deswegen
ist Ihr heutiger Vorwurf an den Bundeskanzler an dieser
Stelle nicht richtig.
Ich glaube aber, dass die These, die Kanzler Schröder
vorgetragen hat, falsch ist. China ist eine der letzten wenigen Einparteiendiktaturen auf der Welt. China hat zwar
seit 20 Jahren eine wirtschaftliche Öffnung vollzogen,
die zum Teil auch eine gesellschaftliche Öffnung war.
Aber China hat in dieser Zeit niemals wirklich eine
politische Öffnung vollzogen, die allein zu Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit sowie zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation führt. Das ist der
Kernpunkt, über den wir uns streiten. Aber Sie nehmen
eine falsche Position ein, weil Sie damals das Gleiche erzählt haben, wie wir heute gehört haben.
Ich sage Ihnen klar: Nur ein Signal für politische Reformen, Demokratie und Menschenrechtsreformen
kann das Problem lösen. Ich sehe das so: Der EU-Prozess muss zu einer Ratifizierung des Internationalen
Paktes über bürgerliche und politische Rechte und damit
zu Verbesserungen führen. Dann könnte man eine positive Diskussion führen, die etwas Konstruktives für die
Menschen in China bringt. Dafür werden die Grünen
eintreten. Wir gehen davon aus, dass die Bundesregierung diesen Prozess in der europäischen Diskussion verstärken und vertiefen wird.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5103 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit liegen
soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 j sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention
- Drucksache 15/5214 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Abfallverbringungsgesetzes sowie zur Auf-
lösung und Abwicklung der Anstalt Solidar-
fonds Abfallrückführung
- Drucksache 15/5243 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes
- Drucksache 15/5221 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes
sowie des Hochschulstatistikgesetzes
- Drucksache 15/5215 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-
lierung des Verwaltungszustellungsrechts
- Drucksache 15/5216 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei
- Drucksache 15/5217 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Haushaltsausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({4}) 805/2004 über
einen Europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen ({5})
- Drucksache 15/5222 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
15. November 2000 gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie zu den
Zusatzprotokollen gegen den Menschenhandel
und gegen die Schleusung von Migranten
- Drucksache 15/5150 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({7}), Hans-Michael Goldmann,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Belastungen für Nordhorn und Siegenburg
durch neue Nutzungsanordnung für die dortigen Luft-Boden-Schießplätze reduzieren
- Drucksache 15/5047 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({8})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
j) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2004
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 15/5005 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 4 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 15/5244 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der
Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen
- Drucksache 15/5220 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der Vereinten Nationen in Sudan
UNMIS ({11}) auf
Grundlage der Resolution 1590 ({12}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
24. März 2005
- Drucksache 15/5265 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5214 zu Tagesordnungspunkt 27 a soll zusätzlich an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Die
Vorlage auf Drucksache 15/5005 zu Tagesordnungspunkt 27 j soll nicht an den Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Unterschiedliche Forderungen aus der CDU
zur Zukunft des BAföG
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das
Wort.
({14})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die große BAföG-Expertin Merkel hat sich - auch Frau
Böhmer sehe ich im Moment nicht mehr - nach ihrem
Chinavortrag verabschiedet. Das ist eigentlich schade;
denn sie hat kürzlich eine bemerkenswerte Äußerung getan. Sie wurde in der Presse mit dem legendären Satz zitiert: „Niemand hat die Absicht, das BAföG abzuschaffen.“
({0})
- Das kam mir ebenfalls sehr bekannt vor, lieber Kollege
Röspel. - 1961 hat Ulbricht mit hoher Stimme gesagt:
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Ich
will zwar Frau Merkel nicht mit Herrn Ulbricht vergleichen; um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Aber die Halbwertszeit der Ankündigung von Herrn
Ulbricht, keine Mauer zu errichten, bis zum Mauerbau
betrug zwei Monate. Ich fürchte, die Halbwertszeit der
Ankündigung von Frau Merkel wird nicht ganz so lang
sein.
({1})
Frau Schavan ist in der Union offensichtlich nicht
ganz so allein wie Frau Merkel. Der niedersächsische
Wissenschaftsminister hat gesagt: Frau Schavan hat
Recht. In Baden-Württemberg hat Frau Schavan
Rückendeckung von dem dortigen Wissenschaftsminister Frankenberg bekommen. Frau Wanka, Vorsitzende
der Kultusministerkonferenz und Mitglied der CDUFraktion in Brandenburg, hat Frau Schavan Recht gegeben. Die Einzige, die Frau Schavan eigentlich nicht so
richtig Recht gegeben hat, ist Frau Merkel.
({2})
Nun kommen wir zu dem, was Frau Schavan - immerhin Stellvertreterin von Frau Merkel - gesagt hat. Sie
hat gesagt: Die Union wird im Jahre 2006 das BAföG
abschaffen; das ist ganz sicher.
({3})
Genau das ist das Thema der heutigen Aktuellen Stunde.
({4})
Die Konzepte der CDU liegen nun auf dem Tisch. Ich
bin eigentlich dankbar dafür, dass hier durch Frau
Schavan für Klarheit gesorgt worden ist.
({5})
- Na ja, ein paar Konzepte sind uns schon bekannt. Beispielsweise wurde heute von Herrn Laumann angekündigt, man solle den jungen Menschen die Ausbildungsvergütung wegnehmen.
({6})
Das war heute Morgen eine zentrale Aussage Ihres designierten Arbeitsministers. Wir alle, die wir hier saßen,
haben das gehört. Im Protokoll können Sie es nachlesen.
Sie haben aber nicht nur für die Auszubildenden eine
Überraschung parat, sondern auch für die Studierenden:
Sie wollen Studiengebühren einführen. Diese sollen
durch Bildungsdarlehen - möglicherweise in sechsstelliger Höhe - finanziert werden, das heißt durch Schulden,
die die jungen Menschen machen müssen. In Ihre Regierungszeit fiel die Entscheidung, das BAföG dahin gehend umzustellen, dass es als Darlehen gewährt wird.
Ein Rückgang der Zahl der Studierenden, insbesondere
in den Naturwissenschaften, war die Folge, lieber Kollege Bergner.
Sie haben angekündigt, für 2005 in Bezug auf BAföG
und Studiengebühren ein Gesamtkonzept vorzulegen.
Auch Sie haben nämlich erkannt, dass es relativ wenig
Sinn macht, Studiengebühren zu erheben und BAföG
über die Einnahmen aus den Studiengebühren zu finanzieren. Das ist in der Tat richtig. Herr Dräger hatte schon
für 2004 angekündigt, dass zu diesen Widersprüchlichkeiten Ihrerseits eine modellhafte Aufarbeitung erfolgt.
Das heißt: Sie sagen uns, wie Sie diesen Widerspruch lösen wollen. Mittlerweile ist dies für 2005 angekündigt
worden.
Ich bin mir fast sicher, dass auch das nicht der Fall
sein wird; denn mittlerweile haben Sie verkündet, dass
Sie sich zuvor mit den Arbeitgebern beraten wollen. Das
ist hochinteressant. Die Arbeitgeber haben nämlich nicht
gesagt: Niemand hat die Absicht, das BAföG abzuschaffen. Die Arbeitgeber, mit denen Sie jetzt in dieser Frage
verhandeln wollen, haben vielmehr gesagt: Wir wollen
nicht nur das BAföG abschaffen,
({7})
sondern auch das Kindergeld. Das eingesparte Kindergeld und das eingesparte BAföG sollen zusammengelegt
und den Studierenden gegeben werden, damit sie mit
diesem Geld künftig ihre Studiengebühren bezahlen
können. - Einen solchen Unfug können Sie mit den Arbeitgebern gern beraten. Ich sage Ihnen allerdings: Wir
werden dies mit den Arbeitgebern in dieser Form nicht
beraten.
({8})
Die Union will das BAföG im Jahr 2006 abschaffen.
({9})
Dazu sage ich in aller Klarheit: Mit unserer Mehrheit
werden wir dafür sorgen, dass das BAföG 2006 erhalten
bleibt.
({10})
Mit unserer Mehrheit werden wir dafür sorgen, dass Ihre
Angriffe auf die Ausbildungsvergütungen wirkungslos
bleiben. Mit unserer Mehrheit werden wir dafür sorgen,
dass es Ihnen nicht gelingen wird, jungen Menschen
Schulden in Höhe eines bis zu sechsstelligen Betrages
aufzubürden, damit sie ihre Bildung finanzieren können.
Das ist Ihr Weg. Dieser Weg ist unanständig. Es ist gut,
dass er klar aufgezeigt worden ist.
Wir haben eine eindeutige Alternative. Ihr Weg ist mit
uns nicht machbar. Ihr Weg wäre ein Verhängnis. Er
würde zu weniger Studierenden in unserem Land und zu
einem billigen Abkassieren bei den Studierenden und ihren Eltern führen. Das wollen wir nicht.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Katherina Reiche von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
künstliche Aufblasen und die gespielte Erregung, Herr
Tauss, sind wirklich unerträglich.
({0})
Noch etwas war unerträglich. Sie haben gestern eine Debatte, die viele Tausend Menschen in Berlin und darüber
hinaus bewegt hat, schlichtweg boykottiert. Sie haben
damit das Parlament missachtet.
({1})
Dass viele Menschen das, was Sie in Berlin vorhaben,
ablehnen, nämlich einen staatlichen Werteunterricht einzuführen, haben Sie ignoriert. Deshalb jetzt Ihre künstliche Aufregung über eine angeblich geplante Abschaffung des BAföG!
({2})
Das ist geheuchelt. Was Sie hier tun, ist reine Show. So
muss man die heutige Aktuelle Stunde bewerten.
({3})
Sie können sich rasch Klarheit über das verschaffen,
was die CDU will. Sie können es nachlesen in unserem
Parteitagsbeschluss. Die CDU befürwortet eine Kombination aus BAföG, Bildungssparen, Bildungsdarlehen
und Entgelten bei einkommensabhängiger Darlehensrückzahlung.
Anstatt sich mit der Situation der Studierenden in diesem Land auseinander zu setzen,
({4})
anstatt das zu tun, wofür Sie gewählt sind, nämlich Lösungen für die Studierenden anzubieten, flüchten Sie
sich in Scheindebatten. Die Hochschulen sind unterfinanziert. Ihnen fehlen 3 bis 4 Milliarden Euro jährlich,
davon 1 Milliarde Euro für die Lehre. Aber Sie tun das
Gegenteil von dem, was Sie tun müssten. Sie sparen
nämlich beim Hochschulbau massiv ein. Sie haben die
Hochschulbaumittel in den vergangenen Jahren von
1,1 Milliarden Euro auf 860 Millionen Euro gesenkt.
({5})
Wenn der Putz abbröckelt, wenn die Tutoren fehlen und
das Labormaterial dazu, dann brauchen wir keine Exzellenzinitiative. Die Betreuungsrelation ist dramatisch.
Auf einen Professor kommen circa 60 Studenten.
({6})
Jeder Vierte bricht sein Studium ab. Bis zum Abschluss
dauert es zwölf Semester.
({7})
Das BAföG ist momentan das einzige Angebot, das
die Studierenden nutzen können, um ihr Studium zu finanzieren.
({8})
Der Rückstand bei den Bedarfssätzen ist erheblich. Sie
haben schon 2003 versäumt, die erforderliche Anhebung
um 3 Prozent tatsächlich vorzunehmen, und tun das jetzt
wieder. Der Beirat für Ausbildungsförderung hat Ihnen
attestiert, dass Sie mit Ihrer BAföG-Politik das System
langsam aushöhlen. Da können Sie noch so viele Jubelmeldungen verkünden: Das ist die Wahrheit!
({9})
Trotz oder gerade wegen BAföG ist es nicht gelungen, bildungsferne Schichten in die Hochschulen zu
bringen. Nach wie vor kommen 61 Prozent der Studenten aus gehobenen oder höheren sozialen Schichten. Aus
dem mittleren und einfachen Milieu sind 27 Prozent
bzw. 12 Prozent an den Hochschulen. Unter Ihrer Regierung sind die Anteile der Studierenden aus bildungsfernen Schichten gesunken. Auch das gehört zu einer Wahrheit, die Sie nicht hören wollen!
({10})
Neun von zehn Studenten arbeiten während des Studiums, 42 Prozent davon permanent. Die langen Studienzeiten und die hohen Abbrecherquoten bei uns haben
sicherlich auch etwas damit zu tun, dass die Studenten
neben ihrem Studium zu viel jobben müssen. Das derzeitige BAföG-System gibt darauf und auch auf das große
Mittelstandsproblem, das wir in diesem Land haben,
keine umfassende Antwort.
({11})
Wir stehen in Deutschland vor der Aufgabe, die Studienfinanzierung auf ein neues, solides Fundament zu
stellen. Es geht nicht allein darum, die Studierenden an
die Hochschulen zu bringen, sondern vielmehr darum,
ihnen in angemessener Zeit einen erfolgreichen Abschluss zu ermöglichen. Für die Rendite eines Studiums
sind die Studienbeiträge als solche gar nicht entscheidend, sondern die hohen Lebenshaltungskosten und die
Verdienstausfälle während eines langen Studiums. Deshalb muss das BAföG weiterentwickelt und in ein Modell eingebaut werden, das die genannten Bestandteile,
nämlich Darlehen, Bildungskredite, Bildungssparen,
umfasst. Dazu habe ich von Ihnen noch keinen Vorschlag gehört.
({12})
Annette Schavan hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass Studienbeiträge und Studienfinanzierung zusammen gesehen werden müssen. Sie hat sogar betont, dass
das BAföG noch erhalten bleiben muss.
({13})
Was Sie, Herr Tauss, gesagt haben, ist schlichtweg nicht
wahr. Wie man behaupten kann, dass die Union nach einem Wahlsieg 2006 das BAföG abschaffen will, ist wohl
nur noch mit der letzten Verzweiflung zu erklären. Ihnen
fehlt in Nordrhein-Westfalen ein Thema, um den angekündigten Wahlsieg der Union noch abwenden zu können.
({14})
Sie klammern sich an einen Strohhalm.
Die Ankündigung der Erhebung von Studienbeiträgen
({15})
durch die unionsgeführten Länder hat nicht die Massen,
sondern nur ein Häuflein von linken Berufsprotestierern
auf die Straße getrieben.
Sie haben nach wie vor kein Konzept dafür, wie die
Studierenden ihr Studium finanzieren sollen. Sie verweigern sich jedem Gespräch mit der KfW.
({16})
Sie verweigern sich Gesprächen über die Zukunft des
BAföG.
({17})
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird
es in Deutschland in absehbarer Zeit wie fast überall in
der Welt Studienbeiträge geben. Die SPD-geführten
Länder werden trotz des Geschreis der Bundesbildungsministerin Bulmahn und der traurigen Tauss-Truppe, die
hier links von mir sitzt, mit von der Partie sein.
({18})
Das ist richtig; denn es geht nicht nur um die Finanzen,
es geht auch um die Qualität des Studiums in Deutschland.
({19})
Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel und RotGrün taucht ab. Sie hoffen, dass die Welt sich nicht weiter dreht. Sie hoffen, dass die derzeitige schlechte Stimmung, die in diesem Land herrscht, sich irgendwie verflüchtigen wird. Ich kann Ihnen aber sagen: Ihre
Weigerung, den Bund an Bildungskrediten zu beteiligen,
über Stipendien zu diskutieren, das Bildungssparen zu
fördern, ist unverantwortlich. Jeder Tag, den Sie abwarten und nichts tun, ist ein verlorener Tag für die jungen
Menschen in Deutschland. Das haben sie nicht verdient
und diese Regierung haben sie schon gar nicht verdient.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der CDU/CSU wird seit einigen Wochen darüber
gestritten, wie Studierende in Zukunft beim Bestreiten
ihres Lebensunterhalts staatlich unterstützt werden sollen. Die Bildungsministerinnen Schavan und Wanka
wollen das BAföG durch Kredite am freien Markt ablösen. Die Bundesvorsitzende Merkel hat versucht, die Debatte mit einem Satz von einmaliger Glaubhaftigkeit zu
beenden:
({0})
„Niemand hat die Absicht, das BAföG abzuschaffen.“
Da klingelt es doch in den Ohren und man kann es nicht
oft genug betonen.
({1})
Dass es zu Unionszeiten viel weniger Studierenden
möglich war, BAföG zu erhalten, zeigen die Zahlen.
Fakt ist, dass wir im Jahr 1998 von Schwarz-Gelb ein
heruntergewirtschaftetes BAföG übernommen haben.
({2})
1998 wurden nur noch 225 000 Studierende an Universitäten und Fachhochschulen gefördert.
({3})
Im Jahr 2003 dagegen erhielten bereits 326 000 Studierende BAföG; Tendenz steigend.
({4})
Diese erfreuliche Entwicklung ist zum einen eine Folge
der Leistungserweiterungen durch unsere Gesetze und
liegt zum anderen daran, dass durch die verbesserten Bedingungen mehr junge Leute ermutigt werden, ein Studium aufzunehmen. Das ist uns wichtig. Wir wissen,
dass die Haushaltslage schwierig ist, aber wir dürfen
nicht an Bildung sparen, weil sie der Schlüssel für eine
erfolgreiche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes ist.
Wir machen keine leeren Versprechen wie die Union.
({5})
Durch uns ist auch die Zahl der Vollförderungen erheblich gestiegen. 1998 erhielten nur 65 250 BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger Vollförderung, während es
2003 bereits fast doppelt so viele, nämlich 121 598, waren.
({6})
Das ist ein Anstieg des Anteils der Vollförderung für
Studierende von 29 auf mehr als 37 Prozent. Diese Tatsache trägt ganz entscheidend zur Chancengleichheit
von jungen Leuten aus finanziell schwächeren Familien
bei.
Zu den politischen Schwerpunkten der Union hat das
BAföG leider nie gehört. Fachfrauen wie Schavan und
Wanka ist immerhin zuzugestehen, dass sie ehrlich sind.
({7})
Die CDU und die CSU zeigen sich seit dem Verfassungsgerichtsurteil Ende Januar seltsam handlungsunfähig. Sie weisen mit dem andauernden Reden über den
Markt als Allheilmittel, durch den sich auch der Lebensunterhalt der Studierenden bald von allein attraktiv finanzieren lasse, in die Richtung weg von der solidarischen Unterstützung schlauer Köpfe hin zur Förderung
derjenigen, die für den Finanzmarkt als gutes Risiko gelten.
({8})
Die Union will die Studienfinanzierung offenbar ihrer
sozialen Komponente berauben. Studierende, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden, mögen künftig doch
bitte ihr Auskommen während des Studiums über Kredite finanzieren. Das dann durch die Nichtanwendung
des BAföG gesparte Geld brauche man nämlich, um die
soziale Abfederung der Studiengebühren zu bezahlen.
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben
die unionsgeführten Länder massive Probleme, ihre
Pläne für Studiengebühren in die politische Praxis umzusetzen.
({9})
Die soziale Abfederung wird einfach zu teuer. Wenn das
durch Gebühren eingenommene Geld an den Hochschulen verbleiben soll, müssen Stipendien und andere Beihilfen eben aus den Landeskassen berappt werden, die
bekanntermaßen leer sind.
Einige unionsgeführte Länder denken jetzt an
500 Euro Studiengebühren pro Semester und meinen,
dieser Betrag sei doch leicht aufzubringen. Aber Fachleute aus dem In- und Ausland warnen, weil sie aus Erfahrung wissen, dass es dabei nicht bleiben wird, sondern eine Steigerung auf jeden Fall kommt. Auch der
aktuelle Vorschlag zeigt, dass die Gebührenfantasien der
Union an harten Realitäten scheitern oder nur auf Kosten
derjenigen zu verwirklichen sind, die ohnehin im deutschen Bildungssystem benachteiligt werden:
({10})
Kinder aus großen und/oder einkommensschwachen Familien.
Mit uns - dabei bleibt es - wird es keine Refinanzierung von Studiengebühren in den Ländern über das
BAföG geben.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die
heutige Debatte einen Sinn haben soll, dann kann es
doch nur der sein, die Verunsicherung bei den Studierenden in diesem Lande zu beenden.
({0})
Deswegen gleich am Anfang eine sehr klare liberale
Antwort: Die Grundsicherung des Lebensunterhalts der
Studierenden wird von uns nicht infrage gestellt.
({1})
Sie ist lebensnotwendig. Wer wie wir Studienentgelte für
das Hochschulstudium will, darf den Lebensunterhalt
der Studierenden nicht gefährden. Also: Das BAföG
bleibt.
({2})
Damit ist die Haltung unserer Seite klar. Wir können uns
also in Ruhe mit dem BAföG und mit dem, was Sie während Ihrer Regierungszeit gemacht haben, befassen.
({3})
Wir sehen mit Freude, dass das Volumen der BAföGAusgaben - wohlgemerkt von Bund und Ländern - zwischen 1998 und 2003 auf über 2 Milliarden Euro verdoppelt wurde.
({4})
Auch die Zahl der Geförderten und insbesondere derjenigen mit Vollförderung ist erheblich angestiegen.
Manchmal ist es ja hilfreich, wenn man sich noch einmal
ansieht, was man selbst beschlossen hat:
Mit einer grundlegenden Reform der Ausbildungsförderung werden wir 1999 beginnen … Dazu werden wir unter anderem alle ausbildungsbezogenen
staatlichen Leistungen zusammenfassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, das war
ein Zitat aus Ihrer Koalitionsvereinbarung aus dem Jahre
1998.
({5})
Das war eigentlich eine sehr gute Idee, denn natürlich
ist es gut, alle staatlichen Leistungen in diesem Bereich
zusammenzulegen. Es ist gut, das Kindergeld, das Schüler-BaföG, Ausbildungszuschüsse, allgemeines BAföG
und weitere Sozialleistungen zusammenzufassen.
({6})
Wir verringern damit Bürokratie und sparen sehr viele
Transferverluste zwischen den verschiedenen Behörden.
Das war übrigens unsere Idee.
({7})
Das war der Vorschlag der FDP. Wir wollen das BAföG
im Bürgergeldmodell so erhalten, dass es den Leuten optimal zur Verfügung gestellt werden kann.
Im Koalitionsvertrag von 2002 haben Sie sich weiter
zum BAföG geäußert, allerdings schon wesentlich knapper:
({8})
Die Reform der Ausbildungsfinanzierung ({9})
und die Einführung von Bildungskrediten haben zu
einer Verbesserung der studentischen Lebenssituation geführt. Wir wollen diese Instrumente weiterentwickeln.
({10})
Ich frage mich nur: Wo ist das denn passiert?
({11})
Sie haben die Bedarfssätze einmal um 2 Prozent und einmal um 10 Prozent erhöht. Sie haben ein bisschen beim
Auslands-BAföG verändert.
({12})
Sie haben das Kindergeld von der Anrechnung freigestellt und das mögliche Gesamtdarlehen auf 10 000 Euro
beschränkt.
({13})
Das war’s, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das
wird mit Sicherheit bis zum Jahre 2006 alles gewesen
sein.
({14})
Ausbildungsförderung durch staatliche Transferleistungen muss aber kontinuierlich weiterentwickelt werden. Selbstverständlich ist das so. Schüler-BAföG,
Meister-BAföG, Auslands-BaföG - all dies kam im
Laufe der Jahre dazu. Es wäre doch völlig abwegig,
jetzt, während die Kollegen von der CDU/CSU darüber
nachdenken, welche Reformen man am BAföG-System
vornehmen könnte,
({15})
so zu tun, als wenn beim BAföG keine Reform nötig
wäre. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund dessen, dass wir uns im Augenblick über Weiterbildung Gedanken machen, lieber Herr Tauss. Selbstverständlich
müssen wir alle hier in diesem Raum uns darüber Gedanken machen, wie es sich mit dem BAföG in diesem
Bereich verhalten soll. Hierzu gibt es keine Antworten
von Ihnen, sondern reine Demagogie und Attacken gegen angebliche Aussagen der Schwarzen.
({16})
Ich glaube nicht, dass das für die Gesamtdiskussion in
diesem Lande hilfreich ist.
An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal sagen,
dass Sie sich nicht so künstlich darüber aufregen sollten,
wenn wir über Studienentgelte reden. Das, was Sie unter
der Ägide von Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen gemacht haben, war doch nichts anderes als Abzockerei.
({17})
Sie haben Studiengebühren von Langzeitstudenten erhoben.
({18})
- Sie haben erst einmal zwei Jahre kassiert. Jetzt geben
Sie die Hälfte zurück, aber Sie behalten dennoch einiges
ein und machen die Auszahlung an die Hochschulen von
der Erfüllung bestimmter Anforderungen abhängig. So
sieht die Situation doch aus. Das heißt, Sie haben abkassiert und das Geld kommt den Hochschulen nicht zugute.
({19})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn wir heute
über das BAföG reden, wissen wir, dass die Studienfinanzierung insgesamt von uns allen angegangen werden
muss. Wir haben in Deutschland nach wie vor kein zufrieden stellendes System. Diesen Vorwurf muss man
auch den unionsgeführten Ländern machen.
({20})
Wenn über Studienentgelte nachgedacht wird, müssen
Systeme auf den Weg gebracht werden, die sicherstellen,
dass die Studenten nicht abgeschreckt werden.
({21})
Das heißt - so viel zum Schluss -, für die FDP ist
sonnenklar, dass vor der Einführung von Studienentgelten zunächst für Stipendien und ein funktionierendes
Darlehensystem gesorgt werden muss. Die Finanzminister müssen ihre Finger herauslassen. Die Studenten müssen merken, was sie für ihr Geld bekommen. Wenn zum
Beispiel 500 Euro angesetzt würden, würde das für die
Uni Köln 50 Millionen Euro bedeuten. Ich wüsste schon,
was dort damit geschehen könnte. Sie, liebe Kollegen,
müssen es verantworten, wenn dieses Geld den Leuten
nicht unter sozial gerechten Umständen zur Verfügung
gestellt wird.
({22})
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was wir in der letzten Woche vonseiten der
CDU/CSU zum Thema BAföG erlebt haben, war zum
einen peinlich und chaotisch.
({0})
Aber zum anderen war es, wie ich finde, sehr entlarvend.
Es lohnt sich, da einmal ein bisschen genauer hinzuschauen.
Schauen wir uns einmal an, was der Reihe nach passiert ist. Zuerst sagt die Frau Schavan: Das BAföG bleibt
so lange erhalten, bis eine attraktive Bildungsfinanzierung gefunden worden ist. - Wie kann ich das interpretieren?
({1})
- Frau Reiche, vorhin habe ich gesagt, die CDU/CSU
habe sich in der letzten Woche peinlich und chaotisch
verhalten. Eigentlich wollte ich mir ersparen, zu sagen:
nur noch übertroffen durch Ihre Rede vorhin. Jetzt muss
ich das leider doch sagen.
({2})
Zwei Schlussfolgerungen, die nicht zu interpretieren
sind: Erstens. Wenn es heißt: „Das BAföG bleibt so
lange erhalten, bis …“, dann kann ich nur eine Schlussfolgerung ziehen, nämlich dass das BAföG zum Schluss
abgeschafft werden soll.
({3})
Ich weiß nicht, wie Frau Merkel da zu einer anderen Interpretation kommen kann.
Zweiter Punkt. Wenn Frau Schavan sagt, das BAföG
solle nur so lange erhalten bleiben, bis ein attraktiver
Markt der Bildungsfinanzierung gefunden worden sei,
was bedeutet das dann? Es bedeutet, dass sie auf jeden
Fall von einer Struktur der Bildungsfinanzierung wegwill, die auch Zuschüsse beinhaltet, die nicht nur auf
Krediten basiert.
({4})
- Doch, natürlich! - Wenn man mit Worten und Inhalten
einigermaßen vernünftig umgeht, muss man feststellen,
dass ein Markt der Bildungsfinanzierung keine sozialen
Transfers beinhaltet.
({5})
Das sind zwei Schlussfolgerungen, die Sie nicht leugnen können. Ich sage Ihnen: Eine Struktur der Bildungsfinanzierung, die ausschließlich auf Krediten basiert, ist
mit uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
nicht zu machen, weil das unserer Meinung nach der sozialen Gerechtigkeit zutiefst widerspricht.
({6})
Daraufhin ist in der CDU/CSU ein Stimmengewirr
entstanden. Bayern unterstützt Frau Schavan. Niedersachsen unterstützt sie zuerst auch, zieht sich aber dann
zurück. Der krönende Höhepunkt ist Frau Merkel. Frau
Merkel sagt: Niemand hat die Absicht, das BAföG abzuschaffen.
Zurück zu dem, was ich gerade zur Struktur der Bildungsfinanzierung gesagt habe. Wir akzeptieren ebenfalls nicht, dass gesagt wird, niemand wolle das BAföG
abschaffen, wenn es in der Struktur so verändert werden
soll, wie Sie das 1982 schon einmal gemacht haben, indem Sie keine Zuschüsse vorsehen, keine sozialen
Transfers, die für soziale Gerechtigkeit unerlässlich sind.
Sie sehen ausschließlich eine Kreditfinanzierung vor. In
diesem Fall kann ich auf die Worthülse BAföG ernsthaft
verzichten, um das ganz deutlich zu sagen.
({7})
Deshalb war das, was letzte Woche passiert ist, so entlarvend. Auf diese Worthülse allein können wir verzichten.
Ich kann hier nur alle Rednerinnen und Redner der
CDU/CSU, die nach mir reden, auffordern, uns nicht zu
sagen, sie wollten das BAföG nicht abschaffen. Stattdessen sollten sie hier Stellung dazu nehmen, welche Struktur der Bildungsfinanzierung sie vorsehen wollen. An
dieser Stelle wollen wir eine klare Kante. Ich bitte Sie
ernsthaft, nicht so feige zu sein, wie es in der letzten Woche der Fall war. Sagen Sie doch offen, dass es Ihr Konzept ist, ausschließlich mit Krediten zu arbeiten. Wir
hingegen wollen soziale Transfers und Unterstützung.
({8})
Das wäre eine klare Kante. Dann würde es sich lohnen,
mit Ihnen in eine Auseinandersetzung zu treten. Ihre feigen Pirouetten der letzten Woche waren wirklich unerträglich.
({9})
Ich sage ausdrücklich: Wenn Sie wollen - das zeichnet sich in Ihren Strukturdebatten zur Bildungsfinanzierung ab; diese Entwicklung erkennt man auch an den
Schulabschlüssen an den weiterführenden Schulen in
Bayern und Baden-Württemberg -, dass nur eine bestimmte Elite in diesem Bereich zugelassen werden soll,
dann reden Sie offen darüber.
({10})
Wir sagen Ihnen: Das ist keine vernünftige Lösung in
Bezug auf soziale Gerechtigkeit. Es ist auch ökonomisch
widersinnig. Denn jeder technologische Bericht der
Bundesregierung zeigt deutlich, dass wir auf mehr Menschen mit hohen Qualifikationen angewiesen sind, um
unsere Unternehmen in Zukunft wettbewerbsfähig zu
machen.
({11})
Ich appelliere an Sie: Hören Sie auf mit Ihrer Eierei!
Lassen Sie uns in eine ehrliche Auseinandersetzung treten!
({12})
Wir sind der Überzeugung, dass wir die besseren Konzepte haben. Wenn Sie nicht sagen, wofür Sie stehen,
können wir uns mit Ihnen noch nicht einmal über die
verschiedenen Konzepten auseinander setzen.
({13})
Eigentlich hat das Land eine bessere Opposition verdient.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Marion Seib von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde haben Sie sich, sehr geehrte Damen und Herren der rot-grünen Koalition, ein beeindruckend schlechtes Zeugnis ausgestellt.
({0})
Sie haben sich selbst ein schlechtes Zeugnis darüber ausgestellt, wie stümperhaft Sie die Politik Ihrer Mitbewerber beobachten. Ihnen ist komplett entgangen, dass wir
die Diskussion über das BAföG längst hinter uns haben.
Nicht die Abschaffung, sondern die Reform und die Ergänzung des BAföGs sind die Aufgaben der Zukunft.
({1})
Sie haben auch noch nicht gemerkt, dass der Erfolg
der BAföG-Förderung nicht in der Höhe der Fallzahlen
besteht. Diese hohen Zahlen weisen nur aus, dass immer
weniger Eltern in der Lage sind, aus eigener Kraft ein
Studium ihrer Kinder zu finanzieren.
({2})
Wenn der Verdienst der Eltern zu hoch für das BAföG,
aber zu niedrig für die Finanzierung eines Studiums ist,
dann zeigt das, dass Sie von Rot-Grün bis heute keine
Antwort auf die Probleme geben können.
({3})
Sie haben noch nicht gemerkt, dass es gerade die Kinder
aus Familien des Mittelstandes sind, die einer Förderung
bedürfen. Auch das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
({4})
Leider sorgen Sie mit Ihrer rot-grünen verkorksten
Wirtschafts- und Steuerpolitik dafür, dass der Anteil genau dieser Familien immer größer wird. Mit Ihrer Politik
verderben Sie den nachfolgenden Generationen aus leistungsbereiten Familien die Möglichkeit, durch eine akademische Bildung ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt
zu verbessern. Sie muten uns und den Bürgern zu, über
Selbstverständlichkeiten wie die Sicherung des Grundbedarfs der Studierenden zu debattieren, und dies unter
falschen Voraussetzungen.
Viel dringender sollten wir darüber reden, wie wir es
schaffen, möglichst noch mehr jungen Menschen aus
bürgerlichen Familien ein Studium finanziell zu ermöglichen.
({5})
Ihre Antwort ist, Angst zu verbreiten - Angst vor einer
Abschaffung der BAföG-Förderung. Was Sie mit Ihrer
Angstkampagne aber nicht können, ist, von Ihrem eigenen Versagen abzulenken.
({6})
Die Bürger - auch und gerade in Nordrhein-Westfalen durchschauen, wie platt Ihre Wahlkampfmanöver sind.
({7})
Sie wollen sich als Fördersaubermänner hinstellen;
aber Sie bleiben in wesentlichen Fragen moderner Studienfinanzierung die Antworten schuldig.
({8})
Sie haben noch nicht gemerkt, dass ihr antiquiertes Denken nicht tauglich ist für die Studienfinanzierung der
Zukunft. Ihr Denken führt zu nichts anderem als zum
Studienplatzabbau und zur Verdrängung von leistungsbereiten jungen Leuten aus den Hochschulen. Sie führen
hier eine Debatte über die Abfahrt eines Zuges und haben noch nicht gemerkt, dass der Zug längst angefahren
ist. Springen Sie auf!
({9})
Werden Sie ein bisschen schneller! Sie verpassen sonst
die Debatte um innovative Studienförderung. Die Frau
Kollegin Reiche hat Ihnen in ihrer Rede aufgezeigt, um
was es an dieser Stelle geht. Schade, dass Sie nicht zuhören.
({10})
Besten Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind uns alle einig, dass wir mehr Studierende wollen,
dass wir mehr Chancengleichheit wollen und dass wir
mehr Qualität in der Bildung wollen. Das sind die
Grundvoraussetzungen und deswegen müssen wir jedes
Instrument vor dem Hintergrund dieser Ziele betrachten.
Das will ich in meinem Beitrag tun.
Erstens will ich mich der Frage widmen, ob wir diesem Ziel in den letzten Jahren näher gekommen sind.
Wohl wissend, dass Zahlen allein natürlich noch keine
Auskunft geben, habe ich mir im Vorfeld dieser Debatte
einmal die für das BAföG relevanten Zahlen angeschaut.
Zunächst zur Gesamtzahl der Geförderten. Zwischen
1994 und 1998, als der Bildungs- und Forschungsminister - der Zukunftsminister - Rüttgers hieß, ist die Gesamtzahl der Geförderten um 27 Prozent zurückgegangen, nämlich von 467 000 auf 341 000. Wenn sich dieser
Trend fortgesetzt hätte, würden wir im Jahre 2005 bei
130 000 liegen. Stattdessen ist es aber so, dass unter RotGrün seit dem Regierungswechsel 1998 die Zahl der Geförderten um 48 Prozent gestiegen ist. Ich denke, das ist
ein relevanter Unterschied.
({0})
Die Zahl der voll Geförderten sank zwischen 1994
und 1998 um 20 Prozent, nämlich von 143 000 auf
114 000. Wenn sich dieser Trend fortgesetzt hätte, würden wir heute bei nur noch 60 000 voll Geförderten liegen. Tatsächlich liegen wir aber bei 235 000, weil die
Zahl zwischen 1998 und 2004 um 122 Prozent zugenommen hat.
({1})
Auch diesen Unterschied kann man, denke ich, klar herausarbeiten.
Kommen wir zur Finanzierung durch den Bund. Im
Zeitraum von 1994 bis 1998, als Rüttgers Bildungsminister war, sank der Beitrag des Bundes zur Finanzierung
der Ausbildungsförderung um 22 Prozent, nämlich von
1 Milliarde Euro auf 780 Millionen Euro. Wenn sich dieser Trend fortgesetzt hätte, wären wir heute im Jahre
2005 bei knapp 400 Millionen Euro. In dem Jahr also, in
dem sich Rüttgers anschickt, in Nordrhein-Westfalen
Ministerpräsident zu werden, wäre die Finanzierung
durch den Bund auf einem lächerlich niedrigen Niveau
gewesen. Tatsächlich aber haben wir diesen Betrag seit
1998 um 67 Prozent gesteigert, nämlich von
780 Millionen Euro auf 1,3 Milliarden Euro. Ich denke,
auch diese Zahlen sprechen für sich.
({2})
Zwischen 1994 und 1998 ist die Zahl der Studienanfänger in etwa konstant geblieben. Von 1998 bis heute ist
die Zahl von 260 000 auf knapp 350 000 gestiegen.
Das sind die Zahlen, mit denen wir uns dieser Debatte
stellen. Wir sehen das immer vor dem Hintergrund der
Forderung nach mehr Chancengleichheit, nach mehr
Studienanfängern und nach mehr Qualität. Ich denke,
dass die Antwort ganz eindeutig ist: Unter der Regierung
von SPD und Grünen wurden die Mittel für BAföG vom
Bund deutlich aufgestockt, die BAföG-Sätze wurden angehoben, es wurde eine höhere Inanspruchnahme durch
die Studierenden ermöglicht, es wurde - dadurch, dass
wir das Auslands-BAföG eingeführt haben - eine verstärkte Internationalität gefördert und insgesamt hat RotGrün das BAföG transparenter und einfacher gemacht.
Die Zahlen sprechen in der Tat eindeutig für sich.
({3})
Zweitens müssen wir, denke ich, aufpassen, dass der
Schuldenberg am Ende des Studiums für die Studierenden nicht zu erdrückend wird. Das würde nämlich faktisch bedeuten, dass wir diesen Leuten die Türen der
Hochschulen zuschlagen. Das wollen wir nicht; alle Seiten müssen bedenken, dass das nicht sein kann. Wenn
aber demnächst die Lebenshaltungskosten voll abgedeckt werden müssen und die Finanzierung des Studiums hinzukommt, dann würde der Schuldenberg so
stark ansteigen, dass er beängstigende Ausmaße annehmen würde. Das würde viele abschrecken und damit
ganz klar mit dem Ziel kollidieren, mehr Studierende an
unsere Universitäten zu bekommen.
({4})
Das wollen wir nicht. Wir wollen die Tür weiter aufreißen und sie nicht zustoßen. Das muss man ganz klar sagen.
Drittens dazu, wie sich die Förderung in Zukunft zusammensetzen muss. Richtig ist - das war immer unsere
Position; da hatten wir eine gewisse Übereinstimmung
mit der FDP -: Wir wollen, dass es eine einkommensunabhängige Grundfinanzierung gibt, weil wir die Studierenden als mündige junge Erwachsene und nicht als Abhängige behandeln wollen. Deswegen sind wir immer
der Meinung gewesen - wir sind dies nach wie vor -,
dass wir alle Transferleistungen zusammenfassen und
diesen Sockel als einkommensunabhängige Komponente
an die Studierenden weitergeben sollten.
({5})
Das ist der erste Teil des Konzeptes.
Der zweite Teil ist eine einkommensabhängige Förderung. Die ist ganz wichtig. Es ist eine Aufgabe des Staates, Chancengleichheit sicherzustellen. Wenn er das
nicht tut, wird er seiner Aufgabe nicht gerecht. Wir brauchen das BAföG weiterhin, um die Universitäten attraktiv zu gestalten. Wir werden darüber hinaus ein Element
der Eigenverantwortung einführen, zum Beispiel das
Bildungssparen und anderes, was ich hier nicht vertiefen
kann.
Wir sollten diese Debatte ruhig führen. Eines aber ist
klar: Es geht nicht, dass sich Herr Rüttgers, der die Bildungspolitik zwischen 1994 und 1998 - damals noch in
Bonn - heruntergewirtschaftet hat, jetzt anschickt, mit
Parolen pro Bildung die Wahlen zu gewinnen. Das wird
ihm nicht gelingen.
({6})
Dieses Thema werden wir immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Er hat bildungspolitisch versagt. Deswegen darf er in Nordrhein-Westfalen kein Ministerpräsident werden. Er wird es auch nicht.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Leider hat der Schluss des letzten Beitrags gezeigt, worum
es Ihnen eigentlich in dieser Aktuellen Stunde geht,
({0})
nämlich ausschließlich darum, einen Beitrag für den nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf zu leisten. Ihnen geht es in Wirklichkeit nicht um die Anliegen der
Studierenden. Ich muss sagen: Es ist schade, dass Sie
eine solche Aktuelle Stunde in dieser Form missbrauchen.
({1})
Um eines ganz klar vorauszuschicken:
({2})
Das BAföG hat sich als ein wichtiges Instrument bewährt, das den geeigneten Personen ein Studium ermöglicht. Dies hat auch die Bundesvorsitzende der CDU
Deutschlands, Frau Merkel, klar bekräftigt. Das ist die
Position der CDU/CSU.
Wir können feststellen - ich finde, man sollte die positiven Elemente betonen -, dass von den 2 Milliarden
Euro, die zurzeit für das BAföG ausgegeben werden,
65 Prozent vom Bund und 35 Prozent von allen Bundesländern getragen werden. Rund 300 000 Studierende bekommen zurzeit BAföG, davon ein Drittel eine Vollförderung.
Kommen wir zu den Problemen. In wenigen anderen
Ländern ist der Anteil der Studierenden aus sozial
schwachen Familien so gering wie in der BundesrepuThomas Rachel
blik Deutschland. Nach einer Auswertung des Studentenwerks ist der Anteil der Studierenden aus Familien
mit sozial hohem Niveau zwischen 1997 bis 2003 von
31 auf 37 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist der Anteil
der Studenten aus sozial schwachen Familien von 14 auf
12 Prozent gesunken.
({3})
Dafür trägt allein die rot-grüne Bundesregierung die Verantwortung. Denn sie regiert seit mehreren Jahren und
hat nichts dafür getan, Frau Bulmahn, um diesen Trend
ernsthaft umzukehren.
({4})
Bereits im Jahr 2003 hat diese Bundesregierung in ihrem vorletzten BAföG-Bericht angekündigt - das war
Ihre Ankündigung, Frau Ministerin -, die Einkommensfreibeträge und die Bedarfssätze zu erhöhen. Passiert ist
nichts.
({5})
Im aktuellen BAföG-Bericht, den die Regierung im Februar 2005 vorgelegt hat, wird erneut festgestellt, dass es
erforderlich sei, die BAföG-Freibeträge um 4,5 und die
BAföG-Bedarfssätze um 3,5 Prozent zu erhöhen. Wir
stellen fest: Es passiert wieder nichts.
({6})
Der Hintergrund für die Notwendigkeit der Bedarfserhöhungen besteht darin, dass sich die durchschnittlichen
Lebenshaltungskosten mittlerweile in der Größenordnung von 750 Euro befinden und insofern weit über dem
derzeitigen BAföG-Höchstsatz liegen. Eine Anpassung
der Fördersätze, die Sie als Ministerin in Ihren BAföGBerichten 2003 und 2005 selber gefordert haben, hat die
rot-grüne Bundesregierung bis heute nicht umgesetzt.
Das ist die nüchterne Realität der rot-grünen BAföG-Politik.
({7})
Notwendig wäre auch eine Erhöhung der BAföG-Vermögensfreibeträge. Das BAföG ist eine Sozialleistung,
bei deren Gewährung nur ein Vermögen von 5 200 Euro
erlaubt ist. Als das BAföG 1971 eingeführt wurde, durften die Auszubildenden noch einen Vermögensfreibetrag
von 20 000 DM, also von heute 10 000 Euro, haben. Dabei ist noch nicht einmal der Kaufkraftausgleich mitberücksichtigt. Hier ist dringend eine Anpassung erforderlich. Was tut die Regierung? Wieder nichts.
({8})
Frau Ministerin, statt zu handeln, schlagen Sie und
Ihre Helfershelfer in der Fraktion der SPD in unqualifizierter Weise auf die Opposition ein, die sich bemüht,
({9})
neue und zukunftsweisende Konzepte einer Studienfinanzierung aus einem Guss zu erarbeiten.
({10})
Dazu können selbstverständlich auch zusätzliche Angebote gehören wie zum Beispiel der Ausbau von staatlichen Stipendien, die abhängig von der Studienleistung
vergeben werden sollen. Auch Bildungskredite sowie
private Stiftungs- und Stipendieninitiativen gehören
dazu. Perspektivisch sind in meinen Augen auch elternunabhängige Konzepte diskussionswürdig.
Zu begrüßen ist an dieser Stelle der Vorschlag der
KfW, ein eigenes Kreditmodell als Ergänzung zum bestehenden BAföG anzubieten. Die KfW schlägt vor, dass
Studierende elternunabhängige Kredite bis zu 650 Euro
monatlich aufnehmen können, die marktüblich verzinst
werden. Die Rückzahlung soll nach dem Studium erfolgen, sofern ein entsprechendes berufliches Einkommen
vorhanden ist. Ich finde, es ist gut, dass die KfW eigene
Konzepte in diese Diskussion einbringt und der Bankensektor in dieser Frage endlich in Bewegung kommt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, den Verpflichtungen aus ihrem eigenen BAföG-Bericht endlich nachzukommen und sich außerdem zusätzlichen Wegen der
Bildungsfinanzierung zu öffnen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Bundesministerin Edelgard
Bulmahn.
({0})
Es ist so viel, wo das nötig wäre. - Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Das
unsägliche Hin und Her der CDU/CSU in den vergangenen Tagen und Wochen zur Studienfinanzierung und
auch zum BAföG wäre eigentlich ein köstliches Kabarettprogramm,
({0})
wenn es nicht so unverantwortlich gegenüber den jungen
Menschen wäre,
({1})
deren bestmögliche Qualifizierung wir alle und sie selbst
so dringend benötigen. Nach den sehr großspurigen Ankündigungen der CDU-Landesregierungen, sofort nach
dem Bundesverfassungsgerichtsurteil Studiengebühren
zu erheben - das haben ja die CDU-Landesregierungen
gesagt -, folgte die Einsicht, doch lieber sorgfältig zu
schauen, mit welchen Implikationen das verbunden sein
könnte.
({2})
Ein Dauerbrenner blieb dabei die unzählig oft wiederholte lautstarke Beteuerung, dass selbstverständlich Studienbeiträge, also Studiengebühren, sozialverträglich
ausgestaltet sein müssen. Das begann zunächst nebulös
als Leerformel und mauserte sich dann zu einem Widerspruch in sich, indem nämlich die soziale Abfederung
bei den Gebühren im Gewand erheblicher Darlehensbelastungen für die sozial Schwachen, die Studierenden
selbst und die einkommensschwachen Familien, daherkam.
({3})
Dieses mit der Studiengebührenfrage begonnene
Trauerspiel steigerte sich dann aufseiten der CDU/CSU
zu einem wirklich schrillen Konzert über die Frage einer
kompletten Abschaffung des BAföG,
({4})
nämlich des Zuschusses zum Lebensunterhalt der Studierenden. Hier taten sich besonders die CDU-Kolleginnen und -Kollegen aus Baden-Württemberg hervor. Ich
würde sagen: Frau Schavan ist ein Mensch, Herr Rachel.
({5})
- Wenn Sie sagen: „Kein Mensch“, stellen Sie das ja infrage. Frau Schavan ist ein Mensch.
({6})
Frau Wanka aus Brandenburg ist ein Mensch; Herr
Stratmann aus Niedersachsen ist ein Mensch.
({7})
Herr Dräger aus Hamburg ist ein Mensch.
({8})
Alle haben sie gefordert, dass das BAföG abgeschafft
und die Studienfinanzierung voll auf Kredite umgestellt
wird.
({9})
Das würde dazu führen, dass die Jugendlichen das Studium mit einem Schuldenberg von 60 000 bis
90 000 Euro - je nachdem, wie viel sie in Zukunft abzahlen müssten, 500 Euro oder 200 Euro pro Monat beenden würden. Dann kommen noch die Studiengebühren hinzu.
({10})
- Ich sage Ihnen ganz klar, Frau Flach: Auch wenn Herr
Glotz das für richtig halten würde, halten ich, meine
Fraktion, die SPD, und das Bündnis 90/Die Grünen dieses nicht für richtig.
({11})
Wir halten es für falsch, die junge Generation mit einem
derart riesigen Schuldenberg in das Berufsleben zu entlassen.
({12})
Das ist eine riesige Belastung, die ich als Bundesministerin nicht verantworten will und die weder die SPD
noch das Bündnis 90/Die Grünen mitmachen würden.
({13})
- Das ist keine Frage des Dürfens. Ich will es nicht, liebe
Frau Flach, und zwar aus voller Überzeugung.
Den vorläufigen Schlussakkord hat jüngst Frau Kollegin Merkel mit bangem Blick auf die bevorstehende
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gesetzt; das war
offenkundig. Offensichtlich hat die größte Landtagsfraktion Feuer gemacht, sodass sie sich genötigt sah, etwas
zu diesem Thema zu sagen. Jetzt erfährt die staunende
Öffentlichkeit, dass sie alles missverstanden hat
({14})
- Herr Rachel hat das eben noch einmal gesagt -,
({15})
dass das BAföG zwar bestehen bleibt, dass es irgendwie
aber doch durch Bankdarlehen ersetzt werden soll. Das
geht deutlich aus Ihren Anträgen hervor, Herr Rachel.
({16})
- Ja, wollen Sie uns denn wirklich für dumm verkaufen?
({17})
Vier Landesminister der CDU vertreten in diesem Punkt
eine ganz klare Position, die auch in Ihren Anträgen zu
lesen ist. Das ist noch gar nicht lange her, Herr Rachel.
({18})
Sie müssen gelegentlich auch einmal Ihre eigenen Anträge lesen.
({19})
- Eben, das gilt für Sie. Darauf komme ich gleich noch
zu sprechen.
({20})
Was geradezu lächerlich ist, ist, dass sich dazu ausgerechnet der ungeduldig mit den Hufen scharrende Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen äußert. Er mag ja
vielleicht in der Hoffnung leben, dass sich niemand
mehr daran erinnert, was er als Bundesminister für Bildung und Forschung von 1994 bis1998 getan hat
- Kollege Loske hat darauf hingewiesen -: Damals hat
er das BAföG, für das er die Verantwortung trug, wirklich in Grund und Boden gewirtschaftet.
({21})
Das hatte dramatische Folgen für die Jugendlichen und
war mit einem sehr starken Rückgang der Anzahl der
Studienanfänger verknüpft, besonders in den Fachbereichen, die wir dringend brauchen
({22})
und für die wir noch immer alles tun müssen, um diese
Folgen zu kompensieren. Er trug damals die Verantwortung für den Niedergang des BAföG.
Was viele anscheinend auch vergessen haben, ist, dass
er damals den ersten Entwurf eines 17. BAföG-Änderungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht hat, mit dem
er zu einer vollständigen Kreditfinanzierung des BAföG
übergehen wollte.
({23})
Herr Rüttgers, der jetzt sagt, er wolle das gegenwärtige
System erhalten, hat als Bundesbildungsminister in der
Legislaturperiode von 1994 bis 1998 einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, in dem er die vollständige Kreditfinanzierung des BAföG gefordert hat so viel zur Glaubwürdigkeit der Position, die Sie in der
heutigen Debatte geäußert haben.
({24})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen Sie sich
nichts vor: Wer ein solch falsches Spiel betreibt, wird
der verdienten Quittung nicht entgehen.
({25})
Daher will ich sowohl für die Bundesregierung als auch
für die Koalitionsfraktionen ganz deutlich sagen: Diejenigen, die die Studierenden durch Studiengebühren belasten - die Länder -, müssen auch dafür Sorge tragen,
dass es Stipendien gibt. Diejenigen, die die Studierenden
belasten, müssen sie auch entlasten. Das ist der erste
Punkt.
({26})
Der zweite Punkt: Ich sage hier im Bundestag noch
einmal ganz klar, wofür ich stehe und wofür wir stehen:
Das BAföG bleibt, und zwar in Form einer Zuschussfinanzierung, bestehen,
({27})
als eine bewährte Sozialleistung zur Sicherung der
Chancengleichheit für Einkommensschwache, als genau
dies und nichts anderes. Basta.
