Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, sich zu erheben.
({0})
Im Alter von 80 Jahren ist am 7. März 2005 Walter
Arendt gestorben. Er war von 1961 bis 1980 Mitglied
des Deutschen Bundestages und von 1961 bis 1969 zugleich Abgeordneter im Europaparlament. Von 1969 bis
1976 amtierte er als Minister für Arbeit und Sozialordnung in den Kabinetten Brandt und Schmidt.
Walter Arendt war seiner Heimat im Ruhrgebiet eng
verbunden. Wie schon sein Vater ergriff er den Beruf des
Bergmanns. Nach seiner Zeit als Soldat und der anschließenden Kriegsgefangenschaft studierte er an der
Akademie für Arbeit in Frankfurt am Main sowie an der
Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Er engagierte sich in der IG Bergbau, deren Vorsitz er 1964
übernahm. In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nahm Walter Arendt zahlreiche Funktionen wahr.
Als einer der führenden Energie- und Sozialexperten hat
er sich stets für den Erhalt der deutschen Montanindustrie engagiert.
Sowohl als Parlamentarier wie später auch als Minister blieb Walter Arendt seinen Wurzeln und seinen Werten verpflichtet. Es war ihm ein Anliegen, insbesondere
die Interessen von Bergleuten und sozial Benachteiligten
zu vertreten. In seiner Zeit als Mitglied der Bundesregierung reformierte er das Betriebsverfassungsgesetz,
führte kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen ein und
verbesserte die soziale Absicherung von Kriegsopfern.
Walter Arendt hat das Gesicht unserer sozialen Marktwirtschaft entscheidend mitgeprägt.
Sie haben sich zu Ehren Walter Arendts erhoben; ich
danke Ihnen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergebnisse der Sitzung der Bund/Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung am 14. März
2005 - Auswirkungen auf Wissenschaft und Forschung
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({3}), Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: „Meer für
Morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft
- Drucksache 15/5099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
({7})
Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streit-
sachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/5114 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({8}) zu der Streitsache vor
dem Bundesverfassungsgericht - 1 BvR 357/05
- Drucksache 15/5113 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({9})
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: DNA-Reihentests auf sichere Rechtsgrundlage stellen
- Drucksache 15/4695 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Innenausschuss
ZP 5 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts
- Drucksache 15/4834 ({11})
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
({12})
- Drucksache 15/5133 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß
Helmut Heiderich
Ulrike Höfken
Dr. Christel Happach-Kasan
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({13}) zu dem Antrag der Abg. Helmut
Heiderich, Peter H. Carstensen ({14}), Marlene
Mortler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU: Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollständigen
- Drucksachen 15/4828, 15/5134 Berichterstattung:
Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß
Helmut Heiderich
Ulrike Höfken
Dr. Christel Happach-Kasan
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Darüber hinaus sollen folgende Tagesordnungspunkte
umgestellt werden: Tagesordnungspunkt 8 - Menschenrechte - nach Punkt 4, Tagesordnungspunkt 10 - Arzneimittelgesetz - nach Punkt 7, Tagesordnungspunkt 5 - Änderung des Einführungsgesetzes zum BGB - nach Punkt 9
sowie die Gesetzentwürfe unter Tagesordnungspunkt 20
nach Punkt 21.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Sodann möchte ich nachträglich dem Kollegen
Volker Kröning, der am 15. März seinen 60. Geburtstag
feierte, die besten Wünsche des Hauses aussprechen.
({15})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Deutschlands Kräfte stärken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor fast genau zwei Jahren habe ich im Deutschen Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Die
Agenda 2010 ist die Antwort auf zwei große Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft wie viele andere
Gesellschaften in Europa ausgesetzt ist: zum einen der
Herausforderung, die mit der Globalisierung unserer
Wirtschaft und damit der Globalisierung des Wirtschaftens zusammenhängt, und zum anderen einem radikal
veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft.
Mir liegt daran, dass klar wird: Die Agenda 2010 ist
ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen Sozialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt
unserer Gesellschaft zu sichern.
({0})
Sie ist ein notwendiges Instrument; denn der Zusammenhalt unserer Gesellschaft lässt sich nur dann sichern,
wenn wir zu Veränderungen in der Politik bereit sind.
Die Veränderung schafft die Möglichkeit des Bewahrens; denn das, was über Generationen in Deutschland
von einer jetzt älter gewordenen Generation aufgebaut
worden ist, hat es verdient, bewahrt zu werden.
Aber genauso klar muss sein - angesichts der letzten
Debatten muss das immer wieder deutlich gemacht
werden -: Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist kein Luxus, den man in schwieriger werdenden
Zeiten beiseite schaffen könnte.
({1})
Solidarität in einer Gesellschaft - das Einstehen der
Starken für die Schwachen, der Gesunden für die Kranken und der Jungen für die Alten - ist gewiss eine Tugend. Sie ist aber zugleich auch Voraussetzung des ökonomischen Erfolgs in den entwickelten Gesellschaften
Europas.
({2})
Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft
infrage stellt, wer soziale Kohäsion als überflüssiges
Zierwerk in guten Zeiten betrachtet, der stellt eben nicht
nur wichtige Errungenschaften von Politik und Gesellschaft in unserem Land infrage, nein, er ist vielmehr dabei, den inneren Frieden zu zerstören. Der innere Frieden
ist nicht zuletzt ein ökonomisches Datum, eine Voraussetzung auch dafür, erfolgreich und effizient zu produzieren.
({3})
Die Agenda 2010 ist gewiss ein anspruchsvolles Reformprogramm, das - der Name bringt das schon zum
Ausdruck - weit über die gegenwärtige Legislaturperiode hinausreicht. Die Agenda 2010 will Wirklichkeit
gestalten und sie will verändern. Sie ist deshalb mit
einem Reformbegriff verbunden, der sich eben nicht in
Gesetzesbeschlüssen - ob im Bundestag oder Bundesrat - erschöpft, sondern bei dem es darum geht, die
Wirklichkeit in Deutschland zu verändern. Deshalb ist es
so wichtig, dass als Teil der Reformen, die mit dem Begriff „Agenda 2010“ bezeichnet werden, nicht zuletzt
die Umsetzung dieser Reformen gemeint ist und keineswegs nur das Beschließen von entsprechenden Gesetzen.
({4})
Der Gesetzesbeschluss - so begriffen bei der Gesundheitsreform, bei der Rentenreform, vor allen Dingen aber
bei der Arbeitsmarktreform - ist die Voraussetzung für
den Reformprozess; er ist der Anfang, aber keineswegs
dessen Ende.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich
darauf eingehe, welche Wirkungen die Agenda 2010
entfaltet hat, ist es schlicht unumgänglich, Bemerkungen
zur Lage auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Es ist gar
keine Frage, dass die Zahlen, mit denen wir konfrontiert
worden sind, uns alle bedrücken müssen. Mehr als
5 Millionen Arbeitslose, die im Februar gezählt worden
sind, sind die ernsthafteste Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft steht.
({5})
Aber klar muss auch sein: Gerade wenn man das als
ernsthafte Herausforderung begreift - und das tun wir
alle -, dann ist es erforderlich, aufklärerisch tätig zu werden, was denn diese Zahlen im Einzelnen begründet. Wir
haben steigende Zahlen der Erwerbstätigen.
({6})
Wir rechnen 2005 mit mehr als 300 000 zusätzlichen Erwerbstätigen. 2004 waren es 140 000. Ich erwähne das
nicht, um die andere Zahl zu relativieren, die ich genannt
habe. Ich sage aber, dass der Reformprozess, den wir in
Gang gesetzt haben und der in etlichen Bereichen gerade
zwei Monate alt ist, gleichwohl zu greifen beginnt.
({7})
Es bleibt dabei: Niemand darf über die Zahl von über
5 Millionen gezählten Arbeitslosen hinwegsehen oder
sie sogar zu bagatellisieren versuchen. Es ist wichtig,
den Menschen in Deutschland, die nicht zuletzt wegen
dieser Zahl Verunsicherung spüren, zu erklären, wie sie
denn zustande kommt. Allein im Januar dieses Jahres
sind 360 000 Menschen zusätzlich in die Arbeitslosenstatistik gekommen. Das waren nun keineswegs neue
Arbeitslose, sondern es waren Menschen, die bislang in
der Sozialhilfestatistik geführt worden sind. Es waren
Menschen, die - obwohl erwerbsfähig - keinerlei Angebote an Erwerbsarbeit bekommen haben. In den großen
Städten Deutschlands ist die Zahl der erwerbsfähigen
Sozialhilfeempfänger - das ist eine Zahl des Statistischen Bundesamtes, nicht meine - im Durchschnitt um
sage und schreibe 95 Prozent reduziert worden. Dies
sind Menschen, die keine Arbeit hatten und die man in
die Sozialhilfe gedrängt hatte, ohne ihnen eine Perspektive zu geben. Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gelingt es uns zunächst, deutlich zu machen, dass wir sie als Menschen begreifen, die
nicht vergessen sind,
({8})
als Menschen begreifen, die wir brauchen und denen wir
über Qualifizierung und Angebote eine Perspektive für
ein Leben ohne staatliche Unterstützung geben wollen.
Ich weiß, dass das ein ungemein schwieriger Prozess
sein wird. Aber es ist einer, der schon aus dem Grund
unternommen werden muss, weil die Hälfte dieser Menschen Jugendliche unter 25 Jahre sind. Es kann doch
nicht richtig sein, dass wir sie einfach in der Sozialhilfe
abgedrängt liegen lassen, zwar notdürftig versorgt, aber
ohne Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben. Ich
will das jedenfalls nicht.
({9})
Wir haben mit den Reformen, die gemeinhin als
„Hartz-Reformen“ bezeichnet werden, den ernst gemeinten und ernsthaften Versuch gemacht, diese und andere Menschen in die Arbeitsmärkte einzugliedern. Wir
setzen auf das Prinzip des Förderns, aber auch des Forderns. Diejenigen, um die es geht, werden Angebote erhalten - es sind nicht immer solche, die sie erwarten -,
das zu tun, zu dem sie in der Lage sind, um für sich und
ihre Familien ein Einkommen und Auskommen durch
Arbeit zu schaffen. Wir haben deutlich gemacht, dass zumutbare Arbeit in Deutschland auch von denjenigen geleistet werden muss, die sich in Deutschland legal aufhalten. Das werden wir durchsetzen. Die HartzReformen, die wir eingeleitet haben, sind zu genau diesem Zweck gemacht worden.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur Bundesagentur für Arbeit: Die frühere Bundesanstalt für Arbeit mit mehr als 90 000 Beschäftigten war eine Organisation, bei der 10 Prozent derer, die dort tätig gewesen
sind, mit Vermittlung in den Arbeitsmarkt beschäftigt
waren, 90 Prozent der dort Tätigen dagegen mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Das war kein Zustand, der
aufrechterhalten werden konnte. Die Zusammenlegung
der beiden sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat den Zweck, diesen Zustand zu beenden.
Man kann ihn nur beenden, wenn sich die Art und
Weise, wie diese Agentur arbeitet, von Grund auf ändert,
({10})
wenn Vermittlung und nicht Betreuung im Vordergrund
steht.
Wir sind vorangekommen. Im Januar mussten Hunderttausende von Anträgen auf Arbeitslosengeld II geprüft und beschieden werden. Erinnern wir uns: Manch
einer hat geglaubt, dass das von denen, die in der Agentur beschäftigt sind, nicht zu leisten sei. Aber es ist doch
geleistet worden. Ich finde, an dieser Stelle ist auch ein
Wort des Dankes wegen des Arbeitseinsatzes dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angebracht.
({11})
Wir werden erreichen, dass die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und den Agenturen vor Ort besser als
in der Vergangenheit wird. Aber auch das ist eine Umstellung, die bewältigt werden muss. Wir werden und
wir müssen erreichen, dass sich die Motivation der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - es sind über 90 000 15486
ändert, dass sie wegkommen von Betreuung und hinkommen zur aktiven Vermittlung derer, die ihnen anvertraut sind.
In diesem Zusammenhang Folgendes: Es ist leicht,
über diejenigen zu lästern, die diese Arbeit zu tun haben.
Ich kenne nicht viele Unternehmen großen Zuschnitts,
die eine so gewaltige Umstellung dessen, was sie Kerngeschäft nennen, in dieser Zeit mit diesen Erfolgen erreicht haben. Ich wiederhole: Ich kenne nicht viele Unternehmen.
({12})
Wer über den Arbeitsmarkt spricht, muss über Ausbildung in Deutschland reden. Wir haben in diesem
Haus vielfach darüber diskutiert und auch gestritten. Wir
sind schließlich dazu gekommen, zu sagen: Es ist nicht
zuletzt die Verantwortung der Wirtschaft, für den eigenen Nachwuchs zu sorgen.
({13})
Lasst mich deutlich sagen: Wer nicht ausbildet, sägt sich
ökonomisch den Ast ab, auf dem er morgen zu sitzen
hat.
({14})
Ich bin froh darüber, dass es durch eine Kraftanstrengung, und zwar eine gemeinsame von Regierung und
Wirtschaft, gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsverträge auch in den Betrieben deutlich zu steigern. Ich bin
froh darüber, dass es uns gelungen ist, allen, die ausbildungsfähig sind, auch ein Angebot zu machen. Dieser
Prozess muss weitergehen. Die Aufgabe, Ausbildungsplätze zu schaffen, ist nicht zu Ende seit dem letzten
Jahr; sie beginnt in diesem Jahr, und zwar heute und
morgen.
({15})
Ich bin all denen, die sich auf der Seite der Wirtschaft
wie auf der Seite der Politik, insbesondere dem Präsidenten des DIHK und - lassen Sie mich das so sagen Franz Müntefering,
({16})
die Mühe gemacht haben, dankbar für den Erfolg, der in
diesem Pakt steckt.
({17})
Dieser Erfolg ist erzielt worden und er ist gewiss nicht
durch Sie von der Opposition zustande gekommen.
({18})
Es ist ein Erfolg und wir müssen daran anknüpfen.
({19})
Wir haben im Zusammenhang mit der Agenda dann
darüber zu reden, was denn aus den Reformen im
Gesundheitssektor geworden ist. Wenn man sich das
einmal anschaut, dann stellt man doch fest, dass das, was
wir übrigens gemeinsam gemacht haben - das wird ja
gelegentlich gerne vergessen; jedenfalls dann, wenn es
eng wird -,
({20})
positive Wirkungen entfaltet hat. Damit komme ich zu
den Krankenkassen, denn wir müssen darüber reden, wie
wir es hinbekommen, dass die richtigen Konsequenzen
gezogen werden. In 2003 haben die Krankenkassen einen Verlust von nahezu 3 Milliarden Euro gemacht, in
2004 - das steht inzwischen fest - einen Gewinn von
4 Milliarden Euro. Ich sage hier ohne Wenn und Aber:
Dieser Gewinn von 4 Milliarden Euro muss zu großen
Teilen in Form von Beitragssenkungen und damit in
Form von Senkung der Lohnzusatzkosten weitergegeben
werden.
({21})
Er muss weitergegeben werden in Form von Beitragssenkungen und nicht - das sage ich bewusst, obwohl ich
zu Neid nun wirklich unfähig bin - in Form einer Erhöhung der Gehälter der Kassenvorstände.
({22})
Es wird, meine Damen und Herren - das ist auch ein
gemeinsamer Beschluss; ich hoffe, wir vertreten ihn
auch gemeinsam -, zum 1. Juli dieses Jahres zur Umfinanzierung bei Krankengeld und Zahnersatz kommen.
({23})
- Ich höre schon wieder: „Das habt ihr alleine gemacht!“.
({24})
Das ist aber Teil der Gesundheitsreform, meine Damen
und Herren, und wird dazu führen, dass die Betriebe erneut 4,5 Milliarden Euro an Lohnzusatzkosten weniger
zahlen müssen. Ich hoffe, das wird dort auch bemerkt
und zu Einstellungen führen.
({25})
Es ist ja interessant, dass dann, wenn, wie in diesem
Fall, die eine Forderung erfüllt wurde, sogleich die
nächste nachgeschoben wird. Das kann doch nicht sein.
Die Unternehmen haben, wenn ich in diesem Bereich alles zusammennehme, fast 10 Milliarden Euro an potenziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt
zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen,
auch und gerade der mittelständischen. Die Folge davon
dürfen doch nicht Verlagerungsandrohungen sein, sondern die Antwort darauf muss sein, dass mehr Einstellungen vorgenommen werden.
({26})
Zum Arbeitsmarkt gehört auch die Diskussion, die in
den letzten Tagen sehr intensiv in der Presse - das habe
ich sehr wohl mitbekommen - um die Frage geführt
wurde, wie es sich mit dem Kündigungsschutz verhält.
Ich finde, meine Damen und Herren, man sollte sich einmal klar machen, was auf diesem Sektor geleistet worden ist und welche Wirkungen das hat, jedenfalls haben
sollte. Wie ist denn die Lage? In Betrieben unter zehn
Mitarbeitern werden diejenigen, die ab Januar 2004 eingestellt wurden, in Bezug auf die entsprechenden Kündigungsschutzregelungen nicht mitgezählt. Schauen wir
uns jetzt einmal an, welche Möglichkeiten es auf dem
deutschen Arbeitsmarkt gibt. Es wird ja immer gesagt, er
sei kaum flexibel. Das ist vielleicht auch interessant für
diejenigen, die uns zuhören bzw. zuschauen, das wirklich einmal aufgearbeitet zu bekommen:
Unabhängig vom Alter der Person kann jedes Unternehmen jeden zwei Jahre lang befristet einstellen.
Wenn es sich um einen Existenzgründer handelt - es
wird ja zu Recht viel darüber geredet -, dann sind Einstellungen mit einer Befristung von bis zu vier Jahren
möglich. Das heißt, Existenzgründer können jeden vier
Jahre lang befristet einstellen, ohne dass es für die Betreffenden irgendeine Form von Kündigungsschutz gäbe.
Schließlich zur Situation der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die uns ja alle besonders bewegt: Für Personen ab 50 Jahren existiert so gut wie kein
Kündigungsschutz, denn für die ersten zwei Jahre besteht die Möglichkeit, sie befristet einzustellen. Für Personen ab dem 52. Lebensjahr gibt es keine gesetzlichen
Regelungen mehr in Bezug auf befristete Einstellung.
Sie können also unabhängig von den Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse jederzeit eingestellt und entlassen werden, da ein Kündigungsschutz für diese Personengruppe nicht mehr existiert.
Meine Damen und Herren, das sollte eigentlich dazu
führen, dass das Gerede darüber, es habe keinen Sinn,
einen älteren Arbeitnehmer einzustellen, weil man bei
einem schwächeren Betriebsergebnis ihn nicht entlassen
kann, nun endlich aufhört. Hier ist ein Popanz aufgebaut
worden.
({27})
Ich will in dem Zusammenhang eines deutlich machen: Wer geglaubt hätte - wir haben ja alle erwartet,
dass es so kommt -, dass die Lockerung des Kündigungsschutzes im eben dargestellten Sinne bei den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei denen
über 50, zu einer massiven Einstellungswelle in den Betrieben führte, der sieht sich getäuscht. Das muss ich leider sagen.
Wir haben also in dem Bereich keinen Kündigungsschutz mehr. Trotzdem liegt die Beschäftigtenquote bei
den älteren Arbeitnehmern bei nur sage und schreibe
40 Prozent. Dabei geht es um die, die über 55 sind. Ich
füge hinzu, meine Damen und Herren: Welche Vergeudung von Wissen, von Erfahrung, von Fähigkeiten, auch
von Kreativität wird da volkswirtschaftlich betrieben!
Das können wir auf Dauer doch nicht zulassen.
({28})
Ich wäre ja sehr dankbar, wenn angesichts dieser
Lage, beim Kündigungsschutz mit gleichem Nachdruck
und mit den gleichen großen Schlagzeilen darauf hingewiesen würde, dass jetzt nicht nur die Möglichkeit besteht, sondern dass es die Pflicht von Unternehmen ist,
auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht zu verzichten, sondern sie in den Produktionsprozess einzubeziehen.
({29})
Das zweite große Thema, das mit der Diskussion um
die angeblich mangelnde Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt immer zusammenhängt, ist die Frage der betrieblichen Bündnisse. Ich würde raten, einmal einen Blick
in die Wirklichkeit zu werfen und nicht ständig neue
ideologische Popanze aufzubauen.
({30})
Die Wirklichkeit in Deutschland - übrigens keineswegs
nur bei den großen Unternehmen - ist doch so, dass die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerkschaften und ihre Betriebsräte sehr wohl in der Lage
sind, betriebliche Bündnisse zu schließen, wenn es die
Notwendigkeit dazu gibt, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Sie sind zum Verzicht immer noch bereit gewesen.
Ich würde mir wünschen, die gleiche patriotische Einstellung, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, wäre auf der anderen Seite auch gegeben.
({31})
Übrigens funktionieren die betrieblichen Bündnisse
keineswegs nur, wenn es darum geht, die Arbeitsplätze
in bestehenden Betrieben zu retten. Nein, wer nicht mit
Scheuklappen durch die Gegend läuft, der kann sehr
wohl mitbekommen, wie zum Beispiel im Osten unseres
Landes durch betriebliche Bündnisse Ansiedlungserfolge erreicht worden sind.
({32})
Ich nenne sie Ihnen gleich. Als es um die Frage ging, wo
BMW investiert, ob in Tschechien, in der Slowakei oder
in Deutschland, ist ein betriebliches Bündnis über Arbeitszeit- und Entgeltbedingungen geschlossen worden,
das die Ansiedlung in Deutschland überhaupt erst möglich gemacht hat. Das zeigt doch, dass es funktioniert.
({33})
Ich könnte mit der gleichen Berechtigung Porsche nennen und auch andere Automobilfirmen, um die es geht,
zum Beispiel Opel in Eisenach. Aber ich will eine Ansiedlungsentscheidung nennen, die jüngst nur zustande
gekommen ist und zustande kommen konnte, weil die
Gewerkschaft flexibel genug war - es handelt sich übrigens um Verdi -, ein solches betriebliches Bündnis abzuschließen. Ich meine die Ansiedlung von DHL in Leipzig, ein interessanter Vorgang.
({34})
Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir
bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren
gesagt haben - gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts
bewegt -, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinreichende Öffnungsklauseln gibt. Meine Bitte ist: Lasst uns
auf die Einsichtsfähigkeit der Beschäftigten, ihrer Betriebsräte, ihrer Gewerkschaften setzen, die diese Einsichtsfähigkeit nachgewiesen haben, und lasst uns - es
ist ja üblich geworden, sich auf Montesquieu zu beziehen ({35})
auch in diesem Fall sagen: Ein Gesetz, das nicht notwendig ist, unterbleibt besser.
({36})
Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die
Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexibilisierung in den Betrieben weiterzugehen. Das geschieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht
kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen
Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage
stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die
Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und
in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Sommer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich
wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen,
aber Sie kennen sie alle. Deswegen denke ich, dass wir
weiter auf die Bereitschaft zur Flexibilität, die bereits
nachgewiesen worden ist, setzen sollten; die Zahl der
Beispiele ließe sich vermehren.
Teil der Agenda war auch, die Lohnnebenkosten dadurch zu begrenzen, dass die Rentenversicherungsbeiträge stabil bleiben. Entgegen allen Unkenrufen haben
wir das geleistet, meine Damen und Herren. Das war nur
durch eine Reihe von Reformschritten möglich, die
schon wieder in Vergessenheit geraten sind; ich weiß
nicht, warum. Es ist doch wohl so, dass die Beiträge nur
deshalb stabil gehalten werden konnten, weil wir die Kapitaldeckung neben die Umlagefinanzierung gestellt haben.
({37})
20 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich eine
Zusatzversorgung - meistens eine betriebliche - geschaffen; 20 Millionen Menschen haben eine Kapitaldeckung aufgebaut und damit das Verhältnis zwischen der
solidarischen Umlagefinanzierung und der eigenen Vorsorge zugunsten der eigenen Vorsorge verändert.
Meine Damen und Herren, durch die Reformen hat
sich die Rentenbezugsdauer verändert, weil wir es geschafft haben, beim realen Renteneintrittsalter ein Jahr
draufzulegen. Das reicht nicht. Auch hier gilt: Es ist vielleicht notwendig, über die Frage nachzudenken, ob das
nominale Renteneintrittsalter erhöht werden muss; aber
viel wichtiger als diese Diskussion ist die Anstrengung
zur Erhöhung des realen Renteneintrittsalters. Diese Anstrengung muss fortgesetzt werden, übrigens auch aus
ökonomischen Gründen.
({38})
Die Lohnzusatzkosten für die Rente konnten übrigens
nur stabil gehalten werden, weil wir massiv Geld über
die - viel gescholtene - Ökosteuer in die Rentenkasse
geben.
({39})
Deswegen warne ich diejenigen, die das oberflächlich
kritisieren; eine Veränderung hätte nämlich negative Folgen für die Stabilität der Beiträge und damit für die Stabilität der Lohnzusatzkosten.
Ich füge hinzu: Wir sind es doch gewesen, die dafür
gesorgt haben, dass das Prinzip der nachgelagerten
Besteuerung durchgesetzt wurde, ein Prinzip, bei dem
es darum geht, dass diejenigen, die aktiv beschäftigt
sind, in Bezug auf ihre Beiträge deutlich entlastet werden. Das wird so sein, meine Damen und Herren, und
das wird Auswirkungen auf die Stabilität der Beiträge
und der Lohnzusatzkosten haben.
({40})
Wer fair ist, wer die Sorgen, die es angesichts der Arbeitslosenzahlen ohne Zweifel gibt, ernst nimmt und wer
auf der anderen Seite kein Zerrbild von Deutschland
zeichnen will, der muss darauf hinweisen, dass diese Reformschritte - im Übrigen international höchst beachtet
und gewürdigt - positive Erfolge gezeigt haben. Es ist
keineswegs so, dass wir ökonomisch gesehen in einem
Jammertal lebten. Im Gegenteil: Die Auftragseingänge
im verarbeitenden Gewerbe sinken nicht, sie steigen. Im
Januar hat der Export gegenüber dem Vorjahr um
9,5 Prozent zugenommen, und das in einer Situation, in
der wir durch die Euro/Dollar-Relation wahrlich nicht
bevorzugt werden, in einer Situation, in der international
inzwischen eingesehen wird, dass in den letzten Jahren
unter den G-8-Staaten allein Deutschland real mehr Anteil auf den internationalen Märkten gewonnen hat. Das
ist doch ein Zeichen von Kraft, die in der Volkswirtschaft steckt, und nicht von Schwäche.
({41})
Wir würden einen riesigen Fehler machen, wenn wir
es zuließen, dass ein Zerrbild der Lage Deutschlands gezeichnet würde. Wir haben Probleme - keine Frage.
Aber wir haben auch die Kraft - das ist nachgewiesen -,
mit diesen Problemen fertig zu werden.
({42})
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das, was sich
mit der Agenda verbindet, wirklich Wirkungen zeitigt
und dass wir gut daran tun, unbeirrt und mit aller Kraft,
über die wir verfügen, diese Reformen Wirklichkeit werden zu lassen und die Arbeit der Umsetzung anzugehen.
Genau das tun wir.
Gleichwohl muss ich sagen: Es ist richtig, dass wir
auch darüber nachdenken, welche zusätzlichen Impulse
wir - wenn es geht, gemeinsam - geben können. Die internationale Situation, was den Wettbewerb angeht, hat
sich ungeachtet der Kraft der deutschen Wirtschaft nicht
verbessert, nicht nur wegen der Erweiterung der Europäischen Union, aber auch wegen der Erweiterung der
Europäischen Union. Das führt naturgemäß dazu, dass
wir uns zu überlegen haben, wie wir auf dem Gebiet der
Steuerpolitik weiter vorgehen.
Bevor ich dazu Bemerkungen und Vorschläge mache,
will ich auf eines hinweisen. Wie ist denn die Steuerdebatte verlaufen? Durch die drei Stufen der Steuerreform
sind den Unternehmen und den privaten Haushalten
56 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt worden.
Man muss das angesichts der ständigen Forderungen immer wieder sagen.
({43})
Wir haben den Spitzensteuersatz, der bei unserem
Amtsantritt 1998 bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent gesenkt. Wir haben eine uralte Forderung des Mittelstandes, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die
Unternehmensteuer der Personengesellschaften - das ist
bekanntlich die Einkommensteuer -, erfüllt. Großes Lob
haben wir dafür nicht bekommen, obwohl wir es verdient gehabt hätten. Obwohl die Sache richtig war, hat es
nie ein Lob gegeben.
({44})
Es ist eine enorme Erleichterung gerade für den Mittelstand, dass die Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer
angerechnet wird.
Wir haben im Übrigen - das sage ich an die Adresse
der Skeptiker - auch kräftig am unteren Ende gearbeitet.
Die Reduzierung des Eingangsteuersatzes von 25,9 auf
jetzt 15 Prozent ist von uns - ich darf sagen: von euch geleistet worden.
({45})
Diesen Erfolg sollte man sich nicht kaputtmachen lassen. Die Folge dessen ist, dass Deutschland in diesem
Bereich eine Steuerquote hat, die im unteren Drittel des
europäischen Geleitzuges liegt.
Wir haben indessen - das wird den einen oder anderen schmerzen - ein Problem bei den Kapitalgesellschaften. Das ist das Problem relativ hoher nomineller
Steuersätze. Damit verbunden haben wir ein anderes
Problem: Wegen der hohen nominellen Steuersätze wird
immer wieder der Versuch unternommen, die eigentlich
fälligen Steuern durch exorbitante Verrechnungspreise
auf der einen Seite und Gewinnverlagerungen auf der
anderen Seite nicht zahlen zu müssen. Wenn die Differenz zu groß ist, hat das zwei Folgen: Es wird versucht,
sich bei jeder sich ergebenden Chance vor der Bezahlung der Steuern zu drücken. Das wiederum führt zu
mangelnden Einnahmen bei den öffentlichen Haushalten.
Ich schlage deswegen vor, dass wir uns miteinander
- wir brauchen den Bundesrat dazu - darauf einigen, den
Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 19 Prozent zu
senken. Es muss glasklar sein, dass es dabei darum geht,
die Finanzierung so zu gestalten, dass das Steueraufkommen durch das Schließen von Steuerschlupflöchern
nicht kleiner, sondern größer wird, die Finanzierung also
aufkommensneutral gemacht wird.
({46})
Ich will andeuten, in welche Richtung meiner Meinung
nach eine solche Finanzierung gehen sollte. Ich glaube,
es ist angemessen, zwischen der Belastung der Unternehmen und derer zu unterscheiden, denen die Unternehmen gehören. Mit der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens haben wir das getan: Man kann die
Besteuerung der Aktionäre im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrens verändern, also die Steuerbelastung der Aktionäre vergrößern und dafür die Steuerbelastung der
Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, kleiner machen. Ich glaube, es ist auch angemessen,
auf das zurückzukommen, was wir im Jahre 2003 miteinander diskutiert haben, nämlich die Frage, ob die
Mindestbesteuerung nicht zur Senkung der Unternehmensteuersätze - ich sage es ausdrücklich - erhöht werden kann. Schließlich glaube ich, dass wir beim Abbau
von Steuersubventionen, den wir nicht so weit geschafft
haben, wie es objektiv notwendig ist, endlich Ernst machen müssen.
({47})
Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass wir bei den
Steuersparmodellen die Verlustverrechnungen deutlich
beschränken und auf diese Weise Raum für das schaffen,
was aus Wettbewerbsgründen für unsere Unternehmen
notwendig ist - was wir also machen müssen, was wir
aber im Interesse der Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte aufkommensneutral gestalten müssen. Anders, meine Damen und Herren, wird es nicht gehen,
aber so könnte es gehen!
({48})
Meine Bitte ist: Machen Sie mit bei dieser so wichtigen
Operation.
Ich glaube, dass man darüber hinaus das verändern
muss, was ich eingangs meiner Ausführungen zur Steuerpolitik erwähnt habe, nämlich die Anrechnung der
Gewerbesteuer. Als wir diese Operation seinerzeit
durchgeführt haben, haben wir gesagt: Mit der Operation
erreichen wir, dass wir die Gewerbesteuer bis zu einem
Hebesatz von 390 Punkten voll anrechnungsfähig machen. Es gibt jetzt eine interessante Entwicklung: In dem
Moment, in dem man den Spitzensteuersatz senkt, entstehen Folgen negativer Art für die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Der Satz liegt
jetzt bei ungefähr 340 Punkten. Ich finde, im Interesse
der Förderung des Mittelstandes sollten wir den alten
Zustand wiederherstellen. Das geht, wenn man den Anrechnungsfaktor der Gewerbesteuer von jetzt 1,8 Prozent
auf 2 Prozent erhöht. Ich bin für eine solche Maßnahme
und hoffe auf tätige Mitarbeit im Bundesrat, meine Damen und Herren.
({49})
Schließlich geht es mir um eine Frage, die im Bundesrat gelegentlich schon diskutiert worden ist und hinsichtlich deren ich glaube, dass man endlich Nägel mit Köpfen machen muss. Wir reden ja sehr intensiv über
Neugründungen und über die Frage, wie wir Neugründungen von Betrieben erleichtern können. Das ist auch
richtig so. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir
diejenigen erhalten können, die es schon gibt.
({50})
In den nächsten Jahren wird es eine große Anzahl von
Betriebsübergängen - man nennt sie auch Erbschaften - geben. Ich beziehe mich - damit dies völlig klar
ist - nicht auf private Erbschaften, sondern auf die Übergänge von Betrieben, insbesondere von kleinen und
mittleren.
Ich bin dafür - ich weiß, Herr Ministerpräsident, dass
auch Bayern dafür ist -, dass wir das Modell umsetzen,
über das diskutiert worden ist, nämlich bei einem Betriebsübergang jedes Jahr 10 Prozent der an sich fälligen
Erbschaftsteuer abzuziehen, wenn dieser Betrieb erhalten wird. Ich weiß, dass sowohl in Bayern als auch in
Nordrhein-Westfalen, meine Herren Ministerpräsidenten, darüber diskutiert worden ist. Ich finde, das kann
und soll man machen. Ich weiß, dass die betroffenen
Kollegen in den Ländern dafür geradestehen müssen.
Denn die Steuern, die da anfallen, sind Steuern der Länder.
({51})
- Die Maßnahme ist absolut sinnvoll.
({52})
Die Bundesregierung wird einen solchen Gesetzesvorschlag unterstützen und, wenn Sie uns bitten, auch
selber einbringen. Aber klar ist natürlich, dass es dann
im Bundesrat kein Gewürge geben darf, sondern dass
Sie sicherzustellen haben, dass das auch läuft.
({53})
Denn es geht ja nicht, solche Gesetze im Bundesrat einzubringen und sie später abzulehnen. Soweit ich weiß,
hat die Staatsregierung das nach dem Motto getan: Wir
bringen ein, wenn die Ablehnung gesichert ist. Das kann
ja nicht der Fall sein.
({54})
Lassen Sie uns also diese Maßnahme, auf die der Mittelstand in Deutschland wartet, bitte schön auch wirklich
machen!
Wir schlagen zusätzlich vor, dass wir die Mittelstandsbank des Bundes in den Stand versetzen, innovativen Mittelständlern für die Förderung von Innovationen
Kredite in Höhe von 2 Prozent unter dem Marktzins zu
gewähren.
({55})
Das, glaube ich, wäre ein Paket zur Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit, das sofort auf den Weg gebracht
werden könnte, ohne dass man auf etwas verzichtet, ein
Paket, das wir ohnehin machen müssen und zu dem der
Sachverständigenrat gebeten worden ist, Vorschläge zu
machen.
Wir haben in der Tat das Problem, dass wir in einem
vereinigten Europa außerordentlich unterschiedliche
Steuersätze - ich rede über die direkten Steuern - und
außerordentlich unterschiedliche Bemessungsgrundlagen haben. Wir arbeiten sehr daran - das ist schwer
genug; das ist übrigens nicht nur auf die neuen Mitglieder bezogen; es gibt auch ältere Mitglieder, die da
Schwierigkeiten machen -, eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die direkten Steuern zu schaffen. Angesichts der Entscheidungsprozesse in Europa ist das
erstens nicht leicht und zweitens wird es dauern. Das
liegt nicht an uns. Aber wenn ich mir einige andere Länder anschaue, dann weiß ich, was da an Arbeit bevorsteht. Ich sage es noch einmal: Das ist keineswegs nur
auf die neuen Mitglieder bezogen, die ab 1. Mai letzten
Jahres dabei sind. Auch große ältere Mitgliedstaaten
- ich denke an Inseln und Ähnliches - haben da ein erhebliches Verweigerungspotenzial; das muss man einfach so sehen.
Ich bin dafür, dass man dies einbezieht und dass man
den Sachverständigenrat auf dieser Grundlage bittet,
möglichst rasch - ich hoffe, bis zum Herbst dieses
Jahres - Konkretes dazu vorzulegen, wozu der Sachverständigenrat schon einen Vorschlag gemacht hat, nämlich wie man auf der Basis gemeinsamer Bemessungsgrundlagen zu einer rechtsformneutralen Besteuerung
der Unternehmen kommen kann. Das ist ein wichtiger
Punkt.
({56})
Die Fachleute nennen das Dual Income, also die Trennung bei der Steuer zwischen betrieblicher und privater
Sphäre ohne Ansehung der Rechtsform des Unternehmens. Daran wird gearbeitet. Diese Vorschläge sollen bis
Ende oder besser bis Herbst dieses Jahres vorliegen.
Wir werden dann miteinander darüber reden müssen,
wie wir diese umsetzen. Dabei ist eines zu berücksichtigen: Wenn man sich das vorstellt, erkennt man, dass man
in der Besteuerung zu bestimmten Sätzen kommen wird.
Es kann sein, dass die kleinen und mittleren Unternehmen, wenn man bestimmte Sätze vorsieht, dann unter
Umständen höher besteuert werden, als das gegenwärtig
der Fall ist. Das wäre falsch.
({57})
Deswegen wird man sehr genau betrachten müssen, um
was es dabei geht. Der Sachverständigenrat ist gebeten
worden, ein Sondergutachten vorzulegen; dies wird er
sicherlich auch tun.
Meine Bitte ist, diese Dinge rasch in Angriff zu nehmen. Alle meine Vorschläge verbauen nicht den Weg in
eine grundsätzlich erneuerte Unternehmensbesteuerung
nach dem skizzierten Muster. Wir sollten uns darauf verständigen, sie jetzt zu realisieren.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung daran anknüpfen, meine Damen und Herren: Wenn wir dies miteinander tun - angesichts der Situation der öffentlichen
Haushalte auf allen Ebenen wird es eine gewaltige Kraftanstrengung sein -, dann erwarte ich, dass nicht gleich
die nächste Forderung nachgeschoben wird.
({58})
Wenn die Politik einen Rahmen geschaffen haben wird,
der wirklich auskömmlich ist, dann sollte endlich das
ständige Gerede von der Verlagerung von Betriebsstätten
und Arbeitsplätzen aufhören und in Deutschland investiert werden. Diese Erwartung richte ich an die deutsche
Wirtschaft.
({59})
Der zweite Bereich, über den wir uns verständigen
müssen, betrifft die kurzfristige Verstärkung der
Investitionen. Die langfristigen strukturellen Grundlagen sind durch die Reform-Agenda angelegt; aber wir
müssen kurzfristig etwas tun, meine Damen und Herren.
Ich will jetzt nicht in alle Einzelheiten gehen.
({60})
- Nun warten Sie ab; wie Sie gemerkt haben, erwähne
ich genügend Konkretisierungen.
Wir müssen schneller zu Existenzgründungen kommen, als es gegenwärtig der Fall ist. Um nur ein Beispiel
zu nennen: Mit einer Novelle des GmbH-Gesetzes können wir zu einer substanziellen Absenkung des für die
Gründung notwendigen Mindestkapitals kommen. Wir
werden ein elektronisches Handelsregister einführen, damit Neugründungen binnen Tagen realisiert werden können und nicht Monate brauchen. Dieser Punkt hat sehr
viel mit Bürokratieabbau zu tun.
({61})
Des Weiteren müssen wir jede Anstrengung unternehmen, um bei der Verkehrsinfrastruktur mehr als bislang vorgesehen zu machen.
({62})
Deshalb werden wir jährlich 500 Millionen Euro zusätzlich im Haushalt mobilisieren, um ein Zweimilliardenprogramm für die nächsten vier Jahre aufzulegen, das
die Verkehrsinfrastruktur verbessert.
({63})
In diesem Bereich nutzen wir nicht alle Möglichkeiten, um auch privates Geld zu mobilisieren. Deshalb
halte ich es für wichtig, zu prüfen, ob es möglich ist,
durch Finanzierungen über private Gesellschaften nach
österreichischem Vorbild zu einer Verstetigung der Infrastrukturinvestitionen zu kommen.
({64})
Wir werden mit dem von den Fraktionen vorbereiteten Beschleunigungsgesetz versuchen, im Bereich der
Public Private Partnership privates Kapital in Milliardenhöhe zu mobilisieren,
({65})
um konkrete Projekte wie die A 1 in Nordrhein-Westfalen und die A 4 in Thüringen zusammen mit der Wirtschaft schneller umzusetzen, als es bei knappen öffentlichen Mitteln möglich wäre.
Wir werden ein Planvereinfachungsgesetz vorlegen,
das hilft, diese Investitionen schneller zu realisieren, als
es gegenwärtig der Fall ist. Dies werden wir nicht auf
einen Teil unseres Landes beschränken und es auch auf
Investitionen in Stromnetze ausdehnen, die wir in der
nächsten Zeit dringend brauchen und die ebenfalls zügiger ausgebaut werden müssen.
({66})
Mit der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, auf
die sich die Koalitionsfraktionen unter Mithilfe des
einen und anderen geeinigt haben, werden wir mehr
Rechtssicherheit für die Energieversorger erreichen.
Wir werden erreichen - das ist von den Energieversorgern mitgeteilt worden -, dass bis zum Jahre 2010 sage
und schreibe 20 Milliarden Euro in neue Kraftwerke, in
die Ertüchtigung alter Kraftwerke und in die Netze investiert werden. Das ist eine Entwicklung, die ich für
außerordentlich positiv ebenso wie für außerordentlich
notwendig halte.
({67})
Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nach
meiner Meinung wichtig ist und über den - auch zu
Recht - viel gestritten worden ist. Ich meine die Frage:
Wie geht es mit der Grünen Gentechnik weiter? Wir
werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen, das zusammen mit dem ersten Gesetz einen vernünftigen
Rechtsrahmen für Investitionen in diesem Bereich darstellt.
Ich weiß, meine Damen und Herren, dass in diesem
Gesetz bezogen auf die Haftungsfragen nicht alles so ist,
wie sich das die Wirtschaft, die investieren soll und will,
vorgestellt hat. Viele haben gesagt: Die Haftung sollen
die öffentlichen Hände übernehmen. Aber ist das wirklich der richtige Weg? Können wir bei allem, was von
der Wirtschaft neu begonnen wird, die Risiken wirklich
so verteilen oder ist es nicht sinnvoll, zu sagen: Wir wollen einen vernünftigen Rahmen setzen; wir erwarten
aber auch, dass ihr auf der Basis dieser gesetzlichen Regelungen zu Fonds kommt, die die Haftung unter euch
regeln?
({68})
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass manchmal merkwürdig argumentiert wird, wenn man einerseits alles und jedes dem Staat überlassen will, jedenfalls dann, wenn
man selbst betroffen ist, andererseits aber immer über
Staatsfreiheit und Staatsferne redet.
({69})
Ich glaube, dass mit beiden Gesetzesvorhaben ein fairer Ausgleich und Planungsregelungen geschaffen worden sind, die Investitionen ermöglichen. Ich weiß, dass
ein großes deutsches Unternehmen demnächst Ausbringungen machen wird. Ich bin im Übrigen bereit - wir haben das schon im Bundesrat angekündigt -, den gesetzlichen Rahmen zu setzen und die Aktionen auf der Basis
dieses gesetzlichen Rahmens auch wirklich zu gestalten
und nach zwei Jahren zu überprüfen. Wir werden sehen,
ob wir in diesem Bereich unter dem europäischen Gesichtspunkt zu Veränderungen kommen müssen oder
nicht. Vor einem sollten wir uns aber hüten, nämlich davor, die Zurückhaltung im gesamten Bereich der Gentechnik - es geht übrigens auch um Rote und Weiße
Gentechnik - einseitig zu verteilen.
Ich erinnere an die Debatten zum therapeutischen
Klonen hier im Deutschen Bundestag, wo ich quer durch
alle Fraktionen des Deutschen Bundestages - ich sage
das mit allem Respekt - ein Maß an Zurückhaltung erlebt habe, das ich jedenfalls nicht für richtig halten
konnte. Ich will das nur so sagen.
({70})
- Ich weiß, Herr Gerhardt, dass wir da einer Meinung
sind. Es ist auch nicht schlimm, wenn auch wir einmal
einer Meinung sind.
({71})
Ich will das hier nur sehr deutlich sagen, damit nicht der
Eindruck entsteht, die Sensibilität in diesem Bereich
- um es freundschaftlich zu sagen - sei nur in der Mitte
des Hohen Hauses vorhanden, also nur bei den Grünen,
({72})
und die anderen seien nur darauf aus, das wirtschaftlich
Vernünftige zu tun.
({73})
Ich denke, wir wollen eine vernünftige Balance finden. Mit den Gentechnikgesetzen I und II ist sie fürs
Erste gefunden. Also lassen Sie uns nicht Debatten von
gestern führen, sondern darauf setzen, dass jetzt die Ausbringung geschieht und wir in diesem Bereich weiterkommen. Wir werden dann sehen, ob wir nach zwei Jahren zu Veränderungen des gesetzlichen Rahmens
kommen müssen oder nicht. Jedenfalls sollte begonnen
werden. Ich denke, das ist die Aufgabe, die vor uns liegt.
({74})
Wir werden im Übrigen - weil ich beim Thema
Investitionen bin - dafür sorgen, dass das CO2-Gebäudesanierungsprogramm bis 2007 auf dem jetzigen Niveau - das sind insgesamt 720 Millionen Euro, die nach
bisherigen Erfahrungen Investitionen in Höhe von etwa
5 Milliarden Euro auslösen - weitergeführt werden
kann. Das ist durchfinanziert und das kann hier geschehen.
({75})
Im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen
und vor allen Dingen der Handwerksbetriebe geht es um
den Erhalt von immerhin 60 000 Arbeitsplätzen und
- wo möglich - um die Neuschaffung weiterer Arbeitsplätze. Das ist in der Situation, in der wir uns befinden,
wahrlich nichts, was auf die leichte Schulter genommen
werden könnte.
Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, zu welchen neuen Impulsen
es vor dem Hintergrund der Diskussion über die Agenda
2010 und der Aufgaben der Bundesagentur auf dem Arbeitsmarkt nach meiner Auffassung kommen muss.
Ich glaube, dass diejenigen, die da seinerzeit im Vermittlungsausschuss besonders tätig waren, inzwischen
eingesehen haben, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten von Langzeitarbeitslosen noch einmal überprüfen müssen.
({76})
Wir hatten seinerzeit Vorschläge gemacht. Ich will übrigens sagen: Ich gehe sehr respektvoll mit den Gegenvorschlägen um. Auch sie enthalten diskussionswürdige
Überlegungen. Das kann man nicht bestreiten. Denn wir
müssen der Gefahr widerstehen, dass wir über Transferleistungen einerseits und Hinzuverdienstmöglichkeiten
andererseits dafür sorgen, dass Menschen zu lange in
diesen Beschäftigungsverhältnissen bleiben. Das ist ein
wichtiger Gesichtspunkt, den diejenigen eingebracht haben, die damals skeptisch waren, und den man nicht mit
leichter Hand wegwischen darf. Ich glaube, es lässt sich
ein vernünftiger Mittelweg finden. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten. Denn auch da brauchen wir eine Zustimmung des Bundesrates, wenn wir das verändern
wollen - wofür ich bin.
Den entscheidenden Punkt werden wir in der nächsten Zeit bei der Stärkung der Vermittlungsaktivitäten
- zunächst für die unter 25-Jährigen - leisten müssen.
({77})
Sie wissen: Diejenigen, die unter das SGB II fallen - das
sind diejenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen -,
haben einen Rechtsanspruch entweder auf einen Ausbildungsplatz, auf eine Maßnahme der Qualifizierung oder
auf einen Arbeitsplatz. Wenn wir bei den Langzeitarbeitslosen mit aller Kraft beginnen, können wir es
schaffen, diesen Rechtsanspruch zu realisieren. Wir haben dafür etwa 7 Milliarden Euro in der Bundesagentur
zur Verfügung. Wir sollten dieses Bemühen auf diejenigen ausdehnen, die unter das SGB III fallen, die also Arbeitslosengeld I beziehen oder keine Leistungen bekommen, weil sie noch bei den Eltern sind und diese
Leistungen aus diesem Sicherungssystem bekommen.
Mir geht es darum - ich bin mir mit dem Wirtschaftsund Arbeitsminister völlig einig -, dass wir die Kräfte
der Bundesagentur auf zwei Bereiche konzentrieren.
Zum Ersten müssen wir es schaffen, den Jungen eine
Perspektive zu geben.
({78})
Das ist übrigens auch aus demographischen Gründen
notwendig. Wenn wir es nicht schaffen, die mehr als
600 000 jungen Leute unter 25 Jahren aus der Perspektivlosigkeit herauszuholen, dann werden wir das bitter
bereuen, weil uns in kürzester Zeit die Arbeitskräfte fehlen werden, die wir brauchen, um weiter Wachstum generieren zu können. Das ist der Zusammenhang. Es wäre
auch eine ökonomische Katastrophe, diese Leute in der
Anonymität zu lassen und ihnen keine Perspektive zu
geben.
({79})
Zum Zweiten müssen wir uns auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auf die über 55- oder
über 58-Jährigen - konzentrieren, speziell im Osten.
Auch hier müssen wir die Vermittlungstätigkeiten verstärken. Wir werden das tun. Wir müssen auch mit denen
zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft Zusatzbeschäftigung bereitstellen können und sollen. Wir stellen uns
zum Beispiel vor, 250 Millionen Euro zu mobilisieren,
um in Bereichen, die besonders gut sind, mehr zu tun.
Formen des Wettbewerbsdenkens wie Best Practice sind,
glaube ich, auch in diesem Bereich angemessen und vernünftig und sollten ausgebaut werden.
({80})
Ich habe mich mit der Frage der befristeten Beschäftigung auseinander gesetzt. Gelegentlich wird über Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt diskutiert, ohne wirklich
zu den Punkten zu kommen. Es gibt einen Punkt, wo ich
selber meine, dass wir bei der Befristung etwas tun müssen: Wir müssen die befristete Beschäftigung erleichtern, in dem wir das absolute Verbot der Vorbeschäftigung aufheben. Ich glaube, diese Entwicklung ist richtig
und vernünftig.
({81})
Ich plädiere dafür, dieses Verbot auf zwei Jahre zu beschränken, damit Kettenarbeitsverträge nicht unbegrenzt
möglich sind.
Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang - auch das betrifft den Arbeitsmarkt - auf etwas hinweisen, was uns allen Sorgen macht, nämlich die
in letzter Zeit evident gewordene Umgehung der Vereinbarungen, die wir anlässlich der Erweiterung der Europäischen Union getroffen haben, was die Schutzfristen
für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Umgehung
der Entsenderichtlinie angeht. Im Fleischerhandwerk
und zunehmend auch im Baunebengewerbe - bei den
Fliesenlegern, aber auch in anderen Bereichen - haben
wir den Tatbestand, dass Sicherungsvorschriften für die
deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch
Flucht in Scheinselbstständigkeit und Ähnliches umgangen werden und damit unserer Volkswirtschaft schwerster Schaden zugefügt wird,
({82})
übrigens auch den betroffenen ausländischen Arbeitnehmern, die nicht menschenwürdig beschäftigt werden.
Wir müssen dazu kommen - auch hier braucht es die Zusammenarbeit von Bund und Ländern -, dass wir mit
dem Aufbau von Taskforces, wie das so schön heißt, unnachsichtig alle legalen Möglichkeiten nutzen, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Wir brauchen nicht nur
Recht und Ordnung im Inneren, wir brauchen auch
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt; auch dort
müssen wir sie herstellen.
({83})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sagen zu einer Diskussion über ein europäisches Vorhaben,
das nicht nur in Deutschland die Menschen bewegt, sondern auch in unseren Nachbarländern: Ich meine die
Dienstleistungsrichtlinie. Klar ist zunächst: Die Fehlentwicklungen, die ich eben skizziert habe, haben mit
der Dienstleistungsrichtlinie nichts zu tun: weil sie noch
nicht gilt. Und ganz klar ist auch: So wie Herr
Bolkestein, der ehemalige EU-Kommissar, sie sich vorgestellt hat, wird sie nicht in Kraft treten.
({84})
Ich bin mir darüber mit dem französischen Präsidenten
völlig einig - mit anderen im Übrigen auch -: Wir können nicht zulassen, dass es über die Dienstleistungsfreiheit, für die man im Prinzip durchaus sein sollte, zu
Sozialdumping in Deutschland kommt, dass Sicherheitsstandards, die wir aus guten Gründen für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgebaut haben, missachtet werden, und wir können nicht zulassen, dass die
freien Wohlfahrtsverbände und diejenigen, die die Pflege
von Alten und Kranken verantworten, in die Situation
gebracht werden, dass sie nicht mehr mitkönnen, weil sie
kaputtkonkurriert werden.
({85})
Das kann nicht Sinn der Dienstleistungsfreiheit in
Europa sein und das wird es mit uns auch nicht geben.
Ich bin frohen Mutes, dass man das sowohl im Europäischen Parlament als auch in der Europäischen Kommission noch einsehen wird.
Meine Damen und Herren, ich will mich über das hinaus einem weiteren Thema widmen: Das ist die Frage,
wie wir mit dem umgehen, was wir in Zukunft einerseits
im Bildungssektor und andererseits im Bereich von
Forschung und Entwicklung machen müssen. Ich
glaube, wir finden sehr schnell eine Übereinstimmung in
diesem Hohen Hause - ich hoffe, auch in der deutschen
Öffentlichkeit - darüber, dass das Wohl und Wehe der
deutschen Volkswirtschaft, die Chance, in Deutschland
Wohlstand zu erhalten und, wo immer es geht, zu mehren, von unserer Fähigkeit abhängt, Geld zu mobilisieren, um in die Zukunft zu investieren.
({86})
Wir müssen weg von Vergangenheitssubventionen, hin
zu Zukunftsinvestitionen. Wenn man sich die Situation
in Europa anschaut, stellt man fest, dass Deutschland,
was die Forschungs- und Entwicklungsausgaben angeht,
besser ist als der Durchschnitt, besser ist als die großen
Industrienationen, mit denen wir in erster Linie zu konkurrieren haben, aber deutlich schlechter als zum Beispiel die Skandinavier. Es ist völlig klar: Wenn wir oben
bleiben wollen, wenn wir Spitze bleiben wollen in der
Weltwirtschaft, dann müssen wir mehr in Forschung und
Entwicklung investieren. Und wir müssen es jetzt tun wir können es nicht auf die lange Bank schieben.
({87})
Deshalb sage ich: Wer über Subventionsabbau redet, der
kann, wenn er ernst genommen werden will, nicht darüber hinwegsehen, dass er zur Förderung von Forschung und Entwicklung die Eigenheimzulage hergeben muss.
({88})
Und kommen Sie mir jetzt nicht mit „Damit finanzieren
wir eine große Steuerreform!“. Im ersten Jahr würden
die Einsparungen bei gerade einmal 300 Millionen Euro
liegen; damit wäre das wirklich schwierig. Ich sage: Das
ist eine Subvention, durch deren Streichung in Zukunft
zwischen 6 und 8 Milliarden Euro mobilisiert werden
können. Das einzig Vernünftige, was man tun kann, ist,
diese Mittel zu nehmen und sie samt und sonders in Forschung und Entwicklung auf der Bundesebene einerseits
und in Bildungsinvestitionen auf der Landesebene andererseits zu stecken.
({89})
Deshalb muss das Gewürge im Vermittlungsausschuss
aufhören. Die Mittel für die Eigenheimzulage müssen
ausschließlich für Forschung und Entwicklung sowie für
Investitionen in Bildung eingesetzt werden.
({90})
In diesem Zusammenhang sage ich in aller Klarheit:
Ich halte es wirklich für höchst bedenklich, wie mit den
4 Milliarden Euro verfahren wird, die wir für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung stellen.
({91})
Ich halte das für unverantwortlich, und zwar aus folgendem Grund: Investitionen in diesem Bereich - in Betreuung - sind objektiv notwendig zur Förderung der Kinder,
die in den Familien das Maß an Förderung, das an sich
erforderlich ist, nicht erfahren. Es gibt viele Gründe dafür, die man leider immer wieder feststellen muss. Wer
über PISA redet - das ist bedauerlicherweise ja fast
schon wieder vergessen -,
({92})
der muss als Erstes darüber sprechen, wie wir es schaffen, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Zugehörigkeit eine Lebenschance zu geben. Das läuft über
Bildung. Wenn es nicht anders geht, dann läuft das eben
über Bildung und Betreuung.
({93})
Einer der größten Fehler, den wir machen könnten - ich
hoffe, das werden die Ökonomen zunehmend begreifen -, wäre, nicht zu erkennen, dass wir ohne Investitionen in Betreuung volkswirtschaftlich in ungeheure
Schwierigkeiten kämen, weil wir dadurch das Potenzial
von Frauen und somit auch das der deutschen Wirtschaft
nicht zureichend nutzen könnten.
({94})
Die Investitionen in Ganztagsbetreuung sind nicht nur
eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit - das sind sie
auch -, sie sind vor allen Dingen auch eine Frage der
blanken ökonomischen Vernunft. Niemand in den Betrieben darf glauben, dass er das Arbeitskräftepotenzial,
das wir schon in dieser Dekade brauchen, allein über
eine gesteuerte Zuwanderung, für die ich bin, realisieren
kann. Niemand darf das glauben. Das würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überstrapazieren. Es
bleibt also dabei: Sowohl aus Gerechtigkeitsgründen als
auch aus Gründen der ökonomischen Vernunft müssen
wir und müssen auch die Betriebe in Betreuung investieren, weil dieses Potenzial sonst nicht genutzt werden
kann. Das wäre schädlich für unsere Volkswirtschaft.
({95})
Im Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit der
Kommunen habe ich heute in der „Financial Times
Deutschland“ - ich bitte die anderen um Entschuldigung - eine interessante Zahl zur Entwicklung der
Gewerbesteuer gelesen, die ja den Kommunen zusteht.
Sie beträgt inzwischen mehr als 28 Milliarden Euro und
damit 4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Man
hat mir aufgeschrieben, dass das Nachkriegsrekord ist
und im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von
18 Prozent bedeutet.
({96})
Nun habe ich eine Bitte an die Herren Ministerpräsidenten: Reden Sie mit Ihren Innenministern darüber, dass
wenigstens ein Teil dieses erheblichen Zuwachses von
den Kommunen in notwendige Investitionen gebracht
und nicht nur kameralistisch behandelt wird.
({97})
Das ist im Übrigen nicht alles. Wenn 95 Prozent der
bisherigen Sozialhilfeempfänger in das Arbeitslosengeld II überführt werden - das hat das Gesetz ermöglicht; ob das immer mit aller Sensibilität ausgelegt worden ist, will ich dahingestellt sein lassen; ich neige
schließlich nicht zu kräftigen Worten -,
({98})
dann steht jedenfalls fest, dass auch in diesem Bereich
gewaltige Einsparungen zu verzeichnen sind, die genutzt
werden sollten, damit in die Sanierung von Schulen, damit in die Sanierung von kommunalen Einrichtungen,
damit in die Sanierung von kommunalen Straßen investiert werden kann. Wir haben die Möglichkeit, Investitionen in diesem Bereich loszutreten und damit neuen
Schwung in die Investitionstätigkeit zu bringen. Diese
müssen wir auch nutzen.
({99})
Zu den Zukunftsinvestitionen wird gehören - das ist
wirklich schwierig -, die Pflegeversicherung in Ordnung zu bringen. Wir wollen das bis zum Herbst dieses
Jahres machen. Wir als Koalition wollen ein gemeinsames Programm vorlegen, das auf der einen Seite Klarheit und Sicherheit in die Finanzierung bringt sowie ein
angemessenes Verhältnis zwischen ambulanter und stationärer Betreuung ermöglicht und das auf der anderen
Seite etwas für diejenigen tut, die mit am schwersten
dran sind, nämlich die Demenzkranken. Wir müssen in
diesem Bereich etwas tun. Wir wollen hier eine große
Anstrengung unternehmen. Das wird nur gehen, wenn
wir uns möglichst auf ein gemeinsames Konzept einigen.
({100})
Ich will noch ein Wort zu dem sagen, was meines Erachtens die Entsprechung des Reformprogramms für die
sozialen Sicherungssysteme und der Verbesserung der
Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ist. Ich meine
die Föderalismusreform. Ich glaube, wir sollten einen
neuen Anfang machen.
({101})
Es ist eine Legende, dass die Bundesregierung - ja, ich von vornherein gegen diese Reform gewesen wäre. Aber
Legenden sind manchmal langlebig. Ich sage Ihnen ganz
klar: Mich interessieren in diesem Zusammenhang nicht
Kompetenzen, sondern mich interessiert, was passiert.
Das gilt ausdrücklich auch für den Bildungsbereich. Ich
sage hier klar: Wir brauchen in dieser Frage einen neuen
Anlauf. Die Kommission, die Sie, Herr Ministerpräsident Stoiber, und Herr Müntefering geleitet haben, hat
gute Ergebnisse vorzuweisen.
({102})
85 bis 90 Prozent waren konsensfähig. Ich frage mich,
warum wir nicht zumindest diese umsetzen; aber bitte
schön!
({103})
Ich sage für die Bundesregierung: Ich werde jeden
Vorschlag - auch auf dem schwierigen Gebiet der Kompetenzen für die Bildung - unterstützen, auf den Sie sich
mit Ihrem Kovorsitzenden einigen. Sie können sicher
sein: Wir beide setzen das auch durch. Ob Sie das mit Ihren Kollegen Ministerpräsidenten hinbekommen, ist eine
andere Frage.
({104})
Ich halte das für notwendig, weil es bei einer Föderalismusreform wirklich darum geht, das, was wir auf dem
Gebiet der Sozialpolitik und der Wirtschaft geleistet haben und weiter leisten werden, durch eine Entsprechung
im Staatsaufbau zu ergänzen, die zu mehr Klarheit in den
Kompetenzen und damit auch in den Verantwortlichkeiten und die zu mehr Effizienz in unserem föderalen
Staatsaufbau führt. Das brauchen wir, wenn wir vorankommen wollen. Ich werde zu denen gehören, die einen
solch neuen Ansatz, für den ich ausdrücklich werbe, mit
aller Kraft unterstützen.
({105})
Ich hoffe, eines ist deutlich geworden: Wir sind in einer wirklich schwierigen Situation, was die Arbeitsmarktzahlen angeht. Man kann sie partiell erklären. Aber
selbst wenn man sie erklärt, wie ich das getan habe,
bleibt die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Das ist die Herausforderung in unserem Land. Alle, die sich zu diesen
Fragen geäußert haben, haben gesagt: Das ist kein konjunkturelles Problem. Ich glaube, in dieser apodiktischen
Form ist das nicht ganz richtig. Es ist auch ein konjunkturelles Problem, aber nicht in erster Linie. Das gebe ich
zu. Es ist mehr ein strukturelles Problem. Aber auf dieses strukturelle Problem haben wir mit dem, was in der
Agenda 2010 steht, und dem, was ich an neuen Impulsen
vorgeschlagen habe, reagiert.
Eines muss dabei klar sein - das erwähne ich zum
Schluss ausdrücklich noch einmal -: Wir sind in
Deutschland und in Europa verglichen mit anderen Weltregionen deswegen in einer vergleichsweise guten Situation, weil wir ein europäisches Sozialmodell in unterschiedlichen Formen in der Europäischen Union erhalten
haben, das den Menschen zweierlei ermöglicht, nämlich
die Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand und die Teilhabe
an den Entscheidungen über die politischen Prozesse.
Ich glaube, wir würden einen schwerwiegenden Fehler
machen, wenn wir aus sehr kurzfristigen Erwägungen
heraus, weil uns wirklich Sorgen bedrücken, das Prinzip
des Sozialstaates und damit das Prinzip des Zusammenhalts unserer Gesellschaft über Bord werfen würden.
({106})
Das wäre ein schwerer Fehler.
Was wir auf den Weg gebracht haben und was wir
vorhaben, ist nicht einfach. Zum Teil kann es die Koalition aus eigener Kraft schaffen. Dort, wo sie das kann,
wird sie es tun. Zum anderen Teil braucht sie wegen unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse hier und im Bundesrat die Zusammenarbeit all derer, die an dieser Zusammenarbeit interessiert sind, weil sie unser Land
voranbringen wollen. Ich bin zu einer solchen Zusammenarbeit bereit und ich hoffe, dass wir hier im Deutschen Bundestag einen guten Anfang gemacht haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({107})
Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der CDU/CSUFraktion, Kollegin Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir hier im Saal und viele Menschen im Lande
sind sich einig, dass wir in dieser Woche eine bemerkenswerte Rede des Bundespräsidenten gehört haben.
({0})
Bemerkenswert an dieser Rede des Bundespräsidenten
war nicht allein, dass er alle entscheidenden Politikfelder
erfasst hat, dass er die Probleme klar benannt und eindeutig die Richtung für die Antworten angegeben hat,
sondern bemerkenswert war für mich, dass die Rede
zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland
groß und stark gemacht hat und was Deutschland jetzt in
diesen Tagen und Monaten wieder braucht.
({1})
Das ist nämlich eine Politik mit Ordnung - nicht irgendeiner Ordnung, sondern der Ordnung der Freiheit,
der Ordnung der sozialen Marktwirtschaft.
({2})
An der Rede des Kanzlers heute war nicht allein auffällig, dass er zum wiederholten Mal über die Tatsache
gesprochen hat, dass auch die Umsetzung der Reformen
als Reformen anzusehen sind, dass er Belehrungen, Prophezeiungen, Beschönigungen und Beschuldigungen
vorgebracht hat, dass er es manchmal auch an Ernsthaftigkeit vermissen ließ
({3})
und dass er viele Einzelmaßnahmen genannt hat - das ist
alles schön und gut -; auffällig war auch, dass er nicht
zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland
braucht.
({4})
Es geht nämlich um die Frage, mit welcher Ordnung
der Freiheit wir im 21. Jahrhundert die Zukunft dieses
Landes gestalten wollen.
({5})
Genau darin besteht der Unterschied zwischen Reparaturmaßnahmen und dem Glauben an die Kraft der sozialen Marktwirtschaft und die Kraft der Freiheit, die den
Menschen erst mündig macht.
({6})
Natürlich ist es auch kein Zufall, dass der Bundeskanzler heute bewusst kein Bekenntnis zu Studiengebühren und zu bestimmten Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt - betriebliche Bündnisse, Kündigungsschutz,
Flexibilisierungen - abgelegt hat.
({7})
Das ist eine sehr durchsichtige Strategie und es ist ganz
klar, warum Sie so vorgehen. Sie wollen es nämlich uns
überlassen, die notwendigen Dinge anzusprechen,
({8})
und mit einer Strategie nach dem Motto „Mit denen
würde es nur noch schlimmer“ durch das Land ziehen.
