Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/17/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, sich zu erheben. ({0}) Im Alter von 80 Jahren ist am 7. März 2005 Walter Arendt gestorben. Er war von 1961 bis 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 1961 bis 1969 zugleich Abgeordneter im Europaparlament. Von 1969 bis 1976 amtierte er als Minister für Arbeit und Sozialordnung in den Kabinetten Brandt und Schmidt. Walter Arendt war seiner Heimat im Ruhrgebiet eng verbunden. Wie schon sein Vater ergriff er den Beruf des Bergmanns. Nach seiner Zeit als Soldat und der anschließenden Kriegsgefangenschaft studierte er an der Akademie für Arbeit in Frankfurt am Main sowie an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Er engagierte sich in der IG Bergbau, deren Vorsitz er 1964 übernahm. In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nahm Walter Arendt zahlreiche Funktionen wahr. Als einer der führenden Energie- und Sozialexperten hat er sich stets für den Erhalt der deutschen Montanindustrie engagiert. Sowohl als Parlamentarier wie später auch als Minister blieb Walter Arendt seinen Wurzeln und seinen Werten verpflichtet. Es war ihm ein Anliegen, insbesondere die Interessen von Bergleuten und sozial Benachteiligten zu vertreten. In seiner Zeit als Mitglied der Bundesregierung reformierte er das Betriebsverfassungsgesetz, führte kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen ein und verbesserte die soziale Absicherung von Kriegsopfern. Walter Arendt hat das Gesicht unserer sozialen Marktwirtschaft entscheidend mitgeprägt. Sie haben sich zu Ehren Walter Arendts erhoben; ich danke Ihnen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergebnisse der Sitzung der Bund/Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung am 14. März 2005 - Auswirkungen auf Wissenschaft und Forschung ({1}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({3}), Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: „Meer für Morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft - Drucksache 15/5099 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6}) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({7}) Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streit- sachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 15/5114 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({8}) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht - 1 BvR 357/05 - Drucksache 15/5113 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({9}) ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: DNA-Reihentests auf sichere Rechtsgrundlage stellen - Drucksache 15/4695 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({10}) Innenausschuss ZP 5 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts - Drucksache 15/4834 ({11}) Redetext Präsident Wolfgang Thierse Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) - Drucksache 15/5133 - Berichterstattung: Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß Helmut Heiderich Ulrike Höfken Dr. Christel Happach-Kasan b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({13}) zu dem Antrag der Abg. Helmut Heiderich, Peter H. Carstensen ({14}), Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollständigen - Drucksachen 15/4828, 15/5134 Berichterstattung: Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß Helmut Heiderich Ulrike Höfken Dr. Christel Happach-Kasan Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Darüber hinaus sollen folgende Tagesordnungspunkte umgestellt werden: Tagesordnungspunkt 8 - Menschenrechte - nach Punkt 4, Tagesordnungspunkt 10 - Arzneimittelgesetz - nach Punkt 7, Tagesordnungspunkt 5 - Änderung des Einführungsgesetzes zum BGB - nach Punkt 9 sowie die Gesetzentwürfe unter Tagesordnungspunkt 20 nach Punkt 21. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Sodann möchte ich nachträglich dem Kollegen Volker Kröning, der am 15. März seinen 60. Geburtstag feierte, die besten Wünsche des Hauses aussprechen. ({15}) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den

Not found (Kanzler:in)

Deutschlands Kräfte stärken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun der Bundeskanzler, Gerhard Schröder. ({0})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast genau zwei Jahren habe ich im Deutschen Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Die Agenda 2010 ist die Antwort auf zwei große Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft wie viele andere Gesellschaften in Europa ausgesetzt ist: zum einen der Herausforderung, die mit der Globalisierung unserer Wirtschaft und damit der Globalisierung des Wirtschaftens zusammenhängt, und zum anderen einem radikal veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft. Mir liegt daran, dass klar wird: Die Agenda 2010 ist ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen Sozialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu sichern. ({0}) Sie ist ein notwendiges Instrument; denn der Zusammenhalt unserer Gesellschaft lässt sich nur dann sichern, wenn wir zu Veränderungen in der Politik bereit sind. Die Veränderung schafft die Möglichkeit des Bewahrens; denn das, was über Generationen in Deutschland von einer jetzt älter gewordenen Generation aufgebaut worden ist, hat es verdient, bewahrt zu werden. Aber genauso klar muss sein - angesichts der letzten Debatten muss das immer wieder deutlich gemacht werden -: Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist kein Luxus, den man in schwieriger werdenden Zeiten beiseite schaffen könnte. ({1}) Solidarität in einer Gesellschaft - das Einstehen der Starken für die Schwachen, der Gesunden für die Kranken und der Jungen für die Alten - ist gewiss eine Tugend. Sie ist aber zugleich auch Voraussetzung des ökonomischen Erfolgs in den entwickelten Gesellschaften Europas. ({2}) Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft infrage stellt, wer soziale Kohäsion als überflüssiges Zierwerk in guten Zeiten betrachtet, der stellt eben nicht nur wichtige Errungenschaften von Politik und Gesellschaft in unserem Land infrage, nein, er ist vielmehr dabei, den inneren Frieden zu zerstören. Der innere Frieden ist nicht zuletzt ein ökonomisches Datum, eine Voraussetzung auch dafür, erfolgreich und effizient zu produzieren. ({3}) Die Agenda 2010 ist gewiss ein anspruchsvolles Reformprogramm, das - der Name bringt das schon zum Ausdruck - weit über die gegenwärtige Legislaturperiode hinausreicht. Die Agenda 2010 will Wirklichkeit gestalten und sie will verändern. Sie ist deshalb mit einem Reformbegriff verbunden, der sich eben nicht in Gesetzesbeschlüssen - ob im Bundestag oder Bundesrat - erschöpft, sondern bei dem es darum geht, die Wirklichkeit in Deutschland zu verändern. Deshalb ist es so wichtig, dass als Teil der Reformen, die mit dem Begriff „Agenda 2010“ bezeichnet werden, nicht zuletzt die Umsetzung dieser Reformen gemeint ist und keineswegs nur das Beschließen von entsprechenden Gesetzen. ({4}) Der Gesetzesbeschluss - so begriffen bei der Gesundheitsreform, bei der Rentenreform, vor allen Dingen aber bei der Arbeitsmarktreform - ist die Voraussetzung für den Reformprozess; er ist der Anfang, aber keineswegs dessen Ende. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich darauf eingehe, welche Wirkungen die Agenda 2010 entfaltet hat, ist es schlicht unumgänglich, Bemerkungen zur Lage auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Es ist gar keine Frage, dass die Zahlen, mit denen wir konfrontiert worden sind, uns alle bedrücken müssen. Mehr als 5 Millionen Arbeitslose, die im Februar gezählt worden sind, sind die ernsthafteste Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft steht. ({5}) Aber klar muss auch sein: Gerade wenn man das als ernsthafte Herausforderung begreift - und das tun wir alle -, dann ist es erforderlich, aufklärerisch tätig zu werden, was denn diese Zahlen im Einzelnen begründet. Wir haben steigende Zahlen der Erwerbstätigen. ({6}) Wir rechnen 2005 mit mehr als 300 000 zusätzlichen Erwerbstätigen. 2004 waren es 140 000. Ich erwähne das nicht, um die andere Zahl zu relativieren, die ich genannt habe. Ich sage aber, dass der Reformprozess, den wir in Gang gesetzt haben und der in etlichen Bereichen gerade zwei Monate alt ist, gleichwohl zu greifen beginnt. ({7}) Es bleibt dabei: Niemand darf über die Zahl von über 5 Millionen gezählten Arbeitslosen hinwegsehen oder sie sogar zu bagatellisieren versuchen. Es ist wichtig, den Menschen in Deutschland, die nicht zuletzt wegen dieser Zahl Verunsicherung spüren, zu erklären, wie sie denn zustande kommt. Allein im Januar dieses Jahres sind 360 000 Menschen zusätzlich in die Arbeitslosenstatistik gekommen. Das waren nun keineswegs neue Arbeitslose, sondern es waren Menschen, die bislang in der Sozialhilfestatistik geführt worden sind. Es waren Menschen, die - obwohl erwerbsfähig - keinerlei Angebote an Erwerbsarbeit bekommen haben. In den großen Städten Deutschlands ist die Zahl der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger - das ist eine Zahl des Statistischen Bundesamtes, nicht meine - im Durchschnitt um sage und schreibe 95 Prozent reduziert worden. Dies sind Menschen, die keine Arbeit hatten und die man in die Sozialhilfe gedrängt hatte, ohne ihnen eine Perspektive zu geben. Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gelingt es uns zunächst, deutlich zu machen, dass wir sie als Menschen begreifen, die nicht vergessen sind, ({8}) als Menschen begreifen, die wir brauchen und denen wir über Qualifizierung und Angebote eine Perspektive für ein Leben ohne staatliche Unterstützung geben wollen. Ich weiß, dass das ein ungemein schwieriger Prozess sein wird. Aber es ist einer, der schon aus dem Grund unternommen werden muss, weil die Hälfte dieser Menschen Jugendliche unter 25 Jahre sind. Es kann doch nicht richtig sein, dass wir sie einfach in der Sozialhilfe abgedrängt liegen lassen, zwar notdürftig versorgt, aber ohne Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben. Ich will das jedenfalls nicht. ({9}) Wir haben mit den Reformen, die gemeinhin als „Hartz-Reformen“ bezeichnet werden, den ernst gemeinten und ernsthaften Versuch gemacht, diese und andere Menschen in die Arbeitsmärkte einzugliedern. Wir setzen auf das Prinzip des Förderns, aber auch des Forderns. Diejenigen, um die es geht, werden Angebote erhalten - es sind nicht immer solche, die sie erwarten -, das zu tun, zu dem sie in der Lage sind, um für sich und ihre Familien ein Einkommen und Auskommen durch Arbeit zu schaffen. Wir haben deutlich gemacht, dass zumutbare Arbeit in Deutschland auch von denjenigen geleistet werden muss, die sich in Deutschland legal aufhalten. Das werden wir durchsetzen. Die HartzReformen, die wir eingeleitet haben, sind zu genau diesem Zweck gemacht worden. In diesem Zusammenhang ein Wort zur Bundesagentur für Arbeit: Die frühere Bundesanstalt für Arbeit mit mehr als 90 000 Beschäftigten war eine Organisation, bei der 10 Prozent derer, die dort tätig gewesen sind, mit Vermittlung in den Arbeitsmarkt beschäftigt waren, 90 Prozent der dort Tätigen dagegen mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Das war kein Zustand, der aufrechterhalten werden konnte. Die Zusammenlegung der beiden sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat den Zweck, diesen Zustand zu beenden. Man kann ihn nur beenden, wenn sich die Art und Weise, wie diese Agentur arbeitet, von Grund auf ändert, ({10}) wenn Vermittlung und nicht Betreuung im Vordergrund steht. Wir sind vorangekommen. Im Januar mussten Hunderttausende von Anträgen auf Arbeitslosengeld II geprüft und beschieden werden. Erinnern wir uns: Manch einer hat geglaubt, dass das von denen, die in der Agentur beschäftigt sind, nicht zu leisten sei. Aber es ist doch geleistet worden. Ich finde, an dieser Stelle ist auch ein Wort des Dankes wegen des Arbeitseinsatzes dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angebracht. ({11}) Wir werden erreichen, dass die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und den Agenturen vor Ort besser als in der Vergangenheit wird. Aber auch das ist eine Umstellung, die bewältigt werden muss. Wir werden und wir müssen erreichen, dass sich die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - es sind über 90 000 15486 ändert, dass sie wegkommen von Betreuung und hinkommen zur aktiven Vermittlung derer, die ihnen anvertraut sind. In diesem Zusammenhang Folgendes: Es ist leicht, über diejenigen zu lästern, die diese Arbeit zu tun haben. Ich kenne nicht viele Unternehmen großen Zuschnitts, die eine so gewaltige Umstellung dessen, was sie Kerngeschäft nennen, in dieser Zeit mit diesen Erfolgen erreicht haben. Ich wiederhole: Ich kenne nicht viele Unternehmen. ({12}) Wer über den Arbeitsmarkt spricht, muss über Ausbildung in Deutschland reden. Wir haben in diesem Haus vielfach darüber diskutiert und auch gestritten. Wir sind schließlich dazu gekommen, zu sagen: Es ist nicht zuletzt die Verantwortung der Wirtschaft, für den eigenen Nachwuchs zu sorgen. ({13}) Lasst mich deutlich sagen: Wer nicht ausbildet, sägt sich ökonomisch den Ast ab, auf dem er morgen zu sitzen hat. ({14}) Ich bin froh darüber, dass es durch eine Kraftanstrengung, und zwar eine gemeinsame von Regierung und Wirtschaft, gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsverträge auch in den Betrieben deutlich zu steigern. Ich bin froh darüber, dass es uns gelungen ist, allen, die ausbildungsfähig sind, auch ein Angebot zu machen. Dieser Prozess muss weitergehen. Die Aufgabe, Ausbildungsplätze zu schaffen, ist nicht zu Ende seit dem letzten Jahr; sie beginnt in diesem Jahr, und zwar heute und morgen. ({15}) Ich bin all denen, die sich auf der Seite der Wirtschaft wie auf der Seite der Politik, insbesondere dem Präsidenten des DIHK und - lassen Sie mich das so sagen Franz Müntefering, ({16}) die Mühe gemacht haben, dankbar für den Erfolg, der in diesem Pakt steckt. ({17}) Dieser Erfolg ist erzielt worden und er ist gewiss nicht durch Sie von der Opposition zustande gekommen. ({18}) Es ist ein Erfolg und wir müssen daran anknüpfen. ({19}) Wir haben im Zusammenhang mit der Agenda dann darüber zu reden, was denn aus den Reformen im Gesundheitssektor geworden ist. Wenn man sich das einmal anschaut, dann stellt man doch fest, dass das, was wir übrigens gemeinsam gemacht haben - das wird ja gelegentlich gerne vergessen; jedenfalls dann, wenn es eng wird -, ({20}) positive Wirkungen entfaltet hat. Damit komme ich zu den Krankenkassen, denn wir müssen darüber reden, wie wir es hinbekommen, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden. In 2003 haben die Krankenkassen einen Verlust von nahezu 3 Milliarden Euro gemacht, in 2004 - das steht inzwischen fest - einen Gewinn von 4 Milliarden Euro. Ich sage hier ohne Wenn und Aber: Dieser Gewinn von 4 Milliarden Euro muss zu großen Teilen in Form von Beitragssenkungen und damit in Form von Senkung der Lohnzusatzkosten weitergegeben werden. ({21}) Er muss weitergegeben werden in Form von Beitragssenkungen und nicht - das sage ich bewusst, obwohl ich zu Neid nun wirklich unfähig bin - in Form einer Erhöhung der Gehälter der Kassenvorstände. ({22}) Es wird, meine Damen und Herren - das ist auch ein gemeinsamer Beschluss; ich hoffe, wir vertreten ihn auch gemeinsam -, zum 1. Juli dieses Jahres zur Umfinanzierung bei Krankengeld und Zahnersatz kommen. ({23}) - Ich höre schon wieder: „Das habt ihr alleine gemacht!“. ({24}) Das ist aber Teil der Gesundheitsreform, meine Damen und Herren, und wird dazu führen, dass die Betriebe erneut 4,5 Milliarden Euro an Lohnzusatzkosten weniger zahlen müssen. Ich hoffe, das wird dort auch bemerkt und zu Einstellungen führen. ({25}) Es ist ja interessant, dass dann, wenn, wie in diesem Fall, die eine Forderung erfüllt wurde, sogleich die nächste nachgeschoben wird. Das kann doch nicht sein. Die Unternehmen haben, wenn ich in diesem Bereich alles zusammennehme, fast 10 Milliarden Euro an potenziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, auch und gerade der mittelständischen. Die Folge davon dürfen doch nicht Verlagerungsandrohungen sein, sondern die Antwort darauf muss sein, dass mehr Einstellungen vorgenommen werden. ({26}) Zum Arbeitsmarkt gehört auch die Diskussion, die in den letzten Tagen sehr intensiv in der Presse - das habe ich sehr wohl mitbekommen - um die Frage geführt wurde, wie es sich mit dem Kündigungsschutz verhält. Ich finde, meine Damen und Herren, man sollte sich einmal klar machen, was auf diesem Sektor geleistet worden ist und welche Wirkungen das hat, jedenfalls haben sollte. Wie ist denn die Lage? In Betrieben unter zehn Mitarbeitern werden diejenigen, die ab Januar 2004 eingestellt wurden, in Bezug auf die entsprechenden Kündigungsschutzregelungen nicht mitgezählt. Schauen wir uns jetzt einmal an, welche Möglichkeiten es auf dem deutschen Arbeitsmarkt gibt. Es wird ja immer gesagt, er sei kaum flexibel. Das ist vielleicht auch interessant für diejenigen, die uns zuhören bzw. zuschauen, das wirklich einmal aufgearbeitet zu bekommen: Unabhängig vom Alter der Person kann jedes Unternehmen jeden zwei Jahre lang befristet einstellen. Wenn es sich um einen Existenzgründer handelt - es wird ja zu Recht viel darüber geredet -, dann sind Einstellungen mit einer Befristung von bis zu vier Jahren möglich. Das heißt, Existenzgründer können jeden vier Jahre lang befristet einstellen, ohne dass es für die Betreffenden irgendeine Form von Kündigungsschutz gäbe. Schließlich zur Situation der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die uns ja alle besonders bewegt: Für Personen ab 50 Jahren existiert so gut wie kein Kündigungsschutz, denn für die ersten zwei Jahre besteht die Möglichkeit, sie befristet einzustellen. Für Personen ab dem 52. Lebensjahr gibt es keine gesetzlichen Regelungen mehr in Bezug auf befristete Einstellung. Sie können also unabhängig von den Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse jederzeit eingestellt und entlassen werden, da ein Kündigungsschutz für diese Personengruppe nicht mehr existiert. Meine Damen und Herren, das sollte eigentlich dazu führen, dass das Gerede darüber, es habe keinen Sinn, einen älteren Arbeitnehmer einzustellen, weil man bei einem schwächeren Betriebsergebnis ihn nicht entlassen kann, nun endlich aufhört. Hier ist ein Popanz aufgebaut worden. ({27}) Ich will in dem Zusammenhang eines deutlich machen: Wer geglaubt hätte - wir haben ja alle erwartet, dass es so kommt -, dass die Lockerung des Kündigungsschutzes im eben dargestellten Sinne bei den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei denen über 50, zu einer massiven Einstellungswelle in den Betrieben führte, der sieht sich getäuscht. Das muss ich leider sagen. Wir haben also in dem Bereich keinen Kündigungsschutz mehr. Trotzdem liegt die Beschäftigtenquote bei den älteren Arbeitnehmern bei nur sage und schreibe 40 Prozent. Dabei geht es um die, die über 55 sind. Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Welche Vergeudung von Wissen, von Erfahrung, von Fähigkeiten, auch von Kreativität wird da volkswirtschaftlich betrieben! Das können wir auf Dauer doch nicht zulassen. ({28}) Ich wäre ja sehr dankbar, wenn angesichts dieser Lage, beim Kündigungsschutz mit gleichem Nachdruck und mit den gleichen großen Schlagzeilen darauf hingewiesen würde, dass jetzt nicht nur die Möglichkeit besteht, sondern dass es die Pflicht von Unternehmen ist, auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht zu verzichten, sondern sie in den Produktionsprozess einzubeziehen. ({29}) Das zweite große Thema, das mit der Diskussion um die angeblich mangelnde Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt immer zusammenhängt, ist die Frage der betrieblichen Bündnisse. Ich würde raten, einmal einen Blick in die Wirklichkeit zu werfen und nicht ständig neue ideologische Popanze aufzubauen. ({30}) Die Wirklichkeit in Deutschland - übrigens keineswegs nur bei den großen Unternehmen - ist doch so, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerkschaften und ihre Betriebsräte sehr wohl in der Lage sind, betriebliche Bündnisse zu schließen, wenn es die Notwendigkeit dazu gibt, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Sie sind zum Verzicht immer noch bereit gewesen. Ich würde mir wünschen, die gleiche patriotische Einstellung, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, wäre auf der anderen Seite auch gegeben. ({31}) Übrigens funktionieren die betrieblichen Bündnisse keineswegs nur, wenn es darum geht, die Arbeitsplätze in bestehenden Betrieben zu retten. Nein, wer nicht mit Scheuklappen durch die Gegend läuft, der kann sehr wohl mitbekommen, wie zum Beispiel im Osten unseres Landes durch betriebliche Bündnisse Ansiedlungserfolge erreicht worden sind. ({32}) Ich nenne sie Ihnen gleich. Als es um die Frage ging, wo BMW investiert, ob in Tschechien, in der Slowakei oder in Deutschland, ist ein betriebliches Bündnis über Arbeitszeit- und Entgeltbedingungen geschlossen worden, das die Ansiedlung in Deutschland überhaupt erst möglich gemacht hat. Das zeigt doch, dass es funktioniert. ({33}) Ich könnte mit der gleichen Berechtigung Porsche nennen und auch andere Automobilfirmen, um die es geht, zum Beispiel Opel in Eisenach. Aber ich will eine Ansiedlungsentscheidung nennen, die jüngst nur zustande gekommen ist und zustande kommen konnte, weil die Gewerkschaft flexibel genug war - es handelt sich übrigens um Verdi -, ein solches betriebliches Bündnis abzuschließen. Ich meine die Ansiedlung von DHL in Leipzig, ein interessanter Vorgang. ({34}) Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren gesagt haben - gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts bewegt -, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinreichende Öffnungsklauseln gibt. Meine Bitte ist: Lasst uns auf die Einsichtsfähigkeit der Beschäftigten, ihrer Betriebsräte, ihrer Gewerkschaften setzen, die diese Einsichtsfähigkeit nachgewiesen haben, und lasst uns - es ist ja üblich geworden, sich auf Montesquieu zu beziehen ({35}) auch in diesem Fall sagen: Ein Gesetz, das nicht notwendig ist, unterbleibt besser. ({36}) Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexibilisierung in den Betrieben weiterzugehen. Das geschieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Sommer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen, aber Sie kennen sie alle. Deswegen denke ich, dass wir weiter auf die Bereitschaft zur Flexibilität, die bereits nachgewiesen worden ist, setzen sollten; die Zahl der Beispiele ließe sich vermehren. Teil der Agenda war auch, die Lohnnebenkosten dadurch zu begrenzen, dass die Rentenversicherungsbeiträge stabil bleiben. Entgegen allen Unkenrufen haben wir das geleistet, meine Damen und Herren. Das war nur durch eine Reihe von Reformschritten möglich, die schon wieder in Vergessenheit geraten sind; ich weiß nicht, warum. Es ist doch wohl so, dass die Beiträge nur deshalb stabil gehalten werden konnten, weil wir die Kapitaldeckung neben die Umlagefinanzierung gestellt haben. ({37}) 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich eine Zusatzversorgung - meistens eine betriebliche - geschaffen; 20 Millionen Menschen haben eine Kapitaldeckung aufgebaut und damit das Verhältnis zwischen der solidarischen Umlagefinanzierung und der eigenen Vorsorge zugunsten der eigenen Vorsorge verändert. Meine Damen und Herren, durch die Reformen hat sich die Rentenbezugsdauer verändert, weil wir es geschafft haben, beim realen Renteneintrittsalter ein Jahr draufzulegen. Das reicht nicht. Auch hier gilt: Es ist vielleicht notwendig, über die Frage nachzudenken, ob das nominale Renteneintrittsalter erhöht werden muss; aber viel wichtiger als diese Diskussion ist die Anstrengung zur Erhöhung des realen Renteneintrittsalters. Diese Anstrengung muss fortgesetzt werden, übrigens auch aus ökonomischen Gründen. ({38}) Die Lohnzusatzkosten für die Rente konnten übrigens nur stabil gehalten werden, weil wir massiv Geld über die - viel gescholtene - Ökosteuer in die Rentenkasse geben. ({39}) Deswegen warne ich diejenigen, die das oberflächlich kritisieren; eine Veränderung hätte nämlich negative Folgen für die Stabilität der Beiträge und damit für die Stabilität der Lohnzusatzkosten. Ich füge hinzu: Wir sind es doch gewesen, die dafür gesorgt haben, dass das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung durchgesetzt wurde, ein Prinzip, bei dem es darum geht, dass diejenigen, die aktiv beschäftigt sind, in Bezug auf ihre Beiträge deutlich entlastet werden. Das wird so sein, meine Damen und Herren, und das wird Auswirkungen auf die Stabilität der Beiträge und der Lohnzusatzkosten haben. ({40}) Wer fair ist, wer die Sorgen, die es angesichts der Arbeitslosenzahlen ohne Zweifel gibt, ernst nimmt und wer auf der anderen Seite kein Zerrbild von Deutschland zeichnen will, der muss darauf hinweisen, dass diese Reformschritte - im Übrigen international höchst beachtet und gewürdigt - positive Erfolge gezeigt haben. Es ist keineswegs so, dass wir ökonomisch gesehen in einem Jammertal lebten. Im Gegenteil: Die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe sinken nicht, sie steigen. Im Januar hat der Export gegenüber dem Vorjahr um 9,5 Prozent zugenommen, und das in einer Situation, in der wir durch die Euro/Dollar-Relation wahrlich nicht bevorzugt werden, in einer Situation, in der international inzwischen eingesehen wird, dass in den letzten Jahren unter den G-8-Staaten allein Deutschland real mehr Anteil auf den internationalen Märkten gewonnen hat. Das ist doch ein Zeichen von Kraft, die in der Volkswirtschaft steckt, und nicht von Schwäche. ({41}) Wir würden einen riesigen Fehler machen, wenn wir es zuließen, dass ein Zerrbild der Lage Deutschlands gezeichnet würde. Wir haben Probleme - keine Frage. Aber wir haben auch die Kraft - das ist nachgewiesen -, mit diesen Problemen fertig zu werden. ({42}) Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das, was sich mit der Agenda verbindet, wirklich Wirkungen zeitigt und dass wir gut daran tun, unbeirrt und mit aller Kraft, über die wir verfügen, diese Reformen Wirklichkeit werden zu lassen und die Arbeit der Umsetzung anzugehen. Genau das tun wir. Gleichwohl muss ich sagen: Es ist richtig, dass wir auch darüber nachdenken, welche zusätzlichen Impulse wir - wenn es geht, gemeinsam - geben können. Die internationale Situation, was den Wettbewerb angeht, hat sich ungeachtet der Kraft der deutschen Wirtschaft nicht verbessert, nicht nur wegen der Erweiterung der Europäischen Union, aber auch wegen der Erweiterung der Europäischen Union. Das führt naturgemäß dazu, dass wir uns zu überlegen haben, wie wir auf dem Gebiet der Steuerpolitik weiter vorgehen. Bevor ich dazu Bemerkungen und Vorschläge mache, will ich auf eines hinweisen. Wie ist denn die Steuerdebatte verlaufen? Durch die drei Stufen der Steuerreform sind den Unternehmen und den privaten Haushalten 56 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt worden. Man muss das angesichts der ständigen Forderungen immer wieder sagen. ({43}) Wir haben den Spitzensteuersatz, der bei unserem Amtsantritt 1998 bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent gesenkt. Wir haben eine uralte Forderung des Mittelstandes, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Unternehmensteuer der Personengesellschaften - das ist bekanntlich die Einkommensteuer -, erfüllt. Großes Lob haben wir dafür nicht bekommen, obwohl wir es verdient gehabt hätten. Obwohl die Sache richtig war, hat es nie ein Lob gegeben. ({44}) Es ist eine enorme Erleichterung gerade für den Mittelstand, dass die Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer angerechnet wird. Wir haben im Übrigen - das sage ich an die Adresse der Skeptiker - auch kräftig am unteren Ende gearbeitet. Die Reduzierung des Eingangsteuersatzes von 25,9 auf jetzt 15 Prozent ist von uns - ich darf sagen: von euch geleistet worden. ({45}) Diesen Erfolg sollte man sich nicht kaputtmachen lassen. Die Folge dessen ist, dass Deutschland in diesem Bereich eine Steuerquote hat, die im unteren Drittel des europäischen Geleitzuges liegt. Wir haben indessen - das wird den einen oder anderen schmerzen - ein Problem bei den Kapitalgesellschaften. Das ist das Problem relativ hoher nomineller Steuersätze. Damit verbunden haben wir ein anderes Problem: Wegen der hohen nominellen Steuersätze wird immer wieder der Versuch unternommen, die eigentlich fälligen Steuern durch exorbitante Verrechnungspreise auf der einen Seite und Gewinnverlagerungen auf der anderen Seite nicht zahlen zu müssen. Wenn die Differenz zu groß ist, hat das zwei Folgen: Es wird versucht, sich bei jeder sich ergebenden Chance vor der Bezahlung der Steuern zu drücken. Das wiederum führt zu mangelnden Einnahmen bei den öffentlichen Haushalten. Ich schlage deswegen vor, dass wir uns miteinander - wir brauchen den Bundesrat dazu - darauf einigen, den Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 19 Prozent zu senken. Es muss glasklar sein, dass es dabei darum geht, die Finanzierung so zu gestalten, dass das Steueraufkommen durch das Schließen von Steuerschlupflöchern nicht kleiner, sondern größer wird, die Finanzierung also aufkommensneutral gemacht wird. ({46}) Ich will andeuten, in welche Richtung meiner Meinung nach eine solche Finanzierung gehen sollte. Ich glaube, es ist angemessen, zwischen der Belastung der Unternehmen und derer zu unterscheiden, denen die Unternehmen gehören. Mit der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens haben wir das getan: Man kann die Besteuerung der Aktionäre im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrens verändern, also die Steuerbelastung der Aktionäre vergrößern und dafür die Steuerbelastung der Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, kleiner machen. Ich glaube, es ist auch angemessen, auf das zurückzukommen, was wir im Jahre 2003 miteinander diskutiert haben, nämlich die Frage, ob die Mindestbesteuerung nicht zur Senkung der Unternehmensteuersätze - ich sage es ausdrücklich - erhöht werden kann. Schließlich glaube ich, dass wir beim Abbau von Steuersubventionen, den wir nicht so weit geschafft haben, wie es objektiv notwendig ist, endlich Ernst machen müssen. ({47}) Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass wir bei den Steuersparmodellen die Verlustverrechnungen deutlich beschränken und auf diese Weise Raum für das schaffen, was aus Wettbewerbsgründen für unsere Unternehmen notwendig ist - was wir also machen müssen, was wir aber im Interesse der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte aufkommensneutral gestalten müssen. Anders, meine Damen und Herren, wird es nicht gehen, aber so könnte es gehen! ({48}) Meine Bitte ist: Machen Sie mit bei dieser so wichtigen Operation. Ich glaube, dass man darüber hinaus das verändern muss, was ich eingangs meiner Ausführungen zur Steuerpolitik erwähnt habe, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer. Als wir diese Operation seinerzeit durchgeführt haben, haben wir gesagt: Mit der Operation erreichen wir, dass wir die Gewerbesteuer bis zu einem Hebesatz von 390 Punkten voll anrechnungsfähig machen. Es gibt jetzt eine interessante Entwicklung: In dem Moment, in dem man den Spitzensteuersatz senkt, entstehen Folgen negativer Art für die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Der Satz liegt jetzt bei ungefähr 340 Punkten. Ich finde, im Interesse der Förderung des Mittelstandes sollten wir den alten Zustand wiederherstellen. Das geht, wenn man den Anrechnungsfaktor der Gewerbesteuer von jetzt 1,8 Prozent auf 2 Prozent erhöht. Ich bin für eine solche Maßnahme und hoffe auf tätige Mitarbeit im Bundesrat, meine Damen und Herren. ({49}) Schließlich geht es mir um eine Frage, die im Bundesrat gelegentlich schon diskutiert worden ist und hinsichtlich deren ich glaube, dass man endlich Nägel mit Köpfen machen muss. Wir reden ja sehr intensiv über Neugründungen und über die Frage, wie wir Neugründungen von Betrieben erleichtern können. Das ist auch richtig so. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir diejenigen erhalten können, die es schon gibt. ({50}) In den nächsten Jahren wird es eine große Anzahl von Betriebsübergängen - man nennt sie auch Erbschaften - geben. Ich beziehe mich - damit dies völlig klar ist - nicht auf private Erbschaften, sondern auf die Übergänge von Betrieben, insbesondere von kleinen und mittleren. Ich bin dafür - ich weiß, Herr Ministerpräsident, dass auch Bayern dafür ist -, dass wir das Modell umsetzen, über das diskutiert worden ist, nämlich bei einem Betriebsübergang jedes Jahr 10 Prozent der an sich fälligen Erbschaftsteuer abzuziehen, wenn dieser Betrieb erhalten wird. Ich weiß, dass sowohl in Bayern als auch in Nordrhein-Westfalen, meine Herren Ministerpräsidenten, darüber diskutiert worden ist. Ich finde, das kann und soll man machen. Ich weiß, dass die betroffenen Kollegen in den Ländern dafür geradestehen müssen. Denn die Steuern, die da anfallen, sind Steuern der Länder. ({51}) - Die Maßnahme ist absolut sinnvoll. ({52}) Die Bundesregierung wird einen solchen Gesetzesvorschlag unterstützen und, wenn Sie uns bitten, auch selber einbringen. Aber klar ist natürlich, dass es dann im Bundesrat kein Gewürge geben darf, sondern dass Sie sicherzustellen haben, dass das auch läuft. ({53}) Denn es geht ja nicht, solche Gesetze im Bundesrat einzubringen und sie später abzulehnen. Soweit ich weiß, hat die Staatsregierung das nach dem Motto getan: Wir bringen ein, wenn die Ablehnung gesichert ist. Das kann ja nicht der Fall sein. ({54}) Lassen Sie uns also diese Maßnahme, auf die der Mittelstand in Deutschland wartet, bitte schön auch wirklich machen! Wir schlagen zusätzlich vor, dass wir die Mittelstandsbank des Bundes in den Stand versetzen, innovativen Mittelständlern für die Förderung von Innovationen Kredite in Höhe von 2 Prozent unter dem Marktzins zu gewähren. ({55}) Das, glaube ich, wäre ein Paket zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, das sofort auf den Weg gebracht werden könnte, ohne dass man auf etwas verzichtet, ein Paket, das wir ohnehin machen müssen und zu dem der Sachverständigenrat gebeten worden ist, Vorschläge zu machen. Wir haben in der Tat das Problem, dass wir in einem vereinigten Europa außerordentlich unterschiedliche Steuersätze - ich rede über die direkten Steuern - und außerordentlich unterschiedliche Bemessungsgrundlagen haben. Wir arbeiten sehr daran - das ist schwer genug; das ist übrigens nicht nur auf die neuen Mitglieder bezogen; es gibt auch ältere Mitglieder, die da Schwierigkeiten machen -, eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die direkten Steuern zu schaffen. Angesichts der Entscheidungsprozesse in Europa ist das erstens nicht leicht und zweitens wird es dauern. Das liegt nicht an uns. Aber wenn ich mir einige andere Länder anschaue, dann weiß ich, was da an Arbeit bevorsteht. Ich sage es noch einmal: Das ist keineswegs nur auf die neuen Mitglieder bezogen, die ab 1. Mai letzten Jahres dabei sind. Auch große ältere Mitgliedstaaten - ich denke an Inseln und Ähnliches - haben da ein erhebliches Verweigerungspotenzial; das muss man einfach so sehen. Ich bin dafür, dass man dies einbezieht und dass man den Sachverständigenrat auf dieser Grundlage bittet, möglichst rasch - ich hoffe, bis zum Herbst dieses Jahres - Konkretes dazu vorzulegen, wozu der Sachverständigenrat schon einen Vorschlag gemacht hat, nämlich wie man auf der Basis gemeinsamer Bemessungsgrundlagen zu einer rechtsformneutralen Besteuerung der Unternehmen kommen kann. Das ist ein wichtiger Punkt. ({56}) Die Fachleute nennen das Dual Income, also die Trennung bei der Steuer zwischen betrieblicher und privater Sphäre ohne Ansehung der Rechtsform des Unternehmens. Daran wird gearbeitet. Diese Vorschläge sollen bis Ende oder besser bis Herbst dieses Jahres vorliegen. Wir werden dann miteinander darüber reden müssen, wie wir diese umsetzen. Dabei ist eines zu berücksichtigen: Wenn man sich das vorstellt, erkennt man, dass man in der Besteuerung zu bestimmten Sätzen kommen wird. Es kann sein, dass die kleinen und mittleren Unternehmen, wenn man bestimmte Sätze vorsieht, dann unter Umständen höher besteuert werden, als das gegenwärtig der Fall ist. Das wäre falsch. ({57}) Deswegen wird man sehr genau betrachten müssen, um was es dabei geht. Der Sachverständigenrat ist gebeten worden, ein Sondergutachten vorzulegen; dies wird er sicherlich auch tun. Meine Bitte ist, diese Dinge rasch in Angriff zu nehmen. Alle meine Vorschläge verbauen nicht den Weg in eine grundsätzlich erneuerte Unternehmensbesteuerung nach dem skizzierten Muster. Wir sollten uns darauf verständigen, sie jetzt zu realisieren. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung daran anknüpfen, meine Damen und Herren: Wenn wir dies miteinander tun - angesichts der Situation der öffentlichen Haushalte auf allen Ebenen wird es eine gewaltige Kraftanstrengung sein -, dann erwarte ich, dass nicht gleich die nächste Forderung nachgeschoben wird. ({58}) Wenn die Politik einen Rahmen geschaffen haben wird, der wirklich auskömmlich ist, dann sollte endlich das ständige Gerede von der Verlagerung von Betriebsstätten und Arbeitsplätzen aufhören und in Deutschland investiert werden. Diese Erwartung richte ich an die deutsche Wirtschaft. ({59}) Der zweite Bereich, über den wir uns verständigen müssen, betrifft die kurzfristige Verstärkung der Investitionen. Die langfristigen strukturellen Grundlagen sind durch die Reform-Agenda angelegt; aber wir müssen kurzfristig etwas tun, meine Damen und Herren. Ich will jetzt nicht in alle Einzelheiten gehen. ({60}) - Nun warten Sie ab; wie Sie gemerkt haben, erwähne ich genügend Konkretisierungen. Wir müssen schneller zu Existenzgründungen kommen, als es gegenwärtig der Fall ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mit einer Novelle des GmbH-Gesetzes können wir zu einer substanziellen Absenkung des für die Gründung notwendigen Mindestkapitals kommen. Wir werden ein elektronisches Handelsregister einführen, damit Neugründungen binnen Tagen realisiert werden können und nicht Monate brauchen. Dieser Punkt hat sehr viel mit Bürokratieabbau zu tun. ({61}) Des Weiteren müssen wir jede Anstrengung unternehmen, um bei der Verkehrsinfrastruktur mehr als bislang vorgesehen zu machen. ({62}) Deshalb werden wir jährlich 500 Millionen Euro zusätzlich im Haushalt mobilisieren, um ein Zweimilliardenprogramm für die nächsten vier Jahre aufzulegen, das die Verkehrsinfrastruktur verbessert. ({63}) In diesem Bereich nutzen wir nicht alle Möglichkeiten, um auch privates Geld zu mobilisieren. Deshalb halte ich es für wichtig, zu prüfen, ob es möglich ist, durch Finanzierungen über private Gesellschaften nach österreichischem Vorbild zu einer Verstetigung der Infrastrukturinvestitionen zu kommen. ({64}) Wir werden mit dem von den Fraktionen vorbereiteten Beschleunigungsgesetz versuchen, im Bereich der Public Private Partnership privates Kapital in Milliardenhöhe zu mobilisieren, ({65}) um konkrete Projekte wie die A 1 in Nordrhein-Westfalen und die A 4 in Thüringen zusammen mit der Wirtschaft schneller umzusetzen, als es bei knappen öffentlichen Mitteln möglich wäre. Wir werden ein Planvereinfachungsgesetz vorlegen, das hilft, diese Investitionen schneller zu realisieren, als es gegenwärtig der Fall ist. Dies werden wir nicht auf einen Teil unseres Landes beschränken und es auch auf Investitionen in Stromnetze ausdehnen, die wir in der nächsten Zeit dringend brauchen und die ebenfalls zügiger ausgebaut werden müssen. ({66}) Mit der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, auf die sich die Koalitionsfraktionen unter Mithilfe des einen und anderen geeinigt haben, werden wir mehr Rechtssicherheit für die Energieversorger erreichen. Wir werden erreichen - das ist von den Energieversorgern mitgeteilt worden -, dass bis zum Jahre 2010 sage und schreibe 20 Milliarden Euro in neue Kraftwerke, in die Ertüchtigung alter Kraftwerke und in die Netze investiert werden. Das ist eine Entwicklung, die ich für außerordentlich positiv ebenso wie für außerordentlich notwendig halte. ({67}) Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nach meiner Meinung wichtig ist und über den - auch zu Recht - viel gestritten worden ist. Ich meine die Frage: Wie geht es mit der Grünen Gentechnik weiter? Wir werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen, das zusammen mit dem ersten Gesetz einen vernünftigen Rechtsrahmen für Investitionen in diesem Bereich darstellt. Ich weiß, meine Damen und Herren, dass in diesem Gesetz bezogen auf die Haftungsfragen nicht alles so ist, wie sich das die Wirtschaft, die investieren soll und will, vorgestellt hat. Viele haben gesagt: Die Haftung sollen die öffentlichen Hände übernehmen. Aber ist das wirklich der richtige Weg? Können wir bei allem, was von der Wirtschaft neu begonnen wird, die Risiken wirklich so verteilen oder ist es nicht sinnvoll, zu sagen: Wir wollen einen vernünftigen Rahmen setzen; wir erwarten aber auch, dass ihr auf der Basis dieser gesetzlichen Regelungen zu Fonds kommt, die die Haftung unter euch regeln? ({68}) Mein Eindruck ist jedenfalls, dass manchmal merkwürdig argumentiert wird, wenn man einerseits alles und jedes dem Staat überlassen will, jedenfalls dann, wenn man selbst betroffen ist, andererseits aber immer über Staatsfreiheit und Staatsferne redet. ({69}) Ich glaube, dass mit beiden Gesetzesvorhaben ein fairer Ausgleich und Planungsregelungen geschaffen worden sind, die Investitionen ermöglichen. Ich weiß, dass ein großes deutsches Unternehmen demnächst Ausbringungen machen wird. Ich bin im Übrigen bereit - wir haben das schon im Bundesrat angekündigt -, den gesetzlichen Rahmen zu setzen und die Aktionen auf der Basis dieses gesetzlichen Rahmens auch wirklich zu gestalten und nach zwei Jahren zu überprüfen. Wir werden sehen, ob wir in diesem Bereich unter dem europäischen Gesichtspunkt zu Veränderungen kommen müssen oder nicht. Vor einem sollten wir uns aber hüten, nämlich davor, die Zurückhaltung im gesamten Bereich der Gentechnik - es geht übrigens auch um Rote und Weiße Gentechnik - einseitig zu verteilen. Ich erinnere an die Debatten zum therapeutischen Klonen hier im Deutschen Bundestag, wo ich quer durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages - ich sage das mit allem Respekt - ein Maß an Zurückhaltung erlebt habe, das ich jedenfalls nicht für richtig halten konnte. Ich will das nur so sagen. ({70}) - Ich weiß, Herr Gerhardt, dass wir da einer Meinung sind. Es ist auch nicht schlimm, wenn auch wir einmal einer Meinung sind. ({71}) Ich will das hier nur sehr deutlich sagen, damit nicht der Eindruck entsteht, die Sensibilität in diesem Bereich - um es freundschaftlich zu sagen - sei nur in der Mitte des Hohen Hauses vorhanden, also nur bei den Grünen, ({72}) und die anderen seien nur darauf aus, das wirtschaftlich Vernünftige zu tun. ({73}) Ich denke, wir wollen eine vernünftige Balance finden. Mit den Gentechnikgesetzen I und II ist sie fürs Erste gefunden. Also lassen Sie uns nicht Debatten von gestern führen, sondern darauf setzen, dass jetzt die Ausbringung geschieht und wir in diesem Bereich weiterkommen. Wir werden dann sehen, ob wir nach zwei Jahren zu Veränderungen des gesetzlichen Rahmens kommen müssen oder nicht. Jedenfalls sollte begonnen werden. Ich denke, das ist die Aufgabe, die vor uns liegt. ({74}) Wir werden im Übrigen - weil ich beim Thema Investitionen bin - dafür sorgen, dass das CO2-Gebäudesanierungsprogramm bis 2007 auf dem jetzigen Niveau - das sind insgesamt 720 Millionen Euro, die nach bisherigen Erfahrungen Investitionen in Höhe von etwa 5 Milliarden Euro auslösen - weitergeführt werden kann. Das ist durchfinanziert und das kann hier geschehen. ({75}) Im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen und vor allen Dingen der Handwerksbetriebe geht es um den Erhalt von immerhin 60 000 Arbeitsplätzen und - wo möglich - um die Neuschaffung weiterer Arbeitsplätze. Das ist in der Situation, in der wir uns befinden, wahrlich nichts, was auf die leichte Schulter genommen werden könnte. Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, zu welchen neuen Impulsen es vor dem Hintergrund der Diskussion über die Agenda 2010 und der Aufgaben der Bundesagentur auf dem Arbeitsmarkt nach meiner Auffassung kommen muss. Ich glaube, dass diejenigen, die da seinerzeit im Vermittlungsausschuss besonders tätig waren, inzwischen eingesehen haben, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten von Langzeitarbeitslosen noch einmal überprüfen müssen. ({76}) Wir hatten seinerzeit Vorschläge gemacht. Ich will übrigens sagen: Ich gehe sehr respektvoll mit den Gegenvorschlägen um. Auch sie enthalten diskussionswürdige Überlegungen. Das kann man nicht bestreiten. Denn wir müssen der Gefahr widerstehen, dass wir über Transferleistungen einerseits und Hinzuverdienstmöglichkeiten andererseits dafür sorgen, dass Menschen zu lange in diesen Beschäftigungsverhältnissen bleiben. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den diejenigen eingebracht haben, die damals skeptisch waren, und den man nicht mit leichter Hand wegwischen darf. Ich glaube, es lässt sich ein vernünftiger Mittelweg finden. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten. Denn auch da brauchen wir eine Zustimmung des Bundesrates, wenn wir das verändern wollen - wofür ich bin. Den entscheidenden Punkt werden wir in der nächsten Zeit bei der Stärkung der Vermittlungsaktivitäten - zunächst für die unter 25-Jährigen - leisten müssen. ({77}) Sie wissen: Diejenigen, die unter das SGB II fallen - das sind diejenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen -, haben einen Rechtsanspruch entweder auf einen Ausbildungsplatz, auf eine Maßnahme der Qualifizierung oder auf einen Arbeitsplatz. Wenn wir bei den Langzeitarbeitslosen mit aller Kraft beginnen, können wir es schaffen, diesen Rechtsanspruch zu realisieren. Wir haben dafür etwa 7 Milliarden Euro in der Bundesagentur zur Verfügung. Wir sollten dieses Bemühen auf diejenigen ausdehnen, die unter das SGB III fallen, die also Arbeitslosengeld I beziehen oder keine Leistungen bekommen, weil sie noch bei den Eltern sind und diese Leistungen aus diesem Sicherungssystem bekommen. Mir geht es darum - ich bin mir mit dem Wirtschaftsund Arbeitsminister völlig einig -, dass wir die Kräfte der Bundesagentur auf zwei Bereiche konzentrieren. Zum Ersten müssen wir es schaffen, den Jungen eine Perspektive zu geben. ({78}) Das ist übrigens auch aus demographischen Gründen notwendig. Wenn wir es nicht schaffen, die mehr als 600 000 jungen Leute unter 25 Jahren aus der Perspektivlosigkeit herauszuholen, dann werden wir das bitter bereuen, weil uns in kürzester Zeit die Arbeitskräfte fehlen werden, die wir brauchen, um weiter Wachstum generieren zu können. Das ist der Zusammenhang. Es wäre auch eine ökonomische Katastrophe, diese Leute in der Anonymität zu lassen und ihnen keine Perspektive zu geben. ({79}) Zum Zweiten müssen wir uns auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auf die über 55- oder über 58-Jährigen - konzentrieren, speziell im Osten. Auch hier müssen wir die Vermittlungstätigkeiten verstärken. Wir werden das tun. Wir müssen auch mit denen zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft Zusatzbeschäftigung bereitstellen können und sollen. Wir stellen uns zum Beispiel vor, 250 Millionen Euro zu mobilisieren, um in Bereichen, die besonders gut sind, mehr zu tun. Formen des Wettbewerbsdenkens wie Best Practice sind, glaube ich, auch in diesem Bereich angemessen und vernünftig und sollten ausgebaut werden. ({80}) Ich habe mich mit der Frage der befristeten Beschäftigung auseinander gesetzt. Gelegentlich wird über Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt diskutiert, ohne wirklich zu den Punkten zu kommen. Es gibt einen Punkt, wo ich selber meine, dass wir bei der Befristung etwas tun müssen: Wir müssen die befristete Beschäftigung erleichtern, in dem wir das absolute Verbot der Vorbeschäftigung aufheben. Ich glaube, diese Entwicklung ist richtig und vernünftig. ({81}) Ich plädiere dafür, dieses Verbot auf zwei Jahre zu beschränken, damit Kettenarbeitsverträge nicht unbegrenzt möglich sind. Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang - auch das betrifft den Arbeitsmarkt - auf etwas hinweisen, was uns allen Sorgen macht, nämlich die in letzter Zeit evident gewordene Umgehung der Vereinbarungen, die wir anlässlich der Erweiterung der Europäischen Union getroffen haben, was die Schutzfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Umgehung der Entsenderichtlinie angeht. Im Fleischerhandwerk und zunehmend auch im Baunebengewerbe - bei den Fliesenlegern, aber auch in anderen Bereichen - haben wir den Tatbestand, dass Sicherungsvorschriften für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Flucht in Scheinselbstständigkeit und Ähnliches umgangen werden und damit unserer Volkswirtschaft schwerster Schaden zugefügt wird, ({82}) übrigens auch den betroffenen ausländischen Arbeitnehmern, die nicht menschenwürdig beschäftigt werden. Wir müssen dazu kommen - auch hier braucht es die Zusammenarbeit von Bund und Ländern -, dass wir mit dem Aufbau von Taskforces, wie das so schön heißt, unnachsichtig alle legalen Möglichkeiten nutzen, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Wir brauchen nicht nur Recht und Ordnung im Inneren, wir brauchen auch Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt; auch dort müssen wir sie herstellen. ({83}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sagen zu einer Diskussion über ein europäisches Vorhaben, das nicht nur in Deutschland die Menschen bewegt, sondern auch in unseren Nachbarländern: Ich meine die Dienstleistungsrichtlinie. Klar ist zunächst: Die Fehlentwicklungen, die ich eben skizziert habe, haben mit der Dienstleistungsrichtlinie nichts zu tun: weil sie noch nicht gilt. Und ganz klar ist auch: So wie Herr Bolkestein, der ehemalige EU-Kommissar, sie sich vorgestellt hat, wird sie nicht in Kraft treten. ({84}) Ich bin mir darüber mit dem französischen Präsidenten völlig einig - mit anderen im Übrigen auch -: Wir können nicht zulassen, dass es über die Dienstleistungsfreiheit, für die man im Prinzip durchaus sein sollte, zu Sozialdumping in Deutschland kommt, dass Sicherheitsstandards, die wir aus guten Gründen für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgebaut haben, missachtet werden, und wir können nicht zulassen, dass die freien Wohlfahrtsverbände und diejenigen, die die Pflege von Alten und Kranken verantworten, in die Situation gebracht werden, dass sie nicht mehr mitkönnen, weil sie kaputtkonkurriert werden. ({85}) Das kann nicht Sinn der Dienstleistungsfreiheit in Europa sein und das wird es mit uns auch nicht geben. Ich bin frohen Mutes, dass man das sowohl im Europäischen Parlament als auch in der Europäischen Kommission noch einsehen wird. Meine Damen und Herren, ich will mich über das hinaus einem weiteren Thema widmen: Das ist die Frage, wie wir mit dem umgehen, was wir in Zukunft einerseits im Bildungssektor und andererseits im Bereich von Forschung und Entwicklung machen müssen. Ich glaube, wir finden sehr schnell eine Übereinstimmung in diesem Hohen Hause - ich hoffe, auch in der deutschen Öffentlichkeit - darüber, dass das Wohl und Wehe der deutschen Volkswirtschaft, die Chance, in Deutschland Wohlstand zu erhalten und, wo immer es geht, zu mehren, von unserer Fähigkeit abhängt, Geld zu mobilisieren, um in die Zukunft zu investieren. ({86}) Wir müssen weg von Vergangenheitssubventionen, hin zu Zukunftsinvestitionen. Wenn man sich die Situation in Europa anschaut, stellt man fest, dass Deutschland, was die Forschungs- und Entwicklungsausgaben angeht, besser ist als der Durchschnitt, besser ist als die großen Industrienationen, mit denen wir in erster Linie zu konkurrieren haben, aber deutlich schlechter als zum Beispiel die Skandinavier. Es ist völlig klar: Wenn wir oben bleiben wollen, wenn wir Spitze bleiben wollen in der Weltwirtschaft, dann müssen wir mehr in Forschung und Entwicklung investieren. Und wir müssen es jetzt tun wir können es nicht auf die lange Bank schieben. ({87}) Deshalb sage ich: Wer über Subventionsabbau redet, der kann, wenn er ernst genommen werden will, nicht darüber hinwegsehen, dass er zur Förderung von Forschung und Entwicklung die Eigenheimzulage hergeben muss. ({88}) Und kommen Sie mir jetzt nicht mit „Damit finanzieren wir eine große Steuerreform!“. Im ersten Jahr würden die Einsparungen bei gerade einmal 300 Millionen Euro liegen; damit wäre das wirklich schwierig. Ich sage: Das ist eine Subvention, durch deren Streichung in Zukunft zwischen 6 und 8 Milliarden Euro mobilisiert werden können. Das einzig Vernünftige, was man tun kann, ist, diese Mittel zu nehmen und sie samt und sonders in Forschung und Entwicklung auf der Bundesebene einerseits und in Bildungsinvestitionen auf der Landesebene andererseits zu stecken. ({89}) Deshalb muss das Gewürge im Vermittlungsausschuss aufhören. Die Mittel für die Eigenheimzulage müssen ausschließlich für Forschung und Entwicklung sowie für Investitionen in Bildung eingesetzt werden. ({90}) In diesem Zusammenhang sage ich in aller Klarheit: Ich halte es wirklich für höchst bedenklich, wie mit den 4 Milliarden Euro verfahren wird, die wir für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung stellen. ({91}) Ich halte das für unverantwortlich, und zwar aus folgendem Grund: Investitionen in diesem Bereich - in Betreuung - sind objektiv notwendig zur Förderung der Kinder, die in den Familien das Maß an Förderung, das an sich erforderlich ist, nicht erfahren. Es gibt viele Gründe dafür, die man leider immer wieder feststellen muss. Wer über PISA redet - das ist bedauerlicherweise ja fast schon wieder vergessen -, ({92}) der muss als Erstes darüber sprechen, wie wir es schaffen, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Zugehörigkeit eine Lebenschance zu geben. Das läuft über Bildung. Wenn es nicht anders geht, dann läuft das eben über Bildung und Betreuung. ({93}) Einer der größten Fehler, den wir machen könnten - ich hoffe, das werden die Ökonomen zunehmend begreifen -, wäre, nicht zu erkennen, dass wir ohne Investitionen in Betreuung volkswirtschaftlich in ungeheure Schwierigkeiten kämen, weil wir dadurch das Potenzial von Frauen und somit auch das der deutschen Wirtschaft nicht zureichend nutzen könnten. ({94}) Die Investitionen in Ganztagsbetreuung sind nicht nur eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit - das sind sie auch -, sie sind vor allen Dingen auch eine Frage der blanken ökonomischen Vernunft. Niemand in den Betrieben darf glauben, dass er das Arbeitskräftepotenzial, das wir schon in dieser Dekade brauchen, allein über eine gesteuerte Zuwanderung, für die ich bin, realisieren kann. Niemand darf das glauben. Das würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überstrapazieren. Es bleibt also dabei: Sowohl aus Gerechtigkeitsgründen als auch aus Gründen der ökonomischen Vernunft müssen wir und müssen auch die Betriebe in Betreuung investieren, weil dieses Potenzial sonst nicht genutzt werden kann. Das wäre schädlich für unsere Volkswirtschaft. ({95}) Im Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit der Kommunen habe ich heute in der „Financial Times Deutschland“ - ich bitte die anderen um Entschuldigung - eine interessante Zahl zur Entwicklung der Gewerbesteuer gelesen, die ja den Kommunen zusteht. Sie beträgt inzwischen mehr als 28 Milliarden Euro und damit 4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Man hat mir aufgeschrieben, dass das Nachkriegsrekord ist und im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 18 Prozent bedeutet. ({96}) Nun habe ich eine Bitte an die Herren Ministerpräsidenten: Reden Sie mit Ihren Innenministern darüber, dass wenigstens ein Teil dieses erheblichen Zuwachses von den Kommunen in notwendige Investitionen gebracht und nicht nur kameralistisch behandelt wird. ({97}) Das ist im Übrigen nicht alles. Wenn 95 Prozent der bisherigen Sozialhilfeempfänger in das Arbeitslosengeld II überführt werden - das hat das Gesetz ermöglicht; ob das immer mit aller Sensibilität ausgelegt worden ist, will ich dahingestellt sein lassen; ich neige schließlich nicht zu kräftigen Worten -, ({98}) dann steht jedenfalls fest, dass auch in diesem Bereich gewaltige Einsparungen zu verzeichnen sind, die genutzt werden sollten, damit in die Sanierung von Schulen, damit in die Sanierung von kommunalen Einrichtungen, damit in die Sanierung von kommunalen Straßen investiert werden kann. Wir haben die Möglichkeit, Investitionen in diesem Bereich loszutreten und damit neuen Schwung in die Investitionstätigkeit zu bringen. Diese müssen wir auch nutzen. ({99}) Zu den Zukunftsinvestitionen wird gehören - das ist wirklich schwierig -, die Pflegeversicherung in Ordnung zu bringen. Wir wollen das bis zum Herbst dieses Jahres machen. Wir als Koalition wollen ein gemeinsames Programm vorlegen, das auf der einen Seite Klarheit und Sicherheit in die Finanzierung bringt sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen ambulanter und stationärer Betreuung ermöglicht und das auf der anderen Seite etwas für diejenigen tut, die mit am schwersten dran sind, nämlich die Demenzkranken. Wir müssen in diesem Bereich etwas tun. Wir wollen hier eine große Anstrengung unternehmen. Das wird nur gehen, wenn wir uns möglichst auf ein gemeinsames Konzept einigen. ({100}) Ich will noch ein Wort zu dem sagen, was meines Erachtens die Entsprechung des Reformprogramms für die sozialen Sicherungssysteme und der Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ist. Ich meine die Föderalismusreform. Ich glaube, wir sollten einen neuen Anfang machen. ({101}) Es ist eine Legende, dass die Bundesregierung - ja, ich von vornherein gegen diese Reform gewesen wäre. Aber Legenden sind manchmal langlebig. Ich sage Ihnen ganz klar: Mich interessieren in diesem Zusammenhang nicht Kompetenzen, sondern mich interessiert, was passiert. Das gilt ausdrücklich auch für den Bildungsbereich. Ich sage hier klar: Wir brauchen in dieser Frage einen neuen Anlauf. Die Kommission, die Sie, Herr Ministerpräsident Stoiber, und Herr Müntefering geleitet haben, hat gute Ergebnisse vorzuweisen. ({102}) 85 bis 90 Prozent waren konsensfähig. Ich frage mich, warum wir nicht zumindest diese umsetzen; aber bitte schön! ({103}) Ich sage für die Bundesregierung: Ich werde jeden Vorschlag - auch auf dem schwierigen Gebiet der Kompetenzen für die Bildung - unterstützen, auf den Sie sich mit Ihrem Kovorsitzenden einigen. Sie können sicher sein: Wir beide setzen das auch durch. Ob Sie das mit Ihren Kollegen Ministerpräsidenten hinbekommen, ist eine andere Frage. ({104}) Ich halte das für notwendig, weil es bei einer Föderalismusreform wirklich darum geht, das, was wir auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Wirtschaft geleistet haben und weiter leisten werden, durch eine Entsprechung im Staatsaufbau zu ergänzen, die zu mehr Klarheit in den Kompetenzen und damit auch in den Verantwortlichkeiten und die zu mehr Effizienz in unserem föderalen Staatsaufbau führt. Das brauchen wir, wenn wir vorankommen wollen. Ich werde zu denen gehören, die einen solch neuen Ansatz, für den ich ausdrücklich werbe, mit aller Kraft unterstützen. ({105}) Ich hoffe, eines ist deutlich geworden: Wir sind in einer wirklich schwierigen Situation, was die Arbeitsmarktzahlen angeht. Man kann sie partiell erklären. Aber selbst wenn man sie erklärt, wie ich das getan habe, bleibt die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Das ist die Herausforderung in unserem Land. Alle, die sich zu diesen Fragen geäußert haben, haben gesagt: Das ist kein konjunkturelles Problem. Ich glaube, in dieser apodiktischen Form ist das nicht ganz richtig. Es ist auch ein konjunkturelles Problem, aber nicht in erster Linie. Das gebe ich zu. Es ist mehr ein strukturelles Problem. Aber auf dieses strukturelle Problem haben wir mit dem, was in der Agenda 2010 steht, und dem, was ich an neuen Impulsen vorgeschlagen habe, reagiert. Eines muss dabei klar sein - das erwähne ich zum Schluss ausdrücklich noch einmal -: Wir sind in Deutschland und in Europa verglichen mit anderen Weltregionen deswegen in einer vergleichsweise guten Situation, weil wir ein europäisches Sozialmodell in unterschiedlichen Formen in der Europäischen Union erhalten haben, das den Menschen zweierlei ermöglicht, nämlich die Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand und die Teilhabe an den Entscheidungen über die politischen Prozesse. Ich glaube, wir würden einen schwerwiegenden Fehler machen, wenn wir aus sehr kurzfristigen Erwägungen heraus, weil uns wirklich Sorgen bedrücken, das Prinzip des Sozialstaates und damit das Prinzip des Zusammenhalts unserer Gesellschaft über Bord werfen würden. ({106}) Das wäre ein schwerer Fehler. Was wir auf den Weg gebracht haben und was wir vorhaben, ist nicht einfach. Zum Teil kann es die Koalition aus eigener Kraft schaffen. Dort, wo sie das kann, wird sie es tun. Zum anderen Teil braucht sie wegen unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse hier und im Bundesrat die Zusammenarbeit all derer, die an dieser Zusammenarbeit interessiert sind, weil sie unser Land voranbringen wollen. Ich bin zu einer solchen Zusammenarbeit bereit und ich hoffe, dass wir hier im Deutschen Bundestag einen guten Anfang gemacht haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({107})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der CDU/CSUFraktion, Kollegin Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir hier im Saal und viele Menschen im Lande sind sich einig, dass wir in dieser Woche eine bemerkenswerte Rede des Bundespräsidenten gehört haben. ({0}) Bemerkenswert an dieser Rede des Bundespräsidenten war nicht allein, dass er alle entscheidenden Politikfelder erfasst hat, dass er die Probleme klar benannt und eindeutig die Richtung für die Antworten angegeben hat, sondern bemerkenswert war für mich, dass die Rede zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland groß und stark gemacht hat und was Deutschland jetzt in diesen Tagen und Monaten wieder braucht. ({1}) Das ist nämlich eine Politik mit Ordnung - nicht irgendeiner Ordnung, sondern der Ordnung der Freiheit, der Ordnung der sozialen Marktwirtschaft. ({2}) An der Rede des Kanzlers heute war nicht allein auffällig, dass er zum wiederholten Mal über die Tatsache gesprochen hat, dass auch die Umsetzung der Reformen als Reformen anzusehen sind, dass er Belehrungen, Prophezeiungen, Beschönigungen und Beschuldigungen vorgebracht hat, dass er es manchmal auch an Ernsthaftigkeit vermissen ließ ({3}) und dass er viele Einzelmaßnahmen genannt hat - das ist alles schön und gut -; auffällig war auch, dass er nicht zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland braucht. ({4}) Es geht nämlich um die Frage, mit welcher Ordnung der Freiheit wir im 21. Jahrhundert die Zukunft dieses Landes gestalten wollen. ({5}) Genau darin besteht der Unterschied zwischen Reparaturmaßnahmen und dem Glauben an die Kraft der sozialen Marktwirtschaft und die Kraft der Freiheit, die den Menschen erst mündig macht. ({6}) Natürlich ist es auch kein Zufall, dass der Bundeskanzler heute bewusst kein Bekenntnis zu Studiengebühren und zu bestimmten Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt - betriebliche Bündnisse, Kündigungsschutz, Flexibilisierungen - abgelegt hat. ({7}) Das ist eine sehr durchsichtige Strategie und es ist ganz klar, warum Sie so vorgehen. Sie wollen es nämlich uns überlassen, die notwendigen Dinge anzusprechen, ({8}) und mit einer Strategie nach dem Motto „Mit denen würde es nur noch schlimmer“ durch das Land ziehen. Aber diese Strategie wird nicht aufgehen. Denn sie ist schon in Schleswig-Holstein nicht aufgegangen. Dort ist Rot-Grün abgewählt. Das wird sich fortsetzen, weil sich die Menschen keine Angst mehr machen lassen. Sie haben nur noch eine Angst, und zwar davor, arbeitslos zu werden. Diese Angst zählt. ({9}) Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen brauchen wir ein umfassendes Konzept. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, dass diese Zahl bedrückend ist. Aber wenn das so ist - im Übrigen wären 4,8 Millionen genauso beDr. Angela Merkel drückend -, dann muss man feststellen: Wir brauchen ein Konzept, das alle wichtigen Bereiche umfasst, ein Konzept, das weitere Strukturreformen in Angriff nimmt und sich nicht im Klein-Klein verliert, ein Konzept, das alles der einen Frage unterordnet, nämlich wie wir zu mehr Arbeit kommen. Daran muss sich alles in diesem Land ausrichten. ({10}) Wir müssen ran an die Realität! Die Realität heißt: Die Welt verändert sich rasant. Bei einem schnellen Wandel sind schnelle Antworten notwendig. Insofern leben wir sozusagen in den zweiten Gründerjahren dieser Bundesrepublik Deutschland und deshalb müssen wir uns entscheiden, ob wir den Geist der Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland wieder aufnehmen oder ob wir ihn aufgeben wollen. Ich meine, wir müssen diesen Geist aufnehmen: den Geist der Freiheit, den Geist der kleinen Einheiten, den Geist, der den Menschen etwas zutraut. ({11}) Der Zusammenhang besteht doch gerade darin, dass dann, wenn wir diesen Geist nicht wieder vitalisieren, als erstes die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, und zwar sowohl in Bezug auf diejenigen, die Hilfe brauchen, als auch auf diejenigen, die Leistung erbringen. Wer sich nicht ausreichend zur Freiheit bekennt, wird den sozialen Zusammenhalt von Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft aufs Spiel setzen. ({12}) Wenn wir den sozialen Zusammenhalt wollen - er ist doch gerade die große Leistung der sozialen Marktwirtschaft gewesen und muss auch die große Leistung einer neuen sozialen Marktwirtschaft sein -, dann müssen wir uns doch erst einmal mit der Realität vertraut machen. ({13}) Es ist doch so: Die Wachstumsprognosen sind nicht so wie erwartet. Dafür kann ich niemanden verantwortlich machen, sondern das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn statt 1,6 Prozent Wachstum nur 0,8 Prozent erwartet werden, wäre es richtig gewesen, deutlich zu sagen, was das für den Haushalt, die Zahlen, die nach Brüssel gemeldet werden, und die eigenen Möglichkeiten bedeutet, und Sie hätten sich Gedanken darüber machen müssen, was Sie heute realistischerweise zur Zukunft des Bundeshaushaltes in diesem Jahr sagen können. Das wäre das Erste gewesen; das haben wir erwartet. ({14}) Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen, dass wir zwar ein Strukturproblem haben, dass wir es aber bereits durch die durchgeführten Reformen eigentlich gelöst haben. Wenn Sie ehrlich dieser Meinung sind, dann werden Sie Deutschland in den Untergang führen. Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß. ({15}) Wir haben weiterhin strukturelle Probleme; das ist die Wahrheit. Sie selbst haben noch 1998 gesagt: Bei allem, was wir tun, wollen wir uns am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen und dafür sorgen, dass jedes Instrument auf den Prüfstand gestellt wird, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeitsplätze sichert oder Arbeitsplätze schafft. Das war die Zeit, in der Sie gesagt haben: Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, dann sind wir es nicht wert, wieder gewählt zu werden. In dieser Zeit haben Sie die Realitäten noch gesehen, Herr Bundeskanzler. ({16}) Dass die Schaffung von Arbeitsplätzen erste Priorität hat, ist angesichts der Zahlen klar. Die entscheidende Frage ist: Wo sind denn zukunftsfähige Arbeitsplätze? Ich habe von Ihnen dazu wenig gehört, und wenn, dann nur sehr Bedauerliches. Das, was Sie zur Grünen Gentechnik gesagt haben, klingt wie Hohn in den Ohren derer, die sich dieser Technologie widmen wollen. ({17}) Hier ist Ihr Wirtschaftsminister noch ehrlicher. Er hat vor Vertretern der bayerischen Wirtschaft gesagt: Es ist nicht verantwortbar, alles so zu belassen, wie es ist. Recht hat der Mann. Aber er kann sich nicht durchsetzen. Nun sind auch Sie noch umgefallen, obwohl Sie eigentlich wissen, dass es nicht richtig ist. Es ist doch ein Hohn, in einem einzigen Wirtschaftsbereich der Industrie die gesamte Haftung aufzuzwingen, während in allen anderen Wirtschaftsbereichen die Verantwortlichkeit besser aufgeteilt ist. Warum gerade in diesem Zukunftsbereich? So entstehen keine Arbeitsplätze. ({18}) Ich kann nur sagen - auch Herr Steinbrück fordert das immer wieder ein -: Lassen Sie uns die Richtlinien der Europäischen Union eins zu eins umsetzen! Hätten wir das bei der Gentechnikrichtlinie gemacht, dann wären wir heute weiter. In zwei Jahren - das ist heute die Hälfte des Zeitraums, in dem sich das Wissen der Menschheit verdoppelt - sind viele Betriebe abgewandert. Angesichts dessen können Sie doch nicht sagen: Lassen Sie uns abwarten und dann schauen wir einmal! Denn wir wissen schon heute, welche Folgen das haben wird. ({19}) Bei aller Freude über Investitionen im Energiebereich wissen wir doch, dass wir keine konsistente Energiepolitik haben, ({20}) dass es volkswirtschaftlicher Unsinn ist, vorzeitig aus der Kernenergie auszusteigen, ({21}) und dass wir keine dauerhafte Perspektive haben. ({22}) Wir wissen ebenfalls, dass 40 Prozent zusätzliche Kosten auf jede Kilowattstunde, verursacht durch den Staat, zu viel sind und dass die Lenkungsinstrumente - dort der Emissionshandel, hier das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die KWK-Förderung - nicht zusammenpassen. Eine konsistente Energiepolitik könnte weitaus mehr Arbeitsplätze in Deutschland sichern als zurzeit. ({23}) Der Bundesumweltminister hat darauf verwiesen, dass er mit seiner subventionierten erneuerbaren Energie 120 000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Das freut mich. Aber Sie müssen sich einmal die Frage stellen: Wie viel Arbeitsplätze hat dieser Mann schon verhindert? Das sind mit Sicherheit sehr viel mehr. ({24}) Der Pharmastandort Deutschland ist - das gilt insbesondere für die forschende Arzneimittelindustrie durch die Ausführung der Festbetragsregelung beeinträchtigt. Wir bekennen uns zur Gesundheitsreform; aber wir haben nicht beschlossen, dass die patentgeschützten Medikamente benachteiligt werden. Der Pharmastandort Deutschland ist international in Verruf geraten, mit nicht absehbaren Folgen für die Bundesrepublik Deutschland und die Arbeitsplätze in diesem Lande. ({25}) Wir sind natürlich dafür, dass Sie Public Private Partnership endlich auf den Weg bringen. Darüber wird doch seit mittlerweile drei Jahren diskutiert. Wir sind auch dafür, dass Sie die Mauteinnahmen schneller zu Ausgaben ummünzen. Es hat ja lange genug gedauert, bis der Bundesverkehrsminister die Sache endlich auf der Reihe hatte. ({26}) All das werden wir natürlich aktiv unterstützen. Wir sind auch für ein CO2-Investitionsprogramm. Aber ich bitte Sie inständig: Lassen Sie uns aus den Nachteilen des Bisherigen lernen und lassen Sie uns effizienter vorgehen! Dann werden wir Sie selbstverständlich unterstützen. ({27}) Wichtig sind die Arbeitsplätze der Zukunft - das sind diejenigen Arbeitsplätze, die unseren Wohlstand sichern und wichtig ist natürlich auch, dass wir Einstellungshemmnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt senken. Wir müssen weiterhin überlegen, was Menschen daran hindert, wieder in Arbeit zu kommen. Ich sage Ihnen zu - eine entsprechende Verabredung haben wir getroffen; das kam auch in Ihren heutigen Aussagen zum Ausdruck -, dass wir daran mitwirken, dass bei den Zuverdienstmöglichkeiten im Rahmen von Hartz IV etwas geändert wird. Ich sage Ihnen aber auch: Die überdimensionale Förderung von 1-Euro-Jobs insbesondere für junge Leute wird in die Irre führen. Wir müssen alles daransetzen, dass wir auf dem ersten Arbeitsmarkt mehr Beschäftigung bekommen. Deshalb wollen wir etwas ändern. ({28}) Ich habe irgendwo gehört, dass Sie jetzt Bürokratie abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen wollen. Noch Ende letzten Jahres haben wir hier gesessen und gerungen, ob wir die Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein Jahr oder vielleicht um zehn Jahre verlängern. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie sich an die Arbeit! Das hätten wir längst haben können. Natürlich können wir diese Regelung auch auf Energieleitungen ausdehnen. ({29}) Sie haben kein Wort zum Antidiskriminierungsgesetz gesagt. ({30}) Der Bundeskanzler wird schon gewusst haben, warum. Herr Steinbrück wird uns nachher erklären, wie er eine Eins-zu-eins-Umsetzung mit Rot-Grün schaffen will. Herr Steinbrück, halten Sie nicht einfach nur Reden im nordrhein-westfälischen Landtag, sondern überzeugen Sie fünf Sozialdemokraten aus Ihrem Landesverband! Wir stimmen zu und Sie können eins zu eins umsetzen. ({31}) Der Bundeskanzler hat uns erklärt, dass es mit den betrieblichen Bündnissen für Arbeit bei Opel, bei Siemens und bei anderen so gut klappt. Das ist richtig. ({32}) Das ist besonders für diejenigen, die in den Schlagzeilen sind, wichtig; man nutzt die Chance, in die Zeitung zu kommen. Aber oft müssen die Kleinen über Wochen und Monate daran arbeiten, dass die Gewerkschaften ihnen zustimmen, wenn sie eine solche Regelung brauchen. Wir wollen die Tarifautonomie überhaupt nicht angreifen; ({33}) vielmehr vertreten wir die Auffassung: Wenn die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb der Laufzeit eines Tarifvertrages mit der Betriebsleitung einig ist, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag zur Erhaltung von Arbeitsplätzen sinnvoll ist, dann soll ihnen das unbürokratisch möglich sein. Trauen Sie den Leuten vor Ort etwas zu! Dazu fordern wir Sie auf. ({34}) Sie wollen jetzt kleinste Schritte beim Kündigungsschutz gehen. Okay, die gehen wir natürlich mit. Ich erinnere Sie aber an Ihre Rede zur Agenda 2010: Damals haben Sie von einem Optionsmodell beim Kündigungsschutz gesprochen. Warum beschließen wir nicht heute das, was Sie damals für richtig gehalten haben? Wir halten das immer noch für richtig. Deshalb werden wir weiterhin darüber reden. ({35}) Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Absenkung - das sagen alle Sachverständigen - der zu hohen Lohnzusatzkosten. Wir brauchen auch - dazu hätte ich nun wirklich gern ein Wort von Ihnen gehört, weil dieses Thema so allgegenwärtig ist und ja auch von Ihrem neuen Vorsitzenden des Sachverständigenrates fast täglich angesprochen wird - eine Entkopplung der Kosten für die sozialen Sicherungssysteme von den Arbeitskosten, ob es Ihnen passt oder nicht. ({36}) Natürlich wollen auch wir, weil wir genauso für die Gesundheitsreform eintreten wie Sie, ({37}) dass die Krankenkassenbeiträge sinken. Aber Sie müssen doch auch Folgendes sehen: Der Schätzerkreis sagt den Krankenkassen, dass ihre Ausgaben in diesem Jahr um 1,9 Prozent steigen. Zugleich sind noch die Schulden aus den vergangenen Jahren da und müssen erst einmal abbezahlt werden. Da ist es doch klar, dass die Krankenkassen sich überlegen, ob sie die Beiträge senken, wenn sie sie dann im gleichen Jahr vielleicht wieder erhöhen müssten. Lassen Sie uns also vernünftig auf die Kassen einwirken. Auch ich sage aber frei heraus: Ich finde es unmöglich, wenn die Vorstandsvorsitzenden mancher Krankenkassen offensichtlich vergessen haben, dass man in solch einem Job soziale Verantwortung einbringen muss. Das sage ich ganz ausdrücklich. Lassen Sie uns aber auch nichts Unmögliches von den Kassen verlangen. Es wäre nicht gut, wenn die Beiträge nach einer Senkung ein halbes Jahr später wieder erhöht werden müssten. ({38}) Nun zu den Aussagen zur Pflegeversicherung, die Sie hier gemacht haben. Ich hätte mir ehrlich gewünscht, dass diese etwas konkreter ausgefallen wären. Wie soll es denn nun gehen? Die Ministerin hat diese Woche schon vier Vorschläge gebracht. Deswegen sind wir schon ganz durcheinander. ({39}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn Sie einen Gesetzentwurf auf den Tisch legen, der der von allen Sachverständigen erhobenen Forderung Rechnung trägt, die Kosten für die Pflegeversicherung ein Stück weit von den Arbeitskosten zu entkoppeln. ({40}) Das heißt auf Deutsch - Sie haben diesen Begriff ja nicht in den Mund genommen -: Kapitaldeckung muss zu einer Säule der Pflegeversicherung werden. Wenn ein entsprechender Entwurf vorliegt, werden wir versuchen, mit Ihnen zusammenzukommen. ({41}) Die Frage, was Sie von der Bürgerversicherung halten, haben Sie in diesem Hause noch nicht beantwortet. ({42}) Es wäre mir recht gewesen, wenn das heute geschehen wäre. Diese steht ja nun in totalem Widerspruch zu all dem, was Not tut. ({43}) Ich glaube, Sie sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht gerechter wäre, die Krankheitskosten von Kindern, so wie wir das vorgeschlagen haben, von allen deutschen Steuerzahlern bezahlen zu lassen, als sie wieder denen in unserer Gesellschaft aufzubürden, deren Verdienst unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Das ist unser Modell. ({44}) Weil in diesem Zusammenhang gleich wieder der Vorwurf der Steuererhöhung fällt, lassen Sie mich sagen: Jawohl, wir haben entgegen unserem Steuerkonzept 21, das ganz klar sagt, welche Subventionstatbestände abgebaut werden sollen ({45}) - dagegen versuchen Sie ja schon wieder hinten und vorne zu hetzen; seien Sie einmal ehrlich -, und auch klar sagt, dass der Spitzensteuersatz auf 36 Prozent gesenkt werden soll, nun vor, diesen nur auf 39 Prozent zu senken, um auf diese Weise die Krankheitskosten der Kinder von den Gutverdienenden in diesem Lande bezahlen zu lassen. Das ist unser Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit, meine Damen und Herren. ({46}) Im Zusammenhang mit der Frage, wie die Benachteiligung der deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb beseitigt werden kann, haben Sie sich heute um ein Thema ein Stück weit herumgedrückt, das mit Sicherheit auf uns zukommt: Wie wird es angesichts europäischer Regelungen in Zukunft um die Mitbestimmung in Deutschland bestellt sein? Ich sage ausdrücklich, ich teile nicht die Meinung des früheren BDI-Vorsitzenden Rogowski, dass es sich hierbei um einen Irrläufer der Geschichte handelt. Ich sage Ihnen, weil Sie vom europäischen Sozialstaatsmodell gesprochen haben: Wenn wir nur in Europa wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann müssen wir uns überlegen, wie wir in Deutschland die Mitbestimmung der Zukunft so europafest machen, dass wir dadurch nicht abfallen und Wettbewerbsnachteile haben. Dazu habe ich heute ein Wort von Ihnen vermisst; dieses Thema steht auf der Tagesordnung. ({47}) Dann stellt sich natürlich die Frage nach den Steuern. Als Erstes muss ich Ihnen einmal sagen: Man darf die Realitäten hier nicht völlig verkehren. Sie können nicht über alles informiert sein, was im Parlament stattfindet, aber gestern fand zum Beispiel im Finanzausschuss die Beratung über das Modell zur Erbschaftsteuer, so wie Sie es hier dargestellt haben, statt. Sie wissen sicherlich auch, wie die Regierungsfraktionen abgestimmt haben: glatte Ablehnung. ({48}) Aber manchmal kann man in Nächten etwas lernen und die Nacht scheint sehr lehrreich gewesen zu sein. Ich sage Ihnen: Unsere Stimmen haben Sie. Es ist ein bayerischer Antrag, die Ministerpräsidenten der Union werden das Modell unterstützen, wir haben es gestern bereits unterstützt. Also nichts wie ran; das können wir machen. Meine Damen und Herren, Sie haben weiter vorgeschlagen, man solle ein Signal setzen bei der Körperschaftsteuer. Dazu sage ich Ihnen: Das hört sich gut an, das finden wir okay, aber Sie müssen auch genau sagen, wie es gegenfinanziert werden soll. ({49}) Es muss zum Schluss so sein, dass es der Wirtschaft in Deutschland nutzt. Es darf uns nicht anschließend mehr Kritik als Nutzen bringen. Wir sind im Grundsatz dazu bereit, solche Überlegungen zu unterstützen. Das ist keine Frage. Dasselbe sage ich zu der Frage der Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Diese Überlegungen halten wir für vernünftig. Diesen Vorschlag können Sie in ein Gesetz umsetzen und Sie können damit rechnen, dass wir dem zustimmen. ({50}) Aber jetzt müssen wir aufpassen. Wir haben nach wie vor das Ziel einer großen, umfassenden Steuerreform, bei der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer so aufeinander abgestimmt werden, dass vor allen Dingen die Personengesellschaften, das heißt die Familienunternehmen, in Deutschland nicht die Leidtragenden sind. ({51}) Sie haben heute im Zusammenhang mit der Senkung des Körperschaftsteuersatzes kein einziges Wort zu Personengesellschaften und Familienunternehmen gesagt. ({52}) So geht das nun auf keinen Fall. Wenn die Gleichbehandlung garantiert wird, machen wir natürlich mit, keine Frage, aber für uns ist eine vernünftige Gegenfinanzierung Conditio sine qua non. Alles andere ist nicht machbar. ({53}) Jetzt kommen wir auf den Punkt. Wir müssen dann noch Spielraum haben - deshalb bestehen wir auch auf der Eigenheimzulage - für eine wirklich umfassende Steuerreform, und zwar nicht nur im Körperschaftsteuerbereich, so wie Sie es für den Sachverständigenrat sehen, ({54}) sondern auch im Einkommensteuerbereich. Die Menschen in diesem Lande wollen wieder verstehen, wer wofür wie viel Steuern zahlt. Das geht nur, wenn das Steuersystem einfacher und transparenter wird. Daran werden wir weiter arbeiten und wir laden Sie herzlich dazu ein, unser Steuerkonzept 21 zu unterstützen. ({55}) Herr Bundeskanzler, Sie haben auch über die Zukunft der Bildung gesprochen. Wir sind dafür, dass mehr in Bildung investiert wird. ({56}) Tatsache ist aber, dass der Haushalt der Frau Forschungsministerin, was die eigentlichen Forschungsausgaben in Deutschland anbelangt, gesunken und nicht gestiegen ist. ({57}) Gestiegen ist er nur, weil das Forschungsministerium Aufgaben übernommen hat, die sicherlich wichtig sind, die aber von Haus aus nicht unbedingt in die Kompetenz des Bundes gehören. Das ist die Wahrheit über den Zustand des Haushalts. ({58}) Meine Damen und Herren, bei der SPD ist im Augenblick die Einheitsschule wieder ganz groß in der Diskussion. ({59}) Weil der Bundeskanzler meinte, über PISA sprechen zu müssen, muss ich ihn doch wirklich noch einmal daran erinnern, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen - alle mit klassischen Modellen, die mit Einheitsschule aber auch gar nichts zu tun haben - die ersten vier Plätze bei der PISA-Studie belegt haben. Das spricht für das gegliederte Schulsystem. ({60}) Ein Nachbarland von Sachsen, das auf Platz drei liegt, ist Brandenburg; es liegt auf Platz 15. Wissen Sie, woher die Berater kamen, die den Brandenburgern ihr Schulsystem nahe gebracht haben? Aus Nordrhein-Westfalen! Das heißt, es muss sich nicht nur in Brandenburg etwas ändern, sondern auch in Nordrhein-Westfalen. ({61}) Herr Bundeskanzler, Sie haben zum Thema Föderalismus gesprochen. Eines geht natürlich nicht - das haben Sie sicherlich auch nicht ernst gemeint -: an einer Stelle zu widersprechen und diesen Punkt offen zu lassen, um später zu sehen, was man da machen kann, und an einer anderen Stelle direkt beschließen zu wollen. Wir sind ja großzügig und gutmütig, aber völlig dumm sind wir nicht. ({62}) Dass bei einer solchen Reform der bundesstaatlichen Ordnung Dinge zusammenhängen ({63}) wir haben zum Beispiel gesagt, dass das Umweltrecht auf die Bundesebene gehoben werden kann, weil uns ein einheitliches Gesetzbuch helfen kann, aber dafür muss der Wettbewerb in den Bildungssystemen gestärkt werden; das kann nicht einfach entkoppelt werden -, dass wir nicht das eine machen können und das andere nicht, das werden Sie verstehen. ({64}) Wir können - das sage ich ausdrücklich - bei der Föderalismusreform natürlich vorankommen und wir sollten auch vorankommen. Aber dazu muss man eines akzeptieren, nämlich die Grundgesetzordnung. Sie ist so, wie sie ist; geändert werden kann sie nur mit einer Zweidrittelmehrheit. Sie haben vor dem Verfassungsgericht bei der Juniorprofessur verloren, dann sind Sie mit den Studiengebühren auf die Nase gefallen. Ich weiß nicht, wie viele Verfassungsgerichtsprozesse Sie noch verlieren wollen. Aber ändern können wir die Ordnung nur gemeinsam. Es empfiehlt sich, die Realitäten anzuerkennen. Ich bin ganz sicher, dass man dann auch einen guten Weg finden kann. ({65}) Zu einem Thema haben Sie heute sicherheitshalber gar nichts gesagt, nämlich zu den Schulden und zum Stabilitätspakt. Sie haben uns gesagt, was Sie hier und dort machen wollen, zum Beispiel bei der KfW. Das ist alles prima. Aber Zinsverbilligungen kommen natürlich bei irgendjemandem an. In Ihrem Kabinett heißt dieser Mann Eichel. Er ist dafür verantwortlich, dass die Maastricht-Kriterien eingehalten werden. ({66}) Nun arbeiten Sie nächste Woche wieder sehr daran, dass die Maastricht-Kriterien aufgeweicht werden. Aber ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn wir in den wichtigen Stunden, wo wir über die Zukunft dieses Landes debattieren, noch mehr Wechsel auf die Zukunft aufnehmen, ohne uns um die Kinder und Enkel zu scheren, dann brauchen wir über Bildung und Forschung nicht mehr zu sprechen; dann versündigen wir uns. ({67}) Deshalb wäre es angesichts der nach unten korrigierten Wirtschaftsprognosen, des ganz knappen Haushalts, den Herr Eichel aufgestellt hat - wie immer auf Kante genäht -, und der zusätzlichen Ausgaben, die Sie uns heute hier in Aussicht gestellt haben, schon interessant zu erfahren, wie Sie das zusammenbringen wollen. Entweder Sie rechnen nicht damit, dass die Kommunen die Programme abrufen können - das ist natürlich auch eine Möglichkeit: ein Programm aufzulegen, das keiner benutzen kann, weil er selber so arm ist, dass er dazu nicht die Erlaubnis erhält -, oder aber Sie müssen sagen, wie Sie das finanzieren wollen. Darüber muss gesprochen werden; denn so können wir die Dinge nicht hinnehmen. ({68}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat heute einige Einzelmaßnahmen dargelegt. Ich habe dazu Stellung genommen. Aber was fehlt, ist die ordnungspolitische Linie. ({69}) Der Bundeskanzler, die Bundesregierung ist bestenfalls Reparateur, aber eben kein Architekt einer neuen sozialen Marktwirtschaft. ({70}) Deutschland hat sicherlich eine Reputation. Herr Bundeskanzler, Sie kommen mehr im Ausland herum als wir. Wenn Sie dort zuhören - ich hoffe, dass Sie das tun -, dann kennen Sie die Fragen, die man an unser Land stellt. Eine Frage ist, ob wir noch die Kraft haben, Spitze zu sein, oder ob wir immer weiter abfallen. Morgen jährt sich zum 15. Mal der Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahl in der früheren DDR. Dieser Tag war für viele, die hier sitzen, sehr bewegend. Mit diesem Tag verbinde ich persönlich die Einsicht, dass wir bei Veränderungen trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten immer auch dazugewinnen können. Aber das erfordert, dass wir einen roten Faden haben, dass wir wissen, wo es langgeht, und die Richtung kennen, dass wir eine Vision haben und dass wir die Kräfte aktivieren, die uns stark machen. Dazu gehört für mich die Freiheit; denn sie ist notwendig, damit Gerechtigkeit und Solidarität entstehen können. ({71}) Wir werden heute Nachmittag miteinander sprechen. Ich sage Ihnen zu: Wir werden die Gesetzesvorlagen, die Sie einbringen, fair und konstruktiv prüfen. ({72}) Wir werden, wie wir das als Opposition immer gemacht haben, klare Kriterien für unsere Prüfung anlegen. Ich will sie hier ganz deutlich benennen: Erstens. Vorrang hat alles, was Beschäftigung fördert und nichts kostet. Das ist in der heutigen Zeit das Beste. ({73}) Zweitens. Was Beschäftigung fördert und etwas kostet, muss mit Blick auf die Zukunft solide finanziert sein. ({74}) Drittens. Was Beschäftigung gefährdet, das wird zurückgezogen, geändert oder unterlassen. Auch das werden wir einfordern, Herr Bundeskanzler. ({75}) Denn eine Politik des „Weiter so!“ verbietet sich angesichts der Lage unseres Landes. Herr Bundeskanzler, Sie sind Getriebener der Entwicklung und nicht Gestalter der Entwicklung. ({76}) Das ist das Bedauerliche für Deutschland. ({77}) Damit wir gestalten können, brauchen wir Mut und Kraft. Wir brauchen vor allem Mut und Kraft, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und die Wahrheit zu erkennen. Wir müssen den Menschen in diesem Land etwas zutrauen. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen. Die Menschen müssen über die Wahrheit informiert werden. ({78}) - Man erkennt an Ihren Zurufen, dass Ihnen das nicht passt. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist inzwischen so, dass die Wahrheit von Rot-Grün als Angriff ({79}) und die Wiederholung der Wahrheit von Rot-Grün als Kampagne empfunden wird. So sind die Realitäten in diesem Lande. ({80}) Ich kann Ihnen ganz klar sagen, wo das endet: In einer Wagenburgmentalität, ({81}) zum Schluss wird der Überbringer der schlechten Nachrichten beschimpft und die Dinge werden nicht so akzeptiert, wie sie sind. Sie erwecken nur den Eindruck, dass Sie für die Zukunft gut gerüstet seien. Zu dieser Wagenburgmentalität gehört beispielsweise, dass Sie in Kiel eine Koalition schmieden, obwohl Sie abgewählt sind. Aber die Menschen werden sich dazu ihre Meinung bilden. ({82}) Zur Wagenburgmentalität gehört auch die Art und Weise, mit der der Außenminister mit seinen Schwierigkeiten umgeht. Aber diese Wagenburgmentalität hilft uns nicht weiter. Deshalb haben wir Ihnen - darüber debattieren wir heute - einen Pakt für Deutschland angeboten, einen Pakt, in dem wir uns deutlich dafür aussprechen, den Menschen in diesem Lande etwas zuzutrauen, sie nicht zentralistisch zu dirigieren, sondern ihnen Spielräume zu lassen, damit sie in diesem Land - ich betone: in diesem Land - ihre Kräfte wieder entfalten können. Das ist Verantwortung für Deutschland. In diesem Sinne sage ich: An einem solchen Pakt für Deutschland wirken wir gerne mit. Herzlichen Dank. ({83})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Vorsitzenden der Fraktion der SPD, Franz Müntefering, das Wort. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden. Das war die Botschaft von Bundeskanzler Schröder beim Start der Agenda 2010 vor zwei Jahren. Für die Koalition gilt das unverändert weiter. Wir wollen sozialen Fortschritt, Erneuerung und Zusammenhalt; das ist das Ziel unserer Politik. ({0}) Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers von heute und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind weitere wichtige Schritte hin zur Lage Deutschlands im Jahre 2010: hin zu Wohlstand für alle, zu sozialer Gerechtigkeit und zu einer Politik der Nachhaltigkeit. Wir sind in Deutschland mitten in diesem Prozess der Veränderung. Der ist nicht leicht; dafür braucht man Mut. Manchen von denen, die ein Stück mitgegangen sind, dauert es zu lange. Manche von denen, die ein Stück mitgegangen sind, trauen sich nicht, sich dazu zu bekennen. Manche von denen wollen nichts damit zu tun haben. Die Generalrevision von Rüttgers und die Bereitschaft von Milbradt, gegen sich selbst zu demonstrieren, sind noch nicht vergessen. Wenn endlich einmal einer aus der Opposition sagen würde, wie sich das mit der Arbeitslosenstatistik und Hartz IV verhält - das haben wir alle miteinander beschlossen -, wäre das einfach einmal ein Akt der Ehrlichkeit und der Wahrheit, die Sie, Frau Merkel, eben eingefordert haben. ({1}) Wir haben ein Maß an Arbeitslosigkeit wie bei Helmut Kohl 1998 und zudem die Veränderungen der Statistik durch Hartz IV. Das ist wahr. Das ist viel. Das auszusprechen macht schon einmal deutlich, wie man die Zusammenhänge sieht. Wir jedenfalls werden den Weg der Agenda 2010 weitergehen. Wenn Sie wollen, können Sie mitgehen. Es geht dabei um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Es geht um Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt. Es geht um gleiche Bildungschancen, um die Potenziale der älter werdenden Gesellschaft. Es geht um den Investitionsstandort Deutschland und es geht um die Frage, wie sich Politik organisiert. ({2}) Wir haben uns alle vorgenommen, heute Morgen nicht polemisch zu sein. Frau Merkel, ich hatte aber bei Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie ein bisschen aus der Spur waren, weil Sie sich gestern etwas in der Erwartung dessen, was der Bundeskanzler sagen könnte, aufgeschrieben haben, er Ihnen aber nun ein breites Konzept dessen vorgelegt hat, was wir bereit und fähig sind zu tun. ({3}) Darauf waren Sie nicht eingestellt und das hat Ihnen ein bisschen die Sprache verschlagen. ({4}) Deswegen will ich in Abweichung von meinem Konzept gerne auf ein paar Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben. Kommen wir zunächst zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 5 Prozent. Eine solche Senkung bedeutet 11 Milliarden Euro weniger in der Kasse der Bundesagentur für Arbeit. Wenn Sie dann mit uns zusammen ein Konzept vorlegen wollen, das ganz besonders die Interessenlage der unter 25-Jährigen im Blick hat - nach der Melodie: am Ende dieses Jahres ist keiner von ihnen mehr länger als drei Monate in Arbeitslosigkeit -, und wenn Sie auf unserem Weg - der da heißt: die Maßnahmen für die über 58-Jährigen sollen in Zukunft so lange verlängert werden, bis sich der Ruhestand anschließt mitgehen wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass der Bundesagentur für Arbeit das nötige Geld zur Verfügung steht. Da kann man nicht gleichzeitig eben mal 11 Milliarden Euro aus populistischen Gründen streichen wollen. Das passt doch alles nicht zusammen! ({5}) Sie haben vorsichtshalber nichts zu der Notwendigkeit von Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt gesagt. Wir haben im letzten Jahr ein Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit beschlossen. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, FKS genannt und beim Zoll gebündelt, umfasst heute 5 300 und bald 7 000 Personen. Die Schattenwirtschaft ist im letzten Jahr zum ersten Mal seit 1975 gesunken. Sie ist noch zu hoch. Die FKS hat im letzten Jahr Schäden in Höhe von 475 Millionen Euro im Bereich der Steuern und der Sozialversicherungsabgaben, die nicht entrichtet worden sind, aufgedeckt. Sie hat 91 000 Strafverfahren und 52 000 Bußgeldverfahren eingeleitet. Sie sprechen darüber nicht gerne. Wenn wir dieses Thema ansprechen, kommt bei Ihnen sofort die Sache mit der Putzfrau. Uns geht es nicht um die Putzfrauen, sondern darum, dass die illegale Tätigkeit in Deutschland, die ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr akzeptabel ist, mit allem Nachdruck bekämpft wird. ({6}) Die Menschen in diesem Land, die ehrlichen Arbeitnehmer und die ehrlichen Arbeitgeber, sollen sich darauf verlassen können, dass sie nicht die Dummen sind. Diejenigen, die an den Gesetzen vorbeimarschieren, müssen erfasst werden. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Das wollen wir so. ({7}) Sie haben etwas zur Pflegeversicherung gesagt, Frau Merkel, und haben dafür plädiert, man müsse im Interesse der Stabilität der Lohnnebenkosten andere Finanzierungsformen finden; Sie haben sich vorsichtig ausgedrückt. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen - der Bundeskanzler hat es deutlich gemacht -: Wir werden uns dazu im Laufe dieses Jahres positionieren. Es gibt im Bereich der Pflegeversicherung keine Lohnnebenkosten. Diese 1,7 Prozent werden von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allein gezahlt. ({8}) Man sollte wissen, über was man miteinander redet. Sie haben das Antidiskriminierungsgesetz angesprochen. Bei uns in der ganzen Koalition - die Bundesregierung ist dabei - ist klar, dass es das Antidiskriminierungsgesetz geben wird. ({9}) Das haben wir vereinbart. Es wird kommen, und zwar, Frau Merkel, was den arbeitsrechtlichen Teil angeht, eins zu eins, wie die EU das vorgeschrieben hat. ({10}) Da gibt es bei Ihnen eine interessante Entwicklung: Wir haben in der letzten Woche eine Debatte über einen Antrag geführt, den Sie eingebracht haben. Dieser Antrag lautete: „Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“. ({11}) Inzwischen heißt es bei Ihnen: Der Vorschlag der EU soll eins zu eins umgesetzt werden. Das ist interessant. Wir sagen Ihnen trotzdem: Dieses Antidiskriminierungsgesetz wird es geben. Im arbeitsrechtlichen Teil wird der Vorschlag eins zu eins umgesetzt und im zivilrechtlichen Teil sehen wir mehr vor, als von der europäischen Ebene vorgegeben wurde, weil zum Beispiel auch Behinderte in das Antidiskriminierungsgesetz einbezogen werden sollen. ({12}) So werden wir das nach der Anhörung deutlich verändert gemeinsam vorlegen und so schnell wie möglich im Deutschen Bundestag und im Bundesrat zur Beschlussfassung vorlegen. Sie haben über die Gentechnik gesprochen. Wir alle haben in den letzten Tagen Zeit gehabt, mit dem VCI und großen bedeutenden Chemieunternehmen in Deutschland zu sprechen. Alle miteinander sagen: ({13}) Lasst uns einmal zwei Jahre schauen, was da läuft und wie das mit der Haftungsfrage ausgehen wird! Dann werden wir in zwei Jahren weitersehen. Das hat der Bundeskanzler angesprochen. Deshalb lohnt es sich nicht, sich an dieser Stelle zu echauffieren. Wir haben im ersten Gentechnikgesetz klare Entscheidungen getroffen. Wir haben zwei Jahre Zeit, um zu prüfen, ob etwas korrigiert werden muss. Das sagen alle miteinander. Das zweite Gentechnikgesetz werden wir jetzt beschließen; denn auch da sind wir einer Meinung. Das wird schnell vorangehen; bei der Standortliste sind wir uns völlig einig. ({14}) Es gibt keinen Grund zu weiterer Aufregung. Zur Erbschaftsteuer. Sie haben eben locker erzählt - dafür haben Sie auf Ihrer Seite große Begeisterung ausgelöst -, dass gestern der Antrag Bayerns angeblich im Finanzausschuss des Bundestages abgelehnt worden sei. ({15}) Der Antrag Bayerns stand gestern im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, im Finanzausschuss, überhaupt nicht zur Abstimmung. ({16}) Was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages abgelehnt worden ist, war das gesamte Steuerkonzept der CDU/CSU, das sie in ihrem „Pakt für Deutschland“ vorgeschlagen hatte. ({17}) Dies habe ich klargestellt, Frau Merkel, weil Sie zum Schluss so viel von der Wahrheit geredet haben. Sie haben immer haarscharf an ihr vorbei argumentiert. ({18}) Dann haben Sie verlangt, der Kanzler solle etwas zu den Schulden sagen. Der Kanzler hat deutlich gemacht, dass wir einen Großteil der zusätzlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung durch den Wegfall der Eigenheimzulage finanzieren wollen. Diese Zulage hat auch Sozialdemokraten immer gut gefallen; viele von uns sagen: Es wäre schön, wenn wir sie behalten könnten. Aber so zu tun, als gäbe es keine Vorschläge, ist ebenfalls dicht an der Wahrheit vorbei gewesen. Wir wollen Bildung, Forschung und Technologie fördern und dies auch durch den Wegfall der Eigenheimzulage finanzieren. Machen Sie an dieser Stelle endlich mit! Das wäre schon gut. ({19}) Frau Merkel, Sie haben sich - ({20}) - Sie hat ständigen Beratungsbedarf; das ist klar. ({21}) Sie haben sich sehr nebulös zu der Frage geäußert, ob man neue Schulden machen kann. Sie sind heute so unklar geblieben wie auch schon in den letzten Wochen. ({22}) Am 16. März wurden Sie, Frau Merkel, im „Handelsblatt“ wie folgt wiedergegeben: Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht auf der einen Seite bei den Steuersätzen geben und mit der anderen bei der Mindestbesteuerung wieder einsammeln. ({23}) Im selben Interview wurden Sie weiterhin zitiert: Für eine steuerliche Realentlastung der Wirtschaft haben wir nur sehr enge Spielräume. ({24}) Heute wollen Sie beides: Die Wirtschaft soll entlastet werden, aber neue Schulden sollen wir auch nicht machen. Erklären Sie einmal, wie das gehen soll! ({25}) Nun zu Ihren Ausführungen zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung: In der Tat gab es in der Föderalismuskommission weitgehende Einigkeit zu vielen Punkten, die wir auch wieder aufrufen und gemeinsam beschließen können. Dabei ging es unter anderem darum, die Zustimmungsrechte des Bundesrates so zu verändern, dass nicht mehr etwa 60 Prozent, sondern etwa nur noch 30 Prozent der Gesetze einer Zustimmungspflicht unterliegen. Dies soll dadurch geschehen, dass die Gesetze stärker als bisher in materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Teile aufgegliedert werden. Wir hatten des Weiteren vereinbart, dass die Gesetzgebungskompetenzen klarer zugeordnet werden. Die Länder können die Organisations- und Personalhoheit für die bei ihnen und bei den Kommunen Beschäftigten haben. Dies schließt Art. 33 Abs. 5 GG ein; die Grundsätze des Berufsbeamtentums können fortentwickelt werden. Wer sich ein bisschen damit auskennt, weiß, wie viel Musik darin steckt. Die Länder können das gesamte Wohnungswesen haben, all das, was sozialen Wohnungsbau ausmacht; sie bekommen auch das Geld, das dafür heute vom Bund zur Verfügung gestellt wird. Die Länder können das Versammlungsrecht, das Ladenschlussrecht, das Gaststättenrecht und den gesamten Bereich der Flurbereinigung haben. All dies bedeutet eine deutliche Verlagerung von Kompetenzen hin zu den Ländern. Einige andere Kompetenzen sollen an den Bund gehen, zum Beispiel die rechtliche Zuständigkeit für die Erzeugung und Nutzung von Kernenergie, das Meldeund Ausweiswesen sowie das Waffen- und Sprengstoffrecht. Außerdem soll es 15 Materien geben, bei denen zukünftig nicht mehr die Erforderlichkeitsklausel gilt. Das heißt, dass die Länder nicht mehr nach Art. 72 Abs. 2 einen Anspruch auf Materien erheben können, die heute im Grundgesetz der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet sind. Dazu gehört zum Beispiel das gesamte Arbeitsrecht. Ferner war ein neuer Art. 104 b in der Diskussion, der insofern interessant war, als er engen Bezug zu Dingen hatte, die heute Morgen vom Kanzler, aber auch von Frau Merkel angesprochen worden sind. Einige Länder - als einen ihrer Vertreter kann ich den Ministerpräsidenten von Hessen sehr genau identifizieren - haben in diesem Zusammenhang gefordert, dass im Grundgesetz zukünftig stehen solle, der Bund dürfe Finanzhilfen an die Länder bzw. Gemeinden nur für Vorhaben geben, die nicht Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder sind. Was heißt das? Darüber haben wir lange gesprochen. Die Länder - speziell Hessen und die B-Länder - haben uns gesagt: Ihr sollt in das Grundgesetz schreiben, dass ihr den Kommunen keine Hilfen mehr geben könnt, so wie ihr das jetzt zum Beispiel bei den Ganztagsschulen macht. Die Begleitmusik des Herrn Koch - andere will ich dafür nicht in Anspruch nehmen - war eindeutig: Er will in seinem Leben nicht noch einmal erleben, so hat er gesagt, dass der Bund Gelder an die Länder und die Kommunen im Rahmen eines Konzeptes gibt, mit dem man so populär werden kann, wie das an dieser Stelle geschehen ist. Das war seine Begründung. ({26}) Wenn man sich den Abfluss der Gelder ansieht, kann man sich erklären, was eigentlich passiert ist. Von der 1 Milliarde Euro, die im letzten Jahr zur Verfügung standen, ist längst nicht alles abgeflossen. Das war in den einzelnen Ländern aber sehr unterschiedlich. Hessen standen 70 Millionen Euro zur Verfügung, abgerufen worden sind aber nur 2,8 Millionen Euro. ({27}) - Ja, das ist unglaublich, und zwar erstens im Hinblick auf die Interessen der Kinder sowie der Frauen und Mütter, ({28}) und zweitens im Hinblick auf die Arbeitsplätze. Hierdurch können konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Handwerker und kleine Unternehmen vor Ort geschaffen werden. Deshalb sage ich noch einmal das, was der Kanzler schon angesprochen hat: Wer will, dass es vor Ort Arbeit gibt, muss zum Beispiel dafür sorgen, dass diese Milliarde, die auch in diesem Jahr zur Verfügung steht, für den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen eingesetzt wird. Das Geld steht zur Verfügung. Bitte nehmt es und macht endlich etwas damit. ({29}) Es war einvernehmlich vereinbart, dass die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbsteuer an die Länder fällt. ({30}) Einvernehmlich vereinbart war ein Steuertausch in dem Sinne, dass die Zuständigkeit für die Versicherungsteuer in Zukunft ganz bei den Ländern, aber die für die KfzSteuer beim Bund liegt. Einvernehmlich vereinbart war, dass das Finanzverwaltungsgesetz für die Steuerverwaltung im Sinne einer Präzisierung des Bundesrechtes in Bezug auf die Auftragsverwaltung, die Koordinierung der Prüfungsdienste und die Bündelung der Aktivitäten zur Bekämpfung von Steuerkriminalität bearbeitet wird. Einvernehmlich vereinbart war die Haftungsfrage in Bezug auf Europa. Einvernehmlich vereinbart war das Vorgehen von Bund und Ländern in Bezug auf den nationalen Stabilitätspakt. Einvernehmlich vereinbart waren Mitwirkungsrechte von Bund und Ländern in Bezug auf die nationale Interessenwahrnehmung in Europa. Einvernehmlich vereinbart war ein Großteil der Maßnahmen in Bezug auf die innere Sicherheit. Einvernehmlich vereinbart war, dass ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen wird: Berlin ist die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe all diese Dinge noch einmal aufgezählt, weil ich glaube, dass wir auch dann, wenn wir in Hinblick auf Zusammenarbeit guten Willens sind, wissen müssen: Nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft oder die Gesellschaft im Allgemeinen muss Bürokratie beiseite geräumt werden. Auch die Demokratie muss sich so organisieren, dass wir glaubwürdig sind und nicht unnötig Hürden aufbauen, die vermeidbar sind. In diesem Sinne wäre das, was wir unter dem Punkt „Bundesstaatliche Ordnung“ vereinbart haben, ein guter Schritt. Meine herzliche Einladung an alle, die wirklich wollen, dass sich Demokratie zeitgemäß organisiert, lautet: Lassen Sie uns das machen, was ich jetzt angesprochen habe. Im Laufe des Verfahrens werden wir sehen, ob wir auch noch die Vereinbarungen in den Bereichen Bildung und Umweltrecht hinbekommen; denn zumindest beim Umweltrecht sind wir schon dicht dran. Alles andere können wir miteinander machen. Das garantieren wir. ({31}) Ich will abschließend ein wenig darauf eingehen, was Sie, Frau Merkel, mit Worten zur Freiheit begonnen und auch geendet haben. Sie haben dazu in der letzten Zeit auch einige Artikel geschrieben. Ich habe mich gewundert, dass sich andere in der CDU/CSU, die dazu sicher auch das eine oder andere sagen könnten, dazu nie geäußert haben. Zwischen uns großen und kleinen demokratischen Parteien ist doch ein Rest von Akzeptanz vorhanden. Ich wundere mich, dass Sie sich so äußern. Sie berufen sich auf Hayek. In seinem Werk arbeitete Hayek mit bestechender Logik und überzeugenden Argumenten heraus, dass es vor allem um die Gewährleistung individueller Freiheit als Voraussetzung für Fortschritt und Prosperität einer Gesellschaft geht, also vor allem um den gesetzgeberisch garantierten Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür und ungerechtfertigtem Zwang. Das klingt gut. ({32}) In Hayeks Buch „Die Verfassung der Freiheit“ steht: Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig. Gerechtigkeitsüberlegungen ({33}) keine Rechtfertigung für eine „Korrektur“ des Marktergebnisses ab. … so muss ich offen zugeben, dass ich, wenn Demokratie heißen soll: Herrschaft des unbeschränkten Willens der Mehrheit, kein Demokrat bin … ({34}) Man kann über solche Sachen diskutieren. Ich empfehle Ihnen aber sehr, Frau Merkel, sich das genau zu überlegen. ({35}) Die CDU wird sich entscheiden müssen, ob sie an dieser Stelle Hayek oder Ludwig Erhard will. ({36}) Das ist ein Unterschied. Mit Hayek gibt es keine soziale Marktwirtschaft, mit Ludwig Erhard ja. Da hat es in den letzten Tagen schwer gerumpelt; er hat sich mehrmals im Grabe umgedreht. Darauf kann ich wetten. ({37}) Wir sind jetzt bei der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Staat. Sie wissen, dass wir Sozialdemokraten nicht nur für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eintreten, sondern auch davon überzeugt sind, dass der Staat eine Aufgabe hat und sie behalten muss. Diejenigen von Ihnen, die ehrlich sind, werden das nicht bestreiten. Die Frage ist: Wo ist die Grenze? Wie weit geht das? Wie lösen wir das Spannungsverhältnis auf? Wenn wir die Rolle des Staates ernst nehmen und von den Grundwerten ausgehen, die uns alle miteinander verbinden, müssen wir wissen, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht trennbar sind. Einer der Grundwerte alleine kann nicht funktionieren. Wir müssen sie alle drei miteinander haben. Dazu hat Johannes Rau, der damalige Bundespräsident, im Mai 2004 Bedenkenswertes gesagt: Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit. ({38}) Dazu legt er auch Regeln und Pflichten zu Gunsten der Gemeinschaft fest. Damit schafft der Staat Freiräume gegen puren Ökonomismus und gegen das alles beherrschende Dogma von Effizienz und Gewinnmaximierung. Gewiss: Eigene Verantwortung und eigene Anstrengung sind notwendig und unverzichtbar. Mehr Eigenverantwortung darf aber nicht heißen, dass die Starken sich nur noch um sich selber kümmern und die anderen sehen sollen, wo sie bleiben. Solidarität der Schwachen mit den Schwachen das genügt nicht. Arbeitende für Arbeitslose, Junge für Alte, Gesunde für Kranke, Nichtbehinderte für Behinderte: Darauf bleibt jede Gesellschaft angewiesen. Johannes Rau hat sehr Recht. ({39})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um an meinen Kollegen Müntefering mit „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ anzuschließen: Die Kombination unser aller Erbanlagen macht uns alle einzigartig - wenige einzigartig begabt und viele einzigartig durchschnittlich. Wenn Sie denen, die einzigartig begabt sind, im Bildungssystem, in der steuerlichen Belastung und in ihren Lebenschancen nicht gerecht werden, wenn Sie eher eine Neid- und Vermeidungsgesellschaft gegen sie mobilisieren, ({0}) werden Sie der Gesellschaft nicht helfen, größte soziale Sicherheit für alle herzustellen - im Sinne Ludwig Erhards, über die marktwirtschaftliche Ordnung, nämlich den Arbeitsplatz. Das ist der Kern des Denkunterschiedes zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten. Wir haben die gleiche Passion: Wir wollen Arbeitslosen helfen. Uns trifft genau wie Sie jeder, der arbeitslos wird. Aber wir haben nicht diese Staatsregulierungsallmachtsanmaßungsmentalität, zu glauben, dass wir für Tausende von Menschen die persönlichen Lebensentscheidungen besser treffen könnten - durch Gesetzgebung -, als sie das für sich selbst können. ({1}) Deshalb will ich einmal auf den Kern der Debatte zurückkommen: Ich glaube, dass bei über 5 Millionen Arbeitslosen in der Öffentlichkeit heute nur ein begrenztes Interesse besteht, zu erfahren, wo sich das Gaststättenrecht im Zuge einer Föderalismusreform am Ende wiederfindet, wo das Jagdrecht und wo vieles andere mehr. Die Öffentlichkeit interessiert die große Antwort und nicht das kleine Einzelne aus dem Instrumentenkasten von Energiepolitik, von Sonderprogrammen - auch nicht das 152. KfW-Programm -, Gewerbesteuerverrechnung, Verkehrsinfrastruktur. Die Öffentlichkeit interessiert, welchen Weg die Politik geht, um Vertrauen zurückzugewinnen, und sie interessiert, ob wir überhaupt noch wissen, wie Arbeitsplätze entstehen und wer sie in Deutschland schafft. ({2}) Sie will einen Wiedererkennungswert in uns haben. Deshalb, Herr Bundeskanzler, komme ich gleich auf den Punkt: Sie sind mit einer Art Unfallkoffer durch Ihre Regierungserklärung für Deutschland gelaufen. Sie haben Gewerbesteuerverrechnungsmodelle neu angeboten. Das ist typisch deutsch: eine Steuer, die eigentlich abgeschafft werden müsste, weil sie Arbeitsplätze verhindert, zu erhalten, weil sie zum gedanklichen Hausgut der SPD gehört; ({3}) die Mittelständler sie berechnen zu lassen, bürokratische Instrumente einzuführen, um sie dann am Ende zu verrechnen. Schaffen Sie sie doch ab! Das wäre ein Befreiungsschlag für die Bundesrepublik Deutschland. ({4}) Wir wollen jetzt einmal - ich hoffe, dass die Öffentlichkeit zusieht - diejenigen ansprechen, die die meisten Jobs schaffen und die meisten Jugendlichen ausbilden: Das sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Sie fühlen sich wenig getröstet durch Ihren Vorschlag, die Körperschaftsteuer noch einmal - auf 19 Prozent - zu senken. Für sie ist die Einkommensteuer die betriebliche Steuer. Sie wandern auch nicht alle ins Ausland ab - sie produzieren hier. Sie kennen ihre Betriebsangehörigen; sie besprechen mit ihnen in der Mittagspause betriebliche Probleme. Sie empfinden die Gewerkschaftszentrale eher als störend; die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer sehen das auch so. ({5}) Geben Sie denen doch den Freiraum, den sie brauchen! Sie besuchen doch die gleichen Betriebe wie ich auch. Dort erzählen Ihnen die Leute doch nichts anderes als mir. Das betriebliche Bündnis ist doch kein Anschlag auf die Organisationsmacht von Gewerkschaften, sondern eine Chance für Beschäftigung. Fürchten Sie sich doch nicht vor Freiheit in den Betrieben! ({6}) Wir sollten einmal die betriebliche Wirklichkeit sehen: Über 50 Prozent der Betriebe sind bereit, betriebliche Bündnisse zu verabreden. Wenn das so gut klappt, warum halten Sie dann an einem Gesetz fest, das nicht klappt? Wenn wir offensichtlich gesetzliche Bestimmungen haben, die eigentlich entgegen dem sind, was die Betriebe wollen und was die Volkswirtschaft weiterbringt, dann sollten Sie diese gesetzlichen Bestimmungen doch beseitigen. ({7}) Ihr Denken ist es, das den Menschen solche Beschwerden macht. Den Unternehmern hilft kein KfWProgramm, jedenfalls nicht durchschlagend. Sie haben uns auch nicht darum gebeten, bei der Gewerbesteuerverrechnung wieder etwas zu machen. Sie wollen eine neue unternehmerische Chance haben, sich mit der Bildung von Eigenkapital festigen zu können, und sie wollen durch eigene unternehmerische Entscheidungen mit guten Steuer- und Sozialreformsignalen eine Zukunftschance haben. ({8}) Nichts davon hat der Bundeskanzler heute angesprochen! Nichts - dabei sind das die entscheidenden Fragen für Deutschland. ({9}) Soziale Sicherungssysteme, Herr Bundeskanzler - Sie wissen es doch genauso gut wie ich -, sind zu einer Barriere gegen Arbeitsplätze geworden. Klaus von Dohnanyi hat es so ausgedrückt; man muss es jeden Tag wiederholen. Warum sträubt sich Ihre gesamte Partei, das zur Kenntnis zu nehmen? Ein Befreiungsschlag nicht nur für den Mittelstand, eine Chance für Beschäftigung in Deutschland wäre ein Bekenntnis von uns allen hier, uns nicht in Wahlkämpfen anzugreifen, sondern den Menschen in Deutschland zu sagen: Wir haben die soziale Sicherheit durch ständig positive Wachstumsraten erheblich erhöht. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die soziale Sicherheit neu zu organisieren und sie vom Faktor Arbeit abzukoppeln. Wenn Sie diesen Weg nicht gehen, dann werden Sie die hohe Arbeitslosigkeit nicht beseitigen. Da durch Arbeit und Beschäftigung eine größere soziale Sicherheit als durch Hartz IV erreicht wird, bekenne ich mich entsprechend dem Bundespräsidenten - „Vorfahrt für Arbeitsplätze“ - für diesen Weg der Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme. Das muss man in einer Regierungserklärung auch ausdrücken. ({10}) Sie haben eine Zukunftsorientierung in Bildung und Forschung angesprochen. Frau Kollegin Merkel hat völlig Recht, ({11}) wenn sie sagt, es könne nicht über eine Zukunftsorientierung in Forschung und Entwicklung sowie Bildung geredet werden, wenn in Maastricht gleichzeitig eine Schneise in die Zukunftsorientierung geschlagen wird, die es uns in Deutschland erlauben würde, mehr Schulden zu machen. Bei Maastricht geht es für mich und meine Fraktion nicht nur um die Finanzen, die Kriterien und die Einhaltung des Vertrages. Durch die deutsche Verhaltensweise wird das Vertrauen der anderen in uns zerstört. Vertrauen war im Grunde genommen immer das größte Gut der deutschen Außenpolitik. ({12}) Herr Bundesaußenminister, hat irgendjemand im Bundeskabinett eigentlich einmal darüber nachgedacht, welchen Vertrauensverlust die Bundesrepublik Deutschland mit dieser Klempnerei am Maastricht-Vertrag erleidet? Er geht weit über finanzpolitische Erwägungen hinaus. Das ist ein Verlust des Image, des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland. Sie zerstören das gute Image Deutschlands mutwillig, das aufgrund der in der Welt wahrgenommenen Leistungsbereitschaft der Nachkriegsgeneration vorhanden ist. ({13}) Sie haben in Ihrer schriftlichen Erklärung eine kurze Replik im Hinblick auf veränderte Konjunkturaussichten gemacht und gesagt, ({14}) Sie würden sich dagegenwenden, dass die Forschungsinstitute jetzt kurzatmig Prognosen korrigieren. Das ist eine bemerkenswerte Einlassung. Sie haben sie nicht wörtlich so gemacht, aber ich erlaube mir einmal, das so darzustellen. ({15}) Ihr Bundesfinanzminister hat jedes Jahr den Haushalt eingebracht und gesagt, der Aufschwung stehe vor der Tür. ({16}) Das kann man in jeder Rede nachlesen. Sie haben jedes Jahr eine Prognose abgegeben und wir haben gesagt, dass sie am Ende nicht stimmen wird. Jedes Jahr hatten wir Recht, sie haben nicht gestimmt. Auch dieses Jahr wird sie nicht stimmen. Die anderen sind doch nicht schuld daran, dass wir hier so schwache Wachstumsraten haben. Sie setzen doch die Rahmenbedingungen, die zu solch schwachen Wachstumsraten führen. ({17}) Ihr Misstrauen gegen Ihre eigenen Prognosen ist sehr wohl begründet. Zur Bildung. Ministerpräsident Steinbrück wird nachher reden. ({18}) In der Bildungspolitik gibt es eine beklagenswerte Situation: Durch die PISA-Studien für Deutschland wurde nachgewiesen, dass die soziale Herkunft in keinem anderen Land so sehr über den Schulerfolg entscheidet wie in der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde gesagt, dass dagegen etwas getan werden muss. Einverstanden. Bevor wir dagegen etwas tun, möchte ich nur den kurzen Hinweis geben: Bildung ist Hausgut der Länder und liegt in ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeit. Die Länder müssen sich messen lassen. Die PISA-Studie richtet sich an sie und ihre Kultusminister, also an ihre politische Verantwortung. In keinem Bundesland ist die Verknüpfung zwischen der sozialen Herkunft und dem Schulerfolg so eng und problematisch wie in NordrheinWestfalen. ({19}) Wir müssen das verfassungsrechtliche Hausgut der Länder beachten, die hier eine Verantwortung haben. Ich frage mich allerdings, ob die Einheitsschule die richtige Antwort ist. ({20}) Ich glaube, dass wir in diesem Land nur dann weiterkommen - auch mit der Beschäftigung -, wenn wir Wettbewerb im Bildungssystem haben. Leistung ist keine Körperverletzung. ({21}) Leistungsbereitschaft, das Heranführen an Prüfungen und das Bestehen von Herausforderungen gehören zum menschlichen Leben. Es ist entscheidend, Kinder in pädagogisch verantwortbarer Weise dort hinzuführen. Es wäre in der Föderalismuskommission nicht zum Streit gekommen, wenn wir das beherzigt hätten, Herr Müntefering, was wir immer sagen: Die Hochschulen müssen autonom sein. Entlassen Sie sie doch in die Autonomie und damit in den Wettbewerb! ({22}) Lassen Sie sie doch ihre Studentinnen und Studenten selbst aussuchen! Lassen Sie sie doch über Studiengebühren so entscheiden, wie sie es wollen! Die Frage ist doch nicht, ob der Bund oder die Länder zuständig sind. Warum haben Sie solche Angst vor dem Gebrauch der Freiheit durch die Wissenschaftler der Hochschulen? Warum haben Sie denn bei Forschung und Entwicklung eher das Bedürfnis, hinsichtlich der Technikfolgenrisikoabschätzung Gesetze zu machen, die die Forschung einschränken, als Wissenschaftlern in Deutschland, die ihre Forschungsarbeiten mit Ethik und klarem normativen Verhalten machen, einen Vertrauensvorschuss zu geben? Der Kern Ihres Problems bei dem ganzen Bürokratisierungsvorgang ist, dass Sie den Menschen eher misstrauen als vertrauen. ({23}) Wenn Sie das nicht überwinden, wird es in Deutschland keine Beschäftigung geben. Das ist nicht nur eine Frage der Bürokratie, sondern eine Frage der Einstellung. Verschonen Sie uns mit Ihrer Lösung bei der Grünen Gentechnik! Sie wissen, dass dieser Bereich ein Wachstumsmarkt ist. Wir beide sind uns auch beim therapeutischen Klonen und bei der Stammzellenforschung einig. Sie wissen das genauso gut wie ich. Ihr Angebot, sich als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dafür einzusetzen, für die Grüne Gentechnik, die schon heute verantwortbare Ergebnisse zeigt und für die sich in Deutschland Forscher interessieren, die von diesem Wachstumsmarkt profitieren wollen, einen Haftungsfonds einzurichten, um praktisch mit diesem Auffangnetz die missratene Gesetzgebung zu korrigieren, kann doch nicht die Lösung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, einer großen Industrienation, für einen Wachstumsmarkt sein. ({24}) Das gilt auch für diejenigen, die anderer Meinung sind als Teile der Koalition. Das gilt auch für uns. Das nehme ich auch für mich in Anspruch. Wir beide haben genauso gute und ethisch überzeugende Gründe, die medizinische Forschung weiterzubringen, die das Leid von Menschen lindern kann. Aber ich habe den Vorteil, dass ich Vorsitzender einer Fraktion bin, die das weitestgehend mit mir teilt. ({25}) Sie sind Chef eines Kabinetts, das diese Auffassung so nicht teilt. Sie richten sich in Erklärungen oft - das kann man gut beobachten - an Ihre eigenen Reihen, um sie zu überzeugen, dass der Weg gegangen werden muss. Das ist auch bei der Gentechnik der Fall, Herr Bundeskanzler. Sie haben mit der Agenda 2010 die richtige Richtung vorgegeben. Sie haben diesen Prozess irreversibel gemacht; das bleibt Ihr Verdienst. Aber dass Sie so unglaubliche Anstrengungen unternehmen müssen, um Ihren sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen bare Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, wird für mich immer unverständlich bleiben. ({26}) Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass bei Ihnen und Ihrer Fraktion ein Minimum an volkswirtschaftlichen Kenntnissen darüber, wie Arbeitsplätze entstehen und die Mechanismen auf dem Arbeitsmarkt funktionieren, vorhanden ist. ({27}) Das, was Sie persönlich an physischer Kraft verbraucht haben, um diese Schmalspuragenda bis heute durchzusetzen, ist schon verwunderlich. Der Bundespräsident hat gesagt, es dürfe keine Reformpause eintreten. Ich füge hinzu: Sie hatten Ende des vergangenen Jahres die Anwandlung, dass jetzt eine eintreten könne. Sie wissen nun aber, dass das nicht möglich ist. Erzählen Sie niemandem, die Zahl von über 5 Millionen Arbeitslosen habe sich aus den Gesetzen von Hartz I bis Hartz IV mechanistisch ergeben; die Menschen erführen jetzt endlich die Wahrheit. Nein, diese Arbeitslosenzahl - aus meiner Sicht ist sie in Wirklichkeit sogar höher als die, die gemeldet wird - kannten Sie und wir seit Jahren. Diese Arbeitslosen sind diejenigen, die sich in der Drehtür zwischen Beschäftigungslosigkeit, Weiterbildungskursen und erneuter Arbeitslosigkeit befanden. Diese Menschen haben Sie aus diesen Wartehallen nicht herausgelassen. Ihre Sozialpolitik war die Begleitung von Arbeitslosigkeit. Sie waren eher bereit, die Kompensation dafür zu erhöhen, als bei der Beschäftigung in Deutschland einen Durchbruch zu erzielen. ({28}) Daran hat Sie die Fraktion der FDP nicht gehindert. Gehindert haben Sie an diesem Durchbruch die Bundestagsfraktion der SPD und - das gilt insbesondere für Bereiche, in denen dieser Durchbruch gar kein Geld kostet - ohne Ende die Grünen, und zwar bei Verkehrsbaumaßnahmen und der Forschungsförderung. ({29}) Die KfW muss überhaupt kein Programm auflegen. Es wäre schon eine Wohltat für die Bundesrepublik Deutschland, wenn Sie Ihren Partner überzeugen könnten, Vorfahrt für Arbeitsplätze zu geben. ({30}) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({31})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka Fischer. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man heute Morgen der Debatte folgt, so kann man feststellen, dass sich alle Fraktionen zu Recht über das Schicksal von über 5 Millionen Arbeitslosen tiefe Sorgen machen. Diese Debatte wird von den Menschen verfolgt. Es wurde zu Recht auch auf die Rede des Bundespräsidenten hingewiesen. Wenn man die Debatte sorgfältig nachvollzieht, stellt sich allerdings die Frage, ob wir die Frage der Zuhörerinnen und Zuhörer vor den Fernsehschirmen und am Radio beantworten können, nämlich ob wir es gemeinsam packen werden. Das ist die entscheidende Frage, um die es geht. Vieles von dem, was ich hier gehört habe, ist im Wesentlichen parteipolitisch orientiert gewesen. Der Bundeskanzler hat heute in einer, wie ich finde, großen und beeindruckenden Rede ein Angebot gemacht, ({0}) in dem Prozess der Reformen weiterzugehen. Lassen wir für einen Augenblick die parteipolitische Kontroverse hinter uns. Um was geht es denn gegenwärtig? Tun wir als Vertreter von Parteien doch nicht so, als ob die eine Seite immer nur Recht hätte und die andere Seite immer nur auf der falschen Linie wäre! Wir müssen doch feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland vermutlich den tiefsten Wandel in den Sozialsystemen, in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt seit ihrer Gründung durchläuft. Das, was wir zu leisten haben - darüber müssen wir uns streiten und dann auch die Entscheidungen treffen -, ist, den Sozialstaat, der auf nationale Grenzen und ein sich langsam integrierendes Europa ausgerichtet war, für die Herausforderungen der Globalisierung fit zu machen, sodass soziale Gerechtigkeit auch im 21. Jahrhundert ein Grundwert unserer Republik ist. ({1}) Wir werden daran gemessen werden, ob wir es gemeinsam packen. Ich möchte nicht wiederholen, was von verschiedenen Rednern gesagt wurde und was der Bundeskanzler in seiner beeindruckenden Rede dargestellt hat. Wir haben Hartz IV gemeinsam angepackt. Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist uns damals im Vermittlungsausschuss, in der großen Runde in jener Nacht, gelungen, die Gemeinsamkeit herzustellen. Das, was wir da geleistet haben, müssen wir den Menschen immer wieder erklären. Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, wir wollen, dass mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit Schluss ist und dass die Menschen aus der Hoffnungslosigkeit herausgebracht werden. ({2}) Wir sind gegenwärtig in der Mitte des Stromes. Das müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Wir wollen, dass junge Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind - ich denke an über 100 000 Jugendliche, die, bevor sie überhaupt richtig ins Arbeitsleben eingetreten sind, bereits in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit angekommen sind -, einen Anspruch darauf haben, innerhalb von drei Monaten - der Wirtschaftsminister hat gesagt, dass er das in diesem Jahr erreichen möchte - einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder eine Arbeit zu erhalten. Das ist ein entscheidender Ansatz im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, aber auch gegen die Hoffnungslosigkeit bei der jungen Generation. ({3}) Das Zweite, worüber kaum geredet wird, sind die Alleinerziehenden. Wir wissen doch, dass gut ausgebildeten Alleinerziehenden in der Vergangenheit ein Schein für das Sozialamt gegeben und ihnen gesagt wurde: Gehen Sie doch zum Sozialamt, Sie haben Anspruch auf Sozialhilfe! Das war der Fall, wenn sie keinen Betreuungsplatz hatten. Da reicht nicht ein Kindergartenplatz, wo die Kinder nur vier oder fünf Stunden betreut werden. Das ist der falsche Weg, mit dem Hartz IV Schluss gemacht hat. Es geht entscheidend darum, dass wir eine Ganztagsbetreuung bekommen. Eine Alleinerziehende, die einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat einen Anspruch auf Betreuung. Wo die Betreuung nicht funktioniert, ist die Bundesagentur in der Pflicht. Das ist richtig und wichtig. ({4}) Ich frage mich in diesem Zusammenhang, was die älteren Arbeitnehmer, die diese Debatte verfolgen, denken werden. Wir reden über demographische Veränderungen, ein späteres Renteneintrittsalter und Altenarbeit. Das ist zwar alles richtig, aber sehr viele werden mit 50 Jahren ausgesteuert und haben kaum noch eine Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Ich frage Sie: Wie können Sie, wenn die Freiheitsrhetorik nicht hohl sein soll, an diesen Menschen vorbeigehen? Wir sind schließlich keine Repräsentanten einer Deutschland AG; wir sind vielmehr die gewählten politischen Repräsentanten, die sich auch und gerade um die Sorgen und Bedrängnisse dieser Menschen Gedanken machen und Lösungen anbieten müssen. ({5}) Das kann sich nicht darauf beschränken, Maßnahmen nur dann durchzuführen, wenn es den Unternehmen nützt. Mit Hartz IV ist ein entsprechender Schwerpunkt gesetzt worden. Deswegen finde ich es richtig und wichtig, dass wir dem Angebot des Bundeskanzlers folgen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, bei den 1-EuroJobs die Entfristung herbeiführen - davon hängen viele dieser Jobs in Ostdeutschland ab - und damit Möglichkeiten für die über 55-Jährigen - seien wir doch ehrlich: mehr und mehr sind auch schon 50-Jährige betroffen schaffen, um eine Trendwende zu erreichen. Wenn die Wirtschaft dennoch meint, mit 50 sei Schluss, und gleichzeitig, wie Herr Hundt, Rentenkürzungen fordert, dann sägt wohl jemand an dem Ast, auf dem er sitzt. Er sollte das füglichst unterlassen. ({6}) In der heutigen Ausgabe einer Berliner Tageszeitung ist nachzulesen, welche Angebote für einen aktivierenden Arbeitsmarkt die OECD empfiehlt. Das entspricht genau dem, was wir mit Hartz IV gemeinsam - ich wiederhole: gemeinsam - angepackt haben. Wir sind bereit, auch einen zweiten Schritt gemeinsam mit Ihnen zu gehen. Frau Merkel schlägt einen Pakt für Deutschland vor. Wir werden uns heute Nachmittag zu einem gemeinsamen Gespräch treffen. Ich glaube aber, dass ein Pakt für Deutschland nicht in der Weise funktionieren wird, dass die Regierung Gesetzesvorschläge macht und die Opposition diese wohlwollend prüft. ({7}) Das ist zwar huldvoll, aber es wird nicht reichen. Ich erkläre Ihnen auch, warum. Wir haben nämlich schlicht und einfach eine bundesstaatliche Ordnung. Frau Merkel als Partei- und Fraktionsvorsitzende kann das zwar so sehen, für die Ministerpräsidenten gilt das aber nicht. Denn die zweite Kammer steht mit in der bundesstaatlichen Verantwortung. ({8}) Insofern wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob der Wille vorhanden ist, das Ganze gemeinsam anzupacken. ({9}) - Um Angst geht es dabei überhaupt nicht. Das hat doch mit Angst nichts zu tun. Zuerst sagen Sie, Sie seien tief besorgt um die 5,2 Millionen Arbeitslosen. Wenn ich aber davon rede, dass wir es gemeinsam anpacken sollten, dann sprechen Sie von Angst. Das ist kleinste parteipolitische Münze. ({10}) Das nehmen uns die Menschen nicht mehr ab. Deswegen spreche ich von der Ordnung der Freiheit. Ich bin sehr dafür, das durchzudeklinieren. Parteien wie auch Demokratien haben mit Interessen zu tun. Es geht aber auch darum, Konsens über die widersprüchlichen Interessen herbeizuführen. Vielleicht - ich weiß es nicht definieren wir Freiheit in einem Punkt unterschiedlich. ({11}) Ich bin nämlich der Meinung, dass es Freiheit unter den Bedingungen der sozialen Demokratie und der ökologischen Grenzen nur im Dreisatz gibt. Die Wettbewerbsfähigkeit, die auf Freiheit gründen muss, kann nicht bedeuten, dass wir uns von dem sozialen Gerechtigkeitsanspruch und der ökologischen Nachhaltigkeit verabschieden. ({12}) Insofern halte ich nichts von Vorfahrtsregeln, aus denen nicht deutlich wird, auf welcher Grundlage sie entstanden sind. ({13}) Lassen Sie uns an dieser Stelle die Ordnung der Freiheit durchdeklinieren. Im Zusammenhang mit der Ordnung der Freiheit wird festgestellt, dass sich Deutschland in einem traurigen Zustand befindet. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass wir ein binnenkonjunkturelles Problem haben. Im Export ist unsere Wirtschaft hervorragend aufgestellt. Wie sollte diese Leistung erbracht werden, wenn das nicht der Fall wäre? Die Ordnung der Freiheit heißt, dass wir durch die Steuerreform gewaltige Entlastungen in Höhe von 50 Milliarden bis 60 Milliarden Euro für die Bürger und Unternehmen erreicht haben. Die Unternehmensteuersätze wurden gesenkt, genauso wie der Spitzensteuersatz. Der Eingangssteuersatz wurde halbiert. Darauf wurde schon hingewiesen. Es ist richtig: Mit der Reform der Körperschaftsteuer und einigen anderen Maßnahmen wollen wir erreichen, dass das Steuersubstrat trotz offener europäischer Konkurrenz im Wesentlichen in Deutschland bleibt. Richtig ist ebenfalls, dass wir im Herbst dieses Jahres eine umfassende Unternehmensteuerreform und, so glaube ich, ein einheitliches Unternehmensbesteuerungsrecht brauchen. Das sind Punkte, in denen wir uns im Grunde genommen einig sind. Wenn dem so ist, dann sollten wir das den Menschen draußen aber auch klar machen, um Vertrauen zu schaffen, und nicht das Trennende in den Vordergrund stellen. Ich komme zur Gesundheitsreform. Hier hat es mir ehrlich gesagt den Atem verschlagen. Frau Merkel, bedeutet Ordnung der Freiheit, dass Sie hier plötzlich Interessenvertreterin der Firma Pfizer sind, und das ausgerechnet bei der Festbetragsregelung? ({14}) Wenn man sich anschaut, wie viel Generika kosten, dann kann man doch nicht allen Ernstes einerseits fordern - dieses Lied hat Herr Gerhardt gerade wieder auf sehr banale Weise gesungen - „Staat raus!“ und andererseits die Interessen der Firma Pfizer gegen eine vernünftige Begrenzung der Gesundheitskosten verteidigen. So wird es nicht funktionieren. ({15}) Insgesamt ergibt sich durch die Reduzierung der Gesundheitskosten eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro. Gemeinsam mit der Rentenreform sowie der Umsteuerung am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen sind das doch gewaltige Entlastungen für die Unternehmen. Ich bin sehr für Ordnung der Freiheit. Für mich ist aber der entscheidende Punkt: Wenn ich Ordnung der Freiheit sage - ({16}) - Was heißt Visa? Das können Sie doch alles im Untersuchungsausschuss klären. Ich habe Ihnen gesagt, welche Fehler ich gemacht habe. Aber das ändert nichts an den Fehlern, die Sie dabei sind zu begehen. ({17}) Herr Gerhardt, wenn Sie für die Ordnung der Freiheit sind, dann frage ich Sie: Wozu brauchen wir dann noch das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung im Gesundheitssystem? ({18}) - Ich komme gleich auf die Kopfpauschale und die Bürgerversicherung zu sprechen. Es gibt in Nordrhein-Westfalen ein börsennotiertes Unternehmen, das gutes Geld mit Apothekenmehrfachbesitz verdient, aber nicht in Deutschland. Ich frage Sie: Wozu brauchen wir noch das Mehrfachbesitzverbot? Wir haben versucht, es zu öffnen. Wir hätten es gerne ganz beseitigt. Aber ihr habt es verhindert. Frau Merkel und Herr Gerhardt, lassen Sie es uns doch gemeinsam anpacken, wenn Sie der Meinung sind, dass das weg soll. Dann werden wir gemeinsam Erfolg haben. ({19}) - Nein, Herr Gerhardt. Aber es ist schön, dass Sie so geständig sind ({20}) und zugeben, dass Sie die Kassenärztliche Vereinigung und die Apotheken - deshalb halten Sie wohl am Mehrfachbesitzverbot fest - als Ihre Monopole begreifen. Das ist meines Erachtens eine klare Ansage. Ich verfüge jedenfalls über keine Monopole. ({21}) An diesem Punkt kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben doch enormen Erfolg mit der Änderung der Handwerksordnung erzielt. Es sind Neugründungen in enorm großer Zahl erfolgt. Aber warum machen wir hier nicht weiter? Wenn wir sehen, dass wir mit der Deregulierung der Handwerksordnung Erfolg haben, brauchen wir dann beispielsweise noch das Gebietsmonopol für Schornsteinfeger? Hier können wir entbürokratisieren und deregulieren. ({22}) - Jetzt kommt der Flächentarif. Wenn Sie sich die Tarifstruktur anschauen, dann wissen Sie doch, was los ist. Wenn ich mir anschaue, was die Unternehmen in Ostdeutschland sowie die Bündnisse für Arbeit in Ost und West geleistet haben, und sehe, dass in manchen Fällen das Management einfach nicht mehr da ist, obwohl bei ihm die Verantwortung liegt, während sich die Belegschaft - beispielsweise bei Karstadt und Opel - sehr verantwortlich verhält, dann muss ich sagen: Ich bin froh, dass wir Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaften haben, die dazu in der Lage sind. Wer will das infrage stellen? ({23}) Nun kommen Sie mit einem Gesetz zur Regelung der betrieblichen Bündnisse. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es wird über Entbürokratisierung geredet. Die betrieblichen Bündnisse funktionieren. Die Bedingungen, die der Bundespräsident mit Hinweis auf Montesquieu gefordert hat, sind gegeben. Dennoch wollen CDU, CSU und FDP ein Gesetz zur Regelung der betrieblichen Bündnisse. Ich verstehe das nicht. Vielleicht haben Sie andere Interessen. Womöglich wollen Sie nicht wirklich die Ordnung der Freiheit realisieren, sondern Ihre Ideologie. ({24}) Was die Bildung angeht, möchte ich in beide Richtungen sagen: So kommen wir nicht voran. Es besteht die Gefahr, dass wir uns in der Frage „Einheitsschule oder dreigliedriges Schulsystem?“ wieder verhaken. Warum können wir das nicht hinter uns lassen? Der Verweis auf PISA mit Bezug auf Bayern und Baden-Württemberg ist richtig. Aber, Herr Ministerpräsident, auch Sie wissen: Sie haben, was die Anzahl an Abiturienten angeht, die schmalste Zugangsquote. Sie wissen, woran das liegt. Ich behaupte ja gar nicht, dass das Gesamtschulsystem, wie es bei uns ausgestaltet ist, das bessere ist. ({25}) Aber ich frage nicht: Wo steht Bayern, wo steht Nordrhein-Westfalen, wo steht Hessen? Vielmehr frage ich: Wer steht denn an der Spitze? Müssen wir das Rad neu erfinden? Ich sage an die Linke gerichtet: Aus unserer Sicht müssen wir akzeptieren, dass unser Platz an der Spitze der Wettbewerbs-, das heißt auch der Leistungsfähigkeit ist. ({26}) Exzellenz, Leistungsfähigkeit und Spitzenförderung sind in Deutschland dringend notwendig. ({27}) In Richtung der Rechten sage ich: Es kann doch nicht sein, dass unsere wichtigste Ressource, nämlich die nächste Generation, vom Geldbeutel der Eltern abhängt und dass es nicht möglich ist, gemeinsam ein Schulsystem zu entwickeln, das nicht mehr auf ideologischer Kontroverse und Grabenkämpfen gründet. Wir sollten uns vielmehr etwa am finnischen Schulsystem orientieren. ({28}) Viele Eltern haben Angst, dass die Qualität der Schulen nachlässt, wenn der Spracherwerb - er ist das erste Ziel, das wir erreichen müssen; Spracherwerb gilt zu Recht als A und O der Bildung, gerade für Zuwandererkinder - nicht mehr funktioniert. Besonders wichtig sind daher eine möglichst schnelle vorschulische Betreuung und ein vorschulischer Spracherwerb. ({29}) Das ist zunächst zu gewährleisten. Warum können Bund und Länder diesbezüglich keine gemeinsame Initiative starten? Herr Ministerpräsident Stoiber, das hätte auch den Effekt, dass Familie und Beruf viel besser miteinander vereinbar wären. Egal welche Schulform wir haben, wenn wir in die Aus- und Fortbildung und in die individuelle Betreuung der Schüler nicht mehr investieren, dann werden wir - auch das ist ein greifbares Ergebnis von PISA - im europäischen Vergleich nicht aufholen. Deswegen müssen mehr Mittel in diesen Bereich fließen. Ich kann mir nur an den Kopf greifen, wenn in der Diskussion über eine Steuerreform gefordert wird, die Eigenheimzulage nicht abzuschaffen. Wenn meine soeben vorgenommene Analyse richtig ist, dann müssen die durch die Abschaffung der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel in die Bildung und in die Ausbildung fließen. ({30}) Späte Differenzierung, breiter Zugang, Leistung und Spitzenförderung - in Bezug auf all das erwarten die Menschen von uns doch, dass wir die Grabenkämpfe der Vergangenheit vergessen und uns einigen. Warum kann man das nicht im Rahmen der Bund/Länder-Gespräche klären? Ich kann Ihnen hier nochmals versichern: Für uns ist ein breiter Zugang - Stichwort Gerechtigkeit ein entscheidender Punkt; ({31}) aber wir wissen um die Bedeutung der Spitzenförderung. Warum ist Ihre Seite nicht in der Lage, hier einen konsensorientierten Vorschlag zu machen, damit wir mit diesen Grabenkämpfen endlich aufhören, die nur zu einer Blockade unseres Bildungssystems führen und zum Schaden unseres Landes sind? ({32}) Ich habe die Debatte mit den Ministerpräsidenten verfolgt. Ich sage ganz offen: Ich bin vom Grundsatz her nicht dagegen, ({33}) dass die Länder die alleinige Zuständigkeit für die Bildung bekommen. Es gibt ein paar Länder, die in der Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen; aber es gibt viele Länder, die dazu nicht in der Lage sind. ({34}) - Nein, das ist doch absurd. Wenn man sich das Steueraufkommen des Freistaates Sachsen anschaut, dann stellt man fest, dass auch er dazu nicht in der Lage ist. Seien Sie an diesem Punkt nicht so engstirnig! Sie wissen doch ganz genau, dass alle ostdeutschen Länder, aber auch die kleineren westdeutschen Länder - auch da regiert die CDU, teilweise allein, teilweise in einer Koalition diese Aufgabe angesichts des Steueraufkommens nicht bewältigen können. Wenn man das machen will, ist die entscheidende Frage, wie die Qualitätssicherung tatsächlich garantiert wird, ohne dass Deutschland bildungspolitisch sozusagen weiter provinzialisiert wird. Das ist die große Sorge, die ich vor dem europäischen Hintergrund als Außenminister in die Debatte einbringe. Ich bin sehr dafür, dass man das diskutiert und dass man die Initiative, die der Bundeskanzler angesprochen hat, entsprechend aufnimmt. Wenn ich dann aber höre - Herr Stoiber, Sie wissen das ja -, dass von Herrn Koch die Förderung von Universitäten mit dem Argument abgelehnt wird, dass kein Krach zwischen Darmstadt und Frankfurt entstehen soll, dann kann ich dazu nur sagen: Das zeugt vom Selbstverständnis eines Kleinstfürstentums, nicht einmal mehr eines Duodezfürstentums. Das ist Provinzialismus auf der unteren Ebene. Ich finde vielmehr, dass wir da gemeinsam anpacken müssen. ({35}) Als Außenminister möchte ich es nicht versäumen, im Zusammenhang mit der Föderalismusreform eines klar zu machen - das sage ich auch in Richtung der Opposition -: Jede weitere Einschränkung der Vertretungskompetenz des Bundes in Europa ist gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. ({36}) Das hat nichts mit rot-grüner Parteipolitik zu tun. Wenn die Länder weitere Versuche in diese Richtung unternehmen sollten, werde ich dagegenhalten, da ich das für völlig gegen die Interessen unseres Landes gerichtet halte. Auf diese Haltung müsste man sich doch einigen können. Nun kommen wir zum entscheidenden Thema, zum Prinzip der Nachhaltigkeit. ({37}) Ich habe heute hören müssen, dass sich die CDU/CSU davon verabschieden will. ({38}) Man könnte ja geradezu meinen, umweltpolitische Maßnahmen seien die Wachstumsbremse schlechthin, wenn man Ihnen zuhört. Zugleich ist mir aber auch aufgefallen, dass Sie sich nicht mehr über die Ökosteuer auslassen. Es war eine Zeit lang Ihr Steckenpferd, auf die Ökosteuer einzudreschen. Mittlerweile scheinen Sie ganz genau zu wissen, dass die Abschaffung der Ökosteuer 2 Prozentpunkte in der Sozialversicherung ausmachen würde, die anderweitig finanziert werden müssten. Aber auch Sie wissen nicht, woher dieses Geld genommen werden sollte. Stattdessen betreiben Sie nun eine Kampagne gegen eine vorsorgende Umweltpolitik. Denken wir einmal an das, was der stellvertretende Generalsekretär der Vereinten Nationen, zuständig für den Umweltbereich, der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer, heute sagt: Er redet über vorsorgende Umweltpolitik, über Klimaschutz und über die gemeinsame globale Verantwortung in der einen Welt. Wenn ich mir demgegenüber anhöre, was Frau Merkel sagt, fühle ich mich bezüglich ihrer Ablehnung des Umweltschutzes in die 70er-Jahre zurückversetzt. ({39}) Umwelt ist heute einer der entscheidenden Produktions- und Arbeitsplatzfaktoren. Sie dagegen fahren Kampagnen gegen die erneuerbaren Energien. Dabei tut eine neue Energiepolitik Not. Schauen Sie sich doch einmal die Lage in Peking heute an: Im Sommer sehen Sie dort die Sonne nicht mehr. ({40}) Schauen Sie sich die Umkehrung der Warenströme an und die Absorption, die diese große Volkswirtschaft auslöst. Denken Sie auch daran, dass Indien auf diesem Weg folgt. Vor diesem Hintergrund ist es doch absurd, als entwickeltes Industrieland nicht auf erneuerbare Energieträger zu setzen und nicht den Ehrgeiz zu haben, bei dieser Entwicklung an der Spitze zu stehen. ({41}) Insofern ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz von entscheidender Bedeutung. Entsprechendes gilt für das neue Energiewirtschaftsrecht, wodurch entsprechende Investitionen ausgelöst werden. Zu dem, was Sie im Zusammenhang mit der Gentechnik sagen, kann ich Ihnen nur die Parole entgegenhalten: Ordnung der Freiheit. Sie schlagen allen Ernstes vor, eine Gemeinhaftung bei der Gentechnik einzuführen. Das kann doch nicht wahr sein. ({42}) Ich bin sehr dafür - das sage ich Ihnen noch einmal -, dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Wir werden es aber nicht hinnehmen - wer diese Vorstellung hegt, der wird auf entschiedenen Widerstand von unserer Seite stoßen -, dass man sich bei der Genehmigungspraxis an Amerika orientiert, zugleich deutsches Haftungsrecht einfordert und nur ein Klagerecht wie in China einräumt. Das wird nicht funktionieren. ({43}) Ich bin dafür - das sage ich Ihnen ganz ehrlich -, dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Das sage ich auch in Richtung der eigenen Fraktion. Es ergibt sich aus der Natur der Verantwortungsgesellschaft, dass Verfahren manchmal umständlich sind und lange dauern. Doch dann, wenn man eine Genehmigung hat - es sei denn, man handelt grob fahrlässig -, ({44}) wird Schadensfreistellung gewährt. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man nun aber der Meinung ist, in diesem Bereich weniger bürokratisch zu handeln, dann muss man die Ordnung der Freiheit auch durchdeklinieren. Wenn also nun andere Vorgaben bei der Genehmigung festgelegt werden, muss auch die Individualhaftung im Vordergrund stehen. Das ist von entscheidender Bedeutung. Deswegen bin ich sehr dafür, dass man auch über diese Fragen ordnungspolitisch diskutiert. Aber man muss die Entscheidungen dann schon treffen. Man kann nicht auf der einen Seite Neuland betreten wollen und auf der anderen Seite den Rückbehalt der Gemeinhaftung fordern. Das wird nicht funktionieren. Wenn Unternehmerfreiheit durchdekliniert werden soll, dann auch und gerade im Haftungsrecht und damit in Bereichen, wo es durchaus riskant werden kann. ({45}) Meine Damen und Herren, wir haben die Möglichkeit, heute hier wirklich gemeinsam etwas zu packen - davon bin ich fest überzeugt -, ({46}) und zwar jenseits der parteipolitischen Kontroversen, die sein müssen und die bleiben werden. Aber wir haben angesichts der 5,2 Millionen arbeitslosen Menschen, vor allen Dingen der jungen Menschen, aber auch der großen Zahl älterer Menschen, die hoffnungslos geworden sind, nicht nur die Chance, dieses Problem anzupacken, sondern auch die Verpflichtung, dass wir es packen und dass wir Freiheit verbinden mit sozialer Gerechtigkeit und mit Nachhaltigkeit. Ich danke Ihnen. ({47})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber. ({0}) Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr Bundeskanzler, Sie selbst und Ihre Mitstreiter haben in den letzten Tagen für diese heutigen Stunden hohe Erwartungen geweckt. Gemessen an diesen hohen Erwartungen, an den Hoffnungen und an den Kommentaren, die wir gelesen haben, ist Ihre Regierungserklärung eine Enttäuschung. ({2}) Sie haben die reale Lage des Landes verdrängt, beschönigt und verharmlost. ({3}) Ihre Regierungserklärung belegt: Sie sind der Herausforderung, die die Arbeitslosigkeit an uns stellt, nicht gewachsen. ({4}) Dort, wo konkretes Handeln notwendig wäre, bieten Sie Unverbindliches. ({5}) Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, nach sechs Jahren Rot-Grün ist die Bilanz für Deutschland - und um die geht es heute - eindeutig negativ. Deutschland hat heute 5,2 Millionen registrierte Arbeitslose. Es hat heute die schlechteste Arbeitsmarktbilanz seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Deutschland hat nach wie vor das geringste Wirtschaftswachstum in Europa. Ich brauche die Zahlen hier nicht darzustellen. Wir sind im Prinzip ein Hemmschuh bei der ökonomischen Entwicklung Europas geworden und das haben Sie entscheidend mitzuverantworten. Das ist die reale Bilanz. ({6}) Unser Land verstößt mit Rekordschulden gegen den europäischen Stabilitätspakt und ist damit der Hauptsünder. ({7}) Deutschland hat die geringsten öffentlichen Investitionen seit Gründung der Republik. Auch wenn Sie noch so viele Zwischenrufe machen: Die Menschen draußen im Lande spüren, dass in unserem Lande nicht mehr alles in Ordnung ist. Und dafür tragen Sie die Verantwortung. ({8}) Sie haben sich lange mit Hinweisen auf die Weltwirtschaft herausgeredet. Aber nicht die Weltwirtschaft und nicht die Konjunktur sind schuld an unseren Problemen, ({9}) sondern die Regierung ist schuld daran, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht mehr stimmen. Natürlich setzen wir uns heute Nachmittag zusammen - das ist gar keine Frage - und vielleicht bringen wir auch etwas zustande. ({10}) Aber ich sage Ihnen auch: Wer in Deutschland mehr Arbeit und mehr Wachstum haben will, der braucht in Deutschland eine andere Regierung. ({11}) Vor sechs Jahren, Herr Bundeskanzler, sind Sie angetreten, um die makroökonomischen Bedingungen zu verändern. Ich erinnere mich an eine Ihrer Aussagen, als Sie als Ministerpräsident darauf angesprochen worden sind, warum die Arbeitslosenzahlen in Niedersachsen so hoch seien. Sie haben auf diese Frage geantwortet: Erlauben Sie mal, dafür sind die makroökonomischen Bedingungen verantwortlich. Die werden in Bonn, von Kohl, entschieden. Wenn ich die in der Hand habe, dann wird sich alles wenden. - Jetzt sehen wir, wie es sich gewendet hat, meine sehr verehrten Damen und Herren: Zum Schlechteren hat es sich gewendet! ({12}) Sie sind mit dem Ziel angetreten - Frau Merkel hat das sehr treffend gesagt -, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken. Weitere Äußerungen dazu will ich heute gar nicht zitieren. Jetzt versuchen Sie sich damit herauszureden, die Weltwirtschaftslage sei schwierig, die Globalisierung mache es schwierig und deswegen könne Ihre damalige Aussage heute keinen Bestand mehr haben. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn versucht wird, zentrale Aussagen so zu relativieren? Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({13}) Die Massenarbeitslosigkeit ist der Quell allen Übels in unserem Lande; sie ist das zentrale Problem unseres Landes, ökonomisch und gesellschaftlich. 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland sind aber auch staatspolitisch nicht hinnehmbar. Der mit der Massenarbeitslosigkeit einhergehende Verlust an Wohlstand, das Gefühl, von dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, die Ängste und Sorgen in Millionen von Familien - jede vierte Familie in Deutschland ist von Arbeitslosigkeit betroffen, jeder vierte der 26 Millionen Arbeitnehmer hat gegenwärtig konkret Angst um seinen Arbeitsplatz verursachen die defätistische Stimmung. ({14}) Das ist das zentrale Problem. Wenn sich Hoffnungslosigkeit breit macht, dann steigt natürlich auch die Gefahr von Protestverhalten und Radikalisierung, gerade auch bei Wahlen. ({15}) Weil 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland staatspolitisch nicht hinnehmbar sind, haben CDU und CSU, haben Frau Merkel und ich die Initiative ergriffen. ({16}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({17}) Wir haben Ihnen geschrieben. Bemerkenswert ist schon, dass Sie als Regierungschef sich erst dadurch gezwungen sehen, hier zum Thema Arbeitslosigkeit Rede und Antwort zu stehen. ({18}) Herr Bundeskanzler, Sie haben heute hier nicht als Gestalter, sondern als Getriebener gesprochen. ({19}) Bis gestern galt Ihre Aussage von Ende letzten Jahres/ Anfang dieses Jahres: Wir, die Bundesregierung, die rotgrüne Koalition, haben jedenfalls unser Möglichstes zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit getan. - Das war zu wenig. Deswegen haben wir die Initiative ergriffen. Das, was Sie heute vorgelegt haben, ist zu wenig, um die Probleme wirklich bewältigen zu können, auch wenn wir miteinander reden. ({20}) Schauen Sie sich doch bitte einmal an, was Ihr Freund Tony Blair in Großbritannien gemacht hat. ({21}) Schauen Sie sich einmal an, wie Sozialdemokraten in den Niederlanden, in Dänemark oder in Schweden ihren Arbeitsmarkt entrümpelt und reformiert haben. ({22}) Dort ist die Arbeitslosigkeit gesunken. In Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit. Warum hat eigentlich Kollege Müntefering so barsch und ablehnend auf das Angebot der Union reagiert? ({23}) Sie spüren genau, Herr Müntefering: Die für mehr Neueinstellungen notwendigen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind mit der SPD nicht zu schaffen. Diese Veränderungen sind mit der SPD nicht möglich, weil Teile der Gewerkschaften und der eigenen Klientel das nicht mitmachen würden. Sie alle spüren, dass die SPD mit der Agenda 2010 in eine Zerreißprobe geführt worden ist, die Sie nicht wiederholen wollen. Ich erkenne ausdrücklich an - ich habe das schon vor zwei Jahren gesagt -, dass die Agenda 2010 für die SPD unbestritten ein weiter und steiniger Weg war. Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Die Agenda 2010 ist zwar für die SPD ein großer Schritt, aber für Deutschland ein viel zu kleiner Schritt. ({24}) Die Mehrheit unseres Volkes ist hinsichtlich der Reform- und Veränderungsbereitschaft längst weiter als die Regierung. Deswegen wird die Entfremdung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der rot-grünen Regierung immer größer. ({25}) Das ist der Grund dafür, warum Sie bei Umfragen in punkto Vertrauen und Lösungskompetenz immer weiter abstürzen. Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, Ihre mangelnde Reformbereitschaft im Inneren ist der wahre Grund dafür, warum die Visaaffäre die Menschen so aufregt. Das Versagen bei der innenpolitischen Herausforderung Nummer eins, nämlich dem Arbeitsmarkt - darüber reden wir heute -, verbunden mit dem Öffnen der Tore nach draußen für Schwarzarbeiter und Billiglohnkonkurrenz, regt die Menschen zu Recht auf. ({26}) Es regt die Arbeitnehmerklientel der SPD zu Recht viel mehr auf als die Klientel der Besserverdienenden bei den Grünen. Das ist das zentrale Problem, mit dem Sie noch große Schwierigkeiten bekommen werden. ({27}) Herr Bundeskanzler, wir kommen heute Nachmittag zusammen. Ich appelliere daher an Sie, mehr und Konkreteres auf den Tisch zu legen als das, was Sie hier geboten haben. ({28}) Sie sind der Bundeskanzler und haben die Richtlinienkompetenz. Sie und nicht in erster Linie die Opposition haben etwas vorzulegen. ({29}) Ich vermisse vor allem substanzielle Vorschläge für die dringend notwendige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Sie haben gesagt, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sei praktisch schon vollendet. Wenn Sie sich aber einmal den Arbeitsmarkt in der Europäischen Union anschauen, dann können Sie erkennen, dass wir die Unflexibelsten sind. Das ist auch ein Grund, warum wir jeden Tag 1 200 Arbeitsplätze ans Ausland verlieren. ({30}) Wir können nicht so weitermachen, dass wir die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht angehen und auf Nebengebiete ausweichen. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({31}) ({32}) Ich vermisse konkrete Vorschläge ({33}) für einen radikalen Abbau der Bürokratie. Ich vermisse ebenfalls brauchbare Vorschläge zur Reduzierung der Steuerlast und der Arbeitskosten in Deutschland. ({34}) Das sind die Schlüssel für mehr Wachstum und Arbeitsplätze. Eine entsprechende Agenda hat der Bundespräsident am Dienstag angemahnt und ihre Umsetzung eingefordert. ({35}) Es ist die Agenda einer Erneuerung und Wiederbelebung der Kraft und der Dynamik der sozialen Marktwirtschaft. Wir, CDU und CSU, wären sofort bereit, das umzusetzen, was der Bundespräsident angemahnt hat. Aber was Sie, Herr Bundeskanzler, heute vorgestellt haben, bleibt weit hinter dem zurück, was Deutschland braucht und was für Deutschland erforderlich wäre. ({36}) Das bestätigen auch die Erfahrungen mit Ihrer Politik in den vergangenen Jahren. Lassen wir sie doch einmal Revue passieren! Sie haben heute ein wunderschönes Bild gezeichnet, nur nimmt Ihnen dieses Bild keiner mehr ab. Wer sechs Jahre lang die Arbeitslosigkeit mit Scheinlösungen wie JUMP-Programmen, Jobfloater, Personal-Service-Agenturen und Ich-AGs bekämpfen will, dem fehlt in der Tat die Kompetenz. ({37}) Wer sechs Jahre lang den Mittelstand und junge Existenzgründer mit bürokratischen Regelungen lähmt, der hat keine Ahnung, wer die Jobmotoren in diesem Land sind. ({38}) Wer sechs Jahre lang - und darüber hinaus, Herr Fischer Pharmazie, Chemie und Gentechnik effektiv - die Zahlen belegen das - aus dem Lande vertreibt, der kann nicht glaubwürdig von Forschung, Innovation und Zukunftssicherung reden. ({39}) Ich weiß, wovon ich rede, weil ich um jeden Arbeitsplatz in der Gentechnologie und in der Biotechnologie kämpfe. Wenn Sie - das einmal als kleiner Hinweis - mit Professoren der Immunologie, die Krebsforschung betreiben, reden, dann werden Sie hören, wie schwierig das hier in Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder England ist. ({40}) Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen bei den bürokratischen Hindernissen, mit denen diese Menschen zu kämpfen haben, ansetzen, nicht bei den Allgemeinplätzen, die Sie hier bringen. ({41}) Das Haupthindernis für neue Arbeitsplätze ist der verriegelte Arbeitsmarkt. Die Weltbank hat die Flexibilität des Arbeitsmarktes in 145 Staaten der Erde untersucht. Deutschland liegt weit abgeschlagen auf Platz 111. Das ist eine Bilanz, Herr Bundeskanzler! Mehr Arbeitsplätze schaffen heißt vor allen Dingen Einstellungshürden abbauen und Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance geben. Sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist unsere Losung. Deshalb müssen wir betriebliche Bündnisse für Arbeit auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen. Sie haben vor zwei Jahren angekündigt, Sie würden das machen, wenn die Gewerkschaften nicht großflächig dazu bereit wären. Wir haben riesige Schwierigkeiten mit den Bündnissen für Arbeit - vielleicht nicht bei Siemens, aber bei den kleinen und mittleren Betrieben. ({42}) - Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben die Basis verloren. Bei diesen Betrieben ist das zentrale Problem - ({43}) - Ich brauche mich von Ihnen nicht auffordern zu lassen. Ich lebe in dem Bundesland, in dem es die wenigsten Arbeitslosen gibt. Wenn es überall so wäre wie in Bayern, dann wäre die Arbeitsmarktlage in Deutschland wesentlich besser. Das will ich auf Ihren Einwand hin einmal sagen. ({44}) Ich bleibe dabei: Wir brauchen eine Reform unseres beschäftigungsfeindlichen Kündigungsschutzes. Sie, Herr Bundeskanzler, verkennen die Lage völlig. Das ist ein Haupthindernis für Neueinstellungen; diese Beschäftigungsbremse muss weg. Sie berühmen sich doch immer Ihrer guten Kontakte zur Wirtschaft und auch zu den Repräsentanten der Wirtschaft. Sie reden doch mit denselben Menschen, mit denen ich auch rede. Es kann doch nicht sein, dass die mir sagen, der Kündigungsschutz sei eines der zentralen Einstellungshindernisse für die Jugend, ({45}) und man Ihnen etwas anderes erzählt. Gehen Sie an diese Dinge ernsthaft heran! Zur Klarstellung muss ich Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({46}) deutlich sagen: Die Änderung gilt ja nicht für diejenigen, die bereits in Lohn und Brot sind. ({47}) Für die wollen und können wir nichts ändern. Wir wollen es für die Zukunft ändern. Aber Sie sind nicht bereit, für die Zukunft etwas zu verändern. Stattdessen nehmen Sie mehr Überstunden in Kauf. Dabei wären mehr Einstellungen möglich, wenn der Kündigungsschutz anders wäre - wie zum Beispiel in Österreich, in den Beneluxstaaten oder in England. Dort wurde die Arbeitslosigkeit von 10 Prozent auf 4 Prozent gedrückt. ({48}) Sozial ist, was Arbeit schafft. Deswegen brauchen wir - Sie haben fairerweise dargestellt, was dafür und was dagegen spricht - mehr Zuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II im Hinblick auf die 400-EuroJobs und die 1-Euro-Jobs. ({49}) Insofern gibt es in der Tat nicht nur eine Lösung. Ich bin aber bereit, auch insofern Änderungen vorzunehmen. ({50}) Das hat dann allerdings Auswirkungen. Aber das werden wir heute Nachmittag besprechen. Nun möchte ich ein Wort zu den Billiglohnkräften aus Osteuropa sagen. Sie selbst haben das angesprochen. Sie haben gesagt, dass man das nicht zulassen dürfe. Wir haben riesige Probleme, weil so genannte Dienstleistungsunternehmen in Ostbayern und in vielen anderen Teilen Deutschlands Metzgerarbeiten übernehmen und damit angestammte Handwerksbetriebe in außerordentliche Schwierigkeiten bringen. ({51}) Insofern geht es nicht um die Dienstleistungsrichtlinie. Sie haben das heute richtigerweise differenziert dargestellt. Die Probleme liegen in der EU-Osterweiterung. Wir haben Sie darauf aufmerksam gemacht und gesagt, dass es, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, nicht reicht, ({52}) die Arbeitnehmerfreizügigkeit für insgesamt sieben Jahre zu begrenzen, sondern dass Sie das auch für die Dienstleistungsfreiheit machen müssen. Sie haben das letzten Endes abgelehnt und nur einen kleinen Kompromiss zugelassen. Jetzt haben wir die Probleme. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir hätten über diese Dinge auch einmal im Bundestag reden müssen. Das Problem Europas, das man im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Verfassung angehen muss, ist doch die Frage: Ist es denn richtig, dass die Entscheidungen in Brüssel ohne Beteiligung der deutschen Öffentlichkeit und auch ohne Beteiligung des Parlamentes getroffen werden? Es weiß keiner, was da auf uns zukommt. ({53}) Wir sind beim Erweiterungskommissar Verheugen abgeblitzt. Die Bundesregierung hat uns nicht unterstützt und jetzt sagen Sie: Das Problem werden wir lösen. Das werden Sie leider nicht mehr so ohne weiteres lösen können, weil die Zeit über dieses Problem hinweggegangen ist. ({54}) Neben der Deregulierung des Arbeitsmarktes brauchen wir eine wirkungsvolle Entlastung von Vorschriften und Bürokratie. Ausgerechnet die kleinen und mittleren Unternehmen, die Jobmotoren unserer Wirtschaft, müssen überproportional hohe Bürokratielasten tragen: Statistikpflichten, komplizierte Steuerregelungen, Genehmigungsmarathons und ein dickes Regelwerk an Arbeitsrechtsvorschriften. Ich habe mir das einmal angeschaut - es ist ja immer interessant, wenn man sich die Dinge im Gesetz ansieht -: Ab zwei Mitarbeitern in Deutschland muss es nach Geschlecht getrennte Toiletten geben; ab fünf Mitarbeitern besteht das Recht auf einen Betriebsrat; ab elf Mitarbeitern muss es einen Pausenraum geben; ab 16 Mitarbeitern besteht ein genereller Anspruch auf Teilzeit und, und, und. Angesichts dessen wollen wir die Leute ermutigen, sich selbstständig zu machen und Arbeitsplätze zu schaffen? Sie sollten einmal ernsthaft an diese Dinge herangehen und bereit sein, darüber zu diskutieren; denn das passt nicht mehr in das europäische Umfeld. ({55}) Es kann doch nicht sein, dass ein großes Unternehmen wie die Firma Siemens Bürokratiekosten in der Größenordnung seines Gewinns hat. Ein kleines Unternehmen mit zehn oder 15 Mitarbeitern, ein Durchschnittsunternehmen, hat heute Bürokratiekosten in der Größenordnung von 7 Prozent des Umsatzes bei einem Gewinn von 1 Prozent oder höchsten 2 Prozent. Das ist die Realität. Wenn wir so weitermachen und da nicht herangehen - das sind die entscheidenden Fragen -, werden wir den Jobmotor nicht anwerfen können. ({56}) In Ihrem Antidiskriminierungsgesetz kommt - das sage ich ganz offen - der rot-grüne Bürokratiewahn voll zum Durchbruch. Man sollte sich das einmal in der Praxis anschauen - ich kann die ganzen Beispiele gar nicht darstellen -: Wer einen Arbeitnehmer einstellt oder eine Wohnung vermietet, muss in Zukunft beweisen können, dass er niemanden diskriminiert hat. ({57}) - Natürlich wird das dazu führen. Sie reden wahrscheinlich zu viel mit den Politikern. Reden Sie einmal mit den Menschen, die davon betroffen sind! Die fühlen sich von Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({58}) dem Antidiskriminierungsgesetz außerordentlich gegängelt und haben Angst. ({59}) Jetzt diskutieren wir über eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen auch hier: Die CDU und die CSU haben frühzeitig gewarnt. Der Bundesrat hat vor einem Jahr eine Entschließung gegen die dem Antidiskriminierungsgesetz zugrunde liegenden europäischen Richtlinien gefasst. Hier haben wir wieder ein zentrales europäisches Problem. Möglicherweise ist im Bundestag nicht mit der notwendigen Schärfe darüber diskutiert worden. Im Bundesrat haben wir über diese Richtlinie außerordentlich hart und kontrovers diskutiert und haben gesagt: Diese Richtlinie passt nicht. Sie muss schon auf europäischer Ebene verändert werden. Sie hätten eine solche Richtlinie verhindern können. Aber Sie haben nichts dazu getan, diese Richtlinie zur Antidiskriminierung auf EU-Ebene zu verändern. Jetzt setzen Sie noch zulasten des Arbeitsmarktes drauf, wie Frau Merkel schon dargestellt hat. ({60}) Vielleicht kommen wir bei den Lohnzusatzkosten zu einem Ergebnis durch die Reduzierung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Ob das 1,5 oder 1 oder 0,7 Prozent sind - Herr Müntefering, da ist zweifelsohne noch etwas drin -, werden wir heute Nachmittag konkret bereden. Das brauche ich hier nicht im Einzelnen auszuführen. Ein weiterer Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit, der mir sehr wichtig ist, ist die Senkung der Energiekosten. Ich verstehe ja die stille Verzweiflung vieler in der SPD über ihren grünen Koalitionspartner. Die Grünen-Vorsitzende Frau Roth bringt das grüne Politikverständnis trefflich zum Ausdruck: volle Emotion für Nischenthemen der Politik, aber keine Antwort auf die zentralen Probleme in Deutschland. ({61}) Die ganze Liebe der Grünen gehört der mit zig Milliarden subventionierten Windradwirtschaft, die gerade einmal 0,02 Prozent unseres Energiebedarfs deckt. Trotzdem raten Sie, Herr Außenminister, den Chinesen und Indern, auf regenerative Energien zu setzen. Sie wissen ganz genau, dass Sie hier Volksverdummung betreiben. Die Chinesen haben ein Wirtschaftswachstum von 9 Prozent und ein Energiewachstum von 18 Prozent. Sie erkaufen sich sozusagen ihr Wirtschaftswachstum mit einem doppelten Energiewachstum. Ohne die Kernenergie wäre die Welt gar nicht mehr vor der CO2-Belastung zu retten. Aber da Sie gegen die Kernenergie sind, schlagen Sie einem Land wie China mit 1,3 Milliarden Einwohnern Windräder vor. Für wie dumm halten Sie eigentlich die Leute vor den Bildschirmen, meine Damen und Herren? ({62}) Sie reden zu wenig mit den energieintensiven Betrieben. Wenn Sie mit der Zementindustrie, der Aluminiumindustrie, der Pharmaindustrie und der Automobilindustrie redeten, würden Sie feststellen, dass der Strompreis in Deutschland nach dem in Italien der höchste ist. Dieser hohe Preis, der von Rot-Grün zu verantworten ist, kostet Arbeitsplätze, die im Bereich der regenerativen Energien gar nicht aufzufangen sind. ({63}) Die vierte Säule eines tragfähigen Konzepts für mehr Arbeit - in dieser Reihenfolge sehe ich es - ist die Senkung der Unternehmenssteuersätze. Die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, die verbesserte Anrechnung der Gewerbesteuer und die erleichterte Unternehmensnachfolge für den Mittelstand, Herr Bundeskanzler, sind Ansätze, die in die richtige Richtung zeigen. Ich hoffe, dass damit auch alle Vorstellungen in der SPD zur Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung der Vermögensteuer endgültig ad acta gelegt werden. ({64}) Aber Sie wissen, dass dies viel Geld kostet. Was Sie heute vorgeschlagen haben, geht in die Milliarden. Die Vorschläge, die Sie zur Gegenfinanzierung unterbreitet haben, gehen aber nicht in die Milliarden, sondern in dreistellige Millionenzahlen. Da heißt es bei Ihnen wieder nur „hätte“, „sollte“, „könnte“. Damit ist unserem Land nicht gedient. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei 1,4 Billionen Euro Staatsschulden - über 850 Milliarden Euro Schulden des Bundes, über 400 Milliarden Euro Schulden der Länder und über 150 Milliarden Euro Schulden der Kommunen - ist es völlig unakzeptabel und der jungen Generation gegenüber unmoralisch, Ausgaben mit Schulden weiterzufinanzieren, wie Sie es hier machen wollen. Wir werden dies auf keinen Fall mitmachen. ({65}) Meine Damen, meine Herren, es war sehr interessant, was der Bundespräsident gestern in diesem Zusammenhang gesagt hat. Diese Dimension muss man sich noch einmal vor Augen halten: 1,4 Billionen Euro Staatsschulden, ({66}) 7,1 Billionen Euro Schulden insgesamt, wenn man die Pensionsverpflichtungen hinzuzählt! Dies bedeutet, dass jemand, der heute hier in Berlin geboren wird, mit fast 90 000 Euro Schulden auf die Welt kommt. Dies ist auf die Dauer nicht mehr akzeptabel. Wo bleibt hier eigentlich die Nachhaltigkeit, die Sie im Umweltschutz immer so nach vorne tragen? Zur Finanzpolitik gehört sie genauso. ({67}) Eine letzte Bemerkung zur Föderalismuskommission: Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie beim Wort. Sie haben heute gesagt, es komme nicht auf die Kompetenzen, sondern auf die Sache an. Verzichten Sie bitte künftig auf die Übergriffe in die Kulturhoheit der Länder; dann sind wir uns schnell einig. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({68}) Ich verwahre mich dagegen - das sage ich ganz deutlich -, dass von Ihnen und von Herrn Müntefering der hessische Ministerpräsident sozusagen zum Buhmann stilisiert wird. ({69}) Das ist falsch. Ich stelle mich voll und ganz hinter Roland Koch. Mit ihm und allen anderen Kollegen bekommen wir eine vernünftige Föderalismusreform hin. Was Herr Müntefering und ich als Vorsitzende hier zustande gebracht haben, ({70}) wurde von vielen zunächst als relativ kleinmütig angesehen. Aber als es gescheitert ist, wurden große Klagen laut. Eine Renovierung des Grundgesetzes dieser Art bekommen Sie meines Erachtens in den nächsten zehn Jahren nicht mehr hin. ({71}) Sie müssen nämlich eines sehen: Die Ministerpräsidenten verzichten auf Einflussmöglichkeiten im Bund, wenn letzten Endes zwei Drittel aller Gesetze im Bundestag verabschiedet werden. Wenn künftig das Ausländergesetz im Bundesrat nicht mehr aufgehalten werden könnte, wenn Hartz IV vom Bundestag allein verabschiedet werden könnte, würden wir in Deutschland zu schnelleren Entscheidungen kommen. Auch ich sehe Deutschland in einer Krise, weil wir im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behandeln und die Menschen nicht mehr wissen, wer für dieses oder jenes die Verantwortung trägt. ({72}) Herr Bundeskanzler, Sie haben immer wieder mehr oder weniger Sand ins Getriebe gestreut, weil Sie die Zuständigkeit für die Bildungspolitik für sich bzw. die Bundesregierung oder den Bund reklamieren. ({73}) Sie können nicht erwarten, dass die Ministerpräsidenten letzten Endes auf ganz erhebliche Kompetenzen verzichten. ({74}) Ich bin dafür und habe dafür gekämpft bis hin zur Änderung des Grundgesetzes bezüglich der Außenvertretung, ({75}) bis hin zu mehr Kompetenzen für das BKA, bis hin zur Übertragung der Zuständigkeiten im Umweltschutz auf den Bund - das sind weit reichende Dinge ({76}) bis dahin, dass der Bund viel weniger von der so genannten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 des Grundgesetzes abhängig ist. Das wäre eine erhebliche Verbesserung zugunsten des Bundes. Aber wenn Sie diese wollen - die müssten Sie im Interesse Deutschlands und der Schnelligkeit der Entscheidungen wollen -, müssen Sie auch akzeptieren, dass die Länder nur dann mitmachen, wenn im Bildungsbereich Wettbewerbsföderalismus stattfindet ({77}) und damit die Länder, für die Bildungspolitik einen größeren Stellenwert hat, auch bessere Ergebnisse erzielen. Aber vielleicht ist hier noch nicht aller Tage Abend. Angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen braucht Deutschland in der Tat einen historischen Kraftakt. Was Sie heute vorgelegt haben, ist für mich ungenügend. Ich fordere Sie auf, zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch die Wege einzuschlagen, die der Bundespräsident am Dienstag angemahnt hat. ({78}) Wir als konstruktive Opposition ({79}) - da brauchen Sie gar nicht so zu lachen - bieten an, dafür Verantwortung zu tragen. ({80}) Als der Herr Bundeskanzler noch zusammen mit seinem Kollegen Lafontaine in der Opposition war, hätte er nicht im Traum daran gedacht, ({81}) der Regierung im Interesse Deutschlands die Hand zu reichen. Da wurde nur blockiert. Wir tun das nicht. ({82}) In dem Sinne hoffe ich auf ein vernünftiges Ergebnis. Danke schön. ({83})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück. ({0}) Peer Steinbrück, Ministerpräsident ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn jemand das Angebot zu einem „Pakt für Deutschland“ macht, dann erwarte ich, dass anschließend entsprechende Reden gehalten werden. ({2}) Dem Angebot zu einem solchen „Pakt für Deutschland“ entsprach die Rede von Frau Merkel nicht und die Rede von Herrn Stoiber erst recht nicht. ({3}) Das waren keine staatspolitischen Reden. Das waren Parteitagsreden. ({4}) Die Standarderöffnungssätze, die ich heute noch einmal von Herrn Stoiber gehört habe, lese ich sehr häufig im Handbuch für Oppositionsredner. Der erste Satz lautet: Gemessen an den Erwartungen, Herr Bundeskanzler, war Ihre Rede eine Enttäuschung. Das ist wie e2-e4 im Schach. Das ist der Standarderöffnungssatz. ({5}) Der zweite Satz lautet dann: Sie sind der Aufgabe nicht gewachsen. - Welche Überraschung! Der dritte Satz lautet: Deshalb brauchen wir eine andere Regierung. - Dies ist ein rhetorisches Highlight, das noch hinterhergeschoben wird. ({6}) In einer staatspolitischen Rede, Frau Merkel, hat man es nicht nötig, den Untergang Deutschlands an die Wand zu malen oder dem politischen Gegner zu unterstellen, er wolle Deutschland dahin führen. In einer staatspolitischen Rede glaubt man auch nicht, dass die anderen immer in der Wagenburg säßen und man selber den Stein der Weisen gepachtet habe. ({7}) Ich fürchte, dass die Verteilung von Deppen und Schlaubergern über die Parteien und die Fraktionen nicht so eindeutig ist, wie Frau Merkel es heute dargestellt hat. ({8}) Vielmehr läuft sie entlang der Normalverteilung der Bevölkerung. Wer wie Frau Merkel glaubt, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben - nach dem Motto: Wir sagen die Wahrheit, aber Sie sind immer empört und aggressiv, wenn wir das tun -, gewinnt beim Publikum auch keine Glaubwürdigkeit. ({9}) Von dieser Debatte soll - so jedenfalls die Erwartung vieler, die uns zuhören - das deutliche Signal ausgehen, dass wir hier im Deutschen Bundestag und darüber hinaus im Bundesrat erneuerungsbereit sind. Ich bin mir nicht so sicher, ob wir dieser Erwartung bisher entsprochen haben. Zur Sache also: Der Standort Deutschland muss sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewähren. Er muss sich anstrengen und er wird renoviert werden müssen, kein Zweifel. Ich fürchte, dass wir alle gemeinsam Versäumnisse aus den 90er-Jahren zu beklagen haben, auf allen Seiten, in allen politischen Parteien. ({10}) Ich glaube, dass wir sträflich lange - bis zum PISASchock - den Stellenwert der Bildung gemeinsam unterschätzt haben. Ich glaube, dass wir es über weite Teile der 90er-Jahre versäumt haben, uns rechtzeitig darauf einzustellen, wie ein Sozialstaatsmodell unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts aussieht. Ich glaube, dass wir lange der Debatte ausgewichen sind, wie soziale Gerechtigkeit neu zu definieren ist, insbesondere mit Blick auf Generationengerechtigkeit; dabei spielt der demographische Wandel eine erhebliche Rolle. Wir haben uns auch zu wenig Gedanken darüber gemacht, welche Rolle der Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt. Da schleppt allerdings jeder seinen Ballast mit, Herr Gerhardt, die FDP nicht viel anders als meine Partei. Denn wenn wir über einen handlungsfähigen Staat in einer sozialen Demokratie reden, dann reden wir in der Tat über ein anderes Staatsverständnis, als es die FDP hat. ({11}) Bezogen auf die Debatten, die Sie selber geführt haben, versuche ich mich daran zu erinnern, welche Impulse für eine solche Debatte vor 30 Jahren Herr Flach und Herr Maihofer gegeben haben und welche Impulse Sie heute geben. Der demographische Wandel mit sehr deutlichen Folgen für die Finanzierung der vier Säulen unserer sozialen Transfers, eine zugegebenermaßen unzureichende Wachstumsdynamik, ein internationaler Wettbewerb, in dem das Kapital so mobil ist wie nie zuvor, in dem Raum- und Zeitgrenzen durch moderne Informationsund Kommunikationstechnologien ausgehebelt werden und eine angespannte Haushaltslage bei unverändert hohen Erwartungen an die staatliche Leistungsbereitstellung - diese vier Faktoren führen unabweisbar zu notwendigen Strukturveränderungen und damit zu Reformen. Ministerpräsident Peer Steinbrück ({12}) Aber der Standort Deutschland ist nicht so schlecht, wie er geredet wird. ({13}) In einer Meldung des „Handelsblatts“ vom 16. März wird sehr abgewogen zitiert. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young, das amerikanische Unternehmen Citigroup, die Amerikanische Handelskammer in Deutschland, der „Economist“ und die Ratingagentur Standard & Poor’s kommen zu dem Ergebnis: Insgesamt gehe Deutschland in die richtige Richtung. Der Blick von außen zeige viel Positives; die Deutschen müssten es nur noch merken. ({14}) Mir geht deshalb durch den Kopf, ob wir es bei den Reformnotwendigkeiten, die uns beschäftigen, nicht nur mit strukturellen Defiziten zu tun haben, sondern manchmal auch mit mentalen Einstellungen, die uns hinderlich sind, das Notwendige pragmatisch zu tun. ({15}) Wir sind sehr verliebt in eine negative Selffulfilling Prophecy. Wenn wir über Deutschland reden, erinnert das gelegentlich an sadomasochistische Praktiken. ({16}) Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung verdient; er bringt auch Erfolge. Angesichts erheblicher Widerstände und vieler opportunistischer Pirouetten, die ich auch und gerade bei der CDU in meinem Land, in Nordrhein-Westfalen, häufig erlebt habe, ist das Stehvermögen des Bundeskanzlers in diesem Prozess eine Qualität für sich. ({17}) Wenn man nicht grobschlächtig vorgeht, wenn man die Betrachtung nicht grobkörnig vornimmt, sondern versucht, sich ein genaueres Bild zu verschaffen, dann verbieten sich Vereinfachungen, allerdings auch simple Schlussfolgerungen, will sagen: Erstens. Die realen Nettolöhne und -gehälter in Deutschland sind nicht das Problem. Die realen Nettolöhne und -gehälter vieler Menschen, die uns heute wahrscheinlich zuhören, dürften seit Ende der 90er-Jahre stagnieren; es dürfte nicht viel mehr geworden sein als das, was die Menschen vorher cash in der Tasche hatten. Das Problem in Deutschland sind die Bruttoarbeitskosten. Aber dann soll man in seiner Rede auch so differenzieren. Zweitens. Die Steuerquote in Deutschland ist nicht das Hauptproblem. Sie ist im internationalen Vergleich ziemlich moderat. Das Hauptproblem in Deutschland ist die Steuer- und Abgabenquote und damit die Art der Finanzierung unserer sozialen Transfers über eine Abgabe auf den Produktionsfaktor Arbeit. Zugegebenermaßen haben wir im internationalen Vergleich eine Besteuerung unserer großen Kapitalgesellschaften oder der Körperschaften durch ein sehr intransparentes, sehr komplexes Steuersystem. Drittens. Die Gewinnentwicklung der DAX-notierten Unternehmen - wenigstens im letzten Jahr, aber auch in der Perspektive für dieses Jahr - lässt nicht auf durchweg so schlechte Rahmenbedingungen in Deutschland schließen, wie Sie es in Ihren Beiträgen dargestellt haben. ({18}) Dass der Mittelstand größere Probleme hat, ist unbestritten - übrigens auch durch einen Faktor, der weniger politisch zu verantworten ist, nämlich durch das geänderte Finanzierungsverhalten des deutschen Bankensektors insgesamt. Viertens. Der Exportüberschuss ist kein Indiz für die Schwäche der Bundesrepublik Deutschland. Zur Flexibilität des Arbeitsmarktes bestätige ich gerne, was vom Bundeskanzler und auch von Herrn Müntefering heute schon angedeutet worden ist: Ich habe in Nordrhein-Westfalen auf der konkreten betrieblichen Ebene keine Schwierigkeiten mit Bündnissen für Arbeit. ({19}) Dabei ist es egal, ob es große Unternehmen sind. Glauben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede, bezogen auf ein großes Automobilunternehmen in Bochum, bezogen auf Karstadt, bezogen auf einen wichtigen Anlagenbauer wie Babcock oder andere Firmen, sogar bezogen auf solche, bei denen ein geordnetes Insolvenzverfahren anstand. Es gehört zur täglichen Aufgabe der Landesregierung, zusammen mit Betriebsräten, Gewerkschaften und dem Management - auch von kleineren und mittleren Unternehmen - die Kärrnerarbeit zu leisten, um diese Unternehmen zu stabilisieren und so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten. ({20}) Das funktioniert. Es funktioniert vielleicht sogar bis hin zu einem Fußball- oder Handballverein; so weit kann es gehen. Man macht es hinter den Kulissen. Man macht es nicht auf dem offenen Marktplatz, weil man versucht, diesen Firmen nicht zu schaden. Aber es funktioniert. In den über 50 000 Tarifverträgen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, gibt es viele Klauseln, von denen die Sozialpartner Gebrauch machen können, um solche flexiblen Bündnisse zu realisieren. ({21}) Im Übrigen finde ich - um bei dieser genaueren Beschreibung des Bildes von Deutschland zu bleiben -, dass die angekündigten, teilweise erheblichen Dividendenerhöhungen vieler Unternehmen in Deutschland auch Ministerpräsident Peer Steinbrück ({22}) die Frage nahe legen, ob sich nicht ein zusätzlicher Spielraum für arbeitsplatzschaffende Investitionen in Deutschland auftut. ({23}) Das alles sind Hinweise, die zu einer Differenzierung einladen und grobschlächtige Beiträge, wie wir sie auch heute gehört haben, verbieten. Es wäre ein großer Vorteil, wenn wir über diese Differenzierung stärker zueinander finden könnten. Reformbedarf stellt sich mit Blick auf die Pflegeversicherung. Er stellt sich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung auch mit Blick auf eine zukunftssichere Altersversorgung; dafür sind weitere Schritte notwendig. Er stellt sich mit Blick auf die Gesundheitsfinanzierung und die beiden konkurrierenden Modelle, die es dort gibt. Er stellt sich mit Blick auf die Föderalismusreform, die Bund-Länder-Beziehungen. Er stellt sich in meinen Augen auch mit Blick auf die Notwendigkeit, 23 Jahre nach der letzten Fortschreibung des Energieprogramms gemeinsam einen neuen energiepolitischen Rahmen zu finden. Er