({28})
Die große BAföG-Reform, die die Bundesregierung
durchgeführt hat, hat im Übrigen dazu geführt - Herr
Rachel, deshalb sage ich: Lesen bildet -, dass, wie in der
Studie des Studentenwerkes, die Sie zitiert haben, ausdrücklich gesagt wird, die Zahl der Kinder aus so genannten bildungsfernen Schichten, die ins Studium gelangen, zum ersten Mal seit den 80er- und 90er-Jahren
um 5 Prozentpunkte gestiegen ist. Das ist das genaue
Gegenteil dessen, was Sie hier erzählt haben.
({29})
- Ich kann den Auszug aus dem Bericht des Studentenwerkes gerne dem Protokoll beifügen, damit Sie das im
Zusammenhang mit dem Protokoll nachlesen können.
({30})
- Nein, Herr Rachel, Sie haben Unrecht.
({31})
Sie behaupten etwas Falsches. Deshalb sage ich Ihnen:
Ich werde den Bericht dem Protokoll des Deutschen
Bundestages beifügen. Dann kann sich jeder selber informieren, dann kann jeder selber lesen und sehen, dass
Sie hier etwas Falsches behauptet haben.
({32})
Der zweite Punkt: Mein Kollege Loske hat darauf
hingewiesen, dass es die Bundesregierung von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen war, die es
durch ihre große BAföG-Reform erreicht hat,
({33})
eine deutlich größere Zahl junger Menschen zum Studium zu motivieren. Ich will noch einmal die Zahlen
insgesamt nennen: 1998 begannen 257 601 junge Menschen ein Studium. 2004, im letzten Jahr, waren es
366 000. Ich betrachte das als einen Erfolg.
({34})
Ich halte die Äußerungen, die ich gelegentlich immer
wieder von einigen aus der CDU/CSU höre, dass ein
Studierendenanteil von 20 Prozent oder 25 Prozent eines
Jahrgangs für eine moderne, leistungsfähige Volkswirtschaft ausreichte, für naiv und auch für falsch.
({35})
Wir brauchen viel mehr gut ausgebildete Menschen. Das
ist unsere Politik; darauf setzen wir und das unterscheidet uns von Ihnen.
({36})
Zu Ihnen, Frau Flach, nur einen ganz kurzen Hinweis:
Ich stimme Ihnen völlig zu, dass man Kindergeld und
BAföG auch als Gesamtheit betrachten muss. Deshalb
haben wir ja mit der großen BAföG-Reform erreicht und
sichergestellt, dass das Kindergeld jetzt voll zusätzlich
zum BAföG gezahlt wird.
({37})
Bei Ihnen, unter der CDU/CSU/FDP-Regierung, wurde
es quasi abgezogen.
({38})
Das heißt, es wurde nicht voll zusätzlich gezahlt. Bei uns
wird es voll zusätzlich gezahlt, mit dem Ergebnis, dass
wir jetzt einen BAföG-Höchstbetrag von 586 Euro zuzüglich Kindergeld haben. Indem damals unter der
CDU-Regierung das Kindergeld angerechnet wurde,
({39})
haben gerade die einkommensschwächsten Familien
wieder gelitten und hatten nichts davon.
Frau Kollegin Bulmahn, ich weise Sie darauf hin,
dass Ihre ordentliche Redezeit abgelaufen ist. Sie dürfen
als Ministerin natürlich weiterreden. Dann laufen Sie
aber Gefahr, dass aus dieser Aktuellen Stunde eine ordentliche Debatte wird, die dann neu eröffnet wird.
({0})
Ich schließe meine Rede. - Uns geht es um die jungen
Menschen, uns geht es um die Hochschulen. Deshalb
lassen Sie mich einen letzten Satz sagen: Über die dpaNachrichten läuft zurzeit, dass die Ministerpräsidenten
die Exzellenzinitiative, die Förderung von Spitzenforschung in Deutschland, wieder auf Eis legen wollen.
({0})
Ich sage hier ausdrücklich an die Adresse von Frau
Merkel - auch wenn sie nicht da ist -: Ich fordere Sie
auf, endlich ein Machtwort zu sprechen.
({1})
Die Union lässt sich von dem hessischen Ministerpräsidenten am Nasenring durch die Arena ziehen. Wenn die
CDU/CSU-Ministerpräsidenten heute so entschieden haben, dann ist das eine schallende Ohrfeige für die
15 Wissenschaftsminister, die in der letzten Woche gesagt haben: Wir wollen die Exzellenzinitiative. Es ist vor
allen Dingen aber eine schallende Ohrfeige für die
Hochschulen, die auf diesen Wettbewerb drängen.
({2})
Sie nehmen den Studierenden damit wichtige Zukunftschancen. Und es ist eine schallende Ohrfeige für die
Wissenschaft in unserem Land insgesamt. Die Hochschulen wissen spätestens seit heute,
({3})
dass der CDU die Hochschulen und die Wissenschaft
nichts wert sind, wenn sich diese Nachricht bewahrheitet.
({4})
Das Wort hat der Kollege Axel Fischer von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich frage mich:
Wie tief müssen Sie gesunken sein, Frau Ministerin, hier
eine solche Debatte zu führen und sich an dem Wort
„BAföG“ so festzuklammern?
({0})
- Am Wort halten Sie sich fest!
({1})
Ich will Ihnen sagen, was ein chinesischer Philosoph gesagt hat:
Willst du für ein Jahr vorausplanen, so baue Reis
an. Willst du für ein Jahrzehnt vorausplanen, so
pflanze Bäume. Willst du für ein Jahrhundert planen, so bilde Menschen.
Genau das ist die Grundposition der Union: Wir möchten Menschen bilden.
({2})
Deshalb, Frau Ministerin, ist für uns der Grundsatz: Ob
jemand studiert oder nicht, darf nicht vom Geldbeutel
der Eltern oder vom eigenen Geldbeutel abhängen,
({3})
es darf auch nicht vom Geschlecht abhängen, es muss
einfach davon abhängen, ob er in der Lage ist, ein Studium zu absolvieren - das müssen die Kriterien sein.
Axel E. Fischer ({4})
({5})
Frau Ministerin, ich gebe Ihnen vollkommen Recht:
Wir brauchen mehr gut ausgebildete Menschen. Bildung
wird aber nicht nur in der Hochschule vermittelt. Wir haben auch gut ausgebildete Menschen im Bereich der
Lehrlinge und Meister. Sie werden oft genug vergessen.
Auch das sind gut ausgebildete Menschen, die wir fördern müssen.
({6})
Wenn man Sie so reden hört, dann fragt man sich, ob
Sie die Historie des BAföG überhaupt kennen. „BAföG“
heißt „Berufsausbildungsförderungsgesetz“. In den letzten Jahrzehnten - 1971 wurde es eingeführt - wurde es
immer wieder mal geändert. Das BAföG gab es mal als
Teildarlehen und mal als Volldarlehen, weil die Finanzierung eben nicht gesichert war. Erinnern Sie sich an
Bundeskanzler Helmut Schmidt, unter dem es reduziert
werden musste.
({7})
Zurzeit ist es ein Teildarlehen. Sie standen eben hier und
haben so getan, als müsse das BAföG nicht zurückbezahlt werden. Selbstverständlich muss das BAföG zurückbezahlt werden. Wir als Union sagen, dass das auch
richtig ist; denn wer hinterher mehr verdient, der darf ruhig einen Teil der Förderung, die ihm zuteil wurde, zurückbezahlen. Das muss eine Grundposition bleiben.
({8})
Frau Ministerin, Sie haben sich hier hingestellt und
verkündet, dass es der Erfolg Ihrer BAföG-Politik ist,
dass zukünftig mehr Studierende BAföG empfangen.
({9})
Ich muss Ihnen sagen: Das ist mit Sicherheit kein Erfolgskriterium. Das zeigt lediglich, dass ein größerer Anteil der Studierenden BAföG braucht, um studieren zu
können.
({10})
Das heißt, dass der Wohlstand in unserem Land gesunken ist.
({11})
Schauen Sie sich doch den Armutsbericht, den wir vor
kurzem hier im Plenum debattiert haben, an. Steigende
BAföG-Empfängerzahlen sprechen auch dafür, dass die
Armut in Deutschland zunimmt. Im Armutsbericht steht
das klipp und klar drin. Wir folgern daraus: Rot-Grün
macht arm.
({12})
Wir legen Wert darauf, dass jemand, der BAföG empfängt, einen Teil davon zurückbezahlen muss. Voraussetzung dafür ist aber, dass er hinterher auch einen entsprechenden Arbeitsplatz findet. Auch das ist ein wichtiger
Aspekt. Ich muss Ihnen sagen: Hier muss eine entsprechende Wirtschaftspolitik gemacht werden. Das haben
wir hier in den letzten Wochen schon zur Genüge behandelt. Die steigende Arbeitslosigkeit zeigt uns, dass Sie
auch in diesem Bereich große Lücken haben. Ich kann
Sie nur auffordern: Machen Sie Druck auf Ihre Bundesregierung, dass endlich eine vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird und dass wir auch hier vorankommen,
sodass die, die vom Studium ins Berufsleben gehen wollen, die Möglichkeit haben, Arbeitsplätze zu finden. Das
wäre dringend notwendig.
Frau Ministerin, weil Sie davon gesprochen haben,
möchte ich Ihnen Zahlen vom Deutschen Studentenwerk
vorlesen. Ich habe die Statistik in meinen Händen. 1997
hatten14 Prozent der Studierenden eine niedrige soziale
Herkunft. 2003 waren es gemäß der Statistik noch
12 Prozent. Das ist eine klare Abnahme.
({13})
Auch hieran sehen Sie deutlich, dass Sie das, was Sie
uns hier erzählen, nicht erreicht haben.
({14})
Deshalb kann ich abschließend nur sagen, dass die
Debatte, die Sie hier angezettelt haben, nur einer Sache
dient: Sie wollen von Ihren Misserfolgen ablenken und
im Wahlkampf Stimmung für Nordrhein-Westfalen machen.
({15})
Lesen Sie sich die Aussage von Frau Schavan einmal
durch. Sie hat nie gesagt, sie wolle das BAföG abschaffen.
({16})
Die Frage an Frau Schavan lautete - ich zitiere -:
Der Bund weigert sich, das Bafög in neue Studienfinanzierungsmodelle mit einzubeziehen. Wäre das
ein anzustrebendes Reformprojekt im Falle eines
Wahlsieges der Union im Bund 2006?
Antwort von Frau Schavan - ich zitiere -:
Ganz sicher, denn Studiengebühren und Studienfinanzierung müssen zusammen gesehen werden.
({17})
- Studienfinanzierung heißt nicht, dass es keine Zuschüsse gibt, liebe Frau Kressl. - Weiter sagt sie:
Allerdings muß das Bafög noch so lange erhalten
bleiben, bis es einen tatsächlich attraktiven Markt
der Bildungsfinanzierung gibt.
({18})
Wenn Sie daraus lesen, dass Bildungsfinanzierung bedeutet, dass alles zurückgezahlt werden muss, dann sind
Sie auf dem falschen Dampfer. Wir sind durchaus der
Meinung, dass das nicht unbedingt sein muss und dass
Axel E. Fischer ({19})
für besonders gute Studenten oder für die, die es nötig
haben,
({20})
die Möglichkeit bestehen muss, Geld vom Staat hinzuzubekommen. Das muss möglich sein; denn die Rückzahlung muss wirklich davon abhängen, ob man hinterher einen entsprechenden Beruf findet oder nicht. Aber
um diesen Punkt müssen Sie sich dringend kümmern.
Danke schön.
({21})
Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, wir müssen in dieser Debatte wieder
etwas redlich werden. Die CDU/CSU hat schon zweimal
Zahlen angeführt, aber nicht ein einziges Mal die Quelle
dazu genannt.
({0})
Ich empfehle Ihnen, sich den Bericht der
17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes anzuschauen. Dort steht, dass die Zahl derer, die aus einer
Arbeitnehmerfamilie kommen und BAföG erhalten, von
15 auf 21 Prozent gestiegen ist. Das liegt schlicht und
einfach daran, dass wir die Grenze für die Freibeträge erhöht haben.
({1})
Diejenigen, deren Einkommen knapp über dieser Grenze
lagen und kein BAföG bekamen, erhalten es jetzt. Darauf ist die Erhöhung dieser Zahl zurückzuführen.
Wir haben hier schon eine ganze Reihe von Fakten
genannt. Es bleibt dabei: Der letzte Bildungsminister der
Regierung Kohl, Jürgen Rüttgers, hat das BAföG heruntergewirtschaftet. Bis 1998 ist die Zahl der BAföG-Empfänger auf ein Rekordminimum zurückgegangen. Erst
seitdem Rot-Grün die Regierung übernommen und das
BAföG reformiert hat, indem zum Beispiel die Sätze und
Freibeträge erhöht wurden, steigt die Zahl der BAföGEmpfänger wieder. Wir investieren in die Köpfe der
Menschen; dazu ist genug gesagt worden. Wir fördern
die Menschen unabhängig von ihrem Geldbeutel.
({2})
Vielleicht muss man die Diskussion ohne die Zahlen
führen und überlegen, was es für die betroffenen jungen
Menschen bedeutet. Ich wohne nach wie vor in dem
Stadtteil meiner Heimatstadt Hagen, in dem ich groß geworden bin. Das ist ein Stadtteil mit vielen Arbeitern
und einer überdurchschnittlich hohen Zahl an Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, normalen Arbeitnehmerfamilien und Alleinerziehenden. Die Tatsache, dass ich
in meinem Wahlkreis relativ viel zu Fuß und mit Bussen
unterwegs bin, zeigt mir die Situation der Menschen in
meiner Umgebung. Ich sehe, wie die Kinder aufwachsen. Ich weiß, dass viele ihre Kinder, obwohl sie ein höheres Bildungsniveau verdient hätten, traditionell auf
eine Realschule schicken, auch wenn sie sehr gut sind.
Alles andere ist eher selten.
Was bedeutet es für eine normale Arbeitnehmerfamilie aus einer solchen Gegend, wenn Jürgen Rüttgers
Ministerpräsident in NRW wird und sich die Politik der
CDU durchsetzt? Dadurch wird diese Arbeitnehmerfamilie mehr denn je vor die Frage gestellt werden: Können wir uns ein Studium unseres Kindes überhaupt leisten?
({3})
- Nein, das ist keine Polemik. Das, was Frau Schavan
gesagt hat, ist oft genug zitiert worden, nämlich die Forderung nach der kurzfristigen Abschaffung des BAföG,
die von den Bildungsministern aus Niedersachsen und
Brandenburg unterstützt wird. Zwei Tage später hat der
Sprecher von Frau Schavan, Schanz, in der „Tageszeitung“ vom 8. April gesagt:
Wir stellen das Bafög in den nächsten zwei, drei
Jahren nicht in Frage.
({4})
Was heißt das? Sie können es gar nicht, weil wir noch
mindestens zwei Jahre regieren werden. Ich glaube, Frau
Schavan hat die Wahrheit gesagt.
({5})
Viele aus der CDU haben sich hinter sie gescharrt. Ihnen
ist es schlicht und einfach peinlich, dass diese Wahrheit
schon jetzt ans Licht gekommen ist. Es wird noch peinlicher, wenn Sie in der Debatte eine Erhöhung des BAföG
fordern, eine Einrichtung, die Sie eigentlich ablehnen.
({6})
Gleichzeitig will Jürgen Rüttgers Studiengebühren
von bis zu 1 000 Euro im Jahr zulassen. Ich kann mir das
als Abgeordneter für meine ersten beiden Kinder vielleicht noch leisten, aber beim dritten Kind wird es
schwierig, Studiengebühren zu zahlen. Aber wie wird
eine Arbeitnehmerfamilie entscheiden müssen?
({7})
Für sie wird es unmöglich werden, ein Studium zu finanzieren, wenn sie kein BAföG mehr erhalten und dann
auch noch Studiengebühren zahlen müssen. Das ist die
Realität. Sie müssen einfach einmal auf die Straße gehen
und sich die Leute anschauen, die zumindest uns am
Herzen liegen.
Wir wollen keine Studiengebühren. Wir wollen eine
umfassende Bildungspolitik machen. Wir wollen bessere
Betreuungsmöglichkeiten für die unter Dreijährigen. Wir
investieren 4 Milliarden Euro in ein Ganztagsschulprogramm, damit Frauen, die berufstätig sein wollen, die
Sicherheit haben, dass ihre Kinder vernünftig betreut
werden - das ist eine freiwillige Institution -, und damit
die Kinder den Tag über beaufsichtigt und gefördert werden und nicht auf der Straße herumhängen.
({8})
Die Eltern merken, wie gut dieses Angebot ist. Ich erlebe mittlerweile auch in den CDU-regierten Kommunen
in Nordrhein-Westfalen - diese gibt es leider - und in
den CSU-regierten Kommunen in Bayern, dass die
CDU/CSU gar nicht umhinkommt, dem Willen und dem
Druck der Eltern nachzugeben und Angebote für Ganztagsschulen zu machen. Das ist schlicht und einfach so.
({9})
Wir wollen, dass auch Menschen aus Arbeitnehmerfamilien studieren können. Sie wollen oder nehmen zumindest in Kauf - das ist der Unterschied -, dass künftig
wieder die soziale Herkunft stärker als jetzt - das ist uns
durch die PISA-Studie bescheinigt worden - darüber
entscheidet,
({10})
wer ein Studium aufnehmen kann. Es werden wieder
weniger Arbeitnehmerkinder studieren können. Die soziale Herkunft wird über die Bildungschancen entscheiden. Es werden nicht mehr die klugen Köpfe darüber
entscheiden, ob sie studieren oder nicht. Ich werde es
nicht hinnehmen, dass ein junger Mensch nur deshalb
nicht studieren kann, weil sein Vater Stahlarbeiter ist
oder seine Mutter Verkäuferin. Wir werden uns für die
jungen Menschen einsetzen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Christoph Bergner von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es liegt in
der Freiheit jeder Fraktion, die Aktuelle Stunde zu beantragen, die ihrem politischen Aktionshorizont entspricht.
Ich muss für mich gestehen, dass ich das, was Sie hier
beantragt und thematisiert haben, gemessen an den eigentlichen bildungspolitischen Problemen, die wir im
Lande haben, nicht für ausgesprochen weiterführend
halte.
({0})
Ich bringe es nicht fertig, Ihnen ein intellektuelles Niveau zu unterstellen, wonach Sie nicht in der Lage gewesen wären, das, was Frau Schavan gesagt hat, wirklich
zu verstehen. Wenn Sie das auf den simplen Satz „Die
CDU will das BAföG abschaffen“ reduzieren
({1})
und dies mit der diffamierenden Behauptung verbinden,
es wäre der CDU egal, welche soziale Flankierung für
Studierende angeboten wird, dann haben Sie nicht die
Absicht, sich über die Zukunft einer Ausbildungsförderung zu unterhalten, sondern dann haben Sie die Absicht,
Ihren politischen Wettbewerber zu verleumden.
({2})
Denn etwas zu sagen, von dem Sie wissen, dass es nicht
der Wahrheit entspricht, ist zumindest nach der Definition unseres Strafgesetzbuches Verleumdung.
({3})
Sie brauchen bloß einmal den Versuch zu unternehmen, bei einer Suchmaschine die Worte „Abschaffung
BAföG“ einzugeben.
({4})
- Es kommt ein anderes Zitat. Ich darf es mit Genehmigung des Präsidenten vorlesen:
An die Stelle des heutigen BAföG möchten wir
nach wie vor ein mit mehr Eigenverantwortung und
Elternunabhängigkeit verbundenes Modell der Finanzierung des studentischen Lebensunterhalts setzen.
Das steht unter der Überschrift „BAFF statt BAföG“ im
Positionspapier des Bündnisses 90/Die Grünen.
({5})
Nun will ich nicht so argumentieren, dass die Grünen
das BAföG abschaffen wollen. Ich will Ihnen nur sagen,
wie unsinnig es ist, die Diskussion auf eine solche These
zu reduzieren. Herr Tauss, wenn Sie den Versuch unserer
Bundesvorsitzenden, wenigstens öffentlich Klarheit herzustellen, hier im Parlament mit einem Ulbrichtzitat verbinden - ich habe es auf der Webseite der Jusos gefunden; da gehört es wohl hin -, dann bewegen Sie sich an
der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Das muss ich Ihnen
in aller Deutlichkeit sagen.
({6})
Was ich für sehr viel schwieriger bei dieser Art der
Debatte halte, ist, dass Sie damit, dass Sie gewissermaßen eine künstliche Ewigkeitsgarantie für das BAföG
einfordern, eine Diskussion ideologisieren, die unbedingt geführt werden muss. Es hat Gott sei Dank in der
Debatte genug Beiträge gegeben, die auf die eigentlichen Entscheidungsprobleme, vor denen wir stehen, hingewiesen haben. Wenn Studiengebühren eingeführt werden, dann kann sich die soziale Flankierung doch nicht
allein auf die Grundsicherung des Lebensunterhaltes beschränken, sondern dann muss sie sich auch auf die Absicherung der Studienkosten erstrecken.
({7})
Wenn wir den Weiterbildungsgedanken - Kollegin
Flach hat das angesprochen - so ernst nehmen, wie wir
es alle in unseren Sonntagsreden immer wieder verkünden, dann muss doch auch einmal die Frage erlaubt sein,
ob denn das System, das wir jetzt haben, hierauf eine
Antwort gibt. In diesem Zusammenhang wird es noch
interessant: Es geht auch darum, die Überlegungen, die
mit der Quotierung konsekutiver Studiengänge gerade in
Nordrhein-Westfalen transportiert werden, mit der Frage
zu verbinden, wie sie in ein solches System einzuordnen
ist.
Wir müssen auch darüber diskutieren, wie wir in geeigneter Weise eine abschreckende Signalwirkung verhindern.
({8})
Denn niemand in der Union, der zugunsten einer intelligenten Kostenbeteiligung der Studierenden argumentiert,
möchte diese Abschreckungswirkung; es geht vielmehr
um die hohe begabungsgerechte Bildungsbeteiligung aller
Bevölkerungsschichten.
Wir müssen letztlich - ich glaube, dass wir uns an
dieser Stelle alle etwas vormachen - auch die Frage der
Sicherung nachhaltiger Finanzierungsvoraussetzungen
stellen.
({9})
- Nicht schon wieder die Eigenheimzulage! Wir können
über alles Mögliche diskutieren. Ich kann aber nur davor
warnen, uns im Wahlkampf mit Versprechen auf Ausgaben der öffentlichen Hand allzu hemmungslos zu profilieren.
({10})
Die finanzpolitische Wirklichkeit unseres Landes - der
Länder wie des Bundes - sieht ganz anders aus. Gerade
deshalb ist eine verantwortungsbewusste Diskussion
über die geeigneten Instrumente notwendig. Die heutige
Aktuelle Stunde, die von Ihnen beantragt wurde, war aus
meiner Sicht kein Beitrag zum verantwortungsbewussten Umgang mit dem Thema.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Schmitt von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Schauspiel, das die verantwortlichen Politiker Ihrer Partei in den letzten Tagen geboten haben,
({0})
wird heute fortgesetzt.
({1})
Ich habe einige Zitate herausgegriffen. Herr Rachel
zum Beispiel fordert die Erhöhung des BAföGs, während die Bildungssprecherin seiner Partei die Abschaffung des BAföGs und einen Markt der Bildungsfinanzierungen fordert. Herr Fischer hat gesagt: Rot-Grün macht
arm, weil die Zahl der BAföG-Empfänger steigt. Dazu
stelle ich fest: Schwarz macht dumm. Denn die Zahl der
BAföG-Empfänger ist deshalb gestiegen, weil wir entsprechende Gesetze geschaffen und die Freibeträge erhöht haben. Vor allen Dingen sind wieder mehr Kinder
von Eltern mit Hauptschulabschluss an die Universitäten
gekommen als zuvor. Wir haben insofern die soziale
Schieflage klar verbessert.
Herr Bergner, bei Ihnen war eher ein Hü und Hott herauszuhören; eine klare Bildungspolitik beim BAföG
wie auch bei den anderen Bildungsthemen ist schwer zu
erkennen. Dazu passt auch, dass der „Spitzen-Koch“ aus
Hessen uns bei der Förderung von Spitzenforschung an
Universitäten wieder einmal die Suppe versalzen hat.
Aus derselben Ecke wird auch das Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung verneint.
({2})
Alles zusammengenommen wird klar: Es fehlt Ihnen
an schlüssigen Konzepten in der Bildungspolitik. Sie
missbrauchen Bildungs- und Forschungspolitik für
Machtspiele. Ihre Vorstellungen von Bildungspolitik haben eine soziale Schieflage.
In Ihren Sonntagsreden stellen Sie immer wieder fest,
wie wichtig Bildung und Forschung für unser Land sind.
Gleichzeitig sorgen Sie aber dafür, dass die Mittel, die
die Bundesregierung bereitstellt, nicht dort ankommen,
wo sie dringend benötigt werden, nämlich in den Schulen und Universitäten, wo man händeringend auf dieses
Geld wartet.
({3})
Das sind Machtspielchen, die verwerflich sind, weil sie
auf dem Rücken der Jugend und zulasten der Zukunft
unseres Landes ausgetragen werden.
Ich komme noch einmal auf die soziale Schieflage zu
sprechen. Wir alle wissen doch spätestens seit der PISAStudie, dass besonders in Deutschland die soziale Herkunft stark über den späteren Bildungserfolg entscheidet. Das ist zwar auch Ihnen bekannt, aber ich muss es
an dieser Stelle wiederholen.
Gerade Ganztagsschulen bieten die Möglichkeit, soziale Benachteiligungen auszugleichen und ein besseres
Schulangebot zu unterbreiten. Die großen unionsgeführHeinz Schmitt ({4})
ten Länder aber schlagen die diesbezüglichen Angebote
der Bundesregierung weitgehend aus.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union,
alles so lassen, wie es ist, dann schreiben Sie letztlich die
Ungerechtigkeiten fort, die durch die PISA-Studie deutlich beschrieben wurden. Hinzu kommt, dass die Einführung von Studiengebühren bereits jetzt hohe Hürden für
Schulabgänger aus einkommensschwachen Familien
schafft. Ich kann hier aus eigener Erfahrung mitreden.
Studiengebühren wirken abschreckend. Auch dies ist Ihnen bekannt. Wenn Sie jetzt noch einen draufpacken und
das BAföG abschaffen, dann schließen Sie in letzter
Konsequenz junge Menschen aus einkommensschwachen Familien von höheren Bildungsabschlüssen aus.
({5})
Denn dann würde ein Studium automatisch einen großen
Schuldenberg nach sich ziehen.
Ich finde es ebenfalls bemerkenswert, dass Frau
Schavan bei ihren BAföG-Äußerungen davon gesprochen hat, man müsse einen „attraktiven Markt der Bildungsfinanzierung“ schaffen. Ich nehme an, dass die bildungspolitische Sprecherin der Union weiß, was „Markt“
bedeutet.
({6})
- Richtig. - Klarer kann man das Leitbild der Union im
Augenblick nicht fassen. Markt, Konkurrenz, Wettbewerb, damit rechtfertigen Sie alles, sei es die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten oder sei es, wie Sie nun
fordern, die wenig christliche Abschaffung des BAföG.
Ich sage Ihnen: Sie sollten auch einmal wieder über Begriffe wie „Solidarität“ und „Chancengleichheit“ nachdenken.
({7})
Es gehört zu den Binsenweisheiten, dass der Markt
auf dem sozialen Auge blind ist. Dies gilt gerade in der
Bildungsförderung. Das sollten Sie bedenken, wenn Sie
nicht riskieren wollen, dass in Zukunft wieder der Geldbeutel über die Ausbildung junger Menschen entscheidet. Was wir in Zukunft brauchen, sind möglichst viele
junge Menschen mit einem akademischen Abschluss
und keine neuen Geschäftsfelder, damit die Banken auch
dort Geld verdienen können.
Abschließend: Werte Kolleginnen und Kollegen von
der Union, sagen Sie uns, wofür Sie stehen, damit die
Menschen in diesem Land entscheiden können, ob sie
Ihren Vorschlägen folgen wollen!
({8})
Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich das Wort dem Kollegen Willi Brase von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass die
CDU/CSU ein Problem mit der Glaubwürdigkeit ihrer
Aussagen hat. Wenn ich mir anschaue, welche Hochschulpolitik Sie in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, dann kann ich Ihnen nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass es Herr Rüttgers war, der das BAföG mit
der Strukturreform 1996 radikal verändern und den Studenten bankübliche Zinsen für den Darlehensanteil abnehmen wollte. Nur weil SPD-geführte, aber auch unionsgeführte Länder Druck gemacht haben, hat er sich
nicht durchsetzen können.
({0})
Er wollte mit dieser Politik
({1})
in vier Jahren 1,6 Milliarden DM einsparen. Wenn wir
heute über das BAföG reden und darüber, ob die Union
das BAföG irgendwann einmal abschaffen will, dann erinnern wir uns sehr genau daran, dass Sie das BAföG benutzt haben, um an anderer Stelle Löcher zu stopfen. Das
lehnen wir ab.
({2})
Als Helmut Kohl 1982 die Regierungsgeschäfte übernahm, war eine der ersten Amtshandlungen - deshalb
haben Sie ein Glaubwürdigkeitsproblem -, das BAföG
auf reine Darlehensförderung umzustellen und den Zuschussanteil abzuschaffen.
({3})
Wenn Sie heute sagen, das BAföG solle erhalten bleiben,
dann kann ich nur darauf verweisen, dass ich bislang von
Ihnen keine einzige Aussage darüber vernommen habe,
ob auch der Zuschuss erhalten bleiben soll. Tatsächlich
wollen Sie das BAföG wieder völlig auf Darlehensförderung umstellen. Zahlen müssen dafür die Betroffenen.
Das lehnen wir ab.
({4})
Vor diesem Hintergrund ist klar, warum Frau Merkel
sozusagen die wahltaktische Notbremse gezogen hat und
möchte, dass darüber nicht weiter diskutiert wird. Aber
Ihr Glaubwürdigkeitsproblem bleibt bestehen. Wir werden in der Auseinandersetzung deutlich machen, dass
Sie das BAföG abschaffen wollen, wenn Sie die Chance
dazu haben. Die Beispiele aus der Vergangenheit belegen das.
Was steckt nun hinter dem Vorhaben der Union? Die
Wende der Union in der Hochschulpolitik bedeutet nach
unserer Auffassung die Aufkündigung des Generationenvertrages.
({5})
Die ältere Generation erklärt also der jüngeren, dass sie
nicht länger gewillt sei, durch Steuern die Kosten der
Ausbildung zu tragen. Die Studierenden sollen ihr Studium selbst bezahlen, und zwar entweder durch Studiengebühren in Höhe von 500, 1 000 Euro und mehr pro
Semester oder unmittelbar durch Darlehen wie in der
Vergangenheit. Sie sollen kräftig in ihre Zukunft investieren, damit sie das Geld verdienen, das die Älteren als
Rente oder Pension von ihnen erwarten. Eine solche Einbahnstraßensolidarität wird die jüngere Generation nicht
hinnehmen.
({6})
Soll doch die ältere Generation selbst für ihre Alterssicherung sorgen, wird sie sagen und die Abkehr vom Sozialstaat beschleunigen. Dieser Weg soll zumindest ein
Stück weit beschritten werden. Ich glaube, es ist wichtig,
das im Hinterkopf zu behalten.
Ich will durchaus anerkennen, dass es Frau Schavan
und anderen auch um die Sozialverträglichkeit von Studiengebühren ging. In diesem Zusammenhang fällt doch
auf: Der Bund soll seinen BAföG-Haushalt um den Betrag erhöhen, den die Länder dann in Form von Studiengebühren von den BAföG-Studenten verlangen. Erst
wird der Bund in dieser Frage herausgekegelt und anschließend zur Kasse gebeten. Ich finde, das ist ein bisschen dreist. Das sollten wir nicht mitmachen.
({7})
Die Union hat hochschulpolitische Vorschläge gemacht: Einführung von Studiengebühren, Streichung des
BAföG, Umstieg auf Volldarlehen und damit Abschaffung des Zuschusses, Vergabe von Studienkrediten. Ich
bin der Auffassung: Dies sind Ausleseinstrumente, damit vor allen Dingen Kinder aus Arbeitnehmerhaushalten, aus sozial- und einkommensschwachen Verhältnissen den Weg zur Hochschule nicht mehr gehen können.
({8})
Ich sage Ihnen: Als Sie 1982 an die Macht gekommen
sind und sofort auf Volldarlehen umgestellt haben, wollten Sie, dass nicht zu viele Kinder aus Arbeitnehmerhaushalten den Weg zur Hochschule finden. Das wollen
und werden wir ablehnen.
({9})
Ich kann diese Behauptung begründen, Frau Flach.
Nach der 14. DSW-Sozialerhebung stieg seit 1982 die
Zahl der Studentinnen und Studenten aus der obersten
sozialen Schicht von 18 Prozent auf 27 Prozent, während der Anteil Studierender aus einkommensschwächsten familiären Verhältnissen von 25 Prozent auf 14 Prozent absackte. Das haben Sie zu verantworten. Wir
werden das nicht mitmachen. Wir wollen, dass alle Kinder in unserem Land eine vernünftige Chance erhalten.
({10})
Lassen Sie mich einen letzten Aspekt ansprechen. Ich
glaube, Ihre Absicht ist die Privatisierung eines öffentlichen Gutes.
({11})
Damit Banken mehr Geld erwirtschaften können, wird
aus dem Sozialgesetz BAföG ein Bankenförderungsgesetz. Die alte Abkürzung „BAföG“ kann so zwar aufrechterhalten werden; dennoch ist dieser Weg falsch,
weil durch ihn zu viele junge Leute in diesem Land ausgegrenzt werden.
Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Sabine
Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Jutta Dümpe-Krüger, Irmingard Schewe-Gerigk,
Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der Freiwilligendienste - Ausbau der
Jugendfreiwilligendienste und der generationsübergreifenden Freiwilligendienste als zivilgesellschaftlicher Generationenvertrag für
Deutschland
- Drucksachen 15/4395, 15/5175 Berichterstattung:
Abgeordnete Anton Schaaf
Jutta Dümpe-Krüger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel für
die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Gesellschaft, die
der Leitidee des Engagements, der Beteiligung und der
Mitgestaltung durch die Bürgerinnen und Bürger verpflichtet ist, baut auf Freiwilligkeit und Initiative der Ehrenamtlichen. Außerdem hat sie die Verpflichtung, Möglichkeiten der Eigeninitiative, der Mitgestaltung, der
Verantwortungsübernahme und der Beteiligung zu eröffnen.
Unsere Gesellschaft ist - das wissen und erfahren wir
alle immer wieder - auf die demokratische Kompetenz
und das soziale Kapital derer angewiesen, die sich freiwillig und ehrenamtlich engagieren. Ich möchte an dieser Stelle auch einmal jenseits des Tages des Ehrenamtes all denen, die ehrenamtlich arbeiten, herzlich
danken.
({0})
Kinder und Jugendliche erfahren und lernen durch
das gemeinwohlorientierte Arbeiten der älteren Generation geradezu spielend die Wichtigkeit und die Notwendigkeit des freiwilligen Füreinandersorgens ebenso wie
das Einander-Spaß-und-Freude-Bereiten.
In Deutschland gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten und Formen zivilgesellschaftlichen Engagements. Eine besondere Form stellen die gesetzlich geregelten Freiwilligendienste dar. Deutschland ist das
einzige Land Europas, das bereits seit 40 Jahren Erfahrungen damit machen konnte. 2004 - Sie erinnern sich haben wir 40 Jahre freiwilliges soziales Jahr und
10 Jahre freiwilliges ökologisches Jahr richtiggehend
feiern können.
Zum Feiern bestand wirklich Anlass; denn das Interesse an diesen Diensten ist in der jungen Generation ungebrochen. Deshalb ist es gut, dass die Einsatzbereiche
um die Bereiche Sport und Kultur erweitert werden
konnten; das Gleiche gilt für das tatsächliche Platzangebot. Die Weiterentwicklung ist gewünscht, sinnvoll und
notwendig.
Zurzeit werden die Gesetze zur Förderung eines freiwilligen sozialen und eines freiwilligen ökologischen
Jahres evaluiert. Voraussichtlich in der zweiten Hälfte
dieses Jahres werden wir eine breite Datenbasis haben,
die es uns ermöglicht, die weiteren Schritte zielgenau zu
planen und zu gehen.
Die von der Bundesministerin Renate Schmidt eingesetzte Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“
hat in ihren Strukturempfehlungen die Sinnhaftigkeit
und auch die Notwendigkeit von generationenübergreifenden Freiwilligendiensten deutlich gemacht. Der
demographische Wandel ermöglicht unserer Gesellschaft, die Potenziale der älteren Generation verstärkt zu
nutzen. Neue Formen und Möglichkeiten dafür, das Wissen, die Kompetenzen und die Fähigkeiten der Älteren
für die Allgemeinheit einzubringen, sind wichtig. Eine
Kultur selbstverständlicher Freiwilligkeit für alle Altersgruppen soll sich in unserem Land weiterentwickeln
können. „Alt und Jung gemeinsam“ in der Freiwilligenarbeit soll und kann in bestimmten Formen vor Ort gelebt werden.
Deshalb haben wir das Bundesmodellprogramm „Generationenübergreifende Freiwilligendienste“ auf den
Weg gebracht. Über 50 Einzelprojekte und Projektverbünde sind aufgenommen worden. Das Haushaltsvolumen im Jahr 2005 beträgt 10 Millionen Euro. Die ersten
Projekte sind Ostern 2005 gestartet.
Bürgerinnen und Bürger jeden Alters, Männer und
Frauen übernehmen nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten Verantwortung nicht nur für sich, sondern
auch für andere, für Junge, für Alte, für Behinderte, für
Migrantinnen und Migranten, für Schülerinnen und
Schüler oder auch für besonders belastete Familien.
Durch diese neue Form von Freiwilligendiensten wollen
wir auch neue fachpolitische, das heißt familien-, senioren-, gleichstellungs- und jugendpolitische, Akzente setzen.
Der Aufbau generationenübergreifender Freiwilligendienste wird weitere Initiativen, besonders auf örtlicher
Ebene, anstoßen. Wir erwarten auch eine Verknüpfung
mit den inzwischen über 135 lokalen Bündnissen für die
Familie.
Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des
Modellprogramms wird ein fortlaufendes ProgrammMonitoring betreiben, die Ergebnisse sichern und uns
ihre Empfehlungen zum weiteren Handlungsbedarf auf
Bundes-, Landes- und lokaler Ebene geben.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend hat den Aufbau generationenübergreifender Freiwilligendienste gestartet. Diese Freiwilligendienste werden in der Regel durch hauptamtliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Projekt bei den einzelnen Trägern aufgebaut.
Ein anderer Weg - das als Beispiel - wird durch die
Weiterentwicklung des Modellprogramms „Erfahrungswissen für Initiativen“, EFI, beschritten. In einem ersten
Schritt werden im Programm EFI Berufsexperten und erfahrene Ehrenamtliche im Übergang zur nachberuflichen
Phase, also im zeitlichen Übergang von der Arbeit zur
Rente, zu Seniortrainern und Seniortrainerinnen ausgebildet. Sie haben in Workshops trainiert, ihr Wissen und
ihre Fähigkeiten einzusetzen und vor allem eigene Projekte zu managen. Seniortrainer und Seniortrainerinnen
einer Kommune bilden nun zur Zusammenarbeit Teams,
so genannte Seniorkompetenzteams.
In einem zweiten Schritt ist jetzt geplant, die Entwicklung lokaler Freiwilligendienste durch Seniorkompetenzteams zu erproben. Hierzu soll in den beteiligten
Kommunen von den örtlichen Seniorenbüros, Freiwilligenagenturen und Selbsthilfekontaktstellen ein runder
Tisch für freiwilliges Engagement im Alter aufgebaut
werden. An diesen runden Tischen sollen und können
dann die so genannten kommunalen Bedarfslagen erforscht werden. Durch die Projekte und durch die Arbeit
der Seniorenkompetenzteams mit den Trägern können
dann auch Programme für die entsprechenden Bedarfe
entwickelt werden. Träger artikulieren ihren Bedarf an
Projekten und entwickeln gemeinsam mit den Seniorkompetenzteams entsprechende Umsetzungsmöglichkeiten. Dies führt zu einer Stärkung der Bürgerverantwortung für das Gemeinwesen und bietet vor allem
auch kleineren Trägern die Möglichkeit, Freiwilligendienstler für ihr Projekt einzusetzen.
Ziel ist es, das Interesse älterer Menschen an einem
freiwilligen Engagement und an der Übernahme einer
Verantwortungsrolle für die Gesellschaft mit den aktuellen Bedarfen in der Kommune zu verknüpfen. Voraussetzung für die Aufnahme dieser Art der freiwilligen
Tätigkeit ist die Bereitschaft, sich zu einem kontinuierlichen, aber zeitlich begrenzten Engagement zu verpflichten. Der Einsatz ist arbeitsmarktneutral.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ehrenamtliches Engagement und
Freiwilligendienste in den unterschiedlichen Formen haben in Deutschland Zukunft. Die Bundesregierung wird
in den kommenden Monaten zu prüfen haben, was sich
bewährt hat und welche Weiterentwicklungen nötig sind.
Im Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und der Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sind deutliche Aufgaben für die Bundesregierung formuliert worden, die wir entsprechend erfüllen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Thomas Dörflinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß gar
nicht, wie viele Male ich mich sowohl im Plenum des
Deutschen Bundestages als auch in unserem Ausschuss
zu Recht über die Tatsache beschwert habe, dass das Beratungsverfahren aus meiner Sicht ungenügend war. Nun
gehört es nicht nur zur Vollständigkeit, sondern auch zur
Ehrlichkeit, besonders zu erwähnen, wenn es einmal anders gelaufen ist. Ich will ausdrücklich anerkennen und
lobend herausheben, Herr Kollege Schaaf, Frau DümpeKrüger, Frau Lenke, dass wir uns im Vorfeld dieser Beratungen mehrmals getroffen haben, dass wir ausreichend Zeit hatten, das Thema sowohl unter den Berichterstatterinnen und Berichterstattern als auch in unseren
Arbeitsgruppen sowie mit den Kollegen mitberatender
Arbeitsgruppen in unseren Fraktionen zu diskutieren.
Die Koalitionsfraktionen haben sich ausdrücklich flexibel gezeigt, um insbesondere auch der Bundestagsfraktion der CDU/CSU letztlich eine Zustimmung zu diesem
Antrag zu ermöglichen. Ich will das anerkennen. An die
Bürgerinnen und Bürger gewandt möchte ich sagen:
Merken Sie sich den heutigen Tag, den 14. April, gut.
Streichen Sie ihn rot im Kalender an. Heute kann ich
feststellen: Wenigstens in der kurzen Zeit, in der wir
über dieses Thema debattieren, hat Rot-Grün einmal etwas richtig gemacht.
Gleichwohl haben wir einen Dissens in Abschnitt II
des Antrages, meine Damen und Herren, in dem auf die
Bestimmungen des Zweiten Zivildienständerungsgesetzes rekurriert wird. Wir als Union bleiben dabei: Wir haben seinerzeit in der Beratung dieses Gesetzes unsere
Zustimmung verweigert, weil wir erstens grundsätzliche
Bedenken bei dem Zusammenwirken von Zivildienst,
also einem Pflichtdienst, und Freiwilligendiensten haben
und zweitens nach wie vor der Meinung sind, dass es
eine Ungleichbehandlung von männlichen Freiwilligen
nach § 14 c und weiblichen Freiwilligen nach § 14 b Zivildienstgesetz gibt. Dieser Dissens bleibt, aber für uns
wiegt der grundsätzliche Ansatz dieses Antrages, nämlich Freiwilligendienste auszubauen und einen generationsübergreifenden Aspekt bei Freiwilligendiensten mit
einzubeziehen, schwerer als der Dissens in diesem
Punkt. Deswegen haben wir im Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu Abschnitt II unsere Zustimmung verweigert, werden aber heute im Plenum des
Deutschen Bundestages dem Antrag insgesamt zustimmen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie die Berichte der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dem Parlamentarischen Patenschaftsprogramm zwischen dem US-Kongress und dem Deutschen Bundestag nachlesen - ich
habe in diesen Tagen wieder einen Bericht bekommen -,
werden Sie feststellen, dass die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Programm teilweise
durchaus erstaunt von einer Freiwilligenkultur in den
USA berichten, die wir so in Deutschland nicht haben. In
den USA gehört es nicht nur zum guten Ton, sondern es
spielt beispielsweise auch bei Bewerbungsgesprächen
durchaus eine Rolle, ob sich jemand vor dem Eintritt ins
Berufsleben, zwischen Schule und Beruf oder auch begleitend während der Ausbildung, als Volunteer verdingt
hat und welche Erfahrungen er oder sie damit gemacht
hat.
Der Arbeitgeber erkennt also durchaus an, dass das,
was an sozialer Kompetenz in solcher Tätigkeit erworben wird, für den eigenen Betrieb bzw. das eigene Unternehmen von Nutzen sein kann. Das ist etwas, was wir in
Deutschland in dem Maße nicht kennen. Insofern können wir in diesem Punkt von der Ehrenamtskultur bzw.
der Freiwilligenkultur in den USA durchaus noch etwas
lernen.
({0})
Ich bin der festen Überzeugung, dass für eine solidarische Gesellschaft, die wir letztlich alle wollen, genau
diese Elemente - ehrenamtliches Engagement und Freiwilligenkultur - konstitutiv sind. Ohne diese werden wir
das Ziel einer solidarischen Gesellschaft entweder nicht
oder nicht in dem Maße erreichen, wie wir das alle wünschen. Deswegen ist es richtig und positiv, dass das, was
an sozialer Kompetenz in diesen Diensten erworben
wird, für das Arbeitsleben von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern auch nutzbar gemacht wird.
Dabei ist es mir wichtig, meine Damen und Herren,
dass der Ausbau von Freiwilligendiensten nicht nur einen wirtschaftlichen Ansatz verfolgt. Vor dem Hintergrund zurückgehender Möglichkeiten des Staates, nicht
nur in finanzieller Hinsicht, sondern generell, spielt dieser Punkt mit in eine Diskussion hinein, die in die Richtung geht, mehr Eigenverantwortung an die Bürgerinnen und Bürger zurückzugeben, und zwar nicht nur
deswegen, weil der Staat gewisse Dinge nicht mehr leisten kann, sondern weil wir der Überzeugung sind, dass
Bürgerinnen und Bürger in vielen Bereichen vieles letztlich besser können, weil sie näher dran sind und durchaus auch die notwendigen Kenntnisse haben, um bestimmte Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen.
({1})
Es soll also das Bewusstsein gestärkt werden, dass der
Staat letztlich nur die Summe Einzelner ist und je größer
die Sozialkompetenz der Einzelnen, desto größer letztlich auch die Sozialkompetenz einer Gesellschaft oder
eines Staates ist.
Nun wissen wir alle, sei es aus den Vereinen, in denen
wir Mitglied sind, sei es aus den Verbänden, in denen
wir als Ehrenamtliche selbst Verantwortung tragen, dass
insbesondere unter jüngeren Leuten die Bereitschaft
zum Ehrenamt nicht mehr ganz so ausgeprägt ist wie
früher. Ich will nicht sagen, dass die Motivierung hierzu
schwierig geworden ist, aber sie ist in Teilen vielleicht
etwas schwieriger geworden als früher.
({2})
Gleichzeitig erleben wir aber, dass die Bereitschaft zu
zeitlich begrenztem ehrenamtlichem Engagement nicht
nur gleich bleibt, sondern wächst. Das unterstreicht, dass
wir uns mit dem Ansatz, der diesem Antrag zugrunde
liegt, nämlich diese Bereitschaft, sich zeitlich befristet
ehrenamtlich und freiwillig zu engagieren, zu fördern,
auf dem richtigen Weg befinden. Hier geht es, wie gesagt, nicht um eine Alternative zum klassischen Ehrenamt, sondern um eine Heranführung an das klassische
Ehrenamt. Das eine soll also das andere nicht ersetzen,
sondern ergänzen.
Nun haben wir gestern gelesen, dass der Sprecher des
Bundesarbeitskreises Freiwillige Soziales Jahr noch einmal unterstrichen hat, dass die freien Träger bereit sind,
die Zahl der angebotenen Plätze zu erhöhen. Wir greifen
diese Bereitschaft mit dem vorliegenden Antrag auf. Ich
will aber gleichfalls dazu sagen - auch das gehört zur
Vollständigkeit -, dass wir mit der Schlussfolgerung, die
aus dem weiteren Abbau der Zivildienstplätze frei
werdenden Mittel - eine Forderung, die die Zentralstelle
KDV heute auch noch einmal erhoben hat - hin zur Finanzierung von Freiwilligendiensten umzuswitchen, so
nicht einverstanden sind,
({3})
und zwar aus dem Grund, weil der Abbau von Zivildienstplätzen kein Vorgang ist, der gottgewollt vom
Himmel gefallen ist, sondern dahinter eine politische
Strategie steckt, die wir so nicht teilen.
({4})
Deswegen lautet unsere Position, dass wir bei der Umschichtung von Mitteln zum Ausbau von Freiwilligendiensten innerhalb des Bundeshaushaltes mitmachen, allerdings nicht zulasten des Zivildienstes.
({5})
Wir wollen nicht das eine als Ersatz für das andere, sondern das eine als Ergänzung des anderen.
Noch ein anderer Punkt ist mir an dieser Stelle wichtig, weil der in der Diskussion um Freiwilligendienste
wenigstens in der Vergangenheit nicht so zum Tragen
kam. Es geht um den generationsübergreifenden Ansatz. Die Frau Staatssekretärin hat zu Recht auf den demographischen Wandel in der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen, über den wir in der Vergangenheit
hauptsächlich unter Arbeitsmarktgesichtspunkten diskutiert haben. Festgemacht werden kann diese Diskussion
beispielsweise an der Frage, ob wir das Renteneintrittsalter, insbesondere im Hinblick auf die Finanzierung der
sozialen Sicherungssysteme, erhöhen sollen. Diese Debatte müssen wir heute nicht führen. Aber etwas anderes
hängt damit ganz sicherlich auch zusammen: Wenn die
Leute dankenswerterweise alle älter werden und während dieses Prozesses des Älterwerdens auch länger fit
bleiben, dann müssen wir uns als Gesellschaft fragen, ob
wir die sozialen Kompetenzen oder beispielsweise die
im Arbeitsleben erworbenen Kompetenzen, die bei einem Rentner oder einer Rentnerin bzw. einer Pensionärin oder einem Pensionär immer noch vorhanden sind,
nicht durch verstärkten Einsatz von Seniorinnen und Senioren in Freiwilligendiensten für die Gesellschaft nutzbar machen. Insofern ist das ein wichtiger Ansatz, der
ausdrücklich unsere Unterstützung findet.
({6})
Gleiches gilt für den internationalen Aspekt. Wir haben als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in dieser Woche
eine Kleine Anfrage nachgeschoben, die sich speziell
mit diesem Thema, nämlich den Konditionen für freiwillige internationale Dienste, befasst und den Versuch
unternimmt, an einigen spezifizierten Punkten Daten
aufzuarbeiten, die anschließend Grundlage für die gemeinsame Diskussion über die folgenden Fragen sein
können - selbstverständlich im Benehmen mit internationalen Partnern, nicht nur den Trägern, sondern beispielsweise auch unseren Nachbarländern in der Europäischen
Union -: Erstens. Was machen wir zum Beispiel beim
Aufenthaltsrecht? Zweitens. Wie gestalten wir die Dinge
so, dass es keine Probleme beim Sozialversicherungsrecht gibt? Beispielsweise könnten andere europäische
Länder aufgrund ihrer nationalen gesetzgeberischen Vorgaben zu der Einschätzung kommen, dass ein Freiwilliger, der sich eine gewisse Anzahl von Monaten oder
möglicherweise länger als ein Jahr im europäischen Ausland befindet, dort als Arbeitnehmer zu klassifizieren ist.
Das könnte in der Sozialversicherung sowohl dort als
auch bei uns zu gewissen Problemen führen, was dem eigentlichen Ansatz dieser Geschichte nicht dienlich wäre.
Ich bin mit Ihnen der Meinung, dass die Erfahrungen
aus diesen Gesprächen einfließen können in die Diskussion bzw. in die Untersuchung der Bundesregierung, die
uns bis zum Beginn der Haushaltsberatungen für den
Etat 2006, mindestens aber bis zum Ende der Legislaturperiode vorgelegt werden soll.
({7})
- Das wäre mindestens ein schöner Abschluss dieser Regierungszeit. Auf diese Weise könnte aber auch ein
Strich unter die Diskussionen gezogen werden. Dann
könnte gemeinsam die Frage erörtert werden, ob die vorhandenen Erfahrungen und die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen, die wir jetzt noch haben, beispielsweise in einem Bundesfreiwilligendienstgesetz oder
einem Bundesfreiwilligendienstplan zusammengefasst
werden können, um sowohl für die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer als auch für die freien Träger ein bisschen
mehr Transparenz zu schaffen.
Fazit, meine Damen und Herren: Die Arbeit, die wir
uns in der einen oder anderen Berichterstatterrunde gemacht haben, hat sich durchaus gelohnt. Ich erkenne an,
dass die Bereitschaft vorhanden war, auf unsere Vorstellungen einzugehen und uns die Zustimmung zu diesem
Antrag zu ermöglichen.