Aber diese Strategie wird nicht aufgehen. Denn sie ist
schon in Schleswig-Holstein nicht aufgegangen. Dort ist
Rot-Grün abgewählt. Das wird sich fortsetzen, weil sich
die Menschen keine Angst mehr machen lassen. Sie haben nur noch eine Angst, und zwar davor, arbeitslos zu
werden. Diese Angst zählt.
({9})
Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen brauchen
wir ein umfassendes Konzept. Herr Bundeskanzler, Sie
haben gesagt, dass diese Zahl bedrückend ist. Aber wenn
das so ist - im Übrigen wären 4,8 Millionen genauso beDr. Angela Merkel
drückend -, dann muss man feststellen: Wir brauchen
ein Konzept, das alle wichtigen Bereiche umfasst, ein
Konzept, das weitere Strukturreformen in Angriff nimmt
und sich nicht im Klein-Klein verliert, ein Konzept, das
alles der einen Frage unterordnet, nämlich wie wir zu
mehr Arbeit kommen. Daran muss sich alles in diesem
Land ausrichten.
({10})
Wir müssen ran an die Realität! Die Realität heißt:
Die Welt verändert sich rasant. Bei einem schnellen
Wandel sind schnelle Antworten notwendig. Insofern leben wir sozusagen in den zweiten Gründerjahren dieser
Bundesrepublik Deutschland und deshalb müssen wir
uns entscheiden, ob wir den Geist der Anfangsjahre der
Bundesrepublik Deutschland wieder aufnehmen oder ob
wir ihn aufgeben wollen. Ich meine, wir müssen diesen
Geist aufnehmen: den Geist der Freiheit, den Geist der
kleinen Einheiten, den Geist, der den Menschen etwas
zutraut.
({11})
Der Zusammenhang besteht doch gerade darin, dass
dann, wenn wir diesen Geist nicht wieder vitalisieren, als
erstes die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, und zwar
sowohl in Bezug auf diejenigen, die Hilfe brauchen, als
auch auf diejenigen, die Leistung erbringen. Wer sich
nicht ausreichend zur Freiheit bekennt, wird den sozialen Zusammenhalt von Gerechtigkeit und Solidarität
in unserer Gesellschaft aufs Spiel setzen.
({12})
Wenn wir den sozialen Zusammenhalt wollen - er ist
doch gerade die große Leistung der sozialen Marktwirtschaft gewesen und muss auch die große Leistung einer
neuen sozialen Marktwirtschaft sein -, dann müssen wir
uns doch erst einmal mit der Realität vertraut machen.
({13})
Es ist doch so: Die Wachstumsprognosen sind nicht so
wie erwartet. Dafür kann ich niemanden verantwortlich
machen, sondern das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Aber, Herr Bundeskanzler, wenn statt 1,6 Prozent
Wachstum nur 0,8 Prozent erwartet werden, wäre es
richtig gewesen, deutlich zu sagen, was das für den
Haushalt, die Zahlen, die nach Brüssel gemeldet werden,
und die eigenen Möglichkeiten bedeutet, und Sie hätten
sich Gedanken darüber machen müssen, was Sie heute
realistischerweise zur Zukunft des Bundeshaushaltes in
diesem Jahr sagen können. Das wäre das Erste gewesen;
das haben wir erwartet.
({14})
Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen,
dass wir zwar ein Strukturproblem haben, dass wir es
aber bereits durch die durchgeführten Reformen eigentlich gelöst haben. Wenn Sie ehrlich dieser Meinung sind,
dann werden Sie Deutschland in den Untergang führen.
Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß.
({15})
Wir haben weiterhin strukturelle Probleme; das ist die
Wahrheit. Sie selbst haben noch 1998 gesagt: Bei allem,
was wir tun, wollen wir uns am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen und dafür sorgen, dass jedes
Instrument auf den Prüfstand gestellt wird, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeitsplätze sichert oder Arbeitsplätze schafft. Das war die Zeit, in der Sie gesagt
haben: Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, dann sind wir es nicht wert, wieder
gewählt zu werden. In dieser Zeit haben Sie die Realitäten noch gesehen, Herr Bundeskanzler.
({16})
Dass die Schaffung von Arbeitsplätzen erste Priorität
hat, ist angesichts der Zahlen klar. Die entscheidende
Frage ist: Wo sind denn zukunftsfähige Arbeitsplätze?
Ich habe von Ihnen dazu wenig gehört, und wenn, dann
nur sehr Bedauerliches. Das, was Sie zur Grünen Gentechnik gesagt haben, klingt wie Hohn in den Ohren derer, die sich dieser Technologie widmen wollen.
({17})
Hier ist Ihr Wirtschaftsminister noch ehrlicher. Er hat
vor Vertretern der bayerischen Wirtschaft gesagt: Es ist
nicht verantwortbar, alles so zu belassen, wie es ist.
Recht hat der Mann. Aber er kann sich nicht durchsetzen. Nun sind auch Sie noch umgefallen, obwohl Sie eigentlich wissen, dass es nicht richtig ist. Es ist doch ein
Hohn, in einem einzigen Wirtschaftsbereich der Industrie die gesamte Haftung aufzuzwingen, während in allen anderen Wirtschaftsbereichen die Verantwortlichkeit
besser aufgeteilt ist. Warum gerade in diesem Zukunftsbereich? So entstehen keine Arbeitsplätze.
({18})
Ich kann nur sagen - auch Herr Steinbrück fordert das
immer wieder ein -: Lassen Sie uns die Richtlinien der
Europäischen Union eins zu eins umsetzen! Hätten wir
das bei der Gentechnikrichtlinie gemacht, dann wären
wir heute weiter. In zwei Jahren - das ist heute die Hälfte
des Zeitraums, in dem sich das Wissen der Menschheit
verdoppelt - sind viele Betriebe abgewandert. Angesichts dessen können Sie doch nicht sagen: Lassen Sie
uns abwarten und dann schauen wir einmal! Denn wir
wissen schon heute, welche Folgen das haben wird.
({19})
Bei aller Freude über Investitionen im Energiebereich
wissen wir doch, dass wir keine konsistente Energiepolitik haben,
({20})
dass es volkswirtschaftlicher Unsinn ist, vorzeitig aus
der Kernenergie auszusteigen,
({21})
und dass wir keine dauerhafte Perspektive haben.
({22})
Wir wissen ebenfalls, dass 40 Prozent zusätzliche Kosten auf jede Kilowattstunde, verursacht durch den Staat,
zu viel sind und dass die Lenkungsinstrumente - dort der
Emissionshandel, hier das Erneuerbare-Energien-Gesetz
und die KWK-Förderung - nicht zusammenpassen. Eine
konsistente Energiepolitik könnte weitaus mehr Arbeitsplätze in Deutschland sichern als zurzeit.
({23})
Der Bundesumweltminister hat darauf verwiesen,
dass er mit seiner subventionierten erneuerbaren Energie
120 000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Das freut mich.
Aber Sie müssen sich einmal die Frage stellen: Wie viel
Arbeitsplätze hat dieser Mann schon verhindert? Das
sind mit Sicherheit sehr viel mehr.
({24})
Der Pharmastandort Deutschland ist - das gilt insbesondere für die forschende Arzneimittelindustrie durch die Ausführung der Festbetragsregelung beeinträchtigt. Wir bekennen uns zur Gesundheitsreform; aber
wir haben nicht beschlossen, dass die patentgeschützten
Medikamente benachteiligt werden. Der Pharmastandort
Deutschland ist international in Verruf geraten, mit nicht
absehbaren Folgen für die Bundesrepublik Deutschland
und die Arbeitsplätze in diesem Lande.
({25})
Wir sind natürlich dafür, dass Sie Public Private
Partnership endlich auf den Weg bringen. Darüber wird
doch seit mittlerweile drei Jahren diskutiert. Wir sind
auch dafür, dass Sie die Mauteinnahmen schneller zu
Ausgaben ummünzen. Es hat ja lange genug gedauert,
bis der Bundesverkehrsminister die Sache endlich auf
der Reihe hatte.
({26})
All das werden wir natürlich aktiv unterstützen. Wir sind
auch für ein CO2-Investitionsprogramm. Aber ich bitte
Sie inständig: Lassen Sie uns aus den Nachteilen des
Bisherigen lernen und lassen Sie uns effizienter vorgehen! Dann werden wir Sie selbstverständlich unterstützen.
({27})
Wichtig sind die Arbeitsplätze der Zukunft - das sind
diejenigen Arbeitsplätze, die unseren Wohlstand sichern und wichtig ist natürlich auch, dass wir Einstellungshemmnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt senken. Wir
müssen weiterhin überlegen, was Menschen daran hindert, wieder in Arbeit zu kommen.
Ich sage Ihnen zu - eine entsprechende Verabredung
haben wir getroffen; das kam auch in Ihren heutigen
Aussagen zum Ausdruck -, dass wir daran mitwirken,
dass bei den Zuverdienstmöglichkeiten im Rahmen
von Hartz IV etwas geändert wird. Ich sage Ihnen aber
auch: Die überdimensionale Förderung von 1-Euro-Jobs
insbesondere für junge Leute wird in die Irre führen. Wir
müssen alles daransetzen, dass wir auf dem ersten Arbeitsmarkt mehr Beschäftigung bekommen. Deshalb
wollen wir etwas ändern.
({28})
Ich habe irgendwo gehört, dass Sie jetzt Bürokratie
abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen wollen. Noch Ende letzten Jahres haben wir hier gesessen
und gerungen, ob wir die Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein Jahr oder
vielleicht um zehn Jahre verlängern. Ich kann Ihnen nur
sagen: Machen Sie sich an die Arbeit! Das hätten wir
längst haben können. Natürlich können wir diese Regelung auch auf Energieleitungen ausdehnen.
({29})
Sie haben kein Wort zum Antidiskriminierungsgesetz gesagt.
({30})
Der Bundeskanzler wird schon gewusst haben, warum.
Herr Steinbrück wird uns nachher erklären, wie er eine
Eins-zu-eins-Umsetzung mit Rot-Grün schaffen will.
Herr Steinbrück, halten Sie nicht einfach nur Reden im
nordrhein-westfälischen Landtag, sondern überzeugen
Sie fünf Sozialdemokraten aus Ihrem Landesverband!
Wir stimmen zu und Sie können eins zu eins umsetzen.
({31})
Der Bundeskanzler hat uns erklärt, dass es mit den
betrieblichen Bündnissen für Arbeit bei Opel, bei
Siemens und bei anderen so gut klappt. Das ist richtig.
({32})
Das ist besonders für diejenigen, die in den Schlagzeilen
sind, wichtig; man nutzt die Chance, in die Zeitung zu
kommen. Aber oft müssen die Kleinen über Wochen und
Monate daran arbeiten, dass die Gewerkschaften ihnen
zustimmen, wenn sie eine solche Regelung brauchen.
Wir wollen die Tarifautonomie überhaupt nicht angreifen;
({33})
vielmehr vertreten wir die Auffassung: Wenn die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb
der Laufzeit eines Tarifvertrages mit der Betriebsleitung
einig ist, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag zur Erhaltung von Arbeitsplätzen sinnvoll ist, dann soll ihnen
das unbürokratisch möglich sein. Trauen Sie den Leuten
vor Ort etwas zu! Dazu fordern wir Sie auf.
({34})
Sie wollen jetzt kleinste Schritte beim Kündigungsschutz gehen. Okay, die gehen wir natürlich mit. Ich erinnere Sie aber an Ihre Rede zur Agenda 2010: Damals
haben Sie von einem Optionsmodell beim Kündigungsschutz gesprochen. Warum beschließen wir nicht heute
das, was Sie damals für richtig gehalten haben? Wir halten das immer noch für richtig. Deshalb werden wir weiterhin darüber reden.
({35})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Absenkung - das sagen alle Sachverständigen - der zu hohen
Lohnzusatzkosten. Wir brauchen auch - dazu hätte ich
nun wirklich gern ein Wort von Ihnen gehört, weil dieses
Thema so allgegenwärtig ist und ja auch von Ihrem
neuen Vorsitzenden des Sachverständigenrates fast täglich angesprochen wird - eine Entkopplung der Kosten
für die sozialen Sicherungssysteme von den Arbeitskosten, ob es Ihnen passt oder nicht.
({36})
Natürlich wollen auch wir, weil wir genauso für die
Gesundheitsreform eintreten wie Sie,
({37})
dass die Krankenkassenbeiträge sinken. Aber Sie müssen doch auch Folgendes sehen: Der Schätzerkreis sagt
den Krankenkassen, dass ihre Ausgaben in diesem Jahr
um 1,9 Prozent steigen. Zugleich sind noch die Schulden
aus den vergangenen Jahren da und müssen erst einmal
abbezahlt werden. Da ist es doch klar, dass die Krankenkassen sich überlegen, ob sie die Beiträge senken, wenn
sie sie dann im gleichen Jahr vielleicht wieder erhöhen
müssten. Lassen Sie uns also vernünftig auf die Kassen
einwirken. Auch ich sage aber frei heraus: Ich finde es
unmöglich, wenn die Vorstandsvorsitzenden mancher
Krankenkassen offensichtlich vergessen haben, dass
man in solch einem Job soziale Verantwortung einbringen muss. Das sage ich ganz ausdrücklich. Lassen Sie
uns aber auch nichts Unmögliches von den Kassen verlangen. Es wäre nicht gut, wenn die Beiträge nach einer
Senkung ein halbes Jahr später wieder erhöht werden
müssten.
({38})
Nun zu den Aussagen zur Pflegeversicherung, die
Sie hier gemacht haben. Ich hätte mir ehrlich gewünscht,
dass diese etwas konkreter ausgefallen wären. Wie soll
es denn nun gehen? Die Ministerin hat diese Woche
schon vier Vorschläge gebracht. Deswegen sind wir
schon ganz durcheinander.
({39})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn Sie einen Gesetzentwurf auf
den Tisch legen, der der von allen Sachverständigen erhobenen Forderung Rechnung trägt, die Kosten für die
Pflegeversicherung ein Stück weit von den Arbeitskosten zu entkoppeln.
({40})
Das heißt auf Deutsch - Sie haben diesen Begriff ja nicht
in den Mund genommen -: Kapitaldeckung muss zu einer Säule der Pflegeversicherung werden. Wenn ein entsprechender Entwurf vorliegt, werden wir versuchen,
mit Ihnen zusammenzukommen.
({41})
Die Frage, was Sie von der Bürgerversicherung halten, haben Sie in diesem Hause noch nicht beantwortet.
({42})
Es wäre mir recht gewesen, wenn das heute geschehen
wäre. Diese steht ja nun in totalem Widerspruch zu all
dem, was Not tut.
({43})
Ich glaube, Sie sollten wirklich noch einmal darüber
nachdenken, ob es nicht gerechter wäre, die Krankheitskosten von Kindern, so wie wir das vorgeschlagen haben, von allen deutschen Steuerzahlern bezahlen zu lassen, als sie wieder denen in unserer Gesellschaft
aufzubürden, deren Verdienst unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Das ist unser Modell.
({44})
Weil in diesem Zusammenhang gleich wieder der
Vorwurf der Steuererhöhung fällt, lassen Sie mich sagen:
Jawohl, wir haben entgegen unserem Steuerkonzept 21,
das ganz klar sagt, welche Subventionstatbestände abgebaut werden sollen
({45})
- dagegen versuchen Sie ja schon wieder hinten und
vorne zu hetzen; seien Sie einmal ehrlich -, und auch
klar sagt, dass der Spitzensteuersatz auf 36 Prozent gesenkt werden soll, nun vor, diesen nur auf 39 Prozent zu
senken, um auf diese Weise die Krankheitskosten der
Kinder von den Gutverdienenden in diesem Lande bezahlen zu lassen. Das ist unser Beitrag zur sozialen
Gerechtigkeit, meine Damen und Herren.
({46})
Im Zusammenhang mit der Frage, wie die Benachteiligung der deutschen Unternehmen im internationalen
Wettbewerb beseitigt werden kann, haben Sie sich heute
um ein Thema ein Stück weit herumgedrückt, das mit Sicherheit auf uns zukommt: Wie wird es angesichts europäischer Regelungen in Zukunft um die Mitbestimmung
in Deutschland bestellt sein? Ich sage ausdrücklich, ich
teile nicht die Meinung des früheren BDI-Vorsitzenden
Rogowski, dass es sich hierbei um einen Irrläufer der Geschichte handelt. Ich sage Ihnen, weil Sie vom europäischen Sozialstaatsmodell gesprochen haben: Wenn wir
nur in Europa wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann
müssen wir uns überlegen, wie wir in Deutschland die
Mitbestimmung der Zukunft so europafest machen, dass
wir dadurch nicht abfallen und Wettbewerbsnachteile haben. Dazu habe ich heute ein Wort von Ihnen vermisst;
dieses Thema steht auf der Tagesordnung.
({47})
Dann stellt sich natürlich die Frage nach den Steuern.
Als Erstes muss ich Ihnen einmal sagen: Man darf die
Realitäten hier nicht völlig verkehren. Sie können nicht
über alles informiert sein, was im Parlament stattfindet,
aber gestern fand zum Beispiel im Finanzausschuss die
Beratung über das Modell zur Erbschaftsteuer, so wie
Sie es hier dargestellt haben, statt. Sie wissen sicherlich
auch, wie die Regierungsfraktionen abgestimmt haben:
glatte Ablehnung.
({48})
Aber manchmal kann man in Nächten etwas lernen und
die Nacht scheint sehr lehrreich gewesen zu sein. Ich
sage Ihnen: Unsere Stimmen haben Sie. Es ist ein bayerischer Antrag, die Ministerpräsidenten der Union werden das Modell unterstützen, wir haben es gestern bereits unterstützt. Also nichts wie ran; das können wir
machen.
Meine Damen und Herren, Sie haben weiter vorgeschlagen, man solle ein Signal setzen bei der Körperschaftsteuer. Dazu sage ich Ihnen: Das hört sich gut an,
das finden wir okay, aber Sie müssen auch genau sagen,
wie es gegenfinanziert werden soll.
({49})
Es muss zum Schluss so sein, dass es der Wirtschaft in
Deutschland nutzt. Es darf uns nicht anschließend mehr
Kritik als Nutzen bringen. Wir sind im Grundsatz dazu
bereit, solche Überlegungen zu unterstützen. Das ist
keine Frage.
Dasselbe sage ich zu der Frage der Anrechnung der
Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Diese Überlegungen halten wir für vernünftig. Diesen Vorschlag können Sie in ein Gesetz umsetzen und Sie können damit
rechnen, dass wir dem zustimmen.
({50})
Aber jetzt müssen wir aufpassen. Wir haben nach wie
vor das Ziel einer großen, umfassenden Steuerreform,
bei der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer so
aufeinander abgestimmt werden, dass vor allen Dingen
die Personengesellschaften, das heißt die Familienunternehmen, in Deutschland nicht die Leidtragenden sind.
({51})
Sie haben heute im Zusammenhang mit der Senkung des
Körperschaftsteuersatzes kein einziges Wort zu Personengesellschaften und Familienunternehmen gesagt.
({52})
So geht das nun auf keinen Fall. Wenn die Gleichbehandlung garantiert wird, machen wir natürlich mit,
keine Frage, aber für uns ist eine vernünftige Gegenfinanzierung Conditio sine qua non. Alles andere ist nicht
machbar.
({53})
Jetzt kommen wir auf den Punkt. Wir müssen dann
noch Spielraum haben - deshalb bestehen wir auch auf
der Eigenheimzulage - für eine wirklich umfassende
Steuerreform, und zwar nicht nur im Körperschaftsteuerbereich, so wie Sie es für den Sachverständigenrat sehen,
({54})
sondern auch im Einkommensteuerbereich. Die Menschen in diesem Lande wollen wieder verstehen, wer
wofür wie viel Steuern zahlt. Das geht nur, wenn das
Steuersystem einfacher und transparenter wird. Daran
werden wir weiter arbeiten und wir laden Sie herzlich
dazu ein, unser Steuerkonzept 21 zu unterstützen.
({55})
Herr Bundeskanzler, Sie haben auch über die Zukunft
der Bildung gesprochen. Wir sind dafür, dass mehr in
Bildung investiert wird.
({56})
Tatsache ist aber, dass der Haushalt der Frau Forschungsministerin, was die eigentlichen Forschungsausgaben in Deutschland anbelangt, gesunken und nicht
gestiegen ist.
({57})
Gestiegen ist er nur, weil das Forschungsministerium
Aufgaben übernommen hat, die sicherlich wichtig sind,
die aber von Haus aus nicht unbedingt in die Kompetenz
des Bundes gehören. Das ist die Wahrheit über den Zustand des Haushalts.
({58})
Meine Damen und Herren, bei der SPD ist im Augenblick die Einheitsschule wieder ganz groß in der Diskussion.
({59})
Weil der Bundeskanzler meinte, über PISA sprechen zu
müssen, muss ich ihn doch wirklich noch einmal daran
erinnern, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen - alle mit klassischen Modellen, die mit Einheitsschule aber auch gar nichts zu tun
haben - die ersten vier Plätze bei der PISA-Studie belegt
haben. Das spricht für das gegliederte Schulsystem.
({60})
Ein Nachbarland von Sachsen, das auf Platz drei liegt,
ist Brandenburg; es liegt auf Platz 15. Wissen Sie, woher
die Berater kamen, die den Brandenburgern ihr Schulsystem nahe gebracht haben? Aus Nordrhein-Westfalen!
Das heißt, es muss sich nicht nur in Brandenburg etwas
ändern, sondern auch in Nordrhein-Westfalen.
({61})
Herr Bundeskanzler, Sie haben zum Thema Föderalismus gesprochen. Eines geht natürlich nicht - das haben Sie sicherlich auch nicht ernst gemeint -: an einer
Stelle zu widersprechen und diesen Punkt offen zu lassen, um später zu sehen, was man da machen kann, und
an einer anderen Stelle direkt beschließen zu wollen. Wir
sind ja großzügig und gutmütig, aber völlig dumm sind
wir nicht.
({62})
Dass bei einer solchen Reform der bundesstaatlichen
Ordnung Dinge zusammenhängen ({63})
wir haben zum Beispiel gesagt, dass das Umweltrecht
auf die Bundesebene gehoben werden kann, weil uns ein
einheitliches Gesetzbuch helfen kann, aber dafür muss
der Wettbewerb in den Bildungssystemen gestärkt werden; das kann nicht einfach entkoppelt werden -, dass
wir nicht das eine machen können und das andere nicht,
das werden Sie verstehen.
({64})
Wir können - das sage ich ausdrücklich - bei der Föderalismusreform natürlich vorankommen und wir sollten
auch vorankommen. Aber dazu muss man eines akzeptieren, nämlich die Grundgesetzordnung. Sie ist so, wie
sie ist; geändert werden kann sie nur mit einer Zweidrittelmehrheit. Sie haben vor dem Verfassungsgericht bei
der Juniorprofessur verloren, dann sind Sie mit den Studiengebühren auf die Nase gefallen. Ich weiß nicht, wie
viele Verfassungsgerichtsprozesse Sie noch verlieren
wollen. Aber ändern können wir die Ordnung nur gemeinsam. Es empfiehlt sich, die Realitäten anzuerkennen. Ich bin ganz sicher, dass man dann auch einen guten
Weg finden kann.
({65})
Zu einem Thema haben Sie heute sicherheitshalber
gar nichts gesagt, nämlich zu den Schulden und zum
Stabilitätspakt. Sie haben uns gesagt, was Sie hier und
dort machen wollen, zum Beispiel bei der KfW. Das ist
alles prima. Aber Zinsverbilligungen kommen natürlich
bei irgendjemandem an. In Ihrem Kabinett heißt dieser
Mann Eichel. Er ist dafür verantwortlich, dass die
Maastricht-Kriterien eingehalten werden.
({66})
Nun arbeiten Sie nächste Woche wieder sehr daran, dass
die Maastricht-Kriterien aufgeweicht werden. Aber ich
kann Ihnen nur eines sagen: Wenn wir in den wichtigen
Stunden, wo wir über die Zukunft dieses Landes debattieren, noch mehr Wechsel auf die Zukunft aufnehmen,
ohne uns um die Kinder und Enkel zu scheren, dann
brauchen wir über Bildung und Forschung nicht mehr zu
sprechen; dann versündigen wir uns.
({67})
Deshalb wäre es angesichts der nach unten korrigierten Wirtschaftsprognosen, des ganz knappen Haushalts,
den Herr Eichel aufgestellt hat - wie immer auf Kante
genäht -, und der zusätzlichen Ausgaben, die Sie uns
heute hier in Aussicht gestellt haben, schon interessant
zu erfahren, wie Sie das zusammenbringen wollen. Entweder Sie rechnen nicht damit, dass die Kommunen die
Programme abrufen können - das ist natürlich auch eine
Möglichkeit: ein Programm aufzulegen, das keiner benutzen kann, weil er selber so arm ist, dass er dazu nicht
die Erlaubnis erhält -, oder aber Sie müssen sagen, wie
Sie das finanzieren wollen. Darüber muss gesprochen
werden; denn so können wir die Dinge nicht hinnehmen.
({68})
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat
heute einige Einzelmaßnahmen dargelegt. Ich habe dazu
Stellung genommen. Aber was fehlt, ist die ordnungspolitische Linie.
({69})
Der Bundeskanzler, die Bundesregierung ist bestenfalls
Reparateur, aber eben kein Architekt einer neuen sozialen Marktwirtschaft.
({70})
Deutschland hat sicherlich eine Reputation. Herr Bundeskanzler, Sie kommen mehr im Ausland herum als wir.
Wenn Sie dort zuhören - ich hoffe, dass Sie das tun -,
dann kennen Sie die Fragen, die man an unser Land stellt.
Eine Frage ist, ob wir noch die Kraft haben, Spitze zu
sein, oder ob wir immer weiter abfallen.
Morgen jährt sich zum 15. Mal der Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahl in der früheren DDR.
Dieser Tag war für viele, die hier sitzen, sehr bewegend.
Mit diesem Tag verbinde ich persönlich die Einsicht,
dass wir bei Veränderungen trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten immer auch dazugewinnen können.
Aber das erfordert, dass wir einen roten Faden haben,
dass wir wissen, wo es langgeht, und die Richtung kennen, dass wir eine Vision haben und dass wir die Kräfte
aktivieren, die uns stark machen. Dazu gehört für mich
die Freiheit; denn sie ist notwendig, damit Gerechtigkeit
und Solidarität entstehen können.
({71})
Wir werden heute Nachmittag miteinander sprechen.
Ich sage Ihnen zu: Wir werden die Gesetzesvorlagen, die
Sie einbringen, fair und konstruktiv prüfen.
({72})
Wir werden, wie wir das als Opposition immer gemacht
haben, klare Kriterien für unsere Prüfung anlegen. Ich
will sie hier ganz deutlich benennen:
Erstens. Vorrang hat alles, was Beschäftigung fördert
und nichts kostet. Das ist in der heutigen Zeit das Beste.
({73})
Zweitens. Was Beschäftigung fördert und etwas kostet, muss mit Blick auf die Zukunft solide finanziert sein.
({74})
Drittens. Was Beschäftigung gefährdet, das wird zurückgezogen, geändert oder unterlassen. Auch das werden wir einfordern, Herr Bundeskanzler.
({75})
Denn eine Politik des „Weiter so!“ verbietet sich angesichts der Lage unseres Landes. Herr Bundeskanzler,
Sie sind Getriebener der Entwicklung und nicht Gestalter der Entwicklung.
({76})
Das ist das Bedauerliche für Deutschland.
({77})
Damit wir gestalten können, brauchen wir Mut und
Kraft. Wir brauchen vor allem Mut und Kraft, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und die Wahrheit zu erkennen. Wir müssen den Menschen in diesem Land etwas
zutrauen. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen. Die
Menschen müssen über die Wahrheit informiert werden.
({78})
- Man erkennt an Ihren Zurufen, dass Ihnen das nicht
passt. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist inzwischen so,
dass die Wahrheit von Rot-Grün als Angriff
({79})
und die Wiederholung der Wahrheit von Rot-Grün als
Kampagne empfunden wird. So sind die Realitäten in
diesem Lande.
({80})
Ich kann Ihnen ganz klar sagen, wo das endet: In einer
Wagenburgmentalität,
({81})
zum Schluss wird der Überbringer der schlechten Nachrichten beschimpft und die Dinge werden nicht so akzeptiert, wie sie sind. Sie erwecken nur den Eindruck, dass
Sie für die Zukunft gut gerüstet seien. Zu dieser Wagenburgmentalität gehört beispielsweise, dass Sie in Kiel
eine Koalition schmieden, obwohl Sie abgewählt sind.
Aber die Menschen werden sich dazu ihre Meinung bilden.
({82})
Zur Wagenburgmentalität gehört auch die Art und
Weise, mit der der Außenminister mit seinen Schwierigkeiten umgeht.
Aber diese Wagenburgmentalität hilft uns nicht weiter. Deshalb haben wir Ihnen - darüber debattieren wir
heute - einen Pakt für Deutschland angeboten, einen
Pakt, in dem wir uns deutlich dafür aussprechen, den
Menschen in diesem Lande etwas zuzutrauen, sie nicht
zentralistisch zu dirigieren, sondern ihnen Spielräume zu
lassen, damit sie in diesem Land - ich betone: in diesem
Land - ihre Kräfte wieder entfalten können. Das ist Verantwortung für Deutschland.
In diesem Sinne sage ich: An einem solchen Pakt für
Deutschland wirken wir gerne mit.
Herzlichen Dank.
({83})
Ich erteile dem Vorsitzenden der Fraktion der SPD,
Franz Müntefering, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale
Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und
zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes,
die das Soziale beiseite drängen würden.
Das war die Botschaft von Bundeskanzler Schröder
beim Start der Agenda 2010 vor zwei Jahren. Für die
Koalition gilt das unverändert weiter. Wir wollen sozialen Fortschritt, Erneuerung und Zusammenhalt; das ist
das Ziel unserer Politik.
({0})
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers von
heute und die sich daraus ergebenden Konsequenzen
sind weitere wichtige Schritte hin zur Lage Deutschlands
im Jahre 2010: hin zu Wohlstand für alle, zu sozialer Gerechtigkeit und zu einer Politik der Nachhaltigkeit. Wir
sind in Deutschland mitten in diesem Prozess der Veränderung. Der ist nicht leicht; dafür braucht man Mut.
Manchen von denen, die ein Stück mitgegangen sind,
dauert es zu lange. Manche von denen, die ein Stück mitgegangen sind, trauen sich nicht, sich dazu zu bekennen.
Manche von denen wollen nichts damit zu tun haben.
Die Generalrevision von Rüttgers und die Bereitschaft
von Milbradt, gegen sich selbst zu demonstrieren, sind
noch nicht vergessen. Wenn endlich einmal einer aus der
Opposition sagen würde, wie sich das mit der Arbeitslosenstatistik und Hartz IV verhält - das haben wir alle
miteinander beschlossen -, wäre das einfach einmal ein
Akt der Ehrlichkeit und der Wahrheit, die Sie, Frau
Merkel, eben eingefordert haben.
({1})
Wir haben ein Maß an Arbeitslosigkeit wie bei
Helmut Kohl 1998 und zudem die Veränderungen der
Statistik durch Hartz IV. Das ist wahr. Das ist viel. Das
auszusprechen macht schon einmal deutlich, wie man
die Zusammenhänge sieht. Wir jedenfalls werden den
Weg der Agenda 2010 weitergehen. Wenn Sie wollen,
können Sie mitgehen. Es geht dabei um die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Es geht um Recht und Ordnung am
Arbeitsmarkt. Es geht um gleiche Bildungschancen, um
die Potenziale der älter werdenden Gesellschaft. Es geht
um den Investitionsstandort Deutschland und es geht um
die Frage, wie sich Politik organisiert.
({2})
Wir haben uns alle vorgenommen, heute Morgen
nicht polemisch zu sein. Frau Merkel, ich hatte aber bei
Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie ein bisschen aus der
Spur waren, weil Sie sich gestern etwas in der Erwartung
dessen, was der Bundeskanzler sagen könnte, aufgeschrieben haben, er Ihnen aber nun ein breites Konzept
dessen vorgelegt hat, was wir bereit und fähig sind zu
tun.
({3})
Darauf waren Sie nicht eingestellt und das hat Ihnen ein
bisschen die Sprache verschlagen.
({4})
Deswegen will ich in Abweichung von meinem Konzept gerne auf ein paar Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben. Kommen wir zunächst zur Senkung
der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von
6,5 Prozent auf 5 Prozent. Eine solche Senkung bedeutet
11 Milliarden Euro weniger in der Kasse der Bundesagentur für Arbeit. Wenn Sie dann mit uns zusammen
ein Konzept vorlegen wollen, das ganz besonders die Interessenlage der unter 25-Jährigen im Blick hat - nach
der Melodie: am Ende dieses Jahres ist keiner von ihnen
mehr länger als drei Monate in Arbeitslosigkeit -, und
wenn Sie auf unserem Weg - der da heißt: die Maßnahmen für die über 58-Jährigen sollen in Zukunft so lange
verlängert werden, bis sich der Ruhestand anschließt mitgehen wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass
der Bundesagentur für Arbeit das nötige Geld zur Verfügung steht. Da kann man nicht gleichzeitig eben mal
11 Milliarden Euro aus populistischen Gründen streichen wollen. Das passt doch alles nicht zusammen!
({5})
Sie haben vorsichtshalber nichts zu der Notwendigkeit von Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt
gesagt. Wir haben im letzten Jahr ein Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit beschlossen. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, FKS genannt und beim Zoll gebündelt, umfasst heute 5 300 und bald 7 000 Personen.
Die Schattenwirtschaft ist im letzten Jahr zum ersten
Mal seit 1975 gesunken. Sie ist noch zu hoch. Die FKS
hat im letzten Jahr Schäden in Höhe von 475 Millionen
Euro im Bereich der Steuern und der Sozialversicherungsabgaben, die nicht entrichtet worden sind, aufgedeckt. Sie hat 91 000 Strafverfahren und 52 000 Bußgeldverfahren eingeleitet.
Sie sprechen darüber nicht gerne. Wenn wir dieses
Thema ansprechen, kommt bei Ihnen sofort die Sache
mit der Putzfrau. Uns geht es nicht um die Putzfrauen,
sondern darum, dass die illegale Tätigkeit in Deutschland, die ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr
akzeptabel ist, mit allem Nachdruck bekämpft wird.
({6})
Die Menschen in diesem Land, die ehrlichen Arbeitnehmer und die ehrlichen Arbeitgeber, sollen sich darauf
verlassen können, dass sie nicht die Dummen sind. Diejenigen, die an den Gesetzen vorbeimarschieren, müssen
erfasst werden. Daraus müssen Konsequenzen gezogen
werden. Das wollen wir so.
({7})
Sie haben etwas zur Pflegeversicherung gesagt, Frau
Merkel, und haben dafür plädiert, man müsse im Interesse der Stabilität der Lohnnebenkosten andere Finanzierungsformen finden; Sie haben sich vorsichtig ausgedrückt. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen - der
Bundeskanzler hat es deutlich gemacht -: Wir werden
uns dazu im Laufe dieses Jahres positionieren. Es gibt
im Bereich der Pflegeversicherung keine Lohnnebenkosten. Diese 1,7 Prozent werden von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allein gezahlt.
({8})
Man sollte wissen, über was man miteinander redet.
Sie haben das Antidiskriminierungsgesetz angesprochen. Bei uns in der ganzen Koalition - die Bundesregierung ist dabei - ist klar, dass es das Antidiskriminierungsgesetz geben wird.
({9})
Das haben wir vereinbart. Es wird kommen, und zwar,
Frau Merkel, was den arbeitsrechtlichen Teil angeht,
eins zu eins, wie die EU das vorgeschrieben hat.
({10})
Da gibt es bei Ihnen eine interessante Entwicklung:
Wir haben in der letzten Woche eine Debatte über einen
Antrag geführt, den Sie eingebracht haben. Dieser
Antrag lautete: „Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“.
({11})
Inzwischen heißt es bei Ihnen: Der Vorschlag der EU
soll eins zu eins umgesetzt werden. Das ist interessant.
Wir sagen Ihnen trotzdem: Dieses Antidiskriminierungsgesetz wird es geben. Im arbeitsrechtlichen Teil
wird der Vorschlag eins zu eins umgesetzt und im zivilrechtlichen Teil sehen wir mehr vor, als von der europäischen Ebene vorgegeben wurde, weil zum Beispiel auch
Behinderte in das Antidiskriminierungsgesetz einbezogen werden sollen.
({12})
So werden wir das nach der Anhörung deutlich verändert
gemeinsam vorlegen und so schnell wie möglich im
Deutschen Bundestag und im Bundesrat zur Beschlussfassung vorlegen.
Sie haben über die Gentechnik gesprochen. Wir alle
haben in den letzten Tagen Zeit gehabt, mit dem VCI
und großen bedeutenden Chemieunternehmen in
Deutschland zu sprechen. Alle miteinander sagen:
({13})
Lasst uns einmal zwei Jahre schauen, was da läuft und
wie das mit der Haftungsfrage ausgehen wird! Dann
werden wir in zwei Jahren weitersehen. Das hat der Bundeskanzler angesprochen.
Deshalb lohnt es sich nicht, sich an dieser Stelle zu
echauffieren. Wir haben im ersten Gentechnikgesetz
klare Entscheidungen getroffen. Wir haben zwei Jahre
Zeit, um zu prüfen, ob etwas korrigiert werden muss.
Das sagen alle miteinander. Das zweite Gentechnikgesetz werden wir jetzt beschließen; denn auch da sind
wir einer Meinung. Das wird schnell vorangehen; bei der
Standortliste sind wir uns völlig einig.
({14})
Es gibt keinen Grund zu weiterer Aufregung.
Zur Erbschaftsteuer. Sie haben eben locker erzählt
- dafür haben Sie auf Ihrer Seite große Begeisterung
ausgelöst -, dass gestern der Antrag Bayerns angeblich
im Finanzausschuss des Bundestages abgelehnt worden
sei.
({15})
Der Antrag Bayerns stand gestern im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, im Finanzausschuss,
überhaupt nicht zur Abstimmung.
({16})
Was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages abgelehnt worden ist, war das gesamte Steuerkonzept der CDU/CSU, das sie in ihrem „Pakt für Deutschland“ vorgeschlagen hatte.
({17})
Dies habe ich klargestellt, Frau Merkel, weil Sie zum
Schluss so viel von der Wahrheit geredet haben. Sie haben immer haarscharf an ihr vorbei argumentiert.
({18})
Dann haben Sie verlangt, der Kanzler solle etwas zu
den Schulden sagen. Der Kanzler hat deutlich gemacht,
dass wir einen Großteil der zusätzlichen Ausgaben für
Forschung und Entwicklung durch den Wegfall der
Eigenheimzulage finanzieren wollen. Diese Zulage hat
auch Sozialdemokraten immer gut gefallen; viele von
uns sagen: Es wäre schön, wenn wir sie behalten könnten. Aber so zu tun, als gäbe es keine Vorschläge, ist
ebenfalls dicht an der Wahrheit vorbei gewesen. Wir
wollen Bildung, Forschung und Technologie fördern und
dies auch durch den Wegfall der Eigenheimzulage finanzieren. Machen Sie an dieser Stelle endlich mit! Das
wäre schon gut.
({19})
Frau Merkel, Sie haben sich - ({20})
- Sie hat ständigen Beratungsbedarf; das ist klar.
({21})
Sie haben sich sehr nebulös zu der Frage geäußert, ob
man neue Schulden machen kann. Sie sind heute so unklar geblieben wie auch schon in den letzten Wochen.
({22})
Am 16. März wurden Sie, Frau Merkel, im „Handelsblatt“ wie folgt wiedergegeben:
Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht auf der
einen Seite bei den Steuersätzen geben und mit der
anderen bei der Mindestbesteuerung wieder einsammeln.
({23})
Im selben Interview wurden Sie weiterhin zitiert:
Für eine steuerliche Realentlastung der Wirtschaft
haben wir nur sehr enge Spielräume.
({24})
Heute wollen Sie beides: Die Wirtschaft soll entlastet
werden, aber neue Schulden sollen wir auch nicht machen. Erklären Sie einmal, wie das gehen soll!
({25})
Nun zu Ihren Ausführungen zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung: In der Tat gab es in der Föderalismuskommission weitgehende Einigkeit zu vielen Punkten, die wir auch wieder aufrufen und gemeinsam
beschließen können. Dabei ging es unter anderem darum, die Zustimmungsrechte des Bundesrates so zu verändern, dass nicht mehr etwa 60 Prozent, sondern etwa
nur noch 30 Prozent der Gesetze einer Zustimmungspflicht unterliegen. Dies soll dadurch geschehen, dass
die Gesetze stärker als bisher in materiell-rechtliche und
verfahrensrechtliche Teile aufgegliedert werden.
Wir hatten des Weiteren vereinbart, dass die Gesetzgebungskompetenzen klarer zugeordnet werden. Die
Länder können die Organisations- und Personalhoheit
für die bei ihnen und bei den Kommunen Beschäftigten
haben. Dies schließt Art. 33 Abs. 5 GG ein; die Grundsätze des Berufsbeamtentums können fortentwickelt
werden. Wer sich ein bisschen damit auskennt, weiß, wie
viel Musik darin steckt.
Die Länder können das gesamte Wohnungswesen haben, all das, was sozialen Wohnungsbau ausmacht; sie
bekommen auch das Geld, das dafür heute vom Bund
zur Verfügung gestellt wird. Die Länder können das Versammlungsrecht, das Ladenschlussrecht, das Gaststättenrecht und den gesamten Bereich der Flurbereinigung
haben. All dies bedeutet eine deutliche Verlagerung von
Kompetenzen hin zu den Ländern.
Einige andere Kompetenzen sollen an den Bund gehen, zum Beispiel die rechtliche Zuständigkeit für die
Erzeugung und Nutzung von Kernenergie, das Meldeund Ausweiswesen sowie das Waffen- und Sprengstoffrecht.
Außerdem soll es 15 Materien geben, bei denen zukünftig nicht mehr die Erforderlichkeitsklausel gilt. Das
heißt, dass die Länder nicht mehr nach Art. 72 Abs. 2 einen Anspruch auf Materien erheben können, die heute
im Grundgesetz der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet sind. Dazu gehört zum Beispiel das gesamte
Arbeitsrecht.
Ferner war ein neuer Art. 104 b in der Diskussion, der
insofern interessant war, als er engen Bezug zu Dingen
hatte, die heute Morgen vom Kanzler, aber auch von
Frau Merkel angesprochen worden sind. Einige Länder
- als einen ihrer Vertreter kann ich den Ministerpräsidenten von Hessen sehr genau identifizieren - haben in
diesem Zusammenhang gefordert, dass im Grundgesetz
zukünftig stehen solle, der Bund dürfe Finanzhilfen an
die Länder bzw. Gemeinden nur für Vorhaben geben, die
nicht Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung der
Länder sind. Was heißt das? Darüber haben wir lange gesprochen. Die Länder - speziell Hessen und die B-Länder - haben uns gesagt: Ihr sollt in das Grundgesetz
schreiben, dass ihr den Kommunen keine Hilfen mehr
geben könnt, so wie ihr das jetzt zum Beispiel bei den
Ganztagsschulen macht.
Die Begleitmusik des Herrn Koch - andere will ich
dafür nicht in Anspruch nehmen - war eindeutig: Er will
in seinem Leben nicht noch einmal erleben, so hat er gesagt, dass der Bund Gelder an die Länder und die Kommunen im Rahmen eines Konzeptes gibt, mit dem man
so populär werden kann, wie das an dieser Stelle geschehen ist. Das war seine Begründung.
({26})
Wenn man sich den Abfluss der Gelder ansieht, kann
man sich erklären, was eigentlich passiert ist. Von der
1 Milliarde Euro, die im letzten Jahr zur Verfügung standen, ist längst nicht alles abgeflossen. Das war in den
einzelnen Ländern aber sehr unterschiedlich. Hessen
standen 70 Millionen Euro zur Verfügung, abgerufen
worden sind aber nur 2,8 Millionen Euro.
({27})
- Ja, das ist unglaublich, und zwar erstens im Hinblick
auf die Interessen der Kinder sowie der Frauen und Mütter,
({28})
und zweitens im Hinblick auf die Arbeitsplätze. Hierdurch können konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Handwerker und kleine Unternehmen vor Ort geschaffen werden.
Deshalb sage ich noch einmal das, was der Kanzler
schon angesprochen hat: Wer will, dass es vor Ort Arbeit
gibt, muss zum Beispiel dafür sorgen, dass diese Milliarde, die auch in diesem Jahr zur Verfügung steht, für
den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen eingesetzt
wird. Das Geld steht zur Verfügung. Bitte nehmt es und
macht endlich etwas damit.
({29})
Es war einvernehmlich vereinbart, dass die Befugnis
zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbsteuer an die Länder fällt.
({30})
Einvernehmlich vereinbart war ein Steuertausch in dem
Sinne, dass die Zuständigkeit für die Versicherungsteuer
in Zukunft ganz bei den Ländern, aber die für die KfzSteuer beim Bund liegt. Einvernehmlich vereinbart war,
dass das Finanzverwaltungsgesetz für die Steuerverwaltung im Sinne einer Präzisierung des Bundesrechtes in
Bezug auf die Auftragsverwaltung, die Koordinierung
der Prüfungsdienste und die Bündelung der Aktivitäten
zur Bekämpfung von Steuerkriminalität bearbeitet wird.
Einvernehmlich vereinbart war die Haftungsfrage in Bezug auf Europa. Einvernehmlich vereinbart war das Vorgehen von Bund und Ländern in Bezug auf den nationalen Stabilitätspakt. Einvernehmlich vereinbart waren
Mitwirkungsrechte von Bund und Ländern in Bezug auf
die nationale Interessenwahrnehmung in Europa. Einvernehmlich vereinbart war ein Großteil der Maßnahmen in Bezug auf die innere Sicherheit. Einvernehmlich
vereinbart war, dass ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen wird: Berlin ist die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.
Ich habe all diese Dinge noch einmal aufgezählt, weil
ich glaube, dass wir auch dann, wenn wir in Hinblick auf
Zusammenarbeit guten Willens sind, wissen müssen:
Nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft oder die Gesellschaft im Allgemeinen muss Bürokratie beiseite geräumt
werden. Auch die Demokratie muss sich so organisieren,
dass wir glaubwürdig sind und nicht unnötig Hürden
aufbauen, die vermeidbar sind. In diesem Sinne wäre
das, was wir unter dem Punkt „Bundesstaatliche Ordnung“ vereinbart haben, ein guter Schritt.
Meine herzliche Einladung an alle, die wirklich wollen, dass sich Demokratie zeitgemäß organisiert, lautet:
Lassen Sie uns das machen, was ich jetzt angesprochen
habe. Im Laufe des Verfahrens werden wir sehen, ob wir
auch noch die Vereinbarungen in den Bereichen Bildung
und Umweltrecht hinbekommen; denn zumindest beim
Umweltrecht sind wir schon dicht dran. Alles andere
können wir miteinander machen. Das garantieren wir.
({31})
Ich will abschließend ein wenig darauf eingehen, was
Sie, Frau Merkel, mit Worten zur Freiheit begonnen und
auch geendet haben. Sie haben dazu in der letzten Zeit
auch einige Artikel geschrieben. Ich habe mich gewundert, dass sich andere in der CDU/CSU, die dazu sicher
auch das eine oder andere sagen könnten, dazu nie geäußert haben. Zwischen uns großen und kleinen demokratischen Parteien ist doch ein Rest von Akzeptanz vorhanden. Ich wundere mich, dass Sie sich so äußern.
Sie berufen sich auf Hayek. In seinem Werk arbeitete
Hayek mit bestechender Logik und überzeugenden Argumenten heraus, dass es vor allem um die Gewährleistung individueller Freiheit als Voraussetzung für Fortschritt und Prosperität einer Gesellschaft geht, also vor
allem um den gesetzgeberisch garantierten Schutz des
Bürgers vor staatlicher Willkür und ungerechtfertigtem
Zwang. Das klingt gut.
({32})
In Hayeks Buch „Die Verfassung der Freiheit“ steht:
Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst
erfreulich. Sie ist einfach nötig.
Gerechtigkeitsüberlegungen ({33}) keine Rechtfertigung für eine „Korrektur“ des Marktergebnisses ab.
… so muss ich offen zugeben, dass ich, wenn Demokratie heißen soll: Herrschaft des unbeschränkten Willens der Mehrheit, kein Demokrat bin …
({34})
Man kann über solche Sachen diskutieren. Ich empfehle Ihnen aber sehr, Frau Merkel, sich das genau zu
überlegen.
({35})
Die CDU wird sich entscheiden müssen, ob sie an dieser
Stelle Hayek oder Ludwig Erhard will.
({36})
Das ist ein Unterschied. Mit Hayek gibt es keine soziale
Marktwirtschaft, mit Ludwig Erhard ja. Da hat es in den
letzten Tagen schwer gerumpelt; er hat sich mehrmals im
Grabe umgedreht. Darauf kann ich wetten.
({37})
Wir sind jetzt bei der Frage nach dem Verhältnis von
Freiheit und Staat. Sie wissen, dass wir Sozialdemokraten nicht nur für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität
eintreten, sondern auch davon überzeugt sind, dass der
Staat eine Aufgabe hat und sie behalten muss. Diejenigen von Ihnen, die ehrlich sind, werden das nicht bestreiten. Die Frage ist: Wo ist die Grenze? Wie weit geht das?
Wie lösen wir das Spannungsverhältnis auf?
Wenn wir die Rolle des Staates ernst nehmen und von
den Grundwerten ausgehen, die uns alle miteinander
verbinden, müssen wir wissen, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht trennbar sind. Einer der Grundwerte alleine kann nicht funktionieren. Wir müssen sie
alle drei miteinander haben. Dazu hat Johannes Rau,
der damalige Bundespräsident, im Mai 2004 Bedenkenswertes gesagt:
Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur
Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der Staat
schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und
Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen
längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.
({38})
Dazu legt er auch Regeln und Pflichten zu Gunsten
der Gemeinschaft fest. Damit schafft der Staat Freiräume gegen puren Ökonomismus und gegen das
alles beherrschende Dogma von Effizienz und Gewinnmaximierung.
Gewiss: Eigene Verantwortung und eigene Anstrengung sind notwendig und unverzichtbar. Mehr
Eigenverantwortung darf aber nicht heißen, dass
die Starken sich nur noch um sich selber kümmern
und die anderen sehen sollen, wo sie bleiben.
Solidarität der Schwachen mit den Schwachen das genügt nicht. Arbeitende für Arbeitslose, Junge
für Alte, Gesunde für Kranke, Nichtbehinderte für
Behinderte: Darauf bleibt jede Gesellschaft angewiesen.
Johannes Rau hat sehr Recht.
({39})
Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion,
Dr. Wolfgang Gerhardt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um an meinen Kollegen Müntefering mit „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ anzuschließen: Die
Kombination unser aller Erbanlagen macht uns alle einzigartig - wenige einzigartig begabt und viele einzigartig
durchschnittlich. Wenn Sie denen, die einzigartig begabt
sind, im Bildungssystem, in der steuerlichen Belastung
und in ihren Lebenschancen nicht gerecht werden, wenn
Sie eher eine Neid- und Vermeidungsgesellschaft gegen
sie mobilisieren,
({0})
werden Sie der Gesellschaft nicht helfen, größte soziale
Sicherheit für alle herzustellen - im Sinne Ludwig
Erhards, über die marktwirtschaftliche Ordnung, nämlich
den Arbeitsplatz. Das ist der Kern des Denkunterschiedes
zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten. Wir
haben die gleiche Passion: Wir wollen Arbeitslosen helfen. Uns trifft genau wie Sie jeder, der arbeitslos wird.
Aber wir haben nicht diese Staatsregulierungsallmachtsanmaßungsmentalität, zu glauben, dass wir für
Tausende von Menschen die persönlichen Lebensentscheidungen besser treffen könnten - durch Gesetzgebung -, als sie das für sich selbst können.
({1})
Deshalb will ich einmal auf den Kern der Debatte zurückkommen: Ich glaube, dass bei über 5 Millionen
Arbeitslosen in der Öffentlichkeit heute nur ein begrenztes Interesse besteht, zu erfahren, wo sich das Gaststättenrecht im Zuge einer Föderalismusreform am Ende
wiederfindet, wo das Jagdrecht und wo vieles andere
mehr. Die Öffentlichkeit interessiert die große Antwort
und nicht das kleine Einzelne aus dem Instrumentenkasten von Energiepolitik, von Sonderprogrammen - auch
nicht das 152. KfW-Programm -, Gewerbesteuerverrechnung, Verkehrsinfrastruktur. Die Öffentlichkeit interessiert, welchen Weg die Politik geht, um Vertrauen zurückzugewinnen, und sie interessiert, ob wir überhaupt
noch wissen, wie Arbeitsplätze entstehen und wer sie in
Deutschland schafft.
({2})
Sie will einen Wiedererkennungswert in uns haben.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, komme ich gleich auf
den Punkt: Sie sind mit einer Art Unfallkoffer durch Ihre
Regierungserklärung für Deutschland gelaufen. Sie haben Gewerbesteuerverrechnungsmodelle neu angeboten. Das ist typisch deutsch: eine Steuer, die eigentlich
abgeschafft werden müsste, weil sie Arbeitsplätze verhindert, zu erhalten, weil sie zum gedanklichen Hausgut
der SPD gehört;
({3})
die Mittelständler sie berechnen zu lassen, bürokratische
Instrumente einzuführen, um sie dann am Ende zu verrechnen. Schaffen Sie sie doch ab! Das wäre ein Befreiungsschlag für die Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Wir wollen jetzt einmal - ich hoffe, dass die Öffentlichkeit zusieht - diejenigen ansprechen, die die meisten
Jobs schaffen und die meisten Jugendlichen ausbilden:
Das sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Sie
fühlen sich wenig getröstet durch Ihren Vorschlag, die
Körperschaftsteuer noch einmal - auf 19 Prozent - zu
senken. Für sie ist die Einkommensteuer die betriebliche
Steuer. Sie wandern auch nicht alle ins Ausland ab - sie
produzieren hier. Sie kennen ihre Betriebsangehörigen;
sie besprechen mit ihnen in der Mittagspause betriebliche Probleme. Sie empfinden die Gewerkschaftszentrale
eher als störend; die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer sehen das auch so.
({5})
Geben Sie denen doch den Freiraum, den sie brauchen! Sie besuchen doch die gleichen Betriebe wie ich
auch. Dort erzählen Ihnen die Leute doch nichts anderes
als mir. Das betriebliche Bündnis ist doch kein Anschlag
auf die Organisationsmacht von Gewerkschaften, sondern eine Chance für Beschäftigung. Fürchten Sie sich
doch nicht vor Freiheit in den Betrieben!
({6})
Wir sollten einmal die betriebliche Wirklichkeit sehen:
Über 50 Prozent der Betriebe sind bereit, betriebliche
Bündnisse zu verabreden. Wenn das so gut klappt, warum halten Sie dann an einem Gesetz fest, das nicht
klappt? Wenn wir offensichtlich gesetzliche Bestimmungen haben, die eigentlich entgegen dem sind, was die
Betriebe wollen und was die Volkswirtschaft weiterbringt, dann sollten Sie diese gesetzlichen Bestimmungen doch beseitigen.
({7})
Ihr Denken ist es, das den Menschen solche Beschwerden macht. Den Unternehmern hilft kein KfWProgramm, jedenfalls nicht durchschlagend. Sie haben
uns auch nicht darum gebeten, bei der Gewerbesteuerverrechnung wieder etwas zu machen. Sie wollen eine
neue unternehmerische Chance haben, sich mit der Bildung von Eigenkapital festigen zu können, und sie wollen durch eigene unternehmerische Entscheidungen mit
guten Steuer- und Sozialreformsignalen eine Zukunftschance haben.
({8})
Nichts davon hat der Bundeskanzler heute angesprochen! Nichts - dabei sind das die entscheidenden Fragen
für Deutschland.
({9})
Soziale Sicherungssysteme, Herr Bundeskanzler - Sie
wissen es doch genauso gut wie ich -, sind zu einer
Barriere gegen Arbeitsplätze geworden. Klaus von
Dohnanyi hat es so ausgedrückt; man muss es jeden Tag
wiederholen. Warum sträubt sich Ihre gesamte Partei,
das zur Kenntnis zu nehmen? Ein Befreiungsschlag nicht
nur für den Mittelstand, eine Chance für Beschäftigung
in Deutschland wäre ein Bekenntnis von uns allen hier,
uns nicht in Wahlkämpfen anzugreifen, sondern den
Menschen in Deutschland zu sagen: Wir haben die soziale Sicherheit durch ständig positive Wachstumsraten
erheblich erhöht. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die
soziale Sicherheit neu zu organisieren und sie vom Faktor Arbeit abzukoppeln. Wenn Sie diesen Weg nicht gehen, dann werden Sie die hohe Arbeitslosigkeit nicht beseitigen. Da durch Arbeit und Beschäftigung eine
größere soziale Sicherheit als durch Hartz IV erreicht
wird, bekenne ich mich entsprechend dem Bundespräsidenten - „Vorfahrt für Arbeitsplätze“ - für diesen Weg der
Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme. Das muss
man in einer Regierungserklärung auch ausdrücken.
({10})
Sie haben eine Zukunftsorientierung in Bildung und
Forschung angesprochen. Frau Kollegin Merkel hat völlig Recht,
({11})
wenn sie sagt, es könne nicht über eine Zukunftsorientierung in Forschung und Entwicklung sowie Bildung geredet werden, wenn in Maastricht gleichzeitig eine
Schneise in die Zukunftsorientierung geschlagen wird,
die es uns in Deutschland erlauben würde, mehr Schulden zu machen. Bei Maastricht geht es für mich und
meine Fraktion nicht nur um die Finanzen, die Kriterien
und die Einhaltung des Vertrages. Durch die deutsche
Verhaltensweise wird das Vertrauen der anderen in uns
zerstört. Vertrauen war im Grunde genommen immer das
größte Gut der deutschen Außenpolitik.
({12})
Herr Bundesaußenminister, hat irgendjemand im Bundeskabinett eigentlich einmal darüber nachgedacht, welchen Vertrauensverlust die Bundesrepublik Deutschland
mit dieser Klempnerei am Maastricht-Vertrag erleidet?
Er geht weit über finanzpolitische Erwägungen hinaus.
Das ist ein Verlust des Image, des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland. Sie zerstören das gute Image
Deutschlands mutwillig, das aufgrund der in der Welt
wahrgenommenen Leistungsbereitschaft der Nachkriegsgeneration vorhanden ist.
({13})
Sie haben in Ihrer schriftlichen Erklärung eine kurze
Replik im Hinblick auf veränderte Konjunkturaussichten gemacht und gesagt,
({14})
Sie würden sich dagegenwenden, dass die Forschungsinstitute jetzt kurzatmig Prognosen korrigieren. Das ist
eine bemerkenswerte Einlassung. Sie haben sie nicht
wörtlich so gemacht, aber ich erlaube mir einmal, das so
darzustellen.
({15})
Ihr Bundesfinanzminister hat jedes Jahr den Haushalt
eingebracht und gesagt, der Aufschwung stehe vor der
Tür.
({16})
Das kann man in jeder Rede nachlesen. Sie haben jedes
Jahr eine Prognose abgegeben und wir haben gesagt,
dass sie am Ende nicht stimmen wird. Jedes Jahr hatten
wir Recht, sie haben nicht gestimmt. Auch dieses Jahr
wird sie nicht stimmen. Die anderen sind doch nicht
schuld daran, dass wir hier so schwache Wachstumsraten
haben. Sie setzen doch die Rahmenbedingungen, die zu
solch schwachen Wachstumsraten führen.
({17})
Ihr Misstrauen gegen Ihre eigenen Prognosen ist sehr
wohl begründet.
Zur Bildung. Ministerpräsident Steinbrück wird nachher reden.
({18})
In der Bildungspolitik gibt es eine beklagenswerte Situation: Durch die PISA-Studien für Deutschland wurde
nachgewiesen, dass die soziale Herkunft in keinem anderen Land so sehr über den Schulerfolg entscheidet wie
in der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde gesagt,
dass dagegen etwas getan werden muss. Einverstanden.
Bevor wir dagegen etwas tun, möchte ich nur den kurzen
Hinweis geben: Bildung ist Hausgut der Länder und liegt
in ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeit. Die Länder müssen sich messen lassen. Die PISA-Studie richtet
sich an sie und ihre Kultusminister, also an ihre politische Verantwortung. In keinem Bundesland ist die Verknüpfung zwischen der sozialen Herkunft und dem
Schulerfolg so eng und problematisch wie in NordrheinWestfalen.
({19})
Wir müssen das verfassungsrechtliche Hausgut der
Länder beachten, die hier eine Verantwortung haben. Ich
frage mich allerdings, ob die Einheitsschule die richtige
Antwort ist.
({20})
Ich glaube, dass wir in diesem Land nur dann weiterkommen - auch mit der Beschäftigung -, wenn wir
Wettbewerb im Bildungssystem haben. Leistung ist
keine Körperverletzung.
({21})
Leistungsbereitschaft, das Heranführen an Prüfungen
und das Bestehen von Herausforderungen gehören zum
menschlichen Leben. Es ist entscheidend, Kinder in pädagogisch verantwortbarer Weise dort hinzuführen.
Es wäre in der Föderalismuskommission nicht zum
Streit gekommen, wenn wir das beherzigt hätten, Herr
Müntefering, was wir immer sagen: Die Hochschulen
müssen autonom sein. Entlassen Sie sie doch in die
Autonomie und damit in den Wettbewerb!
({22})
Lassen Sie sie doch ihre Studentinnen und Studenten
selbst aussuchen! Lassen Sie sie doch über Studiengebühren so entscheiden, wie sie es wollen!
Die Frage ist doch nicht, ob der Bund oder die Länder
zuständig sind. Warum haben Sie solche Angst vor dem
Gebrauch der Freiheit durch die Wissenschaftler der
Hochschulen? Warum haben Sie denn bei Forschung
und Entwicklung eher das Bedürfnis, hinsichtlich der
Technikfolgenrisikoabschätzung Gesetze zu machen, die
die Forschung einschränken, als Wissenschaftlern in
Deutschland, die ihre Forschungsarbeiten mit Ethik und
klarem normativen Verhalten machen, einen Vertrauensvorschuss zu geben? Der Kern Ihres Problems bei dem
ganzen Bürokratisierungsvorgang ist, dass Sie den Menschen eher misstrauen als vertrauen.
({23})
Wenn Sie das nicht überwinden, wird es in Deutschland
keine Beschäftigung geben. Das ist nicht nur eine Frage
der Bürokratie, sondern eine Frage der Einstellung.
Verschonen Sie uns mit Ihrer Lösung bei der Grünen
Gentechnik! Sie wissen, dass dieser Bereich ein Wachstumsmarkt ist. Wir beide sind uns auch beim therapeutischen Klonen und bei der Stammzellenforschung einig.
Sie wissen das genauso gut wie ich. Ihr Angebot, sich als
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dafür
einzusetzen, für die Grüne Gentechnik, die schon heute
verantwortbare Ergebnisse zeigt und für die sich in
Deutschland Forscher interessieren, die von diesem
Wachstumsmarkt profitieren wollen, einen Haftungsfonds einzurichten, um praktisch mit diesem Auffangnetz die missratene Gesetzgebung zu korrigieren, kann
doch nicht die Lösung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, einer großen Industrienation, für
einen Wachstumsmarkt sein.
({24})
Das gilt auch für diejenigen, die anderer Meinung
sind als Teile der Koalition. Das gilt auch für uns. Das
nehme ich auch für mich in Anspruch. Wir beide haben
genauso gute und ethisch überzeugende Gründe, die medizinische Forschung weiterzubringen, die das Leid von
Menschen lindern kann. Aber ich habe den Vorteil, dass
ich Vorsitzender einer Fraktion bin, die das weitestgehend mit mir teilt.
({25})
Sie sind Chef eines Kabinetts, das diese Auffassung
so nicht teilt. Sie richten sich in Erklärungen oft - das
kann man gut beobachten - an Ihre eigenen Reihen, um
sie zu überzeugen, dass der Weg gegangen werden muss.
Das ist auch bei der Gentechnik der Fall, Herr Bundeskanzler. Sie haben mit der Agenda 2010 die richtige
Richtung vorgegeben. Sie haben diesen Prozess irreversibel gemacht; das bleibt Ihr Verdienst. Aber dass Sie so
unglaubliche Anstrengungen unternehmen müssen, um
Ihren sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen
bare Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, wird für
mich immer unverständlich bleiben.
({26})
Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass bei Ihnen und Ihrer Fraktion ein Minimum an volkswirtschaftlichen Kenntnissen darüber, wie Arbeitsplätze entstehen
und die Mechanismen auf dem Arbeitsmarkt funktionieren, vorhanden ist.
({27})
Das, was Sie persönlich an physischer Kraft verbraucht
haben, um diese Schmalspuragenda bis heute durchzusetzen, ist schon verwunderlich. Der Bundespräsident
hat gesagt, es dürfe keine Reformpause eintreten. Ich
füge hinzu: Sie hatten Ende des vergangenen Jahres die
Anwandlung, dass jetzt eine eintreten könne. Sie wissen
nun aber, dass das nicht möglich ist.
Erzählen Sie niemandem, die Zahl von über 5 Millionen Arbeitslosen habe sich aus den Gesetzen von Hartz I
bis Hartz IV mechanistisch ergeben; die Menschen erführen jetzt endlich die Wahrheit. Nein, diese Arbeitslosenzahl - aus meiner Sicht ist sie in Wirklichkeit sogar
höher als die, die gemeldet wird - kannten Sie und wir
seit Jahren. Diese Arbeitslosen sind diejenigen, die sich
in der Drehtür zwischen Beschäftigungslosigkeit, Weiterbildungskursen und erneuter Arbeitslosigkeit befanden. Diese Menschen haben Sie aus diesen Wartehallen
nicht herausgelassen. Ihre Sozialpolitik war die Begleitung von Arbeitslosigkeit. Sie waren eher bereit, die
Kompensation dafür zu erhöhen, als bei der Beschäftigung in Deutschland einen Durchbruch zu erzielen.
({28})
Daran hat Sie die Fraktion der FDP nicht gehindert.
Gehindert haben Sie an diesem Durchbruch die Bundestagsfraktion der SPD und - das gilt insbesondere für Bereiche, in denen dieser Durchbruch gar kein Geld
kostet - ohne Ende die Grünen, und zwar bei Verkehrsbaumaßnahmen und der Forschungsförderung.
({29})
Die KfW muss überhaupt kein Programm auflegen.
Es wäre schon eine Wohltat für die Bundesrepublik
Deutschland, wenn Sie Ihren Partner überzeugen könnten, Vorfahrt für Arbeitsplätze zu geben.
({30})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({31})
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka
Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man heute Morgen der Debatte folgt, so kann man feststellen, dass sich alle Fraktionen zu Recht über das
Schicksal von über 5 Millionen Arbeitslosen tiefe Sorgen
machen. Diese Debatte wird von den Menschen verfolgt.
Es wurde zu Recht auch auf die Rede des Bundespräsidenten hingewiesen. Wenn man die Debatte sorgfältig
nachvollzieht, stellt sich allerdings die Frage, ob wir die
Frage der Zuhörerinnen und Zuhörer vor den Fernsehschirmen und am Radio beantworten können, nämlich ob
wir es gemeinsam packen werden. Das ist die entscheidende Frage, um die es geht.