stellt sich schließlich auch mit Blick auf die Vereinfachung des Steuersystems in Deutschland, allerdings nicht nur mit der Fokussierung auf Steuersätze, sondern auch auf die Gestaltung von Bemessungsgrundlagen und Gewinnermittlungsmethoden. ({24}) Von Frau Merkel ist vorhin darauf hingewiesen worden, die CDU habe ein überzeugendes Steuerkonzept 21. Ich kenne dieses überzeugende Steuerkonzept nicht. ({25}) Ich weiß, dass es erst ein bisschen Faltlhauser und dann ein bisschen Merz geben soll. ({26}) Ich weiß, dass Sie den Menschen einreden, man könne den Einkommensteuerspitzensatz auf 36 Prozent reduzieren, obwohl wir alle in diesem Saal wissen, dass das undenkbar und nicht finanzierbar ist. ({27}) Ich weiß, dass Sie den sozialen Ausgleich bei Ihrem Prämienmodell dadurch finanzieren wollen, dass Sie den abgesenkten Steuersatz etwas zurücknehmen. Das heißt, Sie finanzieren dieses Prämienmodell aus nicht gegenfinanzierten Steuererleichterungen. ({28}) Das ist eine erstaunliche Leistung. Wir alle wissen - in dieser Passage kann ich mich ausnahmsweise auf den Kollegen Stoiber beziehen -, dass die öffentlichen Haushalte eine Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent nicht überstehen würden. ({29}) - Auch in Bayern nicht. - Es ist völlig irrwitzig, den Menschen im Augenblick solche Steuersenkungen zu versprechen. ({30}) Der Punkt ist: Sie wissen das, aber offenbar haben Sie nicht die Souveränität, dies in einer solchen Debatte klar zu machen. ({31}) Wenn jemand von der FDP versucht, mir ökonomisch nachzuweisen, dass Steuersenkungen eine Art Selbstfinanzierungseffekt von eins zu eins haben, dann möchte ich das angesichts der Erfahrungen in Schweden, England und den USA endlich einmal empirisch belegt haben. ({32}) Ich glaube, dass das sehr intransparente und sehr komplexe deutsche Steuerrecht reformbedürftig ist und dass der verfahrenspolitische Vorschlag des Bundeskanzlers bzw. der Bundesregierung richtig ist, die Sachverständigen zu bitten, Entsprechendes bis Ende dieses Jahres in Gang zu setzen. ({33}) Ich glaube, dass die Lösung mit Blick auf die unterschiedlichen Steuersysteme für Personengesellschaften - und damit für den Mittelstand - und Kapitalgesellschaften in einer rechtsformneutralen Besteuerung der deutschen Unternehmen liegt. Ich glaube, dass das richtig ist. ({34}) Denjenigen, die immer eilfertig sagen, wir müssten das Reformtempo weiter steigern, und mit dem strapazierten Bild einer ruhigen Hand darüber hinwegtäuschen, dass es auch einer Kärrnerarbeit bedarf, um solche Reformen umzusetzen, ({35}) rufe ich zu: Geht es nicht auch um Augenmaß und Balance sowie um den Zusammenhalt dieser Gesellschaft in einem rasanten ökonomischen und technischen Wandel? Anders ausgedrückt: Stellt man wichtige Leitplanken der Sicherheit, wie zum Beispiel die Mitbestimmung, die Tarifautonomie und den Kündigungsschutz, im 14-tägigen Turnus infrage, wenn man die Menschen in diesem Wandel fordern muss? Ministerpräsident Peer Steinbrück ({36}) ({37}) Sind wir nicht darauf angewiesen, den Menschen, die ohnehin schon verunsichert sind und in diesem Wandel eher verlieren und Verlustängste haben, einige Konstante und Leitplanken der Sicherheit zu belassen und gehören die von mir genannten fast konstitutiv wichtigen Säulen der Sozialpartnerschaft nicht dazu? Sollte man nicht eher die Finger davon lassen, als dies alle 14 Tage wieder hochzuziehen? ({38}) Verbindet man die Diskussion über wettbewerbsfähige Steuersätze insbesondere für die Kapitalgesellschaften, wie vor wenigen Tagen geschehen, mit der Drohung einer Rentenkürzung, nach dem Motto: Die Gelegenheit ist günstig? ({39}) Ich denke an eine allein erziehende Verkäuferin mit ungefähr 1 000 Euro netto, um in meinem oft benutzten Bild zu bleiben, der ich sehr mühsam erklären muss, dass sie von ihrem verfügbaren Einkommen nach Lage der Dinge demnächst bzw. schon jetzt mehr für Alter, Pflege und Gesundheit ausgeben muss. Welche Garantie kann ich ihr geben, dass in Deutschland aufgrund von abgesenkten Unternehmensteuersätzen Investitionen getätigt und Arbeitsplätze geschaffen werden? ({40}) Anders ausgedrückt: Wie wirkt auf diese Frau, die mit 1 000 Euro nach Hause kommt, die Tatsache, dass über die von der Bundesregierung eingeleitete und von Ihnen mitgetragene Modernisierung des Gesundheitssystems die Bezüge von Vorständen in den gesetzlichen Krankenversicherungen erhöht werden, von denen sie endlich eine Reformrendite in Form abgesenkter Krankenversicherungsbeiträge erwartet? ({41}) Reden wir in diesem Zusammenhang nur über die patriotische Verantwortung der politischen Parteien, sich zu einigen und Gemeinsamkeiten zu entwickeln, oder reden wir auch über die patriotische Verantwortung unternehmerischer Entscheidungsträger in der Bundesrepublik Deutschland? ({42}) Richtig ist: Wirtschaft und Gesellschaft müssen dynamischer werden. Wir müssen wieder neugieriger werden. Wir müssen wahrscheinlich auch schneller und innovativer werden. Auch ein bisschen mehr Zuversicht täte uns gut. Das sind die mentalen Barrieren, von denen ich sprach. All das ist unbestritten. Es ist in diesem Reformprozess aber auch nicht zu bestreiten, dass die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft eher zunehmen als abnehmen: zwischen Arm und Reich, wie es die Armutsberichte ausweisen; zwischen Alt und Jung vor dem Hintergrund der von mir genannten demographischen Entwicklung und der Abwägung zwischen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen; zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten; zwischen denjenigen, die einheimisch sind, und denjenigen, die zu uns kommen, also jenen, die die Fähigkeit haben müssen, zu integrieren, und denen, die die Bereitschaft haben müssen, sich integrieren zu lassen; zwischen Stadtvierteln, die sozial abzustürzen drohen, und den so genannten besseren Vierteln; zwischen denjenigen, die sich als digitale Analphabeten herausstellen, weil sie mit Informationsund Kommunikationstechnologien nicht umgehen können, während es die anderen können. Das sind die Fliehkräfte dieser Gesellschaft. Von diesen Fliehkräften war in der Rede am letzten Dienstag zu wenig die Rede. ({43}) Die Aufgabe, den Reformbedarf zu definieren, ist schon schwierig genug. Aber sie gelingt uns wahrscheinlich gemeinsam. Damit jedoch die Frage zu koppeln, wie ich den Kitt dieser Gesellschaft erhalte, ohne dass mir hinten die Waggons des Zuges, der beschleunigt, aus dem Gleis springen, ist etwas, was in der Rede am Dienstag nicht angesprochen wurde. ({44}) Wenn Sie mit Blick auf das wichtige Thema Bildung und den damit verbundenen Schwierigkeiten - die PISAErgebnisse bestätigen, dass es uns bisher nicht geglückt ist, unser Bildungssystem so zu gestalten, dass diejenigen, die aus bildungsferneren Schichten stammen, Aufstiegsmöglichkeiten erhalten -, glauben, uns mit dem Kampfbegriff der Einheitsschule erschrecken zu können, dann täuschen Sie sich. ({45}) Damit das ein für alle Mal unmissverständlich ist: Ich werde in Nordrhein-Westfalen weder die Realschule noch das Gymnasium über die Köpfe der Betroffenen und Beteiligten hinweg abschaffen. ({46}) Aber ich möchte gerne mit den Beteiligten - Kindern, Eltern, Lehrern, Verbänden, Gewerkschaften und bildungswissenschaftlichen Einrichtungen - die Frage diskutieren, ob ein sehr stark gegliedertes Schulsystem nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern nach Lage der Dinge auch in Bayern ein zukunftsfähiges Schulsystem ist, um beim Zugang zu Bildungsgütern Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. ({47}) Ministerpräsident Peer Steinbrück ({48}) Wenn Sie versuchen, mit dem Kampfbegriff der Einheitsschule diese Debatte zu tabuisieren, dann sage ich Ihnen: Dies wird nicht gelingen. ({49}) Dieser Kampfbegriff soll nichts anderes als ein Denkverbot über die zukünftigen Schulstrukturen auslösen. ({50}) Im Übrigen lasse ich mich in Nordrhein-Westfalen gerne mit anderen Standorten vergleichen, zum Beispiel mit Bayern, was den Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss betrifft. Ich lasse mich in NordrheinWestfalen ebenfalls sehr gerne mit Bayern vergleichen, was den Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife betrifft. Damit habe ich keine Probleme. Ich rate uns in dieser Debatte, weniger grobkörnig zu arbeiten, als das auch heute teilweise der Fall gewesen ist. Ich glaube, dass der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die richtigen Akzente gesetzt und die Agenda 2010 konturiert hat. Es sind die richtigen Akzente in der Arbeitsmarktpolitik; ich begrüße außerordentlich, dass es gerade bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten zu weiteren Regelungen kommen wird. Ich erinnere mich sehr genau daran, wer im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat gegen eine weiterreichende Hinzuverdienstregelung gewesen ist. ({51}) Ich erinnere mich auch sehr genau daran, wer mit uns gemeinsam die Änderung der Arbeitslosenstatistik verabschiedet hat, anschließend aber über diese Beteiligung so erschrocken ist, dass er sie ignoriert. ({52}) Ich habe ein sehr gutes Langzeitgedächtnis dafür, wer im Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Praxisgebühr auf die politische Tagesordnung gesetzt hat und wer anschließend, als es schwierig wurde, nicht mehr dahintergestanden hat. ({53}) Diese Erfahrungen habe ich mit Ihnen zu häufig gemacht. Ich bin sehr froh über die Passagen in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, in denen die Rede von der Stärkung der Investitionskräfte ist, auch und gerade mit Blick auf ein Beschleunigungsgesetz bei Public-Private-Partnership-Modellen, zu denen wir in NordrheinWestfalen etwas anbieten können. Das gilt auch für Planungsvereinfachungen und ähnliche wichtige Hinweise. ({54}) Ich erwarte eigentlich noch in dieser Woche vor dem Hintergrund der Einigung über die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes klare Aussagen der Energiewirtschaft über Investitionen in Kraftwerke und Netze in der Bundesrepublik Deutschland. ({55}) Ich begrüße die Vorschläge zur Mittelstandsförderung. Ich sage zu, dass das Land Nordrhein-Westfalen eine solche Erbschaftsteuerregelung mit Blick auf die Vererbung von betrieblichem Vermögen im Bundesrat unterstützen wird, wohl wissend, dass mir dieses Gespräch mit meinem Finanzminister erst noch bevorsteht. Ich bin auch dankbar für die Bereitschaft, einen neuen Anlauf zur Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen zu nehmen. Ich will nicht in die Vergangenheitsbewältigung einsteigen, sondern uns allen ganz allgemein sagen: Der Eindruck, der sich bei den Menschen im Dezember festgesetzt hat, war nicht der des Versagens der SPD, der CDU/CSU, der Bundesregierung oder der Länder. Der Eindruck war der eines Politikversagens auf ganzer Linie. ({56}) Das fällt uns gemeinsam auf die Füße. Ich bin dafür, dass wir die staatlichen Handlungsebenen stärken. Dies bedeutet eine klare Entflechtung, eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten. Wir sollten dies nicht an dem Bildungsthema, das sehr ultimativ in die Diskussion eingeführt worden ist, scheitern lassen. ({57}) Um meine Position als Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen deutlich zu machen: Ich glaube, dass man in Bezug auf den Wettbewerb von Standorten in der Bundesrepublik Deutschland - Stichworte: Wissensgesellschaft und Technologiestandort - dem Bund nicht schlechterdings jedwede Initiative im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Technologie bestreiten kann. ({58}) Umgekehrt wissen alle hier in diesem Hohen Hause, dass die Kultushoheit ein Element der Staatlichkeit der Länder ist, das man nicht aushebeln kann. ({59}) Es müsste eigentlich möglich sein, zwischen diesen beiden Punkten einen Kurzschluss herzustellen, der uns in die Lage versetzt, diese wichtige Föderalismusreform so schnell wie möglich zu gestalten. ({60}) Ich möchte etwas deutlich anerkennen, was in dieser Regierungserklärung kein Schwerpunktthema war, uns auf der kommunalen Ebene aber sehr beschäftigt. Wir haben wegen der Entscheidungen, die getroffen worden sind - auch in früheren Zeiten -, eine erfreuliche Stärkung der kommunalen Finanzkraft, wenn diese auch vor dem Hintergrund erheblicher Probleme nach Lage der Dinge noch nicht ausreicht und wir es nach wie vor mit einer dramatischen Situation zu tun haben. Aber zumindest anzuerkennen und, in aller Souveränität zuzugeben, dass sich durch die günstigere Gewerbesteuerumlage, durch die Schließung von Steuerschlupflöchern, Ministerpräsident Peer Steinbrück ({61}) durch die Hartz-IV-Rendite, auf die es einen Rechtsanspruch gibt, und durch das 4-Milliarden-Euro-Programm des Bundes für die Ganztagsbetreuung die Lage der Kommunen deutlich verbessert hat, dürfte auch der Opposition nicht schwer fallen. ({62}) Was die Verantwortung der Kommunalminister betrifft, insbesondere den Kommunen Investitionsspielräume einzuräumen, die ein genehmigtes Haushaltssicherungskonzept oder sogar einen Nothaushalt haben, ist dies eine der Aufgabenstellungen, die sich aus dieser Regierungserklärung für die Länder ergeben. Die nehme ich in meinem Gepäck gerne mit. ({63}) Ich habe manchmal den Eindruck, dass zum einen die Art der öffentlichen Debatte und auch die Art, wie wir politisch miteinander umgehen, mindestens ein so großes Hindernis zur Realisierung von Reformen in der Bundesrepublik sein könnten wie die Schwierigkeiten selber. Ich glaube, wir müssen wahrnehmen, dass viele Menschen uns so sehen. Das hat mit vielen Überzeichnungen zu tun. ({64}) - Hören Sie doch geduldig zu und beweisen Sie Ihre grenzenlose Bereitschaft, dies einfach einmal zu akzeptieren! ({65}) Ich habe Sie noch nicht ein einziges Mal angegriffen. Das hat etwas zu tun mit Überzeichnungen und mit Verzerrungen. Es hat auch etwas zu tun mit der Geringschätzung von Erfolgen. Es hat ferner damit zu tun, dass wir das, was uns gelingt, zu schnell konsumieren, dass wir wenig beständig sind, die Risiken überbetonen und nach Lage der Dinge immer mit Bedenken an viele Projekte herangehen. ({66}) Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Wenn wir auch sonst nichts haben, Bedenken haben wir“. ({67}) Wir finden immer Gründe, warum etwas nicht geht, und wir suchen wenig nach Wegen, um es zum Gelingen bringen zu können. Dieser Fragestellung sollten wir uns politisch stellen; denn ich glaube, dass viele Menschen wahrnehmen, dass wir dieser Einstellung verhaftet sind. Hinzu kommt der Eindruck, dass der Umgang der politischen Kräfte miteinander vom Publikum inzwischen schon als Bestandteil des Problems gesehen wird. Dabei gibt es sehr viele Rituale nach dem Motto „Die Deppen und die Schlauberger sind sehr einseitig verteilt“ und es gibt, wie ich finde, zu viele Schuldzuweisungen. Frau Merkel, Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, in seiner Regierungserklärung seien so viele Schuldzuweisungen enthalten. Wie würden Sie denn die Rede von Herrn Stoiber bewerten? ({68}) Wenn diese Woche dazu beitragen könnte, diesen verbreiteten Eindruck zu korrigieren, dann wäre das ein großer Gewinn für dieses Land. Herzlichen Dank. ({69})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Jeder kennt die Geschichte von dem armen Vater, der seine Söhne mit der Ziege auf die Weide schickt, damit sich die Ziege richtig satt fressen kann. Die Ziege kommt jeden Abend in den Stall zurück und meckert: „Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einziges Blättelein“. Arbeitsgeberpräsident Hundt erinnert mich an diese Ziege. Können Sie sich vorstellen, dass Herr Hundt irgendwann einmal erklärt: „Die Unternehmensteuern können nicht weiter gesenkt werden; die Lohnnebenkosten haben ein vernünftiges Niveau erreicht und der Kündigungsschutz ist ausreichend gelockert“? Man soll ja nie „nie“ sagen, aber ich kann mir das nicht vorstellen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass das jemand hier im Saal glaubt. ({0}) Die rot-grüne Bundesregierung hat die Steuern dramatisch - ich würde sagen: unverantwortlich - gesenkt. Diese Bundesregierung hat durch die Aufhebung der paritätischen Finanzierung - Stichwort: Krankengeld und Zahnersatz - die Lohnnebenkosten für die Unternehmen erheblich gesenkt und diese Bundesregierung hat den Kündigungsschutz massiv gelockert, was der Bundeskanzler heute als besondere Heldentat dargestellt hat. Doch was uns immer wieder als Verheißung angekündigt wurde, ist nie eingetreten. Es wurde von den Unternehmen in Deutschland nicht mehr investiert und es wurden in unserem Land nicht die angekündigten Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit nimmt von Tag zu Tag zu. Statt über die Wirkungen der Reformen nachzudenken und sich die Frage zu stellen, was eigentlich schief gelaufen ist, rennt die Bundesregierung kopflos von einem Gipfel zum anderen. Alle Jahrhundertreformen dieser Bundesregierung wurden in den Sand gesetzt und ich denke, wir können uns keine weitere derartige Jahrhundertreform leisten, weil sonst bald der Sand knapp wird. ({1}) Es ist tollkühn, wenn die Bundesregierung immer noch glaubt, dass Unternehmensteuersenkungen - wie heute morgen vom Bundeskanzler angekündigt - zu mehr Investitionen führen würden. Deutschland ist Exportweltmeister. In den letzten fünf Jahren haben die deutschen Exporte um 48 Prozent zugenommen. Das ist der Beweis, dass wir auch mit relativ hohen Lohnkosten in der Lage sind, Produkte weltweit zu verkaufen. Unser Problem ist die Binnennachfrage. Diese müssen wir stärken. Mit der Agenda 2010 haben Sie aber die Binnennachfrage empfindlich gestört und geschwächt. Die Umsetzung zweier Maßnahmen würde sofort Wirkung zeigen und umgehend Arbeitsplätze schaffen: Erstens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen zur Kasse gebeten wurden, die immer mehr von der Hand in den Mund leben müssen, müssen besser gestellt werden. Zweitens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen begünstigt wurden, die händeringend nach neuen Abschreibungsmodellen suchen, müssen ihren Beitrag zur Sicherung der Sozialsysteme leisten. ({2}) Zum ersten Punkt darf ich Ihnen ein Beispiel aus den USA nennen. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center beschloss der US-Kongress aus Angst vor einer Wirtschaftskrise, den Bezug des Arbeitslosengeldes um 20 Wochen zu verlängern, um die Nachfrage anzukurbeln. Wenn die Bundesregierung das Arbeitslosengeld II in Ost und West angliche und jedem ALG-IIEmpfänger nur 55 Euro mehr zahlte, sodass jeder zumindest 400 Euro in der Tasche hätte, dann wäre das ein sofort wirksames, unbürokratisches Konjunkturprogramm. ({3}) Bekanntlich sind Menschen, die wenig Geld haben, gezwungen, zusätzliches Geld sofort auszugeben. Diese 55 Euro wären für jeden da. Ich könnte Ihnen viele sprudelnde Quellen für die Gegenfinanzierung aufzählen. Ein Beispiel: Sie haben zwar schon lange auf Parteitagen die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Erhöhung der Erbschaftsteuer beschlossen, aber nie umgesetzt. Mindestens genauso wichtig ist die Forderung nach Mindestlöhnen, die wir als PDS stellen. Wir dürfen nicht länger zuschauen, wie die Löhne in diesem Land den Bach heruntergehen. Sie wissen sicherlich, wie die Geschichte mit der Ziege ausgeht: Der Vater verlor alle seine Söhne und stand mit der gefräßigen Ziege allein da. In diesem Sinne kann ich die Bundesregierung nur davor warnen, der ständig meckernden Ziege bzw. Herrn Hundt zu folgen. Es sind nicht die Unternehmensteuern, die wir senken müssen. Vielmehr schafft eine Erhöhung der Kaufkraft der sozial Schwachen Investitionen und Arbeitsplätze. Das wäre der richtige Weg. Die Agenda 2010 ist ein Verarmungsprogramm für große Gruppen der Bevölkerung. Inzwischen haben sich schon viele Journalisten Selbstversuchen ausgesetzt, um zu sehen, wie man unter ALG-II-Bedingungen lebt. Es ist immer wieder als dramatisch und furchtbar bezeichnet worden. Die Agenda 2010 ist der falsche Weg. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie Zusatzpunkt 2 auf: 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4978 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Auswärtiger Ausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem OCCAR-Geheimschutzübereinkommen vom 24. September 2004 - Drucksache 15/4979 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Nigeria über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4980 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2}) Auswärtiger Ausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Guatemala über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4981 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3}) Auswärtiger Ausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Angola über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4982 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für. Wirtschaft und Arbeit ({4}) Auswärtiger Ausschuss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4983 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5}) Auswärtiger Ausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/4984 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6}) Auswärtiger Ausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gashydratforschung fest in die Forschungen „System Erde“ und „Neue Technologien“ integrieren - Drucksache 15/3814 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({9}), Dirk Fischer ({10}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU „Meer für Morgen“ - Impulse für die maritime Verbundwirtschaft - Drucksache 15/5099 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5099 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 25 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Reisekostenrechts - Drucksache 15/4919 ({12}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13}) - Drucksache 15/5127 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Clemens Binninger Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5127, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften ({14}) - Drucksachen 15/5002 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16}) - Drucksache 15/5129 Berichterstattung: Abgeordnete Gerold Reichenbach Reinhard Grindel Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5129, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundes-Apothekerordnung und anderer Gesetze - Drucksachen 15/4784, 15/5093 ({17}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({18}) - Drucksache 15/5108 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5108, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig, also mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee das Führen ihrer früheren Dienstgrade erlauben - Drucksachen 15/3357, 15/4949 Berichterstattung: Abgeordnete Gerd Höfer Ulrich Adam Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3357 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 e: Beratung des dritten Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({20}) zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes ({21}) Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - Drucksache 15/4971 Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 25 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 192 zu Petitionen - Drucksache 15/5039 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 193 zu Petitionen - Drucksache 15/5035 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 193 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 194 zu Petitionen - Drucksache 15/5036 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 194 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 25 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 195 zu Petitionen - Drucksache 15/5037 15530 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. Es gab keine Enthaltungen. Tagesordnungspunkt 25 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 196 zu Petitionen - Drucksache 15/5038 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Zusatzpunkt 3 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({27}) Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 15/5114 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 3 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({28}) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht - 1 BvR 357/05 - Drucksache 15/5113 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({29}) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Enthaltungen? - Gegenstimmen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als Zusatzpunkt 6, Zusatzpunkt 7 und Zusatzpunkt 8 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden, dass wir so verfahren? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Zusatzpunkt 6: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({30}) zu dem Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes - Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455, 15/3510, 15/3871, 15/5121 Berichterstattung: Abgeordneter Michael Müller ({31}) Minister Harald Schliemann ({32}) Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Wir können also gleich zur Abstimmung kommen. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden beiden Beschlussempfehlungen. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5121? Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 7: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({33}) zu dem Dritten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634, 15/5122 Berichterstattung: Abgeordneter Ludwig Stiegler Minister Rudolf Köberle ({34}) Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5122? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 8: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({35}) zu dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921, 15/5123 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Röttgen Minister Rudolf Köberle ({36}) Wir stimmen nun ab über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5123. Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Förderung der Organspende - Drucksachen 15/2707, 15/4542 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz. ({37})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Zeit ist vorbei, so sagten sie, ({0}) aber dann kamst du und schenktest sie mir neu. - Mit diesen Worten hat eine Patientin ihre Gedanken zum Ausdruck gebracht, die dringend auf eine Organspende wartete. Ein Empfänger einer gespendeten Lunge hat im Rückblick auf seine Erfahrungen seine Dankbarkeit gegenüber dem Spender bzw. der Spenderin folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Ich denke sehr oft an meinen Spender und bin von Herzen dankbar, dass er mir das Gute hier gelassen hat. Ich danke den Ärzten und all den vielen anderen, die um mich gekämpft und mir zu neuem Leben verholfen haben. Meine Damen, meine Herren, wir können die Gefühle in dieser so genannten Wartestellung zwischen Leben und Tod, die Hoffnung auf der einen Seite und die Dankbarkeit auf der anderen Seite oft kaum fassen. Aber für jeden könnte das Thema Organspende irgendwann eine Rolle spielen. Vielen Menschen wird das erst bewusst, wenn in ihrer eigenen Familie ein Familienangehöriger auf eine Transplantation wartet - ein Schicksal, das circa 13 000 Menschen teilen. Das Thema wird auch dann aktuell, wenn ein Angehöriger mit der Frage konfrontiert wird, ob der Verstorbene einer Organentnahme zugestimmt hat. Zwischen der langen Warteliste auf der einen Seite und der von 80 Prozent der Bevölkerung bekundeten Spendenbereitschaft auf der anderen Seite klafft eine große Lücke. Nur 12 Prozent der Menschen hierzulande besitzen einen Organspendeausweis. Mangelndes Wissen über den Hirntod und den Organspendeausweis, Ängste, aber auch unzureichende Kenntnisse über die Bedeutung einer Spende für den Empfänger führen in der Bevölkerung oft zu Verunsicherung und zu Zurückhaltung. Statt nun auf diese Situation zu reagieren und gezielt und sensibel Aufklärung zu betreiben, hat die Bundesregierung in der Zeit von 1998 bis 2004 die Mittel der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in diesem Bereich auf ein Viertel der Anfangsausgaben reduziert. ({1}) Spendenbereitschaft fördern wollen und zugleich die Aufklärung fast einstellen, das passt nicht zusammen. ({2}) Nach den Todesfällen von zwei tollwutinfizierten Organspendeempfängern und neuen, aktuellen Presseberichten breitet sich gerade jetzt wieder einmal weitere Verunsicherung aus. Die Bundesregierung ist aufgefordert, in dieser Situation einer Diskreditierung von postmortalen Transplantationen vorzubeugen und ein größeres öffentliches Bewusstsein für die postmortale Organspende zu schaffen. Auch unter den Ärzten ist mehr Information über das Thema dringend erforderlich; denn 40 Prozent der 1 400 Kliniken mit Intensivstationen in unserem Land melden nie einen Organspender bzw. machen bei der Rekrutierung von Organen einfach nicht mit. Der ehemalige medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, Professor Martin Molzahn, kritisiert denn auch zu Recht, wenn er sagt: Die Deutsche Stiftung Organtransplantation kann ihre Arbeit und ihre Prozesse noch so gut organisieren - wenn die Meldung aus dem Krankenhaus unterbleibt, werden wir unser Ziel einer deutlich höheren Zahl von Organspenden nicht erreichen. Die Ursachen für die ausbleibenden Meldungen sind trotz Meldepflicht, die im Gesetz geregelt ist, vielfältig. Manchmal sind überarbeitete Intensivmediziner nicht in der Lage, die Aufgaben zusätzlich zu schultern, oder sie scheuen einfach auch das Gespräch mit den nahen Angehörigen des Verstorbenen. Häufig mahnen aber auch die Klinikverwaltungen ihre Ärzte aus Kostengründen zur Zurückhaltung. Das Fallpauschalensystem hat den Kosten- und den Prozessdruck in den Krankenhäusern verschärft. Insbesondere kleine Krankenhäuser mit wenigen Intensivbetten spüren dies. Die intensivmedizinische Betreuung des Hirntoten und das Gespräch mit den Angehörigen erfordern viel Zeit und Einfühlungsvermögen - Zeit, die es im Krankenhaus immer weniger gibt, und Zeit, in der das Intensivbett nicht für andere Patienten zur Verfügung steht. Zwar ist nunmehr durch eine Vereinbarung die Finanzierung der Organentnahme bei der Postmortalspende, auch wenn die Entnahme nicht zum Erfolg führt, über eine Pauschale geregelt, doch ist diese Pauschale nicht dynamisch, das heißt, sie passt sich nicht der Kostenentwicklung an. Darüber hinaus ist sie bereits heute nicht kostendeckend und weicht erheblich von der Erstattung bei Lebendspenden ab. Deshalb brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Postmortalspende in der Bundesrepublik nicht in dem Umfang angenommen wird, wie dies in anderen Ländern der Fall ist. ({3}) Wir plädieren deshalb für eine unabhängige, exakte und zeitnahe Kalkulation und Anpassung dieser Pauschalen und für eine bessere Vernetzung der Krankenhäuser mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Wir brauchen für die Aufgabe der Organspende einen konkreten Ansprechpartner in jedem Krankenhaus mit Intensivbetten. ({4}) Wichtig für die Akzeptanz der Organspende ist schließlich, dass keine Regelungslücken bestehen und zum Schutz der Organempfänger alle notwendigen Vorkehrungen getroffen sind. Der Fall der tollwutinfizierten Organspenderin ist bislang ein einzigartiges Ereignis und wird es hoffentlich auch bleiben. Aber er gibt uns allen Gelegenheit, noch einmal aufmerksam die bestehenden Regelungen zu überprüfen und Regelungslücken auszumachen. Eine Regelungslücke springt dabei deutlich ins Auge: Sieben Jahre nach In-Kraft-Treten des Transplantationsgesetzes steht noch immer die Richtlinie über die Anforderungen an die im Zusammenhang mit einer Organentnahme zum Schutz der Organempfänger erforderlichen Maßnahmen aus. Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung, denn diese hätte im Wege der Rechtsaufsicht die Bundesärztekammer schon längst auf die Schließung dieser Regelungslücke hinweisen müssen. ({5}) Nach jüngsten Berichten, etwa der „Süddeutschen Zeitung“ in der vergangenen Woche, und nach Aussagen aus den Reihen der Bundesärztekammer scheint es auch Interessenskollisionen bei der Organentnahme sowie bei der Entnahme, Vermittlung und Verwertung von Gewebe im Bereich der DSO zu geben. Diese Hinweise müssen wir im Interesse der Akzeptanz der Postmortalspende sehr ernst nehmen. Wir müssen Interessenskollisionen ausschließen und die Gewebeentnahme klar regeln. Sonst leidet die Akzeptanz der Organspende und dies können wir uns nicht leisten. ({6}) Meine Damen, meine Herren, wir alle sind aufgefordert, uns zugunsten der Menschen, die auf eine Organspende warten, zu engagieren. Ganz besonders aufgefordert ist die Bundesregierung. Sie muss ihre Aufklärungsarbeit intensivieren. Sie muss Maßnahmen initiieren, um die Meldepflicht in den Krankenhäusern umzusetzen und damit die Zahl der Meldungen tatsächlich zu erhöhen. Sie muss bestehende Regelungslücken sofort schließen und aktuelle Entwicklungen, wie genannt, sorgfältig verfolgen und gesetzlich begleiten. Dies ist dringend notwendig;