Wir waren gestern Abend - ich weiß nicht, wer von
Ihnen Gelegenheit hatte, dabei zu sein - auf Einladung
der Kirchenbeauftragten der Fraktion im Otto-WelsSaal, wo wir Gäste der evangelischen und der katholischen Kirche waren. In diesem Rahmen wurden wir über
den Fortgang der Vorbereitungen des Evangelischen
Kirchentages in Hannover und des Weltjugendtages
der katholischen Kirche in Köln informiert. Ein ermutigendes Zeichen neben vielen anderen, die aus diesen Berichten hervorgingen, war, dass sich bei beiden Veranstaltungen sehr viele junge Leute als Freiwillige für die
Vorbereitung und Durchführung verdingt haben. Das beweist, dass wir mit dem hier gewählten Ansatz der Freiwilligendienste - nicht nur für junge Leute, sondern generationsübergreifend und mit einer internationalen
Dimension - auf dem richtigen Weg sind.
Ich freue mich in diesem Sinne auf eine gute weitere
Beratung und danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort der Kollegin Jutta DümpeKrüger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugendliche sind engagiert, motiviert und packen vor allen
Dingen da mit an, wo es ihnen selbst sinnvoll erscheint.
Für uns Erwachsene bedeutet das, dass wir sie da abholen müssen, wo sie stehen. Das machen wir mit unserem
Antrag zur Zukunft der Freiwilligendienste. Denn die
wichtigste Forderung in diesem Antrag ist: Wir wollen
verbesserte Rahmenbedingungen für die klassischen, gesetzlich geregelten Freiwilligendienste und die Auslandsdienste schaffen, um sie nachhaltig weiterzuentwickeln.
Wir wollen vor allen Dingen die Jugendfreiwilligendienste ausbauen, und zwar auf die 30 000 Plätze, die
uns die Träger angeboten haben. Wir wissen, dass der
Bedarf noch weitaus größer ist. Im freiwilligen sozialen
Jahr und im freiwilligen ökologischen Jahr ist die Nachfrage momentan drei- bis viermal so hoch, wie überhaupt freie Plätze zur Verfügung stehen.
Ich meine, es ist ein schöner und großer Erfolg, dass
die vier Fraktionen dieses Hauses hier und heute - bisweilen mit Abstrichen - letztendlich hinter dem Beschluss
stehen, die Freiwilligendienste für junge Menschen auszubauen. Ich möchte unmissverständlich deutlich machen: Nicht nur wir, sondern auch die jungen Leute, die
Träger und die Einsatzstellen erwarten von der Bundesregierung einen großen und forschen Schritt, um jugendliches Engagement weiter voranzubringen.
({0})
Auch die Länder sind hier in der Pflicht. Denn eines
ist doch klar bewiesen: Wer früh lernt, sich bürgerschaftlich zu engagieren, der bleibt in der Regel, wenn er älter
wird, in diesem Bereich aktiv. Diesen Grundstein für unsere Gesellschaft können wir gar nicht früh genug legen.
Das freiwillige soziale Jahr gibt es seit 1964 und das
freiwillige ökologische Jahr seit 1993. Seitdem haben
sich für diese ganz besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements mehr als 300 000 Jugendliche entschieden.
Im freiwilligen sozialen Jahr waren zunächst vor allen
Dingen Krankenhäuser, Altenheime, Einrichtungen für
Kinder und Jugendliche und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen die klassischen Einsatzfelder,
in denen sich junge Menschen engagiert haben. Durch
die rot-grüne Bundesregierung sind die Einsatzfelder erheblich erweitert worden. Seit 2002 können junge Freiwillige auch ein FSJ in den Bereichen Kultur, Sport, Medien oder beim Denkmalschutz leisten. Das hat noch
einmal einen Attraktivitätsschub gegeben, vor allen Dingen für junge Männer.
Das freiwillige ökologische Jahr ist ein attraktiver
Freiwilligendienst für all diejenigen, die sich bewusst
dazu entschlossen haben, sich für eine lebenswerte Umwelt zu engagieren. Gleichzeitig lernen sie dabei, ökologische und umweltpolitische Zusammenhänge besser zu
verstehen. FÖJler engagieren sich rund um den grünen
Bereich, das heißt vom Einsatz im Nationalpark bis hin
zur Untersuchung von Schadstoffen im Labor.
Auch die Auslandsdienste im FSJ und FÖJ boomen.
In diesem Bereich können und wollen wir ebenfalls
mehr tun. Auch das bringen wir in unserem gemeinsamen Antrag zum Ausdruck. Wir fordern nämlich, dass
auch die Auslandsdienste nachhaltig weiterentwickelt
und ausgebaut werden. Wir fordern außerdem die Harmonisierung sozialrechtlicher und aufenthaltsrechtlicher
Bestimmungen für Freiwilligendienste im außereuropäischen Ausland und in Europa.
Was macht die Jugendfreiwilligendienste so attraktiv?
Ich meine: Es ist die spannende Mischung aus neuen und
wichtigen Lernerfahrungen, durch die sich Jugendliche
weiterentwickeln und an Selbstständigkeit gewinnen. Es
ist auch das Gefühl, etwas bewirken zu können und Verantwortung zu übernehmen. Wichtig ist auch der Kontakt zu anderen, gleich gesinnten Jugendlichen aus dem
In- und Ausland, die man kennen lernt und mit denen
man Freundschaften schließen kann. Es kommt daher
nicht von ungefähr, dass 91 Prozent der jungen Menschen ihr FSJ oder FÖJ mit der Note sehr gut oder gut
beurteilen. Das hat auch mit guten Rahmenbedingungen wie einem ordentlichen Vertragsverhältnis, pädagogischer Begleitung und Versicherungsschutz zu tun.
Ich finde es super, dass sich auch vor dem Hintergrund
unseres gemeinsamen Antrages die Bundesarbeitskreise
des freiwilligen sozialen Jahres und des freiwilligen ökologischen Jahres erstmals zu einer gemeinsamen Aktion
zusammengetan haben, die viele Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen unterstützen. Unter dem Motto
„Sympathiekampagne 2005 - Freiwilligendienste hautnah“ haben sie die Öffentlichkeit und auch alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages eingeladen, sich direkt
vor Ort über den gesellschaftlichen Wert von Freiwilligendiensten zu informieren oder - besser noch - sich aktiv zu beteiligen und die Begeisterung junger Menschen
in ihren Freiwilligendiensten sozusagen hautnah mitzuerleben.
Ich kann nur sagen: Raus in die Einsatzstellen! Es ist
unglaublich spannend. Bisweilen ist es ratsam, man hat
Gummistiefel oder Turnschuhe dabei. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig; da kann man echt ins Staunen
kommen. Ich glaube, wir alle können vor Ort noch eine
Menge lernen.
({1})
Woher soll das Geld für den Ausbau der klassischen
Jugendfreiwilligendienste kommen? Wir Grünen machen dazu eine ganz klare Ansage - sie unterscheidet
sich von dem, was Herr Dörflinger gesagt hat -: aus den
Mitteln des Zivildienstes. Warum ist das logisch und
konsequent? Wir haben bereits mit der Änderung des Zivildienstgesetzes in 2002 in einem ersten Schritt Mittel
des Zivildienstes in den Bereich der Freiwilligendienste
transferiert. Seitdem ist es nämlich nach § 14c ZDG
möglich, einen gesetzlich geregelten Freiwilligendienst
anstelle des Zivildienstes zu machen. Und siehe da: Seit
dieser Zeit haben immer mehr Kriegsdienstverweigerer
ein FSJ oder FÖJ statt ihres Zivildienstes gemacht. In
den Jahren 2003 und 2004 leisteten 6 500 junge Männer
ein FSJ oder FÖJ nach § 14c ZDG.
Mit dem In-Kraft-Treten des 2. Zivildienständerungsgesetzes im Oktober 2004 sind wir einen weiteren
Schritt in die richtige Richtung gegangen. So gilt nun
zum Beispiel hinsichtlich der Tatbestände zur Befreiung
der Wehrpflicht bzw. des Zivildienstes, dass alle, deren
zwei Geschwister ein FSJ oder FÖJ von mindestens
neun Monaten geleistet haben, keinen Wehr- oder Zivildienst mehr leisten müssen. Diese Entwicklungen machen deutlich: Wir setzen von Anfang an auf eine starke
Zivilgesellschaft. Auch darum sind Freiwilligendienste
im Gegenatz zum Auslaufmodell Zivildienst ein Zukunftsmodell. Das sehen übrigens auch Fachleute so. Ich
zitiere die Mitgliedsverbände der Zentralstelle des KDV:
Die heutigen Zivildienstplätze dürften schnell in
Plätze des Freiwilligen Sozialen und Ökologischen
Jahres umgewandelt werden können. Freiwillige
auf diesen Plätzen werden damit mindestens in einer Übergangszeit faktisch die bisher durch Zivildienstleistende erbrachten sozialen Tätigkeiten
übernehmen.
Jugendfreiwilligendienste sind eine ganz besondere
Form bürgerschaftlichen Engagements. Allen jungen
Leuten draußen im Land, die eine Unterschriftenaktion
für den Ausbau dieser Dienste gestartet und die innerhalb kürzester Zeit Hunderte von Unterschriften, und
zwar aus allen Bundesländern - täglich werden es mehr:
momentan hat Bayern die Nase vorn,
({2})
aber ich bin sicher, dass NRW noch aufholt -, gesammelt haben, sage ich: Heute ist ein ganz besonderer Tag
für die Jugendfreiwilligendienste in Deutschland. Denn
alle Fraktionen des Bundestages machen sich dafür
stark, dass euer Wunsch an die Bundesregierung in Erfüllung gehen wird - für euch und für uns alle.
Danke schön.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Freiwilligendienste und damit bürgerschaftliches Engagement
voranzubringen ist - das haben wir ja gehört - der Inhalt
dieses Antrags. Die FDP unterstützt den Ausbau von Jugendfreiwilligendiensten und auch von, jetzt ganz neu,
generationsübergreifenden Freiwilligendiensten. Wir brauchen nun aber neue Konzepte, die zukunftsfähig sind.
Das wird deshalb nicht der letzte Antrag sein; von den
verschiedenen Fraktionen wird in den nächsten Monaten
sicher noch eine Weiterentwicklung ausgehen.
Dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dem
Antrag im Prinzip zustimmen, Herr Dörflinger, finde ich
sehr gut. Ich bedanke mich noch einmal bei unserem
Kollegen Schaaf, der heute nicht spricht, dass er so kooperativ war.
({0})
- Es ist sonst auch nicht unsere Art, uns gegenseitig zu
loben.
({1})
Diesmal musste es aber sein, Herr Schaaf.
Die FDP begrüßt die Erhöhung der Zahl der Plätze
für Freiwilligendienste für junge Leute auf 30 000. Das
ist ein willkommener Anlass, darauf hinzuweisen, dass
bei den Jugendlichen bereits ein sehr hohes Interesse an
FSJ und FÖJ besteht. Von Frau Dümpe-Krüger haben
wir gehört, wie das Dach des freiwilligen sozialen Jahres
auch für Kultur und Sport genutzt werden kann. Frau
Dümpe-Krüger, Sie sagten, dass es für manche Plätze
drei bis vier Bewerber gibt. Das zeigt, dass das Interesse
sehr groß ist. Insofern ist meine Position recht ähnlich
wie Ihre und die der Grünen: Auch wir wollen, dass
beim Zivildienst nicht immer gekürzt wird, um den
Haushalt von Herrn Eichel etwas zu entlasten, sondern
dass das Geld für die Umgestaltung des Zivildienstes in
andere Dienste verwendet wird.
({2})
Herr Dörflinger, Ihnen möchte ich gerne sagen, dass
in Deutschland die Arbeitgeber, wenn sich ein junger
Mann - oder auch eine junge Frau - bewirbt, schon
schauen, was er neben seiner Ausbildung gemacht hat.
Hat er ehrenamtlich gearbeitet? Hat er sich vielleicht in
Jugendorganisationen von politischen Parteien engagiert? All das sind, glaube ich, Pluspunkte für ihn, wenn
er in den schwierigen Zeiten von heute, in denen die Arbeitslosigkeit so groß ist, einen Job bekommen will.
Denn er will sich ja in unsere Gesellschaft einbringen.
Auch das gehört dazu, wenn man seinen Beruf sehr gut
ausüben will.
Aufgrund Ihres Antrages möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, dass statt des Zivildienstes auch das FSJ
und das FÖJ abgeleistet werden können. Das ist, Frau
Dümpe-Krüger, nicht allen Jugendlichen bekannt. Hierüber sollte die Bundesregierung wesentlich mehr informieren.
Die Bundesregierung sollte zum Beispiel über Homepages aber auch über etwas Weiteres informieren: Wehrpflicht und Zivildienst können heute - auch das ist gesetzlich geregelt - zeitlich in Abschnitten abgeleistet
werden. Wenn ich in Schulen gehe, stelle ich fest, dass
die jungen Leute über diese Möglichkeit gar nicht informiert sind. Diese Möglichkeit bedeutet: Wenn man Student ist und die neun Monate des Wehr- oder Zivildienstes absolvieren will, verliert man nur ein Semester und
keine zwei, wenn man seinen Dienst stückelt. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir, wenn wir zu Diskussionsveranstaltungen gehen, darüber Auskunft geben.
Auch dazu bietet der vorliegende Antrag eine gute
Grundlage.
({3})
In diesem Antrag ist die Entwicklung vom Zivildienst hin zu Freiwilligendiensten klar erkennbar. Wir
alle wollen ja die außerordentlich gute Arbeit der Zivildienstleistenden in eine breite Palette freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements in geordneter Form überführen. Die Einrichtungen, die Zivildienstleistende
beschäftigen, orientieren sich - das wissen wir - schon
jetzt um und ermöglichen vermehrt den FSJ-Dienst.
Schon die damalige Arbeitsgruppe, die die vorherige
Familienministerin Anfang 2000 ins Leben gerufen hat,
stellte fest, dass Veränderungen notwendig und wünschenswert sind, um den Ertrag des Zivildienstes nicht
nur für die nächsten Jahre zu sichern, sondern auch Ansätze zu schaffen, wertvolle Aufgabenfelder des Zivildienstes als wichtige Lernfelder von jungen Menschen
unabhängig vom Zivildienst aufzubauen. Die neue Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“, Frau
Hanewinckel, hat die Wichtigkeit dieser generationsübergreifenden Dienste hervorgehoben.
Die Debatten von heute sind wichtig, damit beim
Wegfall des Zivildienstes für die Bürger und Bürgerinnen nicht die Welt zusammenbricht. Denn wir wissen,
dass es viele Ängste gibt: Wenn es keine Zivildienstleistenden mehr in den entsprechenden Einrichtungen gibt,
dann fehlt die zusätzliche Zuwendung durch Zivildienstleistende. In dieser Debatte sollten wir sehr deutlich sagen, dass wir in der Politik darauf achten, dass so etwas
nicht passiert. Wir wollen solchen Menschen durch einen Mix von vielen verschiedenen Möglichkeiten helfen.
Ein Wort zu den generationsübergreifenden Diensten. Das freiwillige Ehrenamt endet nicht - das hat Frau
Dümpe-Krüger schon gesagt - bei einer bestimmten Altersgrenze. Ich komme aus einem Ort in Niedersachsen
mit 15 000 Einwohnern. Männer, die ihr Berufsleben
schon mit 55 oder 60 beendet haben, haben kaum Anknüpfungspunkte und wissen nicht, an wen sie sich wenden und was sie machen sollen. Wir haben Sportvereine,
den Kirchenvorstand, einen Gesangsverein. Aber die Palette des bürgerschaftlichen Engagements ist wesentlich
größer. Die demographische Entwicklung zeigt, dass wir
nicht immer nur die jungen Leute auffordern sollten. Wir
haben ein Stück Eigenverantwortung, dass auch wir in
unserem Alter vielleicht einmal etwas Ehrenamtliches
machen
({4})
und dies nicht immer nur den jungen Leuten überlassen.
Meine Redezeit ist leider sehr begrenzt. Ich habe zum
Schluss noch einen Appell - das ist ein sehr ernsthafter
Appell -: Bundes- und Landespolitiker sollten dem
Pflichtdienst für junge Menschen nicht mehr das Wort
reden.
({5})
Es muss endlich Schluss damit sein, zu sagen: Wir müssen alle jungen Männer und Frauen verpflichten. Die
müssen etwas lernen; die müssen sich ehrenamtlich betätigen. Wir sehen doch, dass es in einer liberalen Bürgergesellschaft mit dem freiwilligen Engagement viel besser geht. Ich bitte Sie sehr herzlich, Ihre Kollegen darauf
aufmerksam zu machen, dass sie dann, wenn wieder einmal jemand die komische Idee eines Pflichtjahrs für alle
jungen Menschen hat, einen Punkt setzen und genau wie
bei dem vorliegenden Antrag sehr eindeutig ihre Meinung sagen sollten. Denn die ist besser und wichtiger
und wird eine Zukunft haben und nicht die andere Meinung.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Weigel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Lenke, Pflichtdienste sind nicht das, was wir
wollen. Deswegen ist es sehr wichtig, gerade heute hier
über die Freiwilligkeit zu sprechen. Ich denke, diesem
Prinzip gehört die Zukunft. Man merkt es an dem Antrag: Wir sind einer Meinung. Das ist gut für dieses Haus
und für uns; für die Debatte ist es vielleicht nicht ganz so
gut, weil sie dadurch harmonischer und nicht kontrovers
geführt wird.
({0})
Aber wir sollten uns darüber auch hier aussprechen und
diskutieren.
Was wir heute hier vorgelegt haben, hat eine klare
Aussage: Freiwilligendienste sind ein wichtiger Baustein
für unsere Zivilgesellschaft. Bürgerinnen und Bürger,
junge wie alte Menschen - für sie ist es selbstverständlich mitzumachen und sie verdienen unsere Unterstützung. Mit der jetzt vorliegenden Beschlussempfehlung
soll der Gesetzgeber angestoßen werden, konkrete Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Freiwilligendienste
umzusetzen. Die Beschlussempfehlung ist die Fortsetzung von Initiativen, die Rot-Grün im Sinne der Stärkung von Freiwilligendiensten bereits eingeleitet hat.
So wurden zuletzt im Jahre 2002 hier im Plenum Änderungsgesetze verabschiedet und die Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste im In- und Ausland flexibilisiert. Damit wurde ein weiterer Ausbau der
Freiwilligendienste gefördert.
In dieselbe Richtung zielt auch der Antrag, den wir
heute beschließen werden. Ich freue mich sehr, dass alle
Fraktionen des Deutschen Bundestages den Antrag jetzt
mittragen.
({1})
Ein gemeinsamer Beschluss des ganzen Bundestages
setzt ein sehr deutliches Zeichen der Anerkennung; das
ist ein richtiges und wichtiges Signal für die Freiwilligendienste. Denn leider genießen Freiwilligendienste
eben nicht die Anerkennung und vor allem nicht die öffentliche Wahrnehmung, die sie verdienen. Auch dagegen wollen wir mit den Forderungen, die im Antrag stehen, etwas tun. Einerseits wollen wir der hohen
Nachfrage in den bereits existierenden Freiwilligenprogrammen besser Rechnung tragen; andererseits sollen
neue Zielgruppen und Einsatzfelder für Freiwilligendienste erschlossen werden. Die Einrichtung von Modellprojekten ist dazu ein erster Schritt, der bereits umgesetzt wird. Zur Erprobung generationsübergreifender
Freiwilligendienste haben die Trägerorganisationen Projektvorschläge eingereicht, Projektvorschläge, deren
Vielzahl und innovativer Charakter beeindruckend sind.
Auch haben die Trägerorganisationen des freiwilligen
sozialen Jahres angeboten, die Anzahl der FSJ-Plätze innerhalb kurzer Zeit auf 30 000 pro Jahr zu erhöhen. Jetzt
muss der Bund die finanzielle Förderung entsprechend
anpassen. Auch das steht in unserem Antrag.
Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang
auch die internationalen Freiwilligendienste. Bei den
Auslandsdiensten ist die Nachfrage nach Freiwilligenplätzen besonders hoch. Das Angebot ist aber begrenzt.
Auch hier wäre eine Anhebung des Fördervolumens
wünschenswert. Denn die Erfahrung zeigt: Gerade im
Sinne intensiver interkultureller Begegnung leisten die
internationalen Freiwilligendienste schon jetzt Pionierarbeit. Um auch der Bedeutung der Freiwilligendienste im
Ausland besser gerecht zu werden, haben wir die ursprüngliche Fassung unseres Antrages ergänzt.
Mit Beschluss dieses Antrages ist die Arbeit natürlich
noch lange nicht getan; schließlich ist der Antrag in erster Linie als „to do“-Liste zu verstehen. Er enthält zahlreiche Prüf- und Arbeitsaufträge.
Mir persönlich ist der letzte Abschnitt besonders wichtig. Darin fordern wir die Regierung auf, die Einrichtung
eines eigenständigen Haushaltstitels und die Vorlage eines Rahmengesetzes für Freiwilligendienste auf Bundesebene zu prüfen. In beiden Maßnahmen sehe ich eine erhebliche Chance, die Wahrnehmung und Anerkennung
von Freiwilligendiensten nachhaltig zu verbessern. Ein
aus dem Kinder- und Jugendplan ausgegliederter Haushaltstitel würde Freiwilligendienste sichtbarer machen
sowie Kontinuität und Planungssicherheit für alle Beteiligten erhöhen. Ein Freiwilligendienstegesetz könnte zur
Klärung des Rechtsstatus für alle Freiwilligen beitragen.
Dazu kann auf bestehende Bundesgesetze zum freiwilligen sozialen und zum freiwilligen ökologischen Jahr aufgebaut werden.
Ich verspreche mir davon zweierlei: Erstens würde
ein rechtlich definierter Status ermöglichen, dass Freiwillige Anerkennung durch konkrete materielle Vorteile
erfahren, wie zum Beispiel die finanzielle Ermäßigung
bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.
Zweitens dürfte eine Verrechtlichung dazu beitragen,
dass Freiwillige ihre während des Dienstes erworbenen
Kompetenzen und Qualifikationen leichter nachweisen
und somit für ihren weiteren Lebensweg besser nutzbar
machen können.
In diesem Zusammenhang kommt auch der Definition
eindeutiger Qualitätsstandards für Freiwilligendienste
eine wichtige Rolle zu. Im Jahr 2004 wurden Trägerorganisationen erstmals mit einem neu entwickelten Qualitätssiegel ausgezeichnet, dem so genannten Quifd-Siegel. Dieses Siegel sollte ähnlich bekannt gemacht
werden wie das Logo der Stiftung Warentest. - Mit Genehmigung des Präsidenten möchte ich es kurz zeigen.
Ich habe es zwar nicht gesehen, aber das ist in Ordnung.
({0})
Wir werden im Vorfeld einer umfassenden rechtlichen
und gesetzlichen Regelung über die Frage der Zuständigkeit des Bundes diskutieren und diese klar beantworten
müssen. Eine bundeseinheitliche Regelung dürfte in diesem Fall ganz im Interesse aller Beteiligten sein. Ich
würde es sehr begrüßen, wenn wir uns im Zuge der weiteren Überlegungen erneut auf ein gemeinsames, fraktionsübergreifendes Vorgehen einigen könnten. Angemessen wäre es diesem Thema allemal.
Auch ich möchte abschließend die Zusammenarbeit
zwischen den Berichterstattern der verschiedenen Fraktionen würdigen und insbesondere unseren Kollegen
Toni Schaaf erwähnen, der durch sein Bemühen sehr
dazu beigetragen hat, dass wir eine gemeinsame inhaltliche Basis gefunden haben.
({0})
Besonderen Dank möchte ich auch jenen Vertreterinnen
und Vertretern der Träger von Freiwilligendiensten sowie allen aktiven und ehemaligen Freiwilligen aussprechen, die zur Erarbeitung dieses Antrags konstruktiv beigetragen haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns gemeinsam an der Umsetzung dieses Antrags arbeiten. Die Freiwilligendienste sind es wert, dass wir weiterhin zusammenarbeiten.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Andreas Scheuer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich wollte anfangs die gute und konstruktive Kommunikation zwischen den Berichterstattern hervorheben.
Da das bereits jeder meiner Vorredner getan hat, muss
der Kollege Anton Schaaf aufpassen, dass er nicht abhebt. Deswegen mache ich es nur indirekt: Anton, die
Zusammenarbeit war völlig okay.
Spaß beiseite. Die Opposition im Deutschen Bundestag ist kritisch, an der richtigen Stelle aber auch konstruktiv, nämlich dann, wenn es den Beteiligten hilft.
Von daher haben wir einen fairen Umgang erlebt und die
Kommunikation war gut. Das könnten wir eigentlich öfter so machen.
Aber uns ist auch klar, dass das zuständige Ministerium die Wünsche des Parlaments umsetzen muss. Hier
wird die CDU/CSU sehr genau hinschauen; denn die
Schwerpunkte, die die Koalitionsfraktionen und die
Bundesregierung beim Thema Freiwilligendienste gesetzt haben, waren bis dato, um es vorsichtig auszudrücken, etwas anders gelagert. Das werden wir, wenn eine
gewisse Zeit vergangen ist, noch einmal analysieren
müssen.
Die bürgerschaftlich Engagierten, die Aktiven leisten
für unsere Gesellschaft einen herausragenden Dienst. Sie
bringen sich ein und verkörpern eine solidarische Leistungsgesellschaft, in der ein Zusammenspiel von Rechten
und Pflichten besteht und in der mehr Teilkaskomentalität
mit Eigenverantwortung und weniger Vollkaskomentalität mit staatlicher Rundumversorgung vorherrschen. Ich
glaube, das muss auch der Weg in die Zukunft sein.
Heute debattieren wir über einen besonderen Teil des
bürgerschaftlichen Engagements, die Freiwilligendienste.
Neben den vielen älteren Menschen, die ihre Potenziale
auf diesem Gebiet für unsere Gesellschaft einbringen,
möchte ich insbesondere die jungen Freiwilligen hervorheben. Die Bewerberzahlen zeigen - das wurde bereits
angesprochen -: Die Nachfrage nach Plätzen in Jugendfreiwilligendiensten ist hoch. Es mag an den Problemen
in der Wirtschaft insgesamt und auf dem Arbeitsmarkt
liegen, ausgelöst durch eine miserable Politik von RotGrün,
({0})
dass junge Menschen hier eine Chance sehen, wenn sie
keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommen. Dass
die Konzepte von Rot-Grün falsch sind, hat die Debatte,
die wir am heutigen Vormittag zum Themenbereich Jugend geführt haben, gezeigt.
Was ich hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass es
sehr viele junge Bewerber für Freiwilligendienste gibt.
Unsere Jugend will sich in die Gesellschaft einbringen
und etwas leisten. Dass auf jeden Freiwilligendienstplatz
rund drei Bewerber entfallen, spricht eine deutliche
Sprache. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion findet es
ausgesprochen begrüßenswert, dass sich so viele junge
Menschen für Ehrenamt und Freiwilligendienste interessieren; das ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Unser Staatsgefüge wäre schlimm dran, wenn
es dieses Engagement nicht gäbe. Deshalb tragen wir Ihren Antrag mit, wenn auch mit der Einschränkung des
Punktes II; mein Kollege Dörflinger hat ja schon darauf
aufmerksam gemacht.
Ich möchte etwas vielleicht Lustiges von den Beratungen im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ erzählen. Jetzt meinen manche der Kollegen, die
nicht in diesem Ausschuss sitzen, vielleicht: Oh, jetzt
wird es langweilig; im Gegenteil, meine Damen und
Herren. Als Abgeordneter will man sich ja stets gut informieren und auf die Beratung im Ausschuss vorbereiten. Man wundert sich, wenn die dazu notwendigen Unterlagen aus dem Ministerium nicht geliefert werden.
Man geht dann schon etwas grimmig in seine Sitzung.
Und oh Wunder, zu diesem Punkt werden zwei arme
Mitarbeiter aus dem Ministerium vorgeschickt, weil der
zuständige Staatssekretär Ruhenstroth-Bauer anscheinend nicht den Mumm gehabt hat, Rede und Antwort zu
stehen.
Dann erklären manche Abgeordnete, dass die Unterlagen in den Postfächern - ganz zufällig und bei allen
Kollegen auf einmal - verschwunden sind, unauffindbar.
Es geht dabei um die Projekte zu den generationsübergreifenden Freiwilligendiensten, Volumen 10 Millionen
Euro. Nach unseren heftigen Protesten - dankenswerterDr. Andreas Scheuer
weise, wenn auch etwas dosiert, auch von den Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen unterstützt - hat
der Mitarbeiter des Ministeriums plötzlich - was er vorher bestritten hat - aus seinem hohen Stapel doch - wiederum ganz zufällig - eine Liste von 50 Projekten hervorgezaubert. Alle Projekte sind Anfang April gestartet.
Dabei hat der zuständige Staatssekretär RuhenstrothBauer genau gewusst, dass wir bis dahin keine Sitzungswoche mehr haben würden und darüber deshalb erst
Ende April im Ausschuss beraten können.
Dahinter vermutet man eine gewisse Methodik. Ich
möchte die Frage stellen, was er da zu verbergen gehabt
hat. Warum informieren Sie das Parlament nicht rechtzeitig über die Verteilung von 10 Millionen Euro? Auf
unsere Nachfrage konnte uns kein Katalog der Förderkriterien genannt werden, gesagt wurde nur ganz vage:
Zeitlich müssen die halt flexibel sein. Nicht beantwortet
wurde, ob das im Haushalt veranschlagte Geld reicht
oder nicht, mit wie viel die einzelnen Projekte gefördert
werden usw.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern
die Bundesregierung und das zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf, uns
einen Kriterienkatalog vorzulegen, die Höhe der Förderung für die einzelnen Projekte genau darzustellen und
weitere genaue Erläuterungen zu geben. An die Adresse
von Herrn Staatssekretär Ruhenstroth-Bauer - Frau
Staatssekretärin Riemann-Hanewinckel wird ihm das sicher weiterleiten -: Wir fordern, dass Sie in der nächsten
Ausschusssitzung Rede und Antwort stehen. Machen Sie
gefälligst Ihre Arbeit ordentlich, damit die gute Sache
der Freiwilligendienste nicht unter Ihren Fehlern leidet!
Wir sind die gewählten Vertreter der Bürgerinnen und
Bürger und haben das Recht, zu wissen, was mit dem
Geld der Bürger - in diesem Fall 10 Millionen Euro gemacht wird.
Meine Damen und Herren, eine überaus hohe Anzahl
von jungen Frauen bringt sich durch Freiwilligendienste
für die Gesellschaft ein. Eine Tatsache ist auch, dass vor
allem junge Menschen mit höherem Schulabschluss
diese Angebote wahrnehmen. Für Hauptschüler müssen
wir die Attraktivität der Freiwilligendienste also noch zu
erhöhen versuchen. Freiwilligendienste bieten Charakterbildung und Orientierung, tragen zur Qualifizierung
im Bereich der Werte und der Schlüsselkompetenzen
bei. Frau Kollegin Lenke hat ja schon darauf verwiesen,
dass das für den Einstieg ins Berufsleben entscheidend
sein kann und die Unternehmen ein gesteigertes Interesse daran haben, dass sich junge Bewerber auf eigene
Kosten und freiwillig weiterbilden.
Gerade bei der Ausbildungsplatzknappheit können
Freiwilligendienste jungen Menschen einen wichtigen
Anker bieten, ohne dass dieses Freiwilligenjahr zu einer
regelrechten Warteschleife werden darf; darin sind wir
uns, wie ich glaube, auch alle einig. Mit dieser Initiative
beleben wir die Diskussion neu: hin zu einer Kultur des
generationenübergreifenden Helfens.
Was sind die Erwartungen junger Menschen an eine
freiwillige Tätigkeit? Eine Umfrage unter 14- bis 24-Jährigen hat ergeben: Es muss Spaß machen - dies sagen
93 Prozent -, Kontakte zu Menschen knüpfen - 83 Prozent -, eigene Erkenntnisse und Erfahrungen erweitern
- 74 Prozent -, anderen Menschen helfen - 70 Prozent -,
etwas fürs Gemeinwohl tun - 70 Prozent - usw. Das sind
erfreuliche Zahlen. Das heißt, dass wir ein positives
Klima über unsere Jugend in Deutschland vermitteln sollten. Sie ist leistungsbereit, wissbegierig und freiwillig engagiert.
({1})
Bei den vielen jungen Herrschaften, die heute unsere
Debatte verfolgen, kann man nur dafür werben, sich
auch freiwillig zu engagieren, sich zu überlegen, ein
Freiwilligenjahr einzulegen.
Es ist auch klar, dass wir die Freiwilligendienste keiner Altersgrenze unterwerfen dürfen. Die Botschaft
muss lauten: Wer sich engagiert, gewinnt, egal welchen
Alters. Wir bauen dabei auch auf die Erfahrungen der älteren Menschen in unserem Land. Die Entwicklung
neuer, generationsübergreifender Freiwilligendienste erfordert aber auch Veränderungen in der Trägerorganisation und in den Einsatzstellen sowie eine weitere Öffnung der Einsatzbereiche.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, für solche
Initiativen ist meine Fraktion immer offen. Man muss
auch dazu sagen: Vielleicht kann das für manchen
Hauptschüler - die Zahlen belegen leider, dass sie dieses
freiwillige Jahr nicht so oft in Anspruch nehmen - auch
eine Hilfe zur Selbsthilfe und zur Weiterbildung sein.
Wir müssen vielleicht noch einmal gemeinsam daran arbeiten, dass sich gerade auch die Jugendlichen mit einem
geringeren Schulabschluss hier mehr engagieren.
Bei Punkt II, wonach so genannte Nichtheranziehungsgründe für den Zivildienst verstärkte Anerkennung
finden sollten, werden wir nicht mitmachen. Kollege
Dörflinger ist darauf eingegangen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
die Aufgabe, 2006 einen Bericht vorzulegen. Normalerweise ist Papier ja geduldig. Wir als Opposition werden
aber genau hinschauen. Schließlich müssen wir mit dem
Bericht nach der Bundestagswahl 2006 weiterarbeiten.
({2})
- Nein, als Regierung werden wir mit dem Bericht weiterarbeiten müssen, Herr Kollege Schaaf. - Wir werden
auch genau hinschauen, ob das Ministerium die Freiwilligendienste gemäß der Haltung des Parlaments aus- und
umbaut. Vor der Veröffentlichung dieses Berichts rate
ich der Bundesregierung und der Koalition - die in diesem Fall Kontrahenten sind -, sich in ihrer Auffassung
über die Schwerpunktlegung einig zu werden; denn wir
werden bei der Analyse genau hinschauen und uns den
Bericht ganz genau vornehmen.
Der vorliegende Antrag ist für uns weitgehend tragfähig. Machen Sie im Sinne unserer Engagierten und der
am Engagement Interessierten etwas daraus.
Herzlichen Dank.
({3})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Kollegin Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal finde ich es erfreulich, dass sich die
Opposition bei den Beratungen zu diesem Antrag, der
vor dem Tag des Ehrenamtes im Dezember eingebracht
wurde, gemeinsam mit uns auf diesen Weg begeben hat
und bereit ist - wenn vielleicht auch nur in Teilen, wie
die CDU/CSU -, diesen Antrag zu unterstützen. Herr
Dr. Scheuer, das ist jetzt auch ein Lob an Sie und an
Herrn Dörflinger.
({0})
Ich glaube, wir alle sind gut beraten, die Bürgergesellschaft nicht für parteitaktische Spielchen zu benutzen.
Wir Abgeordnete loben bei unseren Sonntagsreden nämlich immer, wie toll alles ist. Sie kennen das aus Ihrem
Wahlkreis. Wenn ich hier nach oben schaue, dann sehe
ich, wie viele junge Menschen hier sind. Meine Besuchergruppe ist gerade von der Tribüne gegangen, was
schade ist. Diese Gruppe, ein Jugendorchester des Musikvereins Stuttgart-Hofen, zeichnet sich aus durch ihr
musikalisches Engagement, die Lebensqualität in Stuttgart zu erhöhen. Die Mitglieder bringen sehr viel ehrenamtliches Engagement ein und vollziehen freiwillig ihre
Dienste wie so viele andere auch. Wir, die SPD, und
auch die Regierungskoalition haben dafür gesorgt, dass
auch im Bereich des Jugendfreiwilligendienstes neue
Einsatzfelder möglich gemacht wurden. Ich denke insbesondere an das ökologische Jahr und an den Bereich der
Kultur.
Wir alle wissen und betonen es auch immer wieder,
wie toll das ist und dass es sich für die jungen Menschen,
die sich engagieren, lohnt. Darüber hinaus betonen wir
auch immer, wie toll das für uns, die Gesellschaft, ist. Irgendwann einmal kommt es dann aber zum Bruch. Sie
von der Opposition haben hier einiges zitiert. Wir haben
von Ihnen heute gehört, dass das Engagement in der
Bürgergesellschaft da ist. Ich hoffe, dass das von uns allen hier im Hause durch eine entsprechende Unterstützung in Form von Gesetzen politisch begleitet wird.
Ich möchte ganz gerne einige Ausführungen von
Herrn Dörflinger und Herrn Scheuer korrigieren. Es ist
nicht so, dass das Engagement zurückgegangen ist. Sie
kennen die Zahlen vom zweiten Freiwilligensurvey. Der
Ministerin und ihrem Haus ist zu danken, dass dieses
überhaupt wieder durchgeführt wird. Es zeigt sich, dass
das Engagement insgesamt von 34 Prozent auf
36 Prozent gestiegen ist. Letztes Mal haben wir bereits
geschaut, wie es vor allem bei den aktiven Älteren aussieht. Auch dort gibt es inzwischen einen Zuwachs an
Engagement. Wenn wir es uns genauer betrachten, dann
sehen wir, dass es bei den 56- bis 65-Jährigen einen Zuwachs von 36 Prozent auf 40 Prozent gibt.
Erstaunlich ist - das freut uns natürlich -, dass auch
bei den 66- bis 75-Jährigen, also den aktiven Alten, ein
Zuwachs zu verzeichnen ist. Besonders schön ist, dass
auch die Zahl der Engagierten bei den über 76-Jährigen
zugenommen hat. Das ist für uns ein Indiz dafür, dass
wir dieses Engagement abholen und mit neuen Formen
begleiten müssen.
Wir brauchen dieses Engagement, um eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln; das haben auch Sie betont, Herr Dörflinger. Wir brauchen nicht nur einen
quantitativen Ausbau der Freiwilligendienste, sondern
auch einen qualitativen Ausbau. Ich denke, dass wir den
jungen Menschen, die sich freiwillig engagieren, ein
größeres Angebot an Freiwilligendiensten machen müssen. Sie alle haben betont, dass die Freiwilligendienste
ein wichtiges Bindeglied zwischen Schule und Beruf
sind.
Früher waren es - um das noch einmal ins Gedächtnis
zu rufen - nur die Mädel - dazu sage ich gleich noch
etwas -, ausgehend von der Diakonie in Stuttgart in den
60er-Jahren, die damals eine Arbeitsmarktlücke schließen mussten - ich wünsche mir, dass die Situation auf
dem Arbeitsmarkt heute besser wäre -, weil dieses Engagement im sozialen Bereich gefehlt hat. Damals
wurde dieses Angebot für die Mädchen entwickelt. Das
freiwillige soziale Jahr war eine ausgesprochene Mädchendomäne.
Heute kommen Gott sei Dank auch die Jungen dazu.
Inzwischen ist dieses Angebot eine attraktive Alternative
für die Zivildienstleistenden. Viele Träger stellen vom
Zivildienst auf Freiwilligendienste um, weil sie so die
jungen Menschen länger in ihrer Organisation haben und
sie mehr mit ihnen machen können. Dies wird von den
jungen Menschen dankbar angenommen, weil sie sehen,
dass dieser Freiwilligendienst eine Möglichkeit ist, Erfahrungen zu sammeln, um ihr Leben sozusagen planerisch in die Hand zu nehmen und eine berufliche Perspektive zu erhalten.
Das Gleiche gilt auch für die älteren Menschen. Viele
Vorruheständler - das wurde vorhin beschrieben -, die in
Altersteilzeit oder in den Vorruhestand gegangen sind,
haben den Wunsch, eingebunden zu werden, und finden
auch Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen. In Ihren
Wahlkreisen werden Sie schon mit neuen Formen der
Freiwilligendienste konfrontiert. Viele Ältere unterstützen inzwischen die Grundschulen im Bereich Lesen. Es
gibt in Berlin dazu eine ganze Reihe toller Projekte.
Viele ehrenamtliche Initiativen unterstützen die Ganztagsschulen. Ich erinnere nur an Rheinland-Pfalz. Auch
Baden-Württemberg will diesen Weg gehen. Ebenso
sind die Bayern mit dabei. Wenn wir uns die Situation
einmal vor Augen führen, stellen wir fest: Wir brauchen
einen neuen Generationenvertrag der Engagierten. Wir
müssen für diesen neuen Generationenvertrag der Engagierten die Weichen entsprechend stellen.
Noch ein Wort an die Christdemokraten bzw. die Kirchen, weil sie aufgrund des Todes von Papst Johannes
Paul zurzeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
Ich will Claudio Kardinal Hummes zitieren, Erzbischof
von Sao Paulo. Er hat zu einem anderen Thema gesagt:
„Man kann auf neue Fragen keine alten Antworten geben.“ Wir sind gut beraten, dieses Zitat auf die Freiwilligendienste anzuwenden.
({1})
Ich habe schon gesagt, dass die Freiwilligendienste so
begehrt wie noch nie sind und dass die Zahl der Inanspruchnahme in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Wir als Bund haben mit der Hilfe und der Unterstützung des Ministeriums dafür gesorgt, dass wir hier
Aufbauarbeit leisten konnten.
({2})
Jetzt noch einmal zu den jungen Menschen. Die jungen Menschen brauchen ein verstärktes Angebot. Aber
auch für die älteren Menschen brauchen wir Modelle,
die die Zukunft der Freiwilligendienste sicherstellen.
Dies tun wir mit unserem Antrag. Hier stehen wir alle
erst am Anfang. Ich wünsche mir, dass sich keiner in die
Büsche schlägt. Während hier nämlich einige verbal radikale Forderungen stellen und Unterstützung signalisieren, sagen sie beim nächsten Schritt: Wir warten erst einmal ab und schauen, was die anderen machen.
({3})
- Das richtet sich vor allem an Sie, Herr Dr. Scheuer.
Wir brauchen für diesen Weg auch Ihre Unterstützung,
besonders wenn Sie mit uns übereinstimmen.
Die FDP ist an unserer Seite. Sie von der CDU/CSU
aber verquicken das nach unserer Meinung zu sehr mit
dem Thema Zivildienst. Wir sagen: Unabhängig davon,
wie über die Wehrpflicht entschieden wird, sehen wir die
Chance und die Möglichkeit, finanzielle Mittel freizumachen, um den Ausbau der Freiwilligendienste für
Junge wie auch für die Älteren voranzubringen.
Wichtig ist, dass wir bei den Freiwilligendiensten
Qualität bieten. Wichtig ist auch, dass für die Engagierten klar ist, dass sie nicht als Ersatzarbeitskraft missbraucht werden. Sie brauchen eine soziale Absicherung
und es dürfen keine regulären Arbeitsstellen wegfallen.
Daher ist das Gütesiegel von Bedeutung. Das Gütesiegel
„Quifd“ wurde mit Unterstützung der Bosch-Stiftung auf
den Weg gebracht, die mit ihrem eigenen Management
der Qualitätssicherung die Entwicklung des Gütesiegels
betrieben hat. Ich habe die Ehre gehabt, die Präsentation
des Gütesiegels unterstützen zu dürfen.
Wir sind ist oft auf Appetit und Genuss aus. Die Gesellschaft hat Appetit auf Engagement. Ich wünsche mir
deshalb einen Guide Michelin, der den Appetit in Sachen Ehrenamtlichkeit und Freiwilligendienste unterstützt. Das wird den Menschen wieder Mut machen und
ihr Engagement unterstützen. Ich lade Sie ein, mit uns
gemeinsam voranzuschreiten.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/4395 zur Zukunft der Freiwilligen-
dienste. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/5175, den Antrag in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Es ist vereinbart, dass über die Be-
schlussempfehlung getrennt abgestimmt wird. - Dazu
gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann können wir
so verfahren.
Wir stimmen zunächst über die Ziffern I und III der
Beschlussempfehlung ab. Wer dafür stimmt, den bitte
ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Das ist einstimmig so be-
schlossen.
Wer stimmt für die Ziffer II der Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Ziffer II der Beschlussempfehlung ist
mehrheitlich angenommen. Insgesamt ist damit die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Ich rufe jetzt entsprechend unserer geänderten Tages-
ordnung die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
9 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Fischer ({0}), Eduard Oswald, Dr. Klaus
W. Lippold ({1}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/5102 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/4536 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst
Friedrich ({4}), Daniel Bahr ({5}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/5258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Renate Blank für die CDU/CSUFraktion.
({7})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün
verspielt mit langen Planungszeiten für die Verkehrsinfrastruktur und mit ausufernder Bürokratie die Zukunft
Deutschlands.
({0})
Es ist doch schon seit langem bekannt, dass der Zeitaufwand für die notwendigen Verwaltungsverfahren zur Erstellung der Infrastruktur häufig Anlass politischer Diskussionen auf allen Ebenen ist. Niemand wird bestreiten:
Die Planung des öffentlichen Verkehrswegebaus, egal ob
Straße, Schiene oder Wasserstraße, nimmt in Deutschland einen unangemessen langen Zeitraum in Anspruch.
({1})
Die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist hier voll
angebracht, zumal bei vielen Projekten die Planungszeiten schon bei über 30 Jahren liegen.
({2})
Rot-Grün hat zwar mit einem Federstrich einige dieser
Projekte aus dem Bundesverkehrswegeplan aus ideologischen Gründen gestrichen und damit Planungskosten
in den Sand gesetzt, die bis zu 20 Prozent der Kosten
ausmachen und nun leider bei den Ländern, die die Planungskosten zu tragen haben, hängen bleiben, aber die
Planungszeiten bleiben nach wie vor zu lang. Die Zeit
drängt gerade im Hinblick auf eine leistungsfähige Infrastruktur, die in unserer heutigen Umbruchsituation der
Dreh- und Angelpunkt für die internationale Mobilität
von Gütern und Personen ist. Notwendig sind daher eine
ideologiefreie, bedarfsorientierte Infrastrukturplanung,
eine solide Finanzierungsbasis für die Infrastruktur in
den öffentlichen Haushalten, verstärkt privatwirtschaftlich orientierte Finanzierungsalternativen und die beschleunigte Umsetzung von Infrastrukturprojekten.
„Nicht reden, sondern zügig handeln“ lautet das
Motto, nach dem wir einen Gesetzentwurf zur Änderung
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes eingebracht haben, da selbst die Bundesregierung in den
kommenden Jahren ein kräftiges Wachstum im Personen- und Güterverkehr erwartet, das nur mit einer gut
ausgebauten Infrastruktur zu bewältigen sein wird. Aber
was macht die Bundesregierung? Es liegt immer noch
kein Gesetzentwurf vor, obwohl vollmundig getönt wird,
dass noch in diesem Jahr Maßnahmen zur Vereinfachung
und Beschleunigung von Planungsverfahren ergriffen
werden sollen, „sodass den neuen Ländern mit Ablauf
des Jahres 2005 ein gleitender Übergang in ein für ganz
Deutschland geltendes vereinfachtes Planungsrecht ermöglicht wird“. So die Aussage der Bundesregierung.
({3})
Einen Augenblick, Frau Kollegin. - Ich möchte doch
sehr dafür werben, dass unvermeidliche Gespräche zwischen den Kollegen gegebenenfalls außerhalb des Plenarsaals, jedenfalls nicht in den vorderen Reihen durchgeführt werden. Das erschwert nämlich die
Verständigung.
({0})
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Da hat doch tatsächlich der Bundeskanzler seine Regierungserklärung vom 17. März mit der Ankündigung
eines Planungsvereinfachungsgesetzes abgegeben,
ohne sich mit den Grünen abzustimmen. Das bedeutet
Streit und Ärger in der Koalition.
({0})
Es ist ja durchaus anzuerkennen, dass beim Bundeskanzler eine Sinnesänderung eingetreten ist. Denn als es
im Jahr 1991 um das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ging, war er der größte Gegner. Die heftigsten Widersacher waren der damalige niedersächsische
Landesminister Trittin und der frühere niedersächsische
Ministerpräsident Schröder. Aber anscheinend haben die
Ankündigungen von Minister Stolpe - ich zitiere: „Verzögerungstaktiken durch Umweltverbände darf es nicht
mehr geben“, die „Einspruchsfrist von Umweltverbänden muss auf zehn Wochen begrenzt werden“, „das
plötzliche Auffinden von Hamstern, um begonnene Bauvorhaben zu blockieren, wird nicht mehr möglich sein“
oder „Vorarbeiten und Ausschreibungen sollen künftig
auch während einer Klage möglich sein“ - die Grünen so
erschreckt, aufgeregt und auf den Plan gerufen, dass ein
Regierungsentwurf rasch wieder zurückgezogen wurde
bzw. werden musste.
Man kann nun gespannt sein, wie sich der Streit zwischen den Koalitionspartnern entwickelt und ob aufgrund dieses Streits der geplante Zeitrahmen eingehalten
werden kann. Wird es überhaupt ein Gesetz geben? Wer
wird sich letzten Endes durchsetzen: die Grünen mit ihrem heimlichen Verkehrsminister Albert Schmidt
({1})
oder die SPD mit Minister Stolpe?
Laut Zeitungsberichten soll das neue Gesetz zwar einfacher werden als die bisherigen Vorschriften, jedoch
komplizierter als das bisher im Osten geltende Recht. So
kritisiert auch der Sprecher der ostdeutschen SPD-BunRenate Blank
destagsabgeordneten, der frühere Staatssekretär im
BMVBW, Stephan Hilsberg:
({2})
Der Vorteil aus dem ostdeutschen Recht für die Realisierung von Straßenbauvorhaben geht zum großen
Teil verloren. Die Bundesregierung will ohne Not
auf die alten westdeutschen Rechtsstandards zurück.
Bei dieser Aussage kann man sich des Eindrucks
nicht erwehren, dass eine Vereinfachung planungsrechtlicher Vorschriften wahrscheinlich nicht zustande kommen wird. Ich bin auf den Gesetzentwurf gespannt. Bei
Ihnen ist sicherlich die Erkenntnis vorhanden - Sie haben das nach der EU-Osterweiterung auch immer wieder
angeführt -, dass schnellere Planungszeiten und Beschleunigungsverfahren notwendig sind. Die Erkenntnis
ist zwar vorhanden, aber Ihr Handeln erfolgt diametral
zu dieser Erkenntnis. Es gilt im Übrigen für viele Gesetzentwürfe von Rot-Grün, dass Reden und Handeln
auseinander klaffen.
({3})
Unverkennbar herrscht bei Rot-Grün das Interesse
vor, Planungen hinauszuzögern. Der Streit in der Koalition um eine Planungsvereinfachung und -beschleunigung könnte im Interesse des Erhalts und der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur und damit der Sicherung
von Mobilität und Wachstum sofort beendet werden,
wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden.
({4})
Rot-Grün mit dem Ankündigungsminister Stolpe fehlt
es an programmatischer Realisierung. Deshalb sollten
Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.
({5})
Für die Bundesregierung erhält der Parlamentarische
Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland eine
moderne und leistungsfähige Infrastruktur: eine gute
städtische Infrastruktur, gute Transportsysteme, leistungsfähige Straßen sowie ein dichtes Netz von Energieversorgungsleitungen. Diese Infrastruktur ist ein Pfund,
mit dem Deutschland im internationalen Wettbewerb der
Standorte nach wie vor wuchern kann. Dies soll so bleiben.
({0})
Die Bundesregierung setzt daher genau die richtigen
Signale für den weiteren Ausbau der Infrastruktur. Der
Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am
17. März dieses Jahres die zentralen Entscheidungen
noch einmal genannt: zusätzlich 2 Milliarden Euro für
die Verkehrsinfrastruktur,
({1})
ein Beschleunigungsgesetz für öffentlich-private Partnerschaften und ein Gesetz zur Vereinfachung von Planungsprozessen.
({2})
Wir brauchen mehr Effizienz bei der Planung. Beschlossene Infrastrukturprojekte müssen zügig realisiert werden. Hinsichtlich der Bedeutung zügiger und effizienter
Planungsverfahren sind wir uns einig. Frau Blank, ich
glaube, hier brauchen wir keinen Dissens zu suchen.
({3})
Eine Verlängerung bzw. Modifizierung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes, wie Sie es fordern, reicht aber nicht aus. Das ist eindeutig zu wenig.
Wenn wir heute den Anforderungen einer effizienten Infrastrukturplanung Rechnung tragen wollen, muss uns
Neues einfallen. Was wir jetzt brauchen, sind einfache,
transparente und insbesondere kalkulierbare Verfahren
in ganz Deutschland, und zwar sowohl bei den Verkehrswegen als auch bei den Energieversorgungsleitungen.
Es geht dabei auch darum, die Voraussetzungen für einen wachsenden Anteil erneuerbarer Energien an unserer Energieversorgung zu schaffen, ein Schritt der Zukunftsvorsorge ersten Ranges.