Vieles von dem, was ich hier gehört habe, ist im Wesentlichen parteipolitisch orientiert gewesen. Der Bundeskanzler hat heute in einer, wie ich finde, großen und
beeindruckenden Rede ein Angebot gemacht,
({0})
in dem Prozess der Reformen weiterzugehen. Lassen wir
für einen Augenblick die parteipolitische Kontroverse
hinter uns. Um was geht es denn gegenwärtig? Tun wir
als Vertreter von Parteien doch nicht so, als ob die eine
Seite immer nur Recht hätte und die andere Seite immer
nur auf der falschen Linie wäre! Wir müssen doch feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland vermutlich
den tiefsten Wandel in den Sozialsystemen, in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt seit ihrer Gründung
durchläuft. Das, was wir zu leisten haben - darüber müssen wir uns streiten und dann auch die Entscheidungen
treffen -, ist, den Sozialstaat, der auf nationale Grenzen
und ein sich langsam integrierendes Europa ausgerichtet
war, für die Herausforderungen der Globalisierung fit zu
machen, sodass soziale Gerechtigkeit auch im 21. Jahrhundert ein Grundwert unserer Republik ist.
({1})
Wir werden daran gemessen werden, ob wir es gemeinsam packen. Ich möchte nicht wiederholen, was
von verschiedenen Rednern gesagt wurde und was der
Bundeskanzler in seiner beeindruckenden Rede dargestellt hat. Wir haben Hartz IV gemeinsam angepackt.
Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist uns damals im
Vermittlungsausschuss, in der großen Runde in jener
Nacht, gelungen, die Gemeinsamkeit herzustellen. Das,
was wir da geleistet haben, müssen wir den Menschen
immer wieder erklären.
Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik,
wir wollen, dass mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit Schluss ist und dass die Menschen aus der Hoffnungslosigkeit herausgebracht werden.
({2})
Wir sind gegenwärtig in der Mitte des Stromes. Das
müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Wir
wollen, dass junge Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind - ich denke an über 100 000 Jugendliche, die,
bevor sie überhaupt richtig ins Arbeitsleben eingetreten
sind, bereits in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit angekommen sind -, einen Anspruch darauf haben, innerhalb von drei Monaten - der Wirtschaftsminister hat gesagt, dass er das in diesem Jahr erreichen möchte - einen
Ausbildungsplatz zu bekommen oder eine Arbeit zu erhalten. Das ist ein entscheidender Ansatz im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, aber auch gegen die
Hoffnungslosigkeit bei der jungen Generation.
({3})
Das Zweite, worüber kaum geredet wird, sind die
Alleinerziehenden. Wir wissen doch, dass gut ausgebildeten Alleinerziehenden in der Vergangenheit ein Schein
für das Sozialamt gegeben und ihnen gesagt wurde: Gehen Sie doch zum Sozialamt, Sie haben Anspruch auf
Sozialhilfe! Das war der Fall, wenn sie keinen Betreuungsplatz hatten. Da reicht nicht ein Kindergartenplatz,
wo die Kinder nur vier oder fünf Stunden betreut werden. Das ist der falsche Weg, mit dem Hartz IV Schluss
gemacht hat. Es geht entscheidend darum, dass wir eine
Ganztagsbetreuung bekommen. Eine Alleinerziehende,
die einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat einen Anspruch auf Betreuung. Wo die Betreuung nicht funktioniert, ist die Bundesagentur in der Pflicht. Das ist richtig
und wichtig.
({4})
Ich frage mich in diesem Zusammenhang, was die
älteren Arbeitnehmer, die diese Debatte verfolgen,
denken werden. Wir reden über demographische Veränderungen, ein späteres Renteneintrittsalter und Altenarbeit. Das ist zwar alles richtig, aber sehr viele werden
mit 50 Jahren ausgesteuert und haben kaum noch eine
Chance, einen Arbeitsplatz zu finden.
Ich frage Sie: Wie können Sie, wenn die Freiheitsrhetorik nicht hohl sein soll, an diesen Menschen vorbeigehen? Wir sind schließlich keine Repräsentanten einer
Deutschland AG; wir sind vielmehr die gewählten politischen Repräsentanten, die sich auch und gerade um die
Sorgen und Bedrängnisse dieser Menschen Gedanken
machen und Lösungen anbieten müssen.
({5})
Das kann sich nicht darauf beschränken, Maßnahmen
nur dann durchzuführen, wenn es den Unternehmen
nützt.
Mit Hartz IV ist ein entsprechender Schwerpunkt gesetzt worden. Deswegen finde ich es richtig und wichtig,
dass wir dem Angebot des Bundeskanzlers folgen, die
Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, bei den 1-EuroJobs die Entfristung herbeiführen - davon hängen viele
dieser Jobs in Ostdeutschland ab - und damit Möglichkeiten für die über 55-Jährigen - seien wir doch ehrlich:
mehr und mehr sind auch schon 50-Jährige betroffen schaffen, um eine Trendwende zu erreichen. Wenn die
Wirtschaft dennoch meint, mit 50 sei Schluss, und
gleichzeitig, wie Herr Hundt, Rentenkürzungen fordert,
dann sägt wohl jemand an dem Ast, auf dem er sitzt. Er
sollte das füglichst unterlassen.
({6})
In der heutigen Ausgabe einer Berliner Tageszeitung
ist nachzulesen, welche Angebote für einen aktivierenden Arbeitsmarkt die OECD empfiehlt. Das entspricht
genau dem, was wir mit Hartz IV gemeinsam - ich wiederhole: gemeinsam - angepackt haben.
Wir sind bereit, auch einen zweiten Schritt gemeinsam mit Ihnen zu gehen. Frau Merkel schlägt einen Pakt
für Deutschland vor. Wir werden uns heute Nachmittag
zu einem gemeinsamen Gespräch treffen. Ich glaube
aber, dass ein Pakt für Deutschland nicht in der Weise
funktionieren wird, dass die Regierung Gesetzesvorschläge macht und die Opposition diese wohlwollend
prüft.
({7})
Das ist zwar huldvoll, aber es wird nicht reichen. Ich erkläre Ihnen auch, warum. Wir haben nämlich schlicht
und einfach eine bundesstaatliche Ordnung. Frau Merkel
als Partei- und Fraktionsvorsitzende kann das zwar so
sehen, für die Ministerpräsidenten gilt das aber nicht.
Denn die zweite Kammer steht mit in der bundesstaatlichen Verantwortung.
({8})
Insofern wird es von entscheidender Bedeutung sein,
ob der Wille vorhanden ist, das Ganze gemeinsam anzupacken.
({9})
- Um Angst geht es dabei überhaupt nicht. Das hat doch
mit Angst nichts zu tun. Zuerst sagen Sie, Sie seien tief
besorgt um die 5,2 Millionen Arbeitslosen. Wenn ich
aber davon rede, dass wir es gemeinsam anpacken sollten, dann sprechen Sie von Angst. Das ist kleinste parteipolitische Münze.
({10})
Das nehmen uns die Menschen nicht mehr ab. Deswegen spreche ich von der Ordnung der Freiheit. Ich bin
sehr dafür, das durchzudeklinieren. Parteien wie auch
Demokratien haben mit Interessen zu tun. Es geht aber
auch darum, Konsens über die widersprüchlichen Interessen herbeizuführen. Vielleicht - ich weiß es nicht definieren wir Freiheit in einem Punkt unterschiedlich.
({11})
Ich bin nämlich der Meinung, dass es Freiheit unter den
Bedingungen der sozialen Demokratie und der ökologischen Grenzen nur im Dreisatz gibt. Die Wettbewerbsfähigkeit, die auf Freiheit gründen muss, kann nicht
bedeuten, dass wir uns von dem sozialen Gerechtigkeitsanspruch und der ökologischen Nachhaltigkeit verabschieden.
({12})
Insofern halte ich nichts von Vorfahrtsregeln, aus denen
nicht deutlich wird, auf welcher Grundlage sie entstanden sind.
({13})
Lassen Sie uns an dieser Stelle die Ordnung der Freiheit durchdeklinieren. Im Zusammenhang mit der Ordnung der Freiheit wird festgestellt, dass sich Deutschland in einem traurigen Zustand befindet. Sie wissen
ebenso gut wie ich, dass wir ein binnenkonjunkturelles
Problem haben. Im Export ist unsere Wirtschaft hervorragend aufgestellt. Wie sollte diese Leistung erbracht
werden, wenn das nicht der Fall wäre?
Die Ordnung der Freiheit heißt, dass wir durch die
Steuerreform gewaltige Entlastungen in Höhe von
50 Milliarden bis 60 Milliarden Euro für die Bürger und
Unternehmen erreicht haben. Die Unternehmensteuersätze wurden gesenkt, genauso wie der Spitzensteuersatz. Der Eingangssteuersatz wurde halbiert. Darauf
wurde schon hingewiesen. Es ist richtig: Mit der Reform
der Körperschaftsteuer und einigen anderen Maßnahmen wollen wir erreichen, dass das Steuersubstrat trotz
offener europäischer Konkurrenz im Wesentlichen in
Deutschland bleibt. Richtig ist ebenfalls, dass wir im
Herbst dieses Jahres eine umfassende Unternehmensteuerreform und, so glaube ich, ein einheitliches Unternehmensbesteuerungsrecht brauchen. Das sind Punkte, in
denen wir uns im Grunde genommen einig sind. Wenn
dem so ist, dann sollten wir das den Menschen draußen
aber auch klar machen, um Vertrauen zu schaffen, und
nicht das Trennende in den Vordergrund stellen.
Ich komme zur Gesundheitsreform. Hier hat es mir
ehrlich gesagt den Atem verschlagen. Frau Merkel, bedeutet Ordnung der Freiheit, dass Sie hier plötzlich Interessenvertreterin der Firma Pfizer sind, und das ausgerechnet bei der Festbetragsregelung?
({14})
Wenn man sich anschaut, wie viel Generika kosten, dann
kann man doch nicht allen Ernstes einerseits fordern
- dieses Lied hat Herr Gerhardt gerade wieder auf sehr
banale Weise gesungen - „Staat raus!“ und andererseits
die Interessen der Firma Pfizer gegen eine vernünftige
Begrenzung der Gesundheitskosten verteidigen. So wird
es nicht funktionieren.
({15})
Insgesamt ergibt sich durch die Reduzierung der Gesundheitskosten eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro. Gemeinsam mit der Rentenreform sowie der
Umsteuerung am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen sind das doch gewaltige Entlastungen
für die Unternehmen. Ich bin sehr für Ordnung der Freiheit. Für mich ist aber der entscheidende Punkt: Wenn
ich Ordnung der Freiheit sage - ({16})
- Was heißt Visa? Das können Sie doch alles im Untersuchungsausschuss klären. Ich habe Ihnen gesagt, welche Fehler ich gemacht habe. Aber das ändert nichts an
den Fehlern, die Sie dabei sind zu begehen.
({17})
Herr Gerhardt, wenn Sie für die Ordnung der Freiheit
sind, dann frage ich Sie: Wozu brauchen wir dann noch
das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung im Gesundheitssystem?
({18})
- Ich komme gleich auf die Kopfpauschale und die Bürgerversicherung zu sprechen.
Es gibt in Nordrhein-Westfalen ein börsennotiertes
Unternehmen, das gutes Geld mit Apothekenmehrfachbesitz verdient, aber nicht in Deutschland. Ich frage Sie:
Wozu brauchen wir noch das Mehrfachbesitzverbot? Wir
haben versucht, es zu öffnen. Wir hätten es gerne ganz
beseitigt. Aber ihr habt es verhindert. Frau Merkel und
Herr Gerhardt, lassen Sie es uns doch gemeinsam anpacken, wenn Sie der Meinung sind, dass das weg soll.
Dann werden wir gemeinsam Erfolg haben.
({19})
- Nein, Herr Gerhardt. Aber es ist schön, dass Sie so geständig sind
({20})
und zugeben, dass Sie die Kassenärztliche Vereinigung
und die Apotheken - deshalb halten Sie wohl am Mehrfachbesitzverbot fest - als Ihre Monopole begreifen. Das
ist meines Erachtens eine klare Ansage. Ich verfüge jedenfalls über keine Monopole.
({21})
An diesem Punkt kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben doch enormen Erfolg mit der Änderung der Handwerksordnung erzielt. Es sind Neugründungen in enorm
großer Zahl erfolgt. Aber warum machen wir hier nicht
weiter? Wenn wir sehen, dass wir mit der Deregulierung der Handwerksordnung Erfolg haben, brauchen
wir dann beispielsweise noch das Gebietsmonopol für
Schornsteinfeger? Hier können wir entbürokratisieren
und deregulieren.
({22})
- Jetzt kommt der Flächentarif. Wenn Sie sich die Tarifstruktur anschauen, dann wissen Sie doch, was los ist.
Wenn ich mir anschaue, was die Unternehmen in Ostdeutschland sowie die Bündnisse für Arbeit in Ost und
West geleistet haben, und sehe, dass in manchen Fällen
das Management einfach nicht mehr da ist, obwohl bei
ihm die Verantwortung liegt, während sich die Belegschaft - beispielsweise bei Karstadt und Opel - sehr verantwortlich verhält, dann muss ich sagen: Ich bin froh,
dass wir Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaften haben, die dazu in der Lage sind. Wer will das infrage stellen?
({23})
Nun kommen Sie mit einem Gesetz zur Regelung der
betrieblichen Bündnisse. Das muss man sich einmal
auf der Zunge zergehen lassen. Es wird über Entbürokratisierung geredet. Die betrieblichen Bündnisse funktionieren. Die Bedingungen, die der Bundespräsident mit
Hinweis auf Montesquieu gefordert hat, sind gegeben.
Dennoch wollen CDU, CSU und FDP ein Gesetz zur Regelung der betrieblichen Bündnisse. Ich verstehe das
nicht. Vielleicht haben Sie andere Interessen. Womöglich wollen Sie nicht wirklich die Ordnung der Freiheit
realisieren, sondern Ihre Ideologie.
({24})
Was die Bildung angeht, möchte ich in beide Richtungen sagen: So kommen wir nicht voran. Es besteht
die Gefahr, dass wir uns in der Frage „Einheitsschule
oder dreigliedriges Schulsystem?“ wieder verhaken. Warum können wir das nicht hinter uns lassen? Der Verweis
auf PISA mit Bezug auf Bayern und Baden-Württemberg ist richtig. Aber, Herr Ministerpräsident, auch Sie
wissen: Sie haben, was die Anzahl an Abiturienten angeht, die schmalste Zugangsquote. Sie wissen, woran
das liegt.
Ich behaupte ja gar nicht, dass das Gesamtschulsystem, wie es bei uns ausgestaltet ist, das bessere ist.
({25})
Aber ich frage nicht: Wo steht Bayern, wo steht Nordrhein-Westfalen, wo steht Hessen? Vielmehr frage ich:
Wer steht denn an der Spitze? Müssen wir das Rad neu
erfinden? Ich sage an die Linke gerichtet: Aus unserer
Sicht müssen wir akzeptieren, dass unser Platz an der
Spitze der Wettbewerbs-, das heißt auch der Leistungsfähigkeit ist.
({26})
Exzellenz, Leistungsfähigkeit und Spitzenförderung sind
in Deutschland dringend notwendig.
({27})
In Richtung der Rechten sage ich: Es kann doch nicht
sein, dass unsere wichtigste Ressource, nämlich die
nächste Generation, vom Geldbeutel der Eltern abhängt
und dass es nicht möglich ist, gemeinsam ein Schulsystem zu entwickeln, das nicht mehr auf ideologischer
Kontroverse und Grabenkämpfen gründet. Wir sollten
uns vielmehr etwa am finnischen Schulsystem orientieren.
({28})
Viele Eltern haben Angst, dass die Qualität der Schulen nachlässt, wenn der Spracherwerb - er ist das erste
Ziel, das wir erreichen müssen; Spracherwerb gilt zu
Recht als A und O der Bildung, gerade für Zuwandererkinder - nicht mehr funktioniert. Besonders wichtig sind
daher eine möglichst schnelle vorschulische Betreuung
und ein vorschulischer Spracherwerb.
({29})
Das ist zunächst zu gewährleisten. Warum können Bund
und Länder diesbezüglich keine gemeinsame Initiative
starten? Herr Ministerpräsident Stoiber, das hätte auch
den Effekt, dass Familie und Beruf viel besser miteinander vereinbar wären.
Egal welche Schulform wir haben, wenn wir in die
Aus- und Fortbildung und in die individuelle Betreuung
der Schüler nicht mehr investieren, dann werden wir
- auch das ist ein greifbares Ergebnis von PISA - im
europäischen Vergleich nicht aufholen. Deswegen müssen mehr Mittel in diesen Bereich fließen. Ich kann mir
nur an den Kopf greifen, wenn in der Diskussion über
eine Steuerreform gefordert wird, die Eigenheimzulage
nicht abzuschaffen. Wenn meine soeben vorgenommene
Analyse richtig ist, dann müssen die durch die Abschaffung der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel in die
Bildung und in die Ausbildung fließen.
({30})
Späte Differenzierung, breiter Zugang, Leistung und
Spitzenförderung - in Bezug auf all das erwarten die
Menschen von uns doch, dass wir die Grabenkämpfe der
Vergangenheit vergessen und uns einigen. Warum kann
man das nicht im Rahmen der Bund/Länder-Gespräche
klären? Ich kann Ihnen hier nochmals versichern: Für
uns ist ein breiter Zugang - Stichwort Gerechtigkeit ein entscheidender Punkt;
({31})
aber wir wissen um die Bedeutung der Spitzenförderung.
Warum ist Ihre Seite nicht in der Lage, hier einen konsensorientierten Vorschlag zu machen, damit wir mit
diesen Grabenkämpfen endlich aufhören, die nur zu
einer Blockade unseres Bildungssystems führen und
zum Schaden unseres Landes sind?
({32})
Ich habe die Debatte mit den Ministerpräsidenten verfolgt. Ich sage ganz offen: Ich bin vom Grundsatz her
nicht dagegen,
({33})
dass die Länder die alleinige Zuständigkeit für die
Bildung bekommen. Es gibt ein paar Länder, die in der
Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen; aber es gibt
viele Länder, die dazu nicht in der Lage sind.
({34})
- Nein, das ist doch absurd. Wenn man sich das Steueraufkommen des Freistaates Sachsen anschaut, dann stellt
man fest, dass auch er dazu nicht in der Lage ist. Seien
Sie an diesem Punkt nicht so engstirnig! Sie wissen doch
ganz genau, dass alle ostdeutschen Länder, aber auch die
kleineren westdeutschen Länder - auch da regiert die
CDU, teilweise allein, teilweise in einer Koalition diese Aufgabe angesichts des Steueraufkommens nicht
bewältigen können.
Wenn man das machen will, ist die entscheidende
Frage, wie die Qualitätssicherung tatsächlich garantiert
wird, ohne dass Deutschland bildungspolitisch sozusagen weiter provinzialisiert wird. Das ist die große Sorge,
die ich vor dem europäischen Hintergrund als Außenminister in die Debatte einbringe. Ich bin sehr dafür,
dass man das diskutiert und dass man die Initiative, die
der Bundeskanzler angesprochen hat, entsprechend aufnimmt. Wenn ich dann aber höre - Herr Stoiber, Sie wissen das ja -, dass von Herrn Koch die Förderung von
Universitäten mit dem Argument abgelehnt wird, dass
kein Krach zwischen Darmstadt und Frankfurt entstehen
soll, dann kann ich dazu nur sagen: Das zeugt vom
Selbstverständnis eines Kleinstfürstentums, nicht einmal
mehr eines Duodezfürstentums. Das ist Provinzialismus
auf der unteren Ebene. Ich finde vielmehr, dass wir da
gemeinsam anpacken müssen.
({35})
Als Außenminister möchte ich es nicht versäumen, im
Zusammenhang mit der Föderalismusreform eines klar
zu machen - das sage ich auch in Richtung der Opposition -: Jede weitere Einschränkung der Vertretungskompetenz des Bundes in Europa ist gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet.
({36})
Das hat nichts mit rot-grüner Parteipolitik zu tun. Wenn
die Länder weitere Versuche in diese Richtung unternehmen sollten, werde ich dagegenhalten, da ich das für völlig gegen die Interessen unseres Landes gerichtet halte.
Auf diese Haltung müsste man sich doch einigen können.
Nun kommen wir zum entscheidenden Thema, zum
Prinzip der Nachhaltigkeit.
({37})
Ich habe heute hören müssen, dass sich die CDU/CSU
davon verabschieden will.
({38})
Man könnte ja geradezu meinen, umweltpolitische Maßnahmen seien die Wachstumsbremse schlechthin, wenn
man Ihnen zuhört. Zugleich ist mir aber auch aufgefallen,
dass Sie sich nicht mehr über die Ökosteuer auslassen.
Es war eine Zeit lang Ihr Steckenpferd, auf die Ökosteuer einzudreschen. Mittlerweile scheinen Sie ganz
genau zu wissen, dass die Abschaffung der Ökosteuer
2 Prozentpunkte in der Sozialversicherung ausmachen
würde, die anderweitig finanziert werden müssten. Aber
auch Sie wissen nicht, woher dieses Geld genommen
werden sollte. Stattdessen betreiben Sie nun eine Kampagne gegen eine vorsorgende Umweltpolitik. Denken
wir einmal an das, was der stellvertretende Generalsekretär der Vereinten Nationen, zuständig für den Umweltbereich, der ehemalige Umweltminister Klaus
Töpfer, heute sagt: Er redet über vorsorgende Umweltpolitik, über Klimaschutz und über die gemeinsame globale Verantwortung in der einen Welt. Wenn ich mir
demgegenüber anhöre, was Frau Merkel sagt, fühle ich
mich bezüglich ihrer Ablehnung des Umweltschutzes in
die 70er-Jahre zurückversetzt.
({39})
Umwelt ist heute einer der entscheidenden Produktions- und Arbeitsplatzfaktoren. Sie dagegen fahren
Kampagnen gegen die erneuerbaren Energien. Dabei
tut eine neue Energiepolitik Not. Schauen Sie sich doch
einmal die Lage in Peking heute an: Im Sommer sehen
Sie dort die Sonne nicht mehr.
({40})
Schauen Sie sich die Umkehrung der Warenströme an
und die Absorption, die diese große Volkswirtschaft auslöst. Denken Sie auch daran, dass Indien auf diesem Weg
folgt. Vor diesem Hintergrund ist es doch absurd, als entwickeltes Industrieland nicht auf erneuerbare Energieträger zu setzen und nicht den Ehrgeiz zu haben, bei dieser
Entwicklung an der Spitze zu stehen.
({41})
Insofern ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz von entscheidender Bedeutung. Entsprechendes gilt für das
neue Energiewirtschaftsrecht, wodurch entsprechende
Investitionen ausgelöst werden.
Zu dem, was Sie im Zusammenhang mit der Gentechnik sagen, kann ich Ihnen nur die Parole entgegenhalten: Ordnung der Freiheit. Sie schlagen allen Ernstes
vor, eine Gemeinhaftung bei der Gentechnik einzuführen. Das kann doch nicht wahr sein.
({42})
Ich bin sehr dafür - das sage ich Ihnen noch einmal -,
dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen.
Wir werden es aber nicht hinnehmen - wer diese Vorstellung hegt, der wird auf entschiedenen Widerstand von
unserer Seite stoßen -, dass man sich bei der Genehmigungspraxis an Amerika orientiert, zugleich deutsches
Haftungsrecht einfordert und nur ein Klagerecht wie in
China einräumt. Das wird nicht funktionieren.
({43})
Ich bin dafür - das sage ich Ihnen ganz ehrlich -, dass
wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Das
sage ich auch in Richtung der eigenen Fraktion. Es ergibt sich aus der Natur der Verantwortungsgesellschaft,
dass Verfahren manchmal umständlich sind und lange
dauern. Doch dann, wenn man eine Genehmigung hat
- es sei denn, man handelt grob fahrlässig -,
({44})
wird Schadensfreistellung gewährt. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man nun aber der Meinung ist, in
diesem Bereich weniger bürokratisch zu handeln, dann
muss man die Ordnung der Freiheit auch durchdeklinieren. Wenn also nun andere Vorgaben bei der Genehmigung festgelegt werden, muss auch die Individualhaftung im Vordergrund stehen. Das ist von entscheidender
Bedeutung. Deswegen bin ich sehr dafür, dass man auch
über diese Fragen ordnungspolitisch diskutiert. Aber
man muss die Entscheidungen dann schon treffen. Man
kann nicht auf der einen Seite Neuland betreten wollen
und auf der anderen Seite den Rückbehalt der Gemeinhaftung fordern. Das wird nicht funktionieren. Wenn
Unternehmerfreiheit durchdekliniert werden soll, dann
auch und gerade im Haftungsrecht und damit in Bereichen, wo es durchaus riskant werden kann.
({45})
Meine Damen und Herren, wir haben die Möglichkeit, heute hier wirklich gemeinsam etwas zu packen
- davon bin ich fest überzeugt -,
({46})
und zwar jenseits der parteipolitischen Kontroversen, die
sein müssen und die bleiben werden. Aber wir haben angesichts der 5,2 Millionen arbeitslosen Menschen, vor
allen Dingen der jungen Menschen, aber auch der großen Zahl älterer Menschen, die hoffnungslos geworden
sind, nicht nur die Chance, dieses Problem anzupacken,
sondern auch die Verpflichtung, dass wir es packen und
dass wir Freiheit verbinden mit sozialer Gerechtigkeit
und mit Nachhaltigkeit.
Ich danke Ihnen.
({47})
Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates
Bayern, Dr. Edmund Stoiber.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr
Bundeskanzler, Sie selbst und Ihre Mitstreiter haben in
den letzten Tagen für diese heutigen Stunden hohe
Erwartungen geweckt. Gemessen an diesen hohen Erwartungen, an den Hoffnungen und an den Kommentaren, die wir gelesen haben, ist Ihre Regierungserklärung
eine Enttäuschung.
({2})
Sie haben die reale Lage des Landes verdrängt, beschönigt und verharmlost.
({3})
Ihre Regierungserklärung belegt: Sie sind der Herausforderung, die die Arbeitslosigkeit an uns stellt, nicht
gewachsen.
({4})
Dort, wo konkretes Handeln notwendig wäre, bieten Sie
Unverbindliches.
({5})
Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, nach sechs
Jahren Rot-Grün ist die Bilanz für Deutschland - und
um die geht es heute - eindeutig negativ. Deutschland
hat heute 5,2 Millionen registrierte Arbeitslose. Es hat
heute die schlechteste Arbeitsmarktbilanz seit Ende des
Zweiten Weltkrieges. Deutschland hat nach wie vor das
geringste Wirtschaftswachstum in Europa. Ich brauche
die Zahlen hier nicht darzustellen. Wir sind im Prinzip
ein Hemmschuh bei der ökonomischen Entwicklung Europas geworden und das haben Sie entscheidend mitzuverantworten. Das ist die reale Bilanz.
({6})
Unser Land verstößt mit Rekordschulden gegen den europäischen Stabilitätspakt und ist damit der Hauptsünder.
({7})
Deutschland hat die geringsten öffentlichen Investitionen seit Gründung der Republik. Auch wenn Sie noch so
viele Zwischenrufe machen: Die Menschen draußen im
Lande spüren, dass in unserem Lande nicht mehr alles in
Ordnung ist. Und dafür tragen Sie die Verantwortung.
({8})
Sie haben sich lange mit Hinweisen auf die Weltwirtschaft herausgeredet. Aber nicht die Weltwirtschaft und
nicht die Konjunktur sind schuld an unseren Problemen,
({9})
sondern die Regierung ist schuld daran, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland
nicht mehr stimmen.
Natürlich setzen wir uns heute Nachmittag zusammen
- das ist gar keine Frage - und vielleicht bringen wir
auch etwas zustande.
({10})
Aber ich sage Ihnen auch: Wer in Deutschland mehr Arbeit und mehr Wachstum haben will, der braucht in
Deutschland eine andere Regierung.
({11})
Vor sechs Jahren, Herr Bundeskanzler, sind Sie angetreten, um die makroökonomischen Bedingungen zu verändern. Ich erinnere mich an eine Ihrer Aussagen, als Sie
als Ministerpräsident darauf angesprochen worden sind,
warum die Arbeitslosenzahlen in Niedersachsen so hoch
seien. Sie haben auf diese Frage geantwortet: Erlauben
Sie mal, dafür sind die makroökonomischen Bedingungen verantwortlich. Die werden in Bonn, von Kohl, entschieden. Wenn ich die in der Hand habe, dann wird sich
alles wenden. - Jetzt sehen wir, wie es sich gewendet
hat, meine sehr verehrten Damen und Herren: Zum
Schlechteren hat es sich gewendet!
({12})
Sie sind mit dem Ziel angetreten - Frau Merkel hat
das sehr treffend gesagt -, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken. Weitere Äußerungen dazu will ich heute
gar nicht zitieren. Jetzt versuchen Sie sich damit herauszureden, die Weltwirtschaftslage sei schwierig, die
Globalisierung mache es schwierig und deswegen
könne Ihre damalige Aussage heute keinen Bestand
mehr haben. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn versucht
wird, zentrale Aussagen so zu relativieren? Das werden
wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({13})
Die Massenarbeitslosigkeit ist der Quell allen Übels
in unserem Lande; sie ist das zentrale Problem unseres
Landes, ökonomisch und gesellschaftlich. 5,2 Millionen
Arbeitslose in Deutschland sind aber auch staatspolitisch
nicht hinnehmbar. Der mit der Massenarbeitslosigkeit
einhergehende Verlust an Wohlstand, das Gefühl, von
dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, die
Ängste und Sorgen in Millionen von Familien - jede
vierte Familie in Deutschland ist von Arbeitslosigkeit
betroffen, jeder vierte der 26 Millionen Arbeitnehmer
hat gegenwärtig konkret Angst um seinen Arbeitsplatz verursachen die defätistische Stimmung.
({14})
Das ist das zentrale Problem. Wenn sich Hoffnungslosigkeit breit macht, dann steigt natürlich auch die Gefahr
von Protestverhalten und Radikalisierung, gerade auch
bei Wahlen.
({15})
Weil 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland staatspolitisch nicht hinnehmbar sind, haben CDU und CSU,
haben Frau Merkel und ich die Initiative ergriffen.
({16})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({17})
Wir haben Ihnen geschrieben. Bemerkenswert ist schon,
dass Sie als Regierungschef sich erst dadurch gezwungen sehen, hier zum Thema Arbeitslosigkeit Rede und
Antwort zu stehen.
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute hier nicht als Gestalter, sondern als Getriebener gesprochen.
({19})
Bis gestern galt Ihre Aussage von Ende letzten Jahres/
Anfang dieses Jahres: Wir, die Bundesregierung, die rotgrüne Koalition, haben jedenfalls unser Möglichstes zur
Reduzierung der Arbeitslosigkeit getan. - Das war zu
wenig. Deswegen haben wir die Initiative ergriffen. Das,
was Sie heute vorgelegt haben, ist zu wenig, um die Probleme wirklich bewältigen zu können, auch wenn wir
miteinander reden.
({20})
Schauen Sie sich doch bitte einmal an, was Ihr Freund
Tony Blair in Großbritannien gemacht hat.
({21})
Schauen Sie sich einmal an, wie Sozialdemokraten in
den Niederlanden, in Dänemark oder in Schweden ihren
Arbeitsmarkt entrümpelt und reformiert haben.
({22})
Dort ist die Arbeitslosigkeit gesunken. In Deutschland
steigt die Arbeitslosigkeit.
Warum hat eigentlich Kollege Müntefering so barsch
und ablehnend auf das Angebot der Union reagiert?
({23})
Sie spüren genau, Herr Müntefering: Die für mehr Neueinstellungen notwendigen Veränderungen auf dem
Arbeitsmarkt sind mit der SPD nicht zu schaffen. Diese
Veränderungen sind mit der SPD nicht möglich, weil
Teile der Gewerkschaften und der eigenen Klientel das
nicht mitmachen würden. Sie alle spüren, dass die SPD
mit der Agenda 2010 in eine Zerreißprobe geführt worden ist, die Sie nicht wiederholen wollen.
Ich erkenne ausdrücklich an - ich habe das schon vor
zwei Jahren gesagt -, dass die Agenda 2010 für die SPD
unbestritten ein weiter und steiniger Weg war. Aber ich
sage Ihnen auch ganz klar: Die Agenda 2010 ist zwar für
die SPD ein großer Schritt, aber für Deutschland ein viel
zu kleiner Schritt.
({24})
Die Mehrheit unseres Volkes ist hinsichtlich der
Reform- und Veränderungsbereitschaft längst weiter
als die Regierung. Deswegen wird die Entfremdung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der rot-grünen
Regierung immer größer.
({25})
Das ist der Grund dafür, warum Sie bei Umfragen in
punkto Vertrauen und Lösungskompetenz immer weiter
abstürzen.
Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, Ihre mangelnde Reformbereitschaft im Inneren ist der wahre
Grund dafür, warum die Visaaffäre die Menschen so
aufregt. Das Versagen bei der innenpolitischen Herausforderung Nummer eins, nämlich dem Arbeitsmarkt
- darüber reden wir heute -, verbunden mit dem Öffnen
der Tore nach draußen für Schwarzarbeiter und Billiglohnkonkurrenz, regt die Menschen zu Recht auf.
({26})
Es regt die Arbeitnehmerklientel der SPD zu Recht viel
mehr auf als die Klientel der Besserverdienenden bei den
Grünen. Das ist das zentrale Problem, mit dem Sie noch
große Schwierigkeiten bekommen werden.
({27})
Herr Bundeskanzler, wir kommen heute Nachmittag
zusammen. Ich appelliere daher an Sie, mehr und Konkreteres auf den Tisch zu legen als das, was Sie hier geboten haben.
({28})
Sie sind der Bundeskanzler und haben die Richtlinienkompetenz. Sie und nicht in erster Linie die Opposition
haben etwas vorzulegen.
({29})
Ich vermisse vor allem substanzielle Vorschläge für
die dringend notwendige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Sie haben gesagt, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sei praktisch schon vollendet. Wenn Sie
sich aber einmal den Arbeitsmarkt in der Europäischen
Union anschauen, dann können Sie erkennen, dass wir
die Unflexibelsten sind. Das ist auch ein Grund, warum
wir jeden Tag 1 200 Arbeitsplätze ans Ausland verlieren.
({30})
Wir können nicht so weitermachen, dass wir die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht angehen und auf Nebengebiete ausweichen.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({31})
({32})
Ich vermisse konkrete Vorschläge
({33})
für einen radikalen Abbau der Bürokratie. Ich vermisse
ebenfalls brauchbare Vorschläge zur Reduzierung der
Steuerlast und der Arbeitskosten in Deutschland.
({34})
Das sind die Schlüssel für mehr Wachstum und Arbeitsplätze. Eine entsprechende Agenda hat der Bundespräsident am Dienstag angemahnt und ihre Umsetzung eingefordert.
({35})
Es ist die Agenda einer Erneuerung und Wiederbelebung
der Kraft und der Dynamik der sozialen Marktwirtschaft.
Wir, CDU und CSU, wären sofort bereit, das umzusetzen, was der Bundespräsident angemahnt hat. Aber
was Sie, Herr Bundeskanzler, heute vorgestellt haben,
bleibt weit hinter dem zurück, was Deutschland braucht
und was für Deutschland erforderlich wäre.
({36})
Das bestätigen auch die Erfahrungen mit Ihrer Politik
in den vergangenen Jahren. Lassen wir sie doch einmal
Revue passieren! Sie haben heute ein wunderschönes
Bild gezeichnet, nur nimmt Ihnen dieses Bild keiner
mehr ab. Wer sechs Jahre lang die Arbeitslosigkeit mit
Scheinlösungen wie JUMP-Programmen, Jobfloater,
Personal-Service-Agenturen und Ich-AGs bekämpfen
will, dem fehlt in der Tat die Kompetenz.
({37})
Wer sechs Jahre lang den Mittelstand und junge Existenzgründer mit bürokratischen Regelungen lähmt, der
hat keine Ahnung, wer die Jobmotoren in diesem Land
sind.
({38})
Wer sechs Jahre lang - und darüber hinaus, Herr Fischer Pharmazie, Chemie und Gentechnik effektiv - die
Zahlen belegen das - aus dem Lande vertreibt, der kann
nicht glaubwürdig von Forschung, Innovation und Zukunftssicherung reden.
({39})
Ich weiß, wovon ich rede, weil ich um jeden Arbeitsplatz
in der Gentechnologie und in der Biotechnologie
kämpfe.
Wenn Sie - das einmal als kleiner Hinweis - mit Professoren der Immunologie, die Krebsforschung betreiben, reden, dann werden Sie hören, wie schwierig das
hier in Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder
England ist.
({40})
Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen bei den bürokratischen Hindernissen, mit denen diese Menschen zu
kämpfen haben, ansetzen, nicht bei den Allgemeinplätzen, die Sie hier bringen.
({41})
Das Haupthindernis für neue Arbeitsplätze ist der verriegelte Arbeitsmarkt. Die Weltbank hat die Flexibilität
des Arbeitsmarktes in 145 Staaten der Erde untersucht.
Deutschland liegt weit abgeschlagen auf Platz 111. Das
ist eine Bilanz, Herr Bundeskanzler! Mehr Arbeitsplätze
schaffen heißt vor allen Dingen Einstellungshürden abbauen und Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance geben.
Sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist unsere Losung.
Deshalb müssen wir betriebliche Bündnisse für Arbeit
auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen. Sie haben
vor zwei Jahren angekündigt, Sie würden das machen,
wenn die Gewerkschaften nicht großflächig dazu bereit
wären. Wir haben riesige Schwierigkeiten mit den Bündnissen für Arbeit - vielleicht nicht bei Siemens, aber bei
den kleinen und mittleren Betrieben.
({42})
- Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
die Basis verloren. Bei diesen Betrieben ist das zentrale
Problem - ({43})
- Ich brauche mich von Ihnen nicht auffordern zu lassen.
Ich lebe in dem Bundesland, in dem es die wenigsten Arbeitslosen gibt. Wenn es überall so wäre wie in Bayern,
dann wäre die Arbeitsmarktlage in Deutschland wesentlich besser. Das will ich auf Ihren Einwand hin einmal
sagen.
({44})
Ich bleibe dabei: Wir brauchen eine Reform unseres beschäftigungsfeindlichen Kündigungsschutzes. Sie, Herr
Bundeskanzler, verkennen die Lage völlig. Das ist ein
Haupthindernis für Neueinstellungen; diese Beschäftigungsbremse muss weg. Sie berühmen sich doch immer
Ihrer guten Kontakte zur Wirtschaft und auch zu den Repräsentanten der Wirtschaft. Sie reden doch mit denselben Menschen, mit denen ich auch rede. Es kann doch
nicht sein, dass die mir sagen, der Kündigungsschutz sei
eines der zentralen Einstellungshindernisse für die Jugend,
({45})
und man Ihnen etwas anderes erzählt. Gehen Sie an
diese Dinge ernsthaft heran! Zur Klarstellung muss ich
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({46})
deutlich sagen: Die Änderung gilt ja nicht für diejenigen,
die bereits in Lohn und Brot sind.
({47})
Für die wollen und können wir nichts ändern. Wir wollen es für die Zukunft ändern. Aber Sie sind nicht bereit,
für die Zukunft etwas zu verändern. Stattdessen nehmen
Sie mehr Überstunden in Kauf. Dabei wären mehr Einstellungen möglich, wenn der Kündigungsschutz anders
wäre - wie zum Beispiel in Österreich, in den Beneluxstaaten oder in England. Dort wurde die Arbeitslosigkeit
von 10 Prozent auf 4 Prozent gedrückt.
({48})
Sozial ist, was Arbeit schafft. Deswegen brauchen wir
- Sie haben fairerweise dargestellt, was dafür und was
dagegen spricht - mehr Zuverdienstmöglichkeiten
beim Arbeitslosengeld II im Hinblick auf die 400-EuroJobs und die 1-Euro-Jobs.
({49})
Insofern gibt es in der Tat nicht nur eine Lösung. Ich bin
aber bereit, auch insofern Änderungen vorzunehmen.
({50})
Das hat dann allerdings Auswirkungen. Aber das werden
wir heute Nachmittag besprechen.
Nun möchte ich ein Wort zu den Billiglohnkräften
aus Osteuropa sagen. Sie selbst haben das angesprochen. Sie haben gesagt, dass man das nicht zulassen
dürfe. Wir haben riesige Probleme, weil so genannte
Dienstleistungsunternehmen in Ostbayern und in vielen
anderen Teilen Deutschlands Metzgerarbeiten übernehmen und damit angestammte Handwerksbetriebe in außerordentliche Schwierigkeiten bringen.
({51})
Insofern geht es nicht um die Dienstleistungsrichtlinie.
Sie haben das heute richtigerweise differenziert dargestellt. Die Probleme liegen in der EU-Osterweiterung.
Wir haben Sie darauf aufmerksam gemacht und gesagt,
dass es, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, nicht reicht,
({52})
die Arbeitnehmerfreizügigkeit für insgesamt sieben
Jahre zu begrenzen, sondern dass Sie das auch für die
Dienstleistungsfreiheit machen müssen. Sie haben das
letzten Endes abgelehnt und nur einen kleinen Kompromiss zugelassen. Jetzt haben wir die Probleme. Ich sage
Ihnen ganz offen: Wir hätten über diese Dinge auch einmal im Bundestag reden müssen.
Das Problem Europas, das man im Zusammenhang
mit der Ratifizierung der Verfassung angehen muss, ist
doch die Frage: Ist es denn richtig, dass die Entscheidungen in Brüssel ohne Beteiligung der deutschen Öffentlichkeit und auch ohne Beteiligung des Parlamentes
getroffen werden? Es weiß keiner, was da auf uns zukommt.
({53})
Wir sind beim Erweiterungskommissar Verheugen abgeblitzt. Die Bundesregierung hat uns nicht unterstützt und
jetzt sagen Sie: Das Problem werden wir lösen. Das werden Sie leider nicht mehr so ohne weiteres lösen können,
weil die Zeit über dieses Problem hinweggegangen ist.
({54})
Neben der Deregulierung des Arbeitsmarktes brauchen wir eine wirkungsvolle Entlastung von Vorschriften und Bürokratie. Ausgerechnet die kleinen und mittleren Unternehmen, die Jobmotoren unserer Wirtschaft,
müssen überproportional hohe Bürokratielasten tragen:
Statistikpflichten, komplizierte Steuerregelungen, Genehmigungsmarathons und ein dickes Regelwerk an Arbeitsrechtsvorschriften. Ich habe mir das einmal angeschaut - es ist ja immer interessant, wenn man sich die
Dinge im Gesetz ansieht -: Ab zwei Mitarbeitern in
Deutschland muss es nach Geschlecht getrennte Toiletten geben; ab fünf Mitarbeitern besteht das Recht auf einen Betriebsrat; ab elf Mitarbeitern muss es einen Pausenraum geben; ab 16 Mitarbeitern besteht ein genereller
Anspruch auf Teilzeit und, und, und. Angesichts dessen
wollen wir die Leute ermutigen, sich selbstständig zu
machen und Arbeitsplätze zu schaffen? Sie sollten einmal ernsthaft an diese Dinge herangehen und bereit sein,
darüber zu diskutieren; denn das passt nicht mehr in das
europäische Umfeld.
({55})
Es kann doch nicht sein, dass ein großes Unternehmen wie die Firma Siemens Bürokratiekosten in der
Größenordnung seines Gewinns hat. Ein kleines Unternehmen mit zehn oder 15 Mitarbeitern, ein Durchschnittsunternehmen, hat heute Bürokratiekosten in der
Größenordnung von 7 Prozent des Umsatzes bei einem
Gewinn von 1 Prozent oder höchsten 2 Prozent. Das ist
die Realität. Wenn wir so weitermachen und da nicht herangehen - das sind die entscheidenden Fragen -, werden wir den Jobmotor nicht anwerfen können.
({56})
In Ihrem Antidiskriminierungsgesetz kommt - das
sage ich ganz offen - der rot-grüne Bürokratiewahn voll
zum Durchbruch. Man sollte sich das einmal in der Praxis anschauen - ich kann die ganzen Beispiele gar nicht
darstellen -: Wer einen Arbeitnehmer einstellt oder eine
Wohnung vermietet, muss in Zukunft beweisen können,
dass er niemanden diskriminiert hat.
({57})
- Natürlich wird das dazu führen. Sie reden wahrscheinlich zu viel mit den Politikern. Reden Sie einmal mit den
Menschen, die davon betroffen sind! Die fühlen sich von
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({58})
dem Antidiskriminierungsgesetz außerordentlich gegängelt und haben Angst.
({59})
Jetzt diskutieren wir über eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen auch hier: Die
CDU und die CSU haben frühzeitig gewarnt. Der Bundesrat hat vor einem Jahr eine Entschließung gegen die
dem Antidiskriminierungsgesetz zugrunde liegenden
europäischen Richtlinien gefasst. Hier haben wir wieder
ein zentrales europäisches Problem. Möglicherweise ist
im Bundestag nicht mit der notwendigen Schärfe darüber diskutiert worden. Im Bundesrat haben wir über
diese Richtlinie außerordentlich hart und kontrovers diskutiert und haben gesagt: Diese Richtlinie passt nicht.
Sie muss schon auf europäischer Ebene verändert werden. Sie hätten eine solche Richtlinie verhindern können.
Aber Sie haben nichts dazu getan, diese Richtlinie zur
Antidiskriminierung auf EU-Ebene zu verändern. Jetzt
setzen Sie noch zulasten des Arbeitsmarktes drauf, wie
Frau Merkel schon dargestellt hat.
({60})
Vielleicht kommen wir bei den Lohnzusatzkosten zu
einem Ergebnis durch die Reduzierung der Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung. Ob das 1,5 oder 1 oder
0,7 Prozent sind - Herr Müntefering, da ist zweifelsohne
noch etwas drin -, werden wir heute Nachmittag konkret
bereden. Das brauche ich hier nicht im Einzelnen auszuführen.
Ein weiterer Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit,
der mir sehr wichtig ist, ist die Senkung der Energiekosten. Ich verstehe ja die stille Verzweiflung vieler in
der SPD über ihren grünen Koalitionspartner. Die Grünen-Vorsitzende Frau Roth bringt das grüne Politikverständnis trefflich zum Ausdruck: volle Emotion für
Nischenthemen der Politik, aber keine Antwort auf die
zentralen Probleme in Deutschland.
({61})
Die ganze Liebe der Grünen gehört der mit zig Milliarden subventionierten Windradwirtschaft, die gerade einmal 0,02 Prozent unseres Energiebedarfs deckt. Trotzdem raten Sie, Herr Außenminister, den Chinesen und
Indern, auf regenerative Energien zu setzen. Sie wissen
ganz genau, dass Sie hier Volksverdummung betreiben.
Die Chinesen haben ein Wirtschaftswachstum von
9 Prozent und ein Energiewachstum von 18 Prozent. Sie
erkaufen sich sozusagen ihr Wirtschaftswachstum mit
einem doppelten Energiewachstum. Ohne die Kernenergie wäre die Welt gar nicht mehr vor der CO2-Belastung
zu retten. Aber da Sie gegen die Kernenergie sind, schlagen Sie einem Land wie China mit 1,3 Milliarden
Einwohnern Windräder vor. Für wie dumm halten Sie
eigentlich die Leute vor den Bildschirmen, meine Damen und Herren?
({62})
Sie reden zu wenig mit den energieintensiven Betrieben. Wenn Sie mit der Zementindustrie, der Aluminiumindustrie, der Pharmaindustrie und der Automobilindustrie redeten, würden Sie feststellen, dass der Strompreis
in Deutschland nach dem in Italien der höchste ist. Dieser hohe Preis, der von Rot-Grün zu verantworten ist,
kostet Arbeitsplätze, die im Bereich der regenerativen
Energien gar nicht aufzufangen sind.
({63})
Die vierte Säule eines tragfähigen Konzepts für mehr
Arbeit - in dieser Reihenfolge sehe ich es - ist die Senkung der Unternehmenssteuersätze. Die Absenkung
des Körperschaftsteuersatzes, die verbesserte Anrechnung der Gewerbesteuer und die erleichterte Unternehmensnachfolge für den Mittelstand, Herr Bundeskanzler,
sind Ansätze, die in die richtige Richtung zeigen. Ich
hoffe, dass damit auch alle Vorstellungen in der SPD zur
Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung
der Vermögensteuer endgültig ad acta gelegt werden.
({64})
Aber Sie wissen, dass dies viel Geld kostet. Was Sie
heute vorgeschlagen haben, geht in die Milliarden. Die
Vorschläge, die Sie zur Gegenfinanzierung unterbreitet
haben, gehen aber nicht in die Milliarden, sondern in
dreistellige Millionenzahlen. Da heißt es bei Ihnen wieder nur „hätte“, „sollte“, „könnte“. Damit ist unserem
Land nicht gedient. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei
1,4 Billionen Euro Staatsschulden - über 850 Milliarden
Euro Schulden des Bundes, über 400 Milliarden Euro
Schulden der Länder und über 150 Milliarden Euro
Schulden der Kommunen - ist es völlig unakzeptabel
und der jungen Generation gegenüber unmoralisch, Ausgaben mit Schulden weiterzufinanzieren, wie Sie es hier
machen wollen. Wir werden dies auf keinen Fall mitmachen.
({65})
Meine Damen, meine Herren, es war sehr interessant,
was der Bundespräsident gestern in diesem Zusammenhang gesagt hat. Diese Dimension muss man sich noch
einmal vor Augen halten: 1,4 Billionen Euro Staatsschulden,
({66})
7,1 Billionen Euro Schulden insgesamt, wenn man die
Pensionsverpflichtungen hinzuzählt! Dies bedeutet, dass
jemand, der heute hier in Berlin geboren wird, mit fast
90 000 Euro Schulden auf die Welt kommt. Dies ist auf
die Dauer nicht mehr akzeptabel. Wo bleibt hier eigentlich die Nachhaltigkeit, die Sie im Umweltschutz immer
so nach vorne tragen? Zur Finanzpolitik gehört sie genauso.
({67})
Eine letzte Bemerkung zur Föderalismuskommission: Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie beim Wort. Sie
haben heute gesagt, es komme nicht auf die Kompetenzen, sondern auf die Sache an. Verzichten Sie bitte künftig auf die Übergriffe in die Kulturhoheit der Länder;
dann sind wir uns schnell einig.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({68})
Ich verwahre mich dagegen - das sage ich ganz deutlich -, dass von Ihnen und von Herrn Müntefering der
hessische Ministerpräsident sozusagen zum Buhmann
stilisiert wird.
({69})
Das ist falsch. Ich stelle mich voll und ganz hinter
Roland Koch. Mit ihm und allen anderen Kollegen bekommen wir eine vernünftige Föderalismusreform hin. Was Herr Müntefering und ich als Vorsitzende hier zustande gebracht haben,
({70})
wurde von vielen zunächst als relativ kleinmütig angesehen. Aber als es gescheitert ist, wurden große Klagen
laut.
Eine Renovierung des Grundgesetzes dieser Art bekommen Sie meines Erachtens in den nächsten zehn Jahren nicht mehr hin.
({71})
Sie müssen nämlich eines sehen: Die Ministerpräsidenten verzichten auf Einflussmöglichkeiten im Bund, wenn
letzten Endes zwei Drittel aller Gesetze im Bundestag
verabschiedet werden. Wenn künftig das Ausländergesetz im Bundesrat nicht mehr aufgehalten werden
könnte, wenn Hartz IV vom Bundestag allein verabschiedet werden könnte, würden wir in Deutschland zu
schnelleren Entscheidungen kommen. Auch ich sehe
Deutschland in einer Krise, weil wir im Prinzip zu viel
im Vermittlungsausschuss behandeln und die Menschen
nicht mehr wissen, wer für dieses oder jenes die Verantwortung trägt.
({72})
Herr Bundeskanzler, Sie haben immer wieder mehr
oder weniger Sand ins Getriebe gestreut, weil Sie die
Zuständigkeit für die Bildungspolitik für sich bzw. die
Bundesregierung oder den Bund reklamieren.
({73})
Sie können nicht erwarten, dass die Ministerpräsidenten
letzten Endes auf ganz erhebliche Kompetenzen verzichten.
({74})
Ich bin dafür und habe dafür gekämpft bis hin zur Änderung des Grundgesetzes bezüglich der Außenvertretung,
({75})
bis hin zu mehr Kompetenzen für das BKA, bis hin zur
Übertragung der Zuständigkeiten im Umweltschutz auf
den Bund - das sind weit reichende Dinge ({76})
bis dahin, dass der Bund viel weniger von der so genannten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 des Grundgesetzes abhängig ist. Das wäre eine erhebliche Verbesserung
zugunsten des Bundes. Aber wenn Sie diese wollen - die
müssten Sie im Interesse Deutschlands und der Schnelligkeit der Entscheidungen wollen -, müssen Sie auch
akzeptieren, dass die Länder nur dann mitmachen, wenn
im Bildungsbereich Wettbewerbsföderalismus stattfindet
({77})
und damit die Länder, für die Bildungspolitik einen größeren Stellenwert hat, auch bessere Ergebnisse erzielen.
Aber vielleicht ist hier noch nicht aller Tage Abend.
Angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen braucht
Deutschland in der Tat einen historischen Kraftakt. Was
Sie heute vorgelegt haben, ist für mich ungenügend. Ich
fordere Sie auf, zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch
die Wege einzuschlagen, die der Bundespräsident am
Dienstag angemahnt hat.
({78})
Wir als konstruktive Opposition
({79})
- da brauchen Sie gar nicht so zu lachen - bieten an, dafür Verantwortung zu tragen.
({80})
Als der Herr Bundeskanzler noch zusammen mit seinem
Kollegen Lafontaine in der Opposition war, hätte er
nicht im Traum daran gedacht,
({81})
der Regierung im Interesse Deutschlands die Hand zu
reichen. Da wurde nur blockiert. Wir tun das nicht.
({82})
In dem Sinne hoffe ich auf ein vernünftiges Ergebnis.
Danke schön.
({83})
Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück.
({0})
Peer Steinbrück, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn jemand das Angebot zu einem „Pakt für
Deutschland“ macht, dann erwarte ich, dass anschließend entsprechende Reden gehalten werden.
({2})
Dem Angebot zu einem solchen „Pakt für Deutschland“
entsprach die Rede von Frau Merkel nicht und die Rede
von Herrn Stoiber erst recht nicht.
({3})
Das waren keine staatspolitischen Reden. Das waren
Parteitagsreden.
({4})
Die Standarderöffnungssätze, die ich heute noch einmal von Herrn Stoiber gehört habe, lese ich sehr häufig
im Handbuch für Oppositionsredner.
Der erste Satz lautet: Gemessen an den Erwartungen,
Herr Bundeskanzler, war Ihre Rede eine Enttäuschung. Das ist wie e2-e4 im Schach. Das ist der Standarderöffnungssatz.
({5})
Der zweite Satz lautet dann: Sie sind der Aufgabe
nicht gewachsen. - Welche Überraschung!
Der dritte Satz lautet: Deshalb brauchen wir eine andere Regierung. - Dies ist ein rhetorisches Highlight, das
noch hinterhergeschoben wird.
({6})
In einer staatspolitischen Rede, Frau Merkel, hat man
es nicht nötig, den Untergang Deutschlands an die Wand
zu malen oder dem politischen Gegner zu unterstellen, er
wolle Deutschland dahin führen. In einer staatspolitischen Rede glaubt man auch nicht, dass die anderen immer in der Wagenburg säßen und man selber den Stein
der Weisen gepachtet habe.
({7})
Ich fürchte, dass die Verteilung von Deppen und Schlaubergern über die Parteien und die Fraktionen nicht so
eindeutig ist, wie Frau Merkel es heute dargestellt hat.
({8})
Vielmehr läuft sie entlang der Normalverteilung der Bevölkerung.
Wer wie Frau Merkel glaubt, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben - nach dem Motto: Wir sagen die
Wahrheit, aber Sie sind immer empört und aggressiv,
wenn wir das tun -, gewinnt beim Publikum auch keine
Glaubwürdigkeit.
({9})
Von dieser Debatte soll - so jedenfalls die Erwartung
vieler, die uns zuhören - das deutliche Signal ausgehen,
dass wir hier im Deutschen Bundestag und darüber hinaus im Bundesrat erneuerungsbereit sind. Ich bin mir
nicht so sicher, ob wir dieser Erwartung bisher entsprochen haben.
Zur Sache also: Der Standort Deutschland muss sich
zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewähren. Er muss sich
anstrengen und er wird renoviert werden müssen, kein
Zweifel.
Ich fürchte, dass wir alle gemeinsam Versäumnisse
aus den 90er-Jahren zu beklagen haben, auf allen Seiten,
in allen politischen Parteien.
({10})
Ich glaube, dass wir sträflich lange - bis zum PISASchock - den Stellenwert der Bildung gemeinsam unterschätzt haben. Ich glaube, dass wir es über weite Teile
der 90er-Jahre versäumt haben, uns rechtzeitig darauf
einzustellen, wie ein Sozialstaatsmodell unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts aussieht. Ich glaube,
dass wir lange der Debatte ausgewichen sind, wie soziale Gerechtigkeit neu zu definieren ist, insbesondere
mit Blick auf Generationengerechtigkeit; dabei spielt
der demographische Wandel eine erhebliche Rolle. Wir
haben uns auch zu wenig Gedanken darüber gemacht,
welche Rolle der Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts
spielt.
Da schleppt allerdings jeder seinen Ballast mit, Herr
Gerhardt, die FDP nicht viel anders als meine Partei.
Denn wenn wir über einen handlungsfähigen Staat in
einer sozialen Demokratie reden, dann reden wir in der
Tat über ein anderes Staatsverständnis, als es die FDP
hat.
({11})
Bezogen auf die Debatten, die Sie selber geführt haben,
versuche ich mich daran zu erinnern, welche Impulse für
eine solche Debatte vor 30 Jahren Herr Flach und Herr
Maihofer gegeben haben und welche Impulse Sie heute
geben.
Der demographische Wandel mit sehr deutlichen
Folgen für die Finanzierung der vier Säulen unserer sozialen Transfers, eine zugegebenermaßen unzureichende
Wachstumsdynamik, ein internationaler Wettbewerb, in
dem das Kapital so mobil ist wie nie zuvor, in dem
Raum- und Zeitgrenzen durch moderne Informationsund Kommunikationstechnologien ausgehebelt werden
und eine angespannte Haushaltslage bei unverändert
hohen Erwartungen an die staatliche Leistungsbereitstellung - diese vier Faktoren führen unabweisbar zu notwendigen Strukturveränderungen und damit zu Reformen.
Ministerpräsident Peer Steinbrück ({12})
Aber der Standort Deutschland ist nicht so schlecht,
wie er geredet wird.
({13})
In einer Meldung des „Handelsblatts“ vom 16. März
wird sehr abgewogen zitiert. Die Wirtschaftsprüfer von
Ernst & Young, das amerikanische Unternehmen
Citigroup, die Amerikanische Handelskammer in
Deutschland, der „Economist“ und die Ratingagentur
Standard & Poor’s kommen zu dem Ergebnis: Insgesamt
gehe Deutschland in die richtige Richtung. Der Blick
von außen zeige viel Positives; die Deutschen müssten
es nur noch merken.
({14})
Mir geht deshalb durch den Kopf, ob wir es bei den
Reformnotwendigkeiten, die uns beschäftigen, nicht nur
mit strukturellen Defiziten zu tun haben, sondern
manchmal auch mit mentalen Einstellungen, die uns
hinderlich sind, das Notwendige pragmatisch zu tun.
({15})
Wir sind sehr verliebt in eine negative Selffulfilling Prophecy. Wenn wir über Deutschland reden, erinnert das
gelegentlich an sadomasochistische Praktiken.
({16})
Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang
gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung verdient; er bringt auch Erfolge. Angesichts erheblicher Widerstände und vieler opportunistischer Pirouetten, die
ich auch und gerade bei der CDU in meinem Land, in
Nordrhein-Westfalen, häufig erlebt habe, ist das Stehvermögen des Bundeskanzlers in diesem Prozess eine Qualität für sich.
({17})
Wenn man nicht grobschlächtig vorgeht, wenn man
die Betrachtung nicht grobkörnig vornimmt, sondern
versucht, sich ein genaueres Bild zu verschaffen, dann
verbieten sich Vereinfachungen, allerdings auch simple
Schlussfolgerungen, will sagen:
Erstens. Die realen Nettolöhne und -gehälter in
Deutschland sind nicht das Problem. Die realen Nettolöhne und -gehälter vieler Menschen, die uns heute
wahrscheinlich zuhören, dürften seit Ende der 90er-Jahre
stagnieren; es dürfte nicht viel mehr geworden sein als
das, was die Menschen vorher cash in der Tasche hatten.
Das Problem in Deutschland sind die Bruttoarbeitskosten. Aber dann soll man in seiner Rede auch so differenzieren.
Zweitens. Die Steuerquote in Deutschland ist nicht
das Hauptproblem. Sie ist im internationalen Vergleich
ziemlich moderat. Das Hauptproblem in Deutschland ist
die Steuer- und Abgabenquote und damit die Art der
Finanzierung unserer sozialen Transfers über eine Abgabe auf den Produktionsfaktor Arbeit. Zugegebenermaßen haben wir im internationalen Vergleich eine Besteuerung unserer großen Kapitalgesellschaften oder der
Körperschaften durch ein sehr intransparentes, sehr
komplexes Steuersystem.
Drittens. Die Gewinnentwicklung der DAX-notierten
Unternehmen - wenigstens im letzten Jahr, aber auch in
der Perspektive für dieses Jahr - lässt nicht auf durchweg so schlechte Rahmenbedingungen in Deutschland
schließen, wie Sie es in Ihren Beiträgen dargestellt haben.
({18})
Dass der Mittelstand größere Probleme hat, ist unbestritten - übrigens auch durch einen Faktor, der weniger
politisch zu verantworten ist, nämlich durch das geänderte Finanzierungsverhalten des deutschen Bankensektors insgesamt.
Viertens. Der Exportüberschuss ist kein Indiz für die
Schwäche der Bundesrepublik Deutschland.
Zur Flexibilität des Arbeitsmarktes bestätige ich
gerne, was vom Bundeskanzler und auch von Herrn
Müntefering heute schon angedeutet worden ist: Ich
habe in Nordrhein-Westfalen auf der konkreten betrieblichen Ebene keine Schwierigkeiten mit Bündnissen für
Arbeit.
({19})
Dabei ist es egal, ob es große Unternehmen sind. Glauben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede, bezogen auf ein
großes Automobilunternehmen in Bochum, bezogen auf
Karstadt, bezogen auf einen wichtigen Anlagenbauer
wie Babcock oder andere Firmen, sogar bezogen auf solche, bei denen ein geordnetes Insolvenzverfahren anstand. Es gehört zur täglichen Aufgabe der Landesregierung, zusammen mit Betriebsräten, Gewerkschaften und
dem Management - auch von kleineren und mittleren
Unternehmen - die Kärrnerarbeit zu leisten, um diese
Unternehmen zu stabilisieren und so viele Arbeitsplätze
wie möglich zu erhalten.
({20})
Das funktioniert. Es funktioniert vielleicht sogar bis hin
zu einem Fußball- oder Handballverein; so weit kann es
gehen. Man macht es hinter den Kulissen. Man macht es
nicht auf dem offenen Marktplatz, weil man versucht,
diesen Firmen nicht zu schaden. Aber es funktioniert. In
den über 50 000 Tarifverträgen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, gibt es viele Klauseln, von
denen die Sozialpartner Gebrauch machen können, um
solche flexiblen Bündnisse zu realisieren.
({21})
Im Übrigen finde ich - um bei dieser genaueren Beschreibung des Bildes von Deutschland zu bleiben -,
dass die angekündigten, teilweise erheblichen Dividendenerhöhungen vieler Unternehmen in Deutschland auch
Ministerpräsident Peer Steinbrück ({22})
die Frage nahe legen, ob sich nicht ein zusätzlicher
Spielraum für arbeitsplatzschaffende Investitionen in
Deutschland auftut.
({23})
Das alles sind Hinweise, die zu einer Differenzierung
einladen und grobschlächtige Beiträge, wie wir sie auch
heute gehört haben, verbieten. Es wäre ein großer Vorteil, wenn wir über diese Differenzierung stärker zueinander finden könnten.
Reformbedarf stellt sich mit Blick auf die Pflegeversicherung. Er stellt sich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung auch mit Blick auf eine zukunftssichere Altersversorgung; dafür sind weitere
Schritte notwendig. Er stellt sich mit Blick auf die Gesundheitsfinanzierung und die beiden konkurrierenden
Modelle, die es dort gibt. Er stellt sich mit Blick auf die
Föderalismusreform, die Bund-Länder-Beziehungen. Er
stellt sich in meinen Augen auch mit Blick auf die Notwendigkeit, 23 Jahre nach der letzten Fortschreibung des
Energieprogramms gemeinsam einen neuen energiepolitischen Rahmen zu finden. Er stellt sich schließlich auch
mit Blick auf die Vereinfachung des Steuersystems in
Deutschland, allerdings nicht nur mit der Fokussierung
auf Steuersätze, sondern auch auf die Gestaltung von
Bemessungsgrundlagen und Gewinnermittlungsmethoden.
({24})
Von Frau Merkel ist vorhin darauf hingewiesen
worden, die CDU habe ein überzeugendes Steuerkonzept 21. Ich kenne dieses überzeugende Steuerkonzept nicht.
({25})
Ich weiß, dass es erst ein bisschen Faltlhauser und dann
ein bisschen Merz geben soll.
({26})
Ich weiß, dass Sie den Menschen einreden, man könne
den Einkommensteuerspitzensatz auf 36 Prozent reduzieren, obwohl wir alle in diesem Saal wissen, dass das
undenkbar und nicht finanzierbar ist.
({27})
Ich weiß, dass Sie den sozialen Ausgleich bei Ihrem Prämienmodell dadurch finanzieren wollen, dass Sie den
abgesenkten Steuersatz etwas zurücknehmen. Das heißt,
Sie finanzieren dieses Prämienmodell aus nicht gegenfinanzierten Steuererleichterungen.
({28})
Das ist eine erstaunliche Leistung.
Wir alle wissen - in dieser Passage kann ich mich
ausnahmsweise auf den Kollegen Stoiber beziehen -,
dass die öffentlichen Haushalte eine Absenkung des
Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent nicht überstehen
würden.
({29})
- Auch in Bayern nicht. - Es ist völlig irrwitzig, den
Menschen im Augenblick solche Steuersenkungen zu
versprechen.
({30})
Der Punkt ist: Sie wissen das, aber offenbar haben Sie
nicht die Souveränität, dies in einer solchen Debatte klar
zu machen.
({31})
Wenn jemand von der FDP versucht, mir ökonomisch
nachzuweisen, dass Steuersenkungen eine Art Selbstfinanzierungseffekt von eins zu eins haben, dann möchte
ich das angesichts der Erfahrungen in Schweden, England und den USA endlich einmal empirisch belegt haben.
({32})
Ich glaube, dass das sehr intransparente und sehr
komplexe deutsche Steuerrecht reformbedürftig ist und
dass der verfahrenspolitische Vorschlag des Bundeskanzlers bzw. der Bundesregierung richtig ist, die Sachverständigen zu bitten, Entsprechendes bis Ende dieses
Jahres in Gang zu setzen.