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- denn die Menschen, die auf ein Organ warten, haben keine Alternative. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine gute Sache, dass wir heute hier anlässlich einer Großen Anfrage der Opposition über das Thema Organspende diskutieren; denn es ist in der Tat so: Organspende schenkt Leben. Das ist auch der Titel der Informationskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA. Wer sich zur Organspende bereit erklärt, gibt anderen Menschen die Chance auf mehr Lebensqualität, manchmal sogar die Chance auf ein zweites Leben. Deswegen sollte man dieses Thema auch mit dem gebotenen Ernst behandeln, liebe Kollegin Widmann-Mauz; da helfen einseitige Schuldzuweisungen nicht. ({0}) Sie wissen ja: Es war damals eine gemeinschaftliche Aktion, das Transplantationsgesetz hier im Deutschen Bundestag zu verabschieden. ({1}) Eine gemeinschaftliche Aktion war auch die Informationskampagne, die als Anschubhilfe ins Leben gerufen worden ist. Die Organspende genießt in der Bevölkerung hohe Akzeptanz. 80 Prozent der Bundesbürger bewerten sie positiv. Dennoch stehen zu wenig Spenderorgane zur Verfügung. Wir wissen, dass im Wesentlichen drei Punkte in Angriff genommen werden müssen, bei denen genau geschaut werden muss, welche Ebene welche Aufgabe hat. Erstens. Wir haben 1997 das Transplantationsgesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht und auch gemeinsam verabschiedet. Es hat die Spende, die Entnahme und die Übertragung von Organen auf eine rechtlich sichere Grundlage gestellt. Entgegen mancher Forderung brauchen wir keine Änderung der gesetzlichen Grundlagen; denn das Gesetz hat sich bewährt. ({2}) Das muss man einmal sagen und das war eine wichtige Klarstellung. Zunächst musste an den Gesetzgeber die Frage gerichtet werden, ob gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Das ist nicht der Fall. Das hat auch die jüngste Expertenanhörung in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ bestätigt. Zweitens. Die Stärkung der Spendebereitschaft ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Frau Kollegin WidmannMauz, Sie machen es sich da zu einfach. Die Verantwortlichkeiten ruhen auf mehreren Schultern. ({3}) Damals ist verabredet worden: Bund, Länder, Krankenhäuser und Ärzte haben hier ihre jeweilige Aufgabe zu erledigen. ({4}) Dabei gibt es ganz deutliche Unterschiede und Defizite, die wir auch benennen müssen. ({5}) Ich glaube, dass eines ganz wichtig ist: Wenn wir eine Meldepflicht ins Gesetz schreiben, kann es nicht angehen, dass 40 Prozent der Krankenhäuser so tun, als gäbe es diese Meldepflicht überhaupt nicht. Wer hat da die Rechtsaufsicht? Das ist doch nicht der Bund. Die Rechts- und Fachaufsicht liegt klar in der Zuständigkeit der Länder. Deswegen will ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Es hat keinen Sinn, wenn wir immer neue Gesetze oder eine Verschärfung der Gesetze fordern, ({6}) solange das Problem bei der Durchsetzung dieser gesetzlichen Regelungen liegt. Für die Durchsetzung liegt die Verantwortung bei den Ländern. Ich appelliere an dieser Stelle, diese Verantwortung auch wahrzunehmen. ({7}) Wir brauchen drittens mehr Öffentlichkeit für dieses Thema. Information und Aufklärung sind Voraussetzungen für eine höhere Bereitschaft zur Organspende. Wir als Bundesregierung haben hier unsere Hausaufgaben gemacht. Seit 1998 wurden bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung circa 6 Millionen Euro zur Förderung der Bereitschaft zur Organspende ausgegeben. Die Tatsache, dass am Anfang einer Kampagne, wenn sie erst ins Werk gesetzt wird, mehr Geld investiert werden muss, als wenn die Kampagne bereits läuft, gegen die Bundesregierung zu wenden, ist nicht nur billig, sondern führt auch in der Sache nicht weiter. ({8}) Das Angebot der BZgA reicht von Informationsbroschüren über Angebote im Internet bis hin zu einem gebührenfreien Informationstelefon, das zunehmend in Anspruch genommen wird. Dieses Angebot wird gemeinsam von der BZgA und der Deutschen Stiftung Organtransplantation bereitgestellt. Demjenigen, der Rat im persönlichen Gespräch sucht, stehen also qualifizierte Expertinnen und Experten Rede und Antwort. Für Information und Aufklärung stehen auch in Zukunft ausreichend Gelder zur Verfügung, weil die Bundesregierung dieses Thema ernst nimmt und auch gerade angesichts des Tollwutfalles und der dadurch ausgelösten öffentlichen Debatte alles dafür tun will, dass die Spendenbereitschaft nicht zurückgeht. ({9}) Wir haben auf diesen Fall umgehend reagiert. Sie wissen, dass wir im Ausschuss berichtet haben und dass heute Nachmittag in unserem Hause ein Expertengespräch stattfindet. Es soll nochmals überprüft werden, ob es hier Regelungslücken gab oder ob der Grund für das Auftreten dieses Falles in mangelnder Zusammenarbeit und nicht ausreichender Information lag. Eine erste Auswertung der Expertengespräche in Hannover hat ergeben, dass solche Fälle auch durch noch so große Anstrengungen des Gesetzgebers nicht zu verhindern sind. Wir müssen uns also noch einmal zusammensetzen und prüfen, ob die Vernetzung und Kommunikation nicht noch verbessert werden kann. Wir haben prompt reagiert und umfassend informiert. Uns geht es darum, dass nicht ein Einzelfall so skandalisiert wird, dass die Bereitschaft zur Organspende zurückgeht. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung, alles zu tun, dass die Spendenbereitschaft wieder steigt. Deswegen sollte man diesen Einzelfall nicht dazu benutzen, die Organspende zu diskreditieren. Dass dies nicht geschieht, dafür tragen alle Fraktionen im Bundestag eine gemeinsame Verantwortung. ({10}) Der wichtigste Punkt ist, diejenigen Schnittstellen, die im Moment noch nicht ausreichend funktionieren, zu benennen und diesbezüglich für Abhilfe zu sorgen. Ich habe eben schon das Thema Meldepflicht der Ärzte angesprochen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, die Kooperation der jeweiligen Kliniken untereinander neu zu organisieren. Die Berichterstattung in den Medien zeigte, dass die Kooperation zwischen den Kliniken teilweise nicht richtig und ausreichend funktioniert. Beispielsweise sind Twinning-Projekte im europäischen Ausland dadurch bedroht, dass alles zentral organisiert wird. Wir müssen genau hinschauen, ob nicht sinnvolle Initiativen durch eine falsch verstandene Zentralisierung verhindert werden. Wir sind aufgefordert, dies gemeinsam zu tun. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Sehr gerne, Frau Präsidentin. Ich möchte abschließend eine Hoffnung und eine Bitte äußern. Wir nehmen dieses Thema ernst. Deswegen bin ich über die Große Anfrage froh. Sie gibt uns Gelegenheit, dieses wichtige Thema öffentlich zu diskutieren. Ich appelliere aber auch an Sie: Helfen Sie mit, einseitige Schuldzuweisungen zu verhindern! Bund, Länder und Kliniken müssen gemeinsam etwas dafür tun, dass man mit Organspenden auch weiterhin Leben schenken kann. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Derzeit warten zwischen 12 000 und 13 000 Patientinnen und Patienten auf ein Spenderorgan und, Frau Staatssekretärin, auf die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung. Die durchschnittliche Wartezeit beispielsweise auf die Transplantation einer Niere beträgt etwa fünf Jahre. Das Warten auf ein Herz oder auf eine Leber ist meistens ein Wettlauf mit der Zeit, den viele Patienten nicht mehr gewinnen. Bezogen auf die Einwohnerzahl werden in Deutschland, besonders in Nordrhein-Westfalen, weit weniger Organe transplantiert als in den meisten unserer Nachbarstaaten. Kein anderer medizinischer Bereich ist so abhängig von der Mitwirkung der Bevölkerung wie die Organspende. Wäre die erklärte Bereitschaft zur Spende so groß wie die verbale Akzeptanz, hätten wir keine Engpässe. Denn nach wie vor gibt es eine große Kluft zwischen der prinzipiellen Bereitschaft zu einer Organspende und dem Schritt zu einer schriftlichen Fixierung. Nur 5,2 Prozent aller postmortalen Organentnahmen erfolgten aufgrund eines Organspendeausweises. Mündlich bekundeter Wille und der von Angehörigen festgestellte mutmaßliche Wille der Verstorbenen sind die Mehrheit: 67 Prozent der Bevölkerung gaben bei einer Umfrage ihre ausdrückliche Akzeptanz an, als Organspender zur Verfügung zu stehen. Doch nur bei 54 Prozent aller potenziellen Organspender konnten Organe entnommen werden. Durch die Angehörigen kam es oft zu einer Ablehnung. Sie stehen unter dem starken psychischen Druck, den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen festzustellen. Deshalb stellt sich die Frage: Wird innerhalb der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten wirklich alles Erdenkliche getan? Durch massive Aufklärung der Bevölkerung und durch Thematisierung in der Gesellschaft muss die Zahl derjenigen erhöht werden, die ihre Einstellung zur Organspende schriftlich oder zumindest mündlich klar äußern. So kann Angehörigen diese schwere Entscheidung abgenommen werden. Organspendeausweise sollten verstärkt mit ausführlichen und sensibilisierenden Informationen für die Bevölkerung leicht zugänglich bereitliegen. Bankfilialen, Postschalter und Ämter bieten sich insofern an. Wir Abgeordnete sollten mit gutem Beispiel vorangehen und einen Organspendeausweis ausfüllen. Schließlich ist er so klein, dass er in jede Brieftasche passt. Wir sollten diese Fragen in unseren Wahlkreisen öffentlich diskutieren; denn Ängste müssen abgebaut werden. Das gelingt nur durch eine offene Auseinandersetzung mit diesen Fragen. ({0}) Wichtig ist, dass es bei der Zustimmungslösung bleibt. Jeder Mensch muss das Recht haben, sich nach Auseinandersetzung mit der Thematik bewusst für oder auch gegen eine Bereitschaft zur Organspende zu entscheiden. Er muss sogar die Möglichkeit haben, die Beschäftigung mit dem Thema zu verweigern. Eine Widerspruchslösung führt zur Verunsicherung der Bevölkerung und widerspricht dem Grundsatz der individuellen Selbstbestimmung. ({1}) Die Bereitschaft der Bevölkerung, einen Ausweis zu tragen, muss gesteigert werden. Es muss aber auch die Zahl der Krankenhäuser erhöht werden, die sich an der Suche nach geeigneten Organspendern beteiligen. Im Bundesdurchschnitt lag - das ist vorhin schon gesagt worden - der Beteiligungsgrad der Krankenhäuser mit Intensivstationen im Jahre 2001 bei ganzen 44 Prozent. Dabei gibt es zwischen den Bundesländern große Unterschiede, obwohl das Transplantationsgesetz die Pflicht zur Meldung beinhaltet. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Union lässt dieses Problem ebenfalls ungeklärt. Aufklärung und sensibler Umgang mit diesen Fragen sind an dieser Stelle besser als Zwangsmechanismen. Auch die geschaffenen finanziellen Anreize für die Krankenhäuser sind - das hat die Anhörung in der Enquete-Kommission gezeigt - nicht maßgeblich für eine erhöhte Beteiligung. Die Bundesländer gehen auf Grundlage ihrer Ausführungsbestimmungen sehr unterschiedlich mit der Umsetzung des Transplantationsgesetzes um. Wir brauchen eine intensive Aufklärung von Klinikpersonal und Bevölkerung. Ärzte und Pflegekräfte sollten speziell fortgebildet werden, um sensibilisiert und in der Lage zu sein, im entscheidenden Fall mit den Angehörigen die notwendigen einfühlsamen Gespräche zu führen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung leistet auf diesem Gebiet schon wertvolle Arbeit. Deshalb bin ich über die hohen Kürzungen der Mittel schockiert. Richtigerweise sollte die Arbeit der BZgA konsequent gestärkt werden. Wir brauchen eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern, Krankenhäusern und Krankenkassen. ({2}) Eine abschließende Bemerkung. Heute wurde der Zwischenbericht zur Organlebendspende der EnqueteKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ dem Bundestagspräsidenten überreicht. Darin hat die Mehrheit der Mitglieder verhalten signalisiert, dass die Möglichkeiten, die sich durch eine vorsichtige Öffnung der Regeln zur Organlebendspende ergeben, besser ausgeschöpft werden könnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie zum Schluss nachdrücklich bitten: Gehen Sie diesen Schritt mutiger mit! Heben Sie die Nachrangigkeit der Lebendspende gegenüber der postmortalen Spende auf! Lassen Sie Überkreuzspenden zu! Das ist im Sinne vieler Betroffener. Ihnen sollten wir verpflichtet sein; sie würden es uns danken. Ich glaube nicht, dass die Gefahr des Organhandels größer wird, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen stimmen, wenn also zum Beispiel eine Ethikkommission vorher ihre Zustimmung zu einem solchen Schritt geben muss. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Selg.

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dieses Thema eignet sich ebenso wenig wie die Debatte heute Morgen für parteitaktisches Gezänk. Die Bereitschaft zur Organspende ist in Deutschland ({0}) - nein, nein, Herr Parr, das war schon okay - auf einem erschreckenden Niveau. Die Große Anfrage der CDU/CSU zur Förderung der Organspende, in der der Eindruck erweckt wird, dass die Organspende nicht richtig im TPG, im Transplantationsgesetz, verankert sei, geht in die falsche Richtung. Ziel des Transplantationsgesetzes ist es vor allem, eine klare und sichere Rechtsgrundlage für die Spende und Entnahme menschlicher Organe, Organteile und Gewebe zum Zwecke der Transplantation zu schaffen. Unter dieser Prämisse sollten wir das Transplantationsgesetz beurteilen. Ich denke, es besteht Konsens, dass mit dem Transplantationsgesetz Rechtssicherheit geschaffen wurde. ({1}) 70 Prozent der Bevölkerung stehen einer Organspende positiv gegenüber. Dennoch kam es - darauf weist die Union hin und darauf wird auch in der Antwort der Bundesregierung hingewiesen - nach Einführung des Transplantationsgesetzes zu keiner dauerhaften Zunahme der Zahl der postmortalen Organspenden. 12 000 Menschen warten im Durchschnitt sechs Jahre lang auf ein Organ. Ich denke, das ist zu lange. Wir sollten dringend etwas daran ändern. Diese lange Wartezeit hat vielfältige Gründe; denn, wie gesagt, 70 Prozent der Menschen würden spenden. Ich glaube, es ist zu kurz gesprungen, einfach noch mehr Geld für Öffentlichkeitsarbeit zu fordern. Denn die Bundesregierung und die Gesundheitsminister aller Länder sind sich darin einig, dass die Zahl der realisierbaren postmortalen Spenden in hohem Maße von der Zusammenarbeit zwischen Transplantationszentren und Krankenhäusern sowie vom Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abhängt. 2003 engagierten sich beispielsweise nur etwa 40 Prozent der bundesweit circa 1 400 Krankenhäuser mit Intensivstationen für die Gemeinschaftsaufgabe „Organspende“. Man muss sehr genau hinschauen; denn diesen Wert drücken vor allem die Häuser der Grund- und Regelversorgung. Häuser der Maximalversorgung engagieren sich zu mehr als 90 Prozent. Ein wesentlicher Grund für die geringere Zahl an Organspenden liegt in der Inzidenz der Todesfälle nach akuter Hirnschädigung. Diese Todesfälle treten sehr häufig bei Straßenunfällen auf. In der Anhörung der Enquete-Kommission zur Organspende wurde ein weiterer Grund dafür genannt, dass sehr viel weniger Organe gespendet werden, als dies eigentlich möglich wäre. Wir haben in Deutschland die erweiterte Zustimmungsregelung im Transplantationsgesetz verankert. Das heißt: Liegt keine ausdrückliche Entscheidung des Betroffenen zur Organspende vor, entscheiden die Angehörigen. Da nur 12 Prozent einen Organspendeausweis besitzen, entscheiden in mehr als 80 Prozent die Angehörigen. Jeder kann sich vorstellen, dass Angehörige in einer solchen Situation überlastet sind und sich im Zweifelsfall eher gegen eine Organspende entscheiden. Aber brauchen wir deshalb eine Widerspruchsregelung, wie sie in anderen europäischen Ländern existiert? ({2}) Nach meiner Meinung wäre das nicht der richtige Weg. Die Aufklärungsarbeit im Hinblick auf die Organspende sollte stattdessen verstärkt auf den Hinweis abzielen, dass die Angehörigen stärker entlastet werden können, wenn der Wille des Einzelnen dokumentiert wird. In der Beantwortung der Anfrage der Union durch die Bundesregierung ist allerdings zu lesen, dass wir in manchen Bereichen ein Umsetzungsproblem haben. Die gesetzlichen Möglichkeiten sind letztendlich vorhanden. Deshalb freut es mich wirklich, dass die 77. Gesundheitsministerkonferenz, also die Gesundheitsminister aller Länder, Handlungsbedarf erkannt hat. Daher möchte ich darauf nicht näher eingehen. ({3}) Allerdings möchte ich kurz auf die Organlebendspende eingehen. Ausgangspunkt ist die immer wieder geforderte Ausweitung der Organlebendspende und die Diskrepanz zwischen Angebot und Bedarf. Zu beobachten ist, dass die Zahl der Lebendspenden bereits seit Jahren zunimmt. Heute stammen fast jede fünfte Niere und jede zehnte Leber von einem Lebendspender. Organe und Organteile sollten aber nur von Angehörigen und anderen Personen, die einem Spender durch persönliche Verbundenheit offenkundig nahe stehen, gespendet werden. Das Ziel war es bisher vor allem, unkontrollierten Organhandel zu verhindern. Ich denke, das ist richtig so. Daran sollten wir weiter festhalten. ({4}) Ich halte es für wirklich wünschenswert, Vorschläge zu einem verbesserten Organaufkommen zu machen. Ich wünsche mir, dass wir hier gemeinsam, und zwar parteiübergreifend, zu einem Konsens kommen. Ich glaube, Aufklärung ist dringend notwendig. Aber dies kann nicht nur durch mehr Geld und nicht nur dadurch geleistet werden, dass wir die Zahl der Spenderausweise erhöhen. Wie schon gesagt, jeden von uns kann es treffen, dass er zum Organspender wird. Es kann aber auch jeden treffen, dass er unverhofft in die Situation gerät, der Frage nach einer Organspende durch einen Angehörigen gegenüberzustehen. Hier gilt es, sich zu Lebzeiten mit dem Tod auseinander zu setzen und mit den Angehörigen darüber zu reden. Wir sollten versuchen, parteiübergreifend - wir treffen uns heute Nachmittag im Ministerium - zu einer Lösung zu kommen. Bei einem so wichtigen Thema sollte wie auch heute Morgen in der Arbeitslosendebatte die Parteitaktik im Interesse der betroffenen Menschen außen vor bleiben. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns geht es hier überhaupt nicht darum, dieses Thema parteipolitisch zu instrumentalisieren. Wenn man sich irgendwo getroffen fühlt, versucht man schnell abzulenken. Sie alle zitieren die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“. In ihr sind unter anderem meine Kolleginnen Voßhoff und Lanzinger, Herr Kollege Rachel und ich Mitglied; wir waren bei den Anhörungen dabei. Hören Sie doch mit den Schuldzuweisungen auf! ({0}) Wir haben eine Große Anfrage gestellt. Eines fällt schon auf, Frau Staatssekretärin: Es ist schon sehr entlarvend, dass Sie keinen einzigen Satz über die Rechtsaufsicht Ihres Ministeriums gegenüber der Bundesärztekammer bezüglich des Empfängerschutzes gesagt haben. ({1}) Die Richtlinie steht seit sieben Jahren aus. - Es wäre schön, wenn Sie einmal zuhörten; denn zu diesem Thema hätten wir uns eine Antwort gewünscht. Es geht um Ihre Rechtsaufsicht gegenüber der Bundesärztekammer, und zwar nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. ({2}) - Herr Wodarg, Sie reden doch nachher noch. Halten Sie doch einmal die Luft an! ({3}) Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, es gebe ausreichend Gelder für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Sie haben auch die DSO und die Enquete-Kommission genannt. Aber in der Enquete wurde am Montag von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass Gelder fehlten und immer mehr Gelder gestrichen würden. Wir fordern ja nicht einmal mehr Gelder, wie es die Kollegin von den Grünen eben gesagt hat. ({4}) Aber wir sollten wenigstens bei den Geldern bleiben, die bis dato zur Verfügung standen. ({5}) Als 1998 dieses Projekt startete, wurden über 4 Millionen DM zur Verfügung gestellt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Caspers-Merk?

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung halten. Sie hat ja eben geredet und hätte dazu gern etwas sagen können. ({0}) - Ich habe Sie nicht gefragt, ich habe etwas gesagt. Es ist Ihr Problem, wenn Sie nicht zuhören, sondern mit anderen schwätzen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie bei diesem Thema zugehört hätten. Lassen Sie mich meine Rede beenden; nachher können wir gerne darüber reden. ({1}) Sie haben vorhin erwähnt, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung genügend Geld habe. In der Anhörung wurde von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ganz klar gesagt, dass Geld fehle. In den vergangenen Jahren wurde viel Geld gestrichen. Ich gebe zu, dass für die Initialzündung im Jahre 1998 mehr Geld gebraucht wurde. Im Jahr 2004 gab es aber nur noch 540 000 Euro. Mit Verlaub, die Initialzündung war dann doch etwas anderes. Insofern halten wir es durchaus für erforderlich, hier etwas zu tun. ({2}) Vor knapp einem Jahr haben wir unsere Große Anfrage mit 47 Fragen eingebracht. Sie haben neun Monate gebraucht, um sie zu beantworten. Ich erinnere mich noch an die Debatte anlässlich der Einbringung unserer Anfrage. Damals hieß es, dies sei eine Showeinlage der Opposition, die Bundesregierung erstatte regelmäßig Bericht. Ich habe das Protokoll dabei, aus dem hervorgeht, was uns alles vorgeworfen wurde. Ich freue mich sehr, dass Sie nun gesagt haben, eine solche Anfrage sei auch für die Diskussion sehr wichtig. Wir fordern nicht, dass das Gesetz geändert wird. Wir wollen keine Widerspruchslösung und wir wollen auch nicht die Subsidiarität auflösen, wie es die FDP verlangt. Aber wenn ein Gesetz über Jahre besteht, dann ist es sehr wichtig, dass man einmal hinterfragt, ob es die Ziele erreicht hat, die es erreichen sollte. Unserer Meinung nach kommt das Thema Organspende viel zu wenig in der öffentlichen Debatte vor. Die Menschen müssten schon in jungen Jahren mit dieser Thematik konfrontiert werden; denn wenn die Angehörigen in einer Schocksituation für einen Verstorbenen entscheiden sollen, dann sind sie zumeist emotional völlig überfordert. In diesem Punkt hat uns die Antwort auf unsere Große Anfrage enttäuscht. Zwar wurde viel beantwortet; die Antwort der Bundesregierung ist ja auch ziemlich umfangreich, aber die Masse allein macht es nicht. Wir vermissen nicht, dass Sie uns wie bei vielen anderen Beantwortungen das Gesetz erklären. Das kennen wir auch so. ({3}) Es wurde unter einer Unionsregierung verabschiedet. ({4}) - Doch, das war so. Herr Seehofer war damals Minister. Ich glaube, jetzt haben Sie ein kleines Problem. ({5}) Wir bedauern aber sehr, dass Sie nichts aufzeigen, womit wir wirklich die Probleme lösen, wo wir ansetzen können. Wir haben beispielsweise nachgefragt, was wir mit den Kliniken machen, die einen möglichen Organspender nicht melden. Selbst darauf kam keine Antwort. Bei ganz vielen Anfragen, die wir gestellt haben, weil wir gerne gemeinsam weitergehen wollen, sind Sie mit Ihrer Kooperation am Ende. Hier setzt unsere Kritik an. Wir sagen nicht, dass Sie Organspenden verhindern. Das würde auch niemand behaupten. Es gibt aber zwei wichtige Punkte - auch Sie haben vorhin die Anhörung der Enquete-Kommission erwähnt -, bei denen es hakt. Das eine Nadelöhr sind die Krankenhäuser. Wir können noch so viel Aufklärung leisten, aber wenn sich nur 40 Prozent der Krankenhäuser, welche die Schnittstelle sind, an der Meldung der potenziellen Organspender, der Hirntoten, beteiligen, ({6}) ist da irgendetwas falsch. ({7}) - Jetzt hören Sie doch einmal zu. Wenn Sie darüber gar nicht reden wollen, können wir hier gerne einpacken. Es ist aber doch wichtig, das zu thematisieren. Wir thematisieren das in der Enquete-Kommission. ({8}) Aber wir können doch gemeinsam darüber reden, wie wir das besser hinbekommen können. ({9}) Das ist auch ein Thema ({10}) in der Bundesärztekammer und bei den Krankenkassen. Damit komme ich zum zweiten Punkt, dem Bund. Ich bin mit meinen 32 Jahren von den drei Krankenkassen, in denen ich bisher Mitglied war, noch nie gefragt worden, ob ich Organspenderin bin. Hier müssen wir einmal nachhaken, warum diese nicht nachfragen und dann auf der neuen Gesundheitskarte - wenn sie denn nun endlich kommt - vermerken, ob das Mitglied Organspender ist oder nicht bzw. sich dazu nicht äußern möchte. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt und hier gibt es viele Möglichkeiten. Auch die Krankenkassen müssen an der Gemeinschaftsaufgabe Organspende beteiligt werden. Sie schieben alles weg auf die Länderebene. Auch wir sind verantwortlich. Hier geht es um Leben und Tod und nicht um eine kurze, entspannte Debatte vor dem Wochenende. Hier geht es um Menschen, die auf der Warteliste stehen und sterben müssen. Insofern kann man auch einmal vom Bund in Richtung Länder schauen und sich zusammenraufen. ({11}) Es gibt im Bund viel zu tun. Hören Sie auf mit dieser einseitigen Schuldzuweisung. Seien Sie froh, dass die Union das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Caspers-Merk das Wort.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Klöckner, weil ich das für ein ernstes Thema halte, ({0}) möchte ich die Dinge, die falsch sind, nicht stehen lassen. Ich habe vorhin bei der Kollegin Widmann-Mauz nicht reagiert, weil ich es schade finde, dass sie den Sachverhalt nicht kennt. ({1}) - Ich glaube, Ihr Zwischenruf ist dem Thema nicht ganz angemessen. Ich bitte darum, im Zusammenhang vortragen zu dürfen. ({2}) Sie haben vorhin in Ihrer Rede irrtümlich erwähnt, der Bund habe seine Aufsichtspflicht gegenüber der Bundesärztekammer verletzt. Frau Kollegin WidmannMauz, Sie sind im Fachausschuss und müssten wissen, dass die Bundesärztekammer eine privatrechtliche Arbeitsgemeinschaft in der Rechtsform eines nicht eingetragenen Vereins ist. Sie untersteht weder der Rechtsnoch der Fachaufsicht des Bundesgesundheits- und -sozialministeriums. Dort, wo Sie ein Versäumnis konstruieren, haben wir gar keine Einwirkungsmöglichkeit. Unsere Einwirkungsmöglichkeit besteht nur in unserem Gaststatus, aufgrund dessen wir bitten und drängen, die entsprechenden Richtlinien zu erlassen und hier konkreter zu werden. Aber konstruieren Sie keine Aufsichtspflicht, wo keine ist. Ich wollte Sie vorhin nicht korrigieren, weil es doch ein wenig peinlich ist, wenn man aus dem Fachausschuss kommt und nicht weiß, dass wir überhaupt keine Fach- und Rechtsaufsicht haben. Frau Kollegin Klöckner, jetzt bitte ich Sie zuzuhören: Wir haben vorhin ganz klar gesagt, dass es hier keine einfachen Lösungen gibt. Das Entscheidende ist, die Schnittstellen zu verbessern. Beim Thema Aufklärung und Information ist der Bund gefordert. Die Länder sind aber ebenfalls gefordert, genauso wie die Zusammenarbeit in den Kliniken. Die Hauptschwachstelle ist, dass 40 Prozent der Kliniken ihrer Meldepflicht nicht nachkommen; ({3}) das habe ich in meiner Rede auch gesagt. Ich bitte Sie also herzlich, dieses Thema im Interesse der Menschen, die auf Organe warten, angemessen zu behandeln. ({4}) Deswegen meine ich, die Richtigstellung musste sein. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt stehe ich vor der Frage, wer antwortet: Frau Klöckner oder Frau Widmann-Mauz? - Frau WidmannMauz.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Frau Kollegin Caspers-Merk! Ich als Mitglied des Fachausschusses und Sie als Mitglied der Bundesregierung wissen, dass nach § 11 des Transplantationsgesetzes das Bundesministerium für Gesundheit einen Vertrag zu genehmigen hat. In diesem Vertrag sind auch die Grundlagen für den Schutz der Organempfänger bei Organspende zu regeln. In diesem Vertrag wird auf eine nicht bestehende Richtlinie der Bundesärztekammer rekurriert. Wie können Sie einen Vertrag genehmigen, wenn es die im Gesetz vorgeschriebene Grundlage, nämlich eine Richtlinie, nicht gibt? Dann ist es Ihre politische Aufgabe, auf die Bundesärztekammer einzuwirken, damit diese Richtlinie erlassen wird. ({0}) Ich bin jetzt seit sieben Jahren Mitglied dieses Fachausschusses. Ich habe nichts davon gehört, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Personen dieses Gespräch mit der Bundesärztekammer gesucht hätten. Vielmehr beschäftigen Sie sich erst jetzt damit, nachdem ein schrecklicher Fall eingetreten ist. Das ist Ihre politische Verantwortung, aus der wir Sie auch in einer Debatte zu einer Großen Anfrage nicht entlassen können. ({1}) Es tut mir schrecklich Leid. Solche Dinge dürfen nicht immer erst angegangen werden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern müssen kontinuierlich überprüft und bearbeitet werden. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Wodarg.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu dem, was wir in den letzten Minuten gehört haben, kann ich nur sagen, dass vielen von uns im Deutschen Bundestag, als wir das Transplantationsgesetz machten, bewusst war, dass die Bundesärztekammer keine Institution ist, für die es irgendeine Fachaufsicht gibt, sondern ein Verein, wie es die Staatssekretärin sagte. Zu Verträgen gehören immer zwei Partner. Man kann jemanden, auf den man gar keinen Zugriff hat, nicht dazu zwingen, Verträge zu machen oder auf Dinge einzugehen, die überhaupt nicht existieren. Von daher kann man das nur zurückweisen. Wir sollten daraus lernen und in Zukunft die Bundesärztekammer nicht einspannen, wo wir doch wissen, dass wir sie nicht beeinflussen können, dass es keine Fachaufsicht gibt. Das gilt auch für andere Gesetze. Diesen Fehler haben wir nicht nur einmal gemacht. ({0}) Der Titel Ihrer Großen Anfrage lautet: „Förderung der Organspende“. Die Bundesregierung hat sie sehr umfangreich beantwortet. Aber wenn Sie ein bisschen besser aufgepasst hätten, ({1}) dann hätten Sie wahrgenommen, was die Bundesregierung in ihrer Verantwortung zu diesem Thema schon alles geleistet hat und welche Informationen sie gegeben hat. Dann hätten Sie auch die Broschüre des RobertKoch-Instituts zu diesem Thema lesen können und hätten die meisten Fragen gar nicht zu stellen brauchen; denn sie waren schon beantwortet. ({2}) - Das war lange vor diesem Termin, lange vor der Großen Anfrage. Die BZgA hat im ersten Jahr in der Tat sehr viel finanziert, weil es darum ging, das Transplantationsgesetz umzusetzen und Akzeptanz für dieses Gesetz herzustellen. Wenn Sie immer das erste Jahr damit vergleichen, was jetzt ausgegeben wird, dann verzerren Sie das Bild gewaltig. ({3}) Ich möchte aber jetzt auf die Konflikte zu sprechen kommen, die wirklich eine große Rolle spielen, wenn es darum geht, ob Menschen ihre Organe spenden wollen oder nicht. Dies wird auf verschiedenen Ebenen entschieden. Ein ganz wichtiger Raum ist das Krankenhaus, in dem in den meisten Fällen nicht der Patient, der vorab eine schriftliche Willenserklärung hinterlassen hat, entscheidet - das sind nur sehr wenige -, sondern die Angehörigen, die in dieser schrecklichen Situation unter starkem Druck stehen. Die Angehörigen stehen unter Druck. Sie brauchen Zeit, sie brauchen Raum, sie brauchen Besinnungszeit. Sie sollten unabhängig informiert werden. Sie sollten auch über das informiert werden, was ihnen später an Gedanken alles kommen könnte. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, damit sie ihre Entscheidung später nicht bereuen. Ich denke, das geschieht zu wenig. Wenn man die Berichte über die Vorwürfe liest, die sich Angehörige machen - egal ob sie so oder so entschieden haben -, dann muss man feststellen: Hier ist etwas zu tun. Wir müssen den Angehörigen, um die Akzeptanz zu verbessern - ob nun für oder gegen eine Organspende -, diesen Raum schaffen. Wir haben auch bei den Ärzten in den Krankenhäusern Konflikte: Der Arzt, der normalerweise für den Patienten da ist, ihm helfen will, ihn retten will, hat es schwer, plötzlich in eine andere Rolle zu schlüpfen „den Schalter umzulegen“, wie das in der Anhörung hieß. Musste er eben noch alles dafür tun, um den Patienten zu retten, soll er jetzt plötzlich daran denken, dass man Teile des Patienten brauchen kann, um jemand anderem zu helfen. Das ist eine völlig andere Aufgabe. Dieser Konflikt ist - das kann ich als Arzt sagen - kaum zu lösen. Ich denke, wir müssen es auch respektieren, wenn in einigen Krankenhäusern Ärzte davor zurückschrecken. Nur weil der Deutsche Bundestag mit Zweidrittelmehrheit beschlossen hat, dass die Organspende auf eine bestimmte Art und Weise geregelt wird, ist damit das Gewissen der Ärzte noch keineswegs beruhigt. Es gibt weiterhin Bedenken. Das Konstrukt des Hirntodes ist - wie es in der Anhörung der Anästhesist Professor Briegel formuliert hat und wie es auch der Transplantationsmediziner selbst sagt - widersprüchlich. Die Konflikte, die mit dieser gesetzlichen Festlegung verbunden sind, beschäftigen immer noch die Köpfe der Menschen. Damit müssen wir ehrlich umgehen. Wenn wir das nicht tun und wie die Transplantationsmediziner immer wieder sagen: „Das ist jetzt gesetzlich geregelt; damit wollen wir nichts mehr zu tun haben; das muss jetzt so akzeptiert werden“, verdrängen wir diese Konflikte, anstatt Akzeptanz zu schaffen. Dann ziehen sich Menschen zurück und es kommt zu solchen Dingen, wie wir sie jetzt in den Krankenhäusern beobachten. Auch beim Pflegepersonal in den Krankenhäusern gibt es riesige Konflikte: Stellen Sie sich vor, dass Sie jemanden gepflegt haben, vielleicht als OP-Schwester sogar dabei gewesen sind, wie jemand operiert wurde, um sein Leben zu retten, und nun akzeptieren müssen, dass der Patient irgendwann, meistens nachts, explantiert wird und dass der Patient, dessen Herz noch schlug, der noch ganz normal aussah - wie immer, auch dann noch, als die Diagnose „Hirntod“ gestellt wurde -, plötzlich zum Objekt derjenigen wird, die ihm Material entnehmen wollen, dass er kalt und blass und richtig tot wird, gewissermaßen ein zweites Mal stirbt. Das ist etwas, was nicht leicht zu verdauen ist; das kann man bei Interviews mit Pflegekräften immer wieder sehen. Wir müssen uns nicht nur über die Organspende unterhalten, sondern auch darüber, wie wir es schaffen können, dass weniger Nieren benötigt werden. Wir müssen mehr für Prävention tun. Die Leute nehmen sehr viel Schmerzmittel. Jetzt soll sogar die Werbung für Medikamente ausgeweitet werden; jedenfalls wollen das einige - ich will das nicht. Es muss darüber aufgeklärt werden, was die Ursachen für Nierenversagen sind. Der Aufwand, den wir für Organtransplantationen betreiben, und der Aufwand, den wir für Prävention betreiben, stehen in einem krassen Missverhältnis: Ein Drittel der Nieren, die versagen, und damit ein Drittel der Organtransplantationen, die nötig werden, wären nicht erforderlich, wenn wir mehr täten, um Diabetes vernünftig einzustellen, um Bluthochdruckerkrankungen vernünftig zu behandeln und um den Arzneimittelabusus, der zu Nierenschäden führt, zu verringern. ({4}) Ich denke, das sollten wir beim Präventionsgesetz genauso berücksichtigen wie bei der Diskussion zur Neuregelung der Organspende. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Lanzinger. ({0})

Barbara Lanzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003499, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir dank dieser Großen Anfrage heute im Plenum über Organspende debattieren können. Auch ich denke, dass die Öffentlichkeitsarbeit ein ganz wichtiger Punkt ist, um die Aufklärung, die wir über dieses Thema brauchen, zu erreichen. Diese Große Anfrage hat gezeigt, dass das Transplantationsgesetz zu einem hohen Maß an Rechtssicherheit geführt hat und eine unverzichtbare Grundlage für die Vertrauensbildung der Bevölkerung bei den Themen Organspende und Transplantation ist. ({0}) Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass ein wesentliches Ziel, das mit dem Gesetz verfolgt wird, nämlich die Erhöhung der Anzahl postmortaler Spenden, nicht, wie ursprünglich sicherlich gehofft, erreicht wurde. Ich frage mich: Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht, weil wir ein Stück weit zu wenig darüber sprechen - das ist heute Gott sei Dank schon ein paar Mal angeklungen -, dass dies kein abstraktes Gesetz ist, über dessen Auswirkungen und Umsetzungen wir nachdenken müssen, sondern ein Gesetz, welches ganz elementare Schicksale von Menschen berührt. Es geht um die Schicksale Sterbender, die oft mitten aus dem Leben gerissen wurden, trauriger und zum Teil unter Schock stehender Angehöriger, bangender und hoffender Schwerstkranker sowie deren Angehöriger. Die Werbung für mehr Organspenden bedarf deshalb einer überaus großen Sensibilität sowie einer frühzeitigen, behutsamen und beständigen Aufklärung. Es geht um die Aufklärung, Schulung und Bewusstmachung vor allem der jungen Menschen, des medizinischen Pflegepersonals, der Ärzte - es wurde schon angesprochen und der Bürgerinnen und Bürger, dass die Bereitschaft zur Organspende nach dem eigenen unausweichlichen Tod bedeutet, das Leben und die Lebensqualität eines anderen Menschen zu verbessern oder das Leben sogar retten zu können. Dass unsere Gesellschaft zu wenig darüber aufgeklärt ist, was ein Ja zur Organspende heißt, zeigt die einerseits generell hohe Zustimmung zur Organspende und die andererseits enttäuschende Zahl derer, die tatsächlich einen Ausweis bei sich tragen; auch das wurde schon erwähnt. Es gilt, diese Diskrepanz zu überwinden. Ich bedanke mich für diese Anfrage; denn sie zeigt sehr deutlich, dass einige Bundesländer hier einen sehr guten und richtigen Weg gegangen sind, zum Beispiel Niedersachsen und Bayern. In ihnen wurde das Thema Organspende bereits fest im Unterricht verankert. Ich würde mir das auch in anderen Bundesländern wünschen. ({1}) Auch die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation erfolgte Einladung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrer in Bayern in das Transplantationszentrum Großhadern ist ein richtiger und ganz wichtiger Weg, den es auch in anderen Bundesländern fortzusetzen gilt. ({2}) Es gilt in der Tat auch - das sage ich ganz bewusst und ich weiß, dass das sicherlich umstritten ist -, darüber nachzudenken, die Zustimmung zur und vielleicht sogar auch die Ablehnung der Organspende in ein offizielles Dokument aufzunehmen. So wäre jeder Einzelne verpflichtet, sich zumindest einmal in seinem Leben mit dem Thema Organspende und damit auch mit seiner Endlichkeit auseinander zu setzen. Ein weiteres Augenmerk bei der Aufklärung und Information muss auf die Kliniken gerichtet sein, wie das auch in der Großen Anfrage deutlich wird. So haben einige Länder die Krankenhäuser mit Intensivbetten durch ihre Ausführungsgesetze zum Transplantationsgesetz dazu verpflichtet, Transplantationsbeauftragte zu bestellen. Das zeigt deutlich, dass dies vorteilhaft ist. Dies sind in der Regel und sinnvollerweise - wie bei mir zu Hause in Amberg - Oberärzte der Intensivklinik oder auch der Anästhesie. Diese sagen mir: Die Ärzte brauchen das Bewusstsein für die Organspende und den Willen sowie die Bereitschaft, mit den Angehörigen zu reden. Der Organspendeausweis allein hilft sicherlich nicht über die psychologisch schwere Aufgabe hinweg, ({3}) zu erklären, dass ein hirntoter Mensch zwar den Eindruck erwecken kann, noch zu leben - Kollege Wodarg hat es vorhin gesagt -, seine Organe jetzt jedoch einem anderen Menschen das Leben retten könnten. Es ist ein ungeheures Spannungsfeld. Die Angst vor dieser Gesprächssituation ist sicherlich mit ein Grund dafür, dass das Meldeverhalten in den Kliniken vielfach nicht so ist, wie es sein sollte. ({4}) Ein ganz wesentlicher Grund ist aber auch der bürokratische und finanzielle Aufwand, weil es für eine Klinik ungeheuer viel bedeutet, einen Organspender am Leben zu erhalten. ({5}) Seit Januar 2004 gibt es folgende neue Regelung, die sehr zu begrüßen ist: Den Krankenhäusern wird jede Bemühung um eine Organspende vergütet, auch wenn die Organe nicht übertragbar sind oder die Angehörigen nicht zustimmen. So wird in Bayern der Transplantationsbeauftragte für jede Beratung entlohnt, nicht nur bei erfolgreicher Transplantation. Dies schafft Anreize für Aufklärung. Daran könnten sich auch andere Bundesländer orientieren. ({6}) Zum Schluss ein mir sehr wichtiger Punkt. Letzte Woche diskutierten wir hier im Plenum die Patientenverfügung, eine Vorausverfügung, die für den Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit festlegt, dass der Betroffene in bestimmten Situationen nicht unnötig am Leben erhalten werden muss.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie können jetzt nur noch einen kurzen Schlusssatz anfügen.