Unkalkulierbar ist heute zum Beispiel, dass nach dem
geltenden Planungsrecht Stellungnahmen von Vereinen
noch immer ohne Fristen, das heißt noch nach Abschluss
der regulär vorgesehenen Verfahrensschritte abgegeben
werden können. Damit wird der Planungsverlauf völlig
unkalkulierbar. Daher wollen wir als Kernelement unseres Gesetzes eine umfassende Präklusion für alle Vereinigungen einführen.
({4})
Alle Beteiligten, die Planungsträger, die Firmen und
auch die Verwaltung, brauchen mehr Rechts- und
Planungssicherheit und weniger Bürokratie. Nicht zuletzt führt das auch zu einer spürbaren Beschleunigung
solcher Verfahren.
Wir werden deshalb den Entwurf eines
Infrastrukturplanungsvereinfachungsgesetzes vorlegen.
({5})
- Wir sind kurz davor, darüber im Kabinett zu beraten.
Ich denke, dass wir einen solchen Entwurf bis zum Sommer dieses Jahres vorlegen können.
Ich hoffe, dass die Opposition und die Länder ihrem
Bekenntnis zur Planungsbeschleunigung dann auch Taten folgen lassen, damit das Gesetz zum 1. Januar 2006
in Kraft treten und das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ablösen kann. Genau deshalb können wir
den heute zur Diskussion stehenden Gesetzentwürfen
nichts abgewinnen. Sie bringen uns nämlich in zentralen
Fragen nicht weiter.
({6})
Erst mit unserem Gesetz und den neuen Instrumenten,
von denen ich eines plakativ und beispielhaft erwähnt
habe, werden wir die Planungsphase für unsere wichtigen Infrastrukturprojekte um mehrere Monate verkürzen
und besser kalkulieren können, wann wichtige Verkehrswege, städtische Bauvorhaben und Versorgungsleitungen fertig sein werden. Die Attraktivität Deutschlands
als Investitionsstandort wird damit deutlich gewinnen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Kollege, es gibt auch Leute, die ohne Manuskript reden können.
({0})
Herr Präsident! Wir beraten heute zum wiederholten
Male über Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes. Das ist
zuerst einmal zu begrüßen; denn die Regierungskoalition
hatte noch Ende 2002/Anfang 2003 die Meinung vertreten, es bedürfe keiner weiteren Gesetze und man könne
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz auslaufen lassen.
Wir sehen nun mit großer Begeisterung, dass die Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzler, auf einmal
erklärt, das gehe nun doch nicht. Deswegen beraten wir
heute wieder über mehrere Gesetze. Allerdings wurden
sie vom Bundesrat, von der CDU/CSU-Fraktion und von
der FDP-Fraktion eingebracht. Was die Bundesregierung
oder die sie tragenden Koalitionsfraktionen angeht, gilt
wie immer: Fehlanzeige.
Das Ganze geschieht angesichts einer in mittlerweile
15 Jahren gewonnenen Erfahrung im Umgang mit dem
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz in den neuen
Bundesländern. Als wir dieses Gesetz damals verabschiedet haben, bedeutete es angeblich den Untergang
der Bürgerrechte. Die Bundesregierung selbst weist darauf hin - das steht in ihrem Erfahrungsbericht -, dass in
den Planungsverfahren in den neuen Ländern mit diesem
Instrument sorgfältig umgegangen und ganz offensichtlich nicht gegen den Bürger entschieden worden ist. Der
große Unterschied ist: Die Rechtsansprüche sind auf den
Weg der Klage beim Bundesverwaltungsgericht, also auf
einen Rechtszug, begrenzt. Das macht Sinn und das hat
sich offensichtlich ausgezahlt.
({1})
Herr Staatssekretär, warum versuchen Sie jetzt, ein
völlig neues Instrument aus der Taufe zu heben? Sie
kündigen an, dass Sie bald das Kabinett erreichen; dann
müssen Sie sich auch mit Ihrem Kollegen Trittin einigen.
Ich glaube an die Existenz solcher Gesetzentwürfe mittlerweile erst dann, wenn sie dem Bundestag vorliegen.
Fakt ist: Der Bundeskanzler hat etwas im März vollmundig verkündet und Sie sind, obwohl Ihnen dank eines riesigen Ministeriums die besseren Instrumente zur
Verfügung stehen, noch nicht einmal in der Lage, jetzt
einen Gesetzentwurf vorzulegen. Sie vertrösten uns damit, dass Sie vielleicht vor der Sommerpause so weit
sind.
({2})
Sehr verehrter Staatssekretär, das Fluglärmgesetz
wollten Sie eigentlich schon in der letzten Legislaturperiode verabschieden. Es ist noch immer in der Mache,
weil man sich offensichtlich nicht einigt. Wenn die Verabschiedung des neuen Infrastrukturplanungsvereinfachungsgesetzes - es muss erst einmal durch alle
Gremien - genauso lange dauert wie die des Fluglärmgesetzes, dann haben auch die zusätzlichen Verkehrswegeinvestitionsmittel in Höhe von 2 Milliarden Euro, die Sie
zur Verfügung stellen wollen, wenig Sinn. Was die
Haushaltszahlen angeht, ist mir ohnehin ein bisschen der
Glaube abhanden gekommen, woher das entsprechende
Geld kommen soll. Wie wollen Sie das Ganze denn finanzieren?
({3})
Wenn Sie dieses Geld wirklich hätten, dann hätten Sie es
ja bereits in den Haushalt einstellen können.
({4})
Das, was jetzt passiert, geschieht wieder einmal nach
dem bekannten Motto: ein bisschen vertrösten, ein bisschen angeben, aber dann nichts bringen. Wir werden Sie
jetzt testen.
Ich bin einmal gespannt, wie der Verkehrsminister auf
die beiden Gesetzentwürfe der Opposition reagiert
- dankenswerterweise ist auch die Union mittlerweile
dazu bereit, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz auf beide Teile unseres Landes auszudehnen; sehr verehrter Herr Vorsitzender, so weit waren wir
schon vor zwei Jahren; es wäre ein bisschen schneller
gegangen, wenn ihr gleich Ja gesagt hättet - und mit
welcher Begründung Rot-Grün diese Gesetzentwürfe ablehnt.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, das wir heute diskutieren - Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz -, ist ein abgenagter Knochen; da ist nichts mehr dran, was uns für die
Zukunft weiterhilft.
({0})
Das erkennen Sie übrigens auch am schwachen Interesse
in meiner Fraktion; die Mitglieder meiner Fraktion können das Ganze bald nicht mehr hören.
({1})
Wer dieses Thema auch heute noch zu einer Frage erklärt, deren Beantwortung über die Zukunft der deutschen Verkehrsinfrastruktur entscheidet, der bläst in
Wirklichkeit einen ideologischen Luftballon auf.
({2})
- Hören Sie doch einmal auf mich statt auf den Staatssekretär. Jetzt rede doch ich, oder? Herr Kollege
Friedrich, meine Redezeit hat begonnen.
({3})
- Ich stehe schon im Ruf, mich in Rom bei der Papstwahl zu bewerben. Beides gleichzeitig kann ich nicht
machen.
Worum geht es denn? Was sind die schlichten und
nüchternen Fakten? Eine Umfrage unter allen Baumaßnahmeträgern, die damit zu tun haben, hat für den Berichtszeitraum 1. Januar 2000 bis 31. Juli 2003 ergeben
- ich zitiere aus dem Bericht des Bundesverkehrsministeriums; er hat sicherlich auch etwas mit dem Staatssekretär zu tun -:
Die Auswertung dieser Daten - gemeint sind die
über Verfahren nach dem Beschleunigungsgesetz lässt nach Aussage der Vorhabenträger keine Unterschiede zu den Verfahren erkennen, bei denen die
Regelungen des Beschleunigungsgesetzes nicht zur
Anwendung kamen.
Was heißt das im Klartext? In den Jahren 2000 bis
2003 hat dieses Gesetz gar nichts mehr beschleunigt. Beschleunigt hat es in der Tat in den ersten Jahren nach
Wiederherstellung der deutschen Einheit. Aber jetzt, 14,
15 Jahre danach, dieses Sonderrecht Ostzone noch behaupten zu wollen und krampfhaft daran festhalten zu
wollen,
({4})
obwohl es erkennbar nicht mehr wirkt, ist blanker Unsinn;
({5})
ich könnte auch sagen: „blankscher Unsinn“; aber das
sage ich nicht.
({6})
Der eigentliche Regelungsgehalt, den dieses Gesetz
noch hat, ist die Verkürzung des Rechtswegs auf die
eine Instanz Bundesverwaltungsgericht Leipzig. Nahezu alles andere wurde längst in das Planungsvereinfachungsgesetz übernommen, das unbefristet und geografisch unbeschränkt, also für die ganze Republik, gilt. Da
hinein können wir gar nichts mehr übernehmen. Eine
Verlängerung der Geltungsdauer des Ende des Jahres
auslaufenden Beschleunigungsgesetzes wäre nicht nur
nicht nötig, sondern sogar falsch. Warum?
Erstens. Wenn der Antrag auf Plangenehmigung gestellt ist, dann gelten die Regeln des Beschleunigungsgesetzes noch über das Jahresende hinaus, und zwar unbefristet. Das heißt, Projekte, die unter der Maßgabe des
Beschleunigungsgesetzes begonnen worden sind, haben
insofern sozusagen Bestandsschutz, nämlich Anspruch
darauf, nach diesem Verfahren zu Ende geführt zu werden, auch wenn es noch so lange dauert. Also, regt euch
gar nicht auf!
({7})
Punkt zwei. Der eigentliche Grund für die Schaffung
des Gesetzes damals, nämlich dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern einfach noch
nicht verfügbar war, ist erkennbar entfallen. Die Oberverwaltungsgerichte arbeiten. Sie arbeiten gut. Sie haben
es gar nicht nötig, sich bevormunden zu lassen.
Dritter Punkt. Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Herr Eckart Hien, hat in diversen Expertengesprächen mit den Bundestagsfraktionen glaubhaft ausgeführt,
dass es bei Verfahren vor Oberverwaltungsgerichten
nach allem, was ihm bekannt ist und was statistisch bekannt ist, in aller Regel bei dieser einen Instanz bleibt.
Nur in 5 Prozent aller Fälle ist jemand, ein Einzelner
oder ein Verband, in die nächste Instanz gegangen.
({8})
Jetzt so zu tun, als sei die Verkürzung des Instanzenweges die eigentliche Beschleunigung, ist sachlich grundfalsch und daneben.
({9})
Albert Schmidt ({10})
Herr Hien hat auch dargelegt, um welche Projekte es
dabei geht. Es geht ausdrücklich nicht um VDEs, also
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, Großprojekte; in
den 5 Prozent der Fälle, in denen überhaupt nur die
nächste Instanz angerufen wird, geht es in aller Regel
um kleine, lokal bedeutsame Ortsumfahrungen. Er sagt
sogar - das ist auch unsere Einschätzung -, dass eine
Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes, das
Ende des Jahres auslaufen soll und wird, letztlich kontraproduktiv wäre; denn dann würde man den einen Senat,
den es dazu derzeit beim Bundesverwaltungsgericht
gibt, überlasten; ein zweiter müsste erst noch etabliert
werden - und das für ein Sonderrecht, das wir nicht
mehr brauchen.
({11})
Ich fasse zusammen: Was verlangsamt unsere Planungen wirklich? Es ist weder der Verzicht auf die Verlängerung der Geltungsdauer des Beschleunigungsgesetzes
noch sind es der Hamster und seine Hilfstruppen beim
Bund Naturschutz usw.
({12})
Was die Planung verlangsamt, ist Folgendes - das finde
ich hochinteressant, liebe Kolleginnen und Kollegen -:
Zunehmend reißt die Unsitte ein, dass bei Ausschreibungen unterlegene Bewerber vor der Vergabekammer klagen und dort ein langes Verfahren anstrengen,
({13})
um doch noch in den Genuss des Auftrags zu kommen
oder sich wenigstens als Beteiligter einzuklagen. Interessant sind ferner Verfahrensverkürzungen, die in der Zuständigkeit der Länderbehörden möglich wären. Die haben nicht alles getan, um ein unbürokratisches Vorgehen
zu gewährleisten.
Unsere Vorgehensweise, die in der Koalition übrigens
verabredet ist - da können Sie gar keinen Dissens
hineininterpretieren -, ist die, dass wir mit einer Gesetzesinitiative unter der Überschrift „Bauen einfacher machen“ verfahrenstechnische Vereinfachungen mit beschleunigenden Effekten auf den Weg bringen werden.
Das wird garantiert keine Bürgerbeteiligung unzulässig
verkürzen.
({14})
Das wird - da brauchen Sie keine Angst zu haben keine Ökostandards bzw. Umweltstandards aushebeln.
({15})
Aber es wird helfen, verfahrenstechnische Dinge, soweit
es möglich ist, zu beschleunigen und das schneller auf
die Schiene bzw. die Straße zu bringen. Dagegen haben
wir nie etwas gehabt. Dagegen werden wir auch künftig
nichts haben. Aber einen abgenagten Knochen - das ist
das veraltete Gesetz nämlich - länger als notwendig im
Maul zu behalten ist einfach dumm und unzeitgemäß.
({16})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der heutige Tag eignet sich hervorragend zur
Diskussion des Themas „Bürokratie im Verkehrswegebau“, denn heute wurde der vorläufige Höhepunkt im
Desaster der Berliner Flughafenpolitik erreicht: Es ist
wieder einmal Stillstand zu verzeichnen.
({0})
Das hat jetzt nicht unbedingt direkt etwas mit Ihren Äußerungen zu tun
({1})
- das habe ich gerade gesagt -,
({2})
aber wir alle wissen, welche Philosophie hinter dieser
Verzögerungstaktik steht. Man kann sie mit Ihrer Rede
vergleichen, Herr Schmidt. Dieselbe Philosophie haben
auch Sie hier vorgetragen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich spreche jetzt ganz einfach einmal den Herrn Staatssekretär an, der erfreulicherweise noch anwesend ist: Herr Staatssekretär, Sie
haben uns gerade ein Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz vorgeschlagen. Bedauerlicherweise sind
wir als Opposition bis jetzt noch nicht in den Genuss des
Referentenentwurfes Ihres Hauses zu diesem Gesetz gekommen. Gegenüber der Presse waren Sie zum Glück
etwas gnädiger, sodass wir Gelegenheit hatten, uns ein
wenig mit dem Inhalt zu befassen.
Es zeigt sich in der Tat, dass Ihre Ankündigungen und
die Ankündigungen des Kollegen Schmidt widerspruchsfrei sind. Warum? Der ganz einfache Grund ist,
dass Sie den wesentlichen Punkt des bisherigen
Bundesverkehrswegebeschleunigungsgesetzes, den wir
verlängern möchten, nämlich die Einzügigkeit des Gerichtsverfahrens, in Ihrem Referentenentwurf aufgeben, weil Sie ihn gegenüber den Grünen nicht durchsetzen können.
({4})
Das zeigt, dass Ihr Argument, Sie wollten eine Gesamtlösung schaffen und könnten sich deshalb mit punktuellen Lösungen, wie sie in den drei heute vorliegenden
Anträgen beschrieben sind, nicht anfreunden, nicht
stimmt. Die drei vorliegenden Anträge von Bundesrat,
CDU/CSU-Bundestagsfraktion und FDP-Fraktion zielen
alle in dieselbe Richtung.
({5})
Sie haben die Absicht, den Rechtszug auf einen zu beschränken und die derzeit geltende Regelung zeitlich
auszudehnen. Die beiden Fraktionsanträge verfolgen außerdem das Ziel, das Gesetz auch räumlich auf ganz
Deutschland zu übertragen.
Diese Forderungen lehnen Sie ab, weil Sie sich gegenüber Ihrem Koalitionspartner nicht auf die Reduzierung der Rechtszüge einigen können. Damit geben Sie
das wesentliche beschleunigende Argument - Sie haben
nämlich nicht Recht, Herr Schmidt - auf.
({6})
Gehen wir noch einen Schritt weiter, meine Damen
und Herren. Selbst wenn wir sagen, der Bedarf sei nicht
mehr gegeben, wie das der Kollege Schmidt behauptet,
fällt mir schon Ihre methodische Herangehensweise auf.
Wenn ich Ihren Argumenten folge,
({7})
fällt mir auf, dass Sie immer dann, wenn ein Gesetz oder
ein Verfahren einigermaßen reibungslos läuft,
({8})
nach Begründungen suchen, um ein Gesetz verkomplizieren zu können oder komplizierte Regelungen bestehen zu lassen. Wir wollen einen anderen Geist in diese
Diskussion bringen.
({9})
Die Öffentlichkeit in Deutschland fasst sich allmählich
an den Kopf und fragt: Wieso streitet sich dieser Bundestag Jahr für Jahr über dieselben Dinge? Wieso kommen
die Abgeordneten Jahr für Jahr zu dem Thema Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zusammen,
reden immer über dieselben Argumente, verlängern das
Gesetz dann um ein Jahr und vertrödeln so ihre Zeit? Der
Bürger möchte Entscheidungen haben, auf die er sich
langfristig einstellen kann, und unsere Kommunalpolitiker wollen Planungssicherheit haben.
({10})
Wir wollen mit dem Abbau der Bürokratie Ernst
machen und wir möchten noch etwas einfordern, Herr
Staatssekretär. Wir haben schon mehrmals gesagt und
haben Ähnliches auch schon aus Ihren Reihen gehört:
Wenn sich bestimmte Regelungen oder Deregulierungen
in Ostdeutschland als zweckmäßig erwiesen haben,
({11})
sollte man versuchen, sie auf Gesamtdeutschland zu
übertragen.
({12})
Was Sie hier machen, ist vergleichbar mit der verknöcherten Politik der alten Bundesrepublik Deutschland,
die es strikt ablehnte, sich mit Dingen, die in Ostdeutschland erfolgreich waren, überhaupt zu befassen.
({13})
Wenn Sie so weitermachen, meine Damen und Herren,
werden wir aus der wirtschaftlichen Klemme, in der sich
dieses Land befindet, bis auf Weiteres nicht herauskommen und die derzeitige Arbeitsmarktsituation nicht
verbessern können.
({14})
Die Bürger sagen zu Recht: Wir sind frustriert von diesen Leuten in Berlin, weil sie dieses Land nicht nach
vorne bringen. Das ist die Realität.
({15})
Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich Sie ganz
herzlich
({16})
- das wäre eine Hoffnung, der ich gerne Ausdruck verleihen würde, wenn in Bezug auf die Fähigkeit der Koalition, ihr Leistungsvermögen richtig einzuschätzen, irgendeine Chance auf Erfolg bestehen würde, aber ich
glaube, dass diese Chance nicht gegeben ist, und aus
dem Grunde denke ich an etwas anderes -: Lassen Sie
uns aus den drei vorliegenden Vorschlägen - dem Beschluss des Bundesrates und den beiden Anträgen von
zwei Fraktionen - ein vernünftiges Gesetz machen, das
den Politikern in den Ländern und Kommunen Planungssicherheit für die nächsten Jahre gibt, lassen Sie
uns die Befristung aufheben und erst dann wieder über
eine Befristung reden, wenn diese aus irgendeinem anderen vernünftigen Grund erforderlich wird. Damit gewinnen Sie das Vertrauen der Öffentlichkeit zurück und
bringen den Standort Deutschland nach vorne.
Vielen Dank.
({17})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vaatz, die ganze Aufregung, die Sie hier verbreitet
haben, ist eigentlich völlig unverständlich. Wenn man
Ihre drei vorliegenden Anträge daraufhin untersucht,
was sie an Substanziellem enthalten, kommt man zu dem
Schluss, dass das gegen null tendiert.
({0})
Bezüglich der Planungsvereinfachung findet sich darin
überhaupt nichts. Sie wollen nur das bestehende Sonderrecht auf ganz Deutschland ausdehnen, und das ist es
dann schon. Sie haben nicht einen einzigen substanziellen neuen Gedanken in Ihre Gesetzentwürfe gebracht.
({1})
Die Kollegen von der FDP haben ihren Antrag mit so
heißer Nadel gestrickt
({2})
- der Antrag ist vom 13. April -, dass ihnen noch nicht
einmal aufgefallen ist - das geht jedenfalls aus dem Text
ihres Gesetzentwurfs hervor -, dass das geltende
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz nicht
2004 ausläuft, sondern 2005.
({3})
Sie sollten sich wenigstens die Mühe machen, in Ihren
Entwürfen auch die aktuelle Rechtslage zu berücksichtigen. Nicht einmal das bekommen Sie hin. Es tut mir
Leid, wenn ich das an der Stelle so sagen muss.
({4})
Abgesehen von all dem, was noch an Substanziellem
zu sagen wäre, möchte ich an dieser Stelle nicht verschweigen - der Kollege Vaatz ist mir da leider zuvorgekommen -, dass heute aus der Sicht der Flughafenplaner
ein bedauerlicher Tag ist. Warum? Weil den Eilanträgen
der Flughafengegner stattgegeben worden ist. Wir alle
sollten vielleicht einmal gemeinsam überlegen, ob wir
uns da auf dem richtigen Weg befinden. Das gilt übrigens auch für die Frage der Kosten des Flughafens.
Auch dazu werden wir vielleicht in nächster Zeit noch
einiges hören. Es geht also nicht nur darum, ein Planungsrecht zu schaffen, sondern man muss auch tatsächlich die Voraussetzungen schaffen, um einen wirksamen
bestandsfähigen Planfeststellungsbeschluss zustande zu
bringen. Das scheint das entscheidende Defizit in Brandenburg und Berlin zu sein. Aber auch der Bund ist,
meine Damen und Herren Kollegen, an dieser Sache beteiligt.
Zurück zu dem eigentlichen Thema des heutigen Tages. Der Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner
wegweisenden Rede vom 17. März gesagt, dass es ein
gesamtdeutsches Planungsvereinfachungsrecht geben wird, und hat, wie es der Staatssekretär Großmann
eben auch deutlich gemacht hat, hinzugefügt, dass das
sogar noch auf den Energiebereich ausgedehnt wird, indem auch für diesen Bereich eine entsprechende Novelle
eingebracht wird. Auch das ist, wie ich denke, ein wichtiger Gesichtspunkt, auf den Sie bisher nicht eingegangen sind; auch in Ihren Gesetzentwürfen steht dazu kein
Wort. Das werden wir aber umsetzen. Dieses Vorhaben
muss jedoch sorgfältig vorbereitet werden.
Der Kollege Dirk Fischer - ich weiß gar nicht, wo er
im Moment ist
({5})
- gut, also richten Sie ihm das aus; aber dahinten steht er
ja - hat uns ja zumindest eine Frist bis zum 31. März gesetzt. Aber nicht einmal die wurde abgewartet. Der
CDU/CSU-Gesetzentwurf wurde 15 Tage früher eingereicht. Wenn ich das einmal tendenziell bewerten soll,
kann ich dazu nur sagen, dass Sie einmal in aller Hektik
- zu welchen Fehlern das führt, haben wir gerade gesehen - etwas auf den Tisch legen wollten, ohne sich substanziell Gedanken darüber zu machen, was man eigentlich verbessern könnte.
({6})
Wenn Sie, Frau Blank, jetzt hier so tun, als würden
beim Planungsrecht 30 Jahre ins Land gehen, dann muss
ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass 16 Jahre davon Sie
regiert haben. Was wollen Sie uns also eigentlich damit
sagen? Sie hätten doch all das, was Sie heute beklagen,
in diesen 16 Jahren realisieren können. Das haben Sie
aber nicht getan. Wir gehen das nun substanziell an,
Schritt für Schritt. Verbesserungen, die wir erreichen,
werden wir auf den Tisch legen.
Ich denke, das darf ich sagen, Herr Staatssekretär: Mir
persönlich - ich rede jetzt nicht für die gesamte Fraktion - wäre es schon lieber gewesen, wenn wir heute
auch über einen abgestimmten Entwurf hätten diskutieren können.
({7})
Aber die Materie ist natürlich kompliziert; das räume ich
ein. Man sollte vielleicht auch noch einmal darüber
nachdenken, ob man nicht die Freunde von Bündnis 90/
Die Grünen vielleicht doch davon überzeugen kann,
({8})
auch das zu tun, was sich bewährt hat, was den einzügigen Gerichtsweg angeht, da das der Verfassungslage
entspricht.
({9})
Zu einer Rechtsverkürzung, lieber Herr Verkehrsminister Albert Schmidt, führt das ja nicht. Aus der Sicht der
Bürger geht es einfach darum, dass wir sie in der Phase
der Planung beteiligen und ihnen alle Rechte einräumen.
Wenn es nachher um die Überprüfung des Planfeststellungsbeschlusses geht, könnten wir uns ja vielleicht mit
einer Instanz zufrieden geben. Wir sollten darüber noch
einmal reden. Ich weiß, dass das ein Knackpunkt in der
Diskussion ist.
({10})
Aber wir werden uns darüber vielleicht noch verständigen.
Meine Bitte ist, dass uns jetzt zügig ein kompletter
Entwurf vorgelegt wird, über den wir dann gemeinsam
diskutieren können. Ich bin sicher, dass Ihre Gesetzentwürfe dann keine Rolle mehr spielen werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird
die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksa-
chen 15/5102, 15/4536 und 15/5258 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
den Zusatzpunkt 7 auf:
6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rolf
Mützenich, Uta Zapf, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander
Bonde, Marianne Tritz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Verbreitung der Kernwaffen verhindern und
die nukleare Abrüstung stärken - Die Überprüfungskonferenz 2005 des Atomwaffensperrvertrags ({0}) zum Erfolg führen
- Drucksache 15/5254 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({2})
- Drucksachen 15/3167, 15/5143 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Fritz Kuhn
Dr. Werner Hoyer
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Harald Leibrecht, Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Glaubwürdigkeit des nuklearen Nichtverbreitungsregimes stärken - US-Nuklearwaffen aus
Deutschland abziehen
- Drucksache 15/5257 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Die Fraktionen haben hierzu eine Aussprache von einer Stunde vereinbart. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
wenigen Wochen wird erneut über die Wirksamkeit des
Atomwaffensperrvertrages beraten. Alle fünf Jahre findet diese Überprüfungskonferenz statt. Delegationen
aus 189 Vertragsstaaten werden in New York Bilanz ziehen. Diese Bilanz wird nicht ohne Widersprüche sein
können. Einerseits ist der Atomwaffensperrvertrag der
Eckpfeiler in den weltweiten Bemühungen, die Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern und die nukleare
Abrüstung zu stärken. Nur noch Indien, Pakistan und
Israel befinden sich außerhalb des Vertrages. Nordkorea
hat seinen Austritt erklärt. Andererseits existieren weltweit noch immer über 28 000 Kernwaffen. Nach dem
Ende des Ost-West-Konflikts wurde eine Chance vertan,
die nukleare Abrüstung zwischen den Kernwaffenstaaten umfassend und unumkehrbar zu machen. Auch in
Deutschland sind weiterhin taktische Atomwaffen stationiert. Die anhaltende Krise um die Atomprogramme
Nordkoreas und des Iran macht zudem deutlich, wie gefährdet das Nichtverbreitungsregime ist.
Deshalb ist es gut, wenn Deutschland ein verlässlicher Partner des Atomwaffensperrvertrages bleibt. Alle
Bundesregierungen haben das Abkommen in den vergangenen Jahren zu stärken versucht. In unserem Land
gibt es zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die
den Atomwaffensperrvertrag mit ihren Mitteln stützen.
Deutschland verfügt über hervorragenden wissenschaftlichen Sachverstand, um weitere Ideen für die nukleare
Rüstungskontrolle zu entwickeln.
Darum ist es ein guter Zeitpunkt, wenn wir heute die
Überprüfungskonferenz zum Anlass nehmen, Stärken
und Schwächen des Nichtverbreitungsvertrages zu benennen. Wir wollen mit unserem Antrag Anregungen
vortragen, damit die nukleare Abrüstung wieder vorankommt. Ich würde mich freuen, wenn auch die Opposition unserem Antrag zustimmen könnte.
Eine besondere Verantwortung für die nukleare
Nichtverbreitung kommt den Atomwaffenstaaten zu.
Sie müssen verbindliche Abrüstungsschritte vereinbaren. Wir Sozialdemokraten engagieren uns weiterhin für
eine atomwaffenfreie Welt. Der Moskauer Vertrag vom
Mai 2002 über die weitere Reduktion amerikanischer
und russischer Atomwaffen kann dazu beitragen. Allerdings stellt das Übereinkommen die Zerstörung der
Sprengköpfe nicht sicher, verzichtet auf die Überprüfung
der Bestimmungen und ist zeitlich befristet.
Gravierender aus meiner Sicht ist allerdings, dass die
Atomwaffenmächte ihre Arsenale umstrukturieren und
Kernwaffen in der militärischen Planung wieder einen
bedeutenden Platz bekommen. Die USA arbeiten an
bunkerbrechenden Atomwaffen. Russland stellt neue
Mehrfachsprengköpfe in Dienst. Auch Großbritannien,
Frankreich und die Volksrepublik China modernisieren
ihr atomares Potenzial. Weiterhin halten die Regierungen am atomaren Ersteinsatz fest. Vorzeitige, präventive
Militäreinsätze gehören mittlerweile zur Sicherheitsphilosophie.
Unterm Strich: Die offiziellen Kernwaffenmächte gehen mit schlechtem Beispiel voran. Dies erschwert die
Bemühungen, andere Staaten innerhalb des Atomwaffensperrvertrages zu halten und außenstehende zu einem
Beitritt zu bewegen. Daher sollten die Kernwaffenstaaten endlich wieder über wirksame Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung verhandeln, weitere vertrauens- und
sicherheitsbildende Maßnahmen einleiten und auf die
Ersteinsatzoption verzichten.
({0})
Die Atomwaffenmächte müssen die Abrüstungsverpflichtung aus Art. VI des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages ernst nehmen. Diese Bestimmung steht in
einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Verpflichtung anderer Staaten, keine Kernwaffen besitzen zu wollen. Doch selbst dann kann es zu Verstößen kommen.
Nordkorea hat sich atomwaffenfähiges Material beschafft, obwohl es Vertragsstaat war. Auch der Iran hat
nicht alle Aktivitäten offen gelegt, obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre. Wie wir wissen, hat Libyen jahrelang geheime nukleare Aktivitäten betrieben. Der
Überprüfungsteil des Atomwaffensperrvertrags ist also
unzureichend. Deshalb war es gut, das Zusatzprotokoll
zu schaffen. Damit können wirksamere Überprüfungen
stattfinden. Doch bisher haben immer noch nicht alle
Vertragsstaaten dieses Sicherungsabkommen ratifiziert.
Das muss sich ändern.
({1})
Wir sollten noch weiter gehen: Der Internationalen
Atomenergie-Organisation müssen weitere Rechte eingeräumt werden. Die UN-Behörde hat in den vergangenen Jahren sicherlich Fehler gemacht. Vielleicht hat sie
an der einen oder anderen Stelle zu nachlässig gearbeitet. Aber ohne die Internationale Atomenergie-Organisation hätte der Atomwaffensperrvertrag weniger Biss.
Tatsächlich kann die Internationale Atomenergie-Organisation nur dann gut und effektiv arbeiten, wenn alle
Staaten ausreichend Finanzen, geheimdienstliche Erkenntnisse und Personal zur Verfügung stellen.
({2})
Die iranische Atomkrise dokumentiert erneut einen
entscheidenden Mangel des Atomwaffensperrvertrags:
Einerseits sollen die Staaten auf Atomwaffen verzichten,
andererseits sollen sie beim Aufbau des gesamten zivilen
Brennstoffkreislaufs unterstützt werden. Die iranische
Regierung beruft sich auf diese Verknüpfung, wenn sie
die Urananreicherung in Übereinstimmung mit internationalem Recht und aus nationalem Prestige fordert.
Es gibt Vorschläge, wie mit diesem Problem umgegangen werden könnte. Regionale Ansätze oder Liefergarantien durch internationale Organisationen könnten
eine Alternative sein. Anstelle des Transfers von Atomtechnologie könnte aber auch ein Protokoll treten, wonach Länder Technologien für erneuerbare Energien erhalten könnten. Kurzum: Wir brauchen an dieser Stelle
Beweglichkeit von allen Staaten.
Der Atomwaffensperrvertrag ist nicht das einzige Instrument, um die Verbreitung der Kernwaffen zu verhindern. Weitere Maßnahmen müssen das Abkommen in
seiner Wirksamkeit ergänzen. Dabei ist für uns Sozialdemokraten klar: Das Völkerrecht und der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen bleiben unverzichtbar für eine
Nichtverbreitungspolitik. Nebenbei bemerkt: Jede Übereinkunft zur nuklearen Rüstungskontrolle stärkt die Anstrengungen, mit denen verhindert werden soll, dass Terroristen in den Besitz von atomaren Waffen und Material
kommen.
Wir hoffen, dass die Überprüfungskonferenz zum
Atomwaffensperrvertrag erfolgreich sein wird. Die Voraussetzungen sind leider nicht optimal. Die gegenseitigen Behinderungen erschweren einen Dialog und notwendige Kompromisse. Doch wir brauchen einen Erfolg.
Europa hat Jahrzehnte unter der atomaren Bedrohung
gelitten. Heute haben wir - mit Glück und Verstand eine Zone des Friedens geschaffen. Mithilfe von AbrüsDr. Rolf Mützenich
tung und Rüstungskontrolle könnten solche Friedenszonen auch in anderen Regionen befördert werden. Der
Atomwaffensperrvertrag ist hierfür unentbehrlich. Die
Überprüfungskonferenz muss dazu beitragen, die Nichtverbreitung zu stärken. Ein gemeinsames Schlussdokument wäre ein deutliches Signal zugunsten kooperativer
Rüstungssteuerung.
Wir danken der Bundesregierung, dass sie seit mehreren Monaten versucht, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Überprüfungskonferenz zu schaffen. Die
SPD-Fraktion unterstützt sie bei diesen Bemühungen.
({3})
Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Bundesregierung, jedenfalls die zum Auswärtigen Amt gehörenden Teile, dieser Debatte gefolgt hätte.
({4})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mützenich, in Ihrem letztgenannten Punkt stimmen
wir sicherlich alle überein. Wenn ich mir die Regierungsbank anschaue, dann sehe ich zwar ganz hinten die
verdienten Botschafter, die uns - wofür wir dankbar
sind - auch im Unterausschuss immer zur Verfügung stehen, aber wir schicken doch auch nicht unsere Mitarbeiter ins Parlament, um unsere Reden zu halten.
({0})
Insofern ist dies meines Erachtens ein bezeichnendes
Zeichen für den Zustand des Auswärtigen Amtes, das offensichtlich nur noch die Akten für den Visa-Untersuchungsausschuss vorbereitet und der heutigen Debatte
nicht folgen will.
Meine Damen und Herren, es geht bei der Überprüfungskonferenz um fünf Hauptthemen. Zum Ersten sollen
möglichst alle Staaten in den Nichtverbreitungsvertrag
einbezogen werden; zurzeit sind es 188 Vertragspartner.
Wie man erreichen kann, dass Nordkorea wieder dazugehören wird, ist eine der Fragen, die es zu diskutieren gilt.
Wir alle gemeinsam wollen Iran im Sperrvertragsregime
halten.
Sie haben das Thema angesprochen, dass Indien, Pakistan und Israel als Kernwaffenstaaten nicht Mitglieder
des Nichtverbreitungsvertrages sind. Nun fordert die
Koalition in ihrem Antrag, diese Länder sollten „als
Nichtkernwaffenstaaten“ dem Vertrag beitreten. Das ist
vergleichsweise illusionär.
({1})
Deshalb stellt sich die Frage, ob man nicht schon einen
Schritt weiter käme, wenn man von diesen drei Staaten
forderte, ihre zivile Nutzung der Kernenergie dem Zusatzprotokoll zu unterstellen. Meines Erachtens wären
wir dann immerhin einen Schritt weiter.
Im Hinblick auf Indien möchte ich auf eine Inkonsistenz in der Außenpolitik der Bundesregierung hinweisen. Bekanntlich hat der Bundeskanzler auf seiner
Asienreise im Schulterschluss mit Indien für beide Staaten einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat gefordert. Er
hat es als großen diplomatischen Erfolg gefeiert, dass Indien die deutschen Ambitionen unterstütze und umgekehrt. Nun muss man sich Folgendes vorstellen: Indien
- dann also gegebenenfalls ständiges Mitglied des Sicherheitsrates - muss Sanktionen mitbeschließen, die
wegen der Nichtbefolgung des Nichtverbreitungsregimes gegen den Iran verhängt werden, obwohl Indien
selbst an dem ganzen Regime nicht teilnimmt. Das ist
ein gewisser Widerspruch in der Außenpolitik der Bundesregierung, denn offensichtlich hat dieses Thema bei
der Bündnispolitik im Hinblick auf die Sicherheitsratsambitionen keine Rolle gespielt.
Zum Zweiten wird es in New York darum gehen, dass
es möglichst keine neuen Atomwaffenstaaten geben
soll. Allerdings macht der Technologietransfer, der im
Nichtverbreitungsregime garantiert ist, Probleme. Ihr
Antrag unterschätzt die Bedeutung, die die Teilnahme an
der friedlichen Nutzung der Kernenergie für die Schwellenländer auf der Welt hat. Es ist etwas naiv, zu glauben,
dass man das Recht zur friedlichen Nutzung der Kernenergie gegen den angebotenen Technologietransfer von
Windrädern und Sonnenkollektoren eintauschen wird;
im Prinzip steht das ja so in Ihrem Antrag.
({2})
In Ihrem Antrag haben Sie aus nahe liegenden Gründen nicht in die Bilanz aufgenommen, dass es auf der
Welt im Augenblick 442 Kernkraftwerke gibt und 25
weitere im Bau sind, und zwar mit steigender Tendenz.
Die Begründung für den Ausstieg aus der Kernenergie,
die Sie der bundesdeutschen Bevölkerung gegeben haben, nämlich dass sich dadurch die Sicherheit erhöhen
werde, dass das ein weltweites Beispiel sei und andere
Länder schrittweise dem leuchtenden Beispiel Deutschlands folgen würden, hat sich damit nachhaltig als illusionär erwiesen.
({3})
- Die Konsequenz ist, dass wir die Welt so nehmen, wie
sie ist, und unsere Maßnahmen, lieber Kollege
Nachtwei, nicht alleine daran festmachen, wie wir sie
gerne hätten.
({4})
- Stell eine Zwischenfrage! Dann bekomme ich ein bisschen mehr Redezeit. Anderenfalls sollten wir das Zwiegespräch nicht fortsetzen.
Die Anreicherungsfähigkeit bei der zivilen Nutzung
der Kernenergie ist die technologische Voraussetzung
für die Waffenfähigkeit. Deshalb kommt dieser Frage
eine besondere Rolle zu.
Damit bin ich beim dritten Schwerpunkt der Konferenz, nämlich bei der Frage, wie man die Anreicherung
begrenzen könne. Da gibt es den Vorschlag eines Moratoriums. Den lehnen Sie ab. Es geht dabei um eine Begrenzung auf die Staaten, die jetzt anreichern, und zusätzlich um eine Liefergarantie zu Weltmarktpreisen für
die Staaten, die bisher nicht anreichern. Ein anderer Vorschlag sieht eine multilaterale Anreicherung unter internationaler Kontrolle vor.
Wir halten es für nicht richtig, einen Weg von vornherein auszuschließen; denn der erste Weg wird wahrscheinlich in Bezug auf den Iran von den EU-Drei verfolgt. Das schließen Sie in Ihrem Antrag aus.
({5})
- Doch. - Deshalb sind wir dafür, beide Wege zu verfolgen und nach individuellen Lösungen zu suchen, wie
man in dieser Anreicherungsfrage zu einer Begrenzung
kommen kann.
Wir haben als vierten Punkt auf der Tagesordnung,
wie wir die Verifizierung der Verpflichtungen besser
und handfester gestalten können. Da ist Ihre Forderung,
das Zusatzprotokoll praktisch zum Bestandteil des Vertrages zu machen, richtig.
Aber darüber hinaus ist zu nennen: Wir müssen sehen, dass die IAEO besser ausgestattet wird; denn es gibt
heute neue Möglichkeiten des Aufspürens von nuklearen
Aktivitäten, die die IAEO gerne wahrnehmen würde,
wozu sie aber kein Geld hat. Das wäre ein wichtiger
Punkt.
({6})
Der fünfte Punkt betrifft die Kündigungsfrist bzw. die
Kündigungsmodalitäten, die im Zusammenhang mit
dem Sperrvertrag gelten. Wir haben es bei Nordkorea
schmerzlich gesehen: Die Fristen sind kürzer als gemeinhin im deutschen Arbeitsrecht erlaubt. Binnen drei
Monaten kann gekündigt werden.
({7})
Sie fordern als ein Instrument eine - ich sage es einmal
mit meinen Worten - Rechtfertigungskonferenz. In einem solchen Kündigungsfall gehört aber auch die Verpflichtung der Rückgabe von Nukleareinrichtungen und
der Rückgabe spaltbaren Materials dazu. Das müsste
nach unserer Auffassung hinzukommen.
Jetzt komme ich zu der Frage, wie man das alles erreicht. Sie erwecken ja mit Ihrem Antrag den Eindruck,
als werde daran der Erfolg der Konferenz gemessen, obwohl eigentlich alle - jedenfalls alle, die jetzt hier sind wissen, dass die Erwartungen eher bescheiden sind. Das
liegt auch daran, dass wir es nicht geschafft haben, zu einer gemeinsamen Position der Europäischen Union zu
kommen. Ich frage mich: Wo sind denn die Anstrengungen Deutschlands, überhaupt eine solche gemeinsame
Position der Europäischen Union im Hinblick auf die
Überprüfungskonferenz zu bewerkstelligen? Hier wäre
gut Raum für eine deutsch-französische Initiative zur
Vorbereitung einer gemeinsamen EU-Position gewesen. Dies wäre eine geradezu klassische Aufgabe im Zusammenhang mit der deutsch-französischen Führungsrolle im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik gewesen. Warum? Klassischerweise
nimmt Deutschland diese Aufgabe zusammen mit
Frankreich wahr. Denn wenn der Rest der Europäischen
Union das Gefühl hat, die Franzosen mit ihrem speziellen Politikverständnis und die Deutschen mit ihrem etwas anders gelagerten haben sich auf etwas geeinigt,
können das eigentlich alle mittragen.
Wenn man das in diesem Fall versucht hätte, hätten
sich Frankreich als Nuklearwaffenstaat und Deutschland
als Nichtatommacht auf eine Initiative geeinigt und sie
vielleicht in der Europäischen Union durchgesetzt. Dann
stünden wir natürlich insgesamt viel besser da. Denn die
schwierigen Mentalitätsfragen zwischen „haves“ und
„havenots“ wären viel leichter zu adressieren, wenn man
mit einer Position käme, auf die man sich europaweit
verständigt hätte. Das ist ein großes Versäumnis deutscher Außenpolitik; aber der Außenminister hat ja bekanntlich anderes zu tun.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zum FDP-Antrag sagen,
in dem gefordert wird, dass die amerikanischen Nuklearwaffen aus Deutschland abgezogen werden sollen. Ich
weiß nicht, ob die FDP der Meinung ist, dass die USTruppen gleich mit abgezogen werden sollen, oder ob sie
der Meinung ist: Die amerikanischen Truppen sollten
schon in Deutschland bleiben. Wenn sie aber Letzteres
meint - was ich vermute -, dann spricht eigentlich vieles
dafür, die Frage, wie die Truppen geschützt und wie sie
bewaffnet werden sollen, denen zu überlassen, die sie
stellen.
Die zweite Frage, die sich im Zusammenhang mit Ihrem Antrag stellt, ist: Wollen Sie auf den amerikanischen
Nuklearschirm für Deutschland verzichten?
({9})
Wenn nein - ich nehme an, dass Sie darauf nicht verzichten wollen -, dann, glaube ich, spricht viel dafür,
diese Frage nicht in der Form zu adressieren, wie Sie es
getan haben. Ich glaube, das schafft nur neue Probleme
im transatlantischen Verhältnis. Ich halte den FDP-Antrag insoweit für nicht zu Ende gedacht.
({10})
Lassen Sie mich zu dem Abrüstungsversprechen des
Art. VI des NVV, das ja auch in Ihrem Antrag eine große
Rolle spielt, nur so viel sagen: Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt halte ich für illusionär.
({11})
Dadurch würde auch nicht mehr Sicherheit in der Welt
geschaffen. Denn das Wissen, wie man die Bombe baut,
ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Von daher sind
wir gut beraten, wenn wir realistische Ziele formulieren
und sicherlich an dem Vertrag in dem Punkt deklamatorisch festhalten. Aber wir sollten nicht unsere Argumentation hauptsächlich darauf abstützen. Nicht zuletzt aus
diesem Grund werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sprechen heute zu den beiden Anträgen, einerseits zu
dem von der Koalition und andererseits zu dem von der
FDP, darüber hinaus in zweiter Lesung zum Jahresabrüstungsbericht 2003. Gestatten Sie, dass ich zunächst zu
dem Bericht einige Worte sage.
Das Jahr 2003 und die Monate, die seither vergangen
sind, waren wahrhaftig keine gute Zeit für weltweite
Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die Rüstungskontrollverhandlungen - als besonders schlechtes Beispiel
möchte ich die Verhandlungen in Genf anführen - kamen ganz und gar nicht voran. Die kriegerische
Zwangsabrüstung des Saddam-Hussein-Regimes im Jahr
2003 ging einher mit enormen Aufrüstungsschüben einerseits terroristischer und militanter Gruppen im Irak
und andererseits der USA. Das Gesamtbild ist eher deprimierend. Aber um sich davon nicht lähmen zu lassen,
ist es besonders wichtig, auf die Punkte etwas näher einzugehen, bei denen es doch ein wenig vorangeht und es
gewisse Chancen gibt.
({0})
Ich möchte zuerst auf die Abrüstungszusammenarbeit und Nichtverbreitung zu sprechen kommen.
Große Gefahren für die internationale Sicherheit und die
Umwelt gehen immer noch von Altlasten des für uns inzwischen ja so lange zurückliegenden Kalten Krieges
aus, und zwar vor allem von Altlasten in Ländern auf
dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Deshalb war
die von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin im
Jahr 2002 gestartete G-8-Initiative „Globale Partnerschaft“ von enormer strategischer Bedeutung. Bei ihr
geht es vor allem um drei Felder, nämlich erstens um die
Vernichtung chemischer Waffen - immerhin hat Russland 40 000 Tonnen deklariert -, zweitens die Entsorgung der russischen Atom-U-Boote, die in fürchterlichem Zustand in verschiedenen Häfen vor sich hin
dümpeln und verrotten, und drittens um den Schutz nuklearer Materialien, in Bezug auf die man sagen muss:
Wenn man dazu Genaueres aus Russland hört, dann kann
man zunächst einmal nicht glauben, unter welchen Bedingungen dort mit solchen Stoffen noch umgegangen
wird. Für dieses Programm sind immerhin 20 Milliarden
Dollar angesetzt. Die Bundesrepublik hat sich zu einem
Beitrag von 1,5 Milliarden Euro bereit erklärt.
({1})
Das Gute ist - Mitglieder aller Fraktionen haben das
festgestellt -, dass der bilaterale Beitrag der Bundesrepublik, zum Beispiel zur Chemiewaffenvernichtung,
ausgezeichnet, leider aber auch einmalig ist. Aufgrund
der bundesdeutschen Hilfe konnte die Anlage in Gorny
schon längst ihren Betrieb aufnehmen. In Kambarka ist
die nächste Inbetriebnahme geplant. Danach wird wahrscheinlich sogar die Vernichtung von Nervenkampfstoffen durchgeführt, was eigentlich mit US-amerikanischer
Hilfe geschehen sollte.
Ein anderer Bereich sind die konkreten Abrüstungsmaßnahmen. Wir haben heute schon viel über Massenvernichtungswaffen gesprochen; das ist richtig und notwendig. Aber dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die
realen Massenvernichtungswaffen in diesen Tagen und
Jahren weiterhin Kleinwaffen und leichte Waffen sind.
Dass die Bundeswehr im Jahr 2003 190 000 kleine und
leichte Waffen vernichtet hat, ist ein sehr gutes Signal,
nicht nur hierzulande, sondern auch auf internationaler
Ebene. In vielen Krisenregionen trägt deutsches staatliches und nichtstaatliches Engagement zu Projekten der
Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration
sowie zum humanitären Minenräumen bei. Ohne diesen
Dreiklang allerdings ist jede Entwaffnung zum Scheitern
verurteilt.
({2})
Immer deutlicher erkennen wir: In Konflikt- und
Nachkriegssituationen ist die Reform des Sicherheitssektors eine Schlüsselaufgabe. Sie zielt auf die Eindämmung privatisierter Gewalt und die Förderung
rechtsstaatlicher Gewaltmonopole. Sie ist so etwas wie
strukturelle Abrüstung. Hierzu leisten verschiedene
Ministerien - das Außenministerium, das Verteidigungsministerium, das Entwicklungsministerium und auch das
Innenministerium - hervorragende einzelne Beiträge. Es
ist ein sehr guter Schritt vorwärts, dass jetzt vorgesehen
ist, im Rahmen des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ die
Reform des Sicherheitssektors zu einem ganz zentralen
und kohärenten Projekt der Bundesregierung zu machen.
({3})
Nun zu den Themen Abrüstung und Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In den ersten Jahren
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik spielten die Themen Rüstungskontrolle und
Abrüstung auf dieser Ebene eigentlich kaum eine Rolle.
Es war vor allem die Rede von der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union.
Angesichts der Diskussionen, die in den letzten Monaten über die EU-Verfassung geführt wurden, muss an
dieser Stelle allerdings sehr deutlich der Vorwurf, die europäische Verfassung sei eine Aufrüstungsverfassung,
der von Teilen der Öffentlichkeit erhoben wird, zurückgewiesen werden. Dies ist eine Verzerrung und stimmt
mit der Wirklichkeit nicht überein. Denn wenn in der
europäischen Verfassung davon gesprochen wird, dass
militärische Fähigkeiten verbessert werden müssten,
dann bedeutet das in Wirklichkeit, dass heute vorhandene, äußerst teure Unfähigkeiten reduziert werden müssen. Darum geht es de facto.
({4})
Zum Operationsspektrum im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehören seit
dem Verfassungsentwurf ausdrücklich auch gemeinsame
Abrüstungsmaßnahmen. Was das bedeutet, wird bei den
verschiedenen EU-Missionen deutlich, zum Beispiel in
Bosnien und Mazedonien.
Nun komme ich zum Antrag der Koalition zur nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung. 60 Jahre nach
Hiroshima und Nagasaki ist es um die Themen Atomrüstung und nukleare Abrüstung ziemlich ruhig geworden. Auch wenn heutzutage nicht mehr so etwas wie ein
Weltuntergang droht, was zu Zeiten des Kalten Krieges
stellenweise der Fall war, soll das Risiko, dass Atomwaffen eingesetzt werden, nach entsprechender Expertenmeinung heute sogar höher als in früheren Jahrzehnten sein.
({5})
Es besteht also kein Grund zur Verdrängung dieses Themas, es besteht auch kein Grund zur Verdrängung der
Tatsache, dass es sich hier um ganz besonders grausame,
unterschiedslos wirkende Waffen handelt, die eigentlich
völlig allen Grundsätzen des humanitären Kriegsvölkerrechts widersprechen.
({6})
Der Nichtverbreitungsvertrag ist ein Eckpfeiler des
weltweiten Bemühens, die Verbreitung von Atomwaffen
zu verhindern und nukleare Abrüstung zu stärken. In
Kürze beginnt die Überprüfungskonferenz in New York.
Nicht zu vergessen ist, was dieser Vertrag in den letzten
Jahren und Jahrzehnten leistete: Er brachte etliche Staaten dazu, von ihren Bemühungen, atomar zu rüsten, Abstand zu nehmen. Immerhin sind die allermeisten Staaten der Welt Mitglieder dieses Vertrages, wenn auch
wichtige Staaten wie Indien, Pakistan, Israel nicht - und
Nordkorea nicht mehr.
Unübersehbar ist aber auch die Krise der Nichtverbreitung: nicht nur dass ungefähr 40 Staaten über
die entsprechenden industriellen und wissenschaftlichen
Voraussetzungen verfügen; auch wächst bei den Nichtkernwaffenstaaten die Ungeduld darüber, wie sich die
Kernwaffenstaaten verhalten. Diese negieren nämlich
das Gebot zur nuklearen Abrüstung im Grunde und ergreifen, wie bereits angesprochen, im Gegenteil verschiedenste Modernisierungsmaßnahmen. Deshalb sind
neue Impulse zur Stärkung und Revitalisierung des
Nichtverbreitungsvertrages äußerst dringend. Andernfalls wird die Proliferation, die Verbreitung von atomaren Waffen, einen Schub bekommen. Als Erste sind die
fünf Kernwaffenstaaten gefordert, glaubwürdige Maßnahmen in Richtung ihrer Abrüstungsverpflichtung zu
ergreifen und rechtlich verbindliche Sicherheitsgarantien
gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten zu entwickeln.