({33})
Ich glaube, dass die Lösung mit Blick auf die unterschiedlichen Steuersysteme für Personengesellschaften
- und damit für den Mittelstand - und Kapitalgesellschaften in einer rechtsformneutralen Besteuerung
der deutschen Unternehmen liegt. Ich glaube, dass das
richtig ist.
({34})
Denjenigen, die immer eilfertig sagen, wir müssten
das Reformtempo weiter steigern, und mit dem strapazierten Bild einer ruhigen Hand darüber hinwegtäuschen, dass es auch einer Kärrnerarbeit bedarf, um solche Reformen umzusetzen,
({35})
rufe ich zu: Geht es nicht auch um Augenmaß und Balance sowie um den Zusammenhalt dieser Gesellschaft
in einem rasanten ökonomischen und technischen Wandel? Anders ausgedrückt: Stellt man wichtige Leitplanken der Sicherheit, wie zum Beispiel die Mitbestimmung, die Tarifautonomie und den Kündigungsschutz,
im 14-tägigen Turnus infrage, wenn man die Menschen
in diesem Wandel fordern muss?
Ministerpräsident Peer Steinbrück ({36})
({37})
Sind wir nicht darauf angewiesen, den Menschen, die
ohnehin schon verunsichert sind und in diesem Wandel
eher verlieren und Verlustängste haben, einige Konstante
und Leitplanken der Sicherheit zu belassen und gehören
die von mir genannten fast konstitutiv wichtigen Säulen
der Sozialpartnerschaft nicht dazu? Sollte man nicht eher
die Finger davon lassen, als dies alle 14 Tage wieder
hochzuziehen?
({38})
Verbindet man die Diskussion über wettbewerbsfähige
Steuersätze insbesondere für die Kapitalgesellschaften,
wie vor wenigen Tagen geschehen, mit der Drohung
einer Rentenkürzung, nach dem Motto: Die Gelegenheit
ist günstig?
({39})
Ich denke an eine allein erziehende Verkäuferin mit
ungefähr 1 000 Euro netto, um in meinem oft benutzten
Bild zu bleiben, der ich sehr mühsam erklären muss,
dass sie von ihrem verfügbaren Einkommen nach Lage
der Dinge demnächst bzw. schon jetzt mehr für Alter,
Pflege und Gesundheit ausgeben muss. Welche Garantie kann ich ihr geben, dass in Deutschland aufgrund von
abgesenkten Unternehmensteuersätzen Investitionen getätigt und Arbeitsplätze geschaffen werden?
({40})
Anders ausgedrückt: Wie wirkt auf diese Frau, die mit
1 000 Euro nach Hause kommt, die Tatsache, dass über
die von der Bundesregierung eingeleitete und von Ihnen
mitgetragene Modernisierung des Gesundheitssystems
die Bezüge von Vorständen in den gesetzlichen Krankenversicherungen erhöht werden, von denen sie endlich
eine Reformrendite in Form abgesenkter Krankenversicherungsbeiträge erwartet?
({41})
Reden wir in diesem Zusammenhang nur über die patriotische Verantwortung der politischen Parteien, sich
zu einigen und Gemeinsamkeiten zu entwickeln, oder
reden wir auch über die patriotische Verantwortung unternehmerischer Entscheidungsträger in der Bundesrepublik Deutschland?
({42})
Richtig ist: Wirtschaft und Gesellschaft müssen dynamischer werden. Wir müssen wieder neugieriger werden. Wir müssen wahrscheinlich auch schneller und innovativer werden. Auch ein bisschen mehr Zuversicht
täte uns gut. Das sind die mentalen Barrieren, von denen
ich sprach. All das ist unbestritten.
Es ist in diesem Reformprozess aber auch nicht zu bestreiten, dass die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft eher
zunehmen als abnehmen: zwischen Arm und Reich, wie
es die Armutsberichte ausweisen; zwischen Alt und Jung
vor dem Hintergrund der von mir genannten demographischen Entwicklung und der Abwägung zwischen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen; zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten; zwischen denjenigen,
die einheimisch sind, und denjenigen, die zu uns kommen, also jenen, die die Fähigkeit haben müssen, zu integrieren, und denen, die die Bereitschaft haben müssen,
sich integrieren zu lassen; zwischen Stadtvierteln, die
sozial abzustürzen drohen, und den so genannten besseren Vierteln; zwischen denjenigen, die sich als digitale
Analphabeten herausstellen, weil sie mit Informationsund Kommunikationstechnologien nicht umgehen können, während es die anderen können.
Das sind die Fliehkräfte dieser Gesellschaft. Von diesen Fliehkräften war in der Rede am letzten Dienstag zu
wenig die Rede.
({43})
Die Aufgabe, den Reformbedarf zu definieren, ist schon
schwierig genug. Aber sie gelingt uns wahrscheinlich
gemeinsam. Damit jedoch die Frage zu koppeln, wie ich
den Kitt dieser Gesellschaft erhalte, ohne dass mir hinten
die Waggons des Zuges, der beschleunigt, aus dem Gleis
springen, ist etwas, was in der Rede am Dienstag nicht
angesprochen wurde.
({44})
Wenn Sie mit Blick auf das wichtige Thema Bildung
und den damit verbundenen Schwierigkeiten - die PISAErgebnisse bestätigen, dass es uns bisher nicht geglückt
ist, unser Bildungssystem so zu gestalten, dass diejenigen, die aus bildungsferneren Schichten stammen, Aufstiegsmöglichkeiten erhalten -, glauben, uns mit dem
Kampfbegriff der Einheitsschule erschrecken zu können,
dann täuschen Sie sich.
({45})
Damit das ein für alle Mal unmissverständlich ist: Ich
werde in Nordrhein-Westfalen weder die Realschule
noch das Gymnasium über die Köpfe der Betroffenen
und Beteiligten hinweg abschaffen.
({46})
Aber ich möchte gerne mit den Beteiligten - Kindern,
Eltern, Lehrern, Verbänden, Gewerkschaften und bildungswissenschaftlichen Einrichtungen - die Frage diskutieren, ob ein sehr stark gegliedertes Schulsystem
nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern nach Lage der
Dinge auch in Bayern ein zukunftsfähiges Schulsystem
ist, um beim Zugang zu Bildungsgütern Chancengerechtigkeit zu gewährleisten.
({47})
Ministerpräsident Peer Steinbrück ({48})
Wenn Sie versuchen, mit dem Kampfbegriff der Einheitsschule diese Debatte zu tabuisieren, dann sage ich
Ihnen: Dies wird nicht gelingen.
({49})
Dieser Kampfbegriff soll nichts anderes als ein Denkverbot über die zukünftigen Schulstrukturen auslösen.
({50})
Im Übrigen lasse ich mich in Nordrhein-Westfalen
gerne mit anderen Standorten vergleichen, zum Beispiel
mit Bayern, was den Anteil der Schulabgänger ohne
Schulabschluss betrifft. Ich lasse mich in NordrheinWestfalen ebenfalls sehr gerne mit Bayern vergleichen,
was den Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife
betrifft. Damit habe ich keine Probleme. Ich rate uns in
dieser Debatte, weniger grobkörnig zu arbeiten, als das
auch heute teilweise der Fall gewesen ist.
Ich glaube, dass der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die richtigen Akzente gesetzt und die
Agenda 2010 konturiert hat. Es sind die richtigen Akzente in der Arbeitsmarktpolitik; ich begrüße außerordentlich, dass es gerade bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten zu weiteren Regelungen kommen wird. Ich
erinnere mich sehr genau daran, wer im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat gegen eine weiterreichende
Hinzuverdienstregelung gewesen ist.
({51})
Ich erinnere mich auch sehr genau daran, wer mit uns
gemeinsam die Änderung der Arbeitslosenstatistik verabschiedet hat, anschließend aber über diese Beteiligung
so erschrocken ist, dass er sie ignoriert.
({52})
Ich habe ein sehr gutes Langzeitgedächtnis dafür, wer im
Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Praxisgebühr auf die politische Tagesordnung
gesetzt hat und wer anschließend, als es schwierig
wurde, nicht mehr dahintergestanden hat.
({53})
Diese Erfahrungen habe ich mit Ihnen zu häufig gemacht.
Ich bin sehr froh über die Passagen in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, in denen die Rede von
der Stärkung der Investitionskräfte ist, auch und gerade
mit Blick auf ein Beschleunigungsgesetz bei Public-Private-Partnership-Modellen, zu denen wir in NordrheinWestfalen etwas anbieten können. Das gilt auch für Planungsvereinfachungen und ähnliche wichtige Hinweise.
({54})
Ich erwarte eigentlich noch in dieser Woche vor dem
Hintergrund der Einigung über die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes klare Aussagen der Energiewirtschaft über Investitionen in Kraftwerke und Netze in der
Bundesrepublik Deutschland.
({55})
Ich begrüße die Vorschläge zur Mittelstandsförderung.
Ich sage zu, dass das Land Nordrhein-Westfalen eine
solche Erbschaftsteuerregelung mit Blick auf die Vererbung von betrieblichem Vermögen im Bundesrat unterstützen wird, wohl wissend, dass mir dieses Gespräch
mit meinem Finanzminister erst noch bevorsteht.
Ich bin auch dankbar für die Bereitschaft, einen neuen
Anlauf zur Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen zu nehmen. Ich will nicht in die Vergangenheitsbewältigung einsteigen, sondern uns allen ganz allgemein
sagen: Der Eindruck, der sich bei den Menschen im Dezember festgesetzt hat, war nicht der des Versagens der
SPD, der CDU/CSU, der Bundesregierung oder der Länder. Der Eindruck war der eines Politikversagens auf
ganzer Linie.
({56})
Das fällt uns gemeinsam auf die Füße. Ich bin dafür,
dass wir die staatlichen Handlungsebenen stärken. Dies
bedeutet eine klare Entflechtung, eine klare Zuordnung
von Verantwortlichkeiten. Wir sollten dies nicht an dem
Bildungsthema, das sehr ultimativ in die Diskussion eingeführt worden ist, scheitern lassen.
({57})
Um meine Position als Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen deutlich zu machen: Ich glaube, dass
man in Bezug auf den Wettbewerb von Standorten in der
Bundesrepublik Deutschland - Stichworte: Wissensgesellschaft und Technologiestandort - dem Bund nicht
schlechterdings jedwede Initiative im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Technologie bestreiten kann.
({58})
Umgekehrt wissen alle hier in diesem Hohen Hause,
dass die Kultushoheit ein Element der Staatlichkeit der
Länder ist, das man nicht aushebeln kann.
({59})
Es müsste eigentlich möglich sein, zwischen diesen beiden Punkten einen Kurzschluss herzustellen, der uns in
die Lage versetzt, diese wichtige Föderalismusreform so
schnell wie möglich zu gestalten.
({60})
Ich möchte etwas deutlich anerkennen, was in dieser
Regierungserklärung kein Schwerpunktthema war, uns
auf der kommunalen Ebene aber sehr beschäftigt. Wir
haben wegen der Entscheidungen, die getroffen worden
sind - auch in früheren Zeiten -, eine erfreuliche Stärkung der kommunalen Finanzkraft, wenn diese auch
vor dem Hintergrund erheblicher Probleme nach Lage
der Dinge noch nicht ausreicht und wir es nach wie vor
mit einer dramatischen Situation zu tun haben. Aber zumindest anzuerkennen und, in aller Souveränität zuzugeben, dass sich durch die günstigere Gewerbesteuerumlage, durch die Schließung von Steuerschlupflöchern,
Ministerpräsident Peer Steinbrück ({61})
durch die Hartz-IV-Rendite, auf die es einen Rechtsanspruch gibt, und durch das 4-Milliarden-Euro-Programm
des Bundes für die Ganztagsbetreuung die Lage der
Kommunen deutlich verbessert hat, dürfte auch der Opposition nicht schwer fallen.
({62})
Was die Verantwortung der Kommunalminister betrifft, insbesondere den Kommunen Investitionsspielräume einzuräumen, die ein genehmigtes Haushaltssicherungskonzept oder sogar einen Nothaushalt haben,
ist dies eine der Aufgabenstellungen, die sich aus dieser
Regierungserklärung für die Länder ergeben. Die nehme
ich in meinem Gepäck gerne mit.
({63})
Ich habe manchmal den Eindruck, dass zum einen die
Art der öffentlichen Debatte und auch die Art, wie wir
politisch miteinander umgehen, mindestens ein so großes Hindernis zur Realisierung von Reformen in der
Bundesrepublik sein könnten wie die Schwierigkeiten
selber. Ich glaube, wir müssen wahrnehmen, dass viele
Menschen uns so sehen. Das hat mit vielen Überzeichnungen zu tun.
({64})
- Hören Sie doch geduldig zu und beweisen Sie Ihre
grenzenlose Bereitschaft, dies einfach einmal zu akzeptieren!
({65})
Ich habe Sie noch nicht ein einziges Mal angegriffen.
Das hat etwas zu tun mit Überzeichnungen und mit
Verzerrungen. Es hat auch etwas zu tun mit der Geringschätzung von Erfolgen. Es hat ferner damit zu tun, dass
wir das, was uns gelingt, zu schnell konsumieren, dass
wir wenig beständig sind, die Risiken überbetonen und
nach Lage der Dinge immer mit Bedenken an viele Projekte herangehen.
({66})
Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Wenn wir auch
sonst nichts haben, Bedenken haben wir“.
({67})
Wir finden immer Gründe, warum etwas nicht geht, und
wir suchen wenig nach Wegen, um es zum Gelingen
bringen zu können. Dieser Fragestellung sollten wir uns
politisch stellen; denn ich glaube, dass viele Menschen
wahrnehmen, dass wir dieser Einstellung verhaftet sind.
Hinzu kommt der Eindruck, dass der Umgang der politischen Kräfte miteinander vom Publikum inzwischen
schon als Bestandteil des Problems gesehen wird. Dabei
gibt es sehr viele Rituale nach dem Motto „Die Deppen
und die Schlauberger sind sehr einseitig verteilt“ und es
gibt, wie ich finde, zu viele Schuldzuweisungen.
Frau Merkel, Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, in seiner Regierungserklärung seien so viele
Schuldzuweisungen enthalten. Wie würden Sie denn die
Rede von Herrn Stoiber bewerten?
({68})
Wenn diese Woche dazu beitragen könnte, diesen verbreiteten Eindruck zu korrigieren, dann wäre das ein
großer Gewinn für dieses Land.
Herzlichen Dank.
({69})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Jeder kennt die
Geschichte von dem armen Vater, der seine Söhne mit
der Ziege auf die Weide schickt, damit sich die Ziege
richtig satt fressen kann. Die Ziege kommt jeden Abend
in den Stall zurück und meckert: „Ich sprang nur über
Gräbelein und fand kein einziges Blättelein“.
Arbeitsgeberpräsident Hundt erinnert mich an diese
Ziege. Können Sie sich vorstellen, dass Herr Hundt irgendwann einmal erklärt: „Die Unternehmensteuern
können nicht weiter gesenkt werden; die Lohnnebenkosten haben ein vernünftiges Niveau erreicht und der Kündigungsschutz ist ausreichend gelockert“? Man soll ja
nie „nie“ sagen, aber ich kann mir das nicht vorstellen.
Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass das jemand hier
im Saal glaubt.
({0})
Die rot-grüne Bundesregierung hat die Steuern dramatisch - ich würde sagen: unverantwortlich - gesenkt.
Diese Bundesregierung hat durch die Aufhebung der paritätischen Finanzierung - Stichwort: Krankengeld und
Zahnersatz - die Lohnnebenkosten für die Unternehmen
erheblich gesenkt und diese Bundesregierung hat den
Kündigungsschutz massiv gelockert, was der Bundeskanzler heute als besondere Heldentat dargestellt hat.
Doch was uns immer wieder als Verheißung angekündigt wurde, ist nie eingetreten. Es wurde von den Unternehmen in Deutschland nicht mehr investiert und es
wurden in unserem Land nicht die angekündigten Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit nimmt von Tag zu Tag zu.
Statt über die Wirkungen der Reformen nachzudenken und sich die Frage zu stellen, was eigentlich schief
gelaufen ist, rennt die Bundesregierung kopflos von
einem Gipfel zum anderen. Alle Jahrhundertreformen
dieser Bundesregierung wurden in den Sand gesetzt und
ich denke, wir können uns keine weitere derartige Jahrhundertreform leisten, weil sonst bald der Sand knapp
wird.
({1})
Es ist tollkühn, wenn die Bundesregierung immer
noch glaubt, dass Unternehmensteuersenkungen - wie
heute morgen vom Bundeskanzler angekündigt - zu
mehr Investitionen führen würden. Deutschland ist Exportweltmeister. In den letzten fünf Jahren haben die
deutschen Exporte um 48 Prozent zugenommen. Das ist
der Beweis, dass wir auch mit relativ hohen Lohnkosten
in der Lage sind, Produkte weltweit zu verkaufen.
Unser Problem ist die Binnennachfrage. Diese müssen wir stärken. Mit der Agenda 2010 haben Sie aber die
Binnennachfrage empfindlich gestört und geschwächt.
Die Umsetzung zweier Maßnahmen würde sofort Wirkung zeigen und umgehend Arbeitsplätze schaffen: Erstens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen zur
Kasse gebeten wurden, die immer mehr von der Hand in
den Mund leben müssen, müssen besser gestellt werden.
Zweitens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen begünstigt wurden, die händeringend nach neuen Abschreibungsmodellen suchen, müssen ihren Beitrag zur
Sicherung der Sozialsysteme leisten.
({2})
Zum ersten Punkt darf ich Ihnen ein Beispiel aus den
USA nennen. Nach dem Terroranschlag auf das World
Trade Center beschloss der US-Kongress aus Angst vor
einer Wirtschaftskrise, den Bezug des Arbeitslosengeldes um 20 Wochen zu verlängern, um die Nachfrage anzukurbeln. Wenn die Bundesregierung das Arbeitslosengeld II in Ost und West angliche und jedem ALG-IIEmpfänger nur 55 Euro mehr zahlte, sodass jeder zumindest 400 Euro in der Tasche hätte, dann wäre das ein sofort wirksames, unbürokratisches Konjunkturprogramm.
({3})
Bekanntlich sind Menschen, die wenig Geld haben, gezwungen, zusätzliches Geld sofort auszugeben. Diese
55 Euro wären für jeden da. Ich könnte Ihnen viele sprudelnde Quellen für die Gegenfinanzierung aufzählen.
Ein Beispiel: Sie haben zwar schon lange auf Parteitagen
die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Erhöhung der Erbschaftsteuer beschlossen, aber nie umgesetzt. Mindestens genauso wichtig ist die Forderung
nach Mindestlöhnen, die wir als PDS stellen. Wir dürfen
nicht länger zuschauen, wie die Löhne in diesem Land
den Bach heruntergehen.
Sie wissen sicherlich, wie die Geschichte mit der
Ziege ausgeht: Der Vater verlor alle seine Söhne und
stand mit der gefräßigen Ziege allein da. In diesem Sinne
kann ich die Bundesregierung nur davor warnen, der
ständig meckernden Ziege bzw. Herrn Hundt zu folgen.
Es sind nicht die Unternehmensteuern, die wir senken
müssen. Vielmehr schafft eine Erhöhung der Kaufkraft
der sozial Schwachen Investitionen und Arbeitsplätze.
Das wäre der richtige Weg.
Die Agenda 2010 ist ein Verarmungsprogramm für
große Gruppen der Bevölkerung. Inzwischen haben sich
schon viele Journalisten Selbstversuchen ausgesetzt, um
zu sehen, wie man unter ALG-II-Bedingungen lebt. Es
ist immer wieder als dramatisch und furchtbar bezeichnet worden. Die Agenda 2010 ist der falsche Weg.
({4})
Ich schließe damit die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen
Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4978 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
OCCAR-Geheimschutzübereinkommen vom
24. September 2004
- Drucksache 15/4979 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik
Nigeria über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Auswärtiger Ausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Guatemala über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Auswärtiger Ausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Angola über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4982 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Wirtschaft und Arbeit ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Auswärtiger Ausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
- Drucksache 15/4984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gashydratforschung fest in die Forschungen
„System Erde“ und „Neue Technologien“ integrieren
- Drucksache 15/3814 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({9}), Dirk Fischer
({10}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
„Meer für Morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft
- Drucksache 15/5099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5099 soll
zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Reisekostenrechts
- Drucksache 15/4919 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13})
- Drucksache 15/5127 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Clemens Binninger
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5127, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes
und anderer Vorschriften ({14})
- Drucksachen 15/5002
({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16})
- Drucksache 15/5129 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerold Reichenbach
Reinhard Grindel
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5129, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Bundes-Apothekerordnung
und anderer Gesetze
- Drucksachen 15/4784, 15/5093 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({18})
- Drucksache 15/5108 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5108, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig, also mit den Stimmen des
ganzen Hauses, angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van
Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee das Führen ihrer früheren Dienstgrade
erlauben
- Drucksachen 15/3357, 15/4949 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Höfer
Ulrich Adam
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3357 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der beiden
fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung des dritten Berichts des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({20})
zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b
des Abgeordnetengesetzes ({21})
Überprüfung auf Tätigkeit oder politische
Verantwortung für das Ministerium für
Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit
der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik
- Drucksache 15/4971 Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis
genommen haben.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
- Drucksache 15/5039 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
- Drucksache 15/5035 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 193 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
- Drucksache 15/5036 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 194 ist ebenfalls einstimmig
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
- Drucksache 15/5037 15530
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen
die Stimmen der FDP angenommen worden. Es gab
keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
- Drucksache 15/5038 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({27})
Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/5114 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({28})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht - 1 BvR 357/05
- Drucksache 15/5113 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({29})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Enthaltungen? - Gegenstimmen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als
Zusatzpunkt 6, Zusatzpunkt 7 und Zusatzpunkt 8 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden, dass wir so
verfahren? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({30}) zu dem Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes
- Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455,
15/3510, 15/3871, 15/5121 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({31})
Minister Harald Schliemann ({32})
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Wir
können also gleich zur Abstimmung kommen. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner
Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen
ist. Dies gilt auch für die noch folgenden beiden Beschlussempfehlungen.
Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5121? Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({33}) zu dem Dritten Gesetz zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634,
15/5122 Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Minister Rudolf Köberle ({34})
Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5122? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 8:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({35}) zu dem Zweiten Gesetz zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921,
15/5123 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Röttgen
Minister Rudolf Köberle ({36})
Wir stimmen nun ab über die Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5123.
Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Förderung der Organspende
- Drucksachen 15/2707, 15/4542 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
({37})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Zeit ist vorbei, so sagten sie,
({0})
aber dann kamst du und schenktest sie mir neu. - Mit
diesen Worten hat eine Patientin ihre Gedanken zum
Ausdruck gebracht, die dringend auf eine Organspende
wartete. Ein Empfänger einer gespendeten Lunge hat im
Rückblick auf seine Erfahrungen seine Dankbarkeit gegenüber dem Spender bzw. der Spenderin folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Ich denke sehr oft an meinen Spender und bin von Herzen dankbar, dass er mir
das Gute hier gelassen hat. Ich danke den Ärzten und all
den vielen anderen, die um mich gekämpft und mir zu
neuem Leben verholfen haben.
Meine Damen, meine Herren, wir können die Gefühle
in dieser so genannten Wartestellung zwischen Leben
und Tod, die Hoffnung auf der einen Seite und die Dankbarkeit auf der anderen Seite oft kaum fassen. Aber für
jeden könnte das Thema Organspende irgendwann eine
Rolle spielen. Vielen Menschen wird das erst bewusst,
wenn in ihrer eigenen Familie ein Familienangehöriger
auf eine Transplantation wartet - ein Schicksal, das circa
13 000 Menschen teilen.
Das Thema wird auch dann aktuell, wenn ein Angehöriger mit der Frage konfrontiert wird, ob der Verstorbene einer Organentnahme zugestimmt hat. Zwischen
der langen Warteliste auf der einen Seite und der von
80 Prozent der Bevölkerung bekundeten Spendenbereitschaft auf der anderen Seite klafft eine große Lücke.
Nur 12 Prozent der Menschen hierzulande besitzen einen Organspendeausweis. Mangelndes Wissen über den
Hirntod und den Organspendeausweis, Ängste, aber
auch unzureichende Kenntnisse über die Bedeutung einer Spende für den Empfänger führen in der Bevölkerung oft zu Verunsicherung und zu Zurückhaltung.
Statt nun auf diese Situation zu reagieren und gezielt
und sensibel Aufklärung zu betreiben, hat die Bundesregierung in der Zeit von 1998 bis 2004 die Mittel der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in diesem Bereich auf ein Viertel der Anfangsausgaben reduziert.
({1})
Spendenbereitschaft fördern wollen und zugleich die
Aufklärung fast einstellen, das passt nicht zusammen.
({2})
Nach den Todesfällen von zwei tollwutinfizierten Organspendeempfängern und neuen, aktuellen Presseberichten breitet sich gerade jetzt wieder einmal weitere
Verunsicherung aus. Die Bundesregierung ist aufgefordert, in dieser Situation einer Diskreditierung von postmortalen Transplantationen vorzubeugen und ein größeres öffentliches Bewusstsein für die postmortale
Organspende zu schaffen.
Auch unter den Ärzten ist mehr Information über das
Thema dringend erforderlich; denn 40 Prozent der 1 400
Kliniken mit Intensivstationen in unserem Land melden
nie einen Organspender bzw. machen bei der Rekrutierung von Organen einfach nicht mit. Der ehemalige medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, Professor Martin Molzahn, kritisiert denn
auch zu Recht, wenn er sagt:
Die Deutsche Stiftung Organtransplantation kann
ihre Arbeit und ihre Prozesse noch so gut organisieren - wenn die Meldung aus dem Krankenhaus unterbleibt, werden wir unser Ziel einer deutlich höheren Zahl von Organspenden nicht erreichen.
Die Ursachen für die ausbleibenden Meldungen sind
trotz Meldepflicht, die im Gesetz geregelt ist, vielfältig.
Manchmal sind überarbeitete Intensivmediziner nicht in
der Lage, die Aufgaben zusätzlich zu schultern, oder sie
scheuen einfach auch das Gespräch mit den nahen Angehörigen des Verstorbenen.
Häufig mahnen aber auch die Klinikverwaltungen
ihre Ärzte aus Kostengründen zur Zurückhaltung. Das
Fallpauschalensystem hat den Kosten- und den Prozessdruck in den Krankenhäusern verschärft. Insbesondere
kleine Krankenhäuser mit wenigen Intensivbetten spüren
dies. Die intensivmedizinische Betreuung des Hirntoten
und das Gespräch mit den Angehörigen erfordern viel
Zeit und Einfühlungsvermögen - Zeit, die es im Krankenhaus immer weniger gibt, und Zeit, in der das Intensivbett nicht für andere Patienten zur Verfügung steht.
Zwar ist nunmehr durch eine Vereinbarung die
Finanzierung der Organentnahme bei der Postmortalspende, auch wenn die Entnahme nicht zum Erfolg führt,
über eine Pauschale geregelt, doch ist diese Pauschale
nicht dynamisch, das heißt, sie passt sich nicht der Kostenentwicklung an. Darüber hinaus ist sie bereits heute
nicht kostendeckend und weicht erheblich von der Erstattung bei Lebendspenden ab. Deshalb brauchen wir
uns nicht zu wundern, wenn die Postmortalspende in der
Bundesrepublik nicht in dem Umfang angenommen
wird, wie dies in anderen Ländern der Fall ist.
({3})
Wir plädieren deshalb für eine unabhängige, exakte
und zeitnahe Kalkulation und Anpassung dieser Pauschalen und für eine bessere Vernetzung der Krankenhäuser mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation.
Wir brauchen für die Aufgabe der Organspende einen
konkreten Ansprechpartner in jedem Krankenhaus mit
Intensivbetten.
({4})
Wichtig für die Akzeptanz der Organspende ist
schließlich, dass keine Regelungslücken bestehen und
zum Schutz der Organempfänger alle notwendigen
Vorkehrungen getroffen sind. Der Fall der tollwutinfizierten Organspenderin ist bislang ein einzigartiges Ereignis und wird es hoffentlich auch bleiben. Aber er gibt
uns allen Gelegenheit, noch einmal aufmerksam die bestehenden Regelungen zu überprüfen und Regelungslücken auszumachen.
Eine Regelungslücke springt dabei deutlich ins Auge:
Sieben Jahre nach In-Kraft-Treten des Transplantationsgesetzes steht noch immer die Richtlinie über die Anforderungen an die im Zusammenhang mit einer Organentnahme zum Schutz der Organempfänger erforderlichen
Maßnahmen aus. Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung, denn diese hätte im Wege der Rechtsaufsicht
die Bundesärztekammer schon längst auf die Schließung
dieser Regelungslücke hinweisen müssen.
({5})
Nach jüngsten Berichten, etwa der „Süddeutschen
Zeitung“ in der vergangenen Woche, und nach Aussagen
aus den Reihen der Bundesärztekammer scheint es auch
Interessenskollisionen bei der Organentnahme sowie
bei der Entnahme, Vermittlung und Verwertung von Gewebe im Bereich der DSO zu geben. Diese Hinweise
müssen wir im Interesse der Akzeptanz der Postmortalspende sehr ernst nehmen. Wir müssen Interessenskollisionen ausschließen und die Gewebeentnahme klar regeln. Sonst leidet die Akzeptanz der Organspende und
dies können wir uns nicht leisten.
({6})
Meine Damen, meine Herren, wir alle sind aufgefordert, uns zugunsten der Menschen, die auf eine Organspende warten, zu engagieren. Ganz besonders aufgefordert ist die Bundesregierung. Sie muss ihre
Aufklärungsarbeit intensivieren. Sie muss Maßnahmen
initiieren, um die Meldepflicht in den Krankenhäusern
umzusetzen und damit die Zahl der Meldungen tatsächlich zu erhöhen. Sie muss bestehende Regelungslücken
sofort schließen und aktuelle Entwicklungen, wie genannt, sorgfältig verfolgen und gesetzlich begleiten.
Dies ist dringend notwendig;
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
- denn die Menschen, die auf ein Organ warten, haben keine Alternative.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist eine gute Sache, dass wir heute hier anlässlich
einer Großen Anfrage der Opposition über das Thema
Organspende diskutieren; denn es ist in der Tat so: Organspende schenkt Leben. Das ist auch der Titel der Informationskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA. Wer sich zur Organspende
bereit erklärt, gibt anderen Menschen die Chance auf
mehr Lebensqualität, manchmal sogar die Chance auf
ein zweites Leben. Deswegen sollte man dieses Thema
auch mit dem gebotenen Ernst behandeln, liebe Kollegin
Widmann-Mauz; da helfen einseitige Schuldzuweisungen nicht.
({0})
Sie wissen ja: Es war damals eine gemeinschaftliche
Aktion, das Transplantationsgesetz hier im Deutschen
Bundestag zu verabschieden.
({1})
Eine gemeinschaftliche Aktion war auch die Informationskampagne, die als Anschubhilfe ins Leben gerufen
worden ist. Die Organspende genießt in der Bevölkerung
hohe Akzeptanz. 80 Prozent der Bundesbürger bewerten sie positiv. Dennoch stehen zu wenig Spenderorgane
zur Verfügung. Wir wissen, dass im Wesentlichen drei
Punkte in Angriff genommen werden müssen, bei denen
genau geschaut werden muss, welche Ebene welche
Aufgabe hat.
Erstens. Wir haben 1997 das Transplantationsgesetz
in den Deutschen Bundestag eingebracht und auch gemeinsam verabschiedet. Es hat die Spende, die Entnahme und die Übertragung von Organen auf eine rechtlich sichere Grundlage gestellt. Entgegen mancher
Forderung brauchen wir keine Änderung der gesetzlichen Grundlagen; denn das Gesetz hat sich bewährt.
({2})
Das muss man einmal sagen und das war eine wichtige
Klarstellung. Zunächst musste an den Gesetzgeber die
Frage gerichtet werden, ob gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Das ist nicht der Fall. Das hat auch die
jüngste Expertenanhörung in der Enquete-Kommission
„Ethik und Recht der modernen Medizin“ bestätigt.
Zweitens. Die Stärkung der Spendebereitschaft ist
eine Gemeinschaftsaufgabe. Frau Kollegin WidmannMauz, Sie machen es sich da zu einfach. Die Verantwortlichkeiten ruhen auf mehreren Schultern.
({3})
Damals ist verabredet worden: Bund, Länder, Krankenhäuser und Ärzte haben hier ihre jeweilige Aufgabe zu
erledigen.
({4})
Dabei gibt es ganz deutliche Unterschiede und Defizite,
die wir auch benennen müssen.
({5})
Ich glaube, dass eines ganz wichtig ist: Wenn wir eine
Meldepflicht ins Gesetz schreiben, kann es nicht angehen, dass 40 Prozent der Krankenhäuser so tun, als gäbe
es diese Meldepflicht überhaupt nicht. Wer hat da die
Rechtsaufsicht? Das ist doch nicht der Bund. Die
Rechts- und Fachaufsicht liegt klar in der Zuständigkeit
der Länder. Deswegen will ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Es hat keinen Sinn, wenn wir immer neue
Gesetze oder eine Verschärfung der Gesetze fordern,
({6})
solange das Problem bei der Durchsetzung dieser gesetzlichen Regelungen liegt. Für die Durchsetzung liegt die
Verantwortung bei den Ländern. Ich appelliere an dieser
Stelle, diese Verantwortung auch wahrzunehmen.
({7})
Wir brauchen drittens mehr Öffentlichkeit für dieses
Thema. Information und Aufklärung sind Voraussetzungen für eine höhere Bereitschaft zur Organspende.
Wir als Bundesregierung haben hier unsere Hausaufgaben gemacht. Seit 1998 wurden bei der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung circa 6 Millionen Euro
zur Förderung der Bereitschaft zur Organspende ausgegeben. Die Tatsache, dass am Anfang einer Kampagne,
wenn sie erst ins Werk gesetzt wird, mehr Geld investiert
werden muss, als wenn die Kampagne bereits läuft, gegen die Bundesregierung zu wenden, ist nicht nur billig,
sondern führt auch in der Sache nicht weiter.
({8})
Das Angebot der BZgA reicht von Informationsbroschüren über Angebote im Internet bis hin zu einem gebührenfreien Informationstelefon, das zunehmend in
Anspruch genommen wird. Dieses Angebot wird gemeinsam von der BZgA und der Deutschen Stiftung Organtransplantation bereitgestellt. Demjenigen, der Rat
im persönlichen Gespräch sucht, stehen also qualifizierte
Expertinnen und Experten Rede und Antwort. Für Information und Aufklärung stehen auch in Zukunft ausreichend Gelder zur Verfügung, weil die Bundesregierung
dieses Thema ernst nimmt und auch gerade angesichts
des Tollwutfalles und der dadurch ausgelösten öffentlichen Debatte alles dafür tun will, dass die Spendenbereitschaft nicht zurückgeht.
({9})
Wir haben auf diesen Fall umgehend reagiert. Sie
wissen, dass wir im Ausschuss berichtet haben und dass
heute Nachmittag in unserem Hause ein Expertengespräch stattfindet. Es soll nochmals überprüft werden,
ob es hier Regelungslücken gab oder ob der Grund für
das Auftreten dieses Falles in mangelnder Zusammenarbeit und nicht ausreichender Information lag. Eine erste
Auswertung der Expertengespräche in Hannover hat ergeben, dass solche Fälle auch durch noch so große Anstrengungen des Gesetzgebers nicht zu verhindern sind.
Wir müssen uns also noch einmal zusammensetzen und
prüfen, ob die Vernetzung und Kommunikation nicht
noch verbessert werden kann.
Wir haben prompt reagiert und umfassend informiert.
Uns geht es darum, dass nicht ein Einzelfall so skandalisiert wird, dass die Bereitschaft zur Organspende zurückgeht. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung,
alles zu tun, dass die Spendenbereitschaft wieder steigt.
Deswegen sollte man diesen Einzelfall nicht dazu benutzen, die Organspende zu diskreditieren. Dass dies nicht
geschieht, dafür tragen alle Fraktionen im Bundestag
eine gemeinsame Verantwortung.
({10})
Der wichtigste Punkt ist, diejenigen Schnittstellen,
die im Moment noch nicht ausreichend funktionieren, zu
benennen und diesbezüglich für Abhilfe zu sorgen. Ich
habe eben schon das Thema Meldepflicht der Ärzte angesprochen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, die
Kooperation der jeweiligen Kliniken untereinander
neu zu organisieren. Die Berichterstattung in den Medien zeigte, dass die Kooperation zwischen den Kliniken
teilweise nicht richtig und ausreichend funktioniert. Beispielsweise sind Twinning-Projekte im europäischen
Ausland dadurch bedroht, dass alles zentral organisiert
wird. Wir müssen genau hinschauen, ob nicht sinnvolle
Initiativen durch eine falsch verstandene Zentralisierung
verhindert werden. Wir sind aufgefordert, dies gemeinsam zu tun.
({11})
Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Sehr gerne, Frau Präsidentin.
Ich möchte abschließend eine Hoffnung und eine
Bitte äußern. Wir nehmen dieses Thema ernst. Deswegen bin ich über die Große Anfrage froh. Sie gibt uns
Gelegenheit, dieses wichtige Thema öffentlich zu diskutieren. Ich appelliere aber auch an Sie: Helfen Sie mit,
einseitige Schuldzuweisungen zu verhindern! Bund,
Länder und Kliniken müssen gemeinsam etwas dafür
tun, dass man mit Organspenden auch weiterhin Leben
schenken kann.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Derzeit
warten zwischen 12 000 und 13 000 Patientinnen und
Patienten auf ein Spenderorgan und, Frau Staatssekretärin, auf die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung. Die durchschnittliche Wartezeit beispielsweise auf
die Transplantation einer Niere beträgt etwa fünf Jahre.
Das Warten auf ein Herz oder auf eine Leber ist meistens
ein Wettlauf mit der Zeit, den viele Patienten nicht mehr
gewinnen. Bezogen auf die Einwohnerzahl werden in
Deutschland, besonders in Nordrhein-Westfalen, weit
weniger Organe transplantiert als in den meisten unserer
Nachbarstaaten.
Kein anderer medizinischer Bereich ist so abhängig
von der Mitwirkung der Bevölkerung wie die Organspende. Wäre die erklärte Bereitschaft zur Spende so
groß wie die verbale Akzeptanz, hätten wir keine Engpässe. Denn nach wie vor gibt es eine große Kluft zwischen der prinzipiellen Bereitschaft zu einer Organspende und dem Schritt zu einer schriftlichen Fixierung.
Nur 5,2 Prozent aller postmortalen Organentnahmen
erfolgten aufgrund eines Organspendeausweises. Mündlich bekundeter Wille und der von Angehörigen festgestellte mutmaßliche Wille der Verstorbenen sind die
Mehrheit: 67 Prozent der Bevölkerung gaben bei einer
Umfrage ihre ausdrückliche Akzeptanz an, als Organspender zur Verfügung zu stehen. Doch nur bei 54 Prozent aller potenziellen Organspender konnten Organe
entnommen werden. Durch die Angehörigen kam es oft
zu einer Ablehnung. Sie stehen unter dem starken psychischen Druck, den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen festzustellen. Deshalb stellt sich die Frage: Wird
innerhalb der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten
wirklich alles Erdenkliche getan?
Durch massive Aufklärung der Bevölkerung und
durch Thematisierung in der Gesellschaft muss die Zahl
derjenigen erhöht werden, die ihre Einstellung zur Organspende schriftlich oder zumindest mündlich klar äußern. So kann Angehörigen diese schwere Entscheidung
abgenommen werden. Organspendeausweise sollten
verstärkt mit ausführlichen und sensibilisierenden Informationen für die Bevölkerung leicht zugänglich bereitliegen. Bankfilialen, Postschalter und Ämter bieten sich
insofern an. Wir Abgeordnete sollten mit gutem Beispiel
vorangehen und einen Organspendeausweis ausfüllen.
Schließlich ist er so klein, dass er in jede Brieftasche
passt. Wir sollten diese Fragen in unseren Wahlkreisen
öffentlich diskutieren; denn Ängste müssen abgebaut
werden. Das gelingt nur durch eine offene Auseinandersetzung mit diesen Fragen.
({0})
Wichtig ist, dass es bei der Zustimmungslösung
bleibt. Jeder Mensch muss das Recht haben, sich nach
Auseinandersetzung mit der Thematik bewusst für oder
auch gegen eine Bereitschaft zur Organspende zu entscheiden. Er muss sogar die Möglichkeit haben, die
Beschäftigung mit dem Thema zu verweigern. Eine Widerspruchslösung führt zur Verunsicherung der Bevölkerung und widerspricht dem Grundsatz der individuellen
Selbstbestimmung.
({1})
Die Bereitschaft der Bevölkerung, einen Ausweis zu
tragen, muss gesteigert werden. Es muss aber auch die
Zahl der Krankenhäuser erhöht werden, die sich an der
Suche nach geeigneten Organspendern beteiligen. Im
Bundesdurchschnitt lag - das ist vorhin schon gesagt
worden - der Beteiligungsgrad der Krankenhäuser mit
Intensivstationen im Jahre 2001 bei ganzen 44 Prozent.
Dabei gibt es zwischen den Bundesländern große Unterschiede, obwohl das Transplantationsgesetz die Pflicht
zur Meldung beinhaltet. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Union lässt dieses Problem ebenfalls ungeklärt. Aufklärung und sensibler Umgang mit diesen Fragen sind an dieser Stelle besser als
Zwangsmechanismen. Auch die geschaffenen finanziellen Anreize für die Krankenhäuser sind - das hat die Anhörung in der Enquete-Kommission gezeigt - nicht maßgeblich für eine erhöhte Beteiligung.
Die Bundesländer gehen auf Grundlage ihrer Ausführungsbestimmungen sehr unterschiedlich mit der Umsetzung des Transplantationsgesetzes um. Wir brauchen
eine intensive Aufklärung von Klinikpersonal und
Bevölkerung. Ärzte und Pflegekräfte sollten speziell
fortgebildet werden, um sensibilisiert und in der Lage zu
sein, im entscheidenden Fall mit den Angehörigen die
notwendigen einfühlsamen Gespräche zu führen. Die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung leistet
auf diesem Gebiet schon wertvolle Arbeit. Deshalb bin
ich über die hohen Kürzungen der Mittel schockiert.
Richtigerweise sollte die Arbeit der BZgA konsequent
gestärkt werden. Wir brauchen eine konzertierte Aktion
von Bund, Ländern, Krankenhäusern und Krankenkassen.
({2})
Eine abschließende Bemerkung. Heute wurde der
Zwischenbericht zur Organlebendspende der EnqueteKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
dem Bundestagspräsidenten überreicht. Darin hat die
Mehrheit der Mitglieder verhalten signalisiert, dass die
Möglichkeiten, die sich durch eine vorsichtige Öffnung
der Regeln zur Organlebendspende ergeben, besser ausgeschöpft werden könnten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie zum
Schluss nachdrücklich bitten: Gehen Sie diesen Schritt
mutiger mit! Heben Sie die Nachrangigkeit der Lebendspende gegenüber der postmortalen Spende auf!
Lassen Sie Überkreuzspenden zu! Das ist im Sinne vieler Betroffener. Ihnen sollten wir verpflichtet sein; sie
würden es uns danken. Ich glaube nicht, dass die Gefahr
des Organhandels größer wird, wenn die entsprechenden
Rahmenbedingungen stimmen, wenn also zum Beispiel
eine Ethikkommission vorher ihre Zustimmung zu einem solchen Schritt geben muss.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Selg.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dieses Thema eignet
sich ebenso wenig wie die Debatte heute Morgen für
parteitaktisches Gezänk. Die Bereitschaft zur Organspende ist in Deutschland
({0})
- nein, nein, Herr Parr, das war schon okay - auf einem
erschreckenden Niveau.
Die Große Anfrage der CDU/CSU zur Förderung der
Organspende, in der der Eindruck erweckt wird, dass die
Organspende nicht richtig im TPG, im Transplantationsgesetz, verankert sei, geht in die falsche Richtung. Ziel
des Transplantationsgesetzes ist es vor allem, eine klare
und sichere Rechtsgrundlage für die Spende und Entnahme menschlicher Organe, Organteile und Gewebe
zum Zwecke der Transplantation zu schaffen. Unter dieser Prämisse sollten wir das Transplantationsgesetz beurteilen. Ich denke, es besteht Konsens, dass mit dem
Transplantationsgesetz Rechtssicherheit geschaffen
wurde.
({1})
70 Prozent der Bevölkerung stehen einer Organspende
positiv gegenüber. Dennoch kam es - darauf weist die
Union hin und darauf wird auch in der Antwort der Bundesregierung hingewiesen - nach Einführung des Transplantationsgesetzes zu keiner dauerhaften Zunahme der
Zahl der postmortalen Organspenden. 12 000 Menschen
warten im Durchschnitt sechs Jahre lang auf ein Organ.
Ich denke, das ist zu lange. Wir sollten dringend etwas
daran ändern.
Diese lange Wartezeit hat vielfältige Gründe; denn,
wie gesagt, 70 Prozent der Menschen würden spenden.
Ich glaube, es ist zu kurz gesprungen, einfach noch mehr
Geld für Öffentlichkeitsarbeit zu fordern. Denn die Bundesregierung und die Gesundheitsminister aller Länder
sind sich darin einig, dass die Zahl der realisierbaren
postmortalen Spenden in hohem Maße von der Zusammenarbeit zwischen Transplantationszentren und Krankenhäusern sowie vom Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abhängt. 2003 engagierten sich
beispielsweise nur etwa 40 Prozent der bundesweit circa
1 400 Krankenhäuser mit Intensivstationen für die Gemeinschaftsaufgabe „Organspende“. Man muss sehr genau hinschauen; denn diesen Wert drücken vor allem die
Häuser der Grund- und Regelversorgung. Häuser der
Maximalversorgung engagieren sich zu mehr als
90 Prozent.
Ein wesentlicher Grund für die geringere Zahl an Organspenden liegt in der Inzidenz der Todesfälle nach
akuter Hirnschädigung. Diese Todesfälle treten sehr häufig bei Straßenunfällen auf. In der Anhörung der Enquete-Kommission zur Organspende wurde ein weiterer
Grund dafür genannt, dass sehr viel weniger Organe gespendet werden, als dies eigentlich möglich wäre. Wir
haben in Deutschland die erweiterte Zustimmungsregelung im Transplantationsgesetz verankert. Das heißt:
Liegt keine ausdrückliche Entscheidung des Betroffenen
zur Organspende vor, entscheiden die Angehörigen. Da
nur 12 Prozent einen Organspendeausweis besitzen, entscheiden in mehr als 80 Prozent die Angehörigen. Jeder
kann sich vorstellen, dass Angehörige in einer solchen
Situation überlastet sind und sich im Zweifelsfall eher
gegen eine Organspende entscheiden. Aber brauchen wir
deshalb eine Widerspruchsregelung, wie sie in anderen
europäischen Ländern existiert?
({2})
Nach meiner Meinung wäre das nicht der richtige Weg.
Die Aufklärungsarbeit im Hinblick auf die Organspende sollte stattdessen verstärkt auf den Hinweis abzielen, dass die Angehörigen stärker entlastet werden
können, wenn der Wille des Einzelnen dokumentiert
wird. In der Beantwortung der Anfrage der Union durch
die Bundesregierung ist allerdings zu lesen, dass wir in
manchen Bereichen ein Umsetzungsproblem haben. Die
gesetzlichen Möglichkeiten sind letztendlich vorhanden. Deshalb freut es mich wirklich, dass die 77. Gesundheitsministerkonferenz, also die Gesundheitsminister aller Länder, Handlungsbedarf erkannt hat. Daher
möchte ich darauf nicht näher eingehen.
({3})
Allerdings möchte ich kurz auf die Organlebendspende
eingehen. Ausgangspunkt ist die immer wieder geforderte Ausweitung der Organlebendspende und die Diskrepanz zwischen Angebot und Bedarf. Zu beobachten
ist, dass die Zahl der Lebendspenden bereits seit Jahren
zunimmt. Heute stammen fast jede fünfte Niere und jede
zehnte Leber von einem Lebendspender. Organe und Organteile sollten aber nur von Angehörigen und anderen
Personen, die einem Spender durch persönliche Verbundenheit offenkundig nahe stehen, gespendet werden. Das
Ziel war es bisher vor allem, unkontrollierten Organhandel zu verhindern. Ich denke, das ist richtig so. Daran
sollten wir weiter festhalten.
({4})
Ich halte es für wirklich wünschenswert, Vorschläge
zu einem verbesserten Organaufkommen zu machen. Ich
wünsche mir, dass wir hier gemeinsam, und zwar parteiübergreifend, zu einem Konsens kommen. Ich glaube,
Aufklärung ist dringend notwendig. Aber dies kann
nicht nur durch mehr Geld und nicht nur dadurch geleistet werden, dass wir die Zahl der Spenderausweise erhöhen.
Wie schon gesagt, jeden von uns kann es treffen, dass
er zum Organspender wird. Es kann aber auch jeden treffen, dass er unverhofft in die Situation gerät, der Frage
nach einer Organspende durch einen Angehörigen gegenüberzustehen. Hier gilt es, sich zu Lebzeiten mit dem
Tod auseinander zu setzen und mit den Angehörigen darüber zu reden.
Wir sollten versuchen, parteiübergreifend - wir treffen uns heute Nachmittag im Ministerium - zu einer Lösung zu kommen. Bei einem so wichtigen Thema sollte
wie auch heute Morgen in der Arbeitslosendebatte die
Parteitaktik im Interesse der betroffenen Menschen außen vor bleiben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns geht es hier überhaupt nicht darum, dieses Thema
parteipolitisch zu instrumentalisieren. Wenn man sich irgendwo getroffen fühlt, versucht man schnell abzulenken.
Sie alle zitieren die Enquete-Kommission „Ethik und
Recht der modernen Medizin“. In ihr sind unter anderem
meine Kolleginnen Voßhoff und Lanzinger, Herr Kollege Rachel und ich Mitglied; wir waren bei den Anhörungen dabei. Hören Sie doch mit den Schuldzuweisungen auf!
({0})
Wir haben eine Große Anfrage gestellt. Eines fällt
schon auf, Frau Staatssekretärin: Es ist schon sehr entlarvend, dass Sie keinen einzigen Satz über die Rechtsaufsicht Ihres Ministeriums gegenüber der Bundesärztekammer bezüglich des Empfängerschutzes gesagt haben.
({1})
Die Richtlinie steht seit sieben Jahren aus. - Es wäre
schön, wenn Sie einmal zuhörten; denn zu diesem
Thema hätten wir uns eine Antwort gewünscht. Es geht
um Ihre Rechtsaufsicht gegenüber der Bundesärztekammer, und zwar nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen
gefallen ist.
({2})
- Herr Wodarg, Sie reden doch nachher noch. Halten Sie
doch einmal die Luft an!
({3})
Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, es
gebe ausreichend Gelder für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Sie haben auch die DSO und
die Enquete-Kommission genannt. Aber in der Enquete
wurde am Montag von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ganz klar zum Ausdruck gebracht,
dass Gelder fehlten und immer mehr Gelder gestrichen
würden. Wir fordern ja nicht einmal mehr Gelder, wie es
die Kollegin von den Grünen eben gesagt hat.
({4})
Aber wir sollten wenigstens bei den Geldern bleiben, die
bis dato zur Verfügung standen.
({5})
Als 1998 dieses Projekt startete, wurden über
4 Millionen DM zur Verfügung gestellt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Caspers-Merk?
Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung
halten. Sie hat ja eben geredet und hätte dazu gern etwas
sagen können.
({0})
- Ich habe Sie nicht gefragt, ich habe etwas gesagt. Es ist
Ihr Problem, wenn Sie nicht zuhören, sondern mit anderen schwätzen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie bei
diesem Thema zugehört hätten. Lassen Sie mich meine
Rede beenden; nachher können wir gerne darüber reden.
({1})
Sie haben vorhin erwähnt, dass die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung genügend Geld habe. In
der Anhörung wurde von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ganz klar gesagt, dass Geld fehle.
In den vergangenen Jahren wurde viel Geld gestrichen.
Ich gebe zu, dass für die Initialzündung im Jahre 1998
mehr Geld gebraucht wurde. Im Jahr 2004 gab es aber
nur noch 540 000 Euro. Mit Verlaub, die Initialzündung
war dann doch etwas anderes. Insofern halten wir es
durchaus für erforderlich, hier etwas zu tun.
({2})
Vor knapp einem Jahr haben wir unsere Große Anfrage mit 47 Fragen eingebracht. Sie haben neun Monate
gebraucht, um sie zu beantworten. Ich erinnere mich
noch an die Debatte anlässlich der Einbringung unserer
Anfrage. Damals hieß es, dies sei eine Showeinlage der
Opposition, die Bundesregierung erstatte regelmäßig
Bericht. Ich habe das Protokoll dabei, aus dem hervorgeht, was uns alles vorgeworfen wurde. Ich freue mich
sehr, dass Sie nun gesagt haben, eine solche Anfrage sei
auch für die Diskussion sehr wichtig.
Wir fordern nicht, dass das Gesetz geändert wird. Wir
wollen keine Widerspruchslösung und wir wollen auch
nicht die Subsidiarität auflösen, wie es die FDP verlangt.
Aber wenn ein Gesetz über Jahre besteht, dann ist es
sehr wichtig, dass man einmal hinterfragt, ob es die Ziele
erreicht hat, die es erreichen sollte. Unserer Meinung
nach kommt das Thema Organspende viel zu wenig in
der öffentlichen Debatte vor. Die Menschen müssten
schon in jungen Jahren mit dieser Thematik konfrontiert
werden; denn wenn die Angehörigen in einer Schocksituation für einen Verstorbenen entscheiden sollen, dann
sind sie zumeist emotional völlig überfordert.
In diesem Punkt hat uns die Antwort auf unsere
Große Anfrage enttäuscht. Zwar wurde viel beantwortet;
die Antwort der Bundesregierung ist ja auch ziemlich
umfangreich, aber die Masse allein macht es nicht.
Wir vermissen nicht, dass Sie uns wie bei vielen anderen Beantwortungen das Gesetz erklären. Das kennen
wir auch so.
({3})
Es wurde unter einer Unionsregierung verabschiedet.
({4})
- Doch, das war so. Herr Seehofer war damals Minister.
Ich glaube, jetzt haben Sie ein kleines Problem.
({5})
Wir bedauern aber sehr, dass Sie nichts aufzeigen,
womit wir wirklich die Probleme lösen, wo wir ansetzen
können. Wir haben beispielsweise nachgefragt, was wir
mit den Kliniken machen, die einen möglichen Organspender nicht melden. Selbst darauf kam keine Antwort.
Bei ganz vielen Anfragen, die wir gestellt haben, weil
wir gerne gemeinsam weitergehen wollen, sind Sie mit
Ihrer Kooperation am Ende. Hier setzt unsere Kritik an.
Wir sagen nicht, dass Sie Organspenden verhindern. Das
würde auch niemand behaupten.
Es gibt aber zwei wichtige Punkte - auch Sie haben
vorhin die Anhörung der Enquete-Kommission erwähnt -, bei denen es hakt. Das eine Nadelöhr sind die
Krankenhäuser. Wir können noch so viel Aufklärung
leisten, aber wenn sich nur 40 Prozent der Krankenhäuser, welche die Schnittstelle sind, an der Meldung der
potenziellen Organspender, der Hirntoten, beteiligen,
({6})
ist da irgendetwas falsch.
({7})
- Jetzt hören Sie doch einmal zu. Wenn Sie darüber gar
nicht reden wollen, können wir hier gerne einpacken. Es
ist aber doch wichtig, das zu thematisieren. Wir thematisieren das in der Enquete-Kommission.
({8})
Aber wir können doch gemeinsam darüber reden, wie
wir das besser hinbekommen können.
({9})
Das ist auch ein Thema
({10})
in der Bundesärztekammer und bei den Krankenkassen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt, dem Bund. Ich
bin mit meinen 32 Jahren von den drei Krankenkassen,
in denen ich bisher Mitglied war, noch nie gefragt worden, ob ich Organspenderin bin. Hier müssen wir einmal
nachhaken, warum diese nicht nachfragen und dann auf
der neuen Gesundheitskarte - wenn sie denn nun endlich
kommt - vermerken, ob das Mitglied Organspender ist
oder nicht bzw. sich dazu nicht äußern möchte. Auch
dies ist ein wichtiger Aspekt und hier gibt es viele Möglichkeiten. Auch die Krankenkassen müssen an der Gemeinschaftsaufgabe Organspende beteiligt werden.
Sie schieben alles weg auf die Länderebene. Auch wir
sind verantwortlich. Hier geht es um Leben und Tod und
nicht um eine kurze, entspannte Debatte vor dem Wochenende. Hier geht es um Menschen, die auf der Warteliste stehen und sterben müssen. Insofern kann man auch
einmal vom Bund in Richtung Länder schauen und sich
zusammenraufen.
({11})
Es gibt im Bund viel zu tun. Hören Sie auf mit dieser
einseitigen Schuldzuweisung. Seien Sie froh, dass die
Union das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat.
({12})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin
Caspers-Merk das Wort.
Frau Kollegin Klöckner, weil ich das für ein ernstes
Thema halte,
({0})
möchte ich die Dinge, die falsch sind, nicht stehen lassen. Ich habe vorhin bei der Kollegin Widmann-Mauz
nicht reagiert, weil ich es schade finde, dass sie den
Sachverhalt nicht kennt.
({1})
- Ich glaube, Ihr Zwischenruf ist dem Thema nicht ganz
angemessen. Ich bitte darum, im Zusammenhang vortragen zu dürfen.
({2})
Sie haben vorhin in Ihrer Rede irrtümlich erwähnt,
der Bund habe seine Aufsichtspflicht gegenüber der
Bundesärztekammer verletzt. Frau Kollegin WidmannMauz, Sie sind im Fachausschuss und müssten wissen,
dass die Bundesärztekammer eine privatrechtliche Arbeitsgemeinschaft in der Rechtsform eines nicht eingetragenen Vereins ist. Sie untersteht weder der Rechtsnoch der Fachaufsicht des Bundesgesundheits- und -sozialministeriums. Dort, wo Sie ein Versäumnis konstruieren, haben wir gar keine Einwirkungsmöglichkeit.
Unsere Einwirkungsmöglichkeit besteht nur in unserem Gaststatus, aufgrund dessen wir bitten und drängen,
die entsprechenden Richtlinien zu erlassen und hier konkreter zu werden. Aber konstruieren Sie keine Aufsichtspflicht, wo keine ist. Ich wollte Sie vorhin nicht korrigieren, weil es doch ein wenig peinlich ist, wenn man aus
dem Fachausschuss kommt und nicht weiß, dass wir
überhaupt keine Fach- und Rechtsaufsicht haben.
Frau Kollegin Klöckner, jetzt bitte ich Sie zuzuhören:
Wir haben vorhin ganz klar gesagt, dass es hier keine
einfachen Lösungen gibt. Das Entscheidende ist, die
Schnittstellen zu verbessern. Beim Thema Aufklärung
und Information ist der Bund gefordert. Die Länder sind
aber ebenfalls gefordert, genauso wie die Zusammenarbeit in den Kliniken. Die Hauptschwachstelle ist, dass
40 Prozent der Kliniken ihrer Meldepflicht nicht nachkommen;
({3})
das habe ich in meiner Rede auch gesagt.
Ich bitte Sie also herzlich, dieses Thema im Interesse
der Menschen, die auf Organe warten, angemessen zu
behandeln.
({4})
Deswegen meine ich, die Richtigstellung musste sein.
({5})
Jetzt stehe ich vor der Frage, wer antwortet: Frau
Klöckner oder Frau Widmann-Mauz? - Frau WidmannMauz.
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Caspers-Merk! Ich
als Mitglied des Fachausschusses und Sie als Mitglied
der Bundesregierung wissen, dass nach § 11 des Transplantationsgesetzes das Bundesministerium für Gesundheit einen Vertrag zu genehmigen hat. In diesem Vertrag
sind auch die Grundlagen für den Schutz der Organempfänger bei Organspende zu regeln. In diesem Vertrag
wird auf eine nicht bestehende Richtlinie der Bundesärztekammer rekurriert. Wie können Sie einen Vertrag
genehmigen, wenn es die im Gesetz vorgeschriebene
Grundlage, nämlich eine Richtlinie, nicht gibt? Dann ist
es Ihre politische Aufgabe, auf die Bundesärztekammer
einzuwirken, damit diese Richtlinie erlassen wird.
({0})
Ich bin jetzt seit sieben Jahren Mitglied dieses Fachausschusses. Ich habe nichts davon gehört, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Personen dieses Gespräch mit der Bundesärztekammer gesucht hätten.
Vielmehr beschäftigen Sie sich erst jetzt damit, nachdem
ein schrecklicher Fall eingetreten ist. Das ist Ihre politische Verantwortung, aus der wir Sie auch in einer Debatte zu einer Großen Anfrage nicht entlassen können.
({1})
Es tut mir schrecklich Leid. Solche Dinge dürfen nicht
immer erst angegangen werden, wenn das Kind in den
Brunnen gefallen ist, sondern müssen kontinuierlich
überprüft und bearbeitet werden.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Wodarg.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu dem, was wir in den letzten Minuten gehört
haben, kann ich nur sagen, dass vielen von uns im Deutschen Bundestag, als wir das Transplantationsgesetz
machten, bewusst war, dass die Bundesärztekammer
keine Institution ist, für die es irgendeine Fachaufsicht
gibt, sondern ein Verein, wie es die Staatssekretärin
sagte.
Zu Verträgen gehören immer zwei Partner. Man kann
jemanden, auf den man gar keinen Zugriff hat, nicht
dazu zwingen, Verträge zu machen oder auf Dinge einzugehen, die überhaupt nicht existieren. Von daher kann
man das nur zurückweisen. Wir sollten daraus lernen
und in Zukunft die Bundesärztekammer nicht einspannen, wo wir doch wissen, dass wir sie nicht beeinflussen
können, dass es keine Fachaufsicht gibt. Das gilt auch
für andere Gesetze. Diesen Fehler haben wir nicht nur
einmal gemacht.
({0})
Der Titel Ihrer Großen Anfrage lautet: „Förderung der
Organspende“. Die Bundesregierung hat sie sehr umfangreich beantwortet. Aber wenn Sie ein bisschen besser aufgepasst hätten,
({1})
dann hätten Sie wahrgenommen, was die Bundesregierung in ihrer Verantwortung zu diesem Thema schon alles geleistet hat und welche Informationen sie gegeben
hat. Dann hätten Sie auch die Broschüre des RobertKoch-Instituts zu diesem Thema lesen können und hätten die meisten Fragen gar nicht zu stellen brauchen;
denn sie waren schon beantwortet.
({2})
- Das war lange vor diesem Termin, lange vor der Großen Anfrage.
Die BZgA hat im ersten Jahr in der Tat sehr viel
finanziert, weil es darum ging, das Transplantationsgesetz umzusetzen und Akzeptanz für dieses Gesetz herzustellen. Wenn Sie immer das erste Jahr damit vergleichen, was jetzt ausgegeben wird, dann verzerren Sie das
Bild gewaltig.
({3})
Ich möchte aber jetzt auf die Konflikte zu sprechen
kommen, die wirklich eine große Rolle spielen, wenn es
darum geht, ob Menschen ihre Organe spenden wollen
oder nicht. Dies wird auf verschiedenen Ebenen entschieden. Ein ganz wichtiger Raum ist das Krankenhaus, in dem in den meisten Fällen nicht der Patient, der
vorab eine schriftliche Willenserklärung hinterlassen
hat, entscheidet - das sind nur sehr wenige -, sondern
die Angehörigen, die in dieser schrecklichen Situation
unter starkem Druck stehen. Die Angehörigen stehen
unter Druck. Sie brauchen Zeit, sie brauchen Raum, sie
brauchen Besinnungszeit. Sie sollten unabhängig informiert werden. Sie sollten auch über das informiert werden, was ihnen später an Gedanken alles kommen
könnte. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, damit sie
ihre Entscheidung später nicht bereuen. Ich denke, das
geschieht zu wenig. Wenn man die Berichte über die
Vorwürfe liest, die sich Angehörige machen - egal ob sie
so oder so entschieden haben -, dann muss man feststellen: Hier ist etwas zu tun. Wir müssen den Angehörigen,
um die Akzeptanz zu verbessern - ob nun für oder gegen
eine Organspende -, diesen Raum schaffen.
Wir haben auch bei den Ärzten in den Krankenhäusern Konflikte: Der Arzt, der normalerweise für den
Patienten da ist, ihm helfen will, ihn retten will, hat es
schwer, plötzlich in eine andere Rolle zu schlüpfen „den Schalter umzulegen“, wie das in der Anhörung
hieß. Musste er eben noch alles dafür tun, um den Patienten zu retten, soll er jetzt plötzlich daran denken,
dass man Teile des Patienten brauchen kann, um jemand
anderem zu helfen. Das ist eine völlig andere Aufgabe.
Dieser Konflikt ist - das kann ich als Arzt sagen - kaum
zu lösen. Ich denke, wir müssen es auch respektieren,
wenn in einigen Krankenhäusern Ärzte davor zurückschrecken.
Nur weil der Deutsche Bundestag mit Zweidrittelmehrheit beschlossen hat, dass die Organspende auf eine
bestimmte Art und Weise geregelt wird, ist damit das
Gewissen der Ärzte noch keineswegs beruhigt. Es gibt
weiterhin Bedenken. Das Konstrukt des Hirntodes ist
- wie es in der Anhörung der Anästhesist Professor
Briegel formuliert hat und wie es auch der Transplantationsmediziner selbst sagt - widersprüchlich. Die Konflikte, die mit dieser gesetzlichen Festlegung verbunden
sind, beschäftigen immer noch die Köpfe der Menschen.
Damit müssen wir ehrlich umgehen. Wenn wir das nicht
tun und wie die Transplantationsmediziner immer wieder sagen: „Das ist jetzt gesetzlich geregelt; damit wollen wir nichts mehr zu tun haben; das muss jetzt so akzeptiert werden“, verdrängen wir diese Konflikte, anstatt
Akzeptanz zu schaffen. Dann ziehen sich Menschen zurück und es kommt zu solchen Dingen, wie wir sie jetzt
in den Krankenhäusern beobachten.
Auch beim Pflegepersonal in den Krankenhäusern
gibt es riesige Konflikte: Stellen Sie sich vor, dass Sie jemanden gepflegt haben, vielleicht als OP-Schwester sogar dabei gewesen sind, wie jemand operiert wurde, um
sein Leben zu retten, und nun akzeptieren müssen, dass
der Patient irgendwann, meistens nachts, explantiert
wird und dass der Patient, dessen Herz noch schlug, der
noch ganz normal aussah - wie immer, auch dann noch,
als die Diagnose „Hirntod“ gestellt wurde -, plötzlich
zum Objekt derjenigen wird, die ihm Material entnehmen wollen, dass er kalt und blass und richtig tot wird,
gewissermaßen ein zweites Mal stirbt. Das ist etwas, was
nicht leicht zu verdauen ist; das kann man bei Interviews
mit Pflegekräften immer wieder sehen.
Wir müssen uns nicht nur über die Organspende unterhalten, sondern auch darüber, wie wir es schaffen können, dass weniger Nieren benötigt werden. Wir müssen
mehr für Prävention tun. Die Leute nehmen sehr viel
Schmerzmittel. Jetzt soll sogar die Werbung für Medikamente ausgeweitet werden; jedenfalls wollen das einige - ich will das nicht. Es muss darüber aufgeklärt werden, was die Ursachen für Nierenversagen sind. Der
Aufwand, den wir für Organtransplantationen betreiben,
und der Aufwand, den wir für Prävention betreiben, stehen in einem krassen Missverhältnis: Ein Drittel der Nieren, die versagen, und damit ein Drittel der Organtransplantationen, die nötig werden, wären nicht erforderlich,
wenn wir mehr täten, um Diabetes vernünftig einzustellen, um Bluthochdruckerkrankungen vernünftig zu behandeln und um den Arzneimittelabusus, der zu Nierenschäden führt, zu verringern.
({4})
Ich denke, das sollten wir beim Präventionsgesetz genauso berücksichtigen wie bei der Diskussion zur Neuregelung der Organspende.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara
Lanzinger.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir dank dieser Großen Anfrage heute im Plenum über Organspende debattieren
können. Auch ich denke, dass die Öffentlichkeitsarbeit
ein ganz wichtiger Punkt ist, um die Aufklärung, die wir
über dieses Thema brauchen, zu erreichen. Diese Große
Anfrage hat gezeigt, dass das Transplantationsgesetz zu
einem hohen Maß an Rechtssicherheit geführt hat und
eine unverzichtbare Grundlage für die Vertrauensbildung
der Bevölkerung bei den Themen Organspende und
Transplantation ist.
({0})
Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass ein wesentliches Ziel, das mit dem Gesetz verfolgt wird, nämlich die
Erhöhung der Anzahl postmortaler Spenden, nicht, wie
ursprünglich sicherlich gehofft, erreicht wurde. Ich frage
mich: Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht, weil wir
ein Stück weit zu wenig darüber sprechen - das ist heute
Gott sei Dank schon ein paar Mal angeklungen -, dass
dies kein abstraktes Gesetz ist, über dessen Auswirkungen und Umsetzungen wir nachdenken müssen, sondern
ein Gesetz, welches ganz elementare Schicksale von
Menschen berührt. Es geht um die Schicksale Sterbender, die oft mitten aus dem Leben gerissen wurden, trauriger und zum Teil unter Schock stehender Angehöriger,
bangender und hoffender Schwerstkranker sowie deren
Angehöriger.
Die Werbung für mehr Organspenden bedarf deshalb
einer überaus großen Sensibilität sowie einer frühzeitigen, behutsamen und beständigen Aufklärung. Es geht
um die Aufklärung, Schulung und Bewusstmachung vor
allem der jungen Menschen, des medizinischen Pflegepersonals, der Ärzte - es wurde schon angesprochen und der Bürgerinnen und Bürger, dass die Bereitschaft
zur Organspende nach dem eigenen unausweichlichen
Tod bedeutet, das Leben und die Lebensqualität eines
anderen Menschen zu verbessern oder das Leben sogar
retten zu können.
Dass unsere Gesellschaft zu wenig darüber aufgeklärt
ist, was ein Ja zur Organspende heißt, zeigt die einerseits
generell hohe Zustimmung zur Organspende und die andererseits enttäuschende Zahl derer, die tatsächlich einen
Ausweis bei sich tragen; auch das wurde schon erwähnt.
Es gilt, diese Diskrepanz zu überwinden. Ich bedanke
mich für diese Anfrage; denn sie zeigt sehr deutlich, dass
einige Bundesländer hier einen sehr guten und richtigen
Weg gegangen sind, zum Beispiel Niedersachsen und
Bayern. In ihnen wurde das Thema Organspende bereits
fest im Unterricht verankert. Ich würde mir das auch in
anderen Bundesländern wünschen.
({1})
Auch die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung
Organtransplantation erfolgte Einladung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrer in Bayern in das
Transplantationszentrum Großhadern ist ein richtiger
und ganz wichtiger Weg, den es auch in anderen Bundesländern fortzusetzen gilt.
({2})
Es gilt in der Tat auch - das sage ich ganz bewusst
und ich weiß, dass das sicherlich umstritten ist -, darüber
nachzudenken, die Zustimmung zur und vielleicht sogar
auch die Ablehnung der Organspende in ein offizielles
Dokument aufzunehmen. So wäre jeder Einzelne verpflichtet, sich zumindest einmal in seinem Leben mit
dem Thema Organspende und damit auch mit seiner
Endlichkeit auseinander zu setzen.
Ein weiteres Augenmerk bei der Aufklärung und
Information muss auf die Kliniken gerichtet sein, wie
das auch in der Großen Anfrage deutlich wird. So haben
einige Länder die Krankenhäuser mit Intensivbetten
durch ihre Ausführungsgesetze zum Transplantationsgesetz dazu verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu
bestellen. Das zeigt deutlich, dass dies vorteilhaft ist.
Dies sind in der Regel und sinnvollerweise - wie bei mir
zu Hause in Amberg - Oberärzte der Intensivklinik oder
auch der Anästhesie. Diese sagen mir: Die Ärzte brauchen das Bewusstsein für die Organspende und den Willen sowie die Bereitschaft, mit den Angehörigen zu reden.
Der Organspendeausweis allein hilft sicherlich nicht
über die psychologisch schwere Aufgabe hinweg,
({3})
zu erklären, dass ein hirntoter Mensch zwar den Eindruck erwecken kann, noch zu leben - Kollege Wodarg
hat es vorhin gesagt -, seine Organe jetzt jedoch einem
anderen Menschen das Leben retten könnten. Es ist ein
ungeheures Spannungsfeld. Die Angst vor dieser Gesprächssituation ist sicherlich mit ein Grund dafür, dass
das Meldeverhalten in den Kliniken vielfach nicht so ist,
wie es sein sollte.
({4})
Ein ganz wesentlicher Grund ist aber auch der bürokratische und finanzielle Aufwand, weil es für eine Klinik
ungeheuer viel bedeutet, einen Organspender am Leben
zu erhalten.
({5})
Seit Januar 2004 gibt es folgende neue Regelung, die
sehr zu begrüßen ist: Den Krankenhäusern wird jede Bemühung um eine Organspende vergütet, auch wenn die
Organe nicht übertragbar sind oder die Angehörigen
nicht zustimmen. So wird in Bayern der Transplantationsbeauftragte für jede Beratung entlohnt, nicht nur bei
erfolgreicher Transplantation. Dies schafft Anreize für
Aufklärung. Daran könnten sich auch andere Bundesländer orientieren.
({6})
Zum Schluss ein mir sehr wichtiger Punkt. Letzte
Woche diskutierten wir hier im Plenum die Patientenverfügung, eine Vorausverfügung, die für den Fall der
Nichteinwilligungsfähigkeit festlegt, dass der Betroffene
in bestimmten Situationen nicht unnötig am Leben erhalten werden muss.
Frau Kollegin, Sie können jetzt nur noch einen kurzen
Schlusssatz anfügen.
Unterhalten wir uns mit den Menschen über die Organspende, stellen wir häufig die genau umgekehrte
Angst fest. Das ist eigentlich paradox. Diesen Widersinn
müssen wir aufheben. Wir müssen die Ängste und Nöte
der Menschen ernst nehmen.
Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig, zu vermitteln, dass es um Lebensrettung und den Lebenserhalt
geht, eine Hilfe, die jeder von uns vielleicht einmal
braucht.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner.
({0})
- Ich denke, wir führen jetzt die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt zu Ende. Danach können wir alles
Mögliche besprechen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch
sind wir bei der Großen Anfrage und der Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU
zum Transplantationsgesetz.
({0})
Ich möchte eine Bemerkung zu Ihnen machen, Frau
Kollegin Klöckner. Das Transplantationsgesetz - das
können Sie den Kollegen Seehofer fragen - geht nicht
auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück.
({1})
Es lagen damals drei Entwürfe vor. Obwohl die Meinungen damals quer durch alle Fraktionen gingen, haben wir
1997 mehrheitlich ein Gesetz beschlossen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Dieses Gesetz hat sich bewährt. Es
hat eine bundeseinheitliche Grundlage für Spende, Entnahme und Übertragung von Organen geschaffen, damit
schwerst- und todkranken Menschen geholfen werden
kann. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir dieses
Thema zum Gegenstand von Parteienstreit machen; dafür eignet es sich nämlich nicht, das kann auf anderen
Feldern geschehen.
({2})
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen.
Mit dem Transplantationsgesetz - deshalb haben wir es
auch beschlossen - wurde ein hohes Maß an Rechtssicherheit geschaffen. Das gilt sowohl für die Spender und
deren Angehörige als auch für die Empfänger und die
behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Die damals getroffene Entscheidung zur erweiterten Zustimmungslösung, nach der die Organentnahme nur in Betracht
kommt, wenn zuvor der Tod des Organspenders festgestellt ist und der Verstorbene zu Lebzeiten eingewilligt
hat oder - wenn keine Erklärung des Verstorbenen bekannt ist - die gesetzlich bestimmten nächsten Angehörigen zustimmen, hat sich als richtig erwiesen. Dies kann
man nach fast acht Jahren seit In-Kraft-Treten des Gesetzes als Bilanz ziehen.
({3})
Aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große
Anfrage kann man erkennen, dass die unterschiedlichen
rechtlichen Voraussetzungen für die Organentnahme,
Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung - auch
das muss man einmal sehen -, kaum Einfluss auf die
Zahl der Transplantationen haben. So weist zum Beispiel
Mecklenburg-Vorpommern - ich nehme dieses Beispiel,
weil es den Unterschied deutlich macht - eine höhere
Anzahl an Organspendern je Million Einwohner auf als
beispielsweise Belgien, wo die Widerspruchsregelung
gilt.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den Lebendorganspenden machen. Dazu möchte ich anführen, dass
ich die entschiedene Ablehnung jeglicher Anreizsysteme
sowie eines regulierten Organhandels durch die Mehrheit in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der
modernen Medizin“ - das ist meine Meinung - für richtig halte.
({4})
Die Enquete-Kommission empfiehlt, bei der Lebendspende keine finanziellen Anreize zuzulassen und
darüber hinaus den Handel mit Organen weiterhin zu
verbieten und unter Strafe zu stellen.
({5})
Ich halte auch die Auffassung des Präsidenten der
Bundesärztekammer - das ist keine Körperschaft des öffentlichen Rechts -, Herrn Professor Hoppe, für richtig,
der sich in einem Interview gegen jede Ausweitung der
Lebendorganspende ausgesprochen hat. Diese sollten die
absolute Ausnahme bleiben. Ebenso gebe ich Herrn Professor Hoppe Recht, wenn er dazu aufruft, der Gesellschaft noch stärker die Sinnhaftigkeit der Organspende
zu vermitteln.
Die Antwort der Bundesregierung belegt auch, dass
mit einer kontinuierlichen, umfassenden und sachlichen
Aufklärung der Bevölkerung ein wesentlicher Beitrag
zur Erhöhung der Organspendenbereitschaft geleistet
werden kann. Hier sind vor allem die Länder, die Krankenhäuser - die Krankenhäuser haben die Meldepflicht;
das muss man immer wieder sagen - und die Krankenkassen gefordert. Das belegt die Antwort auf Ihre Große
Anfrage. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat bisher ihren Beitrag geleistet und wird dies
auch weiterhin im Rahmen der Kampagne „Organspende schenkt Leben“ tun.
Frau Kollegin Widmann-Mauz und Herr Kollege
Parr, eines ist aber auch klar: Man kann nicht auf der einen Seite die Parole „Sparen, sparen, sparen“ ausgeben
- das gilt generell und auch für den Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung -,
auf der anderen Seite aber Mehrausgaben fordern. Das
passt einfach nicht zusammen. Man kann nicht selektiv
sagen, dass man an der einen Stelle nicht sparen will, generell aber schon.
({6})
In diesem sensiblen Bereich der Organspende und Organtransplantation werden Sie keinen Blumentopf gewinnen. Dieses Thema eignet sich nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung.
({7})
Ich will Sie an etwas erinnern, bei dem Sie genauso
die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen, wie wir das
tun werden. Die 77. Gesundheitsministerkonferenz der
Länder hat in einem Beschluss vom 18. Juni 2004 festgestellt, dass die Verbesserung der Organspendesituation
eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern, GKV
und PKV ist. Als wesentlichen Beitrag zur Steigerung
der Zahl der Organspenden hat die Gesundheitsministerkonferenz in diesem Beschluss eine engagierte Mitwirkung an der Organspende durch die Krankenhäuser
sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen
Transplantationszentren und den anderen Krankenhäusern identifiziert. Die Länder sind hier gefordert - diese
nämlich sind für die Krankenhäuser zuständig -, für die
Umsetzung des Transplantationsgesetzes alles Notwendige zu veranlassen. Das ist eine schwierige Situation für
das Personal. Das wissen wir alle. Wenn man aber mehr
Organspenden für notwendig erachtet, dann bietet das
Gesetz die Chancen dazu. Auf der anderen Seite aber
sind die Länder - das möchte ich noch einmal sagen die Aufsichtsorgane für die Krankenhäuser. Sie haben
dafür zu sorgen, dass die Meldepflicht, die dezidiert im
Gesetz steht, entsprechend wahrgenommen wird.
Organspende und -transplantation sind in vielen Fällen die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu erhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in
diesem Sinne sachlich, aber mit Empathie für die Betroffenen darauf hinarbeiten, dass erkannte Defizite - das
zeigt die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große
Anfrage - ausgeräumt werden können und die Zahl der
Organtransplantationen gesteigert werden kann.
Ich bedanke mich.
({8})
Ich schließe die Aussprache. Eine Abstimmung ist
nicht vorgesehen, weil es um die Beantwortung einer
Großen Anfrage ging.
Ich möchte all denen, die es noch nicht mitbekommen
haben, sagen, dass in Schleswig-Holstein bei der Wahl
der Ministerpräsidentin bzw. des Ministerpräsidenten
eine Stimmengleichheit von 34 zu 34 herrscht, also nie-
mand gewählt worden ist. Der Ältestenrat des Landtags
von Schleswig-Holstein ist zusammengetreten, um zu
beraten, wie man weiter verfährt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 h auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
61. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen - Reform und Nor-
mensetzung für einen verbesserten Menschen-
rechtsschutz
- Drucksache 15/5118 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Holger Haibach, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Die 61. Tagung der VN-Menschenrechtskom-
mission als Chance zur Reform - Mehr Enga-
gement für Menschenrechte weltweit
- Drucksache 15/5098-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechts-
lage
Ratsdok. 11922/1/04 REV 1
- Drucksachen 15/4001 Nr. 1.1, 15/4757 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Thilo Hoppe
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig,
Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christa Nickels,
Volker Beck ({2}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nepal - Menschenrechte schützen und
Gewalt beenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke,
Ulrich Heinrich, Daniel Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einhaltung der Menschenrechte in Nepal
- Drucksachen 15/4397, 15/3231, 15/4899 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({4})
Rainer Eppelmann
Rainer Funke
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention
- Drucksachen 15/4405, 15/4898 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Christoph Strässer
Rainer Funke
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({6}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer
Funke, Daniel Bahr ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechte in der Volksrepublik China
einfordern
- Drucksachen 15/4402, 15/4953 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Neumann ({8})
Thilo Hoppe
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({9}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Holger Haibach, Dr. Martina
Krogmann, Melanie Oßwald, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Presse- und Meinungsfreiheit im Internet
weltweit durchsetzen - Journalisten, Men-
schenrechtsverteidiger und private Internet-
nutzer besser schützen
- Drucksachen 15/3709, 15/5040 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Christoph Strässer
Rainer Funke
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die mandatsgebundene Begleitung VNmandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter
- Drucksache 15/4946 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Bärbel Kofler.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der diesjährige Antrag der Regierungskoalition zur
61. Menschenrechtskonferenz in Genf konzentriert sich
auf zwei Themen: zum einen auf die Reform der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, zum
anderen auf die Verantwortung multinationaler Unternehmen bei der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten.
Beide Themen sind für den Menschenrechtsschutz
von grundlegender und zukunftsweisender Bedeutung.
Es gilt jetzt, die richtigen Weichen zu stellen, damit wir
im Zusammenwachsen der Welt die Menschenrechte effektiv gewährleisten können.
Gerade die Reformvorschläge der Hochrangigen
Gruppe für Bedrohung, Herausforderung und Wandel
sind wegweisend für eine Neuorientierung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Alle
Reformansätze, die wir in unserem Antrag unterstützen,
haben ein gemeinsames Ziel: die Menschenrechtskommission in ihrer inhaltlichen Arbeit zu stärken und dem
Menschenrechtsschutz vor anderen politischen Interessen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.
Um dies zu erreichen, unterstützen wir insbesondere
den Vorschlag der Hochrangigen Gruppe, die Menschenrechtskommission von den bisher 53 Mitgliedstaaten auf
eine universelle Mitgliedschaft aller Staaten der UN zu
erweitern. Eine universelle Mitgliedschaft führt zu einer
stärkeren Legitimität der Kommission. Gleichzeitig entzieht sie den politischen Auseinandersetzungen über die
Zusammensetzung der Menschenrechtskommission den
Boden. Nur eine universelle Mitgliedschaft führt zu einer universellen Akzeptanz. Eine Mitgliedschaft von
Konditionen abhängig zu machen ist nicht hilfreich.
Eine Aufspaltung in gute und weniger gute Staaten wird
den Menschenrechtsschutz nicht beflügeln.
Die Universalmitgliedschaft ist ein wichtiger Schritt,
um die Menschenrechtskommission in ihrer politischen
Rolle aufzuwerten. Man kann einwenden, dass Entscheidungsprozesse einer universell besetzten Menschenrechtskommission langwieriger sein werden als bisher.
Eine universelle Kommission kann sich aber verstärkt
auf Sachfragen konzentrieren. Die Einbeziehung von
Nichtregierungsorganisationen in die Arbeit der Kommission wird dabei auch in Zukunft unerlässlich sein.
Eine wohl erwogene Entscheidung der Kommission zum
Schutz der Menschenrechte, die eine allgemeine Akzeptanz genießt und durchsetzbar ist, ist das Ziel, das wir
auf diese Weise erreichen wollen.
({0})
Auch der empfohlene Jahresbericht der VN-Hochkommissarin für Menschenrechte wird die inhaltliche
Arbeit der Kommission stärken. Er ermöglicht eine vertiefte Erörterung der Ländersituation in der MRK und
stellt diese auf eine breitere und objektivierte Basis. Der
Jahresbericht darf aber nicht als Ersatz für die Länderresolutionen der MRK dienen. Auch in einer reformierten
Menschenrechtskommission sollte das Instrument der
Länderresolution nicht fehlen. Uns ist sehr wohl bewusst, dass Länderresolutionen oft wenig Akzeptanz genießen und häufig mit Nichtbefassungsanträgen bekämpft werden. Grundsätzlich ist es dem globalen
Menschenrechtsschutz aber zuträglich, wenn das Spektrum der Mittel zur Kontrolle und Durchsetzung der
Menschenrechte breit angelegt ist.
Der Antrag der Opposition von CDU/CSU zur diesjährigen MRK widmet sich ebenfalls dem Thema der
Reformen der Vereinten Nationen. Es freut uns sehr,
dass Sie die Wichtigkeit dieses Themas erkannt haben.
({1})
In einigen Punkten sind wir auch einer Meinung.
Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch - ich
habe schon darauf hingewiesen -, nämlich hinsichtlich
der Universalität der MRK-Mitgliedschaft. Wir unterstützen aus gutem Grund den Expertenvorschlag.
In Ihrem Forderungskatalog listen Sie zudem so viele
weitere Forderungen auf, dass man beinahe glauben
könnte, die Tagesordnung der Menschenrechtskonferenz
vor sich zu haben.
({2})
Leider sind diese Punkte inhaltlich kaum unterfüttert.
Vor allem Ihre letzte Forderung, dass die Bundesregierung dem Bundestag bis Mai Bericht erstatten soll, kann
ich nicht nachvollziehen, da wir alle doch im Menschenrechtsausschuss vor und nach den MRK-Sitzungen stets
gut informiert werden. Wir werden Ihren Antrag daher
ablehnen.
Das zweite Thema unseres Antrags ist die Verantwortung international arbeitender Unternehmen bei
der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten.
Dieses Thema verdient besondere Aufmerksamkeit, da
in letzter Zeit vonseiten der Wirtschaft und im konstruktiven Dialog mit Regierungen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und international arbeitenden Nichtregierungsorganisationen vieles auf einen guten Weg
gebracht wurde. Dieses Thema fehlt im Antrag der Opposition trotz seiner Aktualität leider völlig, obwohl
dazu bereits eine Anhörung im Menschenrechtsausschuss stattgefunden hat.
Unumstritten ist, dass die universelle Wahrung der
Menschenrechte eine staatliche Aufgabe ist. Unbestritten ist heute aber auch, dass gerade multinationale Unternehmen den Menschenrechten aus unterschiedlichen
Gründen und auf unterschiedlichen Ebenen verpflichtet
sind. Der globale, der wirtschaftliche und damit auch der
politische Einfluss eines Unternehmens geht mit der Verantwortung für die sozialen Folgen einer globalen Wirtschaftstätigkeit einher. Dies gilt insbesondere in Ländern, in denen der Menschenrechtsschutz von staatlicher
Seite nicht hinreichend gewährleistet wird oder nicht
umgesetzt werden kann. Die Beispiele hierfür sind zahlreich. Man denke nur an China oder den Kongo. Die
Liste ist lang und kann beliebig fortgesetzt werden.
Unternehmen betreiben eine an wirtschaftlichen Interessen orientierte Informationsarbeit gegenüber Regierungen in Fragen des Handels- und des Steuerrechts.
Warum also nicht auch eine entsprechende Informationspolitik, was die Förderung und den Schutz der Menschenrechte betrifft? Denn letztlich ist ein humanes und
rechtlich stabiles Arbeitsumfeld für ein Unternehmen
Grundvoraussetzung für die nachhaltige Wirtschaftlichkeit seiner Arbeit. Das beweisen Beispiele. Wenn man
an das Aidspräventionsprojekt von Daimler-Chrysler in
Südafrika denkt, dann weiß man, dass die Wirtschaft
hier bereits auf einem guten Weg ist.
Ein Beispiel für die freiwillige Selbstverpflichtung
von transnationalen Unternehmen zum Schutz der Menschenrechte ist die Initiative des Global Compact.
Diese zeigt, dass sich Unternehmen zunehmend ihren
sozialen Pflichten stellen. Solche Initiativen zur freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft werden auch
künftig unsere volle Unterstützung haben. Der Dialog
zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist dabei wesentlich und erfährt unsere Förderung.
Ein weiterer interessanter Ansatz ist der Entwurf
neuer UN-Normen zur Unternehmensverantwortung. Mit diesem Katalog von 23 Normen wird grundsätzlich an der primären Verantwortung der Staaten für
den Menschenrechtsschutz festgehalten. Jedoch wird
auch den Unternehmen eine rechtliche Verpflichtung zugeordnet. In ihrem jeweiligen Einflussbereich sind auch
Unternehmen zur Wahrung und Förderung der Menschenrechte angehalten. Ein weltweit agierendes Unternehmen trägt aufgrund seines weit reichenden Einflusses
folglich größere Verantwortung als ein Mittelständler.
Dazu gehört auch, dass ein Unternehmen keinen Nutzen
aus Menschenrechtsverletzungen anderer ziehen darf,
also nicht zum Komplizen werden darf. Auch wenn über
den UN-Normenentwurf zur Unternehmensverantwortung im Einzelnen noch diskutiert wird, ist an der
Gültigkeit dieses grundsätzlichen Postulats nicht zu
zweifeln. Ein konstruktiver Dialog über die menschenrechtliche Verantwortung der Unternehmen wird daher
von uns im Rahmen der diesjährigen Menschenrechtskonferenz aktiv begleitet werden.
In nächster Zeit gilt es neue Weichen für einen effektiven Menschenrechtsschutz zu stellen. Lassen Sie uns
bitte alle konstruktiv daran mitarbeiten!
Danke.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten
Nationen steckt in einer tiefen Krise. Das hat die VNHermann Gröhe
Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour,
zu Beginn der diesjährigen Tagung der VN-Menschenrechtskommission am Montag dieser Woche unumwunden eingeräumt. Als Beispiel für ihre deutliche Kritik hat
sie das Versagen der Vereinten Nationen wie der Staatengemeinschaft genannt, das anhaltende Blutvergießen im
sudanesischen Darfur zu beenden. Sie sprach davon, die
VN-Menschenrechtskommission sei ihrer „kollektiven
Verantwortung“ nicht gerecht geworden. Am gestrigen
Tag hat der VN-Sondergesandte für den Sudan, Pronk,
erklärt:
Die Dschandschawid-Milizen haben gedroht, dass
sie künftig Ausländer und UN-Konvois angreifen
werden. Deshalb haben wir alle Mitarbeiter in die
Hauptstadt abgezogen.
Gleichzeitig gehen die Vereinten Nationen nach neuesten Schätzungen davon aus, dass in den vergangenen
18 Monaten 180 000 Menschen durch Krankheit und
Hunger als Folge der gewaltsamen Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sind. Der VN-Koordinator
für humanitäre Hilfe, Egeland, hält 10 000 Tote pro Monat für eine „vernünftige Schätzung“. In diesen Zahlen
sei aber die Zahl der bei den Kämpfen zwischen Milizen
und Rebellen umgekommenen Menschen noch gar nicht
enthalten.
Während sich aber die UNO-Mitarbeiter aus Darfur
zurückziehen und das Morden, Vergewaltigen und
Brandschatzen anhält, wird man wohl auf eine eindeutige Verurteilung der mit den arabischen Milizen kooperierenden Regierung in Khartoum durch die VN-Menschenrechtskommission erneut vergeblich warten
müssen. Vielmehr ging die Solidarität der afrikanischen
Staaten mit dem Regime in Khartoum so weit, dass sie
just in dem Moment, als die Gewalt in Darfur eskalierte,
den Sudan erneut als Vertreter des afrikanischen Kontinents in die VN-Menschenrechtskommission entsandten.
Weil aber viele Mitglieder dieses wichtigsten Menschenrechtsgremiums der Völkergemeinschaft selbst
schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig sind,
finden sich stets Koalitionen zusammen, die die Menschenschinder vor einer eindeutigen Verurteilung bewahren.
({0})
Wenn wir die VN-Menschenrechtskommission vor einem völligen Abgleiten in die Unglaubwürdigkeit und
damit in die Bedeutungslosigkeit bewahren wollen,
muss die Völkergemeinschaft die Kraft zu tief greifenden Reformschritten haben. Wir sollten als deutsches
Parlament ehrgeizige Ziele für einen derartigen Reformprozess formulieren, beschließen und damit der Bundesregierung mit auf den Weg geben.
({1})
Heute diskutieren wir zwei Anträge zur Reformbedürftigkeit der VN-Menschenrechtskommission. Gerade weil wir im Menschenrechtsausschuss des Bundestages häufig an einem Strang ziehen, gestatten Sie mir,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, die Offenheit: Angesichts der dramatischen Situation innerhalb der VN-Menschenrechtskommission
bleibt Ihr Antrag bedauerlich unscharf und allgemein.
Dort werden keine Ziele benannt, deren Erreichung zu
einer durchgreifenden Stärkung des VN-Menschenrechtsschutzsystems führen würde.
So passt es eben überhaupt nicht zu Ihrer Aussage,
den parlamentarischen Einfluss in den VN-Menschenrechtsmechanismen stärken zu wollen, wenn der Deutsche Bundestag nach Ihrem Willen wahrlich nur sehr allgemeine, man könnte auch sagen: nichts sagende
Forderungen an die Bundesregierung richten soll. Die
Annahme Ihres Antrages wäre ein Zeichen der Resignation angesichts der dramatischen Situation in der Menschenrechtskommission.
Unser Antrag, der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist wesentlich konkreter und benennt ehrgeizige, aber lohnende Ziele. Wesentlich intensiver, als dies
in Ihrem Antrag geschieht, haben wir uns dabei mit den
Vorschlägen der von Kofi Annan eingesetzten Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und
Wandel auseinander gesetzt. Wichtige Vorschläge der
Hochrangigen Gruppe finden unsere und auch Ihre Unterstützung. Dies gilt beispielsweise für den Vorschlag,
dass der Sicherheitsrat die Hohe Kommissarin für Menschenrechte an seinen Beratungen aktiver beteiligt, sie
vor Entscheidungen über Friedenseinsätze anhört und
sich von ihr regelmäßig über die Umsetzung der menschenrechtsbezogenen Bestimmungen der Sicherheitsratsresolutionen unterrichten lässt.
Bei anderen Vorschlägen der Hochrangigen Gruppe
haben wir dagegen Bedenken. Dies gilt auch - Sie, Frau
Kollegin Dr. Kofler, sprachen gerade diesen Punkt an für den Vorschlag, die Mitgliedschaft der VN-Menschenrechtskommission künftig auf alle VN-Mitgliedstaaten auszuweiten. Die Verwirklichung dieses Vorschlags, der in Ihrem Antrag eine gewisse Unterstützung
erfährt, würde die Kommission nach unserer Auffassung
nicht stärken, sondern ihre Arbeit weiter erschweren und
beispielsweise nahezu zwangsläufig zu einer Zurückdrängung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Nichtregierungsorganisationen führen.
Wir halten einen anderen Weg für angemessener. Wir
sprechen uns daher dafür aus, die Mitgliedschaft in der
Menschenrechtskommission an bestimmte grundlegende
Bedingungen zu knüpfen. Dies ist übrigens auch die Position von Human Rights Watch und von weiteren internationalen Menschenrechtsorganisationen. So sollen potenzielle Mitglieder mindestens einen der beiden
internationalen Menschenrechtspakte ratifiziert haben;
zudem sollen sie uneingeschränkt zur Zusammenarbeit
mit dem Hochkommissariat bereit sein und beispielsweise eine so genannte Standing Invitation für alle Sonderberichterstatter vornehmen.
Es darf nicht länger sein, dass in Genf die schlimmsten Regime Koalitionen schmieden, um sich gegenseitig
eine „weiße Weste“ zu bescheinigen. Deswegen brauchen wir das Instrument der Länderresolution. Dazu
bekennen auch Sie sich in Ihrem Antrag, ohne aber ein
einziges Land zu benennen, für das Sie dieses Instrument für angemessen halten. Sie verzichten darauf. Damit passen Sie sich aus meiner Sicht einer Leisetreterei
an, die auch die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung auszeichnet.
({2})
Wenn dies so weitergeht, bleibt jede Glaubwürdigkeit
auf der Strecke. Wer soll eine Menschenrechtskommission ernst nehmen, die sich zwar mutig zur Verurteilung
von Birma und Nordkorea aufrafft, die ihren größtmöglichen Konsens in der Verurteilung israelischer Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten findet, die aber zur
Lage im völlig zerbombten Grosny, zur anhaltenden Vernichtung der tibetischen Kultur und zu weiteren
schwersten Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt kein Wort verliert? Das passt, wie ich sagte,
zur Leisetreterei einer Bundesregierung, die das
Waffenembargo gegen China in einer Zeit aufheben
will, in der Kriegsdrohungen gegen Taiwan laut werden
- Kollege Rose wird etwas dazu sagen -, und die zu den
schockierenden Bildern aus Istanbul, wo unschuldige
Demonstrantinnen, Frauen und Mädchen, niedergeknüppelt wurden, kein Wort verloren hat. Solche Leisetreterei
ist unakzeptabel.
({3})
Es ist eben so, meine Damen und Herren, dass nirgends bei Rot-Grün ein so großer Graben zwischen eigenem Anspruch und konkretem Tun klafft wie gerade in
der Menschenrechtspolitik. Mit einem positiven Beschluss über unseren Antrag können wir ein Zeichen dafür setzen, dass wir es ernst meinen mit einem entschiedenen Dampfmachen für Menschenrechte und mit
entschiedenen Schritten hin zu einer ehrgeizigen Reform
der VN-Menschenrechtsschutzsysteme.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich auf die in Genf tagende Menschenrechtskommission zu sprechen komme, auf Ihre Anträge und Reformvorschläge und auch auf den Vorwurf der Leisetreterei, erlauben Sie mir ein paar sehr grundsätzliche
Anmerkungen: Es wird immer von der Unteilbarkeit der
Menschenrechte gesprochen. Das ist auch gut so. Jeder
Mensch, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts,
welcher Herkunft, sollte auf dieser Welt willkommen
sein und ihm sollte ein Leben in Freiheit und Würde ermöglicht werden. Ihm stehen elementare Menschenrechte zu, auf die sich die Völkergemeinschaft im
Grundsatz geeinigt hat.
Diese Menschenrechte sollten auch nicht in die „eigentlichen“, die klassischen bürgerlichen Menschenrechte auf der einen Seite und die „neuen“, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte
auf der anderen Seite aufgeteilt werden. Regierungen,
die nur die eine Sorte von Menschenrechten hochhalten
und die andere vernachlässigen, geraten in eine gefährliche Schieflage. Mit dem Hinweis auf ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitssystem lässt sich eben nicht
die Inhaftierung und Folterung von Oppositionellen relativieren. Ich nenne als Beispiel Kuba. Der Hinweis auf
Presse- und Versammlungsfreiheit hilft nicht den Hungernden, denen das Menschenrecht auf Nahrung vorenthalten wird. Statt auf dem einen oder dem anderen
Auge blind zu sein, sollten wir Parlamentarier beide Augen weit aufmachen und uns mit Nachdruck für die Verwirklichung aller Menschenrechte einsetzen. Das heißt
auch, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, egal,
von wem sie begangen werden, egal, ob dem möglicherweise handelspolitische Interessen entgegenstehen könnten, und auch egal, ob der Menschenrechtsverletzer ein
staatlicher oder ein nicht staatlicher Akteur ist, zum Beispiel ein Unternehmen.
Ich habe auf dem letzten Kirchentag in Berlin mit einer Näherin aus einer Freihandelszone in El Salvador auf
dem Podium gesessen. Sie hat von erniedrigenden Bedingungen berichtet. Sie hat in einem Zulieferbetrieb für
einen international bekannten Sportartikelhersteller gearbeitet: 13 Stunden Arbeit pro Tag, zwei verordnete
Toilettengänge, erniedrigende Bestrafungen bei geringem Fehlverhalten oder Arbeitsfehlern, und das alles zu
einem Hungerlohn. Es ließ sich eine Fülle weitaus krasserer Beispiele benennen: Ich denke an Unternehmen,
die ihren Profit aus ausbeuterischer Zwangsarbeit oder
aus Kinderarbeit ziehen oder die beim Abbau von Gold
ganze Flüsse vergiften.
Für den Schutz der Menschenrechte sind in erster
Linie die Nationalstaaten verantwortlich. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem
Jahre 1948 werden aber alle Individuen, die Organe der
Gesellschaft und auch die Wirtschaft in die Pflicht genommen. Deshalb ist es eigentlich auch nur folgerichtig,
transnationale Unternehmen, von denen einige eine Kapitalstärke haben, deren Volumen das Kapital aller Staaten Afrikas zusammen übersteigt, stärker in die Pflicht
zu nehmen. Die Vereinten Nationen, genauer gesagt die
MRK-Unterkommission zum Schutz und zur Förderung
der Menschenrechte, hat einen Entwurf für UN-Normen
für transnationale Unternehmen vorgelegt. Wir setzen
uns in dem heute vorliegenden Antrag dafür ein, dass auf
der Grundlage dieses Vorschlages sehr konstruktiv und
ernsthaft mit dem Ziel diskutiert wird, zu möglichst verbindlichen UN-Normen für transnationale Unternehmen
zu kommen. Wir möchten, dass sich auch die Vertreter
der Bundesregierung in diesem Sinne noch deutlicher
positionieren und denjenigen Paroli bieten, die auf der
diesjährigen Tagung diesen Dialogprozess möglichst
schnell beerdigen wollen und allein auf freiwillige Initiativen setzen.
Diese freiwilligen Initiativen, der Global Compact,
Verhaltenkodizes, Partnerschaften und anderes, sind
hochwillkommen, aber eben kein Ersatz für verbindliche
Menschenrechtsnormen, die für alle gelten müssen. Von
den 75 000 transnationalen Unternehmen sind bisher nur
2 Prozent dem Global Compact beigetreten und einen
wirkungsvollen Überprüfungsmechanismus für die Einhaltung der zehn Grundsätze gibt es nicht.
Wenn wir der Globalisierung ein menschliches Antlitz geben wollen, dann brauchen wir keine Versprechungen, deren Einhaltung nicht überprüft werden kann, sondern dann brauchen wir starke ökologische und soziale
Leitplanken. Dazu könnten die UN-Normen für transnationale Unternehmen ein wichtiger Baustein sein. So
weit zum Thema Unternehmensverantwortung.
Ich freue mich, dass Tom Koenigs auf der diesjährigen Tagung der Menschenrechtskommission in Genf
sich für das Recht auf Wasser stark macht. Wir werden
darüber heute Abend anläßlich eines entsprechenden
Antrags noch ausführlicher diskutieren.
Ich begrüße auch sehr, dass er mit einer weiteren Veranstaltung auf die Besorgnis erregende Lage der indigenen Völker aufmerksam macht. Die Tsunamikatastrophe hat gezeigt, dass einige der indigenen in Stämmen
lebenden Völker ein Wissen hüten, das uns verloren gegangen ist: ein kostenloses Frühwarnsystem der besonderen Art. Am Verhalten der Tiere erkannten sie die herannahende Katastrophe und zogen sich ins Hochland
zurück. Diesen „Eingeborenen“ sollten wir nicht mit der
Arroganz der Hochzivilisierten begegnen, sondern mit
Respekt.
({0})
Auch unser Land sollte zum Schutz der indigenen Völker so schnell wie möglich die ILO-Konvention 169 ratifizieren. Ich hoffe sehr, dass ein entsprechender Koalitionsantrag möglichst noch parallel zu der in Genf
tagenden Menschenrechtskommission hier ins Parlament
eingebracht werden kann.
Die Flutkatastrophe hat die Aufmerksamkeit der
Weltöffentlichkeit auf Südostasien gelenkt. Dabei darf
die furchtbare Situation in Darfur - der Kollege Gröhe
hat sie auch schon mit eindrücklichen Worten hier benannt - nicht in Vergessenheit geraten. Dort hat sich in
der Tat das Flüchtlingselend weiter verschlimmert. Ich
kann ihm nur zustimmen: Es ist ein Trauerspiel, dass auf
der letzten Tagung der MRK in Genf dazu keine deutlichen Worte formuliert wurden.
Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung sich ständig bemüht, dieses Thema auf die Agenda des Weltsicherheitsrates zu setzen. Doch wenn weiterhin einige
Nationen - ich nenne hier ausdrücklich China - die
schützende Hand heben, kommen wir in diesem Bereich
nicht weiter. Ich hoffe sehr, dass trotz aller Misserfolge
im letzten Jahr dieses Thema auch auf die Tagesordnung
der MRK in Genf gesetzt wird und dass es diesmal gelingt, Blockadehaltungen aufzubrechen und zu deutlichen Worten zu kommen.
Das Thema Nepal kann ich aus Zeitgründen nur ganz
kurz streifen. Auch dort gibt es einen Besorgnis erregenden Bürgerkrieg, der von der Weltöffentlichkeit kaum
wahrgenommen wird. Wir haben dazu heute einen Antrag eingebracht, der deutlich macht: Dieser Konflikt ist
nicht mit Waffengewalt zu lösen, auch nicht durch Waffenlieferungen, wie sie einige europäische Nachbarstaaten vornehmen. Wir brauchen hier ernsthafte Verhandlungen, auch unter Einbeziehung Indiens.
Jetzt zu den Vorschlägen zur Reform der MRK. Herr
Gröhe, unser Antrag ist keine Leisetreterei. Wir haben
alle wesentlichen Anregungen der Hochrangigen Gruppe
der Vereinten Nationen aufgenommen. Auch uns ist klar,
dass die Instrumente zum Schutz der Menschenrechte
geschliffen und verbessert werden müssen. Nur in einem
Punkt gibt es einen Dissens: Wir sehen ganz große
Schwierigkeiten darin, den Kreis praktisch einzugrenzen
und eine Qualifizierung für die Aufnahme in die Menschenrechtskommission zu fordern. Der Gedanke ist verständlich, aber bei der Umsetzung könnte es große Probleme geben, wenn wichtige Akteure diese Kriterien
nicht erfüllen, wenn beispielsweise die USA aufgrund
ihres Verhaltens in Guantanamo die Kriterien verfehlen.
Man kann nicht verschiedene Kriterien festlegen: Für die
Großen gibt es einen Extrabonus und für die Kleinen
werden hohe Maßstäbe angelegt.
Wir halten es für notwendig, mit allen Akteuren und
mit allen Staaten der Vereinten Nationen ins Gespräch zu
kommen. Wir hoffen, dass es dort mehr mutige Regierungen gibt, die Rückgrat zeigen und trotz aller handelspolitischen oder machtpolitischen Verflechtungen deutlich Flagge zeigen für den Schutz der Menschenrechte.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechte befinden sich nicht erst jetzt,
mit Beginn der 61. Tagung der UN-Menschenrechtskommission in Genf, in der Defensive. Wir erleben das
seit Jahren. Das ist besonders durch den 11. September
2001 deutlich geworden; denn gerade beim internationalen Vorgehen gegen Terrorismus wird die Menschenrechtslage in bestimmten Staaten nicht unbedingt angesprochen.
Wir erleben häufig das Phänomen, dass sich nationale
Parlamente in der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Staaten zwar einig sind, die Regierungen aber dennoch die in großer Übereinstimmung
beschlossenen Resolutionen und Anträge nicht zur
Kenntnis nehmen wollen oder sie durch Regierungshandeln sogar negieren.
({0})
In Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Menschenrechtsschutzes haben wir auch hier im Deutschen Bundestag eine gewisse Krise. Hinsichtlich der Menschenrechtssituation in China zum Beispiel sind wir uns alle
einig, dass sich der Bundestag, mit welchen Formulierungen auch immer, geschlossen dafür aussprechen
muss, dass das EU-Waffenembargo gegenüber der
Volksrepublik China nicht aufgehoben werden soll.
Diese Einigkeit gilt auch für die europäischen Parlamentarier. Wir alle kennen die Menschenrechtslage in der
Volksrepublik China, die leider nicht besser wird. Leider
spricht sich die Bundesregierung für das Gegenteil aus.
Sie betreibt innerhalb der EU eine andere Politik. Wie
sollen Menschenrechte international, in internationalen
Gremien mehr Gewicht erhalten, wenn es uns noch nicht
einmal hier in Deutschland gelingt, die Bundesregierung
politisch verantwortlich so an unsere Beschlüsse zu binden, dass sie in europäischen und auch in internationalen
Gremien entsprechend auftreten kann? Von daher habe
ich überhaupt keine Hoffnung, dass bei dieser Tagung
der Menschenrechtskommission in Bezug auf China ein
großer Erfolg erreicht werden könnte.
({1})
Ich habe mir die Mühe gemacht, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in den Protokollen des Deutschen
Bundestages aus der 13. Legislaturperiode zu blättern.
Am 27. Juni 1996 haben wir über die Menschenrechtslage in China diskutiert. Joseph Fischer, heutiger Außenminister, war damals Sprecher der Grünen, die zu jener
Zeit in der Opposition waren. Er hat der Bundesregierung vorgeworfen - in Worten, die ich jetzt zu meinen
eigenen Worten mache -:
Deswegen müssen wir mit den Chinesen unnachgiebig über Menschenrechte, über tibetische Kultur
und über den Schutz von Minderheiten in China
sprechen. Wenn das Aufträge kostet, dann kostet es
eben Aufträge.
({2})
Ich unterstelle nicht, dass die Aufhebung des EUWaffenembargos in erster Linie betrieben wird, um Rüstungsexporte zu promoten. Die Exporte in diese Region
nehmen seit 1998 zu, auch vonseiten der Bundesregierung. Aber es zeigt, was für ein Auffassungswechsel
stattgefunden hat; allein die Regierungsverantwortung
kann nicht zu einer insgesamt vollkommen anderen Einschätzung führen.
Ich könnte das auch in Bezug auf die Politik gegenüber Tschetschenien darlegen. Auch da waren die Worte
von Herrn Fischer in der Opposition knallhart; heute
spielen die großen Probleme, mit der Ausweglosigkeit,
wie wir sie jetzt nach der Ermordung von Maschadow
sehen, keine Rolle. Dort stellt sich ebenfalls die Frage
nach der Unabhängigkeit der Justiz und danach, wie die
Menschen in der Russischen Föderation ihre Meinung
äußern können. Da werden mit Putin Umarmungen ausgetauscht, aber diese Themen werden leider ganz nach
hinten verbannt.
({3})
Deshalb ist es für die FDP sehr wichtig, dass versucht
wird, bei dieser 61. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf Akzente zu setzen. Dazu gehören unverzichtbare Reformansätze; diese Einschätzung teilen
wir. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn es mit der
MRK so weitergeht, dann wird sie nicht nur ein Desaster, sondern sie wird sich letztendlich selbst überflüssig
machen. Das wäre schlimm nach dem, was an Menschenrechtsmechanismen und -verteidigung erreicht
worden ist.
Wir halten den Antrag der CDU/CSU in diesen Punkten, nicht nur weil er bedeutend konkreter ist, sondern
weil er meiner Meinung nach richtige Ansätze findet, für
sehr viel überzeugender. Die Argumente zu den Anforderungen an die Mitgliedschaft in der UN-Menschenrechtskommission sind noch nicht alle ausgetauscht.
Denn: Auch der Europarat kennt sehr wohl Anforderungen an eine Mitgliedschaft. Um Mitglied des Europarates zu werden, müssen Mindestanforderungen erfüllt
werden.
({4})
Zu fordern, dass internationale Pakte gezeichnet und
ratifiziert werden und dass es eine uneingeschränkte Zusammenarbeit mit Berichterstattern gibt, damit Menschenrechtspolitik, die nur in der Öffentlichkeit stattfindet, funktionieren kann, ist in meinen Augen ein
richtiger Ansatz. Es lohnt sich, einen Konsens in Genf
und innerhalb der Delegation, die dorthin fährt, anzustreben.
Recht herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig:
Die 61. Tagung der Menschenrechtskommission wird
noch mehr im Zeichen der Reformdebatte stehen als die
Tagung im vergangenen Jahr. Heute liegen zwei Anträge
zu dieser Tagung vor. Mein Kollege Hermann Gröhe hat
die Vorschläge in unserem Antrag begründet, die ich für
wesentlich konkreter und nachvollziehbarer halte - diese
Meinung hat auch Frau Leutheusser-Schnarrenberger
geäußert - als die Vorschläge in dem Antrag der Koalition.
Es ist wichtig, dass wir diese Diskussion nicht nur
formalistisch und mechanisch führen, sondern uns auch
mit der Frage beschäftigen, ob die Menschenrechtskommission thematisch noch auf der Höhe der Zeit ist. Es
geht zum einen um die Frage, welche Länder dort vertreten sein sollen, und zum anderen um die Frage, welche
Themen behandelt werden sollen.
Die Koalition spricht in ihrem Antrag beispielsweise
von der menschenrechtlichen Verantwortung transnationaler Unternehmen. Dies ist sicherlich ein wichtiges
Thema, mit dem man sich beschäftigen muss. Aber ich
kann dann nicht verstehen, warum Sie im Ausschuss unserem Antrag zur Durchsetzung der Meinungs- und
Pressefreiheit für das Internet nicht zustimmen konnten.
Dies ist ein ganz entscheidendes Zukunftsthema, mit
dem wir uns gerade im Zusammenhang mit der Meinungs- und Pressefreiheit zu beschäftigen haben werden.
Denn das Internet ist das Massenmedium der Zukunft.
Dieses Thema ist auch deshalb so wichtig, weil die
Durchsetzung von Meinungs- und Pressefreiheit immer
in einer bestimmten Relation zur Durchsetzung der Menschenrechte insgesamt steht. Es ist doch kein Zufall, dass
die größten Menschenrechtsverletzer zumeist diejenigen
sind, die die Meinungs- und Pressefreiheit, vor allem im
Internet, besonders stark einschränken. Es geht hier also
um die Frage, wie man grundsätzlich zu diesem Thema
steht.
Das Internet ist gerade in den Ländern, in denen der
Zugang zur Information eingeschränkt ist, die beste
Möglichkeit, an Informationen heranzukommen und
sich auszutauschen. Aus diesem Grunde kann ich es einfach nicht verstehen, dass Sie im Ausschuss unseren Antrag abgelehnt haben. Ihre Begründung für die Ablehnung, dass unser Antrag eine Aufzählung enthalten habe,
ist nicht stichhaltig. Wenn wir nämlich keine Aufzählung
vorgelegt hätten, dann hätten Sie uns vorgeworfen, keine
Beispiele genannt zu haben. Ihre Haltung ist also nicht
konsequent und auch nicht konsistent.
Es gibt Gründe, auch außerhalb der MRK an diesem
Thema festzuhalten, zum Beispiel auf dem Weltinformationsgipfel, der im November dieses Jahres in Tunis
stattfinden wird. Tunesien gehört zu denjenigen Ländern, die in besonderem Maße das Internet kontrollieren
und in besonderem Maße die Meinungs- und Pressefreiheit einschränken. Ich würde mir wünschen, dass die
Bundesregierung an dieser Stelle deutliche Worte findet.
Wenn Vertreter der Bundesregierung jetzt anwesend wären, würde ich sie auffordern, an diesem Thema weiter
festzuhalten.
({0})
Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, das Thema
Menschenrechte zu behandeln. Das Wissen über Menschenrechte ist in Deutschland nicht sonderlich weit verbreitet. Das wurde in den letzten Jahren in einigen Artikeln dargelegt. 76 Prozent der Bevölkerung halten die
Menschenrechte für wichtig, 40 Prozent sind bereit, sich
zu engagieren, aber nur wenige tun es. Ich glaube, dass
das Thema Internet in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle spielen sollte.
Man muss sich in Deutschland, in Europa und weltweit auf diesem Gebiet engagieren und die entsprechenden Themen zur Sprache bringen. Deswegen war die
Vorlage des sechsten Jahresberichts der Europäischen
Union zur Menschenrechtslage für uns wichtig. Es gab
im Ausschuss eine Erörterung und eine gemeinsame Beschlussempfehlung. Einen Absatz aus dieser Beschlussempfehlung halte ich für so wichtig, dass ich ihn gerne
vorlesen möchte:
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Verabschiedung der Leitlinien für Menschenrechtsverteidiger
als wichtiges Instrument zur Stärkung des Rechtes
auf Verteidigung der Menschenrechte. Er bittet die
Bundesregierung, innerhalb der Europäischen Union
darauf hinzuwirken, dass gefährdete Menschenrechtsverteidiger durch die vorgesehenen Interventionsmöglichkeiten der EU Hilfe und Unterstützung
für ihre wichtige Arbeit erhalten.
Wie passt das mit dem zusammen, was der Bundesaußenminister zusammen mit den anderen europäischen
Außenministern in Bezug auf Kuba beschließt? Es soll
keine Einladung an Dissidenten an kubanischen Nationalfeiertagen mehr geben. Das konterkariert all das, was
wir gemeinsam beschlossen haben, es konterkariert das
Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ sowie das Programm zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger weltweit, das wir gemeinsam aufgelegt haben.
Ich finde, auch das ist keine besonders konsequente und
konsistente Handlungsweise.
({1})
Vielmehr ist es, denke ich, insgesamt ein falsches Zeichen.
In diesem Zusammenhang könnte man sicherlich das
Thema Chinapolitik erörtern. Im Hinblick auf die schon
fortgeschrittene Zeit will ich das aber unterlassen.
Deutschland sollte seine führende Rolle, die es ja gedenkt einzunehmen, wenn es sagt, die Achtung der Menschenrechte sei eine Querschnittsaufgabe in der gesamten Politik, weiterhin ausfüllen. Das gilt zum Beispiel
auch - das Thema steht ja heute auf der Tagesordnung für die Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls zur
Europäischen Menschenrechtskonvention. Da geht es
um die Antidiskriminierung. Deutschland gehört zu den
Erstunterzeichnern, wie man, wenn man auf die Homepage des Auswärtigen Amtes geht, sehr schnell feststellen kann. Das Auswärtige Amt rühmt weiterhin:
Es ist somit eine wesentliche Ergänzung zur EMRK
und bewirkt eine Stärkung ihres Kontrollmechanismus.
Aha! Weiter heißt es:
Der außenpolitische Nutzen dieses Protokolls liegt
aus deutscher Sicht vor allem in der von ihm ausgehenden Rechtsvereinheitlichung in Diskriminierungsfragen in Europa.
Wir gehören also zu den Erstunterzeichnern. Warum ist
dann aber, so fragt man sich, in den letzten vier Jahren
mehr oder weniger nichts passiert?
({2})
In einem Schreiben von Frau Ministerin Zypries - also
aus einem anderen Ministerium, aber von der gleichen
Bundesregierung - an den Lesben- und Schwulenverband Deutschlands aus dem letzten Jahr heißt es allerdings:
Die Bundesregierung hält es daher zum jetzigen
Zeitpunkt zunächst für wichtig zu beobachten, wie
die weitere Entwicklung … ({3}). … Über die
Frage der Ratifizierung wird danach zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das ist
nicht besonders konsequent und konsistent. Ich kann uns
alle nur auffordern, bei der anstehenden MRK zu einer
gemeinsamen konsequenten und konsistenten Haltung in
menschenrechtlichen Fragen zurückzukehren.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich kurz etwas zum Thema China und
Waffenembargo sagen.
({0})
Ich erinnere Sie diesbezüglich an unseren Antrag aus
dem letzten Herbst, in dem wir ganz klar gesagt haben,
dass wir als SPD-Bundestagsfraktion an eine eventuelle
Aufhebung des Waffenembargos starke Bedingungen
knüpfen,
({1})
die derzeit nicht erfüllt sind, und darauf hinweisen, dass
es auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit für
die Beibehaltung der geltenden Regelungen, also für das
Embargo, gibt.
({2})
Bei unserer Entscheidung spielen die Menschenrechtssituation in China und der EU-Verhaltenskodex für
Waffenausfuhren eine entscheidende Rolle. Wir sehen
derzeit keine Ratifizierung und Umsetzung des VN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, keinen Fortschritt bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen
im Bereich Menschenrechte und Privateigentum und
keine Stärkung der Autonomierechte für ethnische Minderheiten. Erschwerend kommt hinzu, dass nach dem
Beschluss des Volkskongresses vom Montag keine Rede
mehr von einer friedlichen Streitbeilegung mit Taiwan
sein kann.
Der Bundeskanzler kennt die Position des Bundestages. Ich bin sicher, dass das Bundeskanzleramt seine
Überlegungen zum Waffenembargo im Lichte der neuen
Situation überdenken wird.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hoyer?
Bitte, gern.
Frau Kollegin, worauf stützen Sie denn Ihren Optimismus, wenn der Bundestag am 27. Oktober des letzten
Jahres diese Entscheidung getroffen hat, der Regierungssprecher aber am selben Tage mit Blick auf die Beratung
des Bundestages sagt, die Position des Bundestages sei
dem Bundeskanzler bekannt, es sei aber auch die Position des Bundeskanzlers bekannt und dieser habe nicht
die Absicht, sie zu ändern?
({0})
Ich denke, dass sich die Situation insbesondere durch
den Beschluss des Volkskongresses am Montag entsprechend geändert hat, Herr Kollege.
({0})
Wir sind in der Vergangenheit schon auf die Länderanträge, die heute zur Debatte stehen, eingegangen. Deswegen möchte ich mich im Rahmen dessen, was ich jetzt
vortrage, mit dem 6. EU-Jahresbericht zur Menschenrechtslage aus dem Jahre 2004 beschäftigen. Dort werden die Anstrengungen der EU beschrieben, in den
wichtigsten Bereichen der Menschenrechtspolitik weltweit voranzukommen. Die EU bekennt sich bezüglich
der externen, aber auch der internen Politik seit langem
zur Unteilbarkeit aller Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten. Sie hat sich im abgelaufenen Berichtszeitraum insbesondere mit den Themenbereichen
„Menschenrechte und Terrorismus“, „Rassismus“,
„Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, „Asyl und
Migration“, „Situation von Minderheiten“, „Menschenhandel“, „Rechte des Kindes“ und „Menschenrechte der
Frauen“ befasst.
Frau Kollegin, ich bitte um Nachsicht. Würden Sie
dem Kollegen Pflüger Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Ich glaube, ich habe schon entsprechend geantwortet.
({0})
Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Frage in die gleiche
Richtung geht wie die zuvor, und möchte jetzt meine
Rede zu Ende bringen.
Sehr spannend für mich war der Bereich „Menschenrechte und Wirtschaft“. In ihm wird die soziale Verantwortung von Unternehmen unterstrichen und sehr deutlich gemacht, dass die Wirtschaft weltweit dazu
beitragen kann und muss, den Herausforderungen der
Globalisierung wirksam zu begegnen. Außerdem war
der Themenbereich „Charta der Grundrechte“ interessant. Dort wird zum Beispiel unsere positive Haltung
Angelika Graf ({1})
zum Antidiskriminierungsgesetz in allen Einzelheiten
massiv unterstützt.
Ganz ehrlich, beim Durcharbeiten des Berichts fühlt
man sich in einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits
gibt es durchaus positive Entwicklungen, über die wir
uns wirklich freuen können. In diesem Bericht wird zum
Beispiel Kofi Annan zitiert, der die völlige Abschaffung
der Todesstrafe in 77 Staaten lobt und in Bezug auf
viele weitere Staaten von Moratorien oder De-factoNichtanwendungen spricht. Andererseits relativiert sich
das durch andere Zahlen. So halten 66 Staaten weiterhin
an der Todesstrafe fest. Einige wie der Tschad, der
Kongo, der Libanon oder Afghanistan haben nach Moratorien wieder Hinrichtungen vollstreckt. Im Jahr 2003
seien in 28 Ländern mindestens 1 146 Menschen hingerichtet worden. In 63 Staaten seien mindestens
2 756 Menschen zum Tode verurteilt worden. Die wirklichen Zahlen liegen wahrscheinlich wesentlich höher.
Schätzungen sprechen von 5 600 Hinrichtungen in 2003,
darunter Personen, die unter 18 Jahre alt oder geistig behindert waren.
Der Bericht beschäftigt sich ausführlich mit der Rolle,
die China in dieser Statistik spielt.
Die EU hat auch nachdrücklich das Problem der Todesstrafe in den USA angesprochen. Die Hinrichtung jugendlicher Straftäter spielt hier eine große Rolle. Ich
hoffe, dass die Entscheidung des höchsten US-Gerichts
vom 1. März 2005, die Todesstrafe für Jugendliche als
„verfassungswidrig grausam“ zu verbieten, die Diskussion um die Todesstrafe ganz allgemein anfacht. Tatsache ist nämlich, dass die Anzahl der Vollstreckungen in
den USA in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Ich
finde allerdings in diesem Bericht keine Erwähnung dessen; ich bedauere das sehr.
Sehr begrüßenswert ist für mich, dass der Kampf gegen den Menschenhandel, insbesondere den Frauenhandel, ausführlich im Bericht gewürdigt wird. Der
Menschenhandel, mit dem wir uns auch in diesem Hohen Hause in der letzten Zeit mehrfach beschäftigt haben, zuletzt im Zusammenhang mit der Novellierung des
Strafrechts, ist eine schlimme Menschenrechtsverletzung. Die Umsetzung der im Bericht erwähnten Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die
„Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer von Menschenhandel“ wird wahrscheinlich eine Änderung des
Zuwanderungsgesetzes nötig machen. Den Opfern soll
unter anderem der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu beruflicher und allgemeiner Bildung eröffnet werden. Dies
ist übrigens seit langem eine Forderung der Opferverbände. Ich hoffe, dass Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, im Bundestag Ihrer Empathie für die Opfer gerecht werden.
({2})
Ich freue mich übrigens, dass mit der ehemaligen österreichischen Frauenministerin Helga Konrad eine hoch
kompetente Frau zur Sonderberichterstatterin „Menschenhandel“ ernannt worden ist.
Was wünsche ich mir für den nächsten Bericht?
Einerseits, dass in ihm wieder so ausführlich die Menschenrechtssituation in vielen Problemstaaten beschrieben wird; andererseits aber auch, dass er sich mit der Situation im Inneren der EU stärker befassen möge.
Ein Beispiel: Zwar wird die Situation der Sinti und
Roma an mehreren Stellen angesprochen. Der Tatsache
aber, dass die Gruppe der Roma mit dem EU-Beitritt
vieler osteuropäischer Staaten und mit den Beitrittsvorbereitungen einer Reihe weiterer Staaten als transnationale Minderheit nicht mit anderen Minderheiten in
Europa vergleichbar ist, wird diese Erwähnung nicht gerecht. Derzeit gibt es eine Reihe von europäischen Staaten, die deutlich weniger Einwohner haben, als die
Gruppe der Roma in Europa ausmacht. Menschenrechtsverletzungen an Roma sind jedoch fast in jedem Staat,
insbesondere im Osten Europas, zu verzeichnen; oft haben sie einen rassistischen Hintergrund. Dies soll nur ein
besonders signifikantes Beispiel dafür sein, dass sich ein
Blick nach innen durchaus lohnt.
Man wird durch diesen Blick nach innen auch glaubwürdiger. Im Gespräch mit Politikern aus Ländern, in
denen die Menschenrechte nicht den allerhöchsten Stellenwert haben, habe ich es jedenfalls in der Vergangenheit oft als sehr angenehm empfunden, sagen zu können,
dass unser Menschenrechtsausschuss in Deutschland
eben nicht nur mit dem Finger auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten zeigt, sondern auch die
Entwicklungen im eigenen Land im Auge behält
({3})
und so mit gutem Beispiel und ohne westliche Arroganz,
die man uns ja oft vorwirft, vorangeht. Warum sollen wir
diese positiven Erfahrungen nicht auf die EU übertragen? Ich wünsche mir, dass Sie alle dies unterstützen.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Klaus Rose, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass Sie jetzt so zahlreich gekommen sind, freut
mich, weil das Thema wichtig ist, weil der Redner nicht
unbekannt ist und weil Sie wahrscheinlich lieber in diesem Kreis als im stillen Kämmerlein über das Ergebnis
von Schleswig-Holstein diskutieren.
({0})
Das Hohe Haus hat schon häufig über die Menschenrechte diskutiert. Dies halte ich für gut. Es ist auch der
Bedeutung des Themas angemessen, dass wir heute wieder zeitnah zu der Tagung der Menschenrechtskommission in Genf hier über Menschenrechte reden. Meine
Aufgabe ist es, die Themen nun noch einmal konkret anzusprechen.
Das Thema Menschenrechte wird im Zusammenhang
mit China besonders konkret. Manche von Ihnen haben
es nur gestreift. Gestern haben wir im Auswärtigen Ausschuss darüber beraten, welche neuen Erkenntnisse sich
aus den Beschlüssen des Volkskongresses für die Bundesregierung ergäben. Ich war ein bisschen entsetzt, dass
der Vertreter der Bundesregierung weniger auf die Menschenrechtslage, auf Fehlentwicklungen und Ähnliches
hingewiesen hat, sondern seinen Hauptsatz darin gesehen hat, darauf hinzuweisen, dass es wichtig sei, dass
sich Deutschland in einer strategischen Partnerschaft mit
China befinde. Meine Damen und Herren, ich war nicht
nur verwirrt, sondern enttäuscht und sogar entsetzt. Auf
genaues Nachfragen hat er erklärt, gemeint sei eine wirtschaftliche strategische Partnerschaft.
Aber habe ich nicht vorhin von den Vertretern der rotgrünen Koalition gehört, dass man manchmal auf ein
Geschäft verzichten müsse? Hat man dies nicht auch früher von Fischer gehört? War bei uns allen die Einschätzung nicht gang und gäbe, dass wir in diesen Fragen etwas zurückhaltend sein könnten, wenn es um die
Betonung der Menschenrechte geht?
Am letzten Samstag fand vor dem Brandenburger Tor
aus Anlass eines Jahrestages eine Kundgebung von
Tibetern statt. Dort waren auch Vertreter der politischen
Parteien anwesend: jemand von der FDP, ein Grüner
vom Berliner Abgeordnetenhaus und ich für meine Fraktion. Aber von der SPD habe ich dort niemanden gesehen. Ich halte dies für sehr bedauerlich, weil Sie vor einigen Jahren doch noch ganz anders geredet haben und
weil sich an der Lage der Tibeter in der Zwischenzeit
nichts verbessert hat.
({1})
Von Chinesen wird in Bezug auf religiöse und ethnische
Minderheiten nach wie vor gesagt: Uns steht das Recht
zu, über euch zu urteilen, euch ins Gefängnis zu werfen,
euch, nur weil ihr dem Dalai-Lama die Treue haltet, als
nicht zuverlässig zu betrachten und euch entsprechend
zu verklagen und einzusperren.
({2})
Meine Damen und Herren, wir müssen diese Themen
weiterhin deutlich und öffentlich machen. Wir müssen
das nicht nur mit den Tibetern, sondern auch mit den
Chinesen selbst deutlich ansprechen. Es sind nicht bloß
die Minderheiten innerhalb des chinesischen Volkes,
sondern es sind die Chinesen selbst, die von ihrer eigenen Regierung in Bezug auf die Menschenrechte
schlecht behandelt werden. Ich könnte dazu viele Beispiele bringen, was mir aber von der Zeit her nicht möglich ist.
Vorhin war von den internationalen Unternehmen die
Rede. Schauen Sie sich einmal den Bergbau in China
an. Dort gibt es die verrottetsten Bergwerke und Kohlegruben der Welt. Jedes Jahr werden Tausende von Toten
bewusst in Kauf genommen. Wenn die chinesische Regierung mehr Geld in die Modernisierung des Bergbaus
stecken und damit Menschenleben retten würde, Geld,
das sie jetzt wieder für die Raketen gegen Taiwan zur
Verfügung stellt, würde sie etwas Gutes tun und auch mit
Blick auf die Menschenrechte viel erreichen.
({3})
Diese Dinge wollen wir beim Namen nennen. Der Beschluss des Volkskongresses - so sehr er in den eigenen
Reihen bejubelt werden mag - wird ein Bumerang. In
der gesamten Welt merkt man, dass hier eine Fehlentwicklung stattfindet. Auch wir im Deutschen Bundestag
sollten nicht stillhalten, sondern diese Ergebnisse angreifen. Damit greife ich auch etwas auf, was gesagt wurde,
nämlich dass sich der Bundeskanzler in der Frage des
Waffenembargos jetzt plötzlich umstellt und etwas ernst
nimmt, was das Parlament schon lange will.
({4})
- Da bin ich aber sehr gespannt. Da muss er heute Vormittag einen Schrecken bekommen haben, weil er die
Lage im eigenen Land nicht mehr im Griff hat. Aber ob
er sich in der Frage des Waffenembargos wirklich umstellt, wird sich herausstellen.
Schön wäre es; denn das würde zeigen, dass wir in der
Menschenrechtskommission die richtigen Anträge gestellt haben.