Wieder zu beleben sind die amerikanisch-russischen Abrüstungsverhandlungen über substrategische und taktische Atomwaffen. Wir sagen in unserem Antrag: Vor allem die taktischen Kernwaffen sollen auf beiden Seiten
reduziert und demontiert werden. Das heißt im Klartext:
Für die Stationierung der amerikanischen Atomwaffen
auf deutschem Boden gibt es keinerlei Rechtfertigung
und auch keinerlei militärische Begründung mehr. Das
gilt, so meine ich, erst recht für die Vorbereitung von
bundesdeutschen Tornadopiloten darauf, auch solche
Waffen gegebenenfalls einsetzen zu können.
Bei der in Kürze in New York beginnenden Überprüfungskonferenz werden viele Nichtregierungsorganisationen als Beobachter dabei sein, unter anderem auch die
„Bürgermeister für den Frieden“. Ihnen allen möchte ich
ausdrücklich für ihr Engagement und ihr Drängen auf
nukleare Abrüstung danken.
({7})
Sie halten in Erinnerung und bewusst, dass wir uns nicht
an ein Leben mit der Bombe gewöhnen dürfen, dass das
Eintreten für nukleare Abrüstung kein Relikt der 80erJahre ist, sondern hochaktuell und dringlich. Vor allem
wünsche ich aber den Verhandlern der Bundesregierung
und ihren Verhandlungspartnern in New York möglichst
viel Erfolg.
Danke schön.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Harald Leibrecht, FDPFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges wird kaum noch über Abrüstung gesprochen. Dabei sollten Fragen der Abrüstung und auch der
Rüstungskontrolle als Teil der Außen- und Sicherheitspolitik wieder viel stärker gewichtet werden.
({0})
Abrüstungspolitik könnte zum Beispiel bei der Suche
nach Lösungsansätzen für etliche Regionalkonflikte, die
wir haben, eine wesentlich wichtigere Rolle einnehmen,
so etwa im Hinblick auf den Broader Middle East. Da
sollte man durchaus mit den im KSZE-Prozess in Europa
erfolgreich angewendeten Ansätzen der Rüstungskontrolle, aber auch der Vertrauensbildung arbeiten und die
regionalen Akteure zu einem Thema an einen Tisch bringen, an dem wirklich alle Interesse haben müssen.
Noch klarer wird die Bedeutung der Abrüstungspolitik bei der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Wenn der Iran eines Tages über
Nuklearwaffen verfügen sollte, würde dies ein nukleares
Wettrüsten einleiten. Das Gleiche befürchte ich auch bei
Nordkorea.
({1})
Es wäre eine unvorstellbare Bedrohung für uns alle,
wenn über solche Länder eines Tages Nuklearwaffen in
die Hände von internationalen Terroristen geraten würden.
({2})
Meine Damen und Herren, der Welttrend läuft zurzeit
leider nicht in Richtung Ab-, sondern eher in Richtung
Aufrüstung. Die weltweiten Rüstungsausgaben bewegen sich laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI weiter im Rekordbereich des Kalten Krieges.
Der Waffenhandel befindet sich weltweit im Aufwärtstrend. Auch Deutschland mischt bei den Rüstungsexporten kräftig mit. Gerade heute gab es eine Schlagzeile in
der „Zeit“ mit der Überschrift: „Der peinliche Exporterfolg Deutschlands“. China rüstet im Rekordtempo auf;
das hat bedrohliche Auswirkungen auf das Kräftegleichgewicht in Asien. Was in diesem Zusammenhang die
Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China
bedeuten würde, war heute Morgen bereits Thema einer
Debatte. Sie wissen, dass wir, die FDP, strikt gegen die
Aufhebung dieses EU-Waffenembargos sind.
({3})
Die ehemaligen „Kalten Krieger“, die USA und Russland, drohen in eine Phase nuklearen Wettrüstens einzutreten mit immer neuen Plänen für neue Nuklearwaffen.
Bei den Bemühungen um weltweite Abrüstung herrscht
heute hingegen weitgehend Stillstand. Die Genfer Abrüstungskonferenz ist seit sieben Jahren vollständig blockiert. SPD und Grüne haben in einem von uns, der FDP,
mit unterstützten Antrag zwar vielsagend und für Regierungsparteien durchaus auch selbstkritisch festgestellt,
dass sich die Rüstungskontrolle heute „in der Krise befindet“ und dass es neuer Impulse bedürfe. Im Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung liest sich dies jedoch ganz anders. Ich vermisse bis heute die geforderten
Impulse der Bundesregierung, um die Abrüstungspolitik
aus ihrer Krise zu führen.
({4})
Wir als Liberale kritisieren aber nicht nur, wir machen
auch konkrete Vorschläge. Wir alle sind uns einig, dass
die im Mai anstehende Überprüfungskonferenz zum
Nichtverbreitungsvertrag erfolgreich sein muss. Der
nukleare Nichtverbreitungsvertrag beruht auf drei wichtigen Säulen. Das sind erstens die Verpflichtung zur
Nichtverbreitung, zweitens das Recht der Nichtnuklearstaaten auf zivile Nutzung der Kernenergie und drittens
die Abrüstungsverpflichtung der Nuklearmächte. Nur
dieser Dreiklang macht das Nichtverbreitungsregime
glaubwürdig und tragfähig und nur bei Beachtung aller
drei Säulen können die Proliferationskandidaten dieser
Welt glaubwürdig aufgefordert werden, sich an die
Nichtverbreitung zu halten.
Wir Liberale unterstützen deshalb die EU-3-Initiative,
den Iran auf diplomatischem Wege von seinen Nuklearwaffenambitionen abzubringen und Teheran dafür auf
dem Gebiet der zivilen Nutzung entgegenzukommen,
wie das im Nichtverbreitungsvertrag nun einmal vorgesehen ist.
Wir meinen aber, dass der dritten Säule des Nichtverbreitungsvertrages, der Abrüstungsverpflichtung der Nuklearmächte, mehr Nachdruck verliehen werden muss.
Deshalb fordern wir in unserem heute eingebrachten Antrag den Abzug der in Deutschland stationierten etwa
150 US-amerikanischen taktischen Nuklearwaffen.
Diese Bomben sind ein Relikt des Kalten Krieges. Sie
spielen im Umgang mit den heutigen Bedrohungen keine
Rolle mehr und sind angesichts der gültigen NATO-Strategie für Deutschland nicht zwingend erforderlich.
Die Tatsache, dass diese taktischen Nuklearwaffen bis
heute in Deutschland lagern und dass auch unsere Soldaten mit diesen Waffen üben müssen, werden in Deutschland weitgehend totgeschwiegen. Rot-Grün traut sich offensichtlich nicht an dieses Thema heran.
({5})
Wir fordern die Bundesregierung auf, in der NATO
und in Gesprächen mit den USA auf einen baldigen Abzug dieser Waffen zu drängen. Es wäre ein wichtiges Signal an all die Länder, die wir auffordern, abzurüsten,
wenn wir selbst mit gutem Beispiel vorangingen und
diese Waffen aus unserem Land verbannten.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Weigel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Das Fazit des vorliegenden Jahresabrüstungsberichtes 2003 ist eindeutig: Das Jahr 2003
war für die Politik der Abrüstung ein schwieriges Jahr.
Dennoch sind auch Erfolge zu verzeichnen: Bei der Abrüstung der konventionellen Waffen konnte 2003 beim
Ottawa-Übereinkommen eine positive Bilanz gezogen
werden. Der Export von Antipersonenminen ist zum Erliegen gekommen. Ebenfalls positiv ist die Bilanz beim
VN-Waffenübereinkommen. Ein neues Protokoll über
Kampfmittelrückstände wurde verabschiedet.
Nun aber zu den schlechten Nachrichten. Die nukleare Bedrohung ist mit dem Ende des Kalten Krieges
nicht verschwunden. Der Atomwaffensperrvertrag ist
löchrig geworden. Die internationale Kontrolle der
Atomwaffentechnik zerfällt. Die Liste der unmittelbaren
Probleme ist lang und leider auch heute noch aktuell:
Nordkorea ist aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgestiegen. Der Iran steht weiterhin unter Verdacht, angereichertes Uran für den Bau von Atomwaffen nutzen zu
wollen. Auch die Kernwaffenstaaten Indien und Pakistan
werfen immer wieder Fragen auf.
Ausdruck dafür ist zum Beispiel das internationale
Netz von Atomschmugglern, hinter denen pakistanische
Nuklearforscher stehen. Angesichts der globalen Terrornetzwerke ist das eine sehr ernste Entwicklung. Deshalb
bereiten auch die Tausenden Tonnen schlecht geschützten
Spaltmaterials auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion weiterhin große Sorge.
Inzwischen hat man - auch auf Initiative der Bundesregierung - gehandelt. So verabschiedete der Europäische Rat 2003 die EU-Strategie gegen die Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen.
Worum geht es bei dieser Strategie? Grundlegend ist
zuerst einmal, dass alle Verträge universelle Reichweite
haben; ansonsten bleiben sie wirkungslos. Die Kontrolle
und die Verifikationsmechanismen der Verträge müssen
gestärkt werden. Das gilt auch für die institutionellen
Strukturen der Kontrollregime. Schließlich setzt die EUStrategie auf eine weitere Verstärkung der Kooperation
mit den Vereinigten Staaten. Das ist die Grundlage unseres Handelns. Auf dieser Grundlage wurden 2003 konkrete Initiativen entwickelt und weiterverfolgt.
Von besonderer - ich möchte sogar sagen: zentraler Bedeutung sind hier die Proliferationssicherheitsinitiative, PSI, und die Initiative „Globale Partnerschaft“. Die
PSI zur Sicherstellung der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist eine globale Reaktion auf ein
globales Problem. Ziel ist es, die Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln zu verbessern. Bei der
zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und beim Informationsaustausch kann und muss noch viel getan werden.
Der Handel mit Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen muss konsequent bekämpft werden. Der
Transport auf dem See-, Luft- und Landweg muss unterbunden werden.
({0})
Ganz wichtig ist es, Verbreitungsnetzwerke zu zerschlagen und Strafverfolgungsbemühungen zu koordinieren.
Neben der Eindämmung der Proliferation gilt es - das
zeigen die Erfahrungen und Ergebnisse -, die Initiative
„Globale Partnerschaft“ zu festigen und weiterzuentwickeln. Die G-8-Staaten haben im Rahmen der „Globalen Partnerschaft“ bekräftigt, für die Umsetzung von
Programmen in den nächsten zehn Jahren bis zu 20 Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen.
In dem Rahmen der „Globalen Partnerschaft“ steht
auch die Politik der Abrüstungszusammenarbeit mit
Russland. Wir unterstützen Russland bei der Vernichtung chemischer Waffen. Wir helfen Russland auch bei
der Entsorgung von nuklear angetriebenen Booten und
von Spaltmaterial. Außerdem investieren wir in die
Sicherung von Nuklearmaterial. Deutschland hat die Inbetriebnahme der Chemiewaffenvernichtungsanlage in
Gorny unterstützt. Jetzt helfen wir beim Bau einer zweiten Anlage in Kambarka. Damit konnte Russland seine
Verpflichtungen bei der Chemiewaffenvernichtung erfüllen. Mit der Vernichtung der russischen Bestände des
chemischen Kampfstoffes Lost ist erstmals eine ganze
Kampfstoffklasse abgerüstet worden.
({1})
Das sind konkrete und nachhaltige Erfolge der Abrüstungspolitik. Die Bundesrepublik spielt hierbei eine führende Rolle.
Weiterhin hat sich Deutschland mit Russland auf eine
Zusammenarbeit bei der Zerlegung von nuklearen U-Booten geeinigt. Schließlich setzt sich Deutschland für eine
Verbesserung der Sicherung von Nuklearmaterial und
Nuklearanlagen in Russland ein. Dazu gehört auch, für
die Beschäftigung und Umschulung ehemaliger Waffenforscher zu sorgen.
Die Initiative zur Sicherstellung der Nichtverbreitung
von Massenvernichtungswaffen, PSI, und die Initiative
„Globale Partnerschaft“ sind zwei wichtige Säulen in der
globalen Reaktion auf globale Probleme. Der verstärkte
Einsatz polizeilicher und strafrechtlicher Mittel zur
Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen entspricht den Notwendigkeiten unserer Zeit.
Gleichzeitig ist die Abrüstungszusammenarbeit mit
Russland im Rahmen der „Globalen Partnerschaft“
zwingend geboten. Wir sollten unsere Überlegungen nun
darauf richten, dieses Modell einer Partnerschaft auf andere Staaten und Regionen auszudehnen. Vielleicht
könnte das Modell der „Globalen Partnerschaft“ auch einer von vielen Bausteinen zu einem regionalen Sicherheitssystem im Nahen Osten werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Jahresabrüstungsbericht zeigt vor allem eines: Er zeigt, was zu
tun ist. Erste Initiativen sind ergriffen. Wie weit diese
Initiativen in die richtige Richtung weisen und ob sie
ausbaufähig sind, wird unter anderem der nächste Abrüstungsbericht zeigen. Wir sind gespannt darauf.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von und
zu Guttenberg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Leibrecht wies richtigerweise auf ein
gelegentlich bedauernswertes Dasein der Abrüstungspolitik hin. Man ist als Parlamentarier am heutigen Tage
geneigt, wild stöbernd nach außenpolitischen ThemenKarl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
feldern zu suchen, über die noch kein Gedankenembargo
verhängt wurde.
({0})
Es war nicht zuletzt dieses Hohe Haus, das in Jahrzehnten, oft im grundsätzlichen Konsens - heute nicht in allen Feldern -, die Abrüstung und Rüstungskontrolle mit
einem beachtlichen Fundament versehen hat. Es sollte
daher in unser aller wohlverstandenem Interesse sein,
dass auch diese Grundlage zukünftig nicht widerspruchslos der bemerkenswerten Wucht des außenpolitischen Selbstverständnisses des Bundeskanzlers geopfert
wird.
Insbesondere im sensiblen Bereich der Abrüstung
sollte der Idealfall einer mit breiter parlamentarischer
Mehrheit getragenen und gegebenenfalls ergänzend begleitenden Politik von der Bundesregierung befördert
und nicht ausgeblendet werden. Das aktuellste Beispiel
bildet in dieser Hinsicht die bereits mehrfach angesprochene und im Jahresabrüstungsbericht 2003 nun endlich
auch benannte Problematik des iranischen Nuklearprogramms.
So hat eine Initiative aus der Mitte des Parlaments in
gemeinsamer Anstrengung - einige der Kollegen sind
heute hier - bewiesen, dass in Zeiten stagnierender Abstimmungsprozesse zwischen der Europäischen Union
und den Vereinigten Staaten durchaus flankierend Wirkung erzielt werden kann, gerade seitens der parlamentarischen Ebene. Mit der Vorlage einer erstmalig gemeinsamen und auf beiden Seiten überparteilichen deutschamerikanischen Initiative zur iranischen Nuklearproblematik konnte zunächst aufgezeigt werden, dass eine Zusammenführung der amerikanischen und der europäischen Positionen grundsätzlich möglich ist. Das war in
dieser Situation als Anstoß bitter notwendig. Gerade in
den Vereinigten Staaten konnte auf parlamentarischer
Ebene im Kongress die Diskussion um wichtige Aspekte
erweitert werden, die schließlich auch bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Vorgehens auf der Ebene der
dortigen Administration Berücksichtigung gefunden haben.
Die Initiative wird von der Überzeugung getragen,
dass eine dauerhafte Verhandlungslösung in der Iranfrage nur dann möglich ist, wenn die Europäische Union
und die Vereinigten Staaten in dieser Frage eng aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten und sich nicht erneut auseinander dividieren lassen.
({1})
Hier in groben Zügen der Inhalt der gemeinsamen
Position: Grundsätzlich ist dem Iran ein Recht auf die
friedliche Entwicklung nuklearer Technologie gemäß
NVV einzuräumen. Gleichzeitig aber ist die Grundvoraussetzung für ein Abkommen, dass Teheran als vertrauensbildende Maßnahme das Zusatzprotokoll des
NVV unverzüglich ratifiziert und strikt einhält. Zusätzlich muss sich der Iran zur vollständigen Zusammenarbeit mit und zur Transparenz gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde verpflichten.
Im Einklang - ich betone: im Einklang - mit den
ausgewiesenen Standpunkten der EU-3 sollte ein langfristiges Abkommen folgende Konditionen enthalten:
Der Iran hat seine Bemühungen zur Erlangung eines
geschlossenen Brennstoffkreislaufs sowie jedwede Programme zur Anreicherung von Uran sowie zur Produktion von Uranhexafluorid und dessen Zwischenprodukten dauerhaft einzustellen. Das Gleiche gilt für
die Gewinnung von Plutonium und iranische Bemühungen zur Erlangung eines nuklearen Schwerwasserreaktors. Zur Überprüfung ist ein umfassendes Inspektionsregime zu etablieren.
Erfüllt der Iran diese Konditionen, hätten folgende
Gegenleistungen in Kraft zu treten - im Übrigen Gegenleistungen, die für die amerikanische Seite einen bemerkenswerten Fortschritt bedeuten würden -: bilaterale
Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran mit
dem Ziel der Wiederaufnahme diplomatischer und Handelsbeziehungen. Darüber hinaus würden die USA und
die EU-3 den Beitritt des Landes zur WTO unterstützen;
Condoleezza Rice hat sich schon in diese Richtung bewegt.
Die EU-3 ihrerseits würden ihre Verhandlungen mit
dem Iran über ein Handels- und Kooperationsabkommen
wieder aufnehmen. Zudem würden die EU-3 und die
USA den Iran beim Erwerb eines einzelnen nuklearen
Leichtwasserreaktors und beim Zugang des Irans zum
internationalen Brennstoffmarkt unterstützen.
Falls der Iran schließlich formal und nachweisbar auf
jegliche nukleare - offensive wie defensive - Bewaffnung verzichtet, soll ein Nichtangriffspakt zwischen dem
Iran und allen Parteien der Vereinbarung geschlossen
werden. In Ergänzung dazu sollen zwischen der EU-3
und dem Iran parallel Gespräche über zentrale ungelöste
Fragen geführt werden. Entscheidend ist hierbei die Anerkennung des Existenzrechts Israels als jüdischer
Staat in der Region durch den Iran.
({2})
Des Weiteren geht es um einen internationalen Konsens, wie dem Terrorismus entgegenzutreten ist, ein Engagement zur Friedenssicherung im Irak, die Berücksichtigung des transatlantischen Verhältnisses sowie um
die legitimen Sicherheitsinteressen und die ökonomischen Interessen des Iran, um dort das Interesse für ein
Entgegenkommen zu wecken.
Versäumt es der Iran schließlich, den genannten Vorgaben nachzukommen, befürworten auch die EU-3 die
Überweisung des iranischen Nuklearproblems an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die EU wird ihrerseits unverzüglich umfassende Sanktionsmaßnahmen
gegenüber dem Iran ergreifen.
Die Reaktion des amerikanischen Präsidenten auf
diese Initiative war positiv; sie wurde ihm in Mainz vorgestellt. Die Reaktion des Bundeskanzlers war, milde
gesagt, verhalten. Er reagierte mit der Äußerung, parlamentarische Initiativen seien für die laufenden Verhandlungen nicht sinnvoll. Dies war erneut ein Moment, in
dem er mit seinem außenpolitischen Selbstverständnis
im Grunde einsamer denn je wirkte. Trotzdem sollten
wir die verbliebene Butter auf unserem parlamentarischen Brot mit Zuversicht betrachten.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Abgeordnete Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Weigel hat gerade auf den nächsten Jahresabrüstungsbericht hingewiesen. Er wird uns bald vorliegen. Es
wäre gut, wenn wir über diesen etwas zeitnäher im Plenum diskutierten.
({0})
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit beim Auswärtigen Amt für den Bericht und für die gute Zusammenarbeit im Unterausschuss ganz herzlich bedanken,
und zwar nicht nur mit dem Auswärtigen Amt, sondern
auch mit den Kolleginnen und Kollegen von den anderen
Fraktionen.
({1})
Ich glaube, wir hätten es nicht sehr schwer, mit Herrn
von und zu Guttenberg und Herrn Leibrecht gemeinsame
Anträge zu erarbeiten.
({2})
Herr Polenz, ich warne Sie davor, hier falsche Behauptungen aufzustellen. Es gibt einen gemeinsamen
Standpunkt der EU - über diesen wird heute abgestimmt und ein gemeinsames deutsch-französisches Papier.
Aber Sie kennen ja das Abrüstungsgeschäft vor solchen
großen Ereignissen. Manchmal wird erst am letzten Tag
entschieden und deutlich, was sich durchsetzt. Aber es
gibt einen gemeinsamen Standpunkt.
Ich erinnere mich gerade am heutigen Tage an die
große Debatte, die wir hier vor fast genau zehn Jahren
- das Haus war damals übrigens wesentlich voller - über
die Verlängerungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag geführt haben. Ich hatte damals als Rednerin eine
erstaunliche Übereinstimmung mit dem Kollegen
Dregger. Das war mir noch nie passiert und wird in der
Folge sicherlich nicht mehr geschehen sein. Aber wir
alle waren uns einig, einen Antrag der FDP als gemeinsame Grundlage für einen überparteilichen Antrag zu
nehmen. Über diesen haben wir dann abgestimmt.
({3})
Ich denke, wir sollten uns zukünftig ein Beispiel daran
nehmen.
Es wurde schon erwähnt, dass der Nichtverbreitungsvertrag eigentlich eine Erfolgsstory ist. Als er
1968 zur Zeichnung aufgelegt wurde, hat man befürchtet, dass es in kürzester Zeit 25 Nuklearstaaten geben
wird. Heute gibt es, soweit bekannt, nur acht. Alleine das
ist als ein Erfolg dieses Vertrages zu betrachten. Es gibt
Staaten, die ihre Programme offen gelegt haben, davon
Abstand genommen haben und dem Vertrag beigetreten
sind. Das waren 1991 Südafrika - dort war man schon
relativ weit -, 1995 Argentinien und 1998 Brasilien. Es
gibt natürlich auch Sorgenkinder; darauf ist schon hingewiesen worden. Libyen gilt sozusagen als gerade entsorgtes Sorgenkind.
Es gab auch einen Abrüstungsprozess, der durchaus
in Konformität mit dem Nichtverbreitungsvertrag gewesen ist. Ich erinnere an INF sowie an START I und II.
Auch der Moskauer Vertrag ist noch hinzuzurechnen.
Wir haben also eine tatsächliche Reduzierung der Zahl
an Nuklearwaffen erreicht. Trotzdem haben wir heute
Angst, dass das Nichtverbreitungsregime auseinander
fällt. Warum ist das so? Das ist deshalb so, weil andere
Dinge, die im Zusammenhang mit dem Nichtverbreitungsvertrag als sehr wichtige Bestandteile vereinbart
worden sind, nicht umgesetzt wurden. Das Erste ist das
Atomteststoppabkommen. Es war kurz zuvor ausgehandelt worden und wurde 1996 fertig gestellt. Es wurde
von 174 Staaten unterzeichnet und mittlerweile von 120
ratifiziert. Aber es wird auf absehbare Zeit nicht in Kraft
treten, weil wichtige Länder es nicht ratifizieren werden.
Beispielsweise haben sich die USA aus diesem Vertrag
zurückgezogen. Das ist die erste Krise.
Die zweite zeichnet sich im Moment ab. Noch immer
gibt es im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz
keine Möglichkeit, über einen Produktionsstopp für
waffenfähiges Nuklearmaterial zu verhandeln. Die
Verhandlungen über die Tagesordnung stecken weiterhin
fest. All diese Dinge waren ein großer Hoffnungsträger
für diejenigen, die verzichtet haben.
Als Drittes sind die Sicherheitsgarantien zu nennen. Natürlich stellen Indien und Pakistan ein großes
Problem dar, genauso wie Israel. Ich glaube, wir müssen zwei Dinge im Zusammenhang mit der ganzen Diskussion - das trifft auch auf Nordkorea zu - in den Blick
nehmen: Wir brauchen auf der einen Seite das, was von
denjenigen, die die Einzelheiten des Antrags dargestellt
haben, bereits benannt worden ist. Auf der anderen Seite
brauchen wir eine Strategie, die darüber hinausgeht.
Diese Strategie muss die Sicherheitsängste in den Regionen, in denen Konflikte heranwachsen, berücksichtigen.
Notwendig sind also regionale Strategien der Vertrauensbildung, der Verständigung und der gegenseitigen
Absicherung, sodass klar ist, dass man keine bösen Absichten hat.
Diese Strategien sind angesichts der beiden Kerne der
Instabilität besonders wichtig. Der eine Kern ist Ostasien; Nordkorea steht dabei im Mittelpunkt. Aber eigentlich sind auch China und Pakistan große Sorgenkinder. Für China gilt das wegen seines momentanen
Konflikts mit Japan und mit Taiwan. Warum sollte nicht
auch Japan auf die Idee kommen - diesen Gedanken haben einige schon geäußert -, dass man vielleicht ein
Stückchen sicherer wäre, wenn man ebenfalls Nuklearwaffen hätte. Pakistan ist ein enorm instabiler Staat, der
über Atomwaffen verfügt. Der Konflikt zwischen Indien
und Pakistan ist bei weitem noch nicht befriedet. Wir
brauchen also eine Strategie der regionalen KonfliktbeUta Zapf
arbeitung, die über die Abrüstungsmaßnahmen wesentlich hinausgeht.
Dasselbe trifft auf den Nahen und Mittleren Osten
zu. Die Frage ist, wie man mit dem Iran umgeht. Herr
von und zu Guttenberg hat dazu einiges gesagt. Das
kann ich nur unterstreichen. Ich glaube, dass wir dort
eine doppelte Strategie anwenden müssen, um zu einem
einigermaßen guten Ergebnis zu kommen.
({4})
Wir müssen die Risiken durch halbstaatliche und
nichtstaatliche Proliferation stärker minimieren. Herr
Weigel hat dazu einiges gesagt. Die Netzwerke von
Abdul Qadir Khan haben sich als technologisch sehr potent erwiesen. Man hat ganze Pakete inklusive Anleitungen zur Herstellung nuklearer Sprengkörper nach Libyen
verschickt. Wir wissen, dass diese Netzwerke ziemlich
gut verzweigt sind. Sie können auf in unterschiedlichen
Ländern vorhandene Technologien zurückgreifen und
sie illegal weitergeben. Damit können sich einigermaßen
entwickelte Länder diese Technologien jederzeit verschaffen, um in den Besitz von Atomwaffen zu kommen.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme sofort zum Ende.
Meine Konsequenz daraus lautet: Wir müssen die
Atommächte an ihre Abrüstungsverpflichtungen erinnern. Wir müssen sie daran erinnern, Art. VI des Atomwaffensperrvertrags einzuhalten. Aber wir müssen darüber hinaus etwas gegen die schleichende illegale oder
halb legale Verbreitung von Nukleartechnologie, die
waffenfähig gemacht werden kann, tun.
Danke sehr.
({0})
Jetzt hat der Abgeordnete Hans Raidel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Jahresabrüstungsbericht 2003, ergänzt durch
die Unterlagen der Bundeswehr, ist eigentlich längst veraltet. Aber er bildet die Grundlage der heutigen Diskussion.
Gestatten Sie mir am Anfang, Ihnen, Herr Botschafter
Schmid, und Ihnen, Herr Botschafter Gröning, recht
herzlich zu danken. Wir stehen in einem guten Einvernehmen. Wir haben in all diesen Fragen eigentlich dieselben Grundauffassungen, nämlich die einzelnen Abrüstungsregime, die Nichtverbreitungsverträge etc. zum
Erfolg zu führen. Natürlich gibt es im Detail verschiedene Betrachtungsweisen. Wir wollen aber gemeinsam
dafür sorgen, dass Deutschland in einer Position ist, die
es ihm erlaubt, Impulse zu geben, die uns in den einzelnen Bereichen vorwärts bringen.
Wir haben im Zusammenhang mit Iran, Pakistan und
Nordkorea mittlerweile sehr viel über die Atomfrage gehört. Wir haben die Konferenz in New York angesprochen. Wir wollen, dass sie erfolgreich sein wird. Wir
haben aber nicht von der auch vorhandenen Bedrohungslage im B- und C-Bereich gesprochen. Die terroristische Gefahr ist da möglicherweise viel stärker als im
A-Bereich.
({0})
Deswegen sollten wir heute auch über die Bereiche B
und C sprechen. Hierzu müssen wir feststellen, dass jeder im Bereich B und C halbwegs Kundige leicht in der
Lage ist, entsprechende Waffen herzustellen, die notwendigen Trägermittel zu besorgen und die Waffen dann
auch einzusetzen.
Das Problem hat sich deswegen zugespitzt, weil die
technische Leistungsfähigkeit sehr vieler Länder der
Dritten Welt zunimmt. Man wird dort nicht mehr auf
teure Importe angewiesen sein, sondern künftig vieles
im Land selbst herstellen können. Was früher aus technisch entwickelten Ländern beigebracht werden musste
- beispielsweise Dual-Use-Produkte oder direkte
Kriegswaffengerätschaften -, ist heute in jedem Land
der Dritten Welt vorhanden. Das heißt, die Anzahl der
potenziellen Lieferanten wird dementsprechend zunehmen.
Ein Problem mit erheblichen Auswirkungen ist dann
der Abfluss von Know-how, Fertigungsunterlagen, Materialien sowie Fachpersonal aus diesen Staaten. Dadurch ist der Zeitraum für die Entwicklung von Programmen für Massenvernichtungsmittel natürlich um
Jahre verkürzt. Das bedeutet, dass die Entwicklung zunehmend weniger kontrollierbar und auch unumkehrbar
wird.
Leider besteht nicht mit allen Vertragsregimes und
Kontrolleinrichtungen der beschworene Konsens. Viele
Länder haben die Verträge nicht unterschrieben oder
nicht ratifiziert; sie haben Vorbehalte oder halten sich
einfach nicht an die Regelungen. Es ist nicht meine Absicht, die USA zu kritisieren, aber ich möchte sie gern
auf ihre ganz besondere Verantwortung in verschiedenen
Bereichen hinweisen, weil sie eine Vorbildfunktion haben und uns in anderen Bereichen an unsere Vorbildfunktion erinnern.
({1})
Wenn sie sich schon nicht an die Regimes, an die einzelnen Vertragsstatuten binden lassen wollen, dann - ich
sage das hier ganz offen - könnten sie das eine oder andere beispielsweise auch im Rahmen einer vorbildlichen
Selbstverpflichtung leisten.
Welche Möglichkeiten haben wir überhaupt? Ich
nenne ein Instrument, das heute noch nicht angesprochen worden ist, das Instrument der Exportkontrolle.
Es ist eines der wesentlichsten Instrumente, die wir bei
allen Regimes, bei allen Kontrollverträgen haben. Dieses
Instrument gilt es entsprechend weiter auszubauen, weil
wir damit vonseiten der Lieferländer die Proliferation
zumindest verzögern können, sodass die Politik Zeit und
Spielräume zum Überlegen und Handeln gewinnt.
Wenn wir Kontrollinstrumentarien zur Exportpolitik
ansprechen, dann haben wir zwei Stichworte besonders
hervorzuheben. Das eine ist das Transparenzgebot, das
überdacht werden muss, um je nach Fall Transparenz in
die Sache hineinzubringen. Das wichtigste Stichwort dabei aber ist die Endverbleibsklausel. Heute ist es doch
überall so, dass ein Gut geliefert wird, dass die Wege
aber verschlungen sind und der erste Zielort nicht der
Endverbleibsort ist, sondern vom ersten Zielort aus über
neue Exportwege das richtige Zielland angesteuert wird.
Erst dort erfolgt der Zusammenbau - gegebenenfalls
müssen die Hilfsmittel dafür noch gesammelt werden oder der Gebrauch der Massenvernichtungswaffe.
Das bedeutet aus meiner Sicht für uns - es wurde
schon angesprochen -, dass Abrüstungsfragen derzeit
keine Konjunktur haben. Aber vielleicht sind wir, meine
Damen und Herren, als Parlament ein klein wenig mehr
selbst gefordert, um dieses Thema öfter und nachhaltiger
in die Politik einzubringen und zum Beispiel auch entsprechende Diskussionen hier zu gestalten.
({2})
Das bedeutet für mich: Wir brauchen in diesem Bereich
eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, um das Bewusstsein für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Waffen wieder zu schärfen. Wir müssen uns die
Zeit nehmen, im Sinne einer Effizienzsteigerung alle
Kontrollverträge einmal kritisch zu überprüfen und alle
Überwachungsregime zu unterstützen. Der Kollege
Weigel ist darauf teilweise schon eingegangen.
Wir haben kein gemeinsames europäisches Sprachrohr. Wir sprechen nicht mit einer Stimme.
({3})
Jeder spricht immer noch zu sehr aus seiner Ecke. Dabei
will ich gar nicht bezweifeln, dass es Ansätze gibt. Diese
Ansätze sind aber noch nicht zu dem Erfolg gebracht
worden, den wir brauchen und den wir uns alle wünschen. Die europäische Exportpolitik zusammen mit der
Abrüstungspolitik zu harmonisieren bleibt für uns ein
ebenso anspruchsvolles wie notwendiges Thema.
Wenn wir jetzt alle anlässlich der Konferenz zur UNO
nach New York schauen, wäre es im Sinne einer Neuorganisation der UNO durchaus hilfreich, einmal darüber
nachzudenken, die UNO auch im Bereich von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu einer entscheidenden
Drehscheibe auszugestalten, wo Ideen gesammelt werden können. Wenn dann auch noch der Generalsekretär
mit einem gewissen Instrumentarium ausgestattet werden könnte und selbst ein gewisses Maß an Entscheidungsmacht bekäme,
Herr Kollege, achten Sie bitte ein wenig auf Ihre Redezeit.
- wären wir sicherlich ein ganzes Stück weiter.
({0})
Das bedeutet zusammengefasst, meine Damen und
Herren: Wir haben jetzt die Chance, im Rahmen der
Neuorganisation der UNO auch den Fragen von Abrüstung, Rüstungskontrolle, Proliferation und Vertrauensbildung einen neuen Stellenwert zu geben. Ich glaube,
dass das ein Stück weit gelingen könnte, wenn wir alle
mithelfen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache. Die Abgeordnete
Petra Pau hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu
dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/5254 mit dem Titel „Verbreitung der
Kernwaffen verhindern und die nukleare Abrüstung stärken - Die Überprüfungskonferenz 2005 des Atomwaffensperrvertrages ({0}) zum Erfolg führen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zum Jahresabrüstungsbericht 2003 der Bundesregierung
auf den Drucksachen 15/3167 und 15/5143: Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 7: Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 15/5257 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({1}), Dr. Christian Ruck,
1) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Entschuldung voranbringen - Gute Regierungsführung und Armutsbekämpfung unterstützen
- Drucksache 15/4659 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Peter Weiß.
({3})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2005 wird ein entscheidendes Jahr für die
internationale Entwicklungszusammenarbeit werden:
Entweder verdoppeln jetzt die Industrienationen und die
Entwicklungsländer ihre Anstrengungen zum Erreichen
der vor fünf Jahren bei der UN-Millenniums-Sondergeneralversammlung gemeinsam definierten Ziele wie zum
Beispiel die Halbierung der extremen Armut bis zum
Jahre 2015 oder wir werden scheitern. Eine zentrale
Rolle dabei spielt, wie die massive Überschuldung ausgerechnet der ärmsten Länder der Welt abgebaut werden
kann.
Die Weltbank hat erst in der vergangenen Woche in
ihrem Bericht zur globalen Entwicklungsfinanzierung
erneut davor gewarnt, dass viele Entwicklungsländer
Gefahr laufen, immer weiter in die Schuldenfalle zu geraten. In großen Teilen der Entwicklungsregionen der
Welt, so stellt die Weltbank fest, seien die Außenschulden des öffentlichen Sektors weiter gewachsen. Überschuldung ist immer ein massives Entwicklungshindernis.
Doch statt die Dinge anzugehen und einen Rahmen
für eine neue Entschuldungsrunde zu erarbeiten, präsentieren sich die Industrienationen und ihre Regierungen überwiegend ratlos und zögerlich. Auf der Herbsttagung von IWF und Weltbank im vergangenen Oktober
wurde zwar eine neue internationale Entschuldungsrunde ausgerufen, aber die Behandlung der Frage, was
genau zu tun ist und wie es zu finanzieren ist, ist vertagt
worden. Auch innerhalb der Bundesregierung herrscht
offensichtlich große Verwirrung darüber, wie es nun mit
der internationalen Entschuldung weitergehen soll. Dabei gibt es Vorstöße für neue Entschuldungsrunden, zum
Beispiel vom britischen Schatzkanzler Gordon Brown.
Außer freundlichen Floskeln war aber von der Bundesregierung hierzu wenig zu hören.
({0})
Wenn sich die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Wieczorek-Zeul,
offen zeigt für die Ausweitung der Liste der zu entschuldenden Länder und sich für einen 100-prozentigen Erlass der multilateralen Schulden einsetzt, wird sie gleich
von ihrem Kollegen Finanzminister Eichel wieder eingefangen und mit Worten abgekanzelt wie: Es reicht nicht,
mit dem Herzen dabei zu sein.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie in anderen Politikbereichen auch ist das Bild dieser Bundesregierung in diesem Bereich völlig konfus. Millenniumsziele lassen sich aber nicht mit Konfusion,
({2})
sondern nur mit klarer Zielsetzung und Strategie erreichen.
({3})
Es nützt eben nicht, herumzulavieren und sich für eine
weitere Entschuldungsrunde auszusprechen, aber auf die
Frage, wie das geschehen soll, die Aussage zu verweigern. Ein typisches Beispiel dafür bot die gestrige Fragestunde, in der Sie, sehr geehrte Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Hendricks, auf meine Fragen, wie sich
die Bundesregierung bezüglich eines möglichen Einsatzes der IWF-Goldreserven verhalten will und mit welchem Konzept die Bundesregierung überhaupt in diese
neue Entschuldungsrunde gehen will, sozusagen die
Aussage verweigert und sich auf den Standpunkt zurückgezogen haben, dass Sie darüber weiter beraten wollen.
Heute lesen wir in den Zeitungen, dass die deutsche Delegation schon gar nicht mehr mit einem positiven Ergebnis bezüglich des Schuldenerlasses rechnet. Die
„taz“ spricht sogar von einer Blockade beim Schuldenerlass.
({4})
Die Bundesregierung legt offensichtlich die Hände in
den Schoß und tut nichts, um diese Blockade zu überwinden.
({5})
Vor dem Start in eine weitere Entschuldungsrunde
sollten zunächst einmal die Konsequenzen aus der letzten internationalen Entschuldungsrunde, also aus
HIPC II, gezogen werden. Ich möchte drei Punkte nennen, die mir dabei besonders wichtig sind:
Erstens. Zentrale Bedingung für den Schuldenerlass
ist die Erarbeitung einer nationalen Armutsbekämpfungsstrategie. Bei den Anforderungen an künftige
Strategiepapiere solcher Art muss mehr als bisher auf
Wachstumsorientierung gesetzt werden.
({6})
Wachstum ist eine Hauptvoraussetzung für einen nachhaltigen Erfolg von Entschuldungsmaßnahmen. Armutsbekämpfung wird nicht gelingen ohne Wachstum, das
auf breitenwirksamer und produktiver Beschäftigung
Peter Weiß ({7})
beruht. Dieser Aspekt ist in den Armutsbekämpfungsstrategien bislang nicht ausreichend betont worden.
Zweitens. Alle gut gemeinten Entschuldungsabkommen helfen nichts, wenn an den Schuldenerlass nicht
eindeutige und unmissverständliche Konditionen zur guten Regierungsführung geknüpft sind.
({8})
Good Governance ist das Schlüsselkriterium für den
Erfolg der Armutsbekämpfung. Dazu gehört auch ein
transparenter Nachweis über die Verwendung der durch
den Schuldenerlass frei werdenden Mittel. Wir fordern
daher in unserem Antrag eine klarere Konditionierung
als bisher. Wenn wir wollen, dass die Entschuldung den
gewünschten Beitrag zur Entwicklung unserer Partnerländer leistet, müssen wir konsequenter auf gute Regierungsführung drängen.
Drittens. Bei der Erarbeitung von Armutsbekämpfungsstrategien für die Entwicklungsländer wurde die
Beteiligung der lokalen Zivilgesellschaften als eine
Bedingung aufgeführt. Die Erfahrungen haben gezeigt,
dass diese Bedingung durchaus ein geeignetes Mittel ist,
um die Zielgenauigkeit der Armutsbekämpfung zu erhöhen und außerdem die demokratische Beteiligung zu
verbessern. Wir tun gut daran, bei künftigen Schuldenerlassen verstärkt auf die Mitwirkung der Zivilgesellschaften zu setzen.
Allerdings muss man feststellen, dass die Beteiligung
der Zivilgesellschaften in den einzelnen von den Schuldenerlassen begünstigten Ländern höchst unterschiedlich
ausgefallen ist. Vielfach war es nur eine rein symbolische
Beteiligung. Von einigen Nichtregierungsorganisationen
wird sogar der Vorwurf erhoben, die Einbeziehung der
Zivilgesellschaften sei mancherorts zur reinen Farce geraten. Deshalb müssen wir hier nacharbeiten. Ich fordere
die Bundesregierung auf, sich im Sinne der Forderung
vieler Nichtregierungsorganisationen endlich dafür einzusetzen, dass wenigstens Mindeststandards für die zivilgesellschaftliche Beteiligung bei der Erarbeitung von
Armutsbekämpfungsstrategien festgelegt werden.
({9})
Die HIPC-II-Initiative hat gezeigt, dass wir von den
Entwicklungsländern mehr verlangen müssen. Dafür
müssen wir, die Industrienationen, sie im Gegenzug wirkungsvoll davor bewahren, erneut in die Schuldenfalle
zu geraten. Deshalb ist zu begrüßen, dass bei den Wiederauffüllungsverhandlungen der IDA beschlossen
wurde, den Zuschussanteil am Gesamtvolumen zu erhöhen. Die Zuschüsse sind also gegenüber früher gestiegen. Das ist sicher auch ein Beitrag zur Verringerung des
Wiederverschuldungsrisikos für die von der Entschuldung begünstigten Länder.
Allerdings sollte damit klar sein, dass auf uns in den
kommenden Jahren die Verpflichtung zukommen wird,
für die nächste Wiederauffüllung durch die IDA höhere
Finanzmittel aufzubringen als in der Vergangenheit. In
diesem Zusammenhang halte ich die Aussage für nicht
besonders ehrlich, dass man sich über dieses Problem,
das uns im Jahr 2015 erreichen wird, heute keine Gedanken machen muss. Denn klar ist: Diese Großzügigkeit
funktioniert nur, wenn in Zukunft mehr Gelder aus dem
deutschen Haushalt für die Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet werden als bislang.
Meine Damen und Herren, der Kern des Problems,
warum sich die Diskussion über eine neue Entschuldungsrunde im Kreis dreht, ist: Anspruch und Wirklichkeit, Worte und Taten in der Entwicklungspolitik gerade
dieser rot-grünen Bundesregierung haben inzwischen
nichts mehr miteinander zu tun.
({10})
Es darf heute einmal daran erinnert werden, dass sich
1999 der Bundeskanzler selbst an die Spitze des Kölner
Entschuldungsgipfels gesetzt hat.
({11})
Die Bundesrepublik ist sogar öffentlich dafür belobigt
worden. Heute, wo es darum geht, den Erklärungen von
damals konkrete Entwürfe und Entscheidungen folgen
zu lassen, wo die Zeit für die Umsetzung der internationalen Armutsbekämpfungsziele knapp wird, gibt diese
Bundesregierung ein mehr als erbarmungswürdiges Bild
ab.
({12})
Sie haben keine Konzepte. Ihre großen Ankündigungen
zerplatzen. Auf einige Fragen wie zum Beispiel auf die
Frage, ob der IWF die Entschuldung über die Verwendung der Goldreserven finanzieren soll, können Sie
keine Antwort geben. Auch zur internationalen Finanzierungsfazilität haben Sie letztlich keinen Standpunkt.
Am Montag dieser Woche hat die OECD die neue
ODA-Statistik für 2004 vorgestellt. Damit haben wir es
amtlich: Die deutsche Entwicklungspolitik ist endgültig
am unteren Ende der internationalen Tabelle angekommen. Allen Beteuerungen zum Trotz: Sie haben es gerade geschafft, die 0,28 Prozent aus dem Vorjahr zu halten. Es muss also deutlich gesagt werden: Der Beitrag
der Bundesrepublik Deutschland zum Fortschritt bei der
Armutsbekämpfung in der Welt ist im Jahr 2004 im Vergleich zum Jahr 2003 nicht um ein Quäntchen gestiegen.
Er beträgt also null Komma null.
Natürlich können wir davon ausgehen, dass Sie uns
nächstes Jahr trotzdem eine Erfolgsbilanz präsentieren
werden, weil Sie das international zugesagte 0,33-Prozent-Ziel dadurch erreichen werden, dass der Schuldenerlass für den Irak eingerechnet wird. Damit demonstrieren Sie öffentlich, was Sie derzeit machen: Sie
ersetzen eine effektive Entwicklungspolitik durch Entschuldungsmaßnahmen. Sie erreichen die international
zugesagten Verpflichtungen nicht durch tatsächliches
Handeln, sondern schlichtweg durch finanzielle Taschenspielertricks.
({13})
Peter Weiß ({14})
Ich bin der Auffassung, dass die Diskussion um so genannte neue Finanzierungsinstrumente und um neue
Ideen zur Entschuldung, die die Bundesregierung derzeit
öffentlich inszeniert, letztendlich nichts anderes ist als
die Verzweiflungstat einer Regierung, die zu einer echten Entwicklungsfinanzierung nicht in der Lage ist.
Gestern war der neue Entwicklungskommissar der
Europäischen Union, Louis Michel, in Berlin. Er hat das
Problem eindeutig angesprochen:
Die Debatte über innovative Finanzierungsquellen
darf uns keinesfalls ablenken von unserer unmittelbaren Aufgabe, nämlich den Anteil der Entwicklungshilfe in den öffentlichen Haushalten zu erhöhen. Das ist immer noch das schnellste, einfachste
und transparenteste Mittel, um die Entwicklungshilfe aufzustocken.
Michel sagte weiterhin:
Innovative Finanzierungsquellen können die Erhöhung der Haushalte nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.
Weil die Zeit drängt und sich die Uhr bis 2015 nicht
anhalten lässt, fordern wir von Ihnen: Sorgen Sie in dem
Wirrwarr von Finanzierungs- und Entschuldungsvorschlägen endlich für Klarheit. Zurzeit ersetzt Rot-Grün
glaubwürdige Entwicklungspolitik durch Diskussionen
über finanzielle Taschenspielertricks.
Meine Damen und Herren, entweder sind Sie bereit,
bei der Entwicklungsfinanzierung einen echten Schritt
nach vorn zu gehen, oder Sie müssen ehrlich bekennen,
dass Sie das Geld nicht haben und dass Deutschland von
der Erreichung der Millenniumsziele abrückt.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef
Dzembritzki.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist immer faszinierend, zu beobachten, wie hier über
die finanziellen Beiträge diskutiert wird. Herr Kollege
Weiß, Sie haben gerade den Kommissar Michel zitiert.
Auch ich fand seine Aussagen sehr interessant. Sie waren für mich zum Teil überzeugend. Denn Entwicklungspolitik ist mehr als Geld.
({0})
Wenn Sie sich fragen, warum HIPC I - diese Initiative wurde in den 90er-Jahren zur Entschuldung einiger
der ärmsten und am meisten verschuldeten Länder der
Welt durchgeführt - nicht erfolgreich war, dann erhalten
Sie nun die Antwort: Diese Initiative war deswegen
nicht erfolgreich, weil die begleitenden Konzepte und
die Konditionalität gefehlt haben.
Der Beschluss zur Durchführung von HIPC II auf
dem Kölner Gipfel brachte bemerkenswerte Fortschritte.
Es wurde nicht nur der Kreis der durch eine Teilentschuldung zu entlastenden Länder vergrößert. Durch die
Anforderungen, die den betroffenen Ländern durch diese
von der rot-grünen Bundesregierung wesentlich vorangebrachte Initiative auferlegt wurden, ergaben sich auch
Innovationen und substanzielle Erfolge. Es wurde erstmals der Versuch unternommen, eine dauerhafte Lösung
des Verschuldungsproblems armer Entwicklungsländer
zu formulieren. Ein zentraler Aspekt von HIPC II war
die Verknüpfung der Entschuldung mit der Bedingung,
dass die durch den Schuldenerlass frei werdenden Mittel
konkret für die Armutsbekämpfung eingesetzt werden,
und zwar - Sie haben das zum Teil schon erwähnt - nach
einer Armutsbekämpfungsstrategie, die das zu entschuldende Land selbst erarbeiten sollte, damit es sich mit
dem Entschuldungsprojekt wirklich identifiziert.
Wir wissen alle, dass die HIPC-II-Initiative von vornherein als zeitlich begrenzte Maßnahme vorgesehen war.
Herr Weiß und liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Fraktion, neben vielen anderen Publikationen, die sich - teils lobend, teils kritisch - mit den bislang gemachten Erfahrungen auseinander gesetzt haben,
begrüße ich auch Ihren Antrag als Beitrag zur Diskussion. Wir können gemeinsam feststellen, dass HIPC II
bereits heute zu einer spürbaren Entlastung vieler zuvor
hoch verschuldeter armer Länder geführt hat. Wir können auch gemeinsam feststellen, dass trotz dieser anerkannten Fortschritte Einigkeit darüber besteht, dass im
Bereich der Entschuldung noch mehr getan werden muss
und dass dabei die langfristige Schuldentragfähigkeit der
Partnerländer stärker im Mittelpunkt stehen muss. Ich
glaube, niemand muss sich etwas anderes einreden.
Die nächste Initiative zur Entschuldung - und diese
muss kommen - sollte durchaus vorhandene Schwächen
des aktuellen Programms korrigieren. Sie sollte vor allen
Dingen aber auch die Ursachen der Verschuldung und
nicht nur ihre Symptome bekämpfen. An diesem Punkt
sind wir gefordert. Wenn Sie von der Notwendigkeit des
Wachstums sprechen - insofern möchte ich Ihnen zustimmen -, dann müssen Sie aber auch hinzufügen, dass
im Süden nur Wachstum möglich sein wird, wenn wir im
Norden unsere Verhaltensweisen verändern. Wir werden
überhaupt nicht umhin kommen, darüber zu diskutieren,
wie wir unsere Märkte für Produkte aus den Schuldnerländern öffnen und wie wir durch massiven Abbau von
Exportsubventionen der OECD-Länder, vor allem im
Agrarbereich, einen Beitrag dazu leisten, dass die Entwicklungsländer eine Chance haben, ihre Schulden abzubauen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir das nicht bewältigen, dann werden wir immer wieder in einen Kreislauf der ständigen Überschuldung auf der einen Seite
und der sich daraus ergebenden Entschuldungsfrage auf
der anderen Seite geraten. Das kann aber doch nicht
langfristig die Konzeption sein, die wir im Norden vertreten wollen.
Die notwendige Stärkung der Exporte der HIPC-IILänder zur Abfederung externer Schocks setzt einen
langwidrigen Prozess der Veränderung der Wirtschaftsstruktur voraus. Bis es so weit ist, dürfen wir diesen Ländern nicht auch noch die wenigen Exportmöglichkeiten
vorenthalten, die sie bereits jetzt haben können. Es ist
ein wenig kennzeichnend für Ihren Antrag, dass dieser
Zusammenhang keinerlei Erwähnung findet. Vielmehr
richtet sich ein Großteil des Forderungskataloges an die
Akteure in den verschuldeten Partnerländern, und es
kommt mir angesichts Ihrer Forderungen so vor, als ob
der in Ihrem Antrag mehrfach erwähnte Begriff „Ownership“ in der Weise verstanden werden soll, dass die Geber entscheiden, was die Nehmer letztlich zu machen haben. Ich glaube, dann kommen wir genau in die
Situation, die nicht eintreten darf. Wir sind nämlich immer der Meinung gewesen, dass die Zusammenarbeit
mit den Entwicklungsländern zwischen Nord und Süd
auf gleicher Augenhöhe stattzufinden hat und dass wir
„Ownership“ so zu verstehen haben, dass die Verantwortung in den Ländern selbst gestärkt wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heinrich?
Kollege Heinrich, bitte.
Lieber Herr Kollege, Sie haben gerade im Zusammenhang mit Ownership und Bevormundung wahre
Sätze gesagt.
({0})
Ich frage Sie deshalb: Warum haben Sie gestern meinem
Antrag nicht stattgegeben, in dem ich genau diesen
Punkt angesprochen habe? Dabei ging es darum, dass
möglichst alle frei werdenden Mittel für die Verbesserung der Biodiversität einzusetzen sind. Man hat erneut
vorgeschrieben, wie die Mittel zu verwenden sind. Das
ist ein absoluter Widerspruch zu dem, was Sie gerade gesagt haben.
Herr Kollege Heinrich, wir sind ja gemeinsam im
Ausschuss tätig und aktiv. Wir beraten. Sie kennen die
Situation, dass manche Details in den Vorschlägen sehr
vernünftig sind, dann aber im Gesamtbild möglicherweise eine Relativierung erfahren, weil sich die Gesamtsituation anders darstellt.