({5})
Dass wir die FDP in ihrer Resolution zu China unterstützen, das möchte ich hier noch einmal betonen. Deshalb
wäre es besser, wir würden auch in diesen Fragen wieder
zu Gemeinsamkeit zurückkehren und im Interesse der
Menschenrechtssituation in allen Ländern der Welt die
richtigen Beschlüsse fassen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/5118 mit dem Titel „61. Tagung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Reform und Normensetzung für einen verbesserten
Menschenrechtsschutz“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das
Erste war nach übereinstimmender Auffassung des Präsidiums die Mehrheit. Damit ist dieser Antrag mit der
Mehrheit des Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 b. Hier geht
es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/5098 mit dem Titel „Die
61. Tagung der VN-Menschenrechtskommission als
Chance zur Reform - Mehr Engagement für Menschenrechte weltweit“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dieser Antrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 8 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über
den EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage,
Drucksache 15/4757. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann
ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/4899. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4397 mit dem
Titel „Nepal - Menschenrechte schützen und Gewalt beenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/3231 mit dem Titel „Einhaltung der Menschenrechte in Nepal“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Mit der Mehrheit der Koalition ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/4898 zu einem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls
zur Europäischen Menschenrechtskonvention“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4405
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 f: Beschlussempfehlung des
gleichen Ausschusses zu dem Antrag der FDP-Fraktion
mit dem Titel „Menschenrechte in der Volksrepublik
China einfordern“ auf Drucksache 15/4402. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition mehrheitlich angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 g: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/5040 zu dem Antrag der CDU/CSUFraktion mit dem Titel „Presse- und Meinungsfreiheit im
Internet weltweit durchsetzen - Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schützen“ auf Drucksache 15/3709. Der Ausschuss empfiehlt,
diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Mit Mehrheit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 h: Hier wird interfraktionell
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4946
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
sieht so aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Gradistanac,
Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk,
Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen
- Drucksachen 15/3211, 15/4553 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Michaela Noll
Klaus Haupt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
({2})
- Es wäre schön, wenn diejenigen, die sich nun wegen
anderer wichtiger Termine an der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt nicht beteiligen können oder wollen,
ihre dringenden Staatsgespräche außerhalb des Plenarsaales fortsetzen würden.
({3})
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Kollegin Gradistanac für die SPD-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Aktionsplan der Bundesregierung zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung wurde beispielhaft umgesetzt,
auch bei mir im Schwarzwald. Die Kampagne „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ hatte das Ziel, das Bewusstsein
dafür zu schaffen, dass jede und jeder etwas gegen
sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen tun kann.
({0})
Das fiel auch in meinem Landkreis Calw auf fruchtbaren
Boden. Auf Initiative eines Arbeitskreises gegen
sexuelle Gewalt und mit vorbildlicher Unterstützung des
Landrats wird eine Anlaufstelle für sexuell ausgebeutete
Kinder aufgebaut. In Zeiten, da bundesweit soziale
Einrichtungen gefährdet sind, freut es mich ganz besonders, wenn es gelingt, Verbündete für dieses Thema zu
gewinnen.
({1})
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe sehr, dass es
auch in Ihrer Heimat solch gute Beispiele gibt.
({2})
Nun also gilt es - das ist das Ziel des Antrags von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen -, den Aktionsplan
stetig weiterzuentwickeln. Die kommerzielle sexuelle
Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist leider
- ich betone: leider - global ein Wachstumsmarkt. Das
kann man nicht nur im Internet beobachten. Ich verweise
hierzu auf die aktuelle Ausgabe der „Vogue Deutschland“ vom März 2005. Schon lange handelt es sich nicht
mehr um ein individuelles Problem einzelner Täter oder
einzelner Ausbeuter von Kindern, es gibt eindeutig
kriminelle Strukturen. Darum fordern wir unsere Bundesregierung eindringlich auf: Sexuelle Ausbeutung von
Kindern und Jugendlichen muss strafrechtlich so verfolgt werden wie Delikte der organisierten Kriminalität.
({3})
Sonderzuständigkeiten, erweiterte Ermittlungsbefugnisse und Zeuginnen- und Zeugenschutzprogramme
könnten dann angewandt werden. Prüfen Sie den Einsatz
weiterer Verbindungsbeamter in den Herkunftsländern
der Kinder und setzen Sie das dann auch bitte durch!
Das Auswärtige Amt muss zu diesem Thema dauerhaft Aus- und Fortbildung betreiben.
({4})
Es gilt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Auslandsvertretungen zu sensibilisieren und eine entsprechende Handreichung für den Einsatz zu entwickeln.
Wir gehen davon aus, dass die Not der sexuell ausgebeuteten Kinder in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes
Eingang finden wird
({5})
und dass auch die Erkenntnisse der NGOs einbezogen
werden. Weltweit muss es einfach selbstverständlich
sein, dass das Kindeswohl Vorrang hat.
({6})
Die internationale Tourismuswirtschaft hat sich in
einem Verhaltenskodex zu ihrer Sozialverantwortung
bekannt. Ich gehe davon aus, dass sich auch die deutsche
Tourismuswirtschaft, die weltweit Marktführer ist, ihrer
Verantwortung bewusst ist. Umso erstaunlicher ist es,
dass sich kein Vertreter der deutschen Tourismuswirtschaft an einer Podiumsdiskussion anlässlich der internationalen Messe „Reisepavillon“ im Februar 2005 beteiligt hat. Einspringen musste der Präsident des
Österreichischen Vereins für Touristik. Er vertrat auf
dem Podium die Auffassung, dass ein verantwortungsbewusster Tourismus ohne Ethik mittelfristig nicht vorstellbar sei.
Die in den Chefetagen der Tourismuswirtschaft weit
verbreitete Meinung, dass der engagierte Einsatz gegen
die Ausbeutung von Kindern das Image schädige, ist
nicht nur widerlegbar, sondern auch hasenfüßig. Sabine
Minninger hat in einer beachtenswerten Diplomarbeit,
die nicht den Anspruch erhebt, repräsentativ zu sein,
festgestellt, dass fast drei Viertel der Befragten bei der
Buchung einer Reise einen Veranstalter bevorzugen würden, der sich für den Schutz von Kindern einsetzt.
96 Prozent aller Befragten, so hat sie recherchiert, sind
der Meinung, dass die Tourismusbranche Reisende über
das Problem informieren sollte. Tourism Watch und die
Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen stellen in
der aktuellen - repräsentativen - Reiseanalyse 2005 fest:
39 Prozent der Befragten wünschen sich: Ja, die Reisebranche sollte mehr für den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung durch Touristen tun.
({7})
Abschließend danke ich an dieser Stelle allen, die sich
unermüdlich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung einsetzen - national wie
international; das ist eine schwere Arbeit.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Angela Schmid, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kinder sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Sie bedürfen daher unseres besonderen Schutzes.
Gleichwohl ist in den vergangenen Jahren eine Reihe
von schweren Sexualtaten bekannt geworden, die uns
alle schockierten.
Zu den abscheulichsten dieser Verbrechen gehört der
sexuelle Missbrauch von Kindern. Allein im Jahr 2002
hat die Polizei rund 16 000 Kinder als Opfer sexuellen
Missbrauchs registriert. Die Dunkelziffer liegt nach Einschätzung von Fachleuten um ein Vielfaches höher.
Demnach sollen in Deutschland schätzungsweise
200 000 Kinder missbraucht werden. Diese Zahlen machen deutlich, dass das, was wir bisher getan haben,
nicht ausreichend war. Sie zwingen uns weiterhin zum
Handeln.
({0})
Mit dem vorliegenden Antrag wird eine umfassende
Strategie zur wirkungsvollen und nachhaltigen Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder gefordert. Ich
denke, in dieser Zielsetzung sind wir uns alle einig.
Auch wir wollen den strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern und weiterentwickeln,
Prävention und Opferschutz stärken, die Hilfs- und Betreuungsangebote vernetzen und die internationale Zusammenarbeit fördern.
Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Legislaturperiode den Antrag „Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern“ eingebracht, der
sehr viele konkrete Forderungen enthält. Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, haben ihn seinerzeit leider abgelehnt, weil er in vielen Punkten überholt sei.
({1})
Umso erstaunlicher ist es, dass jetzt, zweieinhalb Jahre
später, inhaltlich fast genau die gleichen Forderungen
wieder aufs Papier gebracht wurden.
({2})
Allerdings sind die Forderungen in Ihrem Antrag sehr
vage und allgemein.
({3})
Konkrete gesetzliche Regelungen werden nicht gefordert.
({4})
- Frau Deligöz, in vielen Bereichen bleiben Sie mit Ihrem Antrag hinter unseren Forderungen zurück. Ich will
dies an einigen Beispielen verdeutlichen.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein durch
nichts zu rechtfertigendes Verbrechen. Das stellt auch
die Bundesregierung in ihrem „Nationalen Aktionsplan
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung“ fest.
({5})
So selbstverständlich diese Erkenntnis auch ist, so wenig
hat sie bislang Eingang ins deutsche Strafgesetzbuch
gefunden. Auch nach der neuesten Reform des Sexualstrafrechts durch die Bundesregierung ist der sexuelle
Missbrauch von Kindern nur ein Vergehen. Die Fraktion
von CDU und CSU fordert seit langem, hier ein eindeutiges Zeichen zu setzen, um diese Taten der schlimmsten
Art endlich als ein Verbrechen zu brandmarken.
({6})
- Genau, das haben wir auch in unserem Jugendschutzantrag dargelegt.
Die Verwerflichkeit dieser Gewalttaten muss im
Strafmaß deutlich zum Ausdruck kommen. Die angedrohten Strafen bei sexuellem Missbrauch von Kindern
sind daher nochmals zu verschärfen, und zwar dahin gehend, dass nach deutschem Recht auch der Versuch eines
solchen Missbrauchs an Kindern strafbar ist.
({7})
Zudem besteht ein wesentliches Defizit der geltenden
Rechtslage darin, dass Taten, mit denen pädophile Personen Kontakte mit Kindern knüpfen können, nicht zureichend erfasst werden. So genannte Chaträume oder ähnliche Einrichtungen bieten für interessierte Personen ein
weltweites Forum zur Planung und Verabredung dieser
Straftaten. Mit unserem „Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten“ haben wir gefordert, dass sowohl der sexuelle Missbrauch als auch
schon die Anbahnung von solchen Kontakten als Verbrechen eingestuft werden. Das haben Sie bis heute jedoch
abgelehnt. Insofern sind Ihre Strafverschärfungen im Sexualstrafrecht wohl eher als halbherzig zu bezeichnen.
({8})
Auch die DNA-Analyse wird im Strafverfahren künftig nicht so konsequent wie möglich und nötig genutzt.
So kann beispielsweise einem Exhibitionisten der genetische Fingerabdruck weiterhin nicht abverlangt werden,
selbst wenn zu befürchten ist, dass der Betreffende künftig schwerwiegendere Straftaten verübt.
({9})
- Sie kommen doch auch aus Stuttgart, Herr Tauss. Informieren Sie sich einmal vor Ort. Es ist überhaupt kein
Problem, das statistisch nachzuweisen.
({10})
- So ist es. - Es ist bewiesen, dass solche vermeintlich
harmlosen Straftaten oft der Einstieg in eine Täterkarriere sind.
({11})
Ebenso haben wir seit 2001 die nachträgliche Sicherungsverwahrung gefordert, gegen die sich Ihre Koalition immer ausgesprochen hat. Unser Ziel war es, eine
Handhabe gegen solche Sexualstraftäter zu schaffen, bei
denen die Gefahr weiterer schwerer Straftaten erst während des Strafvollzugs festgestellt wird. Erst durch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr
2004 hat sich die Regierungskoalition bewegt. So haben
Sie unnötig viel Zeit verloren.
Ich möchte noch eine weitere kritische Äußerung zum
Opferschutz machen. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag
unter anderem auf die massiv traumatisierten Kinder, die
häufig nicht in der Lage sind, eigene Interessen und Bedürfnisse wahrzunehmen. Ihr Antrag zielt darauf ab, sexuell missbrauchte Kinder nicht nur als Subjekt des Geschehens anzuerkennen, sondern auch durch Institutionen zu
schützen und aufzufangen. Wenn dem aber so ist, dann
sei an dieser Stelle die Frage gestattet, warum Sie unserer Forderung, das Mainzer Modell im Strafverfahren
einzuführen, nicht gefolgt sind.
({12})
Befragungen von Opferzeugen zeigen, dass mehr als
die Hälfte der Zeugen die Auswirkungen eines Prozesses
als negativ empfinden. Sie leiden noch Monate nach der
Tat unter einer Schwächung ihres Selbstwertgefühls und
nehmen sich in der Prozesssituation als schwach und unsicher wahr. Für die Kinderopfer muss eine solche Prozesssituation noch weit schlimmer sein. Unser Anliegen
war es, kindliche Opfer von Sexualverbrechen in einem
gesonderten Raum durch den Vorsitzenden vernehmen
zu können. Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag
hätte ein deutliches Signal für mehr kindlichen Opferschutz im Strafverfahren bedeutet.
({13})
Wir alle wissen: Für die Opfer hat der Missbrauch
schwerwiegende Folgen für Körper und Seele. Sie leiden
meist ein Leben lang unter den Folgen des ihnen zugefügten Leids. Das Strickmuster ist dabei immer gleich:
Die Täter setzen die Opfer mit Drohungen unter Geheimhaltungsdruck und haben so die Möglichkeit, den
Missbrauch oftmals über Jahre hinweg unentdeckt fortzuführen. Sexueller Missbrauch ist in den seltensten Fällen ein einmaliges Verbrechen. Aus diesem Grunde sind
Kinder- und Jugendtelefone als erste Anlaufstelle für
die Opfer sexueller Gewalt besonders wichtig.
({14})
Derzeit gibt es bundesweit 95 solcher Kinder- und
Jugendtelefone. Seit 1998 sind lediglich 15 neue hinzugekommen. Wir müssen den Ausbau von solchen Betreuungs- und Beratungsangeboten in Deutschland unbedingt vorantreiben.
Kinder werden von Deutschen jedoch nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland sexuell missbraucht.
Nach Schätzungen von Terre des hommes beträgt die
Zahl der deutschen Sextouristen jährlich circa 10 000.
Kindersextouristen nutzen die Existenznöte der Kinder
und ihrer Familien skrupellos aus. Ein besonders wichtiger Aspekt bei der Bekämpfung von Sextourismus und
Kinderprostitution ist daher die stärkere und langfristigere Beteiligung der Reisebranche an Präventionsaktionen und Informationskampagnen. Wir begrüßen es daher
sehr, dass der Deutsche Reisebüro- und Reiseveranstalter-Verband und verschiedene andere Organisationen einen Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung vereinbart haben. Die Umsetzung
dieses Verhaltenskodexes muss unbedingt weiter vorangebracht werden. Sie haben hier unsere volle Unterstützung.
({15})
Sexueller Missbrauch von Kindern wird zunehmend
zu einem grenzüberschreitenden Problem. Dieser Antrag
geht deshalb in die richtige Richtung. Ein wirksamer
Schutz ist nur durch internationale Zusammenarbeit aller
beteiligten Länder möglich.
({16})
Ich darf insoweit erneut auf unseren Antrag „Gegen
die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern“ aus der letzten Legislaturperiode verweisen. Auch
er sah vor, die Ausbeutung von Kindern im internationalen Rahmen zu bekämpfen. Leider haben Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, diesen Antrag
abgelehnt.
Festzuhalten bleibt: Der vorliegende Antrag ist ein
gutes Signal. Er geht in die richtige Richtung, aber er
bleibt in vielen Bereichen hinter unseren Forderungen
zurück.
Danke schön.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten und haben eigene Rechte. Sie brauchen unseren Schutz und unsere Unterstützung; denn sie sollen in dieser Gesellschaft
ohne Gewalt und ohne sexuelle Übergriffe aufwachsen
können. Deshalb haben wir, Rot-Grün, das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert und deshalb haben wir ein Leitbild der Erziehung formuliert, wonach
seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen in diesem Land unzulässig sind. Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
haben wir von Ihrer Fraktion keine Unterstützung dafür
bekommen. Das bedauere ich heute noch.
({0})
Das Schlimme ist, dass wir immer wieder betonen
müssen: Erziehung in diesem Land mag Elternsache
sein, aber Gewalt ist es nicht. Gewalt, egal wie und woher, verletzt die Würde des Kindes.
Das Schlimme an dem sexuellen Missbrauch ist, dass
ein Großteil der Täter aus dem unmittelbaren Nahbereich des Kindes kommt. Manche Statistiken sprechen
davon, dass 90 Prozent der Täter aus dem Bereich der
Verwandten, der Freunde und der vertrauten Menschen
aus dem unmittelbaren Nahbereich kommen. Unsere
Antwort darauf muss sein, dass wir Kinder stark machen
({1})
und Erwachsene sensibel und aufmerksam machen, damit sexuelle Gewalt von Anfang an keine Chance hat.
Wir wissen, dass laut Statistik 15 000 Fälle jährlich erfasst werden. Wir wissen aber gleichzeitig, dass die
Dunkelziffer in diesem Land um einiges höher ist als
diese 15 000 Fälle.
Diese Kinder leiden meist ein Leben lang unter traumatischen Folgen. Die Mädchen und Jungen fühlen sich
schuldig, sie schämen sich für das Geschehen und wollen vielleicht sogar ihre Verwandten, Freunde, Brüder,
Geschwister und Väter schützen. Der Geheimhaltungsdruck ist eine ständige Belastung. Die Kinder sind eingeschüchtert durch Drohungen, sie haben Angst und sie leben in Unsicherheit, dass das immer wieder passiert. Von
einer unbeschwerten Kindheit kann keine Rede sein. Sie
können vor allem kein Vertrauen fassen.
Gerade deshalb müssen wir alles tun, um unsere Kinder davor zu schützen. Gerade deshalb brauchen diese
Opfer Hilfe und Unterstützung. Das Kindeswohl muss
für uns bei allem, was wir tun, Vorrang haben.
Wir müssen auch die Täter konsequent verfolgen und
bestrafen.
({2})
Aber, Frau Kollegin Schmid, an dieser Stelle muss ich
sagen: Wir müssen die Strafgesetze konsequent anwenden. Glauben Sie aber, dass man durch die Verschärfung des bestehenden Strafrechts - Kindesmissbrauch
ist eine Straftat in Deutschland - ein einziges Kind vor
Missbrauch schützt oder vor einem sexuellen Übergriff
rettet?
({3})
Ist das die Antwort? Ich sage Nein. Wir müssen auf unsere Kinder setzen und unsere Kinder stark machen.
({4})
Wir müssen präventiv herangehen und niedrigschwellige Angebote unterbreiten. Strafrecht allein ist mir zu
wenig. Das ist mir nicht weitreichend genug.
({5})
Die Übergriffe dürfen erst gar nicht stattfinden. Ich will
sie nicht verfolgen, sondern ich will, dass sie überhaupt
nicht stattfinden.
({6})
Es geht um Prävention, um Intervention und darum, Kinder in dieser Gesellschaft aufzuklären. Es geht auch um
die Multiplikatoren, die Polizei und die Justiz, Tourismus, Eltern und Kinder, um die Nachbarschaft, Freunde,
Lehrer und Erzieher. Es geht darum, dass wir in unserer
Gesellschaft füreinander Verantwortung übernehmen.
Deshalb fordern wir die niedrigschwelligen Angebote
wie Kinder- und Jugendtelefone. Wir wollen ein Informationszentrum zu Kindesmissbrauch. Wir wissen, dass
wir relativ wenig wissen, und deshalb wollen wir mehr
wissen, auch über die Täter, um unsere Kinder möglichst
gut vor ihnen zu schützen. Wir wollen regionale Netzwerke, die es schon gibt. Meine Kollegin hat ein Beispiel
genannt.
Einen Punkt haben wir schon konsequent umgesetzt,
nämlich den Rahmenbeschluss Menschenhandel. Die
entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches sind
mittlerweile erarbeitet worden und am 19. Februar dieses Jahres in Kraft getreten. Denn wir nehmen das
Thema ernst und wollen Kinder und Jugendliche besser
vor sexueller Ausbeutung schützen.
({7})
Die Familie sollte für alle Kinder ein Ort der Vertrautheit sein. Unsere Kinder sollten in dieser Gesellschaft
selbstbewusst aufwachsen können. Es geht darum, ihnen
Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Ich glaube, das Thema sollte
nicht nach parteipolitischen Interessen behandelt werden.
({8})
Ich wünschte mir, dass Sie heute den Mut aufbringen,
unserem Antrag zuzustimmen, statt lediglich festzustellen - auch wenn es gut gemeint ist -, dass nicht nur hinsichtlich der Ideologie eines verschärften Strafrechts,
sondern auch für die Kinder etwas getan werden muss.
({9})
Es geht um unsere Kinder.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, wir sind uns darin einig, dass sexueller Missbrauch von Kindern zu den abscheulichsten Verbrechen
gehört. Gegen die Scheußlichkeit solcher Untaten muss
alles Erdenkliche getan werden, um Kinder vor unvorstellbarer Erniedrigung, Demütigung und Qual zu bewahren.
({0})
In Deutschland - Frau Kollegin Schmid hat schon
darauf hingewiesen - werden laut Polizeilicher Kriminalstatistik jährlich etwa 20 000 Kinder Opfer sexueller
Übergriffe. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs; die
Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Nach repräsentativen Erhebungen sind 8,6 Prozent der Mädchen und
2,8 Prozent der Jungen im Laufe ihres Lebens Opfer
sexueller Übergriffe geworden.
Ein Großteil dieser Taten kommt nicht zur Anzeige.
Zugleich ist das Engagement gegen diese Taten stark auf
die bekannten, rechtskräftig verurteilten Straftäter fokussiert. Damit bleibt ein Großteil des Problems verborgen,
ungelöst und ungesühnt.
Bekämpfungsstrategien können nur dann nachhaltig
wirksam sein, wenn sie auf Zivilcourage setzen und das
in unserer Gesellschaft leider übliche Wegschauen ein
Ende hat. Dazu kann und muss die Politik einen wichtigen Beitrag leisten.
Wichtige politische Aufgaben sind unter anderem:
präventive Maßnahmen auszubauen und einzubetten in
ein Netz ausreichender Hilfsangebote - das heißt die
stärkere Verzahnung von Prävention und Intervention -;
({1})
den Opferschutz und Zeugenschutz für Kinder im Strafverfahren zu verbessern und auch deren Familien einzubeziehen; die Möglichkeit der Opferhilfe für die Kinder
zu verbessern sowie effektivere opfer- und täterbezogene Präventionsmaßnahmen zu realisieren. Ich glaube,
wir sind uns auch darin einig, das besondere Informationsmaßnahmen zur weiteren Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit über sexuellen Missbrauch, sein Wesen und seine verheerenden Folgen wichtig sind.
Viele Missbrauchsfälle könnten verhindert werden,
wenn sexuelle Übergriffe nicht übersehen oder bagatellisiert, sondern wahrgenommen und angezeigt werden.
({2})
Dazu gehört auch die altersgerechte Aufklärung der
Kinder über die Gefahren sexueller Ausbeutung. Im
Rahmen der Lehrpläne an den Schulen muss über die
Gefahren des Missbrauchs, aber auch über die Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, aufgeklärt werden. Von
zentraler Bedeutung ist auch die Verbesserung der Ausund Weiterbildung derjenigen, die beruflich mit Kindern
zu tun haben, damit diese Personen Fälle von sexueller
Ausbeutung erkennen und rechtzeitig die notwendigen
Maßnahmen ergreifen können.
Es ist zu begrüßen, dass vorgestern 60 Reiseveranstalter in Tokio einen von UNICEF ausgearbeiteten
Verhaltenskodex gegen die sexuelle Ausbeutung von
Kindern unterzeichnet haben. Der Kindersextourismus
erfordert eine besondere, ressortübergreifende Bekämpfungsstrategie, die zudem auch die unterschiedlichen
Länder und Regionen einbezieht. Auch diese Bekämpfungsstrategie muss sowohl den Täterbereich als auch
den Opferbereich berücksichtigen. Abschreckung und
Strafe, aber auch Prävention, Information und Hilfe sind
hier notwendig.
Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch fügen
Kindern schwersten Schaden an Leib und Seele zu. Die
seelischen und womöglich auch die körperlichen Narben
bleiben lebenslang bestehen. Das Grundvertrauen der
betroffenen Kinder in andere Menschen wird zerstört.
Es ist eine Herausforderung an die ganze Gesellschaft, diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein
Ende zu setzen.
Danke.
({3})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die
Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Erwachsene sind für das Wohlergehen der Kinder in unserer Gesellschaft verantwortlich. Wir wollen - zumindest haben wir das in unserer Gesellschaft gemeinsam
beschlossen -, dass sie unbeschadet aufwachsen können.
Wir wollen sie vor Unheil schützen.
Eine besonders abscheuliche Form des Unheils sind
die sexuelle Gewalt und Ausbeutung. Es handelt sich dabei nicht um eine Naturgewalt, gegen die man machtlos
ist, oder ein Kavaliersdelikt, das man sich verzeiht. Nein,
sexuelle Gewalt und Ausbeutung fügen Kindern die
schlimmsten Verletzungen zu.
({0})
Sie sind bewusst geplant und sorgfältig vorbereitet. Zwei
Drittel der überwiegend männlichen Täter kommt aus
dem sozialen Umfeld. Es sind Verwandte und Bekannte,
also Väter, Stiefväter, Brüder, Onkel und Opas. Für die
betroffenen Kinder ist es extrem schlimm, genau dort
damit umgehen zu müssen. Die Opfer, die Kinder, haben
meistens unter schwerwiegenden seelischen und körperlichen Folgen zu leiden. Nicht wenige haben ihr Leben
lang daran zu tragen und werden es nicht los.
Mein Kollege Haupt hat schon gesagt, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik 2003 rund 20 000 angezeigte
Delikte ausweist, bei denen es um Kinder als Opfer sexueller Übergriffe geht. Wir wissen aber, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Deshalb ist es Aufgabe aller hier, nicht nur der Kinderpolitikerinnen und
Kinderpolitiker, und draußen in der Gesellschaft - ich
würde mich sehr freuen, wenn sich die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition entschließen könnten, unseren Antrag zu unterstützen -, sexuelle Gewalt und
Ausbeutung durch eine umfassende Strategie zu bekämpfen. Genauso versteht sich unser Antrag. Er sieht
eine Gesamtstrategie gegen sexuelle Gewalt und Ausbeutung vor.
({1})
Wir haben in den letzten Jahren Erfolge verzeichnen
können. Wir haben auch an den Konferenzen in Stockholm und Yokohama aktiv teilgenommen. Wir haben
zwei Aktionsprogramme umgesetzt, das letzte 2003, den
Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
vor sexueller Gewalt. Darauf bezieht sich unser gemeinsamer Antrag.
({2})
Der Aktionsplan umfasst vier Felder. Das eine ist der
strafrechtliche Teil. Im Strafrecht haben wir reformiert.
Marlene Rupprecht ({3})
Es ist daher unfair, zu sagen, dort sei nichts geschehen.
Aber es spiegelte eine nicht vorhandene Sicherheit vor,
wenn wir die Strafen zunehmend verschärften.
({4})
Denn wenn es stimmte, dass schärfere Strafen helfen,
dann dürfte in den USA keine einzige Straftat in diesem
Bereich passieren. Dort gilt nämlich die Todesstrafe, das
heißt, die Straftat ist mit der Höchststrafe bewehrt.
Wir bekennen uns in der EU dazu, dass wir die Todesstrafe nicht wollen. Aber auch die Todesstrafe kann nicht
verhindern, dass jemand zum Straftäter wird und eine
solche Straftat begeht. Deshalb ist es wichtig, dort, wo es
notwendig ist, Strafverschärfungen vorzunehmen - das
haben wir getan - und alle anderen Bedingungen zu verbessern: Opferschutz, Prävention, die Effektivierung der
internationalen Zusammenarbeit und Strafverfolgung sowie die Vernetzung aller, die mit Kindern arbeiten und
zum Schutz der Kinder da sind. Das muss unser Anliegen sein.
({5})
Ich will, dass solche Taten erst gar nicht geschehen.
Ich will, dass sie so weit wie möglich verhindert werden.
Dazu hat die Kampagne „Hinsehen. Handeln. Helfen!“
im letzten Jahr beigetragen. Mit dieser Kampagne haben
wir versucht, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren. Ich denke, das ist gelungen. Auch der Ratgeber „Mutig fragen - besonnen handeln“ geht genau darauf ein.
Ich will noch auf die grenzüberschreitende sexuelle
Gewalt gegen Kinder eingehen, Stichwort: deutschtschechische Grenze. Das Thema Opfer ist hoch sensibel, weil es sich bei den Opfern häufig um Minderheiten
in diesem Land handelt. Aber wir vergessen dabei, die
Täter unter die Lupe zu nehmen. Unser Blick ist sehr
häufig zu opferzentriert. Wir brauchen die optimale Zusammenarbeit. Dafür hat sich bereits 2002 eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen gebildet. Es ist äußerst schwierig und sensibel, für
eine Verbesserung zu sorgen. Dabei spielen die für die
Polizei zuständigen Länder und der Bundesgrenzschutz
eine wichtige Rolle. Sie alle versuchen gemeinsam, die
Täter zu verfolgen. Die jetzige Rechtslage erlaubt bereits, die Täter da zu verfolgen, wo sie wohnen.
({6})
Wir haben bereits Maßnahmen ergriffen. Bei einigen
Maßnahmen sind wir dabei, sie umzusetzen. Ich erinnere
an die Bund/Länder-Koordinierungsgruppe zur Umsetzung des nationalen Aktionsplans - als Kinderbeauftragte bzw. als Mitglied der Kinderkommission gehöre
ich ihr an -; auch sie trägt dazu bei, dass auf diesem Gebiet ständig weitergearbeitet wird.
Wir waren uns einig - das haben alle Redebeiträge
gezeigt -: Sexuelle Gewalt muss grundsätzlich gesellschaftlich geächtet sein. Da gibt es keine Toleranzzone,
keine Grauzone, die offen lässt, was noch erlaubt ist und
was nicht. Gesetze können nur Krücken sein. Noch immer erleben zu viele Kinder sexuelle Gewalt. Aber Kinder haben ein Recht, ohne Gewalt und ohne Missbrauch
aufwachsen zu können. Wir haben ihre eigenständige
Persönlichkeit und Würde zu respektieren. Das sage ich
als Kinderbeauftragte, die sich eigentlich längst mit Seniorenpolitik beschäftigen müsste. Es kann in diesem
Parlament und außerhalb von ihm nämlich niemals zu
viele Menschen geben, die sich mit Kinderbelangen und
vor allem mit dem Schutz von Kindern beschäftigen.
Ich rufe Sie alle auf: Machen Sie mit! Das Wertvollste, was wir haben, sind unsere Kinder. Die Weltkonferenz in New York hat festgestellt: Kinder sind die Gegenwart, nicht erst die Zukunft. Wir müssen dafür
sorgen, dass sie gut aufwachsen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 15/4553 zum Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt
und Ausbeutung schützen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/3211 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Rachel, Dr. Maria Böhmer, Hubert Hüppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Forschungsförderung der Europäischen Union
unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten
- Drucksache 15/4934 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hierüber soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbe Stunde diskutiert werden. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Male diskutieren wir im
Deutschen Bundestag das Thema der embryonalen
Stammzellforschung. Bereits im Jahr 2002 wurde ein
wegweisender Beschluss gefasst. Dieser über Fraktionsgrenzen hinaus getroffene Beschluss war eine bioethische Richtungsentscheidung. Der Bundestag hat
eindeutig festgestellt, dass die Zerstörung eines Embryos
zur Herstellung embryonaler Stammzellen gegen die
Menschenwürde des Embryos und dessen Recht auf
Leben verstößt. Daher wurde die Förderfähigkeit von
Projekten der Stammzellforschung auf bestehende
Stammzelllinien beschränkt, die bereits vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden.
Diese Entscheidung des Bundestages hatte auch Auswirkungen auf die Europäische Union, denn auf Bitten
mehrerer EU-Staaten hat die EU ein Moratorium beschlossen, demzufolge bis zum Ende des Jahres 2003
keine Vorhaben finanziert werden, bei denen menschliche Embryonen verwendet werden sollen.
Darüber hinaus hat der Bundestag im Oktober 2003
an die EU-Kommission appelliert, auch nach 2003 von
der Förderung verbrauchender Embryonenforschung
Abstand zu nehmen. Leider sind die entsprechenden
Verhandlungen auf EU-Ebene über eine mögliche Verlängerung dieses Moratoriums gescheitert. Der Bundesregierung ist es bislang nicht gelungen, auf EU-Ebene
eine Lösung zu erwirken, die der deutschen Rechtslage
entspricht und die die Menschenwürde der Embryos respektiert.
Nach dem Abbruch der Verhandlungen auf EU-Ebene
ist jetzt zu befürchten, dass im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm, welches ab 2007 gelten soll, keine
Restriktionen mehr für die Finanzierung von verbrauchender Embryonenforschung vorgesehen sein werden.
Dies ist eine Entwicklung, die wir nicht widerspruchslos
hinnehmen dürfen.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn in manchen Mitgliedstaaten der EU andere Regelungen als bei
uns gelten, so besteht in Deutschland kein Bedarf an einer Revidierung der Entscheidung von 2002. Die Umstände haben sich nicht geändert, die ethische Bewertung eines Embryos in Deutschland war nicht von der
Entwicklung der Gesetzgebung in den Nachbarländern
abhängig und darf es auch nicht werden. Daher muss
sich der Deutsche Bundestag strikt dagegen wenden,
dass zukünftig Forschungsvorhaben der Stammzellforschung mit europäischen und damit letztlich auch deutschen Mitteln gefördert werden, zumal wenn dieser Forschungsweg nach deutschem Recht sogar eine Straftat
darstellt.
Die gemeinsame Forschungsförderung ist ein Eckpfeiler der Zusammenarbeit in Europa und unverzichtbar
für Innovation und wirtschaftliche Entwicklung in der
EU. Sie muss daher auch im Bereich der Bioethik im
Einklang mit den grundlegenden Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten stehen. Hier gibt es den Mehrheitsbeschluss des Deutschen Bundestages, dass verbrauchende Embryonenforschung gegen das Recht des
Embryos auf Leben verstößt und eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens darstellt, die eben von Forschungszwecken nicht mehr gedeckt ist.
({1})
Es kann für eine breite Unterstützung und Akzeptanz der
dringend nötigen Forschungsprogramme der EU deshalb
nur schädlich sein, wenn diese am Maßstab des Grundgesetzes getroffene Werteentscheidung nicht respektiert
würde. Wir fordern daher die Bundesregierung nachdrücklich auf, in den Verhandlungen auf EU-Ebene
dafür zu sorgen, dass sich dieser Respekt für das
menschliche Leben in den Richtlinien des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms niederschlägt.
({2})
Der Beschluss des Bundestages vom Januar 2002 hat
konkrete Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt. Demnach dürfen nur die Forschungsvorhaben gefördert werden, die bereits zu einem festen Stichtag existierten.
Auch in anderen Ländern wie den USA haben sich entsprechende Stichtagsregelungen bewährt. Sie haben
auch die notwendige Grundlagenforschung in Deutschland nicht beschädigt. Auch auf europäischer Ebene dürfen entsprechend dem heute vorliegenden Antrag der
CDU/CSU nur Forschungsvorhaben mit Stammzelllinien gefördert werden, die bereits zu einem festen Stichtag existierten.
({3})
Das heißt, es könnte auch ein Stichtag sein, auf den sich
die Länder der Europäischen Union einigen. Es ist auf
jeden Fall ethisch nicht vertretbar, ab 2007 Projekte zu
fördern, für die menschliche Embryonen getötet werden.
({4})
Natürlich beinhaltet unsere Forderung nicht, dass wir
als Bundesrepublik Deutschland anderen Ländern unsere
Regelungen vorschreiben wollen.
({5})
Natürlich können die im nationalen Rahmen ihre eigenen
Entscheidungen treffen. Im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU, welches die ethischen und verfassungsmäßigen Grundsätze aller Mitgliedstaaten berücksichtigen muss, ist jedoch eine Begrenzung unverzichtbar. Im
Übrigen ist es auch eine Frage der Chancengleichheit,
dass Forschungsarbeiten im Bereich der Biomedizin
nicht von der EU gefördert werden, sofern sich einzelne
Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Rechtsordnung nicht an
ihnen beteiligen können.
Das Europaparlament hat sich übrigens gerade in diesen Tagen mit einer Mehrheit von 307 zu 199 Stimmen
gegen die Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung aus dem europäischen Haushalt ausgesprochen. Das entspricht genau unserem Antrag und dafür
setzen wir als CDU/CSU uns ein. Nach Meinung des Europäischen Parlaments sollten die EU-Mittel stattdessen
auf viel versprechende Alternativen umgelenkt werden,
nämlich auf die adulte Stammzellforschung und auf die
Stammzellforschung im Bereich des Nabelschnurblutes.
Das ist genau der richtige Ansatz, den wir nachdrücklich
unterstützen.
Sehr geehrte Damen und Herren, das Konzept des
7. EU-Forschungsrahmenprogramms liegt in seinen konkreten Ausführungen noch nicht auf dem Tisch. Das bietet uns die Chance - und wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Zeit nutzt -, dass wir uns
gemeinsam mit den anderen Staaten der EU, die die verbrauchende Embryonenforschung ablehnen, aktiv darum
bemühen, deren Förderung im EU-Forschungsrahmenprogramm zu verhindern. Eine Änderung des Stammzellkompromisses, wie er hier im Deutschen Bundestag
beschlossen worden ist, praktisch durch die Hintertür
über die EU ist nicht akzeptabel und wird von uns abgelehnt.
({6})
Meine Damen und Herren, das ist - das sage ich auch an
die hier zahlreich vertretenen Mitglieder der deutschen
Bundesregierung; man sieht daran, welchen Stellenwert
dieses Thema hat ({7})
nicht nur eine Frage des Embryonenschutzes, sondern es
geht auch darum, den erklärten Willen des Parlaments
zu respektieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege René Röspel, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Januar 2002 - Herr Rachel erwähnte es eingangs - gab es im Deutschen Bundestag eine sehr große
fünfstündige Debatte über die Frage, ob an embryonalen
Stammzellen und an Embryonen in Deutschland geforscht werden soll. Ein Journalist hat diese Debatte damals - wie ich glaube, zu Recht - als Sternstunde des
Parlaments bezeichnet. Es standen damals drei unterschiedliche Anträge zur Wahl und die Mehrheit des
Deutschen Bundestages hat sich dafür entschieden, dass,
wie Margot von Renesse es einmal ausdrückte, für deutsche Forschung kein Embryo sterben solle. Es wurde
letztlich ein Kompromiss beschlossen, der im April 2002
im Stammzellimportgesetz seinen Ausdruck fand. Danach darf in Deutschland an embryonalen Stammzellen, die zu einem bestimmten Stichtag schon hergestellt waren, für die also kein neuer Embryo zerstört
werden musste, geforscht werden. Die deutsche Rechtsund Gesetzeslage war damit seit dem Jahr 2002 klar.
Anders ist es auf europäischer Ebene. Dort gibt es das
6. EU-Forschungsrahmenprogramm - ein gutes Programm. Als zentrales Instrument europäischer Forschungsförderung sieht es die Zentralisierung, die Bündelung von Forschungsaktivitäten in Europa vor. Das ist
sinnvoll und vernünftig. Allerdings enthält dieses Programm aus Sicht der Mehrheit des Bundestages auch das
Problem, dass mit diesen europäischen Mitteln eben
auch embryonale Stammzellforschung gefördert werden
kann und soll. Das hieße in der Konsequenz, dass mit
Geld, das unter anderem auch aus Deutschland stammt,
auf europäischer Ebene Projekte gefördert werden dürften, die nach deutscher Rechtslage nicht erlaubt, ja sogar
strafbar wären.
Wir haben deshalb im Januar 2002 gleichzeitig auch
beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, darauf
hinzuwirken - ich darf zitieren -,
dass auch auf europäischer Ebene bei den Forschungsprojekten eine Beschränkung auf bestehende Stammzelllinien vorgenommen wird. Sie
wird aufgefordert, entsprechende Regeln für die
Stammzellforschung aus Mitteln der Europäischen
Union durchzusetzen.
Die Bundesregierung hat diesen Auftrag angenommen,
übrigens als einziges Land in der Europäischen Union,
und hat ihn sehr erfolgreich umgesetzt.
({0})
Ich will auch deutlich machen, dass der ehemalige
Parlamentarische Staatssekretär und jetzige Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen großes Verhandlungsgeschick bewiesen hat und auch erfolgreich war.
({1})
Er hat es nämlich geschafft, innerhalb der Europäischen
Union ein Moratorium zu erreichen, durch das eine
Förderung von Forschung, die in Deutschland verboten
wäre, nicht stattfindet. Dieser Beschluss gilt auch weiter.
Allerdings hat sich bei den Rahmenbedingungen einiges verändert. Wir haben in der Europäischen Union
zehn neue Mitgliedstaaten, deren Haltung noch nicht
klar ist. Wir haben mit Spanien und Portugal zwei Länder, die die Auffassung der Bundesregierung unterstützt
haben, bei denen aber die Regierung gewechselt hat und
jetzt eher eine andere Tendenz herrscht. Das heißt, die
Situation hat sich verändert; sie ist schwieriger geworden.
Nicht verändert aber hat sich das Handeln der deutschen Bundesregierung,
({2})
die entsprechend dem Auftrag, den wir ihr im
Januar 2002 erteilt haben, agiert und auf europäischer
Ebene versucht, dafür zu sorgen, dass keine Förderung
von embryonaler Stammzellforschung stattfindet bzw.
keine Embryonen zerstört werden. Das ist nicht einfach.
Die Schwierigkeit ist, dass in vielen europäischen Ländern eine andere Rechtslage herrscht. In Großbritannien
ist viel mehr erlaubt als nach deutschem Gesetz möglich.
Unsere Gesetzeslage wird sicherlich von der breiten
Mehrheit des Bundestages - es gibt ja in jeder Fraktion
unterschiedliche Positionen dazu; in fast jeder, bis auf
die FDP ({3})
unterstützt.
Jetzt bringt die CDU/CSU einen Antrag ein, der im
Wesentlichen dem Antrag folgt, den wir im Juli 2003
quer durch alle Fraktionen hier beschlossen haben, und
der die Bundesregierung auffordert, ihr Handeln fortzusetzen. Wir haben es als rot-grüne Koalition nicht für nötig gehalten, einen neuen Antrag zu stellen, weil wir sehen, dass das Verhalten der Bundesregierung weiterhin
im Sinne der Beschlusslage ist. Aber weil wir Ihren Antrag inhaltlich im Wesentlichen unterstützen können
({4})
- zumindest die Mehrheit unserer Fraktion; auch bei uns
gibt es unterschiedliche Positionen, das ist kein Geheimnis, entspricht aber guter demokratischer Gepflogenheit -, strecken wir unsere Hand aus und bieten Ihnen
an, im Rahmen des Ausschussverfahrens zu versuchen,
einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen, der die
Bundesregierung in Fortsetzung der mehrfach gefassten
Beschlüsse
({5})
- ermuntert - ermutigt und auffordert, sich auf europäischer Ebene weiterhin dafür einzusetzen, dass embryonale Stammzellforschung nicht gefördert wird. Das ist
ein schwieriges Unterfangen. Wir wünschen der Bundesregierung an dieser Stelle weiterhin viel Glück und Erfolg dabei.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Röspel hat eben auf die Jahre 2002 und 2003 verwiesen.
Die FDP war damals anderer Meinung und es wird Sie
mit Sicherheit nicht erstaunen, dass wir selbstverständlich auch heute anderer Meinung sind.
({0})
Für uns ist die Ethik des Heilens der Maßstab, an dem
wir uns ausrichten. Angesichts dieses Maßstabes kann
Ihr heutiger Antrag natürlich nicht gut sein. Er ist sachlich falsch und er ist politisch schädlich.
({1})
Erstens. Die Forschung an embryonalen Stammzellen gehört zu den vielversprechendsten Forschungsgebieten innerhalb der thematischen Schwerpunkte im EUForschungsprogramm.
({2})
Eine sinnvolle Zusammenarbeit auf der Basis wissenschaftlicher Exzellenz kann nicht erfolgen, wenn Wissenschaftler einzelner Länder aufgrund ethischer Bedenken nicht an Forschungen teilnehmen können, bei denen
es auch um menschliche Embryonen geht.
({3})
- Ja, Herr Tauss, aber so ist es. Wenn man Ihnen folgt,
wird es auf der EU-Ebene eine solche Forschung nicht
mehr geben. Das wollen wir Liberalen nicht.
({4})
Ihr Antrag bedeutet das Aus für solche Projekte. Das
Irrwitzige dabei ist, dass Sie damit im Prinzip überhaupt
nichts erreichen. Denn natürlich wird es national in den
jeweiligen Nachbarländern weiter Forschung an überzähligen Embryonen geben. Das ist in Frankreich der
Fall, auch außerhalb des EU-Bereichs, in der Schweiz,
und selbstverständlich in Belgien, Skandinavien und
Spanien.
({5})
Um es kurz zu sagen: Sie gehen hier mit einem symbolischen Akt ins Parlament, mit dem Sie auf EU-Ebene
nichts erreichen können.
({6})
Zweitens. Sie behaupten, die Stichtagsregelung in
Deutschland habe sich bewährt. Sie hat sich nicht bewährt. Diese Meinung haben wir immer wieder geäußert
und wir haben uns auch die Mühe gemacht, mit den betroffenen Forschern hier in Deutschland zu reden. Jeder
von ihnen hat uns bestätigt, dass man selbstverständlich
Stammzellmaterial braucht, das jenseits des derzeit festgelegten Stichtages liegt.
({7})
In dieser Situation, mit der die Politik fertig werden
muss, muss diesen Forschern geholfen werden.
Drittens. Wenn man nationale ethische Standards im
Bereich der Stammzellenforschung als Kriterium der
Finanzierung aufstellt, dann müssen diese auch für alle
anderen EU-Forschungsvorhaben gelten. Aber das wollen Sie nicht. Sie handeln also ausgesprochen inkonsequent. Das würde im Endeffekt dazu führen, dass der gesamte EU-Forschungsbereich völlig anders geregelt
werden müsste, als dies zurzeit der Fall ist.
Meine Redezeit ist kurz. Daher fasse ich zusammen.
Ich bedauere es, dass wir uns heute erneut mit einem solchen Antrag befassen müssen. Herr Rachel, ich hätte mir
gewünscht, dass Sie im Hinblick auf die EU zu weitergehenden und weiterführenden, für das Heilen in diesem
Lande besseren Ergebnissen gekommen wären.
({8})
Ich sehe im Gegensatz zu Herrn Röspel nicht, dass die
Bundesregierung mit ihren alten Anträgen Erfolg gehabt
hat. Auch diesem Antrag wird mit Sicherheit kein Erfolg
beschieden sein. Deswegen blicken wir, obwohl wir uns
heute nicht durchsetzen werden, recht frohgemut in die
Zukunft.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Debatten über Stammzellenforschung hat
dieses Hohe Haus in den letzten Jahren sehr oft erlebt.
Über Fraktionsgrenzen hinweg gab es mehrheitlich
Übereinstimmung, dass in der Abwägung zwischen den
grundgesetzlich geschützten Tatbeständen Forschungsfreiheit und Menschenwürde die Wahrung der Menschenwürde Vorrang habe.
Es ist gut, dass sich diese ethische Position zunehmend auch im internationalen Raum durchsetzt. Die
jüngste Deklaration der Vollversammlung der Vereinten
Nationen vom 8. März 2005, die eine klare Ächtung
aller Arten des Klonens von Menschen beinhaltet,
({0})
ist ein wichtiger Schritt zur Wahrung der Menschenwürde und fundamentaler ethischer Grundsätze.
({1})
Sie enthält die richtige Botschaft: Die Ausbeutung von
Frauen ist abzulehnen.
({2})
Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag mit einer
fraktionsübergreifenden Mehrheit in diesem Sinne auch
gegen das Töten von Embryonen zu Forschungszwecken ausgesprochen und dieses Verbot sogar gesetzlich fixiert hat.
({3})
Dieses Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung
gibt es aber leider nicht in allen EU-Mitgliedsländern.
So droht nun in der Aufstellung des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU die unerträgliche Situation, dass
mit deutschen Steuergeldern indirekt Forschung finanziert werden könnte, die in Deutschland verboten ist.
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass verbrauchende Embryonenforschung auch auf europäischer
Ebene keine Forschungsunterstützung erhalten darf. Dokumentiert wurde dies ausdrücklich mit dem Beschluss
des Bundestages vom 16. Oktober 2003. Es ist daher als
großer Erfolg zu werten, dass vor allem aufgrund des
Drängens der rot-grünen Bundesregierung bisher keine
EU-Forschungsmittel für verbrauchende Embryonenforschung ausgereicht wurden. Dieser Erfolg ist umso höher einzuschätzen, da er gegen den Willen des damaligen
Forschungskommissars Busquin und gegen das Drängen
von Ländern wie Großbritannien gelungen ist.
Daher ist der heute von der Union vorgelegte Antrag
im Kern mit unseren Vorstellungen vereinbar. Bereits im
Vorfeld hatten wir angeboten, einen interfraktionellen
Antrag gemeinsam einzubringen, damit dem gemeinsamen Anliegen auch das entsprechende politische Gewicht zugrunde liegt. Wir wissen doch, wie stark der
Druck aus Großbritannien oder von Teilen der EU-Kommission ist, die Menschenwürde von Embryonen der
Heilserwartung zu opfern. Wir halten es daher für zielführend, auch weiterhin interfraktionelle Beschlüsse in
diesen ethischen Grundfragen zu fassen. In den Ausschussberatungen sollten wir diesen Versuch unternehmen.
Auch für die grüne Fraktion gilt: Eine Forschungsförderung für verbrauchende Embryonenforschung im
7. Forschungsrahmenprogramm der EU darf es nicht
geben. Wir sollten uns gemeinsam überlegen, ob dieser
Antrag nicht um die Ablehnung weiterer ethisch bedenklicher Forschungsmethoden erweitert werden sollte. Damit meinen wir, dass nicht nur die Forschung an und mit
Embryonen, sondern auch die Nutzung menschlicher
Eizellen in der Forschung klarer geregelt werden muss.
Der Handel mit menschlichen Eizellen muss verboten
werden, unter anderem deswegen, weil ihm gesundheitlich problematische Behandlungen vorangehen.
Dabei beziehe ich mich auf die Entschließung des
EU-Parlaments vom 10. März 2005. Darin wird klar gefordert, dass die Eizellspende zum Schutz der Spenderinnen streng reglementiert werden muss. Wir sollten
auch diesen wichtigen Aspekt in einen Antrag des Bundestages aufnehmen. Damit stärken wir das Ersuchen
des Europäischen Parlamentes an die Kommission, das
Klonen von Menschen von der Finanzierung im
7. Forschungsrahmenprogramm auszuschließen.
Meine Damen und Herren von der FDP, Frau Kollegin Flach, uns vom Bündnis 90/Die Grünen geht es - um
das noch einmal ausdrücklich klarzustellen - nicht darum, Hoffnungen auf Heilung unerfüllt zu lassen. Für
viele bisher schwer oder gar nicht zu behandelnde
Krankheiten wie Alzheimer müssen wir nach Heilungsmöglichkeiten suchen.
({4})
Die Forschungsförderung bildet selbstverständlich einen
wesentlichen Ansatz. Die Frage ist aber, ob wir ausgerechnet in ethisch verwerflichen Forschungsmethoden
das Heil finden müssen. In den letzten Jahren hat sich
doch eine große Ernüchterung für die Erfolgsaussichten
von Therapiemöglichkeiten mit Stammzellen gerade bei
Krankheiten wie Alzheimer breit gemacht. Wir sollten
daher die Forschungsförderung vor allem für andere,
deutlich Erfolg versprechende Möglichkeiten einsetzen.
({5})
Dort, wo Stammzelltherapien Aussicht auf Heilungschancen geben, bieten ethisch unbedenkliche
Forschungen zum Beispiel mit adulten Stammzellen
oder mit Stammzellenlinien, die vor dem Stichtag gewonnen wurden, genügend Möglichkeiten. Auch deswegen bedauern wir sehr, dass der Forscher Ian Wilmut mit
deutschen Steuergeldern ausgezeichnet wurde, obwohl
er ethisch verwerfliche Forschungen wie das Klonen von
Menschen anstrebt.
({6})
Bündnis 90/Die Grünen haben das in der Öffentlichkeit
und intern innerhalb der Regierung ausführlich kritisiert.
Wir haben viele Fragen an Ian Wilmut. Kann er es
ethisch vertreten, beschränkte Forschungsmittel für
ethisch verwerfliche Forschungsmethoden auszugeben,
obwohl sie mit Sicherheit keine Heilserwartung für die
Hunderte von Millionen von Menschen ergeben, die vor
allem in Entwicklungs- und Schwellenländern an Krankheiten sterben, für die es überhaupt noch keine Medikamente und erfolgreichen Behandlungsmethoden gibt?
Hält er es für mit Art. 12 der Richtlinie 2004/23/EG, die
klarstellt, dass Zahlungen - außer Entschädigungszahlungen - für Zell- und Gewebespenden in Europa nicht
akzeptabel sind,
({7})
vereinbar, wenn Frauen für Eizellspenden eine IVF-Behandlung, eine Sterilisation, eine Zahnbehandlung oder
Geld angeboten wird?
({8})
Wir setzen uns in diesem Hause wie auch im Europäischen Parlament dafür ein, dass sich die Forschungsförderung auf EU-Ebene am ethischen Prinzip der Menschenwürde und an den Bedürfnissen der Menschheit
orientiert.
({9})
Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Dominke,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie Kollege Thomas Rachel ja schon mitgeteilt hat, hat
sich das Europäische Parlament vor einer Woche mit
großer Mehrheit gegen die Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung ausgesprochen. Es hat eine
Resolution verabschiedet, nach der die Mitgliedstaaten,
in denen eine solche Forschung - wie etwa in Großbritannien - erlaubt ist, diese auch selbst finanzieren sollen. Aus Mitteln der EU sollen dagegen die ethisch
unbedenklichen Alternativen wie - Sie sagten es, Herr
Rachel - die adulte Stammzellforschung gefördert werden.
({0})
Diese Resolution begrüßen wir ausdrücklich.
({1})
Leider können wir unseren Antrag damit aber noch
nicht ad acta legen, denn die Entscheidungssituation in
Europa ist viel komplizierter. In drei Wochen, am
6. April, will die EU-Kommission - so ist aus Brüssel zu
hören - einen Vorschlag für das 7. Forschungsrahmenprogramm vorlegen. Dieser geht dann zu zwei Lesungen
in das Europäische Parlament, das seinerseits Änderungsanträge stellen kann. Die letzte Entscheidung trifft
dann der Ministerrat, der im günstigsten Fall die Änderungsanträge des Parlamentes berücksichtigt. Noch offen
ist dabei aber, ob sich die Kommission in ihrem Vorschlag überhaupt zur Frage der Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung und zur embryonalen
Stammzellforschung einlassen wird. Wenn sie das nicht
tut, bleibt dieser Komplex weiterhin ungeregelt - mit der
Folge, dass eine derartige Forschungsförderung durch
die EU nicht ausgeschlossen ist.
({2})
Dieser Zustand besteht im Grunde genommen seit Anfang 2004, seitdem das Moratorium ausgelaufen ist,
wie das auch im vorliegenden Antrag ausgeführt worden
ist. Dieser Zustand sollte unseres Erachtens nicht andauern.
({3})
In der Sache haben wir in diesem Hause - das ist
schon mehrfach angesprochen worden - bereits einige
Male unsere Position und unsere Haltung zur verbrauchenden Embryonenforschung mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit bestätigt. Es wird jetzt weiterhin darauf ankommen, ob und wie die Bundesregierung
dieses Votum des deutschen Parlamentes in Brüssel einbringt und vertritt.
({4})
- Wenn das so ist, Herr Tauss, dann ist es ja gut. Nichts
anderes wollen wir.
Mit unserem Antrag wollen wir der Bundesregierung
noch einmal den erklärten Willen der Mehrheit des
Parlamentes, Frau Flach,
({5})
mit auf den Weg geben. Wir erwarten, dass sich wiederum die Bundesregierung aktiv in diesem Sinne im
Ministerrat einbringt und nicht wie gerade jüngst beim
Beschluss des Wettbewerbsrates über die Richtlinie
zu Softwarepatenten abtaucht. Auch hier hatten wir im
Haus eine fraktionsübergreifende Mehrheit und der Vertreter der Bundesregierung hat nichts getan, um die Entscheidung des Rates zu beeinflussen.
({6})
Der dänische Kollege stand mutterseelenallein auf weiter Flur.
({7})
Wir erwarten, dass die Bundesregierung als Vertreterin dieses Staates, der einen nicht unerheblichen Anteil
der Mittel in die EU einbringt, die Politik Europas aktiv
und im Sinne der Beschlüsse des Bundestages mitgestaltet.
Frau Kollegin Dominke, der Kollege Tauss möchte
Ihre Redezeit verlängern.
Herr Tauss, ausnahmsweise - das habe ich noch nie
getan - gestatte ich das einmal.
Und wir können sagen: Wir sind dabei gewesen.
({0})
Bitte schön.
Frau Dominke, seitdem wir unser Computerspiel so
wunderbar abgeschlossen haben, hat sich Ihre Offenheit
mir gegenüber offensichtlich unglaublich erhöht; darüber freue ich mich.
Die Frage wäre, ob Sie zur Kenntnis nehmen würden,
dass die Bundesregierung auch in der EU die Position
des Deutschen Bundestages in Sachen Softwarepatente
oder Patente für computerimplementierte Erfindungen
vertritt und dass im Moment nicht im Rat eine Entscheidung zu korrigieren ist, sondern dies nur im Europäischen Parlament möglich ist und dass das Europäische
Parlament in seiner großen Mehrheit offensichtlich die
Position, die der Deutsche Bundestag und die deutsche
Bundesregierung vertreten, übernehmen wird. Haben Sie
diese Debatten auf europäischer Ebene schon mitbekommen?
Selbstverständlich, Herr Tauss, habe ich sie mitbekommen.
({0})
Gleichwohl möchte ich das nicht so im Raume stehen
lassen.
({1})
- Herr Tauss, das ist doch jetzt ein bisschen daneben. Sie
bestätigen jetzt meine bisherige Haltung, Ihre Zwischenfragen abzulehnen.
({2})
Dies wird heute eine Ausnahme bleiben.
Tatsächlich war es - ich habe noch eine Redezeit von
einer Minute; ich kann deswegen Ihre Frage im Rahmen
meiner Redezeit beantworten, wenn Sie keine Antwort
hören möchten - im Ministerrat möglich,
({3})
die Ansiedelung dieses Themas von der Liste B, die
durchgewunken wird, in die Liste A zu übernehmen, wie
es der dänische Wirtschaftsminister versucht hat, wobei
er aber keine Unterstützung aus den anderen Staaten erfahren hat. Insofern hätte man an dieser Stelle, an der ein
Einfluss der Regierungen möglich war, handeln können.
({4})
Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung bei diesem Thema auch auf der europäischen Ebene für ethische Grundwerte unseres Landes aktiv einbringt. Ich
bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei um Unterstützung. Wir nehmen Ihr Angebot, Herr Kollege
Röspel, und Ihr Angebot, Herr Kollege Fell, gerne auf,
im Ausschuss zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Das würde das Thema sicherlich befördern.
Ich danke Ihnen.
({5})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
EU-Forschungsrahmenprogramm ist das weltweit größte
Förderprogramm für Förderungsprojekte. Es wirkt auf
die Schaffung eines europäischen Forschungsraumes hin
und verbessert damit die globale Wettbewerbsfähigkeit
Europas. Ein zentraler Förderbereich ist dabei die Biotechnologie. Darunter fallen auch die Stammzellforschung - sowohl an tierischen als auch an menschlichen
sowie an adulten wie an embryonalen Stammzellen und als Unterpunkt die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen.
Für dieses Forschungsfeld gelten hier in Deutschland
als die beiden zentralen nationalen Regelungen das
Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz.
Beide Gesetze sind in diesem Hause umfangreich erörtert und einvernehmlich beschlossen worden. Wie mein
Kollege René Röspel bin ich der Auffassung, dass die
gemeinsame europäische Forschungsförderung mit diesen rechtlichen Grundlagen in Einklang stehen muss.
({0})
Wir haben in Deutschland mit dem Stammzellgesetz
eine klare und akzeptierte Regierung gefunden. Unsere
Wissenschaftler und Forscherteams halten sich an den
vorgegebenen gesetzlichen Rahmen.
Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach ist es
selbstverständlich - Herr Rachel hat es auch schon
angesprochen -, dass im Interesse der Chancengleichheit aller Mitgliedstaaten nur solche Forschungsprojekte
von der EU gefördert werden, an denen sich Forscherteams aus allen Mitgliedstaaten beteiligen können.
Angesichts der Tatsache, dass Deutschland einen beträchtlichen Anteil des finanziellen Gesamtvolumens
trägt - beim 6. EU-Forschungsrahmenprogramm sind es
etwa 20 Prozent von 17,5 Milliarden Euro -, bin ich der
Meinung, dass die Bundesrepublik auch einen entsprechenden Einfluss auf die Ausgestaltung des Programms
haben muss.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir
uns in diesem Punkt einig sind. Diese Einigkeit reicht
noch weiter; denn auch die Bundesregierung vertritt
diese Haltung. Sie setzt sich, wie sie es in der Vergangenheit schon unter Beweis gestellt hat, für die Berücksichtigung unserer nationalen rechtlichen und ethischen Grundsätze ein.
({1})
Dies scheint beim Verfassen des Antrags von Ihnen
übersehen oder vergessen worden zu sein.
({2})
Bei der Lektüre Ihres Antrags konnte ich mich des
Eindrucks eines Déjà-vu-Erlebnisses nicht erwehren.
Die Hirnforschung jedoch belegt, dass es Déjà-vus, wie
wir sie kennen oder zu kennen meinen, eigentlich gar
nicht gibt. Auch mein vermeintliches Déjà-vu-Erlebnis
war keines; denn nicht nur der Titel, sondern auch der
Inhalt Ihres Antrags ist nahezu wortgleich mit dem interfraktionellen Beschluss, den wir hier im Bundestag am
16. Oktober 2003 gefasst haben.
({3})
Die Bundesregierung vertrat schon damals auf der
Basis dieses Beschlusses in Europa die Ansicht, dass
Forschungsarbeiten, an denen sich einzelne Mitgliedstaaten aus Rechtsgründen nicht beteiligen können, nicht
von der EU gefördert werden sollten. Hierfür hat sich die
Bundesregierung, wie ich finde, sehr engagiert eingesetzt. Sie hat diese Haltung in allen Gesprächen vehement und erfolgreich vertreten. Dafür gebührt dem Ministerium und insbesondere Wolf-Michael Catenhusen
großer Dank; hier schließe ich mich den Worten von
René Röspel an. Im aktuellen Forschungsrahmenprogramm werden deshalb auch nur solche Projekte gefördert, die nicht in Konflikt zu nationalen Gesetzgebungen
stehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, nun wollen Sie im Zusammenhang mit dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm eine Wiederauflage des Beschlusses
von 2003. Mir scheint es aber so, als wollten Sie den
Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung von ihren
damaligen Grundsätzen abgewichen sei.
({4})
Dem ist aber nicht so.
({5})
Die Haltung der Bundesregierung ist nach wie vor unverändert. Dies wird auch im Zuge der Verhandlungen
zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm deutlich werden; dessen bin ich sicher. Ich sehe keinen Anlass für irgendeinen Zweifel.
Noch einmal zur Klarstellung, worüber wir reden:
Der Entwurf des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms,
auf den Ihr Antrag abzielt, wird voraussichtlich im April
von der Kommission vorgelegt werden. Es handelt sich
dabei, wie gesagt, um einen Entwurf und nicht um das
bereits beschlossene Programm. Mitte 2005 wird es
wahrscheinlich einen offiziellen Vorschlag der Kommission geben. Die Beratungen von Rat, Kommission und
Europäischem Parlament - wir haben vorhin gehört, wie
das Europäische Parlament dazu steht; auch hier gibt es
keinen Anlass zu Besorgnis - werden bis zur zweiten
Jahreshälfte 2006 andauern. Ende 2006 wird das 7. EUForschungsrahmenprogramm voraussichtlich offiziell
starten. Es bleibt also noch eine ganze Menge Zeit, „konzeptionelle Anregungen“, wie Sie sie fordern, einzubringen. Sie können sicher sein, dass dies, wenn es notwendig sein sollte, vonseiten der Bundesregierung auch
getan werden wird.
Kolleginnen und Kollegen, der interfraktionelle
Beschluss vom Oktober 2003 ist unserer Ansicht nach
absolut aktuell. Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, dass es für die Wiederholung der damaligen Aussagen in neuer Verpackung - aus meiner Sicht ist Ihr Antrag nichts anderes - keinen Bedarf gibt. Natürlich
können wir dies tun. Man muss sich als Parlament jedoch fragen, ob man seine eigenen Beschlüsse nicht entwertet, wenn man sie immer wieder bekräftigen muss.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4934 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines DreiVizepräsident Dr. Norbert Lammert
zehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/4736 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1})
- Drucksache 15/5112 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Friedrich Ostendorff
Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbstündige Debatte stattfinden. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Thalheim.
({2})
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir schließen heute die Beratungen zur dreizehnten
Novelle des Arzneimittelgesetzes ab. Ich bin überzeugt,
dass uns der Entwurf in der vom Ausschuss geänderten
Fassung einen großen Schritt weiterbringen wird. In dem
Gesetzentwurf werden, wie Sie alle wissen, Forderungen
aus der Tierärzteschaft und der Landwirtschaft aufgegriffen. Die Umsetzung wird zu Erleichterungen in der
Praxis führen, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln,
die keine Antibiotika sind. Diese können künftig für
31 Tage abgegeben werden.
Zudem wird mit diesem Gesetz Gemeinschaftsrecht
umgesetzt. Mit der Änderung der so genannten Umwidmungskaskade wird EU-Recht im Bundesrecht verankert. Darüber hinaus wird im Gesetzentwurf die
Stellungnahme des Bundesrates berücksichtigt; damit
werden die Interessen des Verbraucherschutzes und des
Tierschutzes gewahrt.
Das heute zur Entscheidung anstehende Gesetz
schafft auf diesem Gebiet eine klare Rechtslage. Es trägt
auf der einen Seite den berechtigten Interessen der Landwirtschaft und der Tierärzte Rechnung, auf der anderen
Seite wird dem vorbeugenden Verbraucherschutz beim
Thema Antibiotika der notwendige Stellenwert eingeräumt. Das ist notwendiger, als wir bei der Verabschiedung der elften AMG-Novelle dachten. Gerade in jüngster
Zeit gab es wieder Informationen über Antibiotikarückstände in Fleisch- und Wurstwaren. Das muss uns alarmieren. Bereits mit der elften Novelle sind Verschärfungen eingeführt worden. Sie haben aber offensichtlich
nicht zu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen.
Am Ende eines so intensiven und langen Diskussionsprozesses lohnt es sich, ein wenig zurückzublicken. Ich
erwähnte bereits die elfte AMG-Novelle. Diese ist am
21. November 2002 vom Bundesrat verabschiedet worden. Damals wurde beschlossen, Antibiotika nur noch
für sieben Tage an die Tierhalter abzugeben. Das Bundesratsvotum war eindeutig, nämlich 16 : 0. Alle Länder
waren damals dafür. Leider hat das einige Ländervertreter nicht davon abgehalten, in den darauf folgenden Diskussionen, beispielsweise in Bauernversammlungen
- ich habe einige miterlebt -, diese Entscheidung zu kritisieren und dies der Bundesregierung anzulasten.