In der Diskussion, die wir im Augenblick gemeinsam
zu führen haben, macht uns stark, dass wir viele Schnittmengen haben, in denen wir übereinstimmen. Wir können sagen: Wenn wir eine vernünftige Entwicklungspolitik machen, kommt es auf den Grundsatz an, dass wir die
Verantwortung in den Ländern selbst stärken. Ich werde
im Verlauf meiner weiteren Ausführungen - ich habe
mir die Pläne von Gordon Brown bzw. die der USA angeschaut - darauf zurückkommen. Denn ich meine, dass
mit unseren Partnern in der EU und mit den USA zu erarbeiten ist, wie wir es schaffen, das Verantwortungsbewusstsein weit über die Good Governance hinaus zu
stärken, was offensichtlich auch Sie befürworten. So gesehen freue ich mich, dass Sie dem, was ich gesagt habe,
letztendlich zustimmen, Herr Kollege Heinrich.
({0})
Ich will festhalten - damit komme ich zur anderen
Oppositionspartei zurück -, dass Sie sich erfreulicherweise - das gehört mit in das Verantwortungspaket, das
ich hier eben versucht habe zu skizzieren - dafür aussprechen, dass sozial und verantwortungsvoll gestaltete
Steuersysteme vorzusehen sind. Ich begrüße das ausdrücklich, insbesondere deswegen, weil ich manchmal
den Eindruck habe, dass Sie diese Position hier bei uns
im Land seltener vertreten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe an manchen Stellen Gemeinsamkeiten in unseren Positionen.
Die Schnittmengen, die ich eben dem Kollegen Heinrich
in der Antwort auf seine Zwischenfrage versucht habe zu
offerieren, sehe ich auch hier, wenn ich mir zum Beispiel
Ihren achten Forderungspunkt anschaue, in dem Sie darauf hinweisen, dass allzu optimistische Wachstumsprognosen seitens der Weltbank dazu geführt haben, dass
zum Beispiel der Umfang des Entschuldungsvolumens
als viel zu gering eingeschätzt worden ist, man da also
nacharbeiten muss. Denn die Folge dieser Fehleinschätzung war häufig, dass wir zu so genannten Topping-ups
gekommen sind, wobei im Verfahren des Entschuldungsweges das Volumen der Entschuldung erhöht werden musste, also nicht ausreichend Zeit zur Verfügung
stand, um wirklich flexibel vorzugehen.
Ich denke, dass eine größere Flexibilität, eine Verbesserung der Analyseinstrumente zur Beurteilung der
Schuldentragfähigkeit der Empfängerländer und eine
stärkere Berücksichtigung der individuellen Problemlage bei den Partnern notwendig sind. Darüber sollte
man sich ein klares Bild machen.
Das muss man auch bei der künftigen Ausgestaltung
von Entschuldungsinitiativen sehen. Im Zusammenhang
mit Entschuldungsmaßnahmen wird zurzeit über verschiedene Vorschläge zur Erreichung der Schuldentragfähigkeit diskutiert. Hierzu gehören die im Antrag der
CDU/CSU-Fraktion angesprochenen Vorschläge der
USA und Großbritanniens im Hinblick auf 100-prozentige Schuldenerlasse für die HIPC-Länder.
Zu beiden Vorschlägen muss ich - ich hoffe, darin
sind wir uns weiterhin einig - gewisse Vorbehalte anmelden. Der amerikanische Vorschlag einer pauschalen
und unkonditionierten Entschuldung aller HIPC-Länder führt meiner Ansicht nach dazu, dass diejenigen
Länder, die aufgrund einer besseren wirtschaftlichen
Performance, eines besseren Schuldenmanagements, einer besseren Regierungsführung oder einer besseren Prävention gegen externe Schocks nicht zu den HIPC-LänDetlef Dzembritzki
dern gehören, in der Tendenz quasi bestraft werden. Ich
glaube, dass hier falsche Anreizstrukturen geschaffen
werden
({2})
und zu wenig differenziert vorgegangen wird.
({3})
Wenn es dazu kommt, dass Good Governance bestraft
und nicht belohnt wird, dann muss man sagen: Das, was
wir mit dem Entschuldungsprozess vorhaben, ist im
Grunde kontraproduktiv. Deswegen melde ich an dieser
Stelle Bedenken an.
Der britische Vorschlag, der den Kreis der zu berücksichtigenden Länder erweitert, enthält gleichzeitig die
Konditionierung, dass frei werdende Mittel zur Armutsreduzierung einzusetzen sind. Da würden wir alle vom
Grundsatz her erst einmal zustimmen. Ich melde nur
wieder bei der Auswahl der Kandidatenländer, die der
britische Schatzkanzler Brown getroffen hat, Bedenken
an und schlage vor, dass man sich auch vonseiten der
Bundesregierung - ich sage es einmal sehr freundlich
und vorsichtig - den Kreis der betroffenen Länder noch
einmal anschaut.
Darüber hinaus bleibt es bei meiner grundsätzlichen
Reserviertheit gegenüber einer 100-prozentigen Entschuldung des ausgewählten Länderkreises. Ich befürchte, dass eine nicht abgestufte Vorgehensweise geeignet ist, eine mangelnde Verantwortungswahrnehmung
zu befördern.
Die Frage nach der Finanzierbarkeit weiterer Entschuldungsmaßnahmen kann nicht ausbleiben. Herr Kollege Weiß, natürlich wird die Opposition das immer anders betrachten. Aber man muss objektiv sehen, dass wir
da in einem Spannungsfeld stehen - das ist doch überhaupt nicht zu leugnen -, das sich einerseits aus dem
Wunsch, die ärmsten Länder umfassend zu entschulden,
und andererseits aus der Notwendigkeit ergibt, unseren
eigenen Haushalt in Ordnung zu bringen und die
Maastricht-Kriterien zu erfüllen. Ich finde es sehr gefährlich, lieber Herr Kollege Weiß, wenn Sie in dieser
Diskussion im Parlament den Eindruck entstehen lassen,
dass die Entschuldung, also der Verzicht darauf, sich
Schulden zurückzahlen zu lassen, die Bundesrepublik
nichts kosten würde, dass das ein Nullsummenspiel
wäre.
({4})
Kolleginnen und Kollegen, diesen Eindruck darf man
nun wirklich nicht entstehen lassen. Alle, die den Haushaltsplan kennen - die Staatssekretärin könnte sofort einiges über den betreffenden Titel sagen -, wissen, dass
wir mit erheblichen Rückflüssen rechnen können. Wenn
wir darauf verzichten, wäre das eine Leistung, die von
den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern unseres Landes
mit erbracht werden müsste. Das zu verniedlichen, halte
ich für gefährlich. Das darf nicht so ohne weiteres akzeptiert werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß? Ja.
Herr Kollege Dzembritzki, ich stimme Ihnen natürlich voll und ganz zu; das war auch der Punkt, auf den
ich hinweisen wollte: Entschuldung kostet Geld. Ich
denke, dass die Koalition und die Bundesregierung zurzeit den Eindruck erwecken, eine neue Entschuldungsrunde sei quasi ohne Geld machbar. Was bedeutet denn
der Vorschlag anderes, der IWF möge die Entschuldungsrunde mit seinen Mitteln finanzieren? - Entschuldigung, wo hat der IWF das Geld her? Oder nehmen Sie
Ihren Vorschlag, man solle eine Kerosinsteuer einführen,
um die Entschuldung oder andere Maßnahmen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren.
Das ist doch eine zusätzliche Steuer.
Ich frage Sie: Wie sieht denn der Vorschlag der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung aus, um eine
neue Entschuldungsrunde zu finanzieren und die Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen? Dann
sagen Sie auch klar und deutlich, dass das Geld kostet,
das entweder jetzt oder in Zukunft - Stichwort „internationale Finanzierungsfazilität“; das heißt, es werden Anleihen aufgenommen - von uns refinanziert werden
muss.
Herr Kollege, wenn Sie mit Ihrer Zwischenfrage signalisieren, dass auch Sie wissen, dass es uns, wenn die
Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik einen Schuldenerlass ausspricht, Geld kostet, wenn wir also in dieser
Frage Klarheit haben, dann bin ich ein Stückchen zufriedener als zu dem Zeitpunkt, als ich zum Rednerpult gegangen bin. Dass wir uns über Finanzierungsmodelle,
die über die traditionellen Haushaltsmittel hinausgehen,
Gedanken machen, zeigen ja auch die Diskussionen, die
wir zum Beispiel im Ausschuss führen.
Wenn Sie von der Kerosinsteuer sprechen, dann muss
ich Ihnen sagen, dass das ja mehrere Facetten hat. Man
könnte sich zum Beispiel überlegen, durch die Einnahmen aus einer solchen international erhobenen Steuer
Aufgaben im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
zu finanzieren. Wir könnten durch den Einsatz dieser
Mittel allerdings auch Entscheidendes tun, um etwas gegen die im Wesentlichen von den Industrieländern verursachten Belastungen öffentlicher Güter zu unternehmen,
um jene Länder, die darunter am stärksten leiden, im
Rahmen einer weltweit vorzunehmenden Aufgabenteilung zu entlasten.
In diesem Zusammenhang könnte man eine sehr interessante und, wenn Sie so wollen, modellhafte Diskussion darüber führen, wie die Situation, dass zum Beispiel
der Norden weitaus mehr öffentliche Güter als der Süden
verbraucht, weltweit etwas gerechter zu gestalten ist.
Deswegen ist das nicht nur eine Frage der Entwicklungsfinanzierung, sondern auch eine Frage, in der es darum
geht, die Belastungen weltweit so zu verteilen, dass es
nicht nur Verursacher und Empfänger gibt, sondern dass
sich die Verursacher auch an der Beseitigung der Belastungen beteiligen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend will
ich sagen, dass wir uns als Entwicklungspolitikerinnen
und Entwicklungspolitiker - das gilt zumindest für jene,
die in Regierungsverantwortung stehen - den Zwängen,
die sich aus unserer Finanzsituation ergeben, zu stellen
haben. Jede Ausgabenerhöhung muss gegenfinanziert
und in unserer Gesellschaft akzeptiert werden. Diese
Verantwortung müssen im Wesentlichen die Regierungsparteien tragen. In den Forderungen, die Sie in Ihrem
Antrag erhoben haben, berücksichtigen Sie dieses Problem weniger.
Es ist unsere Aufgabe, die Verschuldung sowohl im
Inland als auch in unseren Partnerländern des Südens zu
bekämpfen. Diese Aufgabe nehmen wir ernst. Ich denke,
dass wir mit HIPC II gut vorangekommen sind und dass
im Rahmen einer weiteren Runde des vernünftigen
Schuldenerlasses die Kriterien, über die hier diskutiert
worden ist, und die Lernprozesse, die im Rahmen von
HIPC II stattgefunden haben, berücksichtigt werden.
Dann befinden sich die weitere finanzielle Entlastung
und die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dzembritzki, ich bin sprachlos. Ich weiß gar nicht,
was ich noch sagen soll, weil Sie und alle meine Vorredner mir das, was ich sagen wollte, schon aus dem Mund
genommen haben.
({0})
Allerdings finde ich es schade, dass die Ministerin das,
was Sie über den verantwortlichen Umgang mit Haushaltsmitteln gesagt haben, nicht gehört hat.
({1})
Denn sie ist diejenige, die immer wieder genau das fordert.
Ich muss sagen - das habe ich sicherlich schon des
Öfteren, auch im Ausschuss, vorgetragen und ich
glaube, hier sind wir uns einig -: Ich finde es manchmal
verantwortungslos, wie hier über große Summen diskutiert wird. Da werden zum Beispiel mit einem Federstrich 4 Milliarden Euro für den Irak zur Verfügung gestellt. Manchmal entscheiden wir hier über eine sehr
große Menge Geld leichtfertig - zu leichtfertig, wie ich
finde.
Herr Weiß, ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist es,
was mich an Ihrem Antrag am meisten stört: die Leichtfertigkeit, mit der aus Gebersicht argumentiert wird. Es
fehlt mir die Einforderung der Verantwortung derjenigen, die sich verschuldet haben und die nun verschuldet
sind. Sie wird in Ihrem Antrag zwar angesprochen, aber
mir fehlt die Gewichtung. Die eigene Verantwortung der
verschuldeten Länder müsste viel stärker herausgearbeitet werden.
Auch finde ich es nicht richtig, wenn Sie sich hier
hinstellen und einfach sagen, wir müssten die ODAQuote erhöhen und mehr Geld ausgeben. Auch hier gilt:
Wir müssen verantwortungsvoll mit Geld umgehen. Sie
wissen so gut wie ich, dass es in einer Situation der totalen Verschuldung, in der wir uns befinden, nicht verantwortungsvoll ist, zu fordern, dass mehr Geld ausgegeben
werde.
({2})
Das ist insbesondere bei Fragen der Entschuldung der
Fall.
Sie beschreiben zu Recht, dass es in vielen Bereichen
an Konditionierung und Auflagen fehlt und dass vieles
schief gegangen ist; wir alle kennen das Beispiel Bolivien. Fast alle Punkte, die Sie anführen, halte ich für
richtig und unterschreibenswert. Aber es fehlt die letzte
Konsequenz. Es geht eben nicht nur darum, zum Beispiel darauf zu achten, dass ein Steuersystem eingeführt
wird, sondern es geht darum, dass auch Steuern gezahlt
werden. Es kann nicht sein, dass nach Guatemala Entwicklungshilfe fließt und gleichzeitig die Reichen dort
keinen Pfennig Steuern bezahlen. Das geht nicht; da
fehlt die Konsequenz.
({3})
Sie sprechen Gordon Brown an. Ich nehme an, Sie
meinen die Finanzierungsfazilität. Ich finde das in unserer derzeitigen Situation unverantwortlich. Das können die Briten gut und richtig finden - wir als Deutsche
können in der derzeitigen Verschuldungssituation keine
neuen Schulden machen, auch nicht wenn wir sie IFF
nennen oder Schuldverschreibungen. Deswegen ist der
IFF aus meiner Sicht für Deutschland kein diskussionswürdiges Modell.
({4})
Ich habe meine Redezeit schon überschritten; insofern werde ich es abkürzen: Es gibt noch viele Punkte zu
diskutieren. Ich würde mir wünschen, dass wir das im
Ausschuss noch einmal ausführlich behandeln und an
der einen oder anderen Stelle nachbessern. Dann wären
wir auch bereit, den Antrag zu unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere mich noch lebhaft, aber ungern an eine von
der CDU/CSU anberaumte Aktuelle Stunde im
Jahre 2003, die unter dem Motto stand „Im Ausland die
Schulden eintreiben“.
({0})
Ich freue mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben
und von populistischen Forderungen nach hartem
Durchgreifen gegenüber den ausländischen Schuldnern
- wohlgemerkt: auch den armen und ärmsten Ländern ablassen und sich jetzt im Dienste der Armutsbekämpfung für eine Entschuldung einsetzen. Es geht nicht nur
um Russland, es ging auch um Mosambik und um andere Staaten; „Bild“-Zeitung-Interviews von Friedrich
Merz. Es ging auch um die Eintreibung von Schulden in
der so genannten Dritten Welt.
({1})
Das heißt, sie loben jetzt mit dem Antrag das, was die
Bundesregierung zum Programm gemacht hat. Ich zitiere wörtlich aus Ihrem Antrag:
Der für HIPC II gewählte ... Ansatz ist weitreichend
und nachhaltig: Entschuldungsmaßnahmen werden
unabdingbar mit der Armutsbekämpfung in den
Schuldnerländern verknüpft; die Schuldnerländer
sollen im Zuge der Entschuldung anhaltendes Engagement etwa bei der Verbesserung der Sozialstandards, der Bildung und der Gesundheitsfürsorge
zeigen.
Das steht in Ihrem Antrag und das ist eine sehr zutreffende Beschreibung unserer Politik.
({2})
Von den 42 HIPC-Ländern haben sich mittlerweile
27 für die Entschuldung qualifiziert. Die Entwicklung
geht so weiter, dass sich der Schuldenstand in diesen
Ländern um bis zu zwei Drittel reduzieren wird. Als bisherige Erfolge treten Tansania und Uganda ganz besonders bei der Primärschulbildung hervor: Beiden Ländern
hat der Schuldenerlass erlaubt, die Schulgebühren abzuschaffen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Löning?
Ja, gerne.
Herr Kollege Hoppe, wie verträgt sich die Entschuldung, die ja im Wesentlichen durch Neuverschuldung in
Deutschland finanziert wird, mit den Prinzipien von
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, die Ihre
Partei zu Recht oft hochhält?
({0})
Herr Kollege Löning, die Entschuldung der ärmsten
Länder, in denen Menschen verhungern, in denen Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können,
steht in keinem Verhältnis zu der wirtschaftlichen Situation in unserem Land. Die Schulden von Ländern im
südlichen Afrika mit unserem Schuldenstand zu vergleichen halte ich für unredlich.
Aber zurück zu meinen Ausführungen: Ich habe über
die Erfolge der Entschuldungskampagnen gesprochen.
Beiden Ländern - Tansania und Uganda - hat der Schuldenerlass erlaubt, die Schulgebühren abzuschaffen und
damit die Zahl der Kinder, die eine Grundschule besuchen können, zu verdoppeln. Beide Länder waren auch
im Bereich Gesundheitsfürsorge erfolgreich. Auch in
Benin, um ein weiteres Beispiel zu nennen, konnten
durch den Schuldenerlass Mittel für den Aufbau eines
umfänglichen Netzes von ländlichen Kliniken freigesetzt
werden. In Mali konnten durch die Entschuldung 5 000
zusätzliche Dorfschullehrer eingestellt werden. Wir haben hier viel von Misserfolgen und von Schwarzmalerei
gehört. Aber auch die Erfolge müssen einmal klar und
deutlich benannt werden und dürfen nicht verschwiegen
werden.
Selbstverständlich gibt es Fehlentwicklungen; wir
waren gemeinsam in Bolivien und haben uns dort über
die doch recht trostlose Situation informiert. Die Entschuldungsinitiative muss ausgeweitet werden; das ist
klar. Vor allem gilt es, die multilateralen Schulden zügig
zu erlassen.
Wir haben es heute immer noch mit einer verkehrten
Welt zu tun, in der die ärmsten Länder täglich
100 Millionen Dollar in den Norden - in den Schuldendienst - transferieren. Das ist mehr als doppelt so viel,
wie sie an Entwicklungshilfe erhalten. Dieses Geld fehlt
bei der Armutsbekämpfung dringend. Jede Woche sterben infolge von extremer Armut mehr Menschen, als der
Tsunami-Katastrophe zum Opfer gefallen sind. Wir können mehr tun; darin stimmen wir überein. Wo ein Wille
ist, ist auch ein Weg. Ich habe es schon erwähnt: Dieser
Weg muss kurzfristig über einen qualifizierten, konditionierten Schuldenerlass der Weltbank und des IWF
führen.
Ich setze mich dafür ein, dass die kurzfristige Befreiung der ärmsten Länder von den Schulden des IWF über
eine Neubewertung und auch über den Verkauf von
IWF-Goldreserven erfolgt. Im Gegensatz zu Ihren Ausführungen in Ihrem Antrag reden wir nicht um den heißen Brei herum, sondern benennen ganz klar Wege, die
zum Erfolg führen könnten.
({0})
- Ich spreche hier für meine Fraktion. Es gibt aber auch
mehrere Stellungnahmen aus der Bundesregierung, aus
denen hervorgeht, dass dieser Weg, den sich auch IWFChef Rato vorstellen kann, begrüßt wird; man will ihn
positiv gehen.
Ein kleiner Schlenker zur Bundesbank ist an dieser
Stelle angebracht. Es ist nicht angemessen, dass sich die
Bundesbank explizit gegen einen solchen Schritt ausspricht,
({1})
ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, eine Alternative aufzuzeigen. Ich halte das für nicht angemessen.
Bei den Goldreserven des IWF ist eine Wertberichtigung von bis zu 37 Milliarden Dollar möglich, genug,
um den ärmsten Ländern Luft zum Atmen zu geben und
sie darin zu unterstützen, die Millenniumsziele zu erreichen. Letzteres ist unabdingbare Bedingung; darin stimmen wir überein. Diese Konditionalität sollte aber nicht
nur von IWF und Weltbank ausgelegt und überwacht
werden, sondern hier ist eine noch stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft absolut notwendig. Dies gilt
auch bei einer Neugestaltung der Schuldentragfähigkeitsanalysen. Wir stimmen darin überein, dass in der
Vergangenheit viel zu optimistische Berechnungen angestellt und externe Schocks nicht berücksichtigt wurden.
Jetzt bin ich schon am Ende der Redezeit angekommen, eines will ich aber in Richtung CDU/CSU und
auch in Abgrenzung zur FDP deutlich unterstreichen:
Selbstverständlich geht es nicht nur um Schuldenreduzierung, selbstverständlich müssen wir auch Fresh
Money in die Hand nehmen. Unsere Fraktion hat dazu
einen Beschluss gefasst, der jetzt vom Länderrat bestätigt wurde.
({2})
Wir möchten und hoffen sehr, dass die Bundesregierung in den nächsten 14 Tagen bis drei Wochen einen
verbindlichen Fahrplan in Richtung 0,7 Prozent verkünden wird. Die Ministerin hat sich ähnlich geäußert und
auch die Kolleginnen und Kollegen Entwicklungspolitiker sind der gleichen Meinung. Wir hoffen stark, dass
sich das durchsetzt und dass auch die gesamte Koalition
in den nächsten Wochen zu diesem Schritt bereit ist.
({3})
Schuldenerlass ist das eine - er ist notwendig -, wir
kommen aber nicht um zusätzliche Anstrengungen herum, um die Millenniumsziele zu erreichen. Das Geld,
das wir in die Armutsbekämpfung investieren wollen,
wird gut angelegt sein. Es ist auch eine Investition in unsere Sicherheit.
Ich danke Ihnen.
({4})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4659 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Dr. Sascha Raabe, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Thilo Hoppe, Volker Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Ernährung als Menschenrecht
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bernhard
Schulte-Drüggelte, Peter H. Carstensen ({2}), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Welternährung sichern - eine globale Verantwortung für die nationale und europäische Agrarpolitik
- Drucksachen 15/3956, 15/3940, 15/4408 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Reinhold Hemker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe in der letzten Woche ein Empfehlungspapier der Regierung von Sambia zugeschickt bekommen.
Darin fand ich eine sehr interessante Formulierung zu
unserem heutigen Thema. Sie spricht nämlich nicht von
der Ernährung als Menschenrecht bzw. sie zitiert die
Leitlinien nämlich nicht einfach, sondern sie spricht im
zweiten Teil dieser Formulierung davon, dass es um eine
angemessene Ernährung für alle Menschen geht. Wenn
das, was die Sambianer formuliert haben, richtig ist, bedeutet das, dass wir uns vor diesem Hintergrund zunächst einmal über die Bedeutung dieser Leitlinien klar
werden müssen, die nun schon seit einigen Monaten in
der Diskussion sind und über die sich verschiedene Regierungen Gedanken hinsichtlich der Implementierung
in nationale Programme machen.
({0})
- Ich habe mich noch gar nicht bedankt, Herr Kollege.
Sie greifen jetzt dem Rest meiner Rede vor. Aber in der
Tat lohnt es sich, sich bei einigen zu bedanken. - Ich verweise darauf, was in einigen Entwicklungsländern passiert und was auf der Basis der Empfehlungen der FAO
in den reicheren Ländern geschehen muss. Der stellvertretende Generaldirektor der FAO, Hartwig de Haen, hat
deutlich darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen
Leitlinien „nur“ um ein zusätzliches Instrument handeln
kann.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen in Deutschland, in Europa und auch in den Entwicklungsländern
hinweisen. Diese Nichtregierungsorganisationen - ich
nenne hier ganz bewusst FIAN, ein Netzwerk, das sich
als internationale Menschenrechtsorganisation für das
Recht auf Nahrung einsetzt - haben bei der Vermittlung
und Organisation von Kampagnen für die notwendige
Aufklärung bei beteiligten Regierungen gesorgt. Es wäre
im letzten Jahr - das ist meine Einschätzung - nicht zum
Durchbruch gekommen, wenn nicht in einigen Ländern
- ich nenne hier besonders die USA - christlich geprägte
Organisationen dafür gesorgt hätten, dass dieses Thema
immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Dafür, denke ich, muss man sich, Herr Kollege Goldmann,
auch bedanken.
Wichtig ist dabei, dass wir uns klar machen, dass
nicht allein die FAO mit ihren Programmen und dem zu
wenig bereitgestellten Geld die Umsetzung organisieren
kann, sondern dass dies ein Wechselspiel zwischen den
bereits „aktiven“ Ländern, die die Implementierung im
Rahmen ihrer agrarwirtschaftlichen und ernährungswirtschaftlichen Programme vornehmen, und den Möglichkeiten ist, die die FAO und die Geberländer haben. Von
daher gesehen, wird es jetzt bei der Implementierung auf
die Kooperation zwischen den verschiedenen internationalen Organisationen und den jeweiligen staatlichen Institutionen - dabei geht es nicht immer nur um die
Agrarpolitik, sondern auch um vor- und nachgelagerte
Bereiche genau wie bei uns - ankommen, und zwar im
Wechselspiel mit den Nichtregierungsorganisationen,
die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind.
Ich will dazu einige wichtige Kernpunkte nennen,
die sich für die praktische Politik aus den Leitlinien ergeben.
Erstens. Es geht darum, dass aus diesen Leitlinien so
etwas wie ein integraler Bestandteil der Gesamtprogrammatik wird. Das ist es bisher nicht. Es ist so etwas wie
eine Basis. Diejenigen, die in den internationalen Organisationen und in den nationalen Programmen tätig sind,
müssen hier eng zusammenarbeiten.
Zweitens. Es geht darum, dass man länder- oder regionalspezifisch für die Implementierung Konzepte entwickelt, die viele der Entwicklungsländer noch gar nicht
haben, insbesondere diejenigen Entwicklungsländer, die
auf ein, zwei oder drei Agrarprodukte für den Export setzen und so an international verhandelbares und einsetzbares Kapital kommen. Man muss sich also sowohl am
internationalen als auch am nationalen Markt orientieren
und entsprechend handeln.
Dafür ist Kommunikation und Training notwendig.
Ebenso ist Unterstützung für die bereits „aktiven“ Länder wichtig. Deutsche Organisationen wie INWENT,
aber auch die GTZ müssen auf diesen Schwerpunkt verstärkt eingeschworen werden, was bisher noch nicht der
Fall ist. Ländliche Agrarpolitik und Entwicklungspolitik
sind noch kein Thema.
({1})
- Das haben wir in unserem Antrag alles angedeutet,
Kollege Goldmann. Das wissen Sie. Sie können in einem
kurzen Antrag für die parlamentarische Debatte nicht die
Gesamtprogrammatik, die wir entwickeln und die noch
zu entwickeln ist, aufnehmen.
({2})
Wichtig ist jetzt, dass wir die verschiedenen Agrarsektoren einer Gesamtbetrachtung unterziehen. Wichtig
ist außerdem, dass wir den Subsistenzsektor betrachten
und über die Politik der Entwicklungszusammenarbeit
und die entsprechenden Maßnahmen deutlich machen,
dass der Subsistenzsektor in Richtung Marktfähigkeit
weiterentwickelt werden muss.
({3})
Das Gleiche gilt für kleine landwirtschaftliche Betriebe, die oft gar nicht in der Lage sind, ihre Produkte
auf lokalen, regionalen, geschweige denn nationalen
Märkten abzusetzen.
Hier haben die mittelgroßen Farmen und insbesondere die kommerziellen Großfarmen mit ihrem Knowhow in den Entwicklungsländern eine ganz wichtige
Aufgabe. Als Hinweis: Es gibt bereits einige Entwicklungsländer, in denen Weiterbildungsinstitutionen gerade von den Vertretern des Großfarmsektors unterhalten
werden.
Dabei ist auch wichtig, dass wir bei der Weiterentwicklung der Agrar- und Ernährungswirtschaft vor
Augen haben, dass standortgerecht produziert wird, und
zwar mit solchen Produkten, die zu den heimischen Produktsorten gehören. Gerade im afrikanischen Kontext
konnte ich in den letzten Jahren sehen, dass man verstärkt auf traditionelle Produkte im Grundversorgungsbereich setzt. Dafür muss die Marktfähigkeit erzielt werden.
Dazu ist es nun wichtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie es mit den vor-, nach- und zugeordneten Sektoren aussieht. Wir wissen, dass gerade im
Bereich der Konservierung große Probleme in den Entwicklungsländern bestehen. Sie alle wissen, wenn Sie
bei Reisen in Entwicklungsländer auf Märkten gewesen
sind, dass immer ein Geruch in der Luft liegt, was daran
liegt, dass viele Produkte verfaulen, bevor sie auf die
Märkte kommen, weil Lager- und Konservierungsmöglichkeiten nicht bestehen.
In der letzten Ausgabe der Zeitschrift der Welthungerhilfe wird dieses Problem anhand des Milchsektors
dargestellt. Sie wissen alle, dass Milch in den Entwicklungsländern weitestgehend durch kleine Händler vermarktet wird und die Vermarktung sehr produktionsnah
erfolgen muss. Deswegen ist es wichtig, dass wir in der
Entwicklungszusammenarbeit durch die Projektarbeit
entsprechende Konservierungsmethoden unterstützen.
Manche sind nicht kostengünstig bzw. gar nicht durchsetzbar, weil man bestimmte Kühlungssysteme in vielen
Entwicklungsländern gar nicht einsetzen kann.
Es geht also um den Ausbau der Maßnahmen für
Infrastruktur. Das alles ist in den Leitlinien erwähnt
und wird als Auftrag für die Programmumsetzung formuliert. Es geht um Transport, es geht um die Erfassung
aller Möglichkeiten, zum Beispiel Lagerung und Konservierung, die ich eben erwähnt habe. Sehr spannend ist
dabei die immer wieder gehörte Aussage, dass es zur
Professionalisierung der Beteiligten, also zur Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen kommen muss.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein Buch
verweisen, das sich wie ein kleines Kompendium zu unserem Thema liest. Es ist ein Buch, das von einigen Mitgliedern von FIAN herausgegeben worden ist. Es heißt
provokativ: „Wirtschaft global - Hunger egal?“ In diesem kleinen Kompendium wird so etwas wie eine Bewertung nach ethisch-moralischen Grundsätzen und
werden Handlungsperspektiven vorgegeben. Es wird
aber auch eines deutlich gemacht, was mir angesichts
der Debatte, die in den letzten Tagen über China auch
hier im Hause geführt worden ist, aufgefallen ist. Es gibt
eine ganze Reihe von wirtschaftlich unheimlich starken
Ländern: Brasilien, Indien und China. Wenn man sich
einmal anschaut, wie groß der Anteil unter- bzw. fehlernährter Menschen in diesen Ländern ist, dann sieht
man, dass die Binnenstrukturen in diesen Ländern verändert werden müssen.
({4})
Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Das heißt aber:
Wenn, liebe Frau Staatssekretärin, die Bundesregierung
auf bestimmte Ankerländer setzt, zu denen Brasilien,
Indien und China gehören, dann muss man in den bilateralen Gesprächen deutlich machen, dass es um eine Veränderung der binnenorientierten Agrar- und Ernährungspolitik und der Wirtschaftspolitik dieser Länder
insgesamt gehen muss.
({5})
- Lieber Kollege Goldmann, die Debatten sind - das
wissen Sie doch ganz genau - dazu da, dass man zusätzlich zu dem, was man aufschreibt, noch einige Erläuterungen gibt. Ich könnte das Satz für Satz anhand unseres
Antrags nachweisen, weil ich diesen Antrag mit Herzblut geschrieben habe.
Vor diesem Hintergrund müssen wir alle politischen
Methoden einbeziehen. Wir haben eben über die HIPCInitiative gesprochen. Wir müssen aber auch darüber
sprechen, wie wir unsere Agrarsubventionen in den
nächsten Jahren gestalten. Denn ein Abbau der Agrarsubventionen würde bei einer entsprechenden Entschuldung dazu führen, dass mehr Investitionen für die national verantwortete Implementierung der Leitlinie „Recht
auf Nahrung“ möglich wären und es zum anderen zu einem größeren Handlungsspielraum käme.
Vor diesem Hintergrund möchte ich mit einer Aussage aus dem kleinen Büchlein schließen:
Die Durchsetzung von Menschenrechten erfordert
den Widerstand und die Gegenmacht der Opfer sowie die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen und anderen sozialen Bewegungen. Diese
Solidarität ist auch jetzt schon möglich!
In beiden vorliegenden Anträgen wird auf dieser
Grundlage argumentiert. Ich gehe davon aus, dass wir
das in den Fachdiskussionen noch weiter zu konkretisieren haben. Zurzeit stehen wir am Anfang der Implementierung auf der Grundlage dieser Leitlinien. Ich denke,
dass wir als Abgeordnete aus den verschiedenen Fachbereichen einen solidarischen Beitrag für die Umsetzung
und Implementierung leisten können.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marlene Mortler.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Hemker, ich
schätze Sie wirklich sehr, vor allem Ihren Einsatz für die
ärmsten Menschen in unserem Lande wie auch auf der
ganzen Welt. Lassen Sie mich trotzdem den Blick auf Ihren Antrag lenken.
„Wer Gutes tun will, muss es verschwenderisch tun“:
Ihr Antrag mit dem Titel „Ernährung als Menschenrecht“ folgt zwar im Wortlaut Martin Luther, aber nicht
in seinem Geiste. Ihr Anspruch ist hoch, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Eine Meldung der OECD
macht deutlich, dass die staatliche Hilfe Deutschlands
zur Förderung der Entwicklung der ärmsten Länder 2004
geringer geworden ist.
Die Ursachen für Hunger und Unterernährung in vielen Teilen der Welt sind vielfältig. Hungerbekämpfung
ist in erster Linie Armutsbekämpfung. Entscheidende
Faktoren sind der Zugang zu Boden und Kapital, eine
bessere Bildung und Ausbildung, die Bekämpfung von
Korruption und die Vermeidung von kriegsähnlichen Zuständen.
({0})
So ist Nordkorea ein eklatantes Beispiel für politisch
verursachten Hunger. Das dortige diktatorische Regime
drangsaliert seine Bevölkerung seit Jahrzehnten mit einer verfehlten Agrarpolitik. Schlagworte wie Abbau von
Subventionen - wie gerade zu hören war - und Protektionismus mögen zwar im Zusammenhang mit der ArMarlene Mortler
mutsbekämpfung populär sein; sie helfen aber bei der
Bekämpfung von Hunger nicht weiter.
Einen wichtigen Beitrag zur Hungerbekämpfung liefert aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion die moderne
Agrarforschung. Darauf bezieht sich auch die zentrale
Forderung in unserem Antrag.
({1})
Die Zahlen der FAO machen nämlich deutlich, dass die
pro Kopf zur Verfügung stehende landwirtschaftlich
nutzbare Fläche unaufhaltsam kleiner wird. Während
zum Beispiel 1961 noch für jeden Erdenbürger
1,5 Hektar zur Verfügung standen, waren es 2002 nur
noch 0,81 Hektar. Ich frage mich, ob dieser Rückgang
mit konventionellen oder gar ökologischen Bewirtschaftungsmethoden noch ausgeglichen werden kann.
Bündnis 90/Die Grünen haben in ihrem Antrag vom
Juli 2003 ebenfalls gefordert, dass Aktivitäten der internationalen Agrarforschung dem Ziel einer nachhaltigen
Nahrungssicherung entsprechen sollten. Im aktuellen
Antrag der Regierungskoalition steht kein Wort mehr
vom Nutzen der Agrarforschung bei der Hungerbekämpfung. Damit wollen Sie wohl jeden Zusammenhang mit
der Pflanzengentechnik vermeiden.
({2})
Hunger kann man nicht mit Ideologien bekämpfen, sondern nur mit der Nutzung aller Chancen und einem ganzheitlichen Ansatz.
Wie eingleisig in diesem Zusammenhang gedacht und
gehandelt wird, zeigt auch die Versetzung von Professor
Schlagheck in den einstweiligen Ruhestand. Ich habe
das überhaupt nicht verstanden; denn ich habe Professor
Schlagheck als einen loyalen Mitarbeiter Ihres Hauses
kennen gelernt, Herr Dr. Thalheim. Aber er war sicherlich auch ein Mitarbeiter, der beim Thema Gentechnik
über den Tellerrand hinausgeschaut hat. Wir reden heute
über eine ausreichende Versorgung der Menschen in den
Entwicklungsländern mit Nahrungsmitteln und Wasser
und Frau Ministerin konzentriert sich zurzeit auf die Versorgung ihres grünen Umfelds.
({3})
Wie groß muss die Panik sein, wenn sie die Zusammenarbeit mit hoch qualifizierten Mitarbeitern einfach aufkündigt? Der politische und wirtschaftliche Schaden,
den sie damit anrichtet, scheint ihr egal zu sein.
({4})
Beim Thema Agrarbiotechnologie setzen Sie auf
Ängste, sprechen Sie nur von Risiken und beeinflussen
so einseitig die Stimmung der Menschen in unserem
Land. Dabei ist die Agrarbiotechnologie aus meiner
Sicht eine der zukunftsträchtigsten Entwicklungen in der
modernen Wissenschaft. Aber die Spielregeln müssen
eingehalten werden; denn wir sind uns durchaus in der
Bewertung des illegalen Exports von Bt-10-Mais aus
den USA in die EU einig. Die Vorgehensweise des weltgrößten Biotechnologiekonzerns, aber auch der US-Behörden ist aus meiner Sicht durch nichts zu entschuldigen.
({5})
Die Agrarbiotechnologie kann aber zusammen mit traditionellen oder konventionellen Pflanzenzüchtungsmethoden herausragende Leistungen erbringen. Die erfolgreiche Maniokforschung in Afrika ist hierfür ein gutes
Beispiel. Deshalb ist es aus meiner Sicht verantwortungslos und unvernünftig, Forschung und Erprobung im
eigenen Land massiv zu behindern.
Auch die vielfach geforderte Liberalisierung des
Weltagrarhandels ist kein Segen für die Entwicklungsländer. Vom totalen Freihandel profitieren nicht die
Kleinbauern oder die Landarbeiter, sondern wenige
große Familien zum Beispiel in Brasilien, die mit ihrem
Einfluss das Land gestalten und den Acker bestellen lassen.
({6})
Es darf nicht sein, dass eine falsch verstandene Entwicklungshilfe, etwa die zum Teil umweltzerstörerische
Zuckerproduktion, zum Nachteil unseres heimischen
Anbaus gefördert wird. Deshalb kann ich persönlich die
Vorschläge der EU-Kommission zur Reform der Zuckermarktordnung nicht nachvollziehen; denn sie würden die
Exporterlöse der AKP-Länder drastisch mindern und damit dort die Kaufkraft, aber auch die Ernährungssicherung beeinträchtigen.
({7})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Jawohl, Frau Präsidentin. - Die internationale Handelspolitik kann also das Ernährungsproblem nicht alleine lösen.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den heutigen Worten Taten folgen zu lassen, um so den Ärmsten
zu einem besseren Leben zu verhelfen, und zwar ganz
im Sinne von Molière: „Ich lebe von guter Suppe und
nicht von schöner Rede.“
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns darin einig, dass die katastrophal hohe Zahl
der Hungernden nicht hinnehmbar ist und eine riesige Herausforderung darstellt. Die große Mehrheit der Hungernden lebt auf dem Lande. Wir sind uns deshalb darin einig,
dass mehr für die ländliche Entwicklung, insbesondere
für die Entwicklung des ländlichen Raumes in den Ländern der so genannten Dritten Welt getan werden muss. In
der nächsten Woche wird es im Entwicklungsausschuss,
im AwZ, eine Anhörung geben, die genau das zum Ziel
hat: den Stellenwert der ländlichen Entwicklung zu erhöhen. Ich prophezeie Ihnen: Es wird neue Konzepte geben
wird und es wird in Zukunft mehr Geld in diesen Sektor
fließen.
Die Union hebt in ihrem Antrag darauf ab, dass die
Agrarproduktion gesteigert werden muss. Sie meint, dies
mit einer Art zweiten grünen Revolution bewerkstelligen
zu können. Große Hoffnungen werden dabei in die
Grüne Gentechnik gesetzt. Die FDP hat zwar keinen Antrag vorgelegt, hat aber in vielen Debatten deutlich gemacht, dass für sie die Liberalisierung des Welthandels,
der Agrarmärkte, der Königsweg ist.
Über die Chancen und Risiken der Grünen Gentechnik haben wir hier schon viel diskutiert. Ich möchte darauf heute nicht vertieft eingehen; aber aufgrund der
jüngsten Ereignisse - sie wurden schon angesprochen,
Stichwort Bt-10-Mais - ist in mir die Skepsis gegenüber
der Grünen Gentechnik eher noch gewachsen.
Das, was wir auf einer AwZ-Delegationsreise im
Herbst in Argentinien erlebt haben, war sehr gruselig.
Dort hat der industriemäßige Anbau von Gensoja zu
schweren ökologischen und sozialen Verwerfungen geführt. Er hat einige wenige Großinvestoren reicher gemacht; aber er hat viele Indigene und Kleinbauern ins
Elend getrieben und verdrängt. Wir haben da erschütternde Berichte von Vertretern der Kleinbauern und der
Indigenen gehört. Wir haben Berichte von verseuchtem
Grundwasser gehört. Die Vertreter der Indigenen, der
Kleinbauern, die Hilfswerke der katholischen und der
evangelischen Kirche, alle erheben schwere Vorwürfe
gegen die argentinische Agrarpolitik, die von dem USKonzern Monsanto ganz stark geprägt ist.
Aber auch unabhängig von der Gentechnikproblematik wird hier ein Dilemma deutlich. Natürlich ist es richtig und notwendig, dass wir aus Gründen der Nord-SüdGerechtigkeit auch unsere Agrarmärkte für die Entwicklungs- und Schwellenländer öffnen müssen. Doch eine
Liberalisierung der Agrarmärkte führt nicht automatisch zur Hungerbekämpfung. Manchmal geschieht genau das Gegenteil,
({0})
nämlich dann, wenn die Ausweitung der Agrarproduktion für den Export nur einer winzig kleinen Oberschicht
oder internationalen Konzernen zugute kommt und wenn
die Exportorientierung dazu führt, dass der Anbau von
Grundnahrungsmitteln vernachlässigt wird. Es gibt dafür
einige besonders krasse Beispiele: Zierblumen, Wintertomaten, Erdbeeren, die unter großer Wasserverschwendung in Ländern der Sahelzone angebaut werden.
Ricardos Lehre von den angeblich komparativen Kostenvorteilen musste sogar schon dafür herhalten, zu
rechtfertigen, dass in einigen Hungerländern Afrikas auf
bis zu 70 Prozent der Anbauflächen Futter für Schweine
und Rinder der Europäischen Union angebaut wurde.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich plädiere keineswegs für eine Abschottung unserer Märkte - das
wäre die falsche Schlussfolgerung -; aber eine Öffnung
muss von Reformen in den Entwicklungsländern selbst
flankiert werden.
({1})
Ein hervorragendes Instrument dafür können die freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf
Nahrung sein, die im Herbst letzten Jahres von der FAO
beschlossen wurden und die auf eine starke Initiative
von Renate Künast zurückgehen. Diese Leitlinien sehen
vor, dass jedes Land, in dem Hunger herrscht, zunächst
ein Kataster erstellen muss. Damit muss jedes dieser
Länder folgenden Fragen nachgehen: Welche Bevölkerungsgruppen in welchen Regionen leiden an Hunger?
Was sind die Ursachen? Die mit dieser Bestandsaufnahme verbundenen Fragen müssen mit einer nationalen
Strategie beantwortet werden, nach dem Prinzip: Food
first! Das bedeutet: Zunächst muss die Verfügbarkeit von
Grundnahrungsmitteln gesichert werden.
Den Entwicklungsländern muss das Recht zugestanden werden, im Sinne der Ernährungsouveränität ihre eigenen Märkte vor Dumping durch die Industrienationen
abzuschotten und zu schützen. In diesem Bereich spielt
die Abschaffung der Agrarexportsubventionen wirklich eine ganz große Rolle.
({2})
Ich bitte die CDU/CSU, hier endlich einmal Farbe zu bekennen. Da gibt es eine große Diskrepanz: Die Entwicklungspolitiker sagen das Richtige und sie fordern die
Abschaffung der Agarexportsubventionen; aber die
Agrarpolitiker betreiben mehr Klientelpolitik und sagen
etwas anderes. Ich wiederhole: Da müssen Sie endlich
Farbe bekennen und eine einheitliche, also kohärente
Stellungnahme entwickeln.
({3})
Auf jeden Fall müssen die Agrarexportsubventionen
radikal heruntergefahren werden, und zwar auf null. Die
Marktöffnung muss umgestaltet werden. Es ist noch eine
Menge Gehirnschmalz notwendig, um das Ganze richtig
auszubalancieren. Im EU-Parlament wird momentan
über den Begriff „qualitativer Marktzugang“ nachgedacht. Man möchte die Marktöffnung im Rahmen von
bilateralen und von regionalen Abkommen an die Einhaltung ökologischer und sozialer Standards und auch an
vernünftige nationale Strategiepapiere zur Umsetzung
des Rechts auf Nahrung koppeln. So flankiert kann
Marktöffnung wirklich zur Hungerbekämpfung beitragen, nicht flankiert kann sie den Hunger sogar noch verschärfen.
Zusammengefasst: Abbau der Agrarexportsubventionen, qualitative Marktöffnung und zusätzliche Investitionen direkt in die ländliche Entwicklung, das sind die
Wege, die geeignet sind, um den Welthunger wirklich radikal zu bekämpfen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Michael
Goldmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sollten dieses Thema aus meiner Sicht schon ein
bisschen konkreter angehen. Wir können hier natürlich
sehr grundsätzliche Reden darüber halten, wie engagiert
wir alle dafür eintreten, die Armut in der Welt zu bekämpfen und das Recht auf Nahrung für jedermann zu
sichern. Wir sollten uns heute aber vielleicht eher etwas
genauer mit diesen beiden Anträgen befassen.
Um das Problem in den Griff zu bekommen, sind
zwei sich gegenseitig ergänzende grundsätzliche Schritte
notwendig, Kollege Hoppe. Der eine Schritt ist eine
klare Liberalisierung. Die Liberalisierung ist genau wegen der Maßnahmen notwendig, die Sie selbst eben angesprochen haben, nämlich Absenkung von Exportbeihilfen oder sogar Verzicht darauf, Verzicht auf direkte
Hilfen und Senken von Schutzzöllen. Das müssen wir
gemeinsam vorantreiben. Das sollten wir nicht mit Problemen vermischen, die es in Märkten selbstverständlich
gibt; da bestimmen Starke natürlich einen Teil der Musik. Aber - auch wenn es flapsig und platt klingt, Herr
Kollege Hoppe -: Nur von einem gedeckten Tisch können möglichst viele ernährt werden. Deswegen sollte
man hier keinen Widerspruch zwischen den Großen und
den Kleinen aufbauen, sondern gemeinsam dafür sorgen,
dass bei allen Verhandlungen und Gesprächen, zum Beispiel bei der WTO, ein Einklang hergestellt werden
kann. Wir sollten dabei grundsätzlich daran festhalten,
dass gerade wir gefordert sind, der Liberalisierung und
der Marktöffnung mehr Chancen zu geben. Das ist der
einzige wirklich zielführende Weg, den wir aus dem Parlament heraus beschreiten können.
({0})
Es gibt einen zweiten Schwerpunkt. Ich bitte Sie,
Kollege Hoppe, und auch die Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, Agrartechnik und Agrarforschung nicht zu verengen auf Probleme im Bereich der
Grünen Gentechnik, die Sie hier angesprochen haben.
Wir brauchen uns nicht darüber zu streiten: Der Fall
„Bt 11 und Bt 10“ war sehr schädlich und da war nach
meiner Einschätzung Bösartigkeit im Spiel. Aber das ist
nicht das, was sich hinter Agrartechnik und Agrarforschung verbirgt.
Stellungnahmen der FAO sagen ganz eindeutig: Wir
müssen zu einer Ausdehnung der landwirtschaftlichen
Nutzfläche kommen. Wir müssen zur Verbesserung der
Bodenqualität durch kluge und moderne Bewässerungssysteme und durch einen Einsatz effektiver Düngemittel
kommen. Wir müssen zur Steigerung des Ertrags pro
landwirtschaftlicher Nutzfläche kommen. Wenn wir
diese Bereiche der modernen Technologie, der modernen Form von Bearbeitung, der nachhaltigen Bearbeitung, entwickeln, dann haben wir auch Chancen, über
den Bereich der Grünen Gentechnik hinaus ein Zusätzliches zu erreichen.
({1})
Ich bin davon überzeugt, dass ein kluges Miteinander in
dieser Frage der richtige Weg ist.
Wenn ich die Anträge bei Licht betrachte, Kollege
Hemker, dann stelle ich fest, dass der Antrag der CDU/
CSU wesentlich richtungsweisender ist als der der Koalition. Die allgemeinen Ausführungen, die Sie in Ihrem
Antrag niedergelegt haben, sind blumig, aber nicht sehr
effektiv. Deswegen werden wir dem CDU/CSU-Antrag
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard SchulteDrüggelte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bedanke mich erst einmal für die Beurteilung des
CDU/CSU-Antrags als „wesentlich richtungsweisender“. Ganz genau der Meinung sind wir natürlich auch.
Ich möchte einiges zur Situation sagen. Wir haben nur
noch genau zehn Jahre Zeit, um das UN-Millenniumsziel zu erreichen, die Zahl der Menschen, die unter Armut und Hunger leiden, zu halbieren. Nach der Debatte,
die wir vorhin geführt haben, und der Debatte, die im
Augenblick in den Medien läuft, kann man sich natürlich
die Frage stellen: Wer glaubt denn noch daran, dass dieses Ziel erreicht wird, zumal in den letzten Jahren die
Zahl der Hungernden eher zugenommen hat? Wenn die
Regierungen in Nord und Süd - ich sage bewusst: in
Nord und Süd - nicht schnellstmöglich handeln, dann
wird dieses Ziel nicht erreicht.
Die Zahlen wurden auch schon in der Armutsdebatte
vorhin genannt. Die Weltbank hat festgestellt: Im Augenblick werden 70 Milliarden Dollar für Entwicklungshilfe aufgewandt. Es sollten mindestens 120 Milliarden
Dollar sein, wenn man die Ziele erreichen will.
Das Bedauerliche ist, dass Deutschland unter den Geberländern leider nur einen der hinteren Ränge einnimmt, weit hinter Norwegen, Luxemburg, Dänemark
oder Portugal. Dabei haben sich alle EU-Staaten verpflichtet, ihre Entwicklungshilfe auf 0,39 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts zu steigern.
Deutschland will bis 2006 leider nur 0,33 Prozent erreichen. Und wie sieht es zurzeit aus? Seit zwei Jahren
stagniert der Anteil bei 0,28 Prozent. Um einen Begriff
aus der Entwicklungspolitik zu verwenden: Das ist kein
gutes Regierungshandeln.
({0})
Im Augenblick scheint eine Trendwende in Sicht.
Man hat den Eindruck, UN-Generalsekretär Annan habe
das Erreichen von 0,7 Prozent zur Bedingung für einen
Sitz im Sicherheitsrat gemacht. Die Frage, die gerade
schon einmal angesprochen wurde, stelle ich mir natürlich auch: Wie will diese Bundesregierung das finanzieren? In der Presse liest man, dass ihr zur Finanzierung
nur Steuererhöhungen einfallen. Das ist die Situation.
({1})
Ich möchte noch einmal die Gründe für den niedrigen
Anteil von 0,28 Prozent nennen. Ich glaube, es liegt
nicht daran, dass die Fachpolitiker nicht für eine deutliche Erhöhung des Anteils sind. Den Fachpolitikern
möchte ich den guten Willen nicht absprechen. Ich sage
deutlich: Die Gründe für diesen niedrigen Prozentsatz
liegen ganz eindeutig in der verfehlten rot-grünen
Wirtschaftspolitik in diesem Land
({2})
und Folge dieser verfehlten rot-grünen Wirtschaftspolitik ist eine katastrophale Haushaltslage. Das ist die
Situation.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schmidt?
Ich möchte das noch zu Ende bringen.
({0})
Unter den Folgen dieser verfehlten rot-grünen Wirtschaftspolitik leiden offenbar nicht nur die über
5 Millionen Arbeitslosen in Deutschland.
({1})
Wie sieht es aus? Würden Sie jetzt eine Zwischenfrage gestatten?
Wir sind zwar Nachbarn, aber lassen Sie mich das
noch zu Ende bringen.
({0})
Bitte. Das war jetzt eine Herausforderung. Wir sind
Nachbarn; sie kommt aus einem Nachbarkreis.
Ich wusste gar nicht, dass Sie Kartoffellandwirt sind rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Erst durfte
ich, dann durfte ich nicht. Aber jetzt darf ich.
Meine erste Frage interessiert gerade mich als Entwicklungspolitikerin: Ist Ihnen bewusst, dass wir auch
schon in wirtschaftlich weit besseren Zeiten, in denen
die ODA-Quote bei 0,42 Prozent lag, heruntergewirtschaftet worden sind, nämlich unter einer Regierung von
CDU/CSU und FDP?
Die zweite Frage: Sehen Sie ein - solche Aussagen
höre ich zumindest in meiner Region, also in Ihrer Nachbarschaft -, dass mit fairen Preisen sowohl für unsere
Landwirte als auch für die Landwirte in den armen Ländern vielleicht doch etwas erreicht werden könnte für
mehr Gerechtigkeit in der Welt? Ich kann zumindest für
das Sauerland sagen, dass man viele Landwirte auf seiner Seite hat, wenn man sich für die faire Produktion von
landwirtschaftlichen Produkten und für faire Preise einsetzt. Ich würde gerne einmal von Ihrer Seite hören, wie
Sie sich in dieser Beziehung gegenüber Ihrer Verbandspolitik verhalten.
Wir sind Nachbarn und deshalb will ich die Fragen
kurz beantworten. Ich bin Vertreter eines Wahlkreises
und vertrete nicht irgendwelche Verbandspolitik. Das
möchte ich ganz deutlich sagen.
({0})
Ich habe mich auch in den anderen Debatten für einen
freien und fairen Welthandel ausgesprochen, genau
wie Sie ihn jetzt gerade gefordert haben. Diese Forderungen sollen auch bei den WTO-Verhandlungen durchgesetzt werden. Ich erwähne in dem Zusammenhang
auch die Zuckermarktordnung, über die wir beim letzten
Mal gesprochen haben.
Ich hoffe, diese Antworten helfen Ihnen weiter, und
lasse es nun dabei bewenden.
({1})
Ich setze mich genau wie mein Kollege für einen
freien Welthandel ein, der aber fair geführt werden soll
und in dem auch die Interessen der europäischen Landwirte berücksichtigt werden müssen.
({2})
Da Sie wie ich aus Nordrhein-Westfalen kommen,
möchte ich die Folgen der verfehlten rot-grünen Wirtschaftspolitik für Nordrhein-Westfalen noch einmal präzisieren: Ergebnis dieser Wirtschaftpolitik sind bundesweit 5 Millionen Arbeitslose, davon allein in NordrheinWestfalen über 1 Million Arbeitslose.
({3})
Die Leitlinien - um noch einmal darauf zurückzukommen -, die ein Recht auf Nahrung vorsehen, und der
Aktionsplan 2015 sind wichtige Maßnahmen. Ich erkenne das auch deutlich an. Sie werden aber nur zu Erfolgen führen, wenn die Regierungen, also auch
Deutschland, klare Leitlinien in der Entwicklungspolitik
verfolgen.
Ich möchte einmal Jacques Chirac zitieren, der auf
dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos von den stillen
Tsunamis gesprochen hat - ich weiß nicht, ob Sie das
verfolgt haben; ich fand dieses Bild sehr gut -, die in
weiten Teilen der Welt in Form von Hungersnöten, Infektionskrankheiten, Aufruhr und Gewalt auftreten. Dieses Bild mag für viele erschreckend sein, aber beschreibt
die Situation zutreffend. Ich möchte auch noch einmal
die Fakten nennen: Derzeit sind circa 815 Millionen
Menschen unterernährt, darunter 160 Millionen Kinder.
Jeden Tag - ich will es noch einmal erwähnen - sterben
24 000 Menschen an den Folgen von Hunger. Drei Viertel davon sind Kinder unter fünf Jahren. Man stelle sich
das einmal bildhaft vor: Das bedeutet, dass die Entwicklungsregionen Südasien und Afrika quasi alle 14 Tage
einen Tsunami mit 300 000 Toten erleiden müssen. Alle
14 Tage ein Tsunami! Das ist die Situation, die im Augenblick in der Welt herrscht.
Ich möchte Ihnen noch einen anderen Zusammenhang
vor Augen führen: 70 Prozent der Armen leben auf dem
Lande. Die Weltbevölkerung wächst jährlich um
80 Millionen Menschen. Die steigende Nachfrage nach
Nahrungsmitteln trifft auf die nur begrenzt vorhandenen Ressourcen Ackerland und Wasser. Die FAO sagt
ganz klar, dass eine Mehrproduktion von Nahrungsmitteln nur über höhere Flächenerträge erreicht werden
kann. Diese Tatsache macht ganz deutlich
({4})
- zweimal ist genug -, dass der Weg aus der Armut nicht
mehr in erster Linie über den Bau von Straßen, Brücken
und Schienenwegen führt, sondern über gut koordinierte
Institutionen und Entwicklungspolitik sowie Bodenreformen in den betroffenen Ländern, also über gute Politik, und - ich will es noch einmal sagen - über einen
freien, aber auch fairen Welthandel.
({5})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie
haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.
37 Sekunden.
Nein, Herr Kollege. Es ist fast eine Minute. Die Uhr
hat zu lange gestanden.
Ach so, Entschuldigung. - Zum Schluss darf ich sagen, dass die Überwindung von Hunger nicht nur eine
Sache von besserem Wissen, besserer Technologie und
guter Politik ist. Es ist auch eine Sache von Macht und
Recht und besonders von Mitverantwortung. Die viel zu
lange Dauer
({0})
dieses Problems sollte uns nicht Anlass dazu geben, uns
daran zu gewöhnen. Wir, auch Sie, die Sie angesichts eines so ernsten Problems lachen - eigentlich sind Sie ja
ordentliche Leute, aber angesichts eines solchen Problems sollte man keine Späße machen -, sollten stetig
dafür kämpfen, dass dieses Problem gelöst wird.
Ich bedanke mich.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/4408.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3956 mit dem Titel: „Ernährung als
Menschenrecht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen von der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3940 mit dem Titel: „Welternährung sichern eine globale Verantwortung für die nationale und europäische Agrarpolitik“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen von der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, Rainer Funke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gegen die Zerfaserung wettbewerbsrechtlicher Kompetenzen
- Drucksache 15/4561 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Es
ist an der Zeit, dass wir uns - das geschieht heute
Abend - wieder einmal der Frage von Wettbewerb und
ordnungspolitischen Rahmenbedingungen am Standort
Deutschland widmen. Ein funktionierender Wettbewerb
- das wissen wir alle - schafft Wachstum, Beschäftigung
und Innovation. Vor allen Dingen wirkt ein funktionierender Wettbewerb gegen eine Konzentration wirtschaftlicher Macht und sorgt stattdessen für eine Verteilung
der Macht, was sich positiv auf die Vielfalt, die Qualität
und die Preise auswirkt. Insofern ist dies ein ganz wichtiger Bereich im allgemeinen Wirtschaftsprozess, den
man möglichst nicht stören sollte.
Wir haben aber gerade in der letzten Zeit bemerkt,
dass die rot-grüne Bundesregierung an der einen oder
anderen Stelle tiefe Einschnitte vorgenommen hat. Das
Register dieser wettbewerbs- und ordnungspolitischen
Sünden ist schon recht lang. Ich nenne ein paar Beispiele.
Sie haben erstens gegen jeden Sachverstand von Bundeskartellamt und Monopolkommission die Fusion von
Eon und Ruhrgas genehmigt. Das Resultat sind zum
Beispiel sehr hohe Gaspreise, worunter die Wirtschaft
und auch die Privatverbraucher leiden. Jetzt ist das Kartellamt mit Abmahnverfahren zur Schadensbegrenzung
beschäftigt, soweit dies möglich ist.
Sie haben zweitens im Telekommunikationsgesetz
ein Einzelweisungsrecht des Ministers durchgesetzt. Das
ist ein einmaliger Vorgang, ein Eingriff, der mit Blick
auf die Entscheidungen der Regulierungsbehörde eine
permanente Bedrohung bedeutet. Dieses Sonderrecht im
TKG gehört schnellstens gestrichen.
({0})
Sie betreiben drittens mit dem Wettbewerbsrecht sektorale Industriepolitik, indem Sie das Pressefusionsrecht ausgehöhlt haben und damit die Pressefreiheit
nachhaltig stören.
({1})
Bei solcherlei Eingriffen stirbt die Freiheit scheibchenweise. Das darf nicht auf die leichte Schulter genommen
werden.
Sie leisten viertens der Zersplitterung der Wettbewerbsaufsicht Vorschub, indem Sie für die Energieregulierung statt des Bundeskartellamts der Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation den Zuschlag
gegeben haben. Damit öffnen Sie der sektoralen Regulierung in anderen Branchen Tür und Tor. Gleichzeitig
schwächen Sie das Bundeskartellamt personell und inhaltlich. Auch das ist eine Tendenz, die wir mit großer
Sorge sehen.
({2})
Eigentlich sollte die Regulierungsbehörde ja abgeschafft
werden. Jetzt aber erfährt sie in personeller Hinsicht einen immer stärkeren Aufwuchs. Das ist das Gegenteil
von schlanker Regulierung.
Was fordern wir in unserem Antrag? Wir möchten,
dass die bestehenden Wettbewerbsbehörden in ihrer
Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gestärkt werden.
Wir wollen, dass das Einzelweisungsrecht, das ich eben
erwähnt habe, zurückgenommen wird. Wir wollen, dass
die Wettbewerbsbehörden von politischer Einflussnahme befreit werden. Das heißt, dass einer beamtenrechtlichen Besetzung der Spitze der Regulierungsbehörde der Vorzug zu geben ist. Wir brauchen auf keinen
Fall einen weiteren Vizepräsidenten oder eine weitere
Vizepräsidentin der Regulierungsbehörde für Post und
Telekommunikation.
({3})
Für uns ist die Stärkung des Wettbewerbs wichtig;
denn sie nutzt den Verbrauchern und der Wirtschaft. Der
Wettbewerb ist die Säule einer sozialen Marktwirtschaft.
Sie sollten daher aufhören, an dieser Säule zu sägen. Sie
sollten sich vielmehr auf das besinnen, was ordnungspolitisch notwendig ist. Sie sollten dem Populismus und
der Zerfaserung der Wettbewerbsstrukturen in Deutschland keinen Vorschub leisten.
({4})
Zu guter Letzt fordern wir Sie auf, mit dafür Sorge zu
tragen, dass das Wettbewerbsrecht auf EU-Ebene einen
ebenso großen Stellenwert erhält, wie er derzeit in
Deutschland noch zu finden ist. Deshalb unsere Aufforderung an Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu und handeln Sie im Sinne einer Stärkung des Wettbewerbs und
damit einer Stärkung unserer Wirtschaftskraft!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Kopp, eigentlich ist Ihr Antrag mehr als flüssig,
nämlich überflüssig. Sie hätten durchaus die Gelegenheit
gehabt, diesen Antrag im Rahmen der Debatte um die
Novellierung des GWB, des Grundgesetzes der Marktwirtschaft, zu stellen. Sie hätten diesen Antrag in die
morgige Debatte über das Energiewirtschaftsgesetz einbringen können. So aber vergeuden wir heute Abend unsere Zeit, weil wir uns mit Ihrem Antrag auseinander setzen müssen, einem Antrag, über den man bei allem
Wohlwollen sagen muss, dass er nicht nur hochgradig
widersprüchlich, sondern einfach nur unsinnig ist.
({0})
Ich möchte Ihnen die Widersprüche an der einen oder
anderen Stelle darlegen. Ich bin froh, dass die Fernsehkameras nicht mehr zugeschaltet sind und die Leute sich
diese Debatte nicht ansehen müssen. Aber wir müssen
uns jetzt mit Ihrem Antrag auseinander setzen, der, wie
gesagt, an einigen Stellen widersprüchlich ist. Vielleicht
können wir die Gelegenheit zur gegenseitigen Aufklärung nutzen.
Wir haben in Deutschland eine Wettbewerbsordnung, die sich im internationalen Vergleich trotz mancher Probleme sehen lassen kann. Aus unserer Sicht
kann von Zerfaserung keine Rede sein. Im Gegenteil:
Wir haben eine Arbeitsteilung. Ich bin sehr stolz auf die
Arbeit, die das Bundeskartellamt, die Monopolkommission und auch die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post leisten. Diese Arbeit sollten wir nicht
schlechtreden.
Ich möchte einmal erklären, warum es vernünftiger ist,
eine Arbeitsteilung vorzunehmen, als die Arbeit in eine
einzige Mammutbehörde zu schaufeln. Das Kartellamt
hat nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
die Aufgabe, allgemeines Kartellrecht durchzusetzen.
Die Monopolkommission hat den gesetzgeberischen
Auftrag, eine regelmäßige Beurteilung von Unternehmenskonzentrationen vorzunehmen. Sie hat auch die
Aufgabe, die Vorschriften im Bereich der Zusammenschlusskontrolle zu würdigen. Last, not least hat sie die
Aufgabe, Stellungnahmen zu allgemeinen wettbewerbspolitischen Fragen abzugeben.
Warum, so fragen Sie, gibt es dann noch eine Regulierungsbehörde in diesem Bereich? Zugegebenermaßen ist
die Bezeichnung „Regulierungsbehörde“ nicht sehr passend. Denn der Auftrag beinhaltet ja das Gegenteil.
Deswegen werden wir morgen den Namen in „Netzagentur“ ändern. Damit soll etwas deutlicher werden,
warum wir in diesen Bereichen eine sektorspezifische
Regulierung brauchen, die Sie kritisieren.
Es handelt sich in diesem Bereich um netzgebundene
Industrien, die auf dem Weg zur Liberalisierung sind.
Zurzeit kann man von einem funktionierenden Wettbewerb noch nicht reden. Das betrifft die Telekommunikationsbranche, den Postbereich, die Bereiche Strom und
Gas - entsprechende Regelungen werden morgen im
Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes verabschiedet
werden - sowie den Bereich der Schiene.
Hier geht es nicht wie in anderen Sektoren um Wettbewerbsaufsicht, sondern hier geht es darum, durch
Regulierung, vor allen Dingen durch eine Ex-ante-Regulierung, die morgen für den Bereich Strom und Gas beschlossen wird, Wettbewerb erst einmal herzustellen.
({1})
Ich glaube, dass diese Aufgabe bei der Regulierungsbehörde gut angesiedelt ist. Sie hat nämlich über die
Jahre im Bereich Telekommunikation Kompetenz erworben. In diesem Bereich sind wir schon weiter als im
Strom- und Gasbereich. Ich weiß nicht, warum es ein
ordnungspolitischer Sündenfall sein soll, wenn Profis
auch für den Bereich Gas und Strom sowie für den Bereich Schiene verantwortlich sind.
Der zweite Punkt, den Sie in Ihrem Antrag ansprechen, ist die Forderung nach einem europäischen
Kartellamt. Wir finden diesen Vorschlag sehr sympathisch. Er wird auch von der Bundesregierung unterstützt. Sie wissen aber auch, dass wir uns mit dieser Forderung, die wir im Rahmen der Diskussion über die
europäische Verfassung aufgestellt haben, nicht haben
durchsetzen können. Deswegen schlagen wir vor - wir
haben das im GWB gegen Stimmen aus Ihren Reihen
beschlossen -, zumindest zu einer Koordinierung der
europäischen Kartellbehörden zu kommen. Das wäre ein
pragmatischer Schritt.
Ich würde gern noch etwas zu Ihrem Lieblingsthema,
zum Thema der Einzelweisungen, sagen. Frau Kollegin
Kopp, Ihr Antrag behauptet und Sie sagten es auch, wir
hätten dieses Instrument im letzten Jahr in das TKG eingeführt. Das stimmt nicht. Sie haben es zusammen mit
uns und der CDU bei der Reform des TKG 1996/97 eingeführt. Das wurde nicht von uns im vergangenen Jahr
gemacht. Es geht auch nicht darum, dass wir in irgendeiner Form direkten politischen Einfluss auf die Regulierungsbehörde nehmen. Im Gegenteil: Das Telekommunikationsgesetz, das wir im letzten Jahr novelliert haben,
sieht Transparenz vor. Es gibt eine Veröffentlichungspflicht für den Bereich der Weisungen, sofern sie das
Außenverhältnis, also die Wirtschaft und die Unternehmen, betreffen. Deshalb ist meine herzliche Bitte, keinen
Regentanz aufzuführen. Das immer wieder hochzuziehen, wenn Sie an dem Gesetz sonst nichts zu kritisieren
haben, ist wirklich ein Popanz.
Wir Sozialdemokraten bekennen uns zum Wettbewerb als dem ordnungspolitischen Prinzip unserer
Marktwirtschaft. Wir wissen, dass wir in diesem Bereich
wachsam gegenüber Konzentrationsprozessen sein müssen. Wir wissen, dass viel zu tun ist, um in den netzgebundenen Industrien funktionsfähigen, nachhaltigen,
wirksamen Wettbewerb einzuführen. Wir haben die Instrumente geschaffen. In diesem Bereich haben wir, wie
gesagt, keine Zerfaserung, sondern eine Bündelung der
Strukturen. Auch im Interesse der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter, die wirklich harte Arbeit leisten, bitte ich,
das nicht kaputt zu reden.
Ich habe, nachdem ich, Frau Kollegin Kopp, den Antrag gelesen habe, noch eine darüber hinausgehende
Bitte. Sie betrifft die Art der Auseinandersetzung. Wir
können in der Sache ja in vielen Bereichen unterschiedlicher Meinung sein; deswegen sind wir in unterschiedlichen Fraktionen. Ihr Antrag - nicht Sie persönlich schlägt manchmal einen Ton an, den ich für skandalisierend und in einer politischen Auseinandersetzung für
nicht angemessen halte. Wenn man unterschiedlicher
Meinung ist, kann man sich heftig streiten. Dafür bin ich
gern zu haben. Es ist aber die Frage, ob man, wenn man
anderer Meinung ist, alles skandalisieren muss. Denn
tatsächliche Skandale sind vielleicht nicht mehr erkennbar, wenn man immer „Skandal“ ruft
({2})
und sozusagen alarmistisch den Untergang der Marktwirtschaft predigt. Ich finde, das ist nicht so sonderlich
hilfreich und in jedem Fall der Sache nicht angemessen.
({3})
Das betrifft auch etwas, was in Ihrem Antrag gar
keine Rolle spielt, was Sie aber in Ihrer Rede angesprochen haben, nämlich die Debatte um die Reform der
Pressefusionskontrolle. Ich erspare mir und dem Kollegen Schauerte, mit dem ich mich verschiedentlich über
das Thema ausgetauscht habe, mich darüber heute noch
einmal in epischer Breite auszulassen. Aber so viel: Wir
wollen Wettbewerb auch am Zeitungsmarkt; das ist gar
keine Frage. Wir müssen uns aber gerade wegen der
Meinungsvielfalt Gedanken darüber machen, ob Wettbewerb nicht eine wirtschaftliche Basis braucht und ob wir
es nicht mit strukturellen Veränderungen am Zeitungsmarkt zu tun haben.
({4})
- Nein, es geht überhaupt nicht um Konzentration, es
geht um Kooperation. So müssen wir zum Beispiel im
Bereich der Anzeigen die Möglichkeit für Kooperationen schaffen. Wir wollen Meinungsvielfalt, aber Meinungsvielfalt darf sich nicht darauf beschränken, dass
Zeitungen immer dünner und die Inhalte immer dümmer
werden, weil nur noch Agenturmeldungen zusammengestückelt werden, für tatsächliche redaktionelle Arbeit
aber keine wirtschaftliche Basis mehr vorhanden ist. Genau darum geht es aber, weil sich die Bedingungen des
Zeitungsmarktes verändert haben. 1976, als das Pressefusionsrecht in der jetzigen Form geschaffen wurde, gab
es noch kein Internet. Rubrikenanzeigen waren damals
noch nicht in neue Medien migriert, weil es noch kein
Privatfernsehen und keine SMS gab. Heute gibt es all
diese Konkurrenz - mit dem Ergebnis, dass sich bei Zeitungen die Finanzierungsquote verschoben hat. Es ist
nicht mehr so wie früher, dass sich Zeitungen zu zwei
Dritteln aus Anzeigen und zu einem Drittel aus Vertriebserlösen finanzieren. Vielmehr lautet die Quote
heute 50 : 50. Darauf ist, wenn einem an Meinungsvielfalt in Deutschland gelegen ist, zu reagieren. Wir haben
Vorschläge gemacht, die der Bundestag beschlossen hat.
Wir sind sehr gespannt, wie das im Bundesrat und im
Vermittlungsverfahren, das wir bekommen werden, weitergehen wird. Keiner von uns hat in der ganzen Geschichte die Wahrheit gepachtet und jeder kann irren.
Aber die Unterstellung, wir würden uns an der Pressefreiheit zu schaffen machen,
({5})
ist, mit Verlaub, unter Demokraten ein ziemlich harter
Vorwurf. Ich finde, Sie sollten das unterlassen.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, schöpfe
ich meine Redezeit nicht aus. Ihr Antrag ist dünn und eigentlich auch widersprüchlich. Das habe ich, wie ich
glaube, an ein paar Punkten sehr deutlich gemacht. Ich
wünsche Ihnen einen schönen Abend und ich wünsche
uns, dass wir uns das nächste Mal die Zeit für ernsthaftere Debatten nehmen.
Herzlichen Dank.
({6})
Der nächste Redner ist der Kollege Hartmut
Schauerte, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann im Namen der Fraktion der CDU/CSU
dem FDP-Antrag nicht zustimmen, weil bereits Entscheidungen getroffen worden sind, die wir nicht wieder
mit der Zustimmung zu diesem Antrag zerfasern und
rückgängig machen sollten. Die Grundentscheidung,
dass wir eine Behörde für die Energieregulierung brauchen, ist gefallen. Schade, dass es so weit gekommen ist!
Aber das ist nun einmal so. Es ist auch die Grundentscheidung getroffen worden, dass diese Regulierungsbehörde alle Netze - und nur die Netze und nichts sonst kontrolliert.
Ursprünglich hatten wir eine Einbindung in die Kartellbehörde vorgezogen. Aber es gibt auch eine Menge
Argumente für die jetzige Regelung. Das war eine
knappe Entscheidung, eine Entscheidung von 48 : 52.
Denn es gibt in der Anfangsphase der Regulierung, über
die wir jetzt reden, auch dann ein paar Abgrenzungsprobleme, wenn wir diese Aufgabe in das Kartellamt integriert hätten. Insoweit können wir mit der Entscheidung,
dass man die Aufgabe in einer getrennten Organisation
wahrnimmt, leben.
Wir verlangen allerdings - ich denke, das klingt bei
Ihnen durch, wenn Sie davon sprechen, dass es keine
weitere Zerfaserung geben soll -, dass all das, was die
Netze betrifft, in eine Behörde gehört. Es sollte nicht
wieder eine weitere Behörde aufgebaut werden. Das ist
das eine.
Dann müssen wir darauf achten, dass sehr sorgfältig
abgegrenzt wird, was in der Zuständigkeit des Kartellamts bleibt und was in die Zuständigkeit der Netzbehörde - so nenne ich sie jetzt einfach einmal - fällt. Da
gibt es unterschiedliche Auffassungen. Da müssen wir
bei der Abgrenzung noch einmal genau hinsehen.
Das hängt auch damit zusammen, wie man diese Behörden personalmäßig bestückt. Ich darf daran erinnern,
dass das Bundeskartellamt eine relativ kleine Behördenstruktur hat und sehr viele Aufgaben zu leisten hat.
Für die Regulierungsbehörde, die wir jetzt einrichten
- das gilt auch für die, die wir zum Teil schon haben -,
sind mittlerweile aufgeblähte Personalstrukturen vorgesehen. Wir werden für die neue Regulierungsbehörde
allein 180 höhere Dienststellen schaffen. Das gesamte
Kartellamt hat heute 150. Die Regulierungsbehörde soll
nichts anderes tun, als die Netzregulierung zu betreiben.
({0})
- Ja. Aber es geht im Wesentlichen um die Netzregulierung mit allen technischen Fragen, die damit in Verbindung stehen. Insbesondere die technischen Fragen will
ich nicht unterbewerten. - Das Kartellamt hat eine viel
umfassendere Aufgabenstellung. Ich habe den Eindruck:
Weil sich die Regulierungsbehörden ausschließlich aus
Gebühren der beteiligten Marktteilnehmer finanzieren,
ist man großzügig. Da das Kartellamt ausschließlich aus
Steuern finanziert wird, bleibt man da im Hinblick auf
die Ausgaben eng. Ich halte von dieser Gewichts- und
Einflussverschiebung, die damit auch verbunden ist,
nichts. Ich halte sie für gefährlich.
Ich nenne Ihnen einmal ein paar Zahlen: Das Kartellamt hat einen Personalkostenanteil von 13,8 Millionen
Euro pro Jahr und einen Gesamthaushalt von 18 Millionen Euro. Die Regulierungsbehörde, die bereits jetzt besteht, hat einen Haushalt von 108 Millionen Euro und
Personalkosten in Höhe von 94 Millionen Euro. Jetzt
kommen die 180 neuen Regulierer hinzu. Das heißt, es
wird noch einmal aufgebläht.
Das machen wir mit einer Behörde, von der wir eigentlich sagen - Herr Heil, es wäre mir sehr wichtig,
wenn wir uns darüber noch einmal unterhalten könnten -: Sie ist zur Einführung von Wettbewerb in schwierigen Marktsegmenten, in denen wir mit Netzen zu tun
haben, die sich nicht einfach so sortieren lassen, notwendig. Aber diese Behörde soll endlich sein. Sie soll nicht
für immer bestehen, sondern soll, wenn sie ihre Aufgabe
erledigt hat - ich bin immer noch nicht bereit, diesen
schönen Traum aufzugeben - und der Wettbewerb einigermaßen hergestellt ist, aufgelöst werden.
({1})
Das mag fünf Jahre oder zehn Jahre dauern. Aber in diesem Zeitraum muss das gelungen sein. Dann sind die
Restaufgaben, die Verhinderung von Missbrauch und
Ähnliches, durchaus von der Kartellbehörde zu schaffen.
Dann kann man die Behörde wieder einstampfen.
Meine Bitte für die Union ist deswegen, in diesen Bereichen bei der Personalbewirtschaftung nicht zu langfristig zu denken. Wir haben hier eine Sonderaufgabe zur
Einführung von Wettbewerbselementen in einem
schwierigen Segment. Wir halten diese Aufgabe für zeitlich befristet lösbar. So bauen wir die Behörde auf.
Dazu sage ich Ihnen: Wenn Sie jetzt zusätzlich sehr
viel Personal hineinknallen, wird es eines Tages sehr
problematisch, wenn man es wieder abbauen muss. Wir
kennen ja die Prozesse, die dann stattfinden. Deswegen
sollte man mit Befristungen arbeiten, an die Zeitschiene
denken und die Personalplanung nicht gleich in lebenslängliche Träume verwandeln. Sehr lange brauchen wir
nicht zur Einführung von Wettbewerb in unsere Netzsysteme.
({2})
- Frau Kollegin Hustedt, diese Behörde könnte gerade
noch während Ihrer Amtszeit als Vizepräsidentin, die
möglicherweise zu erwarten ist, existieren. Spätestens
dann, wenn Sie die Altersgrenze erreicht haben, müsste
aber Schluss sein.
({3})
Bitte gehen Sie also auf der Zeitschiene und auch im
Hinblick auf die Aufblähung vorsichtig an dieses Thema
heran! In beiden Bereichen scheinen Sie bisher entschieden zu weit zu gehen.
In diesem Zusammenhang ist mir auch noch einmal
wichtig, klar zu machen, dass wir auch die Bahnnetze in
dieses System einbauen und wirklich keine zusätzliche
Sonderregelung mehr fassen.
Um Wettbewerb auf dem Energiemarkt zu schaffen,
reicht natürlich ein diskriminierungsfreier Netzzugang
allein nicht aus. Er ist fast nur ein technisches Problem
mit vielen rechtlichen Fragestellungen. Der ganze Rest
bleibt beim Kartellamt und gehört weiterhin in den Bereich des Kartellamtes. Sonst bekommen wir Abgrenzungsschwierigkeiten.
({4})
Alles, was nicht mit Netzzugang zu tun hat, ist im Prinzip Aufgabe der eigentlichen Wettbewerbsbehörde, die
interessanterweise eine größere Unabhängigkeit hat als
die Regulierungsbehörden und diese auch haben und behalten soll.
Lassen Sie mich noch einen anderen Gedanken einführen. Ich würde auch empfehlen, bei den Regulierungsbehörden die Beamtenstruktur in der Leitung ein
Stück beizubehalten. Wenn wir sie wie ein freies Unternehmen behandeln, dann geht das in die Kosten. Denn
ein Präsident nach Gesichtspunkten der Wirtschaft und
ein Präsident nach öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkten finanzieren sich unterschiedlich. Meine Bitte ist,
diese Kosten wirklich schmal zu halten.
Eine Frage ist in diesem Zusammenhang sicherlich
bald zu beantworten. Daran haben wir durchaus Interesse. Es geht um die Entkopplung von Öl- und Gaspreis. Das haben Sie in Ihrem Antrag angesprochen. Ich
finde es in Ordnung, dass wir das problematisieren. Ich
gehe davon aus, dass sich das Kartellamt in kürzester
Zeit mit dieser Frage beschäftigt.
({5})
- Ja, aber trotzdem: Wenn Marktgeschehen falsch läuft,
liegt es meistens nicht am Gesetz, sondern am Verhalten
der Beteiligten. Insoweit ist das genau der Punkt, an dem
das Kartellamt eingreifen muss.
({6})
- Das wird aber, wenn man ihm an dieser Stelle die Freiheit lässt, gern nachsehen, ob es denn bei dieser Koppelung bleiben muss. Ich meine, ihre Sinnentleerung
schreitet fort. Ob der Zeitpunkt schon da ist, sie abzubrechen, ist eine andere Frage. Aber ob es richtig ist, dass
der Ölpreis letztlich den Gaspreis bestimmt, das muss
man berechtigt fragen können.
Ich denke, viel mehr muss man im Moment gar nicht
dazu sagen. Ihr Antrag wird, wie gesagt, von uns so
nicht akzeptiert, weil wir an einigen Punkten unterschiedlicher Meinung sind und wir den Ansatz, das jetzt
noch zusammenlegen zu wollen, für ein Stück irreal halten. Als Idee kann man es tatsächlich verfolgen. Unser
Ziel ist aber eher, die Fristigkeit des ganzen Prozesses
deutlich zu machen und dafür zu sorgen, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, dass wir eigentlich eine große
Behörde für den Übergang planen und bitte nicht für länger. Alle Beteiligten sollten wissen, dass wir sie als
Übergangsbehörde sehen und sie endlich ist.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
verstehe nicht ganz, warum dieser Antrag - wir hatten
nachgefragt, ob es nicht möglich sei - nicht doch morgen im Paket mit dem Energiewirtschaftsgesetz behandelt werden kann oder schon vorher - er liegt schon länger in der Pipeline - im Zusammenhang mit dem GWB
verhandelt werden konnte.
Ich habe nur eine Erklärung dafür, dass Sie es abgelehnt haben, nämlich dass dann absolut klar geworden
wäre, wie hoffnungslos veraltet dieser Antrag ist. Die
Entscheidung darüber, dass die RegTP die Regulierungsbehörde für den Strom-, Energie- und Gassektor
werden wird, ist vor über einem Jahr gefallen. Von daher
ist diese Debatte völlig rückwärts gewandt.
Es wäre natürlich denkbar gewesen, dass das Bundeskartellamt zuständig wird. Das Bundeskartellamt hat
sich in der Vergangenheit ziemlich gute Meriten erworben, in diesem Vakuum der Verbändevereinbarung zu
retten, was zu retten ist. Ich habe dafür große Hochachtung und bin auch ständig im Gespräch mit dem Kartellamt. Das ist überhaupt nicht die Frage.
Aber man muss doch eines sagen: Es sind gerade einmal zehn Leute, die sich im Kartellamt mit dieser Frage
beschäftigen. Es ist doch sehr unwahrscheinlich, wenn
man eine ernsthafte Regulierung eines Sektors wie des
Energie- und Gassektors will, dass man dann mit zehn
Leuten auskommt. Natürlich muss man auf 100 oder
150 Leute aufstocken, auch bei einer schlanken Behörde. Das ist klar. Wir sind uns einig, dass so wenige
wie möglich eingestellt werden sollen. Aber wenn man
diesen komplizierten Sektor tatsächlich regulieren will,
dann muss es auch ein paar kompetente Menschen geben, die den Stromkonzernen tatsächlich in die Akten
gucken können.
Dann kann es nicht bei nur zehn Leuten bleiben. Das
bedeutet, dass wir so oder so eine neue Abteilung hätten
aufbauen müssen, entweder beim Kartellamt oder bei
der RegTP.
({0})
Die RegTP ist durchaus gut geeignet. Es gibt ein gutes Argument, sich für die RegTP zu entscheiden: dass
sie auch für die Regulierung in den Bereichen Post und
Telekommunikation zuständig ist und auf Wunsch des
Bundesrates jetzt auch noch die Zuständigkeit für das
Schienennetz bekommt. Jetzt befindet sich also die Zuständigkeit für alle monopolistisch organisierten Infrastrukturen unter einem Dach.
Angesichts all der Unterschiede, die zwischen ihnen
bestehen, ist dieser Prozess unglaublich spannend. Ich
erwarte, dass große Synergieeffekte entstehen werden
und dass man im Hinblick auf die unterschiedlichen Regulierungsansätze voneinander lernen wird. Das sieht
die RegTP - ihr neuer Name, an den wir uns langsam gewöhnen sollten, lautet Netzagentur - genauso. Es gibt
bereits Pläne, ihre Mitarbeiter zum Beispiel im Kreis zu
schicken, damit sie etwas Distanz bekommen und voneinander lernen. Ich glaube, dass das Kartellamt geeignet
gewesen wäre. Ich bin aber sicher, dass die neue Netzagentur einen spannenden Prozess in Gang setzen wird.
Herr Schauerte, auch Sie wissen, dass nur ein sehr
kleiner Teil der vielen Mitarbeiter der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post für die Regulierung zuständig ist. Es handelt sich um etwa 150 bis
180 Mitarbeiter. Die übrigen Mitarbeiter sind für Angelegenheiten des ehemaligen Postministeriums zuständig, die mit Regulierung gar nichts zu tun haben, zum
Beispiel für Frequenzen. Für den harten Kern der Themen Wettbewerb und Regulierung ist eine überschaubare Anzahl von Leuten zuständig. Wenn diese Arbeitsplätze überflüssig werden, muss man sie in der Tat
abbauen; hier stimme ich Ihnen zu.
Ein zweiter Punkt ist die weitgehende Unabhängigkeit der Behörde. Ich glaube, auch hier besteht kaum
ein Unterschied zwischen dem Kartellamt und der neuen
Bundesnetzagentur. Beide sind dem Wirtschaftsministerium unterstellt und für beide besteht die Möglichkeit
der Weisung. Wir sind uns einig, dass von dieser Möglichkeit nur äußerst sparsam Gebrauch gemacht werden
darf. Ich muss Ihnen sagen: Ich sehe nicht die Gefahr,
dass das ausufert. Zwar hat auch mir das eine oder andere Mal etwas nicht gefallen. Aber ich muss ehrlich sagen: Das beste Mittel, die Anzahl von Bundesweisungen
einzuschränken, ist die Öffentlichkeit, die kontrollieren
und auch protestieren kann.
Abschließend komme ich zum Thema Vizepräsidentschaft. Das ist wirklich verlogen. Derzeit stellt die
SPD den Präsidenten, die CDU/CSU den Vizepräsidenten und die FDP hat eine Vizepräsidentin benannt. Entweder werden die Posten dem Parteienproporz entsprechend besetzt - dann müssen wir allerdings alle Parteien
„in the long run“ gleich behandeln - oder wir entscheiden uns gegen den Einfluss der Parteien. Ich hoffe, Sie
sind der Überzeugung, dass die von Ihrer Partei bestimmte Vizepräsidentin kompetent ist.
({1})
- Also, bitte. - Wenn wir uns nur an der Sachkompetenz
orientieren, dann muss aber auch das für alle Parteien
gelten. Ich sage Ihnen: Wenn wir die Umstrukturierung
der Behörde abgeschlossen haben, werden wir uns auch
dieser Frage ganz sachlich stellen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4561 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Engelbert Wistuba, Horst Kubatschka, Annette Faße,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({0}), Ursula Sowa, Volker Beck ({1}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die vielfältigen Potenziale des Wirtschaftsfaktors Kulturtourismus weiter erschließen
- Drucksache 15/5120 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Marita Sehn, Helga
Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP zu der Beratung der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung - 14./15. Legislaturperiode - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung - 14./15. Legislaturperiode - Drucksachen 15/1799, 15/1303, 15/4623 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brähmig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Hier ist’s jetzt unendlich schön“ das könnte das Zitat von einem der täglich 5 500 Besucher sein, die über unseren Köpfen in der Reichstagskuppel nach oben laufen und von dort den Blick über
Berlin genießen. Der Reichstag und erst recht unsere
Hauptstadt sind kulturtouristische Attraktionen. Berlin
verzeichnete im vergangenen Jahr bei den Übernachtungen ein Plus von 15,7 Prozent. Auch andere Städte konnten von dem überdurchschnittlichen Wachstumstrend bei
Städtereisen profitieren.
„Hier ist’s jetzt unendlich schön“ - das werden viele
der 50 Millionen Deutschen sagen, die laut einer Untersuchung der „Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen“ aus dem Jahr 2003 in den letzten drei Jahren in
ihrem Urlaub kulturelle oder historische Sehenswürdigkeiten besucht haben.
„Hier ist’s jetzt unendlich schön“ ist aber das Zitat eines Kulturreisenden aus dem Jahre 1778: Der 29-jährige
Goethe schrieb dies an Freifrau von Stein und
schwärmte von seinem Besuch im Wörlitzer Park.
({0})
Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich gehört heute zu den
30 UNESCO-Welterbestätten in Deutschland. Es gehört
- wie im Übrigen auch Goethe selbst - zum kulturellen
Reichtum unseres Landes. Dieser Reichtum zieht jedes
Jahr Millionen von Gästen aus dem In- und Ausland an.
Aus tourismuswirtschaftlicher Sicht stellt er eine wertvolle Ressource dar. Er ist die entscheidende Basis für
wirtschaftliches Wachstum, Einkommen und Arbeitsplätze im Kulturtourismus.
Im Kulturtourismus arbeiten zwei starke Partner zusammen. Das wirtschaftliche Potenzial, das dieser Partnerschaft innewohnt, weiter zu erschließen ist das Ziel
unseres Antrages. Tourismus und Kultur können sich bei
ihren gemeinsamen Anstrengungen auf die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion verlassen.
({1})
Wie eine solche erfolgreiche Kooperation zwischen
Tourismus und Kultur aussehen kann, haben die zehn
Bewerberstädte um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2010 in den vergangenen Monaten eindrucksvoll gezeigt. Angesichts dieser Kreativität und des
Engagements unterstützen wir die Idee eines gemeinsam
von Bund und Ländern getragenen Wettbewerbs für eine
nationale Kulturhauptstadt.
Kulturtourismus liegt im Trend, es ist ein wachsender
Markt. Davon profitieren insbesondere die Städte, aber
auch ländlichen Regionen bietet er Chancen zur Gestaltung ihrer ökonomischen und sozialen Entwicklungsstrategien. Ich bin dankbar, dass das Bundeswirtschaftsministerium bereits eine Studie zur ökonomischen
Bedeutung des Städte- und Kulturtourismus in Auftrag
gegeben hat. Eine vergleichbare Untersuchung mit dem
Fokus auf ländliche Tourismusdestinationen halten wir
für notwendig.
({2})
Denn auch der ländliche Raum hat seinen Gästen kulturell viel zu bieten.
Kultur und Tourismus sind starke Partner; dies gilt in
Deutschland, das gilt aber auch im europäischen Rahmen und weltweit. Durch den Maastrichter Vertrag und
aktuell durch den Vertrag über eine Verfassung für Europa haben wir die Chance für eine europäische Kulturpolitik, die das Bewusstsein für die kulturelle Vielfalt Europas einerseits und die gemeinsamen kulturellen
Wurzeln andererseits vertieft.
({3})
Für die Förderung einer europäischen Identität ist der
Tourismus ein wichtiger Partner und ein Motor des europäischen Integrationsprozesses. Darum ist es uns Sozialdemokraten wichtig, dass die Kulturförderung im europäischen Kontext auf hohem Niveau fortgeführt wird.
({4})
Das betrifft Städtepartnerschaften, das betrifft den Jugendaustausch, das betrifft die Weiterentwicklung des
EU-Programms „Kultur 2000“ über das Jahr 2006 hinaus. Grenzüberschreitende Projekte wie aktuell die Europäische Route der Backsteingotik verdienen in diesem
Zusammenhang unsere ganz besondere Unterstützung.
({5})
Kultur und Tourismus, das ist auch ein spannungsreiches Verhältnis: Aus tourismuswirtschaftlicher Sicht
muss Kultur buchbar und vermarktbar sein. Das kulturelle Angebot muss zielgruppenspezifisch aufbereitet
werden und barrierefrei zugänglich sein.
({6})
Dieses marktwirtschaftliche Interesse mit dem Ziel der
Bewahrung des kulturellen Erbes in Einklang zu bringen
ist nicht immer einfach. Ich habe aber den Eindruck,
dass es immer besser gelingt. Dazu wird in Zukunft auch
der neue Ausbildungsberuf zum Kaufmann bzw. zur
Kauffrau für Tourismus und Freizeit beitragen. Dazu
sollten aber auch alle Beteiligten beitragen, indem sie
den Dialog zwischen Tourismusfachleuten und Kulturschaffenden fördern und diesen Themenbereich in der
Aus- und Weiterbildung fest verankern.
In Kultur zu investieren lohnt sich.
({7})
Dabei sind Bund, Länder und Gemeinden ganz besonders gefordert. Als ostdeutscher Abgeordneter will ich
betonen, dass in den letzten 15 Jahren bei der Sanierung
kultureller Einrichtungen gerade in Ostdeutschland
Eindrucksvolles geleistet worden ist. Kulturtourismus ist
in vielen ostdeutschen Regionen ein wichtiges wirtschaftliches Standbein. Darum sind Investitionen in die
kulturelle Infrastruktur nachhaltige Investitionen in den
wirtschaftlichen Aufbau Ost.
({8})
Das Engagement der Bundesregierung für Kulturgüter in Ostdeutschland von internationaler und nationaler
Bedeutung kann sich sehen lassen. Ich begrüße ausdrücklich den Vorschlag der Kulturstaatsministerin an
die Ministerpräsidenten der Länder, 1 Prozent der Solidarpakt-II-Mittel für den Kulturbereich einzusetzen.
({9})
Das ist eine sehr sinnvolle Verwendung von Solidarpaktmitteln.
In die Kultur investiert nicht nur der Staat, in die Kultur investieren auch engagierte Bürgerinnen und Bürger. Die Zugänglichkeit von kulturellen Angeboten wäre
ohne ihre Investitionen von Zeit und Geld nicht denkbar.
In einer Untersuchung zum Freiwilligenengagement
kam das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend 1999 zu dem Ergebnis, dass im Kulturbereich 2,1 Millionen Menschen ehrenamtlich aktiv
sind. Diesen Menschen gelten unser Dank und unsere
Anerkennung.
({10})
Sie erhalten Dorfkirchen verlässlich offen, betreiben
Heimatmuseen, inszenieren Musik- und Theaterveranstaltungen und vieles mehr. Auch den vielen Stiftungen
und Vereinen, die sich mit großem finanziellen und zeitlichen Aufwand für den Erhalt unseres kulturellen Erbes
stark machen, soll an dieser Stelle ausdrücklich gedankt
werden.
({11})
Die SPD-Fraktion wird konsequent weiter daran arbeiten, dass sich die Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche Engagement in unserem Land Schritt für
Schritt verbessern.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ich komme gleich zum letzten Satz. - Das liegt auch
im Interesse des Kulturtourismus.
Ich komme jetzt zum Schluss. Meine Damen und
Herren, die kulturelle Vielfalt ist ein Aushängeschild unseres Landes und des Deutschlandtourismus.
({0})
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich mit Nachdruck
für Initiativen und Maßnahmen ein, die dieses Aushängeschild auf Hochglanz polieren und mit denen die groEngelbert Wistuba
ßen wirtschaftlichen Wachstumspotenziale engagiert genutzt werden können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die Situation der Tourismuswirtschaft in Deutschland und sprechen über die
Potenziale des Wirtschaftsfaktors Kulturtourismus. Ein
gutes Jahr vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft 2006 ist dies auch dringend notwendig; denn das
einmalige Großereignis, das unserem Land im kommenden Jahr bevorsteht, muss unbedingt dafür genutzt werden, der seit Jahren mit den strukturellen Problemen
unseres Wirtschaftsstandorts kämpfenden Reise-, Hotellerie- und Gastronomiebranche zu neuen Geschäfts- und
Wachstumsimpulsen zu verhelfen.
({0})
Wer in den vergangenen Wochen die Bewerbung um
die erste Tranche von WM-Tickets mitverfolgt hat, kann
sich ein ungefähres Bild davon machen, welche Reiseund Besucherströme unser schönes Land in den vier Wochen zwischen dem 9. Juni 2006 und dem 9. Juli 2006
erwarten wird.
({1})
Darüber freuen wir uns. Gemäß dem Motto der Weltmeisterschaft „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wird die
deutsche Tourismuswirtschaft ihren Beitrag dazu leisten,
dass sich die Besucher aus dem In- und Ausland auch
auf dieser Reise wie zu Hause fühlen werden. Wir sind
natürlich sehr froh und stolz, dass unser Ausschussvorsitzender, Kollege Hinsken, in den entsprechenden Gremien mitwirkt und vor allen Dingen - wie sich das gehört - auch immer den Finger auf die noch offenen
Wunden legt.
Bei aller Vorfreude auf das kommende Jahr sollten
wir aber die tatsächliche Lage der Reisebranche unseres
Landes nicht aus den Augen verlieren. Es ist zwar richtig, dass das Hotelgewerbe bei den Übernachtungszahlen von Ausländern derzeit Zuwächse verzeichnen kann
- deutsche Reiseveranstalter melden Buchungszuwächse
und haben endlich auch die große Bedeutung des Inlands
als Reiseziel der Deutschen erkannt -, das Problem
bleibt jedoch der Binnenmarkt. Die Zahl der Gästeübernachtungen von Bundesbürgern im eigenen Land ist seit
Jahren rückläufig. Darüber hinaus existiert nach wie vor
ein deutliches Reisebilanzdefizit in Höhe von circa
36 Milliarden Euro.
({2})
Dies bedeutet, dass die Deutschen nach wie vor deutlich
mehr Geld im Ausland ausgeben, als ausländische Gäste
bei uns im Lande lassen.
Die Kaufzurückhaltung, die sich die Bundesbürger angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage in unserem Land seit Jahren auferlegen, trifft auch die deutsche
Tourismusbranche. Wer dennoch verreist, gibt deutlich
weniger Geld aus. Dies gilt sowohl für die Reiseleistung
selbst als auch für die Nebenkosten vor Ort. Man kann es
den Menschen auch nicht verdenken, dass sie angesichts
des desolaten Erscheinungsbildes der Bundesregierung
eher an morgen denken und abwartend agieren; denn wer
weiß schon heute, was bei der Regierung Schröder bereits morgen auf der Agenda stehen wird.
({3})
Welche zusätzlichen Opfer werden den Bürgern noch
abverlangt, ohne dass diese dafür ein schlüssiges Gesamtkonzept und tragfähige Visionen für die Zukunft erwarten dürfen?
({4})
Eines haben die Menschen im Lande schon lange mitbekommen: Bei dieser Regierung fehlt jede Verlässlichkeit.
({5})
Wenn wir über die mittelständischen Unternehmen in
diesem Lande sprechen - hierzu gehört die Tourismusbranche in großem Umfang -, ist es zwingend notwendig, die Regierung immer wieder auf die Hauptursache
für die Probleme unseres Landes hinzuweisen. Diese
sind nicht konjunktureller Natur, sondern zutiefst struktureller Art. Gerade die Tatsache, dass ein guter Umsatz
hierzulande noch lange keinen ausreichenden Gewinn
bedeutet, stellt für alle Gewerbetreibenden einen enormen Wettbewerbsnachteil dar. Durch anhaltend hohe
staatliche Gebühren und Abgaben wird die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen in grotesker Art
und Weise untergraben.
Da die am Markt durchsetzbaren Preise zum großen
Teil völlig ausgereizt sind, bleiben mit dem Gewinn
auch die zukunftsweisenden Investitionen aus. Das
heißt, weniger neue Arbeitsplätze werden geschaffen
und weniger wird in die betriebliche Infrastruktur der
Unternehmen investiert. So werden beispielsweise unsere Hotel- und Pensionsbetriebe mit völlig überzogenen
und steigenden Forderungen der GEMA, anderer Verwertungsgesellschaften für Urheberrechte sowie mit hohen Rundfunkgebühren belastet.
({6})
Was als Service für die Gäste gedacht ist, erweist sich
als ein erheblicher Kostenfaktor, der bei mittelständischen 100-Zimmer-Häusern mit fast 20 000 Euro pro
Jahr zu Buche schlägt und bei größeren Hotels leicht das
Drei- bis Vierfache erreicht. Frau Kollegin Irber, es ist
richtig, dass dies keine Aufgabe des Bundes, sondern
eine Aufgabe der Länder ist. Dafür haben wir uns fraktionsübergreifend verwandt, aber hierfür leider kein Gehör gefunden.
({7})
Aber nicht nur bei der reinen Betrachtung inländischer Problemlagen sieht sich der Reise- und Verkehrsstandort Deutschland enormen Herausforderungen gegenüber. Wir sollten daher die heutige Debatte auch dazu
nutzen, die Bundesrepublik Deutschland als Transitbzw. Umsteigeland in den internationalen Reiseströmen
unter die Lupe zu nehmen; denn gerade im direkten internationalen Vergleich wird umso deutlicher, dass wir
uns kein verlorenes Jahr für wohlgemeinte Sonntagsreden mehr leisten können.
Die Vereinigten Arabischen Emirate beispielsweise
legen derzeit ein gewaltiges gesamtstaatliches Investitionsprojekt im Luftverkehr auf.
({8})
Die staatliche Fluglinie Emirates ordert mehr als doppelt
so viele Großraum-Airbus-Flugzeuge vom Typ A380
wie die traditionsreiche Lufthansa, die dieser Tage ihren
50. Geburtstag feiert. Zwar profitieren die Unternehmen
am Persischen Golf derzeit noch von reich fließenden
Einnahmen aus dem Ölgeschäft, die direkt investiert
werden können. Aber gleichzeitig muss auch hier deutlich darauf hingewiesen werden, dass diese Flugzeugkäufe zum Teil von der Bundesregierung durch Hermesbürgschaften unterstützt werden. Somit fördert der
deutsche Steuerzahler den Aufbau von Überkapazitäten
am Golf, die dann zu Niedrigpreisen auf den bundesdeutschen Markt geworfen werden können.
Daneben vernachlässigt die rot-grüne Bundesregierung auf sträfliche Weise die Interessenvertretung deutscher Fluggesellschaften bei der Vergabe von Landerechten in Deutschland. Dies gilt ebenso für die
Behandlung von luftverkehrsrechtlichen Themen auf
europäischer Ebene, wo andere Mitgliedstaaten ihre Vorstellungen und Standards EU-weit durchsetzen können.
Aber nicht nur in Brüssel ist diese Bundesregierung
zu schnellem Handeln aufgefordert. Auch hierzulande
muss es uns in große Alarmbereitschaft versetzen, dass
das Genehmigungsverfahren für den Bauantrag einer
neuen Wartungshalle für den Airbus A380 am Frankfurter Flughafen länger dauert als die komplette Errichtung eines neuen Flughafenterminals mit sechs Landebahnen in Dubai.
({9})
Bislang wurden im Planungsverfahren über fünf laufende Meter Akten produziert. Dies zeugt nicht gerade
von Entbürokratisierung und Aufbruchstimmung.
Hier müssen wir mit klaren und schnellen Entscheidungen Handlungsfähigkeit beweisen, wenn wir im
Wettbewerb mittel- und langfristig bestehen wollen. Wir
fordern daher die Bundesregierung auf, tatkräftig daran
mitzuwirken, dass der dringend notwendige Ausbau des
Frankfurter Flughafens endlich Gestalt annimmt und die
privatwirtschaftlichen Investitionen endlich stattfinden
können.
({10})
Andernfalls wäre die Rolle Frankfurts als internationales
Drehkreuz langfristig ernsthaft in Gefahr. Von dem
Schönefelder Flughafen in Berlin will ich erst gar nicht
sprechen.
Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
muss auch für die wichtigen Infrastrukturprojekte in
Westdeutschland schnellstens Anwendung finden. Bei
5,2 Millionen Arbeitslosen gilt es, zukunftsfähige Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern und nicht nach
Gründen zu suchen, die großen Investitionen zu verhindern.
({11})
Beim für den Tourismus so bedeutenden Luftverkehr
ist aber auch auf die von der rot-grünen Bundesregierung
angestoßene Debatte um eine Besteuerung von Kerosin
hinzuweisen. Im Interesse der vielen Menschen, die mit
dem Flugverkehr in Deutschland ihren Lebensunterhalt
verdienen, muss man Bundeskanzler Schröder mit Nachdruck auffordern, seinen Bundesumweltminister Jürgen
Trittin endlich an die kurze Leine zu nehmen.
({12})
Wir können auch hier keine deutschen Alleingänge
gebrauchen, die nur als ideologischer Seelenbalsam der
Grünen zu gebrauchen sind.
({13})
Denn ansonsten drehen sich in Deutschland bald nur
noch die Rotorblätter der Windkraftwerke an den Küsten
von Nord- und Ostsee und auf den Feldern im Lande.