({3})
Um am Ende den Belangen der Landwirte Rechnung
zu tragen, haben wir intensiv über Flexibilisierungsmöglichkeiten diskutiert. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt solche Ansätze. Einige werden heute
Recht. Die Frage, die Siebentageregelung unter engen
Restriktionen zu flexibilisieren, ist vom Bundesrat nicht
aufgegriffen worden. Das erstaunt schon. Zuerst beschließt man diese Regelung mit einem Stimmenverhältnis von 16 : 0, dann wird dies kritisiert und es werden
Änderungen gefordert. Aber als die Bundesregierung
dann Änderungen vorschlug, lautete die Botschaft: Das
war alles nicht so ernst gemeint, wir bleiben beim alten
Recht, also der Siebentageregelung.
Ich kann diese Regelung nur begrüßen; denn dies
zeigt, dass die Bundesländer und die Verantwortlichen
aus den Gesundheitsministerien der Freiheit bei der Antibiotikavergabe den entsprechenden Stellenwert einräumen. Insofern bleibt es dabei. Ich kann nur sagen: Es ist
eine gute Entscheidung, die wir heute treffen.
({4})
Meine Damen und Herren, nach fast zweieinhalbjähriger Diskussion lohnt es sich natürlich auch, darüber
nachzudenken, was wir nicht aufgreifen; auch das
möchte ich erwähnen. Eine Pflicht zur Aufstellung
eines Behandlungsplans wird es nicht geben. Die Tierärzte unterliegen schon heute umfassenden Aufzeichnungspflichten. Man muss nicht erst einen französischen
Philosophen bemühen, um zu sagen, dass wir keinen zusätzlichen Behandlungsplan brauchen. Er ist überflüssig.
Die Tierärzte sollen sich die Tiere anschauen und sie entsprechend behandeln.
Um es mit einem tierärztlichen Begriff zu beschreiben, Herr Goldmann: Der Behandlungsplan ist eine Totgeburt. Mit der Totgeburt „Behandlungsplan“ sollte das
gemacht werden, was Tierärzte und Landwirte üblicherweise mit Totgeburten tun.
({5})
Etwas anderes ist es bei der Problematik der
Bestandsbetreuung. Das ist ein vernünftiger Vorschlag.
Uns fehlen die grundgesetzlichen Möglichkeiten, das im
Arzneimittelgesetz zu verankern. Aber über diesen
Punkt sollten wir im Interesse der Landwirtschaft und im
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
Interesse des Erhalts der Gesundheit der Tierbestände reden.
Ich kann nur hoffen und wünschen, dass dieses gute
Gesetz auch sehr schnell vom Bundesrat verabschiedet
wird, damit die Landwirte und die Tierärzte Rechtsklarheit bekommen und damit wir einen großen Schritt zu
unserem Ziel, dass Produkte aus Deutschland keine Antibiotikarückstände enthalten, vorankommen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch der
heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf heilt
nicht die schweren Fehler des Arzneimittelgesetzes von
2002. Im Gegenteil, von einem echten Durchbruch, auf
den die Tierhalter und die Verbraucherschützer jetzt
schon seit Jahren warten müssen, kann immer noch nicht
die Rede sein. Auch das angebliche Ziel von mehr Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz durch Vermeidung von Antibiotikaresistenzproblemen in der
Humanmedizin wird nicht erreicht. Sie lassen mit der
Beibehaltung der Siebentageregelung die Tierhalter und
die Tierärzte in einer rechtlichen Grauzone zurück.
({0})
Immerhin aber kann man attestieren, dass der langwierige Produktions- und Diskussionsprozess in diesem Parlament zu einigen Änderungen geführt hat.
({1})
Es hat das in diesem Parlament seltene Ereignis gegeben, dass sich die Berichterstatter der einzelnen Fraktionen - Sie, Herr Priesmeier, und meine verehrte Kollegin
Frau Julia Klöckner waren dabei - über die Inhalte eines
Gesetzes verständigen konnten. Der versendungsreife
Brief durfte dann aber von der linken Seite des Hauses
nicht unterzeichnet werden; das wurde seitens des Ministeriums blockiert. Damit wurde ein sinnvoller Prozess
zum Erliegen gebracht.
({2})
Meine Damen und Herren, sei es drum! Inzwischen
finden sich einige wichtige Korrekturen. Der Staatssekretär hat sie angesprochen; man soll sie auch erwähnen. Es gibt eine leicht flexibilisierte Handhabung bei
den nicht antimikrobiell wirksamen Stoffen; sie können
künftig für bis zu 31 Tage abgegeben werden. Es gibt die
Möglichkeit, im Therapienotstand auch für Lebensmittel
liefernde Tiere Arzneimittel in öffentlichen Apotheken
herstellen zu lassen. Es gibt die Aufhebung des Abgabeverbotes für ungewidmete Arzneimittel.
({3})
Die Umwandlung der Genehmigungs- in eine Anzeigepflicht bei der Einfuhr von Arzneimitteln ist auch in
Ordnung; das will ich ausdrücklich bestätigen.
Aber das wesentliche Übel an der bestehenden Gesetzeslage ist damit bei weitem nicht ausgemerzt. Ich habe
es schon angesprochen: Es bleibt bei der Siebentageregelung für die Aufbewahrung von Medikamenten.
Kann mir jemand in diesem Hause erklären, welchen
Unterschied es macht, ob die Medikamente sieben, acht
oder zehn Tage auf dem Hof bleiben? Hier sind willkürliche Grenzen gewählt worden, die nichts mit der Praxis
zu tun haben.
Man hat diese Siebentageregelung etwas aufgeweicht,
indem man die Formulierung der Leitlinien einer
Tierarzneimittelanwendungskommission übertragen
hat.
({4})
Tierarzneimittelanwendungskommission - schon der
Name lässt nichts Gutes erwarten. Sie trauen der Fachkompetenz der Tierärzte nicht. Sie unterstellen den Bauern ein Interesse am Medikamentenmissbrauch
({5})
und verhindern die schnelle Umsetzung von Erfahrungen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in
die Praxis. Es ist, wie es immer ist: Wenn man nicht
mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis, in
diesem Falle: eine Kommission. Dem eigentlichen Ziel,
einen Beitrag zur Verringerung des Medikamenteneinsatzes zu leisten, kommen Sie nicht nach. Ganz im Gegenteil, sie bringen die Landwirte und Tierärzte in
schwierigen Situationen in eine rechtliche Grauzone.
Wenn da einmal richtig kontrolliert würde, kämen die
entsprechenden Ergebnisse zum Vorschein.
Wir meinen, dass die Siebentageregelung so nicht sinnvoll ist, und fordern, im Rahmen eines Behandlungsplans
bzw. eines Betreuungsvertrages zwischen Landwirt und
Tierarzt beide Gruppen in die Verantwortung zu nehmen,
um einen zielgerichteten Medikamenteneinsatz zu gewährleisten. Hierfür haben wir entsprechende Bedingungen formuliert, die ich Ihnen kurz nennen will:
Erstens. Natürlich muss eine Dokumentation der angewandten Untersuchungsverfahren, der Diagnose und
des verschriebenen Arzneimittels stattfinden; das geschieht heute schon bei der Abgabe von Medikamenten.
Dennoch muss das hier wiederholt werden.
Zweitens. Eine spezielle Behandlungsanweisung für
den Tierhalter sowie Hinweise für die sachgerechte Lagerung der Arzneimittel müssen gegeben werden; auch
das ist richtig.
({6})
Drittens. Die Dokumentation der Kontrolle der Arzneimittelanwendung und des Behandlungserfolges muss
ebenfalls geschehen.
Viertens. Auch die Dokumentation von eventuellen
Wiederholungsuntersuchungen und deren Ergebnissen
muss erfolgen, damit die Lebensmittelsicherheit gewährleistet bleibt.
Der Schwerpunkt aber liegt auf dem Abschluss eines
Betreuungsvertrages, weil damit erstmals das Interesse
des Tierarztes an der Gesunderhaltung des Bestandes gestärkt wird und nicht nur an der Abgabe von Medikamenten oder an der Durchführung sonstiger Behandlungsmaßnahmen. Auch hier wollen wir Standards.
Dazu gehören natürlich die Dokumentation des Gesundheitszustandes der Tiere, die Prüfung der Dokumentation
der Arzneimittelanwendungen sowie eventueller Behandlungspläne durch den entsprechenden Veterinär, die
Prüfung der ordnungsgemäßen Lagerung der Medikamente beim Tierhalter durch den Tierarzt sowie die obligatorische Festlegung der Bestandsbetreuung durch nur
einen Tierarzt.
Wenn wir das machten, würden wir allen gesellschaftlichen Gruppen und auch dem Tierschutz gerecht. Ich
appelliere noch einmal an die Bundesregierung, die
Koalitionsfraktionen, aber auch an die Bundesländer,
auch diesen letzten Mangel des Gesetzentwurfs zu beheben. Dann hätten wir für alle Beteiligten etwas geschaffen, was wir ursprünglich alle wollten.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Friedrich Ostendorff,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worum geht es bei der dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes, über die wir heute beraten? Mit dem
im Jahr 2002 in Kraft getretenen Elften Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes wurden neue Regeln
für den Umgang mit Tierarzneimitteln aufgestellt. Ziel
war es, im Sinne des vorsorgenden Verbraucherschutzes
und des Gesundheitsschutzes den Einsatz von Tierarzneimitteln auf ein therapeutisch notwendiges Mindestmaß zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen zu vermeiden, die Qualität von
Tierarzneimitteln zu verbessern und die Sicherheit im
Umgang mit Tierarzneimitteln zu erhöhen.
Die Erfahrungen mit der Anwendung und dem Vollzug dieses Gesetzes haben uns aber inzwischen gezeigt,
dass bei einigen Regelungen offenbar Anpassungsbedarf
im Hinblick auf die Anwendbarkeit in der Praxis besteht.
Wir haben uns im Verbraucherausschuss frühzeitig dieser Probleme angenommen und ich glaube, für uns alle
sagen zu können, dass wir einen langen und intensiven
Diskussionsprozess hinter uns haben.
({0})
Wir sind auf die Kritik des Bundesrates und der Tierärzte
eingegangen. Wir haben Anhörungen durchgeführt und
eine interfraktionelle Arbeitsgruppe eingerichtet. Wir
mussten allerdings feststellen, dass sich die Tierärzteschaft als besonders betroffene Gruppe in der Bewertung
dieses Gesetzes offenbar alles andere als einig ist.
Auch der Bundesrat vertritt heute eine etwas andere
Meinung als vor einem Jahr. Wir begrüßen das. Insbesondere die ursprünglich von vielen Seiten als praxisfremd kritisierte Siebentageregelung hat sich inzwischen offenbar als wesentlich unproblematischer
erwiesen als zunächst behauptet.
({1})
So schreibt der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum
vorliegenden Gesetzentwurf - ich zitiere -:
Bei der Umsetzung der 7-Tage-Regelung für Antibiotika wurden keine konkret nachweisbaren Probleme in der tierärztlichen Praxis festgestellt …
Das erstaunte uns. Ich denke, damit sollte die dickste
Kuh vom Eis sein und wir können zu einer zügigen Verabschiedung der dreizehnten AMG-Novelle kommen.
Wir haben eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die der Praxis Erleichterungen bringen, etwa bei
der Abgabe von Teilmengen - Herr Bleser wies darauf
hin -, der Anpassung der so genannten Umwidmungskaskade an die EU-Richtlinie 2004/28/EG und der Aufhebung des Abgabeverbots umgewidmeter Arzneimittel.
({2})
Was die zu bildende Sachverständigenkommission angeht, so brauchen wir uns an dieser Stelle über deren Zusammensetzung nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, da
diese ohnehin erst durch eine nachfolgende Rechtsverordnung festgesetzt werden wird.
Ich denke, die lange und schwierige Diskussion, die
wir über diese dreizehnte AMG-Novelle geführt haben,
sollte uns allen eine Warnung sein, die jetzt gefundene
weitgehende Einigkeit mit den Ländern nicht wieder infrage zu stellen. Das sage ich insbesondere mit besorgtem Blick auf das, was aus Richtung CDU/CSU zu hören
ist. Wir bemerken sehr wohl, dass Sie alles tun, um die
unionsgeführten Länder von der gefundenen vernünftigen Linie wieder abzubringen. Frau Kollegin Klöckner,
Sie müssen langsam wirklich aufpassen, sich und den
Bundesrat nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.
({3})
Wir haben die Sache nun zwei Jahre lang in alle Richtungen lang und breit diskutiert. Der Bundesrat wollte
erst so, dann anders, dann wieder so. Wir haben Ihnen
wahrlich genug goldene Brücken gebaut, um eine Lösung zu finden. Das, was jetzt im Gesetzentwurf steht,
entspricht in den entscheidenden Punkten exakt den
Wünschen des Bundesrates.
Wenn ich jetzt höre, dass Sie, Frau Kollegin
Klöckner, alles daran setzen, die Länder in dieser Sache
zur Anrufung des Vermittlungsausschusses zu überreden, dann muss ich sagen, dass Sie damit Ihre persönliche politische Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.
({4})
Ich hoffe, Sie folgen in diesem Punkt Edmund
Stoiber, der hier heute wörtlich sagte - ich zitiere -:
Auch ich sehe Deutschland in einer Krise, weil wir
im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behandeln …
Frau Klöckner, leisten Sie Ihren Beitrag zur Überwindung der Krise und folgen Sie Herrn Stoiber,
({5})
indem Sie dafür sorgen, dass uns wenigstens bei diesem
Gesetz der Vermittlungsausschuss erspart bleibt.
({6})
- Wir haben Wilhelm Schmidt mit dabei. Es könnte also
gelingen.
Ich glaube, wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem
wir wirklich sagen sollten: Jetzt machen wir den Sack
zu. Die Praxis braucht vor allen Dingen eines, nämlich
Rechtssicherheit. Die praxisuntauglichste Regelung dafür wäre die, die nicht beschlossen wird.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Hans-Michael Goldmann,
FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, es ist die Absicht aller, Tiere gesund zu erhalten
bzw. zu heilen. Man braucht dafür eigentlich keinen
Bundestag oder Bundesrat, sondern nur gesunden Menschenverstand und gesunden fachlichen Verstand.
({0})
Tierärzte werden sehr vernünftig ausgebildet; Kollege
Priesmeier, wir beide kennen das ja. Die Ausbildung
dauert fünf Jahre, danach bildet man sich fort bzw. weiter.
Hier aber geschieht etwas ganz Eigenartiges. Mit Unterstützung von Veterinärbeamten einiger Bundesländer
kommt der Gesetzgeber daher und sagt: Das, was euch
euer gesunder Menschenverstand und die Fachlichkeit
vorgeben, gilt nicht mehr; denn wir wollen das
nicht. - Insofern muss man sagen, dass dieses Gesetz an
der Ausgestaltung der Siebentageregelung scheitert,
weil sie - Kollege Priesmeier weiß das ganz genau; denn
er ist ja noch praktizierender Tierarzt - den Gesichtspunkten Tierschutz, Praxisgerechtigkeit, Heilungsauftrag, Vorsorgeauftrag, vernünftiger Umgang mit Kosten
und vernünftiges Miteinander von Landwirten und Tierärzten schlicht und ergreifend nicht gerecht wird. Das
wissen alle.
Wir wissen ganz genau, wie es zu dieser Regelung gekommen ist. Zwei Ministerialbeamte, Veterinäre, aus
Nordrhein-Westfalen und Niedersachen, die schon im
Vermittlungsausschuss eine entscheidende Rolle spielen
wollten und die man sie auch spielen ließ, haben dafür
gesorgt, dass eine Siebentageregelung im Gesetz verankert ist, die fachlichen Ansprüchen nicht gerecht wird
und auch dem Gedanken des Verbraucherschutzes nicht
Rechnung trägt.
({1})
Kollege Ostendorff, ich bin sehr dafür, dass man Antibiotika nur in dem Maße einsetzt, wie es nötig ist. Aber
es ist schlicht ein Märchen, dass der Antibiotikaeinsatz
in der Tiermedizin Resistenzen befördert. Sie wissen
ganz genau, dass neueste Untersuchungsergebnisse das
Gegenteil belegen.
Herr Thalheim, es ist schade, dass Sie im Zusammenhang mit der Siebentageregelung nicht bereit waren, mit
uns einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Ich
weiß, dass das in den so genannten neuen Ländern etwas
anders aussieht. Natürlich sind für die Großbetriebe
keine Behandlungspläne notwendig; denn dort kommt
der Tierarzt jeden Tag vorbei. Aber bei kleineren Betrieben, bei denen die Gefahr besteht, dass der Landwirt
kostenmäßig, fachlich und auch sonst überfordert ist,
wäre es besser gewesen, wenn man die Siebentageregelung mit dem Behandlungsplan verknüpft hätte. Das sagen auch alle vernünftigen Tierärzte.
({2})
Nun kommen Sie auf die besonders glorreiche Idee,
eine Tierarzneimittelanwendungskommission einzusetzen.
({3})
Das ist an sich für jeden praktizierenden Tierarzt eine
schallende Ohrfeige. Man muss sich das einmal auf der
Zunge zergehen lassen: Die Tierärzte haben sich große
Mühe gegeben, studiert und sich fortgebildet, und dann
wird per Gesetz eine Tierarzneimittelanwendungskommission vorgeschrieben, die eine Aufgabe übernimmt,
die im Grunde genommen mit dem Gesetz selbst gar
nichts zu tun hat, sondern eine wissenschaftliche Herausforderung ist. Es geht darum, Leitlinien zu entwickeln, die den Antibiotikaeinsatz begleiten. Nebenbei
bemerkt haben die Tierärzte das Wort „Tierarzneimittelanwendungskommission“ zum Unwort des Jahres gewählt. Schon daran können Sie sehen, dass diese Kommission eine gesetzgeberische Missgeburt ist.
Sie nehmen die Kommission ja selbst nicht ernst;
denn im Gesetz ist für die Kommission eine Mittelausstattung in Höhe von 7 000 Euro vorgesehen. Wenn Sie
sich einmal anschauen, wer in diesem Bereich tätig ist,
dann wird klar, dass diese Summe noch nicht einmal für
Fahrtkosten reicht, geschweige denn für Flugkosten oder
Sitzungsgelder. Diese Kommission ist wirklich nicht das
Papier wert, auf dem sie steht.
Einige Verbesserungen sind erreicht worden, Kollege
Ostendorff und Kollege Priesmeier. Wenn wir den Weg,
den wir nach der Anhörung gehen wollten, weitergegangen wären - aber Sie beide sind zurückgepfiffen worden -, könnten wir heute eine Novelle zur Änderung des
Arzneimittelgesetzes verabschieden, das fast allen Belangen der Praxis Rechnung trägt. Ich bedauere sehr,
dass es nicht zu dieser Regelung gekommen ist.
({4})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bin heute richtig froh,
dass das Fass, die dreizehnte Novelle, endlich zugemacht wird und wir einen gewissen Erfolg verbuchen
können, wenn auch letztlich nicht alle Wünsche der Beteiligten in Erfüllung gegangen sind. Ich will noch einmal darauf hinweisen, warum es erst zur elften und anschließend zur dreizehnten Novelle gekommen ist.
({0})
Die Ausgangssituation war der Fechter-Skandal in
Bayern, der das Vertrauen der Verbraucher in tierische
Lebensmittel in Sachsen, Thüringen und BadenWürttemberg - bis nach Österreich - schwer erschüttert
hat. Die damalige Gesundheitsministerin in Bayern, Frau
Stamm, hat monatelang, vielleicht sogar ein ganzes Jahr
lang - nach den Auskünften des Kollegen Pschorn weiß
man das nicht so genau - Hinweise auf diesen Missbrauch in der Schublade liegen gelassen und ist dem
nicht nachgegangen, was letztendlich zu ihrem Rücktritt
geführt hat. Die Reaktion erfolgte nach dem Motto: Da
läuft der Schuldige; da wird ein Gesetz gemacht. Mit der
elften AMG-Novelle hat man nach meiner Einschätzung
überreagiert.
({1})
Das war der Ausgangspunkt. Dafür ist der Bundesrat mit
einem Votum von 16 : 0 verantwortlich, mit Sicherheit
nicht die Bundesregierung. Das wissen auch Sie.
({2})
Das Problem, das wir heute bei der Umsetzung und
Anwendung der dreizehnten Novelle haben, ergibt sich
sicherlich nicht nur aufgrund des Inhalts dieses Gesetzes
und der Vorgabe der Siebentagefrist. Die Gestaltungsmöglichkeiten, die man zwischenzeitlich gefunden hat
- darunter muss man auch die Anwendungshinweise fassen, die sich im Rahmen der Anwendung der elften Novelle durch entsprechende Interpretation aus dem Umfeld der LAGV ergeben haben -, haben dazu geführt,
dass es offensichtlich nun doch möglich ist, mit sieben
Tagen zurecht zu kommen, ohne den Verbraucherschutz,
die Sicherheit und die Rückstandsfreiheit tierischer Lebensmittel infrage zu stellen.
Das Problem, das wir weiterhin auf der Länderebene
haben werden - das wissen auch Sie, Herr Kollege
Goldmann -, betrifft die Überwachung.
({3})
Wenn man Regelungen flexibler gestalten will, muss
man in der Lage sein, diese Vorgaben zu überprüfen und
zu kontrollieren. Dazu ist die Länderebene offensichtlich
nur begrenzt in der Lage. Die Beamten haben mit allergrößten Befürchtungen auf die Behandlungspläne reagiert. Sie hatten die Befürchtung, dass das gesamte Veterinäramt unter Umständen eine Extraabteilung anmieten
muss, um die Überwachungspläne unterbringen und
kontrollieren zu können. Am Anfang war auch ich ein
Anhänger des Behandlungsplans. Aber die Aussage, die
in dem Behandlungsplan getroffen werden soll, ist nicht
viel weit reichender als das, was wir in dem normalen
Anwendungs- und Abgabebeleg auch haben.
Ein alternativer Lösungsansatz war die Indikationenliste, die nun Gott sei Dank vom Tisch ist. Ich halte auch
sie für nicht anwendungsfähig. Vor diesem Hintergrund
ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass es vielleicht doch
besser ist, die Siebentagefrist beizubehalten. Ob das bei
der fünfzehnten Novelle auch so sein wird - das Arzneimittelgesetz wird häufiger novelliert; die vierzehnte Novelle ist schon in Bearbeitung, wenn auch aus anderen
Gründen -, lasse ich einmal dahingestellt.
Eine Sache ist natürlich auch klar: Das, was damals
von Bayern initiiert wurde und Bundesratsbeschluss war
- das ist hier schon angesprochen worden -, ist grundsätzlich richtig.
({4})
Nur, das AMG ist nicht die Rechtsgrundlage, mit der
man das juristisch umsetzen kann. Das steht außer Frage,
auch wenn man die höchstrichterlichen Rechtsprechungen in anderen Bereichen betrachtet. Es liegt nicht in unserer Kompetenz, diesen Bereich hier im Bundestag zu
regeln. Denn Art. 74 des Grundgesetzes über die konkurrierende Gesetzgebung bietet dafür keine Rechtsgrundlage. Wir haben ausschließlich den Verkehr mit
Arzneimitteln zu regeln, nicht die Gestaltung unter Umständen privater Vertragsverhältnisse, wie es im Rahmen
der Bestandsbetreuung üblich ist.
Daher appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, welche Rechtsgrundlage wir gemeinsam
mit den Ländern finden können! Die Rechtsgrundlage,
für die dringend nötige Regelung dieses Bereichs kann
das AMG zwangsläufig nicht sein. Ich sehe eine vernünftige Perspektive, dieses Vorhaben im Konsens mit
den Ländern anzugehen. Denn zu dem Gesetzentwurf,
der von Bayern eingebracht worden ist, hat die Bundesregierung gesagt, dass sie das grundsätzliche Ansinnen
positiv bewertet.
Vor diesem Hintergrund halte ich es für vernünftig,
dieses noch einmal anzugehen. Wenn es uns im Interesse
auch anderer Aufgaben, die wir haben, gelingt, das umzusetzen, dann bedeutet das eine entscheidende Verbesserung der Qualität von tierischen Lebensmitteln, weil
wir den Gesundheitsstatus verbessern und auch die Anwendung von Arzneimitteln in den Konzepten der integrierten tierärztlichen Bestandsbetreuung weiter minimieren können. Das ist unbestritten. Lassen Sie uns das
gemeinsam anpacken! Dann können wir der dreizehnten
Novelle mit ihren positiven Auswirkungen und ihren Erleichterungen ein Mehr an Sicherheit für die Verbraucher
und die Landwirte und ein neues Instrumentarium, mit
dem wir dieses regeln, hinzufügen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erst einmal ein herzliches Dankeschön an die Berichterstatterkollegen. Lieber Wilhelm Priesmeier, Sie haben
uns aufgefordert, gemeinsam über das Thema nachzudenken. Wir haben aber schon die vergangenen zwei
Jahre darüber nachgedacht. Für uns mag das durchaus
witzig sein, sich zusammenzusetzen, aber für die Tierhalter, die Tierärzte, die Tiere selber und für die Verbraucher ist es alles andere als witzig, wenn wir zwei Jahre
lang im Bundestag zusammentreffen und der Einwurf
von Bayern zunächst als wunderbar bezeichnet wird,
aber dann wieder zurückgerudert werden muss.
Zu Beginn der Legislaturperiode saßen wir vier als
Vertreter der vier Fraktionen im Parlament beisammen
und haben uns auf die Punkte parteiübergreifend geeinigt, die in unserem Antrag enthalten sind und die auch
die FDP unterstützt hat. Wir haben uns auch über die
Flexibilisierung und die Änderung bzw. Öffnung der
Siebentageregelung geeinigt. Ich hätte gerne heute zur
Erinnerung die Reden aus jener Zeit noch einmal gehört.
({0})
- Da waren wir zwar noch jünger - das mag vielleicht
sein -, aber nicht dümmer. Insofern bedaure ich das sehr.
Wenn Sie ehrlich wären, lieber Kollege Ostendorff
und lieber Kollege Priesmeier, dann sollten Sie sagen,
dass es Ihnen wehtut, den Gesetzentwurf heute verteidigen zu müssen; denn als Praktiker empfinden Sie doch
beide ganz anders.
({1})
Es heißt zwar „Gut Ding braucht Weile“, aber nicht
alles, was lange dauert, ist dann auch wirklich gut. Wir
befassen uns heute im Plenum zum fünften Mal mit der
dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes. In diesem
langen Arbeitsprozess wundert man sich manchmal über
nichts mehr. Sie wurden damals zurückgepfiffen, Kollege Ostendorff. Von Regierungsseite hieß es seinerzeit,
Sie dürften den Brief, den wir im Sinne eines gemeinsamen Gesetzesvorhabens an die Ministerin senden wollten, nicht unterschreiben. Wir wollten damit ein Zeichen
nach draußen setzen, dass wir ein Gesetz aus der Mitte
des Parlaments heraus schaffen. Wir könnten schon seit
über einem Jahr mit diesem Gesetz leben. Aber das war
Ihnen aufgrund des Koalitionsvertrags nicht möglich.
Auch der Kollege Priesmeier durfte nicht mitmachen.
Insofern war das Vorhaben versenkt.
Aber nach dem, was Sie heute ausgeführt haben,
scheint es diesen Brief nie gegeben zu haben. Das ist
wahrscheinlich das Los, wenn man in der Regierung ist.
Uns tut das sehr Leid; denn uns geht es um eine Verbesserung der Zustände und um die praxisgerechte Umsetzung der Siebentageregelung.
Lob verdienen einige Verbesserungen, die von der
CDU/CSU, der FDP, den beiden Kollegen Priesmeier
und Ostendorff und auch vom Bundesrat - auch dafür
waren wir sehr dankbar - immer wieder gefordert worden sind. Danach werden das Umfüllen von Arzneimitteln aus fertigen Gebinden, das fachgerechte Neuverpacken und Kaskadenregelungen ermöglicht. Alles in
allem werden viele Maßnahmen möglich, die der Praxis
gerecht werden. Das verdient Lob. Herzlichen Dank!
({2})
Aber eigentlich geht es um die Siebentageregelung,
und zwar um deren Flexibilisierung, nicht um die Streichung. Wir sind nach wie vor dem Verbraucherschutz
und dem Tierschutz verpflichtet. Es geht nicht darum,
dass leicht und locker Antibiotika eingesetzt werden sollen. Das ist auf keinen Fall beabsichtigt. Es geht uns
vielmehr darum, wie eine sachgerechte Anwendung sichergestellt und dokumentiert werden kann.
Wir wollen insofern keine ersatzlose Abschaffung der
Siebentageregelung, aber wir sind der Meinung, dass
eine praxisgerechtere Lösung durch entsprechende Kriterien des In-Verkehr-Bringens - das heißt: flexible tierärztliche Behandlungspläne und Aufnahme von Betreuungsverträgen je nach Tierhaltungsart - möglich sind.
Ehrlich gesagt bin auch ich nicht ganz glücklich über
den Bundesrat. Dass sich die Länder - das gilt vor allem
für unsere Kollegen aus dem Osten - durchgesetzt haben, die eine andere Tierstruktur haben, ist nachvollziehbar, aber ich halte es für zu kurz gedacht.
({3})
- Eine Kuh ist eine Kuh. Schön, dass Sie das einwerfen.
({4})
- Und ein Ochs ist ein Ochs. Auch das mag sein.
Aber es hat durchaus mit der Tierhaltung zu tun, ob
Sie eine Kuh oder große Herde haben und ob Sie Mutterkuhhaltung auf der Weide betreiben oder ob die Kühe
im Stall sind. Das ist eine grundsätzliche Unterscheidung. Man merkt, dass Sie kein Praktiker sind.
({5})
Am besten lesen Sie etwas zu dem Thema nach und halten sich an dieser Stelle etwas zurück.
({6})
Schlicht und ergreifend falsch, lieber Kollege
Priesmeier, ist meiner Meinung nach die Argumentation,
dass der Bund in diesem Bereich angeblich keine Regelungskompetenz hat. Träfe das zu, dann wäre auch das
jetzt geltende Recht nach der elften Novelle verfassungswidrig. Denn es geht um die auch dort geregelten regelmäßigen tierärztlichen Begutachtungen.
({7})
- Ich freue mich immer, wenn die FDP mich dabei unterstützt. - Das ist eine Auslegungsfrage und Sie wissen,
dass ich darin Recht habe.
({8})
Es geht hier nicht um die konkrete Ausgestaltung zum
Beispiel eines Behandlungsvertrags, sondern um die gesetzlich festzulegenden Anforderungen und deren Umsetzung. Wenn man will, geht das. Ich weiß, dass Sie
gerne würden. Aber Sie durften nicht. Insofern dürfen
Sie jetzt nicht wollen. Mir ist schon klar, dass es so ist.
({9})
- Sie waren ja zu Beginn der Gespräche gar nicht dabei,
als wir darüber diskutiert haben.
({10})
Apropos Kompetenzfragen: Der Oberhammer ist
- darauf hat Kollege Goldmann schon hingewiesen - die
Tierarzneimittelanwendungskommission. Das ist eine
dreiste Kompetenzverschiebung. Letztlich ist sie nichts
anderes als eine Tierärzteentmündigungskommission.
({11})
Jedenfalls sind ganze 7 000 Euro für die Arbeit der Experten vorgesehen. Das reicht vielleicht gerade einmal
für die Reisekosten. Meiner Meinung nach geht es hier
nur vordergründig um die Fortschreibung der Antibiotikaleitlinien. Diese wurden seit 1999 ständig fortgeschrieben, und zwar auch ohne diese Kommission. Obwohl Sie selbst Tiermedizin studiert haben, tun Sie nun
so, als gäbe es bis dato keine Leitlinien. Diese gibt es
doch. Ehrlich gesagt geht es dem BMVEL um etwas
ganz anderes: Ihnen geht es um einen Zugriff auf die
Tierarzneimittelgesetzgebung, die bisher in die Zuständigkeit der Gesundheitsministerin fällt. Nun möchte
Frau Künast das über die geschilderte Hilfskonstruktion
ändern.
Halten wir fest: Es gibt gute Ansätze. Die Arzneimittelanwendungskommission muss aus dem Gesetzentwurf herausgenommen werden. Die Siebentageregelung muss flexibilisiert werden. Wir würden gerne
weiterhin zusammen mit Ihnen an der Novelle arbeiten,
und zwar lieber in dieser Legislaturperiode, als später
noch einmal ein Fass aufzumachen und von vorne zu beginnen.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Dreizehnten
Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes,
Drucksache 15/4736. Der Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5112, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/
CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef
Parr, Ulrike Flach, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik ({0})
- Drucksache 15/1234 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({2}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Sachstandsbericht Präimplantationsdiagnostik - Praxis und rechtliche Regulierung in sieben ausgewählten Ländern
- Drucksache 15/3500 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Detlef Parr von der FDP.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zuerst den anderen Fraktionen herzlich danken,
dass die FDP als Erste zu Wort kommen kann und dass
wir einmal fünf Minuten und nicht weniger haben. Ganz
herzlichen Dank.
Die FDP unternimmt heute ihren zweiten Versuch,
aufbauend auf einem Antrag und einem Gesetzentwurf
aus der vergangenen Wahlperiode, die Präimplantationsdiagnostik, PID - das ist eine Form der künstlichen
Befruchtung, um den Embryo vor der Einpflanzung auf
die Gefahr einer schwerwiegenden Erbkrankheit zu untersuchen -, auch in Deutschland rechtlich abzusichern.
Damals bedurfte es noch großer Anstrengungen, zur Anhörung Experten aus dem Ausland einzuladen. Dabei ist
doch der Blick zu unseren europäischen Nachbarn und
nach Übersee besonders wichtig, um Fehlentwicklungen
zu erkennen oder uns an Vorbildern zu orientieren. Wir
leben nämlich nicht auf einer Insel mit willkürlich gesetzten moralischen Schutzzäunen.
({0})
Wir leben vielmehr im Herzen Europas nahezu ohne
Grenzen. Wir können leicht medizinische Leistungen in
Frankreich, Belgien und Italien in Anspruch nehmen. Es
ist doch absurd, wenn dort akzeptierte medizinische Verfahren bei uns unter Strafe gestellt sind.
Es ist ein Verdienst des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung - danke, Kollegin Flach! -, dass durch den vorliegenden Sieben-Länder-Vergleich zur Praxis und rechtlichen Regulierung
der PID eine gute Grundlage zur Fortsetzung der von der
FDP im Bundestag angestoßenen Debatte in diesem
Hause geschaffen worden ist.
Die Untersuchung - man kann sie natürlich unterschiedlich lesen - beweist aus unserer Sicht: Die FDP
hat ihren ersten Gesetzentwurf sehr sorgfältig überarbeitet. Sie hat im vorliegenden Gesetzentwurf vielen Aspekten Rechnung getragen, die nach den praktischen Erfahrungen in den Vergleichsländern von hoher
Bedeutung sind. Wir wollen Rechtssicherheit für die betroffenen Paare und die Ärzte. Die PID muss aus der
rechtlichen Grauzone heraus.
({1})
Wir wollen den Wertungswiderspruch auflösen, dass
PID zwar verboten ist, dass es den Eltern aber ermöglicht wird, sich nach einer Pränataldiagnostik für einen
Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Wir wollen
die PID nur in engen Grenzen im Falle einer hohen
Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Erbkrankheit zulassen. Wir wollen die Diagnostik nur in Einzelfällen bei hoher Indikation nach vorheriger Billigung
durch eine Ethikkommission ermöglichen. Außerdem
wollen wir nur wenige lizenzierte Zentren in Deutschland.
({2})
Wir verzichten auf einen Indikationskatalog. Wir
dürfen bestimmte Krankheitsbilder nicht stigmatisieren.
({3})
Die PID soll also eine Untersuchungsmethode bleiben,
Herr Kollege Hüppe, die einer überschaubaren Zahl von
Risikopaaren, die genetisch stark vorbelastet sind, vorbehalten bleibt.
({4})
In die jetzt vorliegende Fassung hat die FDP auch die
Bedenken aus der Plenardebatte und der Anhörung zum
alten Gesetzentwurf aufgegriffen und eingearbeitet. Die
Festlegung der Kriterien für die Zulässigkeit der PID soll
- anders als zuvor - nicht durch die Bundesärztekammer, sondern durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung bzw. durch uns selbst, also durch das Parlament, erfolgen. Zudem wurde die Anregung des
Nationalen Ethikrates, eine jährliche Berichtspflicht vorzusehen, eingearbeitet.
Der TAB-Bericht zeigt einerseits die drohenden Gefahren auf, wenn - die USA können dafür als Beispiel
angeführt werden - die PID ungeregelt praktiziert und
auf Indikationen ausgedehnt wird, die über die Erkennung des Risikos einer Erbkrankheit hinausgehen. Das
wollen wir nicht.
({5})
Er zeigt andererseits die guten Erfahrungen unserer direkten Nachbarn, zum Beispiel Frankreichs, mit strengen
Indikationsregelungen auf. Das wollen wir. Kassandrarufe über einen Dammbruch gehen offensichtlich ins
Leere.
({6})
Bisher ist die Sichtweise der betroffenen Eltern viel
zu kurz gekommen. Der Leidensdruck und der Wunsch,
ein gesundes Kind zu bekommen, sind immens. Meist
haben die Eltern schon ein erkranktes Kind oder
Schwangerschaftsabbrüche nach einer PND hinter sich.
Diese Eltern wünschen sich mehrheitlich die PID. Endlich gibt es auch dazu eine Studie. Die Arbeit der Universität Marburg bestätigt auch, wie wichtig die AufkläDetlef Parr
rung über die Chancen und Risiken der Methode und die
Beratung sind. Eltern müssen ihre Entscheidung auf gesicherter Grundlage treffen können.
Wir verstehen nicht, dass in Deutschland hingenommen wird, dass sich betroffene Eltern an Zentren im
Ausland wenden und dort die PID in Anspruch nehmen.
Dieser „Reproduktionstourismus“ ist eine traurige Realität. So sind zum Beispiel in Brüssel circa 20 Prozent der
nachfragenden Paare deutscher Nationalität. Niemand
von uns kann doch wollen, dass das so weitergeht.
({7})
Ich komme zum Schluss. Eine Insellösung für
Deutschland ist daher nicht haltbar. Die Befürchtungen,
dass die Zulassung der PID negative Auswirkungen auf
Menschen mit Behinderungen haben könnte, nehmen
wir sehr ernst. Doch gerade betroffene Eltern kommen
meist aus einem unmittelbaren Umfeld von behinderten
Menschen und zeigen eine positive Einstellung zu Menschen mit Behinderungen. Auch dies bestätigt die Marburger Studie. Zudem gibt die Gesellschaft den Eltern
schon mit der PND die Möglichkeit, zu entscheiden, ob
ein behindertes Kind ausgetragen werden soll oder nicht.
Ich bin auf die Neuauflagen unserer Debatte gespannt. Ich wünsche mir nach den zunehmend positiven
Expertisen und Abstimmungsergebnissen in anderen
Gremien eine offenere und unvoreingenommenere Auseinandersetzung im Interesse der betroffenen Paare. Sie
dürfen wir mit ihren Sorgen nicht länger alleine lassen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Erika Ober von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute steht
mit dem Gesetzentwurf der FDP wieder die Präimplantationsdiagnostik auf der Tagesordnung. Ich persönlich
finde es gut, dass über dieses wichtige und auch schwierige Thema an dieser Stelle debattiert wird. Lieber Herr
Parr, es ist kein Thema, das fraktionsweise abzuhandeln
ist.
({0})
Deshalb ist es auch klar, dass Sie als Einbringer des Gesetzentwurfes hier als Erster reden durften.
({1})
Als Erstes weise ich ausdrücklich darauf hin, dass die
Rechtslage klar geregelt ist. Wir brauchen zum jetzigen
Zeitpunkt keinen neuen Gesetzentwurf, der eine Rechtsverordnung zum Ziel hat.
({2})
Was wir brauchen, ist eine breite und öffentliche Sachdiskussion darüber, wie wir zukünftig mit dem Thema
Präimplantationsdiagnostik umzugehen haben. Aus diesem Grunde begrüße ich die heutige Debatte. Ich denke,
dass eine Rechtsverordnung, wie sie die FDP in ihrem
Entwurf vorschlägt, der Komplexität des Themas nicht
ganz gerecht wird. Ihr Entwurf greift für meine Begriffe
zu kurz. Ihm fehlt die nötige formelle Weitsicht.
Ich komme zum derzeitigen Stand: Es ist in Deutschland nicht erlaubt, befruchtete Eizellen außer zur Herbeiführung einer Schwangerschaft zu erzeugen. Konkret
heißt das: In Deutschland ist es erlaubt, Eizellen zu befruchten und diese in die Gebärmutter einzusetzen. Es ist
aber nicht erlaubt, sie vorher auf chromosomale Störungen zu untersuchen. Eine chromosomale Störung ist
zum Beispiel die Verdopplung von Chromosomen, was
in über 50 Prozent der Fälle zu Fehlgeburten führt. Dagegen ist eine genetische Untersuchung während einer
schon bestehenden Schwangerschaft erlaubt. Wir müssen früher oder später die Frage beantworten, warum in
Deutschland die Entnahme, Befruchtung und Implantation von Eizellen in die Gebärmutter erlaubt ist, nicht
aber die vorherige genetische Untersuchung der befruchteten Zellen in der Petrischale.
({3})
Was kann Präimplantationsdiagnostik? Unter Präimplantationsdiagnostik versteht man medizinische Verfahren zur Untersuchung einer künstlich befruchteten
Eizelle. Diese Eizelle wird im Rahmen einer In-vitroFertilisation aus dem Eierstock der Frau nach einer Hormonbehandlung gewonnen und außerhalb des Mutterleibes befruchtet. Alle befruchteten Eizellen müssen nach
circa drei Tagen reimplantiert werden. Präimplantationsdiagnostik - Sie haben es gesagt - ist in vielen europäischen Ländern unter unterschiedlichsten Bedingungen
möglich. Den Sachstandsbericht zur Präimplantationsdiagnostik haben Sie angesprochen. Darin werden die
Regelungen in sechs europäischen Ländern und in den
USA dargestellt und miteinander verglichen. Dieser
muss ausgewertet werden.
({4})
Wie begründen wir gegenüber den Menschen, die
sich ein Kind wünschen, aber eine schwere gesundheitliche Vorbelastung aufweisen, dass wir nicht das erlauben,
was in anderen Ländern möglich ist? Ich sehe als Folge
der Erfahrungen aus anderen Ländern die Notwendigkeit, über diese Frage weiter zu debattieren. Wichtig ist
dabei auch die Analyse der gesellschaftlichen Realität.
Ich wiederhole es noch einmal: Bei chromosomalen Störungen kommt es im Verlauf der Schwangerschaft in
über 50 Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt. Weil die
Präimplantationsdiagnostik nicht erlaubt ist, wird ausweichend oder als Notlösung in Deutschland zunehmend
eine Polkörperchenuntersuchung der weiblichen Eizelle vorgenommen.
({5})
Hier ist es nur möglich, den halben Chromosomensatz,
nämlich den der Mutter, zu untersuchen. Im Gegensatz
dazu wird bei der Präimplantationsdiagnostik der
gesamte Chromosomensatz untersucht. Die Polkörperchendiagnostik liefert also Aufschluss über die mütterliche Seite und hat demzufolge nur eine begrenzte
Aufschlussrate, nämlich 50 Prozent.
Bei schwerwiegender gesundheitlicher Vorbelastung
der Eltern oder eines Elternteiles wird möglicherweise
um die 15. Schwangerschaftswoche eine Pränataldiagnostik durchgeführt, insbesondere bei einem Wunschkind. Das müssen wir wissen. Das heißt, bei entsprechender Disposition der Eltern kann eine Untersuchung
des Embryos nicht außerhalb des Mutterleibes, sondern
frühestens um die 15. Schwangerschaftswoche erfolgen,
also bei schon bestehender und fortgeschrittener
Schwangerschaft. Die Untersuchung im Mehrzellenstadium - wir reden hier von 16 Zellen - vor der Implantation ist verboten.
Uns allen ist klar: Es geht bei der Präimplantationsdiagnostik um ein sehr schwieriges Thema. Wir wissen,
dass es sehr unterschiedliche Meinungen zum Thema
Präimplantationsdiagnostik gibt, die unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt verdienen. Bekannt ist das
Votum der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages aus
dem Jahre 2002: Hier wird uns mehrheitlich eine Präzisierung der Regelungen von Präimplantationsdiagnostik
zu diagnostischen Zwecken aufgegeben.
Der Nationale Ethikrat hat im Januar 2003 für eine
eng begrenzte und verantwortungsvolle Zulassung der
Präimplantationsdiagnostik votiert. Der Ethikrat sieht
kein verfassungsrechtliches Verbot vorgegeben. Vielmehr wurde ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
konstatiert.
Darüber hinaus wenden sich viele einzelne Menschen
und Gruppen aus der Gesellschaft an uns Mitglieder des
Deutschen Bundestags, um ihre Meinungen und Erfahrungen an uns heranzutragen. Die einzelne Meinung hat
Respekt verdient und der Gesetzgeber hat die Aufgabe,
die gesellschaftliche Realität mitsamt der vorhandenen
Meinungsvielfalt in seine Beschlüsse einzubinden. Dies
bedeutet, das Für und Wider abzuwägen und aus gegebenem Anlass auch das Bestehende zu überdenken.
Ich halte es für falsch, eine Entscheidung zur Präimplantationsdiagnostik immer wieder aufzuschieben.
Dem steht auch entgegen, dass wir ständig mit neuen Informationen aus der Biotechnologie rechnen müssen.
Hier ist eine Abwägung nötig, aber um Missverständnissen vorzubeugen, sage ich gleich dazu: Man muss nicht
alles machen, was geht.
Der heute vorliegende Entwurf verzichtet auf eine
konkrete inhaltliche Regelung. Er fordert eine Rechtsverordnung und will die inhaltliche Auseinandersetzung
um ethische Fragen anderen zuweisen. Damit werden
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihrer eigenen Forderung nach mehr Rechtsverbindlichkeit
nicht gerecht.
Wir müssen anerkennen, dass wir vor einem großen
Widerspruch stehen und dafür lieber früher als später
eine rechtliche Lösung finden müssen.
({6})
- Lassen Sie uns diskutieren, Herr Parr! - Es verdichtet
sich, dass eine Ausformulierung über den zukünftigen
Umgang mit Präimplantationsdiagnostik in Deutschland
benötigt wird. Wir brauchen einen rechtsverbindlichen
Rahmen, der die realen Lebensumstände der Menschen
besser berücksichtigt. Wir sollten Verantwortung zeigen
und den Rahmen für Präimplantationsdiagnostik präzisieren. Das geht aus meiner Sicht mit einem formellen
Gesetz und nicht mit einer Rechtsverordnung. Sinnvoll
wäre meiner Meinung nach die Einbettung einer Regelung zur Präimplantationsdiagnostik in einen Gesamtkontext der Reproduktionsmedizin. Eine ausschließlich
strafrechtliche Regelung, wie wir sie jetzt im Embryonenschutzgesetz haben, wird der Gesamtproblematik sicher nicht gerecht.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Präimplantationsdiagnostik ist eine Untersuchungsmethode,
um menschliche Embryonen auf ihre erblichen Eigenschaften hin zu untersuchen. Die FDP spricht in ihrem
Gesetzentwurf ganz unbefangen von „Erbkrankheiten“.
Es geht also um eine Selektion von erbkrankem Nachwuchs und das Ergebnis der PID ist die Tötung von
menschlichem Leben, weil es krank oder behindert ist.
Nach dem von der FDP vorgelegten Gesetzentwurf
wird eine künstliche Befruchtung nicht durchgeführt,
weil ein Paar sonst keine Kinder bekommen könnte, sondern allein aus dem Grund, um Kinder nach genetischen
Merkmalen auszusuchen.
({0})
Ziel der künstlichen Befruchtung darf es aber eben nicht
sein, menschliches Leben zu erzeugen, um es zu testen,
sondern Ziel muss sein, dass es zur Welt kommt, meine
Damen und Herren.
({1})
Die FDP - gerade auch Herr Parr wieder - behauptet,
sie wolle die PID eng begrenzen. Der Bericht des Büros
für Technikfolgenabschätzung, den wir heute mit beraten, hat mehrere Länder untersucht, in denen die PID
schon praktiziert wird. Er zeigt, wie schwer es ist, PID
zu begrenzen, wenn sie erst einmal zulässig ist. Der Bericht belegt, dass jede neue Einsatzmöglichkeit von
PID zu Druck führt, sie auch zuzulassen. PID wird im
Ausland sogar zur Geschlechtswahl aus sozialen Gründen eingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, wird in
der Petrischale getötet.
({2})
- Ich komme gleich dazu. - In Großbritannien dürfen
seit November Embryonen aussortiert werden, die ein
erhöhtes genetisches Risiko für Darmkrebs haben.
({3})
In anderen Ländern wird auf ein erhöhtes Brustkrebsrisiko untersucht und danach selektiert. Mit anderen Worten: Man tötet in diesen Ländern Embryonen auch dann,
wenn man gar nicht weiß, ob diese Menschen später einmal erkranken oder behindert sein werden. Nur der Verdacht reicht aus. Inzwischen gibt es sogar einen Test auf
niedrige Intelligenz. Wer hat eigentlich noch eine
Chance, geboren zu werden, wenn bald mithilfe des
DNA-Chips Tausende von Erbanlagen in einem Durchgang geprüft werden können?
Ich glaube, dass - jetzt komme ich zu Ihnen, Herr
Parr - die FDP mit einer Ausweitung der PID rechnet,
wenn diese erst einmal zugelassen ist. So schreiben Sie
selbst, dass man - so wörtlich - „bis auf weiteres nur mit
wenigen hundert Fällen“ rechnet. Also kalkulieren Sie
doch offensichtlich die Ausweitung der PID ein. So
heißt es auch in Ihrer Begründung, deutsche Paare führen immer häufiger nach Belgien. Heute haben Sie gesagt, das wolle man diesen Paaren ersparen.
Natürlich weiß die FDP, wenn sie den Bericht gelesen
hat, wie liberal die PID in Belgien praktiziert wird. Außer der Geschlechtswahl aus sozialen Gründen, also „social sexing“, ist dort alles möglich. Wenn die FDP den
PID-Tourismus nach Belgien zum Kronzeugen macht,
dann ist es die logische Konsequenz, über kurz oder lang
in Deutschland PID für alles zu erlauben, was in Belgien
möglich ist.
({4})
- Die Leute würden ja weiterhin nach Belgien fahren,
wenn sie die Indikation, die sie hier haben möchten, in
Deutschland nicht bekommen. Dieses Argument kann
nicht gelten, Frau Ober.
({5})
Die FDP will PID einführen, damit es vorbelasteten
Paaren möglich gemacht wird - so wörtlich -, „eigene
genetisch gesunde Kinder zu bekommen“ und späte Abtreibung nach Pränataldiagnostik zu verhindern. Ich
kann diesen Wunsch einiger betroffener Paare sehr gut
verstehen. Aber was sind die Erfahrungen aus dem Ausland? Die Datensammlung der European Society of
Human Reproduction and Embryology, die im
Schlussbericht der Enquete-Kommission berücksichtigt
wurde, enthält die Daten von 1 561 Patientinnen mit
über 2 000 Behandlungszyklen. Danach - hören Sie genau zu - entstanden aus 26 783 entnommenen Eizellen
gerade einmal 309 Schwangerschaften, die zu 215 Geburten von 279 Kindern führten. Zur Kontrolle der PID
wurde bei 42 Prozent aller Föten eine invasive Pränataldiagnostik vorgenommen. Dabei wurden sieben Fehldiagnosen festgestellt, die vier Spätabtreibungen zur Folge
hatten. Außerdem gab es - weil es heißt, man wolle
Abtreibungen verhindern - 15 Abtreibungen durch so
genannten selektiven Fetozid bei Mehrlingsschwangerschaften. Das heißt, durch die Bauchdecke der Schwangeren wird eine Spritze mit Kaliumchlorid in das Herz
des Fötus gestochen, um ihn zu töten. 6,6 Prozent der
nach PID geborenen Kinder wiesen Fehlbildungen auf,
waren also behindert. Bei 42 Prozent der Geburten traten
Komplikationen auf, drei davon mit Todesfolge.
({6})
Mit anderen Worten: Nur jede siebte Frau, die eine
PID vornehmen lässt, kann überhaupt mit der Geburt eines Kindes rechnen. Diese Zahlen zeigen, dass PID bei
der übergroßen Mehrheit gerade nicht garantiert, ein gesundes Kind oder überhaupt ein Kind zu bekommen.
PID ist auch keine Garantie gegen Abtreibungen nach
Pränataldiagnostik.
Angesichts dieser Daten dürfen aber auch das Wohlergehen und die Gesundheit der Frauen nicht unbeachtet
bleiben, die nach mehreren körperlich und seelisch belastenden Behandlungen weiterhin kinderlos bleiben.
Man kann annehmen - das ist auch meine persönliche
Erfahrung -, dass es diesen Frauen hinterher wesentlich
schlechter ging, als wenn sie sich gar nicht auf das Verfahren eingelassen hätten.
Meine Damen und Herren, erstaunlich ist, wer die
Einführung der PID befürwortet: die FDP-Fraktion, die
Forschungsministerin, die Gesundheitsministerin und
der Bundeskanzler - nach der heutigen Aussage, dass er
auch fürs Klonen ist, kein Wunder -,
({7})
vor allem wenn es sich, wie immer betont wird, nur um
100 oder 200 Paare handeln soll, die betroffen sind. Erstaunlich finde ich das deswegen, weil es zahlenmäßig
weitaus größere Patienten- und Behindertengruppen
gibt, die zum Teil viel größere Probleme haben. Diese
Gruppen wären froh, wenn sie nur einen Bruchteil dieser
Aufmerksamkeit für ihre Probleme erhalten würden.
({8})
Ich habe den Verdacht, dass es vielen Befürwortern
darum geht - ich unterstelle das nicht jedem, aber
einigen -, das Embryonenschutzgesetz insgesamt zu
knacken, auch um durch die PID an überzählige
Embryonen in Deutschland zu gelangen, die es jetzt
nicht gibt.
({9})
- Frau Flach, Sie haben doch Anträge gestellt, in denen
Sie die verbrauchende Embryonenforschung auch in
Deutschland befürworten. Wenn Sie dagegen sind, dann
sagen Sie es bitte jetzt. Ich wäre damit zufrieden. Aber
ich glaube nicht, dass Sie dies tun werden.
({10})
Herr Kollege Hüppe, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren, wir werden gegen den Antrag stimmen, weil mit ihm eine Tür geöffnet werden
soll, die wir vielleicht nie mehr schließen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Parr, Ihre Fraktion schlägt vor, das Embryonenschutzgesetz zu ändern und die so genannte Präimplantationsdiagnostik in, wie Sie sagen, eng begrenzten Fällen
zuzulassen. Wir werden dem nicht zustimmen. Ich sage
Ihnen, warum.
Das alles hört sich viel zu einfach an. Man muss sich
vergegenwärtigen, was dieses Verfahren allein schon auf
der individuellen Ebene bedeutet. Eine Frau, die durchaus auf natürlichem Wege schwanger werden kann,
({0})
muss sich, damit das von Ihnen vorgeschlagene
Verfahren überhaupt greifen kann, zunächst einmal der
In-vitro-Befruchtung unterziehen. Das macht man
nicht einfach im Vorbeigehen. Dieses Verfahren bedeutet
eine Hormonbehandlung, damit eine Überzahl von
Eizellen heranreift, und einen operativen Eingriff, mit
dem diese Eizellen entnommen werden. Es bedeutet ferner die gezielte und gewollte Erzeugung von überzähligen Embryonen im Glas - man will ja selektieren -, die
Vernichtung der Embryonen mit der unerwünschten genetischen Ausstattung
({1})
und schließlich die Implantation derjenigen Eizellen, die
man für geeignet hält.
Wie groß ist anschließend die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft? Wir alle wissen sehr genau, dass
die so genannte Baby-take-home-Rate bei der In-vitroBefruchtung äußerst gering ist.
({2})
Es kann also sein, dass die Frau nach all diesen Maßnahmen kein Kind bekommt. Ich finde, das sollte man sich
erst einmal klar machen. Es werden hier Hoffnungen geweckt. Aber der Preis, der dafür zu zahlen ist, und die
Enttäuschung, die sich aus einem Fehlschlag ergeben
kann, werden zu sehr aus den Augen verloren.
({3})
Ich halte den Vergleich mit der Abtreibung nicht für
richtig. Herr Parr, wenn ich Sie recht verstanden habe,
dann haben Sie gesagt, dass man im Rahmen einer bestehenden Schwangerschaft nach der Pränataldiagnostik die
Wahl habe, die Schwangerschaft weiterzuführen oder
nicht. Das stimmt so nicht. Es ist ein Unterschied, ob
Embryonen in der Petrischale erzeugt werden, zu denen
die Frau oder das Paar keine persönliche Beziehung hat,
({4})
oder ob eine Frau bereits etwa 17 Wochen schwanger ist
und ein Kind in ihrem Körper heranreifen fühlt. In diesem Fall ist das Gefühl der persönlichen Bindung
ungleich stärker. Vor allem aber werden bei einer natürlichen Schwangerschaft eben keine überzähligen
Embryonen erzeugt, die man anschließend vernichtet.
Es besteht auch ein rechtlicher Unterschied. Denn die
Abtreibung ist ein Abwehrrecht, bei dem der Staat auf
seinen Schutzanspruch wegen der Unzumutbarkeit für
die Frau zum Teil verzichtet. Die rechtliche Regelung ist
bekanntlich immer noch so, dass eine Abtreibung als
rechtswidrig angesehen wird, aber straffrei bleibt.
Was Sie wollen, ist ein Anspruch der Frau auf eine
genetische Selektion, auf ein genetisch gesundes Kind.
Das ganze Verfahren soll noch nicht einmal rechtswidrig
sein. Das würde schon eine sehr gravierende rechtliche
Veränderung bedeuten, auf die wir uns nicht verständigen können.
({5})
Herr Parr, es mag ja sein, dass Sie eine solche neue
Regelung auf vergleichsweise wenige Fälle beschränken
wollen; aber ich sage Ihnen, dass das nicht machbar sein
wird. Es wird zu einer Indikationsausweitung kommen.
Das ist im Übrigen auch die Erfahrung in all den Ländern, in denen diese Regelung zunächst in eng begrenzten Fällen eingeführt wurde. Wenn es tatsächlich eine
Rechtsverordnung gäbe, in der das Justizministerium bestimmte Krankheitsbilder beschreibt, bei denen eine solche Diagnostik und Selektion zulässig wäre, dann muss
ich fragen: Was bedeutet das eigentlich für die Menschen, die diese Krankheit haben? Haben Sie darüber
schon einmal nachgedacht?
({6})
Das führt doch zur Stigmatisierung bestimmter Krankheitsbilder. Wie soll man dann in Zukunft in der Gesellschaft über diese Art der Behinderung reden? Das kann
ich mir nicht vorstellen.
Sie sprechen so ohne weiteres von „genetisch belasteten Paaren“. Wir reden von Menschen mit Krankheiten,
mit denen man offensichtlich erwachsen wird und bei
denen die Lebensqualität so hoch ist, dass man sich Kinder wünscht und sich in der Lage fühlt, sie auch ins Leben zu begleiten. Gleichzeitig soll man einen Katalog
von Krankheiten verabschieden, bei deren Vorliegen der
Embryo vernichtet werden darf. Das halten wir für
ethisch nicht vertretbar.
({7})
Wir fürchten uns auch vor den Folgen, die ein solcher
Mechanismus für den Umgang mit behinderten Menschen in unserer Gesellschaft hätte. Wenn es erst einmal
heißt, dass man eine Auslese betreiben kann, die dazu
führt, dass solche Menschen gar nicht erst geboren werden, dann werden wir, so glaube ich, für ein solidarisches Miteinander mit Menschen mit Behinderungen
weniger Platz denn je haben. Wir wollen gerade das Gegenteil.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits in
der letzten Legislaturperiode haben wir über das Thema,
das wir heute beraten, diskutiert. Der Fortschritt von
Wissenschaft und Forschung bringt für uns die Verpflichtung, neue Entwicklungen immer wieder zu prüfen. Es muss geklärt werden, wie sie sich generell auf die
Situation der Menschen und auf die Entwicklung der Gesellschaft auswirken. Maßstab ist für mich und uns dabei
die Würde des Menschen von Anfang an. Das christliche Menschenbild steht für den Schutz des Menschenlebens in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Das
gilt auch für Grenzsituationen des Lebens - gleichgültig,
ob es sich um eine Behinderung, eine schwere Erkrankung, das Leben vor der Geburt oder die Situation des
Sterbens handelt. Das christliche Menschenbild steht gegen eine „Verzweckung“ des Menschen und gegen eine
Unterscheidung von „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben. Es steht auch gegen eine Reduzierung von
Menschen auf ihre Nützlichkeit.
Menschliches Leben entsteht nach überwiegender
Auffassung mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle.
Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigenständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkeiten.
Deshalb hat der frühe Embryo in jedem Fall bereits Anspruch auf einen besonderen Schutz der Rechtsordnung.
Die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht in diesem
Stadium eine Gendiagnostik und damit in der Konsequenz entweder den Transfer des Embryos oder seine
Vernichtung - das heißt: Selektion.
Die PID ist in Deutschland nach den Regelungen des
Embryonenschutzgesetzes nicht zulässig. Die Vorstellung, die Anwendung der PID sei gesetzlich beschränkbar, wird von Fachleuten bestritten. So spricht der Deutsche Ärztinnenbund in seiner Stellungnahme von einer
„Türöffnerfunktion“. Indikationen, Listen nicht akzeptabler Erkrankungen, nach denen gefahndet wird, würden bald ergänzt, erweitert und schließlich ganz abgeschafft werden. Gesetzliche Einschränkungen werden
keinen Bestand haben können. Wer kann denn Eltern gegenüber auf Dauer begründen, welche Krankheiten oder
Behinderungen zumutbar sind und welche nicht?
({0})
Die Erfahrungen in anderen Ländern, in denen es solche
Begrenzungen zunächst gegeben hat, zeigen, Herr Kollege Parr, dass diese auf Dauer nicht haltbar sind und
dass auch gesunde Menschen die PID zum Beispiel für
eine Wunschkindproduktion nutzen.
({1})
Auch bei der Entwicklung der Pränataldiagnostik hat
man in Deutschland anfangs von einer begrenzten Zahl
von 175 Paaren gesprochen. Heute sind es mehr als
70 000. Das muss man einfach wissen.
Eine Zulassung der PID kann auch nicht mit der
Rechtssituation für den Schwangerschaftsabbruch gemäß §§ 218 ff. StGB begründet werden. Die Ausnahmen
von der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen betreffen Situationen, in denen es um einen Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und dem
Recht der Schwangeren auf Leben und physische und
psychische Unversehrtheit geht. Die Straffreiheit des
Schwangerschaftsabbruchs wird damit gerechtfertigt,
dass der Konflikt für die Frau „nicht auf eine andere für
sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“, wie es
im Gesetz heißt. Letztlich geht es um die Abwägung des
Lebensrechts der Mutter und des Lebensrechts des Kindes. Das ist bei der PID nicht der Fall.
({2})
Eine Einführung der PID fördert die Gefahr, in Kategorien von „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“
Leben zu denken und zu handeln. Bereits heute müssen
sich Eltern behinderter Kinder fragen lassen: Hat denn
das sein müssen? Der soziale Druck auf Eltern und insbesondere auf Frauen, die Kinder mit Behinderungen zur
Welt bringen, würde sehr groß werden.
Durch die Zulassung eines solchen Verfahrens würde
sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Menschen mit
Behinderung verändern. Dies träfe dann aber alle Menschen, die aufgrund von Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen sowie aufgrund von Erkrankungen
und Unfällen im späteren Leben behindert sind. Das sind
80 bis 90 Prozent der Behinderten. Auch die PID, die
Präimplantationsdiagnostik, kann kein gesundes und
nicht behindertes Kind garantieren.
Die PID ist grundsätzlich mit einer In-vitro-Fertilisation verbunden; meine Vorrednerin hat es angesprochen.
In Anhörungen im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend wurde wiederholt bestätigt, dass
diese mit großen physischen und psychischen Belastungen insbesondere für die Frau verbunden ist. Gesundheitliche Risiken sind nachgewiesen. Zudem ist - auch
das wurde vorhin gesagt - die Anwendung der IVF sehr
ineffizient. Ich kenne keinen Frauenverband, der für die
PID ist. Der Deutsche Ärztinnenbund und der Deutsche
Frauenrat zum Beispiel sprechen sich nachdrücklich gegen die PID aus.
Der Wunsch von Eltern, das Risiko einer schweren
genetischen Erkrankung oder einer Behinderung des eigenen Kindes weitgehend auszuschließen, rechtfertigt
kein Verfahren, das menschliches Leben auf den Prüfstand stellt. Auch eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik führt zu einer Aufkündigung
des Wertekonsenses in unserer Gesellschaft. Die Menschenwürde steht nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht
zur Disposition. Daher ist es notwendig, klare ethische
Grenzen zu setzen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1234 und 15/3500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Abweichend von der Tagesordnung soll die Vorlage auf
Drucksache 15/1234 federführend an den Ausschuss für
Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig,
Volker Beck ({0}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche
- Drucksache 15/4134 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 15/5132 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Jerzy Montag
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Ich bedanke mich sehr herzlich, verehrter Herr Präsident, und grüße Sie ganz herzlich. Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. In diesem Entwurf
wird genau das geregelt, was wir bereits im Zusammenhang mit der Mietrechtsreform im September 2001 gewollt haben. Weil ich das damals als rechtspolitischer
Sprecher gewollt habe, rede ich heute zu diesem Thema;
denn es war einer meiner Herzenswünsche, dass dies so
kommt.
({0})
Die Mietrechtsreform hat die Kündigungsfrist zugunsten der Mieter geändert: Seit September 2001 können Mieter grundsätzlich mit einer dreimonatigen Frist
kündigen. Diese Kündigungsfrist kann von den Vertragsparteien nicht verlängert werden. Dieses so genannte
Abweichungsverbot gilt allerdings nicht für Verträge, in
denen die Parteien vor dem 1. September 2001 andere
Kündigungsfristen vereinbart haben.
Ob eine solche Vereinbarung auch dann vorliegt,
wenn ein Formularmietvertrag lediglich den alten Gesetzeswortlaut wiedergibt, war umstritten. Nach dem Willen des Rechtsausschusses des Bundestages sollte in diesen Fällen das Abweichungsverbot gelten. Das heißt, es
sollten die neuen Kündigungsfristen Anwendung finden.
Der Rechtsausschuss ist davon ausgegangen, dass der
Gesetzeswortlaut dies deutlich zum Ausdruck bringt. So
haben es auch verschiedene Instanzgerichte gesehen,
beispielsweise das Landgericht Hamburg, das im Jahr
2002 entschieden hat, dass längere Kündigungsfristen in
Altverträgen nur dann gelten, wenn sie individuell
vereinbart worden sind. Der Bundesgerichtshof hat
allerdings im Juni 2003 entschieden, dass auch bei Formularverträgen, die nur die bestehende Gesetzeslage
wiederholen, eine vertragliche Vereinbarung im Sinne
der Übergangsvorschrift vorliegt und in diesen Fällen
die alten Kündigungsfristen weiter gelten.
Die Koalitionsfraktionen haben daraufhin das Für und
Wider einer Regelung, wie sie ursprünglich vom Rechtsausschuss beabsichtigt war, erneut umfassend abgewogen. Das Ergebnis ist der vorliegende Gesetzentwurf,
mit dem die Übergangsvorschrift so auf Altmietverträge
angewendet werden kann, wie es der Rechtsausschuss
von Anfang an gewollt hat. Zukünftig werden also Kündigungsfristen in Altmietverträgen nur dann zu beachten
sein, wenn die entsprechende Formularklausel etwas anderes als eine bloße Wiederholung der früher geltenden
gesetzlichen Regelungen enthält oder wenn es sich um
eine individuelle Vereinbarung handelt.