({14})
Man muss sich wirklich die Frage stellen: Wann fängt
diese Bundesregierung endlich damit an, nicht nur für
die Wettbewerbsfähigkeit unserer europäischen Nachbarn Politik zu machen? Wann beginnt sie endlich damit,
die richtigen Rahmenbedingungen für den Abbau von
Arbeitslosigkeit in Deutschland zu setzen?
({15})
Dabei ist es doch gerade im Dienstleistungsbereich relativ einfach, Wachstumsimpulse zu setzen. Wenn jedes
deutsche Tourismusunternehmen von einer wirklich
ernst betriebenen Entbürokratisierung und einem Abbau
von EU-Wettbewerbsverzerrungen profitierte und nur je
einen Mitarbeiter einstellen würde, könnten Hunderttausende neuer Arbeitsplätze geschaffen werden.
({16})
Um Deutschland als Tourismusstandort optimal zu
positionieren, müssen wir uns aber auch auf unsere Stärken besinnen. Wie das derzeit laufende Schillerjahr
zeigt, hat der Name Deutschland besonders als Heimat
hochwertiger Kulturgüter international einen sehr guten
Ruf. Herr Kubatschka, da werden Sie mir doch bestimmt
zustimmen.
({17})
Aus diesem Grunde ist der heute ebenfalls debattierte
Antrag der Regierungsfraktionen über die weitere Erschließung des Wirtschaftsfaktors Kulturtourismus in
Ansätzen zu begrüßen. Die in ihm geforderte Bereitstellung zusätzlicher Bundesmittel für den Erhalt und die
Restaurierung von UNESCO-Welterbestätten wäre ein
wertvoller Beitrag zur Sicherung historischer Bausubstanz. Herr Wistuba, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass
Sie intensiv auf dieses Thema eingegangen sind. Unsere
Arbeitsgruppe war vor wenigen Tagen in Xanten am
Niederrhein im Wahlkreis unserer Kollegin Falk. Diese
große Römerstadt würde massiv von der kulturellen und
finanziellen Unterstützung profitieren. Wir nehmen Sie
hier beim Wort.
({18})
Dieses Geld würde natürlich sinnvoll investiert. Da
haben Sie unsere Unterstützung. Die Unionsfraktion
wird jedoch genau prüfen, wo und in welcher Höhe Sie
diese geforderten Mittel in den Bundeshaushalt einstellen. Denn die Ankündigung hier ist das eine und das Einstellen in den Bundeshaushalt und die Umsetzung bei
den Kulturstätten das andere.
Auch eine enge Kooperation zwischen der Deutschen
Welle, dem Auswärtigen Amt und der Deutschen Zentrale für Tourismus bei der Darstellung Deutschlands als
kulturhistorisches Reiseziel würde mit Sicherheit im
Ausland für zahlreiche neue Gäste sorgen können.
Jedoch muss an dieser Stelle erneut auch an eine alte
Unionsforderung erinnert werden. Wir können die Deutsche Zentrale für Tourismus, die im Auslandsmarketing einen hervorragenden Job für Deutschland macht,
nicht immer weiter mit zusätzlichen Aufgaben belasten,
ohne gleichzeitig ihre Finanzausstattung nachhaltig zu
verbessern.
Hier verlangen die Regierungsfraktionen Unmögliches und hätten es dabei doch in der Hand, in überflüssige Regierungspropaganda fehlinvestierte Gelder gewinnbringend in die Marketingaktivitäten der Deutschen
Zentrale für Tourismus zu investieren.
({19})
Das sind die Fakten.
Der Tourismusstandort Deutschland steht großen Herausforderungen gegenüber. Betreiben Sie endlich eine
Politik, die sich mit der Lösung der drängenden Probleme unseres Landes beschäftigt!
({20})
Würden Sie endlich einmal überzeugende Lösungen präsentieren, dann wäre den Menschen in Deutschland ein
großes Stück geholfen.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Rängen! Herr
Brähmig, es ist ja schön, dass Sie wenigstens zum
Schluss noch die Kurve zum eigentlichen Thema gekriegt haben.
({0})
Man muss daran erinnern: Wir wollten hier über die
Potenziale des Wirtschaftsfaktors Kulturtourismus reden
und außerdem über den tourismuspolitischen Bericht der
Bundesregierung, zu dem die FDP einen Antrag eingebracht hat. Ich kann nicht verstehen, dass Sie jede tourismuspolitische Debatte - auch ich würde mir wünschen,
dass wir sie vor einem volleren Haus führten - benutzen,
um darzustellen, dass der Tourismus in Deutschland eigentlich überhaupt nichts taugt und alles ganz furchtbar
und schrecklich ist. Den Eindruck kann ich nicht teilen.
({1})
- Es ist eine Interpretationsfrage, ob er das gemacht hat.
Jedenfalls hat er kaum zum Thema gesprochen. Er hat
vielmehr einen Rundumschlag gemacht, wie schrecklich
alles ist.
({2})
- Herr Hinsken, ich möchte jetzt gerne zum Thema Kulturtourismus zurückkommen.
In der „Kölnischen Rundschau“ zum Beispiel - es ist
schließlich immer schwierig, so etwas einzugrenzen war neulich zu lesen, Tourismusforschung erinnere oft
an das berühmte Lesen im Kaffeesatz. Trends kämen
und gingen, ohne dass diese daran dächten, den Voraussagen zu folgen. Keiner könne wirklich wissen, wie sie
sich entwickelten. Eines aber stehe fest: der Boom der
Städte- und Kulturreisen.
Ob man die Einschätzung der „Kölnischen Rundschau“ generell teilt oder nicht, mag dahingestellt sein.
Auf jeden Fall trifft es zu, dass Kultur und deren Vermarktung immer stärker in das Blickfeld von Städten
Undine Kurth ({3})
und ganzen Regionen rücken. Es wird auch erkannt, dass
die Schnittmenge der Kulturinteressen von Einheimischen und Gästen erstaunlich groß ist.
Zu dem Thema Kulturtourismus hat der Kollege
Wistuba schon sehr viel gesagt. Ich könnte auf weitere
Ausführungen verzichten, wenn Sie es geschafft hätten,
festzustellen, dass nicht ausschließlich die SPD-Fraktion, sondern die Koalition für das Verfolgen der in diesem Bereich angestrebten Ziele eintreten wird. Denn ich
glaube, dass wir mit dem, was wir erreichen wollen,
ziemlich dicht beieinander liegen.
Ich möchte noch einmal auf das Thema Denkmalschutz zu sprechen kommen; denn oft und zu Recht wird
es als sehr wichtig hervorgehoben, das Denkmal zu erleben. Es gibt den inzwischen berühmten Gegensatz zwischen der Aufforderung, auch Denkmäler zeitgemäßen
Nutzungsformen zuzuführen, und dem Problem, dass der
so genannte klassische Denkmalschutz in dem Sinne
verstanden wird, Historisches als Zeugnis der Geschichte zu bewahren. Auf der einen Seite steht die Haltung „Nicht berühren!“ und „Nicht betreten!“, auf der
anderen Seite wird zu Recht eine Nutzung eingefordert.
Auf der Jahrestagung der Landesdenkmalpfleger im
vergangenen Jahr hat man sich dieses Problems angenommen. Dabei wurde sehr deutlich herausgestellt, dass
es Baudenkmäler ohne Nutzung schwer haben. Es ist
unabdingbar, Kompromisse für die Nutzung zu finden,
damit die Baudenkmäler nicht untergehen; denn - ich
zitiere -: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.“
Vorgeschlagen wurde unter anderem, zum Beispiel
Denkmalgruppen zu touristischen Alleinstellungsmerkmalen bestimmter Regionen oder Länder zusammenzufassen. Das ist eine sehr kluge und richtige Idee, die auch
greift. In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel ist
das in der Bäderarchitektur erfolgt, in Sachsen-Anhalt in
der Gartenkunst. 40 der bedeutendsten, für Einheimische wie für Touristen gleichermaßen reizvolle Anlagen
sind in dem Netzwerk „Gartenträume - Historische
Parks in Sachsen-Anhalt“ zusammengefasst. Im nächsten Jahr sollen diese „Gartenträume“ das touristische
Schwerpunktthema des Bundeslands Sachsen-Anhalt
werden.
Die wichtige Rolle der Stiftungen - zum Beispiel der
Deutschen Bundesstiftung Umwelt - ist bereits hervorgehoben worden. Ich möchte noch einmal betonen, dass
auch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt in diesem
Bereich sehr aktiv ist. Auch die UNESCO ist bereits angesprochen worden.
Lassen Sie mich aber in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass sich Kulturtourismus nicht allein
auf das Erleben von Denkmälern beschränkt. Im Vorteil
sind die Touristiker, die bei der Produktgestaltung auf
weitere kulturelle Angebote zurückgreifen können, sofern es diese noch gibt. Vielerorts war man nämlich der
Meinung, in touristisch interessanten Gegenden könne
man gut und gerne auf ein Museum oder Theater verzichten; man könne diese Einrichtungen schließen und
trotzdem weiter gute Geschäfte machen. Das ist eine
irrige Auffassung. Wir müssen diejenigen, die über gute
kulturelle Angebote verfügen, darauf hinweisen, dass sie
diese erhalten müssen, um auch dem Wirtschaftszweig
Tourismus wirkungsvoll unter die Arme greifen zu können.
({4})
- Es freut mich, dass es dafür Zustimmung gibt, und ich
hoffe, dass wir mit diesem Antrag gemeinsam eine gute
Grundlage dafür schaffen, dass die Bedeutung von Kultur auch für den Wirtschaftszweig Tourismus viel besser
und mit einer größeren Breitenwirkung berücksichtigt
wird.
Auch über die Barrierefreiheit ist schon etwas ausgeführt worden, sodass ich darauf nicht näher eingehen
möchte.
Ich hoffe, wie gesagt, dass wir zu einer breiten Verständigung darüber kommen, wie wichtig kulturelle Angebote sind, um touristische Angebote weiterzuentwickeln, sodass sie eine gute Grundlage bilden können, um
diesen Wirtschaftszweig nach vorne zu bringen. Ich
hoffe deshalb, dass wir mit dem vorliegenden Antrag,
der heute an die Ausschüsse überwiesen werden soll, ein
gutes Ergebnis erzielen werden.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher, FDPFraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin,
wenn Sie so erkältet sind, kann ich Ihnen nur empfehlen:
Kommen Sie nach Baden! Dort sollten Sie sich von der
Sonne und dem guten Wein verwöhnen lassen; auch das
ist Deutschlandurlaub. Dann erholen Sie sich wieder
ganz schnell.
Sofort über das Wochenende, Herr Kollege.
Da ich nur wenig Zeit habe und zu beiden Bereichen,
über die wir heute reden, etwas sagen möchte, kann ich
nur ein paar Stichworte nennen. Zum Thema „Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung“: Liebe
Frau Kollegin Kurth, es geht nicht darum, dass wir sagen, dass überhaupt nichts läuft. Wir haben ja einiges getan, manches auch gemeinsam. Das sei ausdrücklich gesagt. Ich möchte nur auf die Berichte aus der 14. und
15. Legislaturperiode verweisen. Manches ist auch auf
Initiative und massiven Druck der FDP geschehen. Ich
denke dabei beispielsweise an die Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung
({0})
und an die Neuregelung touristischer Beschilderungen.
Das hat dem Tourismus durchaus geholfen.
({1})
Wir alle sind froh, dass sich die Zahl der Übernachtungen ausländischer Gäste sehr gut entwickelt. Auch
die Zahl der Übernachtungen inländischer Gäste ist
leicht gestiegen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass
wir auf einem sehr tiefen Stand waren und dass einiges
weit besser laufen könnte. Wenn wir im Bereich der Bürokratie, auf dem Arbeitsmarkt und bei den Energiekosten, die hoch sind, endlich entgegensteuerten, dann
könnten wir ganz andere Zahlen haben und mehr Arbeitsplätze im touristischen Bereich schaffen. Das ist der
Punkt, um den es uns geht.
({2})
Das Thema Kulturtourismus ist entscheidend und
wichtig. Nun sagen viele Forscher in diesem Bereich,
dass Kulturtourismus ein Trend ist, der weiter zunehmen
wird, und dass Deutschland mit vielen kulturellen Highlights in allen Bereichen hier hervorragend aufgestellt
ist. Herr Kollege Wistuba, das meiste, was Sie gesagt haben, unterschreibe ich. Deshalb möchte ich zwei Bereiche nennen, die noch nicht so ausführlich geschildert
worden sind:
Erstens. Kulturtourismus ist sehr häufig Bustourismus. Viele Ziele und Reisen gerade im Bereich Kultur
werden von Busreiseveranstaltern angeboten. Deshalb
geht es auch darum, diesen das Leben zu erleichtern und
endlich einen solchen Unsinn wie eine Ökosteuer für
Busse abzuschaffen. Wir dürfen die Busunternehmen
nicht benachteiligen, sondern wir müssen ihnen faire
Wettbewerbschancen geben. Das muss einmal gesagt
sein.
({3})
Zweitens. Frau Staatsministerin Dr. Weiss, ich freue
mich, dass Sie heute hier sind. Wir haben vor kurzem
eine Debatte über die Breitenkultur geführt. Neben den
kulturellen Highlights sollten wir viel stärker herausstreichen, dass wir - ich behaupte: wie kein anderes Land eine breite und qualitativ hochwertige Laienkultur haben.
Ich selbst bin im Bereich der Laienmusik ehrenamtlich
tätig. Wir haben riesengroße Feste von hervorragender
Qualität. Ich kann nur dafür werben, hier mehr zu tun und
die Verbindung zwischen der Laienkultur und dem Tourismus in Deutschland viel mehr in den Vordergrund zu
stellen. Ich hoffe, dass die DZT hier noch mehr einsteigt,
als sie das bisher schon getan hat; denn hier gibt es
enorme Chancen, die wir nutzen sollten.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das meiste, was
in Ihrem Antrag steht, unterstützen wir durchaus. Deshalb mache ich den Vorschlag, uns zusammenzusetzen
und zu sehen, ob wir nicht einen interfraktionellen Antrag erarbeiten können. Wir haben in der Vergangenheit
im Tourismusausschuss vieles gemeinsam erreicht. Das
könnte eine Gelegenheit sein, erneut einen gemeinsamen
Versuch zu unternehmen. Ich jedenfalls biete Ihnen Zusammenarbeit an.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Nachfrageschub im neuen Jahr“ und „Mit Dynamik ins
Jahr 2005: Reiseland Deutschland boomt“, das sind zwei
Überschriften von Presseerklärungen der DZT, zu der
wir alle stehen und die wir alle gelobt haben. Seit Januar
dieses Jahres haben wir einen deutlichen Zuwachs sowohl bei der Zahl der ausländischen Gäste als auch bei
der Zahl der Inlandsbuchungen zu verzeichnen.
({0})
Eine Umfrage hat ergeben, dass die Hotelbranche im
laufenden Jahr eine Steigerung von bis zu 5 Prozent erwartet. Das sichert Einkommen und Arbeitsplätze in der
Branche.
({1})
Uns liegt ein sehr umfangreicher Tourismuspolitischer Bericht vor. Ich möchte dafür herzlich danken.
Wir, die SPD-Fraktion, haben in den vergangenen Jahren
konsequent zur Stärkung der Tourismusbranche beigetragen. Das wird auch so bleiben.
Aber wir sollen hier eher darüber diskutieren, wofür
der Bund zuständig ist, und nicht darüber, wofür die
Länder zuständig sind.
({2})
Der Frankfurter Flughafen liegt immer noch in Hessen,
weswegen das Land Hessen zuständig ist.
({3})
Wir können auch das Thema Kerosinbesteuerung erörtern. Es gibt über alle Parteigrenzen hinweg einen
breiten Konsens, dass diese Angelegenheit nicht auf nationaler Ebene geregelt werden kann. Wie Sie wissen, ist
das auch auf europäischer Ebene kaum zu regeln. Man
kann der Bundesregierung daher keinen Vorwurf machen. Man muss die Tatsachen zur Kenntnis nehmen und
versuchen, Veränderungen vorzunehmen. Der Finanzminister hat dieses Thema erst vor kurzem wieder auf europäischer Ebene angesprochen. Er hat also versucht, diesen Weg zu gehen.
Mein lieber Kollege Brähmig, Sie haben sich hier mit
der Verkehrsinfrastruktur ganz massiv auseinander gesetzt. Aber Sie haben leider nicht erwähnt - das tue ich
dafür heute sehr gern -, dass uns für einen Zeitraum von
vier Jahren 2 Milliarden Euro mehr für alle Bereiche der
Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stehen.
({4})
Das wird dem Tourismus helfen, Herr Brähmig.
Wir haben in den vergangenen Jahren Anträge eingebracht, die sich mit dem barrierefreien Reisen, mit dem
Tourismus in, an und auf dem Wasser, mit Chancen des
Tourismus auf europäischer Ebene befasst haben. Heute
beraten wir unseren Antrag zum Kulturtourismus. Herr
Kollege Burgbacher, vielleicht hätten auch Sie auf die
Idee kommen können, so einen schönen Antrag zu stellen. Möglicherweise können wir zusammenarbeiten. Ich
will das heute nicht ausschließen.
Wir alle treten für die DZT ein. Die DZT ist kontinuierlich mit Mitteln ausgestattet worden. Jeder kann sich
mehr wünschen. Wir geben ihr mehr, nämlich
3 Millionen Euro mehr für die Erstellung des Gastgeberkonzeptes für die Fußballweltmeisterschaft. Sie hat
also eine neue Aufgabe und mehr Geld.
({5})
Wir wollen diese Fußballweltmeisterschaft nutzen,
uns der Welt, also nach außen, positiv darzustellen. Wir
wollen für Nachhaltigkeit sorgen. Da sind wir alle, der
Tourismus, aber auch alle Bereiche um ihn herum, gefordert. In der nächsten Ausschusssitzung werden wir uns
mit diesem Thema noch einmal sehr ausführlich befassen.
({6})
Wir haben eine weitere Konsequenz gezogen, indem
wir ein neues Berufsbild geschaffen haben. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es die erste vollständige Berufsschulklasse für diesen neuen Beruf; die DZT und die ersten Freizeitparks bilden aus. Wir sind also flexibel
gewesen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag geht von bis zu 800 Ausbildungsverträgen aus.
Wir machen uns stark und wir erreichen auch etwas
für die Branche. Das zeigen die Aktivitäten der letzten
Jahre. Ich sage noch einmal ganz deutlich: Wir haben
uns auch im Ausschuss mit den neuen Berechnungssystemen auseinander gesetzt, und zwar sehr strittig. Aber
wir brauchen natürlich seriöse europäisch und international vergleichbare Zahlen; darauf sind wir angewiesen.
Ich denke, es ist klar und es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass wie bisher zusätzliche Bereiche in die
Berechnung aufgenommen werden sollen.
({7})
Heute liegt auch ein FDP-Antrag vor. Wir lehnen ihn
aus mehreren Gründen ab:
({8})
Was die Mehrwertsteuersätze angeht, liegen wir im
guten Mittelfeld. Wir haben daher keinen Anlass, die
Steuersätze zu senken.
Was die Fragen zum Jugendarbeitsschutzgesetz angeht, muss ich wirklich sagen: Wer meint, dadurch mehr
Ausbildungsplätze schaffen zu können, dass die Nachtarbeitszeiten endlos ausgedehnt werden, der liegt falsch.
({9})
Die Arbeitsplätze, die dadurch entstünden, wären dem
unteren Lohnniveau zuzuordnen. Es ginge zum Beispiel
darum, abends noch aufzuräumen; zu lernen gäbe es da
nichts mehr.
({10})
Ich sage noch einmal ganz klar und deutlich: Der
Tourismus in Deutschland boomt. Jeder hat eine Vorstellung davon, wie man etwas verbessern kann.
({11})
Das gilt auch für uns. Wir glauben, dass unter anderem
die Verabschiedung unseres heutigen Antrags zu einer
Verbesserung beiträgt. Das Reiseland Deutschland hat
von der weitestgehend guten Arbeit der DZT im Ausland
wie im Inland profitiert. Deutschland ist in und das lassen wir uns von Ihnen nicht schlechtreden.
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 10 b: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Tourismus auf Drucksache 15/4623. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis des Tourismuspolitischen Berichts der Bundesregierung für die 14. und 15. Wahlperiode auf Drucksache 15/1303 den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1799 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo
Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Bürokratieabbau bei der Kreditvergabe voranbringen
- Drucksache 15/4842 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Die Abgeordneten Dr. Hans-Ulrich Krüger, Otto
Bernhardt, Stefan Müller ({1}), Jutta Krüger-Jacob
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
und Dr. Volker Wissing haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4842 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Dr. Antje Vogel-Sperl, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rahmenbedingungen für die industrielle stoffliche Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen in Deutschland schaffen
- Drucksache 15/4943 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die vielfältigen Potenziale nachwachsender
Rohstoffe für die nachhaltige Entwicklung
ausschöpfen
- Drucksache 15/3358 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Abgeordneten Waltraud Wolff ({4}),
Andrea Wicklein, Axel E. Fischer ({5}),
Helmut Lamp, Dr. Antje Vogel-Sperl und Dr. Christel
Happach-Kasan haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4943 und 15/3358 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
1) Anlage 7
2) Anlage 8
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck ({7}), Antje Hermenau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Entwicklungszusammenarbeit der EU
konstruktiv weiterentwickeln - Effizienz
und Nachhaltigkeit verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ralf
Brauksiepe, Dr. Christian Ruck, Peter Hintze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Mehr Mut zur Reform der EU-Entwick-
lungszusammenarbeit
- Drucksachen 15/2338, 15/1215, 15/4972 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Dr. Ralf Brauksiepe
Markus Löning
Die Abgeordneten Karin Kortmann, Dr. Ralf
Brauksiepe, Thilo Hoppe und Markus Löning haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.3)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 15/4972. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2338 mit
dem Titel „Die Entwicklungszusammenarbeit der EU
konstruktiv weiterentwickeln - Effizienz und Nachhal-
tigkeit verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP ange-
nommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 15/1215 mit dem Titel „Mehr Mut zur Reform der
EU-Entwicklungszusammenarbeit“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
- Drucksache 15/5226 -
3) Anlage 9
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das energiesparende Bauen hat in Deutschland in den
letzten Jahrzehnten große Bedeutung erlangt und ist fast
schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Seit der
ersten Ölkrise haben wir große Fortschritte gemacht. Im
Vergleich zu den Anforderungen von 1974 müssen die
Gebäude zunehmend besser gegen Wärmeverluste gedämmt werden. Auch die Heizungsanlagen sind immer
energieeffizienter geworden. Der Heizenergieverbrauch
je Quadratmeter Wohnfläche ist in den letzten 20 Jahren
um etwa 40 Prozent gesunken. Neubauten nach der Energieeinsparverordnung haben rechnerisch einen durchschnittlichen Heizenergiebedarf von umgerechnet nur
noch 7 Litern Heizöl pro Quadratmeter und Jahr. Zum
Vergleich: Altbauten in Deutschland haben einen durchschnittlichen Heizenergiebedarf von rund 20 Litern
Heizöl pro Quadratmeter und Jahr.
Diese Entwicklung hat für Aufträge in der Bauwirtschaft gesorgt und wichtige Impulse zur nachhaltigen
energetischen Verbesserung der Gebäudesubstanz gegeben. Sie leistet einen wichtigen Beitrag für den Klimaschutz. Bei steigenden Energiepreisen hat sie auch zur
Begrenzung des Anstiegs der Wohnnebenkosten beigetragen.
Rund 30 Jahre nach der Einbringung des ersten Energieeinsparungsgesetzes in den Deutschen Bundestag
muss nun die europäische Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden in deutsches Recht umgesetzt werden. Vieles von dem, was uns Brüssel aufträgt, ist im deutschen Recht bereits verankert. Dies
betrifft zum Beispiel die ganzheitliche Bewertung des
Energiebedarfs von Neubauten, die energetischen Anforderungen an Bauteile, die von Änderungen eines bestehenden Gebäudes betroffen sind, die Ausstellung und
Vorlage von Energieausweisen für Neubauten und unter
gewissen Voraussetzungen auch für den Gebäudebestand
und schließlich die regelmäßige Inspektion von Heizungsanlagen und vieles mehr.
Wir müssen unser Recht aber in einigen Punkten ergänzen, um den besonderen Anforderungen der Gebäuderichtlinie zu entsprechen. Dies soll in zwei Schritten
geschehen.
Erstens. Die inhaltliche Umsetzung der einzelnen Regelungen soll durch eine Novellierung der Energieeinsparverordnung erfolgen.
Zweitens. Zuvor müssen wir aber das Energieeinsparungsgesetz ändern, damit sich der Verordnungsgeber
bei der Novellierung der Energieeinsparverordnung auf
sicherem Boden bewegen kann. Das Energieeinsparungsgesetz bildet die gesetzliche Grundlage zum Erlass dieser Energieeinsparverordnung. Die geltenden
Verordnungsermächtigungen müssen deshalb erweitert
werden, um den Verordnungsgeber in die Lage zu versetzen, die Gebäuderichtlinie vollständig umzusetzen. In
anderen Worten: Mit der Änderung wird der Gestaltungsrahmen des Verordnungsgebers abgesteckt.
Die Richtlinie ist bis Anfang 2006 in nationales Recht
umzusetzen. Da die fristgerechte Umsetzung europäischer Rechtsakte für die Bundesregierung hohe Priorität
hat, beschränkt sich der vorliegende Gesetzentwurf darauf, die für eine rechtzeitige Umsetzung unbedingt erforderliche Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
vorzusehen.
Mit der Gesetzesänderung werden keine inhaltlichen
Vorentscheidungen getroffen. Ich möchte deshalb nur
kurz auf die wesentlichen Erweiterungen der gesetzlichen Verordnungsermächtigungen eingehen.
Wir müssen verbindliche Energieausweise für den
Fall des Verkaufs und der Vermietung bestehender Gebäude einführen. Dazu gehört auch die Pflicht des Aushangs von Energieausweisen in öffentlichen Gebäuden
mit großem Publikumsverkehr. Die Richtlinie spricht in
ihren Erwägungsgründen ausdrücklich die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand an. Neu ist ferner die Pflicht
zur regelmäßigen Inspektion von Klimaanlagen.
Schließlich gilt es, die Energieanteile von Beleuchtung
und Klimaanlagen in Nichtwohngebäuden in den Gesamtenergiebedarf mit einzubeziehen.
Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem obligatorischen Energieausweis im Gebäudebestand. Er wird
zweifellos die größte Breitenwirkung in der Umsetzung
der Richtlinie entfalten. Das zeigt schon die zunehmende
und sehr lebhafte Diskussion in der Öffentlichkeit. Deshalb ist die neue Ermächtigung der Bundesregierung, Inhalt und Ausgestaltung von Energieausweisen für bestehende Gebäude vorzugeben, das Kernelement des
Gesetzentwurfs.
Bestandsausweise werden die Informationslage von
Käufern und Mietern spürbar verbessern. Diese können
Einsicht in Daten über die energetische Qualität des jeweiligen Gebäudes nehmen und verschiedene Objekte
überschlägig miteinander vergleichen. Diese Transparenz nützt dem Verbraucher. Sie erweitert den Wettbewerb auf dem Immobilienmarkt. Wir setzen darauf, dass
viele Eigentümer unter diesen Bedingungen verstärkt in
energetisch modernisierungsbedürftige Häuser investieren. Das ist gut für Deutschland und wird auch zur Sicherung von Arbeitsplätzen führen.
Deshalb haben wir uns entschlossen - Kanzler
Schröder hat das im März in seiner Regierungserklärung
verkündet -, das KfW-Programm zur energetischen Gebäudesanierung in 2006 und 2007 weiter mit jährlich
360 Millionen Euro zu unterstützen. Damit stoßen wir
Investitionen in Höhe von circa 5 Milliarden Euro an
({0})
und es werden etwa 35 000 bis 40 000 Arbeitsplätze im
Baugewerbe und im vor- und nachgelagerten Bereich
gesichert oder neu geschaffen.
({1})
Bei den Energieausweisen ist klar: Sie müssen zentrale Kriterien erfüllen. Sie müssen einfach erstellt werden können, für den Verbraucher leicht verständlich sein
und der Preis muss stimmen. Wichtig ist auch, dass die
Anforderungen an die Qualifikation der Fachleute angemessen sind.
Wenn uns eine optimale Gestaltung dieser Ausweise
gelingt, kann der Ausweis das Schlüsselelement einer
modernen Informationspolitik zum energiesparenden
und umweltgerechten Bauen werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beratungen in
den Ausschüssen geben Gelegenheit, über den engeren
formalen Rahmen der Gesetzesänderungen hinaus die
inhaltlichen Grundsätze und Eckpunkte gerade bei den
Energieausweisen für den Gebäudebestand zu erörtern.
Mit dem Gesetzentwurf, der heute vorgelegt wird, legen wir den Grundstein zur Umsetzung der EU-Gebäuderichtlinie. Ich möchte Sie schon heute um eine breite
Unterstützung dieser Vorlage bitten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Thomas Dörflinger, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem
Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten,
schaffen wir sozusagen den rechtlichen Rahmen für die
Umsetzung der erwähnten EU-Richtlinie, aber wir nehmen mit der Schaffung des Rechtsrahmens auf Basis des
Regierungsentwurfs, wie er uns vorliegt, in einigen
Punkten auch Weichenstellungen vor; insofern unterscheiden wir uns etwas, Herr Staatssekretär. Über diese
Weichenstellungen müssen wir, wenngleich man unterschiedlicher Auffassung darüber sein kann, ob sie qualitativ hoch oder weniger hoch anzusiedeln sind, in den
Beratungen reden.
Wir sind uns sicher über das Ziel Energieeinsparung
völlig einig. Angesichts von Kioto und Rio ist diese
Frage in diesem Hause sicherlich keiner Debatte wert.
Ich signalisiere einmal mehr für die Unionsfraktion im
Deutschen Bundestag die Bereitschaft zu konstruktiver
Mitarbeit an diesem Gesetzentwurf wie auch bei den Beratungen zum Energiepass. Das habe ich auch schon bei
der ersten Lesung eines von uns eingebrachten Antrags
getan, der zum Inhalt hatte, sich darüber Gedanken zu
machen, wie wir den Energiepass inhaltlich ausgestalten
sollen. Nun haben wir allerdings mit einigem Missmut
zur Kenntnis genommen, dass die Beratung dieses Antrags im zuständigen Ausschuss und im Plenum des
Deutschen Bundestages nicht fortgesetzt wurde. Jetzt ist
uns auch klar, warum: Sie mussten Zeit gewinnen, damit
der Bundeskanzler am 17. März in seiner Regierungserklärung das KfW-Programm ankündigen und sich quasi
als Erfinder des Pulvers darstellen konnte. Die Abfolge
der Dinge war eine andere. Wir beide, Herr Kollege
Fischer, wissen das, nehmen das aber so zur Kenntnis.
Gegenstand unseres damaligen Antrags war, dass wir
uns auch die Erfahrungen in anderen europäischen Staaten, die diese Richtlinie schon umgesetzt haben, vor Augen führen, um davon bei ihrer Umsetzung hierzulande
zu profitieren. Wir hätten uns auch gewünscht und wünschen es uns nach wie vor, die Erfahrungen aus den
Feldversuchen der Dena und des GdW-Bundesverbandes
deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen
quasi synoptisch nebeneinander zu legen, um so zusammen mit den in anderen europäischen Staaten gesammelten Erfahrungen eine vernünftige Grundlage zu haben,
wenn wir anschließend darangehen, die Dinge in nationales deutsches Recht umzusetzen. Ich erinnere an die
Beratungen zum Europarechtsanpassungsgesetz Bau, wo
sowohl die Bundesregierung als auch die Berichterstatter
der im Bundestag vertretenen Fraktionen in einer, wie
ich fand, sehr konstruktiven Atmosphäre dafür gesorgt
haben, dass eine Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen Rechts in das nationale Recht geschah, und wünsche mir, Herr Staatssekretär, dass wir das hier auch machen. Ich werde an einigen Punkten versuchen,
nachzuweisen, dass Sie bereits mit dem Gesetzentwurf,
der uns heute zur Beratung vorliegt, über diese Eins-zueins-Umsetzung hinausgehen. Weil wir in vielen anderen
Bereichen berechtigterweise davon reden, europäisches
Recht auch mit Blick auf diejenigen, die davon betroffen
sind, nicht zuletzt in der Wirtschaft, eins zu eins umzusetzen und nichts hinzuzufügen, sollten wir auch bei
dem vorliegenden Gesetz keine Ausnahme machen.
Bei der Materie, die wir heute beraten, haben wir den
klassischen Fall, dass ein Erfolg erst dann sichtbar wird,
wenn das, was wir hier gesetzgeberisch tun, bei den Betroffenen - das ist letztlich der einzelne Bürger oder die
einzelne Bürgerin, der oder die ein Haus besitzt - Akzeptanz findet.
({0})
Deswegen halte ich es schon für ein bisschen übertrieben, wenn gleich mit dem § 8 „Bußgeldvorschriften“ die
Kostenkeule geschwungen wird. Ich muss doch den
Leuten zunächst einmal erklären, was ich mache, warum
ich es mache, was das Gesetz zum Inhalt hat und was es
für den Verbraucher oder die Verbraucherin möglicherweise für Vorteile, auch ökonomischer Natur, hat. Nachdem ich dann auch die Sanktionsmöglichkeiten erklärt
habe, kann ich eventuell mit dem Bußgeld kommen.
Diese Materie hat zwar unter den Fachleuten dieses
Hauses und auch auf Verbandsseite eine recht breite Öffentlichkeit gefunden - da stimme ich Ihnen zu, Herr
Staatssekretär -, aber diejenigen, die es schlussendlich
angeht, nämlich der einzelne Hausbesitzer oder die einzelne Hausbesitzerin, sind nicht im Bilde, was da auf sie
zukommt. Deswegen wäre es schön, wenn das die Bundesregierung, die ja ansonsten in Sachen Öffentlichkeitsarbeit sehr fleißig ist, zum Anlass nehmen würde, eine
breite Informationskampagne zu starten, die sich gerade
an die Adresse von Hausbesitzerinnen und Hausbesitzern richtet, damit diese wissen, was möglicherweise auf
sie zukommt, und sich mit dieser Materie vertraut machen können.
({1})
Wir versprechen uns ja - ich komme noch einmal auf die
Beratung im Rahmen der ersten Lesung unseres Antrags
zurück - von diesem Gesetz und dem Energiepass nicht
nur einen ökologischen, sondern letztlich auch einen arbeitsmarktpolitischen Effekt. Der arbeitsmarktpolitische
Effekt entsteht allerdings nur dann, wenn wir die Akzeptanz der Betroffenen - nicht nur der Wirtschaft, sondern
auch der Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer - für das,
was wir tun, finden.
Jetzt komme ich zu den Punkten, bei denen ich den
Eindruck habe, dass hier über das europäische Recht hinausgegangen wird. Erster Punkt. Sie regeln in § 5 a den
Zeitpunkt für Ausstellung und Aktualisierung der Energieausweise. Wie wäre es denn gewesen, wenn wir in
Punkt 3 die Gültigkeitsdauer der Energieausweise beschrieben und festgelegt hätten? Damit hätte sich die
Aktualisierung von Energieausweis und Kennwerten erübrigt, da sie sich durch die Gültigkeitsdauer und den
Ablauf der Gültigkeit quasi ergeben hätte. So einfach
können die Dinge manchmal sein. Statt dass wir es uns
schwer machen, indem wir eine große gesetzgeberische
Aktion starten, die anschließend nur bedingte Akzeptanz
findet, sollten wir es uns lieber einfach machen.
({2})
Zweiter Punkt. Die europäische Richtlinie spricht
ausdrücklich von Kostengünstigkeit der Empfehlungen
für Verbesserungen der Energieeffizienz. Das Wort „kostengünstig“ findet sich im Regierungsentwurf nicht. Ich
bedaure das. Denn insbesondere für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist das Wort „kostengünstig“ an
dieser Stelle elementar, da Akzeptanz nur dann gegeben
ist, wenn der Energieausweis für den Verbraucher und
die Verbraucherin eben nicht mit überbordenden Kosten
verbunden ist.
Dritter Punkt. In Punkt 6 des § 5 a ist geregelt, dass
- das hat mich, ehrlich gesagt, etwas erheitert - der
Energieausweis Behörden und - so wörtlich - „bestimmten Dritten“ zugänglich gemacht werden muss. In Bezug
auf Behörden ist das in Ordnung. Nur, wer in drei Teufels Namen sind „bestimmte Dritte“? Sind das Sie oder
ein anderer oder ist das mein Nachbar oder meine Familie? Wer sind „bestimmte Dritte“? Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Wie wäre es gewesen, wenn wir
in das Gesetz geschrieben hätten, dass der Energieausweis potenziellen Käufern oder potenziellen Mietern zugänglich gemacht werden muss? So einfach und klar definiert hätte das sein können; damit wäre der Fall erledigt
gewesen.
({3})
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, der nicht
ganz unerheblich ist und den der Gesamtverband der
Wohnungswirtschaft zu Recht erwähnt hat, nämlich die
Frage, ob wir im Gesetz eine mögliche Auswirkung des
Gesetzes auf das Mietrecht regeln müssen. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Begründung zum Gesetzentwurf, eine solche Regelung sei nicht notwendig, weil
Käufer und Verkäufer bzw. Mieter und Vermieter das in
ihrem Vertragsverhältnis regeln könnten. Das ist so weit
nicht falsch. Nur, was passiert, wenn sie es nicht tun?
Was passiert, wenn Käufer und Verkäufer diese Regelung in ihrem Kaufvertrag nicht treffen? Dann greift
§ 311 Bürgerliches Gesetzbuch, wenigstens nach meiner
rechtlichen Auffassung. Dann entsteht letztendlich möglicherweise die Forderung nach Schadensersatz aus diesem Vorgang. Deswegen wäre es der sauberere Weg,
wenn wir in § 5 a beispielsweise einen Absatz einfügten,
in den wir hineinschreiben, dass der Energieausweis
- wie es übrigens auch in der Richtlinie steht - eine Informationsfunktion für den Käufer und den Verkäufer
bzw. den Mieter und den Vermieter hat, dass er aber in
Bezug auf den Kaufvertrag keine rechtliche Wirkung
entfaltet. Dann wären die Dinge klar.
Zum Schluss, meine Damen und Herren, noch einmal
die herzliche Bitte, dass wir uns bei der Umsetzung von
europäischem Recht in nationales Recht am Maßstab
eins zu eins orientieren und nicht darüber hinausgehen.
Ich signalisiere gerne für meine Fraktion, sowohl was
diesen Gesetzentwurf als auch was die zukünftige konkrete Beratung über den Energieausweis angeht, eine
konstruktive Mitarbeit - aber, wie gesagt, orientiert an
einem Eins-zu-eins-Maßstab und an der Praxis, wie wir
sie seinerzeit beim EAG Bau miteinander gepflegt haben.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist eine gute Debatte, weil das Thema Klimaschutz
am Bau eigentlich fraktionsübergreifend und wohl auch
in weiten Teilen der Gesellschaft und der Wirtschaft ein
Konsensthema, ein Win-Win-Thema ist. Außerdem ist
Energiesparen im Baubereich ganz elementar in Bezug
auf die Bauwirtschaft und die Arbeitsplatzsituation.
Rot-Grün hat in den vergangenen Jahren schon sehr
viel in diesem Bereich getan. Wir haben im Jahr 2001
die Energieeinsparverordnung in der heutigen Form eingeführt. Wir haben ein sehr umfassendes GebäudesanieFranziska Eichstädt-Bohlig
rungsprogramm auf den Weg gebracht, das wir im Jahre
2003 erweitert haben. Dieses Programm ist ein ganz
wichtiger Faktor für unsere Bauwirtschaft und dient der
Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Wir haben ferner die Mittel für die Energieforschung
aufgestockt. Wir haben die Energieberatung vor Ort, die
wir für sehr wichtig halten, sowie die Information in
den entsprechenden Fachzeitschriften für Bauherrn, Ingenieure und Handwerker bewusst ausgeweitet. Herr
Kollege Dörflinger, Sie sehen also, dass wir seit langem
an diesem Thema dran sind. Wir alle sind sehr daran interessiert - wir werden das auch tun -, die Anstrengungen auf dem Gebiet der Informationsweitergabe zu verstärken.
({0})
Schon 2001 habe ich gesagt, dass sich die Energieeinsparverordnung dann durchgesetzt hat, wenn man in den
Immobilienannoncen nicht nur lesen kann, wie groß eine
angebotene Wohnung ist und ob sie über eine Terrasse
verfügt, sondern auch die Information über die energetische Qualität der Wohnung findet. Ich war schon damals
davon überzeugt, dass es von diesem Tag an eine regelrechte Revolution im Immobilienbereich geben wird.
Denn diese Annoncen sind ein deutlicher Beleg, dass das
Thema Energieeinsparung für die Immobilienwirtschaft,
für Vermieter und Mieter sowie für Verkäufer und Käufer in den Vordergrund gerückt ist.
Ich freue mich also, dass wir heute an diesem Punkt
sind. Es gibt zwar noch Dissens im Detail. Darüber werden wir in der anstehenden Beratung zur Änderung des
Energieeinsparungsgesetzes reden müssen. Beispielsweise müssen wir an der Ausgestaltung des Energieausweises noch intensiv arbeiten. Wir wissen, dass wir noch
längst nicht auf einem gemeinsamen Nenner sind. Aber
im Grundsatz sind wir alle für die Umsetzung der EUGebäuderichtlinie. Sie ist sehr zielgerichtet und wird
uns, was den Klimaschutz und die Arbeitsplätze am
Bau angeht, deutlich nach vorne bringen. Ich wünsche
mir, dass sie so ausgestaltet wird, dass sie einen Impuls
für die Bauwirtschaft und für die Immobilienwirtschaft
in Bezug auf eine Modernisierung der Gebäude bringt,
die wir brauchen.
({1})
In diesen Zusammenhang gehört auch - dieser Punkt
wird viel zu wenig beachtet -, dass in Zukunft an öffentlichen Gebäuden, bei denen es eben nicht um Mieten
und Vermieten bzw. um Kaufen oder Verkaufen geht,
kenntlich gemacht wird, wie deren energetische Qualität
ist. Ich glaube, auch in diesem Bereich muss es den
wichtigen Impuls zur Sanierung und damit zur energetischen Optimierung geben. So entsteht auch bei diesen
Gebäuden eine Win-Win-Situation: Sparen bei den Energiekosten, bei den Heizkosten und Nebenkosten, und im
Gegenzug investieren!
Da meine Redezeit nur sehr kurz ist, will ich jetzt zu
den einzelnen Punkten nichts im Detail sagen. Darüber
werden wir noch im Ausschuss beraten. Ich würde mich
freuen, wenn wir parteiübergreifend zu einem Konsens
kommen würden und wenn es das sonst übliche Hickhack zwischen Koalition und Opposition nicht geben
würde. Dies würde der Sache sehr gut tun.
Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen, dass für
den öffentlichen Bereich der wirtschaftliche Impuls sehr
wichtig ist. Gerade dort muss investiert werden. Wir
sollten gemeinsam daran arbeiten - ich hoffe, dass auch
der Bundesrat mitspielt -, dass das Konzept entsprechend ausgestaltet wird und dass wir optimale Bedingungen für Investitionen bekommen. Unsere Bauwirtschaft und unsere Immobilienwirtschaft - bei der wir
noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten müssen brauchen diesen Modernisierungsschub, der mit der
energetischen Optimierung der Gebäude einhergeht.
In dem Sinne hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit
zwischen Regierung, Koalition, Opposition und last, not
least Bundesrat. Das täte der Sache gut und würde die
öffentliche Meinung über unsere Arbeit verbessern.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf der Novelle zum Energieeinsparungsgesetz soll die EU-Richtlinie zur Gesamtenergieeffizienz
von Gebäuden umsetzen. Das ist löblich. Die Experten
sagen ganz eindeutig: Im privaten Bereich lassen sich bis
zu 25 Prozent an Energie problemlos einsparen. Da
sollte man auch wirklich rangehen.
Das Vorhaben ist beim Bauministerium und beim
Wirtschaftsministerium in Kooperation und nicht beim
Umweltministerium angesiedelt, obwohl ein weiteres
Vorhaben zur Umsetzung dieser EU-Richtlinie, nämlich
das Erneuerbare-Wärme-Gesetz, gleichzeitig beim BMU
erarbeitet wird. Die Tranchierung auf mehrere Ministerien lässt vermuten, dass die Regierung daraus ein größtmögliches Konjunkturprogramm machen will. Das ist
ja nicht von Schaden.
({0})
Wir befürchten aber gleichzeitig, dass es dann nicht bei
einem schmalen Energieausweis bleibt. Wir fordern aber
ganz rigoros ein, dass es kein monströser, ins Detail gehender, restriktiver Ausweis wird.
({1})
Das ist unsere ganz klare Botschaft.
Des Weiteren bemängeln wir, dass das gesamte Gesetzesvorhaben nicht in ein klimapolitisches Gesamtkonzept eingebunden ist. Darauf komme ich gleich noch zu
sprechen. Hauptsächlich regelt die Novelle, dass der
schon angesprochene Energiepass eingeführt wird. Er
kann - das ist ganz klar - zu mehr Energieeffizienz führen. Nach unserer Auffassung kann er aber nur ein erster
Baustein für mehr Transparenz im Energiebereich sein,
sodass der Verbraucher weiß, wie es um die Energieeffizienz seiner Immobilie steht. Vor allem aber kann der
Ausweis zu einem bewussteren und zu einem selbstbestimmten Umgang mit Energie im Hausbereich führen.
Ich denke, letztlich ist das aber im Ermessen der Bewohner. Man kann technisch alles richtig machen, man kann
von Gesetzes wegen alles richtig machen, aber man kann
den Verbraucher nicht dressieren. Insofern kann noch etwas schief gehen.
({2})
Dieser Energiepass ist im Moment von noch nicht so
guter Kontur, dass er schon das Prädikat „gut“ erhalten
sollte. Ich meine, wir müssen daran noch arbeiten. Im
Moment hilft es auch nicht, darüber zu debattieren, ob
der Ausweis kennwertbasiert oder referenzbasiert sein
soll. Vielmehr müssen wir die grundlegende Schwäche
des Gesetzes ausmerzen. Wir müssen eine Verbindung
zum Emissionshandel und die Einbindung in das klimapolitische Gesamtkonzept schaffen, anstatt - wie aus unserer Sicht mit dem EEG geschehen - den Emissionshandel in seiner Wirkung auszubremsen.
({3})
Deshalb wollen wir dazu auch weitere Vorschläge erarbeiten. Die Überraschung mache ich Ihnen dann in der
nächsten Rede.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Groneberg, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ach, Frau Brunkhorst, wir lieben Überraschungen. Was
wäre das Leben ohne Überraschungen? Es wäre doch eigentlich todlangweilig.
Ich habe in der Debatte heute Abend große Übereinstimmung gesehen. Herr Dörflinger, Frau Brunkhorst,
wenn wir - ich sage das einmal so - unter Baufachleuten
über solche Themen reden, haben wir eigentlich immer
einen vernünftigen Umgang miteinander und kommen
auch zu vernünftigen Ergebnissen. Über die Anregungen, die Sie heute gemacht haben, werden wir dann noch
in Ruhe reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Letzten beißen
die Hunde. Wenn man bei einem solchen einvernehmlichen Thema als Letzte reden soll, bleibt ja gar nicht
mehr viel. Trotzdem möchte ich einmal festhalten, dass
wir die Novellierung des Gesetzes und die Beratungen
zur Verordnung zügig durchführen werden, um die vollständige Umsetzung der Gebäuderichtlinie in deutsches
Recht rechtzeitig zum 4. Januar 2006 zu gewährleisten.
Einiges von dem, was in der Gesamtenergieeffizienzrichtlinie gefordert wird, ist bereits Bestandteil unserer
Gesetzgebung bzw. unserer Verordnungen. Insofern wird
das nicht das Problem sein.
Die Einzelheiten der Änderungen sind schon von
Herrn Großmann ausführlich dargelegt worden.
Der Knackpunkt, an dem sich mit Sicherheit Diskussionen entzünden werden, ist der Energieausweis, den
es bereits für neue Gebäude gibt, der jetzt aber auch für
Gebäude im Bestand eingeführt werden soll und der
Käufern und Mietern einen Menge Informationen bieten
und insofern Transparenz schaffen wird, die wir uns alle
doch eigentlich wünschen.
Ich frage mich manchmal, warum man sich, wenn
voller Elan über einen solchen Pass diskutiert wird, darüber so vehement aufgeregt. Als ob wir etwas ganz
Schlimmes tun würden! Kühlschränke und Waschmaschinen werden schon seit langem klassifiziert. Schauen
Sie sich einmal das Käuferverhalten an: Die Leute kaufen nicht generell das billigste Gerät. In der Werbung
wird als Erstes auf die Energieeffizienz der Geräte hingewiesen.
({0})
Warum machen wir uns - Frau Eichstädt-Bohlig hat dies
ausdrücklich erwähnt - nicht das Wissen und die Bereitwilligkeit zunutze, die schon bei den Nutzern existieren,
um diesen Pass zu einem Erfolgserlebnis zu machen?
Frau Brunkhorst, was ist daran schlecht, wenn dies dann
auch noch ein wirklich gutes Konjunkturprogramm
wird?
Herr Dörflinger, es ist nicht so, dass wir Ihren Antrag
auf die lange Bank geschoben haben. So alt ist er ja noch
nicht. Bisher hat noch keiner dessen Aufsetzung im Ausschuss gefordert. Wir werden ihn, denke ich, zusammen
mit dem Gesetzentwurf beraten. Ich glaube, dass Ihre
Vorstellung, wir hätten mit der Beratung Ihres Antrages
so lange gewartet, bis wir mit der Regierungserklärung
durch sind, vollkommen fehlgeleitet ist. Wir haben unter
uns schon lange darüber diskutiert, wie und mit welchen
Mitteln wir eine Ausweitung des erfolgreichen KfWProgramms vornehmen können. Wenn Sie es gut finden,
dass wir der Konjunktur und der Bauwirtschaft helfen
wollen, wenn Sie es gut finden, dass wir Mietern und
Vermietern Sicherheit geben wollen, dann werden wir
auch zu einem guten Ergebnis kommen.
Ich setze schon voraus, dass wir eine Eins-zu-einsUmsetzung der Richtlinie vornehmen. Ich sehe es nicht
so, dass die Punkte, die Sie genannt haben, über eine
Eins-zu-eins-Umsetzung hinausgehen. Das kann ich mir
im Moment nicht vorstellen. Wir werden aber im Ausschuss in Ruhe darüber reden.
Besonders interessant finde ich, dass wir so nahe beieinander sind, wenn wir über die Ziele des Klimaschutzes reden. Frau Brunkhorst, Ihre Kritik, dass wir hier
kein Konzept haben, ist einfach nicht richtig.
({1})
Ein Ziel unserer Regierung und unserer Koalition - daran haben wir vehement gearbeitet - ist der nachhaltige
Klimaschutz. Die jetzige Energieeinsparverordnung ist
ein zentrales Element der Energie- und Klimaschutzpolitik der Bundesregierung. Sie selber wissen: Sie dient
ebenso der Daseinsvorsorge und gibt in Zukunft noch
mehr wichtige Impulse für die Baukonjunktur. Wir haben also ein Gesamtkonzept und der Energiepass passt
hier hervorragend hinein. Wir gehen davon aus, dass
dies zu einem Innovationsschub führen wird, der den
Beschäftigten in der Bauwirtschaft ganz massiv zugute
kommen wird. Mit der Gesetzgebung, die wir vorhaben,
schlagen wir schlichtweg zwei Fliegen mit einer Klappe,
indem wir diese beiden Elemente miteinander kombinieren.
Herr Dörflinger, eines muss ich noch loswerden: Sie
haben in Ihrem Antrag im Zusammenhang mit der Diskussion über den Gebäudepass von der Bundesregierung
eine Reihe von Berichten abgefordert. Ich möchte an
dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir es uns nicht leisten können, nicht leisten sollten und nicht leisten wollen,
durch ein Einfordern all dieser Berichte das Risiko einzugehen - Sie sind anscheinend bereit, ein solches
einzugehen -, dass sich Verzögerungen bei der zeitlichen
Umsetzung ergeben. Ich glaube, wir sollten zügig an die
Beratungen gehen. Wir können dies schaffen. Der Tatsache, dass uns Informationen zur Verfügung gestellt werden müssen, wird in der Regel nachgekommen. Seien
Sie ehrlich: Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen des Ministeriums war doch - Sie
selber haben die Baugesetzgebung erwähnt - hervorragend.
({2})
Bringen wir es also zügig über die Bühne! Ich glaube,
wir werden ein sehr gutes Ergebnis bekommen. Es wäre
schön, wenn wir die Entscheidung einvernehmlich hier
im Hause treffen könnten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zu so später
Stunde.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/5226 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({0}), Angelika Krüger-Leißner,
Gudrun Schaich-Walch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ursula Sowa, Volker Beck ({1}), Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Künstlersozialversicherung
- Drucksache 15/5119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Die Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Silvia
Schmidt, Matthias Sehling, Vera Lengsfeld, Birgitt
Bender und Hans-Joachim Otto haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. April 2005,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.