Wie ich bereits eingangs sagte, begrüßt die Bundesregierung den vorliegenden Gesetzentwurf. Er verhilft
dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers wieder zur
Geltung und sorgt für Rechtsklarheit und für Rechtssicherheit. Damit kommen zahlreiche Mieter, die bislang
nur mit einer sechs- oder zwölfmonatigen Frist ihre Verträge kündigen können, in den Genuss der kurzen
dreimonatigen Kündigungsfrist. Wir stärken damit die
Mietermobilität, wie wir es auch schon mit der Einführung der neuen kurzen Kündigungsfrist getan haben.
({1})
Wir helfen damit den Mietern, auf die Erfordernisse
des modernen Arbeitsmarkts zu reagieren, der ihnen immer wieder auch Ortswechsel oder, wie Sie sagen, mehr
Mobilität abverlangt.
({2})
Ich bin mir sicher, dass die wenigen Vermieter, die
von der Regelung noch betroffen sind, sich leicht darauf
einrichten und gut damit werden umgehen können. Es ist
richtig, dass für den Vermieter die in manchen Altmietverträgen vorgesehenen längeren Kündigungsfristen
günstiger waren. Aber ich meine, dass wir mit den Kündigungsfristen der Mietrechtsreform einen angemessenen Interessenausgleich gefunden haben, der nach Maßgabe dieses Gesetzentwurfs auch auf Altmietverträge
übertragen werden sollte. Ein großer deutscher Vermieterverband, ein Wohnungsverband, macht dies auch bei
Altmietverträgen für alle Mieter so.
Die Rechte der Vermieter sind dabei ausreichend
geschützt; denn immer dann, wenn die Parteien eine individuelle Vereinbarung getroffen oder aber eine Formularklausel vereinbart haben, die von der seinerzeitigen
Gesetzeslage abweicht, bleibt es bei den so vereinbarten
Kündigungsfristen. Wir geben also dem Gestaltungswillen der Parteien Vorrang vor der gesetzlichen Regelung.
({3})
- Ich bin schon rot, Herr Funke. - Damit schützen wir
das Vertrauen der Vertragsparteien dort, wo es berechtigt
ist, nämlich bei den echten Vereinbarungen über die
Kündigungsfrist. Wo nur zur Information der Parteien
auf eine gesetzliche Regelung verwiesen wird, kann ich
dagegen ein solches schutzwürdiges Vertrauen nicht erkennen. Deshalb ist es in diesen Fällen richtig, wenn die
kurzen Kündigungsfristen der Mietrechtsreform gelten.
Dieses hübsche lindgrüne Papier, welches einen Entschließungsantrag der FDP-Fraktion enthält, sollte man
zwar lesen, weil der Entschließungsantrag sehr gut die
politische Haltung der FDP wiedergibt. Ich bitte Sie
aber, diesem Antrag nicht zuzustimmen, wohl aber unserem Gesetz.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stünker
hat gestern den vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen im Rechtsausschuss als Restant aus der
vergangenen Wahlperiode des Deutschen Bundestages
bezeichnet.
({0})
Restant kommt vom lateinischen Wort restare, das
„übrig bleiben“ bedeutet. Ich hatte mich gefragt, worin
die Aktualität dieses Wortes liegt.
({1})
Angesichts der heute Nachmittag und jetzt noch stattfindenden Kuriositäten in Schleswig-Holstein sehe ich jedoch, wo Ihre Restanten sind.
({2})
Ich würde allerdings nicht sagen, dass es sich bei dem
Gesetzentwurf um einen Restanten, also um etwas Übriggebliebenes, etwas Zurückgebliebenes oder noch zu
Lösendes handelt.
({3})
- Wir sind gerade bei Ihrem Restanten, Herr Kollege
Stünker.
({4})
Ich glaube vielmehr, dass es sich bei dem Gesetzentwurf um so etwas wie einen Rückläufer handelt. Den
Rückläufer haben Sie vom VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bekommen, verkündet am 18. Juni 2003
und mit dem Stempel „untauglich und handwerklich
schlecht gemacht“ versehen. Anstatt nun in sich zu gehen, haben Sie sich auf das Gleis der Gerichtsschelte begeben. Trotzig wird das Ganze jetzt noch einmal versucht.
({5})
- Sie nicht, Herr Staatssekretär. - Ich glaube, das Gleis
führt ins Leere. In diesem Fall ist das ein weiterer Beitrag zum Niedergang der deutschen Wohnungswirtschaft.
({6})
An deren Sarg wird aber vonseiten der Regierung schon
länger gebastelt. Ein paar der benutzten Nägel werde ich
noch einmal ans Licht holen.
({7})
Bleiben wir zunächst aber beim einschlägigen Urteil
des BGH und bei der Sachlage, auch wenn es Ihnen weh
tut. Sie haben im Jahre 2001 einseitig die Vermieter
schlechter gestellt und damit die wichtige Balance im
deutschen Mietrecht zwischen Vermieterinteressen, die
sich im Übrigen direkt aus der Eigentumsgarantie des
Grundgesetzes ergeben, und den eigentumsähnlichen
Rechten der Mieter empfindlich gestört.
Zu Recht wurde schon damals in der Debatte hier im
Hohen Hause darauf hingewiesen, dass insbesondere die
höhere Mobilität der Menschen in unserer Zeit - der
Staatssekretär hat es angesprochen - kürzere Kündigungsfristen bei Mietverträgen erfordert. Das ist ohne
Frage richtig. Ich füge allerdings hinzu, dass dies auch in
Zukunft nicht alle Menschen betreffen wird und viele
Menschen immer noch sehr lange Mietverträge haben.
Klar ist aber auch, dass in weiten Teilen der Bundesrepublik heutzutage der Wohnungsmangel einem Überangebot gewichen ist. Dieser Trend wird sich auch weiterhin verstärken. Deshalb reden wir ja beispielsweise über
Stadtumbau und -rückbau.
Dennoch wollen wir bei der Gestaltung des Mietrechts den Prozess des demographischen Wandels berücksichtigen. Wir wollen beispielsweise den sozialen
Mix in den Wohnquartieren weiterhin sicherstellen und
nicht nur die Substanz herunterwirtschaften, sondern
auch investieren, um eine hohe Qualität zu sichern. Deshalb gehört es zur Wahrheit, dass man neben die höhere
Mobilität der Mieter auch die Problematik der Weitervermietbarkeit der Immobilien auf der Vermieterseite
setzt. Bei einer dreimonatigen Kündigungsfrist aufseiten
der Mieter ist man sicher am unteren Ende dessen angelangt, was auf der anderen Seite dem Vermieter zuzumuten ist.
Man muss sich die Frage stellen, warum man dem
Vermieter im Gegenzug für den Fall, dass er sich aus
wirtschaftlichen Gründen - mit denen ist auch mieterseitig die Mobilität begründet - umorientiert, eine bis zu
neunmonatige Kündigungsfrist aufzwingt. Aber das war
und ist Ihre Entscheidung, und zwar allein Ihre Entscheidung. Auch hier ist Ihr beliebter Ausspruch „Mehrheit
ist Mehrheit“ sicherlich wieder sehr passend.
Dass Sie allerdings eine Rückwirkung vorgesehen haben, was man bei Dauerschuldverhältnissen ohne Zweifel kann, halte ich angesichts der gewählten Form für bedenklich und im Zusammenhang mit den gerade
erwähnten Eigentumsrechten nach wie vor auch für verfassungsrechtlich bedenklich. Sie wollten nämlich nahezu alle vor Ihrer Reform 2001 abgeschlossenen alten
Mietverträge mit den neuen Kündigungsfristen versehen. Was aber wollten die Vertragsparteien bei Vertragsschluss? Sie wollten bewusst die jeweils gewählten
Kündigungsfristen vereinbaren oder die Geltung der damaligen gesetzlichen Kündigungsfristen. In letzterem
Falle kann man noch am ehesten sagen: Sie haben zwar
gewusst, wie diese zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses
lauteten, haben aber eine spätere Änderung der Gesetzeslage einkalkuliert. Ich sage ganz bewusst „einkalkuliert“. Das betrifft nämlich auch die betriebswirtschaftliche Kalkulation der Vermieter, etwa bei Investitionen,
die sich über längere Zeiträume amortisieren müssen.
Ansonsten ist es aber anders. Es ist nämlich einzig die
Sache der Vertragsparteien, in welcher Form sie die
Kündigungsfristen festgehalten haben. Ich muss mir an
dieser Stelle wieder einmal die Frage stellen, ob Ihnen
der Wert von Privatautonomie und Vertragsfreiheit eigentlich bewusst ist
({8})
und ob er Ihnen etwas wert ist.
({9})
Die Vertragsfreiheit ist eines der konstitutiven Elemente unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung. Ich
frage mich wirklich, warum Sie an allen Ecken versuchen, sie kaputtzumachen.
({10})
Ich kann Ihnen auch an dieser Stelle einen kurzen
Ausflug in das Antidiskriminierungsgesetz und seine
mietrechtlichen Auswirkungen nicht ersparen.
({11})
- Ich beschränke mich auf den zivilrechtlichen Teil und
dabei auf das, was heute zur Debatte steht.
Sie wollen für die so genannten Massengeschäfte
- wie auch immer man diesen Begriff am Ende auslegt die freie Wahl des Vertragspartners faktisch aufheben.
Das Anwenden aller in der einschlägigen EU-Richtlinie
benannten Diskriminierungsmerkmale ist aber ausdrücklich nicht für das Zivilrecht vorgesehen. Sie wollen also
ohne Not ein Mehr an hoheitlichem Eingriff.
Was passiert nun in diesem konkreten Bereich, falls
Ihr Gesetzentwurf in Kraft tritt? Wie kann ein Vermieter
noch einen Vertrag abschließen, ohne Gefahr zu laufen,
vor Gericht gezerrt zu werden? Kann er beispielsweise
eine junge Familie mit drei Kindern gegenüber einem allein stehenden älteren Herrn oder einem ausländischen
Mitbürger bevorzugen?
({12})
- Er kann es - entgegen allen gegenteiligen Bekundungen - nicht.
({13})
Er kann es deshalb nicht, weil gerade Kinder nicht als
Diskriminierungsmerkmal vorgesehen sind. Er kann es
nicht, weil er sich sonst der Gefahr aussetzt, dass er die
Beweislast dafür trägt, dass in diesem Beispiel keine Altersdiskriminierung und keine Diskriminierung nach
ethnischer Herkunft oder Rasse vorliegen.
({14})
Nun kann man jeden Vertrag gleich mit Anwalt und Zeugen aushandeln und dokumentieren. Das wird Deutschland bestimmt retten.
Das einzig taugliche Kriterium ist dann noch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mieters. Das ist ein
objektives Kriterium; nach ihm darf man dann wählen.
So viel zum Thema „soziale Wärme in Deutschland unter Rot-Grün“!
({15})
An dieser Stelle noch ein offenes Wort von einem Abgeordneten aus dem Freistaat Sachsen: In der ehemaligen DDR war Privateigentum - auch an Immobilien nicht vom Staat gewünscht. Diejenigen, die privates Eigentum hielten, wurden nach besten Kräften bekämpft,
unter anderem dadurch, dass man ihnen gegen ihren Willen Mieter in die Wohnungen gesetzt hat.
({16})
Wenn wir in diesem Gleis weiterfahren, auf das Sie sich
unter anderem mit dem Antidiskriminierungsgesetz begeben, sind wir auf einem Weg, der mich ein Stück weit
an dieses Verhalten erinnert.
({17})
Das würde im Übrigen nicht nur private Vermieter, sondern auch Genossenschaften und Wohnungsgesellschaften betreffen. Ich glaube, damit werden wir nicht weit
kommen.
Ich will ganz kurz zwei weitere Themen ansprechen.
Auch das Thema Graffiti betrifft die Wohnungswirtschaft. Seit Jahren, seit ich mich hier entsinnen kann
- die Kollegen, die schon länger dabei sind, können es
schon ein Stückchen länger -, reden wir hier über dieses
Thema. Wir alle sind uns sehr einig. Einigen wenigen
- oder besser gesagt: einem Einzelnen, der heute nicht
unter uns ist - gelingt es aber, dieses Gesetz und die Verbesserungen zu blockieren, die insbesondere den volkswirtschaftlichen Schaden reduzieren würden.
({18})
- Den volkswirtschaftlichen Schaden kann ich Ihnen erläutern, Herr Hacker. Von ihm war auch schon in den
Anhörungen die Rede.
({19})
Wir haben jede Menge Sachbeschädigungen und jede
Menge daraus entstehende Schäden. Sie kommen derzeit
nicht zuletzt deshalb so oft vor, weil der Verfolgungsdruck so gering ist. Wir könnten sie verringern.
({20})
Kommen wir zum Thema zurück!
({21})
Was hat Ihnen der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes zu diesem Gesetz ins Stammbuch geschrieben? Ich
hoffe, dass Sie das Urteil gelesen haben. Es ist lesenswert. Er hat Ihnen sinngemäß gesagt, dass die Formulierung des Rechtsausschusses, in dem auch zum damaligen Zeitpunkt schon Rot-Grün die Mehrheit gestellt hat,
nicht zu mehr Rechtssicherheit auf diesem Gebiet führt,
sondern dass - jetzt zitiere ich das Ziel der Mietrechtsreform verfehlt wurde,
durch eine verständliche und transparente Gestaltung des Mietrechts dem Rechtsfrieden zu dienen.
({22})
Meine Damen und Herren, das ist überdeutlich; so etwas
muss einen doch eigentlich zum Nachdenken bringen.
Ich zitiere weiter aus dem Urteil:
Die vom Rechtsausschuss vorgenommene Unterscheidung zwischen echten und unechten Vereinbarungen würde die Notwendigkeit nach sich ziehen,
die tatsächlichen Umstände des lange zurückliegenden Vertragsschlusses aufzuklären.
Haben Sie auch das gelesen?
({23})
- Ich glaube, nicht.
({24})
Sie sind auf der Suche nach einer Formulierung, um den
Kranken ins beabsichtigte Korsett zu zwingen, fündig
geworden. Bei Vereinbarung durch Vertrag - jetzt zitiere
ich aus Ihrem Gesetzentwurf gilt dies nicht, wenn die Kündigungsfristen des
§ 565 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches in der bis zum 1. September 2001 geltenden
Fassung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen
vereinbart worden sind.
Meine Damen und Herren, wir hatten im parlamentarischen Verfahren auch ein erweitertes Berichterstattergespräch zu dem Thema, so eine Art kleine Anhörung.
Genau dabei schrieb Ihnen der Vertreter des Deutschen
Mietgerichtstages, Professor Dr. Derleder, ins Stammbuch, dass die Formulierung in Form einer doppelten
Negation missglückt sei. Herr Rechtsanwalt Schönleber
führte als Sachverständiger des Deutschen Anwaltvereins aus,
({25})
dass eine neuerliche Änderung für Verunsicherung sorgen werde und es sich bei der gewählten Unterscheidung
um eine künstliche handele, die gesetzlich konstruiert
werde durch eine Art Zweistufigkeit der Allgemeinen
Geschäftsbedingungen. Das klingt nicht nach vorbehaltloser Unterstützung. Nun ist die große Frage: Was macht
man mit so einer Expertenanhörung? Wir hatten vereinbart, diese Expertenanhörung noch einmal auszuwerten.
({26})
Das ist nicht geschehen. Jetzt haben wir das Thema auf
der Tagesordnung; ich nehme das zur Kenntnis - so viel
zum geordneten parlamentarischen Verfahren.
Nach alledem bleibt der CDU/CSU-Fraktion nur die
Ablehnung des Gesetzentwurfes, weil er wie die zugrunde liegende Mietrechtsreform in weiten Teilen
- auch in der Sache - den Realitäten des Wohnungsmarktes nicht gerecht wird,
({27})
weil er handwerklich schlecht ist und neuen Streit, neue
Unsicherheit, neue Prozesse - vielleicht bis hin zu einer
neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung - provozieren
wird.
Ein kurzer Satz zum Entschließungsantrag der FDPFraktion zu dieser Thematik: Wir halten diesen Antrag
in weiten Teilen für begrüßenswert. Aber gerade vor
dem Hintergrund der Sachverständigeneinlassungen und
als ausdrückliche Aufforderung an die Bundesregierung
wollen wir, dass der gesamte Komplex noch einmal auf
den Prüfstand gestellt wird. Hier müssen in Größenordnungen Veränderungen erfolgen. Deshalb halten wir den
Antrag der FDP für noch nicht weitgehend genug und
enthalten uns zu diesem Antrag der Stimme.
({28})
Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte wieder zur Sache kommen: Meines Wissens stehen heute weder das Antidiskriminierungsgesetz noch die Graffitibekämpfung auf der Tagesordnung,
({0})
sondern das Mietrecht, speziell der Umgang mit den Altmietverträgen und mit den Kündigungsfristen.
({1})
Ich finde es sehr wichtig, dass wir zu diesem schwierigen Punkt gekommen sind, der uns schon bei der letzten
Mietrechtsnovelle beschäftigt hat. Es ist wichtig, dass
nicht nur Neumietverträge dem Mieter eine Kündigungsfrist von drei Monaten ermöglichen, sondern auch die alten Formularmietverträge. Das ist in Zeiten der hohen
Mobilität, die wir unserer Gesellschaft heute zumuten,
einfach notwendig - sei es, weil jemand woanders kurzfristig Arbeit angenommen hat, sei es, dass ältere Menschen in ein Heim umziehen müssen. Kündigungsfristen
von neun - damals sogar zwölf - Monaten führten oftmals dazu, dass die Betroffenen über längere Zeit doppelt Miete zahlen müssen. Von daher begrüße ich es sehr,
dass es jetzt gelungen ist, diese Nachbesserungen, die
wir tatsächlich seit der letzten Legislaturperiode schuldig sind, heute abzuschließen.
({2})
Ich muss auch sagen, dass in dem Berichterstattergespräch, das wir in Form einer kleinen Anhörung durchgeführt haben, sehr wohl eine deutliche Unterstützung
dafür zum Ausdruck kam. Natürlich ist der Punkt strittig; das ist völlig klar. Dennoch bin ich der Meinung,
dass es richtig ist, dass sich Rot-Grün bereits in der letzten Legislaturperiode und auch jetzt wieder in ganz klarer und eindeutiger Weise dazu bekannt hat.
Ich möchte Ihnen sagen, dass ich die Asymmetrie,
die wir damit bewusst eingeführt haben, für zumutbar
halte. Ich bin mir wohl bewusst, dass das für die Seite
der Eigentümer kein Spaziergang ist. Aber wenn ein Eigentümer die Entscheidung fällt, dass er sein Haus oder
seine Wohnung anders verwenden will, dann sind längere Kündigungsfristen - drei Monate bei einer Mietvertragslaufzeit bis fünf Jahre, später sechs und neun Monate - völlig angemessen; schließlich plant er ja
langfristig. Der Unterschied zwischen Vermieter und
Mieter ist real, weshalb es hier angemessen ist, Ungleiches auch ungleich zu behandeln und nicht so zu tun, als
seien Vermieter und Mieter gleich.
({3})
In diesem Sinne werbe ich bei allen Beteiligten dafür,
hier die Kirche im Dorf zu lassen und nicht so zu tun, als
sei das unzumutbar.
Die kurze Redezeit, die ich habe, möchte ich nutzen,
um ein paar Takte zu dem FDP-Antrag zu sagen, der
mich ziemlich erschreckt hat. Was Sie, Herr
Wanderwitz, eben gesagt haben - im Grunde halten Sie
ihn für begrüßenswert, aber er gehe Ihnen nicht weit genug; so ähnlich war das eben zu verstehen -, hat mich
schon irritiert. Ich erinnere mich noch genau daran, dass
die Mietrechtsreform 1996/97, die seinerzeit unter Ihrer
Regierung durchgeführt werden sollte - Rainer Funke
weiß das sehr genau, da er damals aktiv daran beteiligt
und verantwortlich war -, daran gescheitert ist, dass zumindest die CSU die Forderung nach einer wirklich harten Neoliberalisierung des Mietrechts, die von der rechten Seite des Hauses gekommen ist, für nicht
verantwortbar gehalten hat. Nur dadurch haben wir die
Gelegenheit bekommen, das Mietrecht zu novellieren.
Einige der älteren Kollegen hier wissen das sehr wohl.
Zu den drei Forderungen, die Sie hier jetzt noch einmal aufgegriffen haben, möchte ich ein paar deutliche
Worte sagen:
Als Erstes fordern Sie wieder die symmetrischen
Kündigungsfristen. Ich glaube, dazu haben wir von unserer Seite - von Rot-Grün - zur Genüge gesagt, dass
wir das für nicht akzeptabel halten.
Als Zweites wollen Sie die Möglichkeit einräumen,
die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen wieder auf
30 Prozent anzuheben. Damit ignorieren Sie wirklich die
zwischenzeitliche Entwicklung. Die breite Schicht der
arbeitenden Menschen erhält keine nennenswerten Einkommenserhöhungen mehr. Daneben gibt es eine hohe
Zahl von Arbeitslosen. In dieser Situation zu sagen, es
sei zumutbar, von heute auf morgen eine Mieterhöhung
von 30 Prozent zu verkraften, halte ich für sehr freidemokratisch. Wir stimmen deutlich und entschlossen dagegen.
({4})
Auch Ihrem dritten Punkt, die Schonfrist bei Mietrückständen, die wir auf zwei Monate erhöht haben,
wieder auf einen Monat zurückzuführen, stimmen wir
nicht zu. In der letzten Legislaturperiode hat es ausführliche Diskussionen darüber gegeben, ob die Ausweitung
der Schonfrist für die Mieter, die Probleme mit ihren
Mietrückständen haben, notwendig ist. Wir wissen sehr
wohl, dass das ein sehr großes Problem für die Eigentümer ist; das will ich überhaupt nicht leugnen. Ich denke
hier aber auch daran, dass die betroffenen Sozialämter
- heute und in Zukunft wahrscheinlich überwiegend die
Arbeitsagenturen oder die Arbeitsgemeinschaften - Zeit
brauchen, um das Problem zu lösen, damit die Miete
überwiesen werden kann. Ich finde es nicht gut, dass die
FDP hier wieder zu harten Zeiten zurück will; denn es
war ein großer Erfolg, dass wir diese Verlängerung geschafft haben. Gerade auch für die Vermieter wurden dadurch sehr viel stabilere Verhältnisse geschaffen.
In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag sehr entschieden ablehnen und sehr genau darauf achten, wie die
CDU/CSU stimmt. Am liebsten wäre es mir, wenn wir
über alle drei Punkte getrennt abstimmen, damit wir sehen können, ob die CDU/CSU auf einmal wieder neoliberal geworden ist.
({5})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesem
Reparaturgesetz - Frau Eichstädt-Bohlig, so ist es von
Ihnen selbst bezeichnet worden - hätten Sie heute die
Möglichkeit gehabt, die verunglückte Mietrechtsreform
von 2001 zu korrigieren. Stattdessen machen Sie alles
nur noch schlimmer. Sie schaffen die asymmetrischen
Kündigungsfristen nicht ab. Nein, Sie weiten sie sogar
noch auf Altmietverträge aus, und zwar in einer Weise,
von der nur ein Vertragspartner profitiert. Hingegen sollen Vereinbarungen zum Nachteil des Vermieters unverändert wirksam bleiben. Die Ungleichbehandlung von
Mietern und Vermietern erreicht damit ein neues Ausmaß. Vermieter haben bei Ihnen von Rot-Grün nichts zu
lachen. Die nächste böse Überraschung für Vermieter
steht in Form des Antidiskriminierungsgesetzes schon
bereit.
({0})
- Das ist leider die reine Wahrheit. Das muss man einmal sagen dürfen, Herr Hacker.
Die FDP geht einen anderen Weg. Frau EichstädtBohlig hat das kritisiert. Ich bin der Meinung, dass dies
der richtige Weg ist. Wir sprechen uns für eine einheitliche Kündigungsfrist von drei Monaten für Vermieter und
Mieter aus. Die Zeiten, in denen Mieter auf zusätzlichen
Schutz durch lange Kündigungsfristen angewiesen
sind, sind vorbei. Die Situation am Wohnungsmarkt
- das wissen Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, am besten - ist
entspannt. Angebot und Nachfrage haben sich ausgeglichen. Die allgemeinen Lebensbedingungen gehen in
Richtung mehr Flexibilität. Durch das soziale Mietrecht,
das ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Kündigung verlangt, sind Mieter ohnehin hinreichend geschützt.
({1})
Bezahlbaren Wohnraum schafft man nicht dadurch,
indem man Vermieter verschreckt.
({2})
Bezahlbaren Wohnraum schafft man, indem man Kapitalanlegern Anreiz zu Investitionen bietet und die Attraktivität des privaten Wohnungsbaus steigert. Daher
schlägt Ihnen die FDP zu Recht Länderöffnungsklauseln
zur Erhöhung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen
auf 30 Prozent vor. Sie haben es bereits erwähnt; darauf
brauche ich nicht mehr einzugehen.
Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün: Hören Sie endlich damit auf, den Vermietern immer neue Belastungen aufzuerlegen! Legen Sie
Ihre ideologischen Scheuklappen ab!
({3})
Bekennen Sie sich endlich zu einem fairen Ausgleich
von Vermieter- und Mieterinteressen und lassen Sie auch
wieder einmal den Markt sprechen! Der Markt ist das
beste Regulativ für Mieter und Vermieter und im Übrigen auch für den Mietzins.
({4})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat zum Abschluss dieser Debatte der Kollege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Dass wir bei der Mietrechtsreform im Jahre 2001 die
Kündigungsfristen verändert haben, war ein großer Fortschritt. Für die Mieter gelten generell drei Monate und
für die Vermieter drei Monate, nach fünf Jahren
Mietdauer sechs Monate und nach acht Jahren neun Monate Kündigungsfrist. Ich glaube, diese Regelung der
Kündigungsfristen war wichtig und ist sozial ausgewogen,
({0})
weil wir langjährigen, zuverlässigen Mieterinnen und
Mietern damit einen besonderen Schutz gewähren.
({1})
Herr Wanderwitz, Sie haben gesagt, diese Neuregelung der Kündigungsfristen sei einer der Sargnägel für
die Wohnungswirtschaft. Entschuldigen Sie, das ist blühender Unsinn.
({2})
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ein großer Wohnungsverband mit immerhin 7 Millionen Wohnungen diese Regelung bereits vor der Mietrechtsreform
in seine Musterverträge aufgenommen hatte. Sollte dieser Verband den ersten Nagel für seinen eigenen Sarg
tatsächlich selbst eingeschlagen haben? Das glauben Sie
doch selbst nicht.
({3})
Es ist auch begründet worden, warum die Kündigungsfristen für die Mieter verkürzt wurden - das muss
ich nicht im Einzelnen wiederholen -: Der Mobilität,
die Sie alle in Ihren Reden immer wieder fordern, muss
man auch beim Mietrecht Rechnung tragen. Über Monate doppelte Mieten zu zahlen ist ein entscheidendes
Hindernis, wenn man zum Beispiel zum ersten Mal in einer Nachbarstadt einen Job annehmen will. Auch beim
Wechsel ins Pflegeheim waren lange Kündigungsfristen
immer ein Hindernis und stellten eine große finanzielle
Belastung für die Betroffenen dar.
Wir haben auch den Vermietern durchaus Entgegenkommen gezeigt und den zwölfmonatigen Kündigungsschutz damals abgeschafft. Es war von Anfang an klar,
dass wir die neuen Regelungen auch für möglichst viele
Altmietverträge haben wollen. Es ist damals - das kann
man im Ausschussprotokoll nachlesen - auf eine entsprechende Klarstellung im Gesetz verzichtet worden,
aber in der Begründung ist deutlich gemacht worden,
dass auch die Formularverträge Berücksichtigung finden sollten. Das heißt, der Wille des Gesetzgebers war
eindeutig, auch wenn es - das ist richtig - keine gesetzliche Regelung gab. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs tun wir nichts anderes, als unseren ursprünglichen
Willen als Gesetzgeber hier noch einmal klarzustellen
und das, was wir für richtig halten, ins Gesetz zu schreiben.
({4})
Noch einmal: Das, was wir damals für richtig gehalten
haben, halten wir auch heute nach wie vor für richtig.
Frau Eichstädt-Bohlig ist bereits auf den Entschließungsantrag der FDP eingegangen; aber ich möchte,
dass dieser Antrag, der uns heute vorliegt, aus dem Halbdunkel der Beratungen des Rechtsausschusses voll ins
Licht der Öffentlichkeit gezogen wird.
({5})
Was Sie, Herr Funke, verlangen, ist nichts anderes, als
den Kündigungsschutz für die Mieterinnen und Mieter
drastisch zu beschneiden, ja zu verstümmeln,
({6})
den Spielraum für Mieterhöhungen drastisch anzuheben
- Sie wollen höhere Mieten - und außerordentliche,
fristlose Kündigungen zu beschleunigen.
({7})
Das würde das Ende des sozialen Mietrechts bedeuten.
({8})
Ich will noch einmal betonen: Die Mietwohnung ist ein
Wirtschaftsgut. Als Wirtschaftsgut liegt Ihnen, Herr
Funke, die Mietwohnung sehr am Herzen. Sie ist aber
auch ein Sozialgut. Das vergessen Sie hierbei.
({9})
Sehr gewundert habe ich mich über den Beitrag von
Herrn Wanderwitz. Wenn Sie hier frank und frei sagen,
Sie enthalten sich nur deshalb, weil Ihnen der Antrag
nicht weit genug geht - ich habe gedacht, Sie enthalten
sich, weil Sie noch nicht Stellung beziehen wollen -,
({10})
dann weiß ich nicht, was Sie darüber hinaus noch wollen. Wollen Sie jetzt den Mieterschutz ganz abschaffen?
Wollen Sie auf alle Kappungsgrenzen verzichten und damit jeglicher Mieterhöhung Tür und Tor öffnen? Dass
Sie am Ende noch den Begriff von der sozialen Wärme
in den Mund genommen haben, ist schon fast ein Treppenwitz.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des EinfühVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
rungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf Drucksache 15/4134. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5132, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5135. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und
Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Gitta Connemann, Dr. Wolfgang Bötsch, Günter
Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Situation der Breitenkultur in Deutschland
- Drucksache 15/4140 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz nach
meiner Wahl zur Vorsitzenden der Kultur-Enquete gab
ich einer großen Tageszeitung ein Interview und sah
mich mit folgender Frage, die übrigens völlig ernst gemeint war, konfrontiert: „Frau Connemann, Sie kommen
doch vom Land. Gibt es denn da überhaupt Kultur?“
({0})
- Das hat mich ernsthaft jemand gefragt.
({1})
- Deswegen bin ich auch so froh, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen, Frau Hiller-Ohm.
Es stimmt: Ich lebe in einer ländlichen Region, wie
16 Millionen Menschen in Deutschland. In meiner ostfriesisch-emsländischen Heimat gibt es keine kulturellen
Leuchttürme. Bei uns zu Hause gibt es keine feste
Bühne. Das nächste Staatstheater ist mehr als
60 Kilometer entfernt. Von einem Opernhaus können wir
nur träumen. Doch deshalb diesem Raum, meiner Heimat, die Kultur abzusprechen zeugt entweder von Unkenntnis oder von einem verengten Kulturbegriff.
Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, dass sich die bedeutendste Orgellandschaft Europas in meiner Heimat
befindet. Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, wie viele
Menschen sich kulturell vor Ort engagieren, sei es in
Chören, in plattdeutschen Theatergruppen, in Spielmannszügen oder in Heimat- und Kulturvereinen.
Eine Nachfrage ergab, dass dies dem Reporter durchaus bewusst war. Für ihn waren diese Aktivitäten aber
keine Kultur. Sein Kulturbegriff beschränkte sich auf die
institutionalisierte und professionelle Kultur, die so genannten kulturellen Leuchttürme. Das ist ein verengter
Kulturbegriff, mit dem er leider nicht alleine steht. Deshalb bin ich auch für das Bekenntnis unseres Bundespräsidenten Köhler zur Laienkultur anlässlich der Verleihung der Zelter Medaille sehr dankbar.
Der Bundespräsident hat erkannt, dass das ehrenamtliche Engagement von nahezu 7 Millionen Menschen
unverzichtbar für die Pflege der Kultur in unserem Land
ist. In Chören, Orchestern, Schauspielgruppen und Kulturvereinen wird tagtäglich gelebt, was sich die Gesellschaft wünscht und die Politik in ihren Sonntagsreden
einfordert: Engagement, Leistungsbereitschaft, Teamgeist, Disziplin, Zuverlässigkeit und vieles mehr, verbunden mit einem hohen Zeitaufwand, und das alles
ohne Entgelt. Im Gegenteil: Chorsänger, Amateurschauspieler und Musiker zahlen Beiträge und finanzieren
Konzerte und Veranstaltungen aus eigener Tasche.
Aber damit nicht genug: Vereinsvorsitzende müssen
unter anderem im Sozialversicherungs-, Gemeinnützigkeits- und Urheberrecht Detailkenntnisse besitzen. Bei
Verstößen haften sie mit ihrem privaten Vermögen. Das
ist für Ehrenamtliche nicht zu schaffen und schreckt
Menschen davon ab, sich zu engagieren.
Die vielen Menschen, die im Bereich der Breitenkultur Außergewöhnliches leisten, haben es verdient, ernst
genommen zu werden. Trotzdem haben sie bisher nicht
die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen angemessen
wäre. Deshalb haben wir von der CDU/CSU die Große
Anfrage eingebracht.
Wir wollen mit dieser Anfrage Aufmerksamkeit erzeugen und die Erstellung eines Berichts über die aktuelle Situation der Breitenkultur in Deutschland erreichen. Wir geben damit der Bundesregierung die Chance,
Stellung zu beziehen. Wie steht die Bundesregierung zur
Breitenkultur? Was wird sie zukünftig für sie tun?
Gründe, sich zu engagieren, gibt es genug:
Erstens. Wer „Kultur für alle“ fordert, der muss auch
„Kultur von allen“ fördern. Hochkultur und Breitenkultur dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern
ergänzen sich.
({2})
Zweitens. Wer eine Spitze will, muss auf eine breite
Basis bauen. Wir brauchen eine lebendige Breitenkultur.
Wir brauchen sie, um unseren talentierten Nachwuchs
zu entdecken und ihn fördern zu können. Wir brauchen
sie, um Kultur für viele zu öffnen.
({3})
Drittens. Kultur stiftet Identität; Breitenkultur sichert
Pluralität. Unsere kulturelle Zugehörigkeit wächst aus
regionalen, nationalen und europäischen Kontexten. Es
gilt, die Vielfalt und damit die Breite des Angebotes zu
bewahren. Zu dieser Breite zählt auch die Laienkultur.
Viertens. Breitenkultur war und ist Bürgerkultur. Nirgendwo kommt der Geist der Selbstbestimmung und der
Solidarität so gut zum Ausdruck wie im kulturellen
Engagement. Wenn wir die Bürgergesellschaft wirklich
stärken und beleben wollen, dürfen wir nicht die kulturellen Quellen des bürgerschaftlichen Engagements versiegen lassen. In letzter Zeit mehren sich aber gegenteilige Anzeichen. Es droht uns ein Generationenbruch. Die
Folgen nachlassender Förderung in Schulen, Musikschulen, Chören, Vereinen und Freizeiteinrichtungen sind
überall spürbar. Wir brauchen deshalb Informationen
darüber, wo der Schuh drückt, wo gesetzgeberischer
Handlungsbedarf besteht. Gegenwärtig haben wir es
leider noch immer mit einer Terra incognita zu tun. Deshalb gibt es unsere Große Anfrage.
Wir brauchen verlässliche Zahlen über Umfang und
Art des Engagements in der Breitenkultur. Wir brauchen
Auskunft über Ausmaß und Ursache von Nachwuchsproblemen. Wir brauchen Erfahrungswerte in Fragen des
Einkommensteuerrechts, beispielsweise zur Praxis der
Übungsleiterpauschale. Frau Kollegin Griefahn, ich bin
froh, dass Sie mir insoweit zustimmen. Wir brauchen
Auskunft über Reformbedarf im Vereinsrecht, beispielsweise über Regelungen zur vereinfachten Erlangung des
Status der Gemeinnützigkeit. Wir brauchen Informationen über die Praxis des derzeitigen Haftungsrechtes,
({4})
beispielsweise über positive Effekte einer Ausnahmeregelung für kleine Vereine. Die Liste ließe sich verlängern.
Wir sind uns aber sicherlich im Grundsatz einig. Der
Staat wird keine flächendeckende Kulturversorgung leisten können. Wir sind uns, so hoffe ich, auch in einem
Punkt der Problemlösung im Grundsatz einig. Wollen
wir unserer Kultur auch in Zukunft Ehre machen, brauchen wir eine neue Kultur des Ehrenamtes.
({5})
Mit den Bürgerinnen und Bürgern kann man, so haben
wir zu lernen, nicht nur Staat, sondern auch Kultur machen. Deshalb lautet meine Aufforderung an Sie, die Damen und Herren von der Koalition, und an die Bundesregierung: Nehmen Sie unsere Große Anfrage zur
Breitenkultur ernst! Nehmen Sie die Breitenkultur in
Deutschland ernst!
({6}): Das ist Länder-
sache!)
- Gemeinnützigkeitsrecht, Steuerrecht und Urheberrecht
sind Bundesangelegenheit, liebe Frau Kollegin Griefahn.
Das dürfte selbst Ihnen nicht entgangen sein.
Wir wissen, dass die Beantwortung unserer Großen
Anfrage mit Arbeit verbunden ist. Aber insoweit geht es
frei nach Valentin: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung endlich
an diese Arbeit macht.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Dr. Christina
Weiss.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es sehr wichtig, dass sich der Deutsche
Bundestag mit einem kulturpolitischen Thema beschäftigt, das für den gesellschaftlichen Kanon von sehr großer Bedeutung ist. Millionen Bürgerinnen und Bürger
engagieren sich - darin stimme ich Ihnen völlig zu, Frau
Connemann - in der Breitenkultur quer durch alle Sparten,
({0})
entweder ehrenamtlich oder hauptberuflich, aber immer
künstlerisch aktiv, ideenreich und kreativ. Breitenkultur
bildet also durchaus den Humus, der Spitzenleistungen
in der Kultur erst möglich macht.
Zur Definition des Begriffs „Breitenkultur“ werden
Sie in unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage einiges
lesen können. Wichtig erscheinen mir in der heutigen
Debatte zwei Aspekte: Erstens. Breitenkultur ermöglicht
Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Ausbildung eine aktive Teilhabe an kulturellen Prozessen.
({1})
Zweitens. Die Förderung der Breitenkultur ist eine kulturpolitische Strategie, um mehr Bürgerinnen und Bürger für Kunst und Kultur zu interessieren und auch zur
Teilhabe zu befähigen.
({2})
Wesentliche Träger der Breitenkultur sind vor diesem
Hintergrund die Laienkulturvereine und die Laienkulturinitiativen, aber auch - um nur einige zu nennen - die
Volkshochschulen, die Stadtbibliotheken, die Stadtteilbibliotheken, die Kunst- und Musikschulen, die soziokulturellen Zentren und die Geschichtswerkstätten.
Ich bin über den Zeitpunkt, den Sie für diese Debatte
gewählt haben, etwas überrascht und verwundert. Nachdem Ihre Große Anfrage zur Breitenkultur im November
vergangenen Jahres in meiner Behörde eingegangen war,
habe ich dem Präsidenten des Bundestages umgehend
mitgeteilt, dass sie Anfang Juli dieses Jahres beantwortet
wird. Kritik an dieser Planung ist mir bisher nicht zu Ohren gekommen. Der Zeitrahmen lässt sich gar nicht enger fassen, weil die Anfrage, wie Sie wissen, aus
57 Einzelfragen besteht, die zum Teil sehr umfänglich
und mitunter etwas vage formuliert sind. Aber angesichts der Spannbreite der einzelnen Fragen und angesichts der Komplexität des erbetenen Datenmaterials ist
die Beteiligung einer Reihe von Ressorts auch in den
Ländern vonnöten. Ebenso ist es natürlich sinnvoll, Institute und Verbände einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund muss schon die Frage erlaubt sein, warum wir die
heutige Debatte eigentlich führen.
({3})
Mich haben aber nicht nur das Verfahren befremdet,
sondern auch die inhaltlichen Schwerpunkte. Der Begriff
der Breitenkultur lässt sich nicht präzise abgrenzen. Er
findet in den amtlichen Statistiken keine Anwendung,
was die Ermittlung von gesicherten empirischen Daten
erheblich erschwert. Auch ist eigentlich völlig unstrittig,
dass die Förderung der Breitenkultur vorrangig eine
Kernaufgabe der Länder und Kommunen ist.
Die Strukturen dieser sehr speziellen Kulturförderung
setzen lokal an. Sie entfalten sich in aller Regel aus dem
bürgerschaftlichen Engagement in den Kommunen, in
den Regionen. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips
dürfte für den Bereich der Breitenkultur daher außer
Zweifel stehen. Die Bundesregierung hat - im Rahmen
ihrer sehr begrenzten Zuständigkeit - in den vergangenen Jahren sehr viel dafür getan, die Breitenkultur aufzuwerten.
({4})
Das geschah zunächst einmal dadurch - ich darf Sie
vielleicht an die Folgen für diesen Kulturbereich erinnern -, dass rechtliche Rahmenbedingungen für das kulturelle Leben insgesamt verbessert werden konnten. Es
war mein Amt, das die Reform des steuerlichen und zivilen Stiftungsrechts befördert hat.
({5})
Ich darf auf die neue Struktur im Spendenrecht aufmerksam machen. Für die Breitenkultur ist es sehr relevant, dass das Durchlaufspendenverfahren beseitigt
wurde. Auch die Erhöhung der Übungsleiterpauschale
muss hier unbedingt erwähnt werden.
({6})
Das sind ganz wichtige Stützpunkte.
({7})
Außerdem fördere ich aus meinem Haushalt einzelne
Bereiche der Breitenkultur, was von den Ländern im Übrigen durchaus heftig torpediert wird. Zu nennen sind die
beiden Hauptsäulen unserer Förderung: die Dachverbände der Laienmusik
({8})
und der Fonds Soziokultur. Um aufzugreifen, was schon
angesprochen worden ist - ich nenne das drastischste
Beispiel -: Im Gegensatz etwa zum unionsgeführten
Land Niedersachsen habe ich die Förderung der Soziokultur nicht nur nicht gekürzt, sondern die Bundesförderung des Fonds Soziokultur sogar auf 1 Million Euro
jährlich verdoppelt.
({9})
Bei aller Wertschätzung für die Sache, die Sie in diesem Handeln vielleicht erkennen können, registriere ich
verwundert, dass Ihnen plötzlich so sehr daran gelegen
ist, die Breitenkultur auf die bundespolitische Ebene zu
heben. Ich habe gar nichts dagegen.
({10})
Aber warum ist es Ihnen so wichtig? Eigentlich ist es
doch unser aller Auffassung, dass man dieser Verantwortung gerade in den Ländern nachkommen muss.
Die Bundesregierung weiß sehr genau um die Bedeutung von soziokulturellen Strukturen der Breitenkultur.
Sie trägt deshalb in vielfältiger Weise zur Entwicklung
von Kunst und Kultur bei. Wir versuchen, der Breitenkultur Wertschätzung zukommen zu lassen, weil wir
wissen, dass die Breitenkultur unsere Bürgergesellschaft
in schönster Weise prägt.
({11})
Unter diesen Vorzeichen freue ich mich sehr auf die
weitere Diskussion. Die Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage zur Situation der Breitenkultur in
Deutschland wird Anlass für eine erneute Debatte über
dieses Thema sein.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde es gut, dass dieses Thema heute auch im
Deutschen Bundestag diskutiert wird. Ich warne eigentlich davor, jetzt immer gleich nach Kompetenzen zu rufen.
({0})
Aufgabe dieses Parlaments muss auch sein, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Deshalb bin ich der
Union für die heutige Debatte dankbar.
({1})
Bei der Diskussion über dieses Thema zeigt sich, dass
wir ein Problem mit diesem Begriff haben: „Breitenkultur“ ist eigentlich ein furchtbares Wort. Frau Connemann
und Herr Bötsch, Sie wissen ja, auch in unseren Verbänden diskutieren wir. Es ist ja so, dass im Französischen
das Wort Amateur auf das Wort „aimer“, lieben, zurückgeht. Wir schwanken zwischen den Begriffen Laien und
Amateure, aber keiner passt richtig. Es wäre also die Zeit
wert, sich einmal zu überlegen, warum das eigentlich so
ist.
({2})
Eines ist doch ganz klar: Nie war das Thema so aktuell wie heute. In Zeiten, wo wir uns alle, Regierung und
Opposition, fragen müssen, welche Aufgaben vom Staat
und welche von anderen wahrgenommen werden müssen, ist das Thema aktueller denn je.
({3})
Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel, dass gerade die
vielfältigen Organisationen der Breitenkultur unschätzbare Dienste für unsere Gesellschaft leisten. Man muss
wirklich allen dankbar sein, die sich irgendwo im Kulturbereich ehrenamtlich engagieren.
({4})
Es steht ja in Ihrer Großen Anfrage völlig richtig: Laienkultur ist langfristig angelegt, in aller Regel in der
Rechtsform des Vereins. Deshalb müssen wir uns im
Bundestag zunächst einmal, ohne das gleich auf die Länder abzuwälzen, fragen, was der Bund tun kann, wo er
Unterstützung bieten und helfen kann.
Ich möchte übrigens, Frau Staatsministerin Weiss, neben der Förderung des musikalischen Verständnisses
auch die gesellschaftliche Bedeutung des Erlernens von
Musik ausdrücklich betonen. Junge Menschen, die zum
Beispiel in einem Orchester Musik machen, lernen soziale Verhaltensformen.
({5})
Deren Persönlichkeit wird in einer Weise gebildet, wie
es woanders kaum möglich ist. Völlig klar ist, dass Breitenkultur die Voraussetzung dafür ist, dass kulturelle
Spitzenleistungen hervorgebracht werden. Damit das
auch in Zukunft so bleibt, müssen wir uns überlegen
- das ist nun wirklich Bundesaufgabe -, wie wir unser
Steuer- und Vereinsrecht so weiterentwickeln können,
dass Vereine überhaupt noch in der Lage sind, vernünftig
zu arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel mehr
junge Menschen, die bereit sind, etwas zu tun, als es
landläufig dargestellt wird. Sie sind aber nicht bereit, im
Verein die Funktion eines Vorsitzenden oder eines Kassiers zu übernehmen, wenn sie dafür eigentlich eine juristische Ausbildung brauchen. Es ist verrückt, was da
zurzeit abläuft. Wir alle müssen zusehen, dass entsprechende Änderungen vorgenommen werden.
({6})
Die FDP wird sich sehr offen an dieser Diskussion
beteiligen. Ich bin insbesondere sehr froh, dass so langsam das Bewusstsein dafür wächst, dass der Laienkultur
eine große Bedeutung zukommt. Das wird auch im
Deutschen Musikrat so gesehen; dort spielt die Laienkultur mittlerweile eine viel größere Rolle. Wir müssen das
unterstützen, wo wir nur können. Wir müssen auch bereit sein, einiges bezüglich des Ehrenamtes neu zu überdenken. Die Mobilität der jungen Generation, die wir ja
alle wollen, führt zu gewaltigen Veränderungen. Das
müssen wir bedenken und hierfür müssen wir Voraussetzungen schaffen. Da ist auch der Bundesgesetzgeber gefordert.
Ich freue mich auf die weitere Diskussion und natürlich auch auf die Antworten auf diese Große Anfrage.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
stimmt, was die Staatsministerin gesagt hat: Breitenkultur ist Bürgerkultur. Man kann auch im Anschluss an
Herrn Burgbacher sagen: eine wunderbare Liebhaberei
von Bürgern. Aus meiner Sicht kann es gar nicht häufig
genug Gelegenheiten geben, im Deutschen Bundestag
über Kunst und Kultur zu diskutieren. Von daher bin ich
auch den Kollegen von der CDU/CSU dankbar, dass sie
dieses Thema aufgesetzt haben.
Es besteht ja große Einigkeit unter uns Kulturpolitikern, wie auch sonst manchmal in der Kulturpolitik, darüber, dass dieses ein außerordentlich wichtiges Thema
ist, dass die Breitenkulturlandschaft die Basis darstellt
und wir diese institutionell fördern müssen.
({0})
Allerdings wissen ja auch Sie - das kann man Ihnen
nicht ohne eine ironische Bemerkung durchgehen
lassen -, dass gerade die Förderung von Breitenkultur
Aufgabe von Ländern und Kommunen ist.
({1})
Wir tragen ja in diesem Haus unendlich viele Kämpfe
mit eben diesen Ländern über die Frage aus, ob wir das,
was wir für die Kultur tun wollen, auch dürfen. Von daher kann man sagen: Wollen hätten wir schon, aber um
das Dürfen müssen wir immer wieder mit diesen Ländern ringen.
({2})
Deswegen ist auch schwer zu verstehen, warum Sie jetzt
so einen Druck machen und diskutieren wollen, ohne
dass Sie die vollständige Antwort haben, obwohl Sie genau wissen, woran das liegt. Es gibt - das ist ja ein
Thema unserer Enquete-Kommission - keine zentrale
Kulturstatistik und keine Gesamterfassung aller Laientheater und Laienensembles. Deswegen wäre es eigentlich richtig gewesen, Sie hätten die Große Anfrage
gleich an den Bundesrat gerichtet. Dann hätten Sie wirklich Druck machen können.
({3})
Da es nun aber so ist und weil ja auch Sie - ich weiß
das von Ihnen allen - oft den Kopf darüber schütteln,
dass die Länder uns das, was wir gern tun wollen, oft so
schwer machen, darf man nun auch einmal ein paar kritische Worte über die Praxis der Länder bei der Vertretung
ihrer Kulturhoheit gerade im Bereich Breitenkultur hier
äußern.
({4})
Sie reißen so viel Kompetenz wie möglich an sich, versuchen sogar, Debatten über diese Themen hier einzuschränken, um dann im Zweifelsfall doch die Mittel für
die Kultur zu kürzen. Das ist nach meiner Meinung eine
echte Doppelbotschaft.
({5})
Schaut man sich exemplarisch den Kulturhaushalt in
Niedersachsen an, dann wird deutlich, dass dort die Breitenkultur, vor allen Dingen die Soziokultur, also Laienmusik, Chöre, Heimatpflege und Musikschulen, überproportional von Kürzungen betroffen ist,
({6})
und das in einer Zeit, wo wir alle sagen - jetzt kann ich
ja wieder für uns alle reden, denn das ist ein großes
Thema in der Enquete-Kommission -, dass gerade die
kulturelle Bildung für unsere Jugendlichen überproportional wichtig ist,
({7})
dass sie gerade für Jugendliche eine große Hilfe ist, damit sie sich in einer für sie manchmal bedrohlichen Umwelt auf ihre eigenen Fähigkeiten und ihre eigene Kreativität verlassen können. Bedeutende Statistiken besagen:
Bei Jugendlichen, die eine Gelegenheit hatten, ein Instrument zu erlernen oder in einem Theater oder in einem Musical in der Schule mitzuspielen, ist die Kriminalitätsrate später relevant niedriger. Da gibt es also
einen unmittelbaren Zusammenhang. Von daher ist Breitenkulturpolitik gerade mit Jugendlichen auch präventive Politik und Gesellschaftspolitik.
({8})
Umso mehr, liebe, liebe Länder, die ihr so auf euren
Kompetenzen besteht:
({9})
Tut mehr im Bereich von Breitenkultur, tut mehr im
Engagement für Jugendliche!
({10})
Wir tun einiges, manchmal fast an der Grenze der länderpolitischen Illegalität; die Staatsministerin hat es gesagt. Wir unterstützen Dachverbände wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater und den Bund
Deutscher Amateurtheater sowie zahlreiche Wettbewerbe, zum Beispiel „Jugend musiziert“ und „Jugend
jazzt“. Wir haben die Gelder für die Soziokultur von
480 000 Euro auf 1 Million Euro mehr als verdoppelt.
Das macht deutlich, wie wichtig dieses Engagement für
uns ist. Ich möchte besonders erwähnen, dass diese Förderung nicht auf Kosten der Spitzenkultur erfolgt, wozu
wir früher einmal geneigt haben, sondern dass wir beides
gleichzeitig fördern.
({11})
Unser Wille, die Institutionen insgesamt zu fördern, bürgerschaftliches Engagement für die Kulturinstitutionen
in der Breite zu fördern, ist ungebrochen, wie Sie wissen.
Die Möglichkeiten des Bundes in diesem Bereich
sind beschränkt. Dennoch tun wir mehr, als wir nach der
aktuellen Kompetenzverteilung tun müssten. Als Ergebnis der Diskussion in der Enquete-Kommission erhoffe ich mir, dass wir uns gemeinsam neue Aufgaben
erkämpfen. Die Kommission wird am Ende auch ein
Wort dazu sagen, ob dieses Land auf allen Ebenen, auf
kommunaler Ebene, auf Länderebene und auf Bundesebene, zu einer Selbstverpflichtung bereit ist, für den
weltweiten Ruf einer Kulturnation konkret etwas zu tun.
Wenn wir da die eine oder andere Barriere einmal elegant überspringen könnten, wäre ich sehr froh darüber.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wurde
auf dem Herweg ermuntert, etwas zum Breitenfußball
oder zum Thema Briefmarken zu sagen. Nein, ich habe
wirklich vor, zur Kultur zu sprechen, insbesondere zur
Musik.
({0})
Herr Kollege Kubatschka, ich mache Ihnen ein Angebot:
Ich spiele Klavier oder Orgel und Sie können ein anderes
Instrument dazu heraussuchen; dann geben wir bestimmt
ein gutes Duo ab.
({1})
- Sie dürfen mitmachen, dann bilden wir ein Trio.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau
Staatsministerin hat gewissermaßen im Sinne eines Themas mit Variationen gefragt: Warum eigentlich diese Debatte zu diesem Zeitpunkt? Frau Staatsministerin, formal
könnte man antworten: Ein Blick in die Geschäftsordnung könnte die Frage ohne weiteres beantworten.
Dort steht, dass nach einer gewissen Frist nach der Einreichung einer Großen Anfrage eine solche Debatte
möglich ist. Deshalb wurde sie von uns auf die Tagesordnung gesetzt.
({2})
Es wäre aber sicherlich zu kurz gegriffen, wenn man
sich nur auf die Fristen der Geschäftsordnung berufen
würde.
({3})
- Ja. - Man kann, hat die Frau Vizepräsidentin gesagt
- auch wenn sie es ein paar Sätze später wieder eingeschränkt hat -, gar nicht oft genug über dieses Thema
diskutieren. Wenn ich ganz scharf wäre - was ich normalerweise nicht bin -, Frau Staatsministerin, dann würde
ich sagen:
({4})
Die parlamentarische Erfahrung ist etwas, was man
durchaus in ein Amt einbringen kann, auch wenn man
selbst nicht Parlamentarier ist. Sie können uns nicht dafür bestrafen, dass Ihnen diese parlamentarische Erfahrung offensichtlich fehlt.
({5})
- Natürlich; sonst hätte sie diese Frage überhaupt nicht
gestellt.
Wir können auch nicht die Föderalismuskommission
in diesem Hause fortführen. Ich teile einige Punkte der
Kritik, zum Beispiel wenn Sie sagen, dass die Länder
beim Sparen ganz schön hingelangt haben. Aber da sollten Sie vielleicht nicht nur auf Niedersachsen schauen.
Schauen Sie sich einmal den Haushalt von NordrheinWestfalen an!
({6})
- Darüber reden wir besser nicht; denn die Kulturförderung in Bayern ist wirklich vorbildlich, und zwar sowohl
in der Breite als auch in Bezug auf die Spitze. Vielleicht
kann man auch dort den einen oder anderen Punkt kritisieren. Aber das kann für uns hier im Bundestag natürlich überhaupt kein Grund sein, dass wir uns mit dem
Thema nicht beschäftigen.
Die Antwort auf die Große Anfrage ist für den 1. Juli
angekündigt. Jeder, der in den Sitzungsplan des Bundestages schaut, weiß, dass genau dann die Sommerpause
beginnt. In der ersten Sitzungswoche im September wird
der Haushalt beraten und in der zweiten Sitzungswoche,
die erst 14 Tage später ist, haben wir wahrscheinlich
auch etwas anderes zu tun, sodass es mindestens Oktober werden würde, bis es zu einer solchen Debatte käme.
Insofern haben wir es angesichts der Bedeutung der
Laienkultur durchaus für opportun, richtig, ja notwendig
gehalten, eine solche Debatte schon vorher zu führen,
um das Bewusstsein zu stärken.
({7})
Meine Damen und Herren Kollegen von der Opposition
({8})
- von der Regierung, Entschuldigung; Sie haben völlig
Recht, Herr Tauss, aber ich erinnere mich natürlich gern
an alte Zeiten -, in einigen Punkten stimmen wir vollkommen überein. Hinsichtlich der Bedeutung der Laienkultur, der Laienmusik werden wir wenig Unterschiede
finden. Aber die Frage, wie wir fördern und welche
Möglichkeiten wir haben - der Kollege Burgbacher hat
es gesagt -, nicht nur musikalisch oder künstlerisch tätig
zu sein, ist eine Frage der Gesellschaftspolitik. Jede
Mark, die wir in diesen Bereich investieren, sparen wir
bei präventiven Maßnahmen oder gar Maßnahmen für
„nach dem Feste“, für Jugendliche oder andere, die möglicherweise in Schwierigkeiten geraten sind.
({9})
Wir geben das Geld besser vorher aus.
Was bei uns an Breitenkultur gelebt und gegeben
wird, ist in keiner Weise amateurhaft oder oberflächlich.
Im Gegenteil, für außerordentlich viele Menschen sind
künstlerisches Gestalten und musikalischer Ausdruck zu
Grundbedürfnissen geworden. Sie gewinnen durch ihr
Tun Selbstvertrauen und entwickeln ihre geistigen,
schöpferischen und auch sozialen Fähigkeiten. Wer sich
auf diese Weise engagiert, kreist nicht nur um sich
selbst. Das kann einer Gesellschaft nur gut tun.
({10})
Deshalb muss es das ureigene Interesse ihrer Vertreter
sein, möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, sich
in das kulturelle Angebot vor Ort aktiv einzubringen,
möglichst von klein auf.
Die Existenz so vieler auf Kunst und Traditionspflege
ausgerichteter Vereine und Verbände ist schützenswert
und nicht selbstverständlich. Sie sind der Humus, aus
dem in unseren Städten und Dörfern Lebensqualität und
Bürgersinn entstehen. Dafür sollten wir unseren Beitrag
leisten.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Barthel von
der SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Nach all diesen Beiträgen
habe ich den Eindruck, dass es hinsichtlich der Unterstützung und der Förderung der Breitenkultur überhaupt
keinen Dissens gibt. Es stellt sich jetzt nur die Frage, wie
und wie stark man fördert. Aber eines sollte man nicht
machen, nämlich das bürgerschaftliche Engagement im
Hinblick auf die Breitenkultur als Alternative zur öffentlichen Förderung der Breitenkultur hinstellen, wie Sie
das teilweise getan haben. Das wäre sehr schlecht.
({0})
Wir Kulturpolitiker wollen, dass das gesamte Spektrum der Kultur und nicht nur die Breitenkultur gefördert
wird. Wenn wir uns die entsprechenden Stiftungen anschauen, dann können wir erkennen, dass die Förderung
der Kultur schon sehr weit gediehen ist. Das heißt aber
nicht, dass wir in unseren Bemühungen nachlassen dürfen.
({1})
Ich wundere mich, dass von der Opposition nur ein
Mitglied des Kulturausschusses anwesend ist. Woran
liegt das? Ich glaube nicht, dass kein Interesse an der
Breitenkultur besteht. Ich glaube vielmehr, dass sich
viele gefragt haben, warum eine Debatte über eine
Große Anfrage auf der Tagesordnung steht, zu der es
noch keine Antworten gibt. Worüber sollen wir diskutieren? Ich bin schon sechs Jahre Mitglied dieses Hauses.
Aber ich habe noch nie über eine Große Anfrage diskutiert, ohne dass die entsprechenden Antworten vorlagen.
({2})
Was wir hier tun ist eine Art Trockenschwimmkurs.
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als das über die
Breitenkultur zu sagen, was wir schon immer sagen
wollten. Ich gestehe, dass das nicht schlecht sein muss.
({3})
Trotzdem muss ich sagen, dass diese Debatte nur den
Zweck hat, sich einmal zu diesem Thema allgemein zu
äußern. Das müssen Sie doch zugeben.
({4})
Da ich nicht weiß, zu welcher Frage ich eigentlich
Stellung nehmen soll, habe ich mir einmal die „neue
musikzeitung“, die ich sehr schätze, angeschaut. Dort
finden sich Kommentare von Frau Connemann zu dieser
Anfrage. Teilweise werfen Sie, Frau Connemann, der
Staatsministerin vor - das finde ich ein bisschen traurig -, sie interessiere sich nicht für Breitenkultur.
({5})
Außerdem äußern Sie den Verdacht, dass - auf sie
bezogen - die Politiker in jede Oper gehen, aber die
Breitenkultur aus den Augen verlieren.
({6})
Ich glaube, die Staatsministerin hat in ihrem kurzen Beitrag ziemlich deutlich gemacht, wie weit die Förderung
durch die Bundesebene gediehen ist. Insoweit, Frau
Connemann, finde ich Ihre Kommentare nicht sehr treffend.
({7})
Wir alle halten die Förderung der Breitenkultur für wichtig und notwendig.
Ich war vor meiner Abgeordnetenzeit journalistisch
tätig und weiß, dass ein Ehrenkodex lautet: Erst informieren und dann werten. Bei Ihnen ist es offensichtlich
umgekehrt. Das ist kein guter Stil. Sie sollten davon
wegkommen.
({8})
Was bedeutet eigentlich der Begriff Breitenkultur?
Diese Große Anfrage hat mich veranlasst, einmal in verschiedenen Lexika nachzuschauen, was darunter zu verstehen ist. Mein Problem war, dass ich diesen Begriff
nicht gefunden habe. In Ihrer Großen Anfrage - jetzt
komme ich doch noch darauf zu sprechen - ist von
„Breitenkultur“ wie auch von „Laienkultur“ und manchmal von „Breiten- bzw. Laienkultur“ die Rede. Man
könnte jetzt sagen, dies sei nicht wichtig, weil wir alle
wissen, worum es geht. Aber ich habe die Erfahrung gemacht: Wer die Begriffe nicht klar definiert, kann auch
nicht klar darüber denken. Deswegen scheint es mir
wichtig zu sein, den Begriff Breitenkultur zu definieren.
Ihre erste Frage bezieht sich darauf, was die Bundesregierung unter Breitenkultur versteht. An diese Frage
hängen Sie 56 Fragen an. Wir müssen zwar über eine
Eckhardt Barthel ({9})
entsprechende Definition reden. Dennoch glaube ich
nicht, dass es allein um eine Definition der Breitenkultur
geht. Denn es gibt auch eine Überschneidung mit der Soziokultur. Insofern ist das nicht nur etwas für das stille
Kämmerlein, sondern geht weiter.
Die Antragsteller haben ganz am Anfang ihrer Großen Anfrage darauf hingewiesen, dass das Subsidiaritätsprinzip gilt. An diesem Punkt sind wir uns einig.
Aber Sie halten das in Ihren Fragen gar nicht durch. Bei
einer Frage - sehen Sie, ich gehe doch auf Ihre Fragen
ein - ist mir das besonders aufgefallen. Ich meine den
zweiten Teil von Frage 15, die sich auf Immigranten und
Kultur bezieht:
Wie informiert die Bundesregierung Immigranten
über die Möglichkeiten des bürgerschaftlichen
Engagements in Laienkulturvereinen mit überwiegend deutschen Mitgliedern?
Arme Frau Weiss! Wie soll sie diese Frage beantworten?
Ich kann mir das praktisch nicht vorstellen. Zum Beispiel wohne ich hier in Berlin noch in einem kleinen Bezirk mit 330 000 Einwohnern. Gott sei Dank haben wir
dort viele dieser Laien- und Kulturvereine - ich bin übrigens in einem Mitglied -,
({10})
in denen viel gemacht wird. Wie aber sollen wir von der
Bundesebene aus Immigranten aufzeigen, wo sie Laienkultur zusammen mit der deutschen Bevölkerung machen können?
({11})
Man sieht also, dass Sie bei Ihrer Großen Anfrage
einfach einmal alles das aufgeschrieben haben, was
möglich erschien.
({12})
Ich möchte ja gerne, dass der Bund in Sachen Kultur
mehr Kompetenzen bekommt. Das gestehe ich.
({13})
- Dazu eine Fußnote. Nach dem, was ich heute Morgen
gehört habe, nach der Debatte über Föderalismus müssen wir Kulturpolitiker aufpassen, dass die Kulturpolitik
nicht auf dem Altar des Ausgleiches geopfert wird. Das
bitte ich zu bedenken.
({14})
Zum Abschluss möchte ich einen versöhnlichen Satz
sagen. Ich glaube, wir sind in der Tat alle von der Bedeutung der Breitenkultur überzeugt. Ich finde es auch richtig, dass in Ihrer Großen Anfrage das bürgerschaftliche
Engagement ganz stark betont wird. Darüber besteht
Einigkeit. Ich würde mich aber freuen, dass wir das
nächste Mal erst dann über eine Große Anfrage diskutieren, wenn wir auch die Antworten haben.
Ich bedanke mich.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck
({1}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN sowie der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Impulse für eine internationale Ausrichtung
des Schulwesens - Den Bildungsstandort
Deutschland auch im Schulbereich stärken
- Drucksachen 15/4723, 15/5097 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ernst Dieter Rossmann
Marion Seib
Monika Lazar
Cornelia Pieper
Die Redner Gesine Multhaupt, Dr. Ernst-Dieter
Rossmann, Bernward Müller, Kristina Köhler, Grietje
Bettin1) und Cornelia Pieper2) haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/5097 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP mit dem Titel „Impulse für eine internationale
Ausrichtung des Schulwesens - Den Bildungsstandort
Deutschland auch im Schulbereich stärken“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4723
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der
CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundstückverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/4535 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
1) Anlage 2
2) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die Redner Elvira Drobinski-Weiß, Kurt Segner,
Friedrich Ostendorff und Ernst Burgbacher haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4535 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck ({3}), Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zum Beginn der Dekade „Wasser zum Leben“
der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/5115 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Redner Dagmar Schmidt, Ulrich Petzold, Christa
Reichard, Uschi Eid, Ulrich Heinrich und Gesine
Lötzsch haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5115 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Anlage 3
2) Anlage 4
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Die Wahlrichtlinien der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen Afrika
({5}) als Maßstab für freie und faire Wah-
len auch in Simbabwe
- Drucksache 15/5117 -
Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD, Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Rainer Stinner,
FDP, Arnold Vaatz,3) CDU/CSU, und Hartwig Fischer4)
({6}), CDU/CSU, haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf
Drucksache 15/5117 mit dem Titel „Die Wahlrichtlinien
der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen
Afrika ({7}) als Maßstab für freie und faire Wahlen
auch in Simbabwe“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. März 2005, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.