Barbara Lanzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003499, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unterhalten wir uns mit den Menschen über die Organspende, stellen wir häufig die genau umgekehrte Angst fest. Das ist eigentlich paradox. Diesen Widersinn müssen wir aufheben. Wir müssen die Ängste und Nöte der Menschen ernst nehmen. Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig, zu vermitteln, dass es um Lebensrettung und den Lebenserhalt geht, eine Hilfe, die jeder von uns vielleicht einmal braucht. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kirschner. ({0}) - Ich denke, wir führen jetzt die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt zu Ende. Danach können wir alles Mögliche besprechen.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch sind wir bei der Großen Anfrage und der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU zum Transplantationsgesetz. ({0}) Ich möchte eine Bemerkung zu Ihnen machen, Frau Kollegin Klöckner. Das Transplantationsgesetz - das können Sie den Kollegen Seehofer fragen - geht nicht auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurück. ({1}) Es lagen damals drei Entwürfe vor. Obwohl die Meinungen damals quer durch alle Fraktionen gingen, haben wir 1997 mehrheitlich ein Gesetz beschlossen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Dieses Gesetz hat sich bewährt. Es hat eine bundeseinheitliche Grundlage für Spende, Entnahme und Übertragung von Organen geschaffen, damit schwerst- und todkranken Menschen geholfen werden kann. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir dieses Thema zum Gegenstand von Parteienstreit machen; dafür eignet es sich nämlich nicht, das kann auf anderen Feldern geschehen. ({2}) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Mit dem Transplantationsgesetz - deshalb haben wir es auch beschlossen - wurde ein hohes Maß an Rechtssicherheit geschaffen. Das gilt sowohl für die Spender und deren Angehörige als auch für die Empfänger und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Die damals getroffene Entscheidung zur erweiterten Zustimmungslösung, nach der die Organentnahme nur in Betracht kommt, wenn zuvor der Tod des Organspenders festgestellt ist und der Verstorbene zu Lebzeiten eingewilligt hat oder - wenn keine Erklärung des Verstorbenen bekannt ist - die gesetzlich bestimmten nächsten Angehörigen zustimmen, hat sich als richtig erwiesen. Dies kann man nach fast acht Jahren seit In-Kraft-Treten des Gesetzes als Bilanz ziehen. ({3}) Aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage kann man erkennen, dass die unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen für die Organentnahme, Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung - auch das muss man einmal sehen -, kaum Einfluss auf die Zahl der Transplantationen haben. So weist zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern - ich nehme dieses Beispiel, weil es den Unterschied deutlich macht - eine höhere Anzahl an Organspendern je Million Einwohner auf als beispielsweise Belgien, wo die Widerspruchsregelung gilt. Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den Lebendorganspenden machen. Dazu möchte ich anführen, dass ich die entschiedene Ablehnung jeglicher Anreizsysteme sowie eines regulierten Organhandels durch die Mehrheit in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ - das ist meine Meinung - für richtig halte. ({4}) Die Enquete-Kommission empfiehlt, bei der Lebendspende keine finanziellen Anreize zuzulassen und darüber hinaus den Handel mit Organen weiterhin zu verbieten und unter Strafe zu stellen. ({5}) Ich halte auch die Auffassung des Präsidenten der Bundesärztekammer - das ist keine Körperschaft des öffentlichen Rechts -, Herrn Professor Hoppe, für richtig, der sich in einem Interview gegen jede Ausweitung der Lebendorganspende ausgesprochen hat. Diese sollten die absolute Ausnahme bleiben. Ebenso gebe ich Herrn Professor Hoppe Recht, wenn er dazu aufruft, der Gesellschaft noch stärker die Sinnhaftigkeit der Organspende zu vermitteln. Die Antwort der Bundesregierung belegt auch, dass mit einer kontinuierlichen, umfassenden und sachlichen Aufklärung der Bevölkerung ein wesentlicher Beitrag zur Erhöhung der Organspendenbereitschaft geleistet werden kann. Hier sind vor allem die Länder, die Krankenhäuser - die Krankenhäuser haben die Meldepflicht; das muss man immer wieder sagen - und die Krankenkassen gefordert. Das belegt die Antwort auf Ihre Große Anfrage. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat bisher ihren Beitrag geleistet und wird dies auch weiterhin im Rahmen der Kampagne „Organspende schenkt Leben“ tun. Frau Kollegin Widmann-Mauz und Herr Kollege Parr, eines ist aber auch klar: Man kann nicht auf der einen Seite die Parole „Sparen, sparen, sparen“ ausgeben - das gilt generell und auch für den Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung -, auf der anderen Seite aber Mehrausgaben fordern. Das passt einfach nicht zusammen. Man kann nicht selektiv sagen, dass man an der einen Stelle nicht sparen will, generell aber schon. ({6}) In diesem sensiblen Bereich der Organspende und Organtransplantation werden Sie keinen Blumentopf gewinnen. Dieses Thema eignet sich nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung. ({7}) Ich will Sie an etwas erinnern, bei dem Sie genauso die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen, wie wir das tun werden. Die 77. Gesundheitsministerkonferenz der Länder hat in einem Beschluss vom 18. Juni 2004 festgestellt, dass die Verbesserung der Organspendesituation eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern, GKV und PKV ist. Als wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Zahl der Organspenden hat die Gesundheitsministerkonferenz in diesem Beschluss eine engagierte Mitwirkung an der Organspende durch die Krankenhäuser sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Transplantationszentren und den anderen Krankenhäusern identifiziert. Die Länder sind hier gefordert - diese nämlich sind für die Krankenhäuser zuständig -, für die Umsetzung des Transplantationsgesetzes alles Notwendige zu veranlassen. Das ist eine schwierige Situation für das Personal. Das wissen wir alle. Wenn man aber mehr Organspenden für notwendig erachtet, dann bietet das Gesetz die Chancen dazu. Auf der anderen Seite aber sind die Länder - das möchte ich noch einmal sagen die Aufsichtsorgane für die Krankenhäuser. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Meldepflicht, die dezidiert im Gesetz steht, entsprechend wahrgenommen wird. Organspende und -transplantation sind in vielen Fällen die einzige und letzte Möglichkeit, Leben zu erhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in diesem Sinne sachlich, aber mit Empathie für die Betroffenen darauf hinarbeiten, dass erkannte Defizite - das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage - ausgeräumt werden können und die Zahl der Organtransplantationen gesteigert werden kann. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Eine Abstimmung ist nicht vorgesehen, weil es um die Beantwortung einer Großen Anfrage ging. Ich möchte all denen, die es noch nicht mitbekommen haben, sagen, dass in Schleswig-Holstein bei der Wahl der Ministerpräsidentin bzw. des Ministerpräsidenten eine Stimmengleichheit von 34 zu 34 herrscht, also nie- mand gewählt worden ist. Der Ältestenrat des Landtags von Schleswig-Holstein ist zusammengetreten, um zu beraten, wie man weiter verfährt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 h auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 61. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen - Reform und Nor- mensetzung für einen verbesserten Menschen- rechtsschutz - Drucksache 15/5118 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Holger Haibach, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Die 61. Tagung der VN-Menschenrechtskom- mission als Chance zur Reform - Mehr Enga- gement für Menschenrechte weltweit - Drucksache 15/5098- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechts- lage Ratsdok. 11922/1/04 REV 1 - Drucksachen 15/4001 Nr. 1.1, 15/4757 - Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Strässer Thilo Hoppe d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck ({2}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nepal - Menschenrechte schützen und Gewalt beenden - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrich Heinrich, Daniel Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Einhaltung der Menschenrechte in Nepal - Drucksachen 15/4397, 15/3231, 15/4899 Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Graf ({4}) Rainer Eppelmann Rainer Funke e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Eu- ropäischen Menschenrechtskonvention - Drucksachen 15/4405, 15/4898 - Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Christoph Strässer Rainer Funke f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Funke, Daniel Bahr ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechte in der Volksrepublik China einfordern - Drucksachen 15/4402, 15/4953 Berichterstattung: Abgeordnete Volker Neumann ({8}) Thilo Hoppe g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Holger Haibach, Dr. Martina Krogmann, Melanie Oßwald, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU Presse- und Meinungsfreiheit im Internet weltweit durchsetzen - Journalisten, Men- schenrechtsverteidiger und private Internet- nutzer besser schützen - Drucksachen 15/3709, 15/5040 - Berichterstattung: Abgeordnete Christa Nickels Christoph Strässer Rainer Funke h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die mandatsgebundene Begleitung VNmandatierter Friedensmissionen durch Menschenrechtsbeobachter - Drucksache 15/4946 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({11}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Bärbel Kofler.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der diesjährige Antrag der Regierungskoalition zur 61. Menschenrechtskonferenz in Genf konzentriert sich auf zwei Themen: zum einen auf die Reform der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, zum anderen auf die Verantwortung multinationaler Unternehmen bei der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten. Beide Themen sind für den Menschenrechtsschutz von grundlegender und zukunftsweisender Bedeutung. Es gilt jetzt, die richtigen Weichen zu stellen, damit wir im Zusammenwachsen der Welt die Menschenrechte effektiv gewährleisten können. Gerade die Reformvorschläge der Hochrangigen Gruppe für Bedrohung, Herausforderung und Wandel sind wegweisend für eine Neuorientierung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Alle Reformansätze, die wir in unserem Antrag unterstützen, haben ein gemeinsames Ziel: die Menschenrechtskommission in ihrer inhaltlichen Arbeit zu stärken und dem Menschenrechtsschutz vor anderen politischen Interessen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. Um dies zu erreichen, unterstützen wir insbesondere den Vorschlag der Hochrangigen Gruppe, die Menschenrechtskommission von den bisher 53 Mitgliedstaaten auf eine universelle Mitgliedschaft aller Staaten der UN zu erweitern. Eine universelle Mitgliedschaft führt zu einer stärkeren Legitimität der Kommission. Gleichzeitig entzieht sie den politischen Auseinandersetzungen über die Zusammensetzung der Menschenrechtskommission den Boden. Nur eine universelle Mitgliedschaft führt zu einer universellen Akzeptanz. Eine Mitgliedschaft von Konditionen abhängig zu machen ist nicht hilfreich. Eine Aufspaltung in gute und weniger gute Staaten wird den Menschenrechtsschutz nicht beflügeln. Die Universalmitgliedschaft ist ein wichtiger Schritt, um die Menschenrechtskommission in ihrer politischen Rolle aufzuwerten. Man kann einwenden, dass Entscheidungsprozesse einer universell besetzten Menschenrechtskommission langwieriger sein werden als bisher. Eine universelle Kommission kann sich aber verstärkt auf Sachfragen konzentrieren. Die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen in die Arbeit der Kommission wird dabei auch in Zukunft unerlässlich sein. Eine wohl erwogene Entscheidung der Kommission zum Schutz der Menschenrechte, die eine allgemeine Akzeptanz genießt und durchsetzbar ist, ist das Ziel, das wir auf diese Weise erreichen wollen. ({0}) Auch der empfohlene Jahresbericht der VN-Hochkommissarin für Menschenrechte wird die inhaltliche Arbeit der Kommission stärken. Er ermöglicht eine vertiefte Erörterung der Ländersituation in der MRK und stellt diese auf eine breitere und objektivierte Basis. Der Jahresbericht darf aber nicht als Ersatz für die Länderresolutionen der MRK dienen. Auch in einer reformierten Menschenrechtskommission sollte das Instrument der Länderresolution nicht fehlen. Uns ist sehr wohl bewusst, dass Länderresolutionen oft wenig Akzeptanz genießen und häufig mit Nichtbefassungsanträgen bekämpft werden. Grundsätzlich ist es dem globalen Menschenrechtsschutz aber zuträglich, wenn das Spektrum der Mittel zur Kontrolle und Durchsetzung der Menschenrechte breit angelegt ist. Der Antrag der Opposition von CDU/CSU zur diesjährigen MRK widmet sich ebenfalls dem Thema der Reformen der Vereinten Nationen. Es freut uns sehr, dass Sie die Wichtigkeit dieses Themas erkannt haben. ({1}) In einigen Punkten sind wir auch einer Meinung. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch - ich habe schon darauf hingewiesen -, nämlich hinsichtlich der Universalität der MRK-Mitgliedschaft. Wir unterstützen aus gutem Grund den Expertenvorschlag. In Ihrem Forderungskatalog listen Sie zudem so viele weitere Forderungen auf, dass man beinahe glauben könnte, die Tagesordnung der Menschenrechtskonferenz vor sich zu haben. ({2}) Leider sind diese Punkte inhaltlich kaum unterfüttert. Vor allem Ihre letzte Forderung, dass die Bundesregierung dem Bundestag bis Mai Bericht erstatten soll, kann ich nicht nachvollziehen, da wir alle doch im Menschenrechtsausschuss vor und nach den MRK-Sitzungen stets gut informiert werden. Wir werden Ihren Antrag daher ablehnen. Das zweite Thema unseres Antrags ist die Verantwortung international arbeitender Unternehmen bei der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten. Dieses Thema verdient besondere Aufmerksamkeit, da in letzter Zeit vonseiten der Wirtschaft und im konstruktiven Dialog mit Regierungen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und international arbeitenden Nichtregierungsorganisationen vieles auf einen guten Weg gebracht wurde. Dieses Thema fehlt im Antrag der Opposition trotz seiner Aktualität leider völlig, obwohl dazu bereits eine Anhörung im Menschenrechtsausschuss stattgefunden hat. Unumstritten ist, dass die universelle Wahrung der Menschenrechte eine staatliche Aufgabe ist. Unbestritten ist heute aber auch, dass gerade multinationale Unternehmen den Menschenrechten aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichen Ebenen verpflichtet sind. Der globale, der wirtschaftliche und damit auch der politische Einfluss eines Unternehmens geht mit der Verantwortung für die sozialen Folgen einer globalen Wirtschaftstätigkeit einher. Dies gilt insbesondere in Ländern, in denen der Menschenrechtsschutz von staatlicher Seite nicht hinreichend gewährleistet wird oder nicht umgesetzt werden kann. Die Beispiele hierfür sind zahlreich. Man denke nur an China oder den Kongo. Die Liste ist lang und kann beliebig fortgesetzt werden. Unternehmen betreiben eine an wirtschaftlichen Interessen orientierte Informationsarbeit gegenüber Regierungen in Fragen des Handels- und des Steuerrechts. Warum also nicht auch eine entsprechende Informationspolitik, was die Förderung und den Schutz der Menschenrechte betrifft? Denn letztlich ist ein humanes und rechtlich stabiles Arbeitsumfeld für ein Unternehmen Grundvoraussetzung für die nachhaltige Wirtschaftlichkeit seiner Arbeit. Das beweisen Beispiele. Wenn man an das Aidspräventionsprojekt von Daimler-Chrysler in Südafrika denkt, dann weiß man, dass die Wirtschaft hier bereits auf einem guten Weg ist. Ein Beispiel für die freiwillige Selbstverpflichtung von transnationalen Unternehmen zum Schutz der Menschenrechte ist die Initiative des Global Compact. Diese zeigt, dass sich Unternehmen zunehmend ihren sozialen Pflichten stellen. Solche Initiativen zur freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft werden auch künftig unsere volle Unterstützung haben. Der Dialog zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist dabei wesentlich und erfährt unsere Förderung. Ein weiterer interessanter Ansatz ist der Entwurf neuer UN-Normen zur Unternehmensverantwortung. Mit diesem Katalog von 23 Normen wird grundsätzlich an der primären Verantwortung der Staaten für den Menschenrechtsschutz festgehalten. Jedoch wird auch den Unternehmen eine rechtliche Verpflichtung zugeordnet. In ihrem jeweiligen Einflussbereich sind auch Unternehmen zur Wahrung und Förderung der Menschenrechte angehalten. Ein weltweit agierendes Unternehmen trägt aufgrund seines weit reichenden Einflusses folglich größere Verantwortung als ein Mittelständler. Dazu gehört auch, dass ein Unternehmen keinen Nutzen aus Menschenrechtsverletzungen anderer ziehen darf, also nicht zum Komplizen werden darf. Auch wenn über den UN-Normenentwurf zur Unternehmensverantwortung im Einzelnen noch diskutiert wird, ist an der Gültigkeit dieses grundsätzlichen Postulats nicht zu zweifeln. Ein konstruktiver Dialog über die menschenrechtliche Verantwortung der Unternehmen wird daher von uns im Rahmen der diesjährigen Menschenrechtskonferenz aktiv begleitet werden. In nächster Zeit gilt es neue Weichen für einen effektiven Menschenrechtsschutz zu stellen. Lassen Sie uns bitte alle konstruktiv daran mitarbeiten! Danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen steckt in einer tiefen Krise. Das hat die VNHermann Gröhe Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, zu Beginn der diesjährigen Tagung der VN-Menschenrechtskommission am Montag dieser Woche unumwunden eingeräumt. Als Beispiel für ihre deutliche Kritik hat sie das Versagen der Vereinten Nationen wie der Staatengemeinschaft genannt, das anhaltende Blutvergießen im sudanesischen Darfur zu beenden. Sie sprach davon, die VN-Menschenrechtskommission sei ihrer „kollektiven Verantwortung“ nicht gerecht geworden. Am gestrigen Tag hat der VN-Sondergesandte für den Sudan, Pronk, erklärt: Die Dschandschawid-Milizen haben gedroht, dass sie künftig Ausländer und UN-Konvois angreifen werden. Deshalb haben wir alle Mitarbeiter in die Hauptstadt abgezogen. Gleichzeitig gehen die Vereinten Nationen nach neuesten Schätzungen davon aus, dass in den vergangenen 18 Monaten 180 000 Menschen durch Krankheit und Hunger als Folge der gewaltsamen Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sind. Der VN-Koordinator für humanitäre Hilfe, Egeland, hält 10 000 Tote pro Monat für eine „vernünftige Schätzung“. In diesen Zahlen sei aber die Zahl der bei den Kämpfen zwischen Milizen und Rebellen umgekommenen Menschen noch gar nicht enthalten. Während sich aber die UNO-Mitarbeiter aus Darfur zurückziehen und das Morden, Vergewaltigen und Brandschatzen anhält, wird man wohl auf eine eindeutige Verurteilung der mit den arabischen Milizen kooperierenden Regierung in Khartoum durch die VN-Menschenrechtskommission erneut vergeblich warten müssen. Vielmehr ging die Solidarität der afrikanischen Staaten mit dem Regime in Khartoum so weit, dass sie just in dem Moment, als die Gewalt in Darfur eskalierte, den Sudan erneut als Vertreter des afrikanischen Kontinents in die VN-Menschenrechtskommission entsandten. Weil aber viele Mitglieder dieses wichtigsten Menschenrechtsgremiums der Völkergemeinschaft selbst schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig sind, finden sich stets Koalitionen zusammen, die die Menschenschinder vor einer eindeutigen Verurteilung bewahren. ({0}) Wenn wir die VN-Menschenrechtskommission vor einem völligen Abgleiten in die Unglaubwürdigkeit und damit in die Bedeutungslosigkeit bewahren wollen, muss die Völkergemeinschaft die Kraft zu tief greifenden Reformschritten haben. Wir sollten als deutsches Parlament ehrgeizige Ziele für einen derartigen Reformprozess formulieren, beschließen und damit der Bundesregierung mit auf den Weg geben. ({1}) Heute diskutieren wir zwei Anträge zur Reformbedürftigkeit der VN-Menschenrechtskommission. Gerade weil wir im Menschenrechtsausschuss des Bundestages häufig an einem Strang ziehen, gestatten Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, die Offenheit: Angesichts der dramatischen Situation innerhalb der VN-Menschenrechtskommission bleibt Ihr Antrag bedauerlich unscharf und allgemein. Dort werden keine Ziele benannt, deren Erreichung zu einer durchgreifenden Stärkung des VN-Menschenrechtsschutzsystems führen würde. So passt es eben überhaupt nicht zu Ihrer Aussage, den parlamentarischen Einfluss in den VN-Menschenrechtsmechanismen stärken zu wollen, wenn der Deutsche Bundestag nach Ihrem Willen wahrlich nur sehr allgemeine, man könnte auch sagen: nichts sagende Forderungen an die Bundesregierung richten soll. Die Annahme Ihres Antrages wäre ein Zeichen der Resignation angesichts der dramatischen Situation in der Menschenrechtskommission. Unser Antrag, der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist wesentlich konkreter und benennt ehrgeizige, aber lohnende Ziele. Wesentlich intensiver, als dies in Ihrem Antrag geschieht, haben wir uns dabei mit den Vorschlägen der von Kofi Annan eingesetzten Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel auseinander gesetzt. Wichtige Vorschläge der Hochrangigen Gruppe finden unsere und auch Ihre Unterstützung. Dies gilt beispielsweise für den Vorschlag, dass der Sicherheitsrat die Hohe Kommissarin für Menschenrechte an seinen Beratungen aktiver beteiligt, sie vor Entscheidungen über Friedenseinsätze anhört und sich von ihr regelmäßig über die Umsetzung der menschenrechtsbezogenen Bestimmungen der Sicherheitsratsresolutionen unterrichten lässt. Bei anderen Vorschlägen der Hochrangigen Gruppe haben wir dagegen Bedenken. Dies gilt auch - Sie, Frau Kollegin Dr. Kofler, sprachen gerade diesen Punkt an für den Vorschlag, die Mitgliedschaft der VN-Menschenrechtskommission künftig auf alle VN-Mitgliedstaaten auszuweiten. Die Verwirklichung dieses Vorschlags, der in Ihrem Antrag eine gewisse Unterstützung erfährt, würde die Kommission nach unserer Auffassung nicht stärken, sondern ihre Arbeit weiter erschweren und beispielsweise nahezu zwangsläufig zu einer Zurückdrängung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Nichtregierungsorganisationen führen. Wir halten einen anderen Weg für angemessener. Wir sprechen uns daher dafür aus, die Mitgliedschaft in der Menschenrechtskommission an bestimmte grundlegende Bedingungen zu knüpfen. Dies ist übrigens auch die Position von Human Rights Watch und von weiteren internationalen Menschenrechtsorganisationen. So sollen potenzielle Mitglieder mindestens einen der beiden internationalen Menschenrechtspakte ratifiziert haben; zudem sollen sie uneingeschränkt zur Zusammenarbeit mit dem Hochkommissariat bereit sein und beispielsweise eine so genannte Standing Invitation für alle Sonderberichterstatter vornehmen. Es darf nicht länger sein, dass in Genf die schlimmsten Regime Koalitionen schmieden, um sich gegenseitig eine „weiße Weste“ zu bescheinigen. Deswegen brauchen wir das Instrument der Länderresolution. Dazu bekennen auch Sie sich in Ihrem Antrag, ohne aber ein einziges Land zu benennen, für das Sie dieses Instrument für angemessen halten. Sie verzichten darauf. Damit passen Sie sich aus meiner Sicht einer Leisetreterei an, die auch die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung auszeichnet. ({2}) Wenn dies so weitergeht, bleibt jede Glaubwürdigkeit auf der Strecke. Wer soll eine Menschenrechtskommission ernst nehmen, die sich zwar mutig zur Verurteilung von Birma und Nordkorea aufrafft, die ihren größtmöglichen Konsens in der Verurteilung israelischer Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten findet, die aber zur Lage im völlig zerbombten Grosny, zur anhaltenden Vernichtung der tibetischen Kultur und zu weiteren schwersten Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt kein Wort verliert? Das passt, wie ich sagte, zur Leisetreterei einer Bundesregierung, die das Waffenembargo gegen China in einer Zeit aufheben will, in der Kriegsdrohungen gegen Taiwan laut werden - Kollege Rose wird etwas dazu sagen -, und die zu den schockierenden Bildern aus Istanbul, wo unschuldige Demonstrantinnen, Frauen und Mädchen, niedergeknüppelt wurden, kein Wort verloren hat. Solche Leisetreterei ist unakzeptabel. ({3}) Es ist eben so, meine Damen und Herren, dass nirgends bei Rot-Grün ein so großer Graben zwischen eigenem Anspruch und konkretem Tun klafft wie gerade in der Menschenrechtspolitik. Mit einem positiven Beschluss über unseren Antrag können wir ein Zeichen dafür setzen, dass wir es ernst meinen mit einem entschiedenen Dampfmachen für Menschenrechte und mit entschiedenen Schritten hin zu einer ehrgeizigen Reform der VN-Menschenrechtsschutzsysteme. Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die in Genf tagende Menschenrechtskommission zu sprechen komme, auf Ihre Anträge und Reformvorschläge und auch auf den Vorwurf der Leisetreterei, erlauben Sie mir ein paar sehr grundsätzliche Anmerkungen: Es wird immer von der Unteilbarkeit der Menschenrechte gesprochen. Das ist auch gut so. Jeder Mensch, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, welcher Herkunft, sollte auf dieser Welt willkommen sein und ihm sollte ein Leben in Freiheit und Würde ermöglicht werden. Ihm stehen elementare Menschenrechte zu, auf die sich die Völkergemeinschaft im Grundsatz geeinigt hat. Diese Menschenrechte sollten auch nicht in die „eigentlichen“, die klassischen bürgerlichen Menschenrechte auf der einen Seite und die „neuen“, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte auf der anderen Seite aufgeteilt werden. Regierungen, die nur die eine Sorte von Menschenrechten hochhalten und die andere vernachlässigen, geraten in eine gefährliche Schieflage. Mit dem Hinweis auf ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitssystem lässt sich eben nicht die Inhaftierung und Folterung von Oppositionellen relativieren. Ich nenne als Beispiel Kuba. Der Hinweis auf Presse- und Versammlungsfreiheit hilft nicht den Hungernden, denen das Menschenrecht auf Nahrung vorenthalten wird. Statt auf dem einen oder dem anderen Auge blind zu sein, sollten wir Parlamentarier beide Augen weit aufmachen und uns mit Nachdruck für die Verwirklichung aller Menschenrechte einsetzen. Das heißt auch, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, egal, von wem sie begangen werden, egal, ob dem möglicherweise handelspolitische Interessen entgegenstehen könnten, und auch egal, ob der Menschenrechtsverletzer ein staatlicher oder ein nicht staatlicher Akteur ist, zum Beispiel ein Unternehmen. Ich habe auf dem letzten Kirchentag in Berlin mit einer Näherin aus einer Freihandelszone in El Salvador auf dem Podium gesessen. Sie hat von erniedrigenden Bedingungen berichtet. Sie hat in einem Zulieferbetrieb für einen international bekannten Sportartikelhersteller gearbeitet: 13 Stunden Arbeit pro Tag, zwei verordnete Toilettengänge, erniedrigende Bestrafungen bei geringem Fehlverhalten oder Arbeitsfehlern, und das alles zu einem Hungerlohn. Es ließ sich eine Fülle weitaus krasserer Beispiele benennen: Ich denke an Unternehmen, die ihren Profit aus ausbeuterischer Zwangsarbeit oder aus Kinderarbeit ziehen oder die beim Abbau von Gold ganze Flüsse vergiften. Für den Schutz der Menschenrechte sind in erster Linie die Nationalstaaten verantwortlich. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 werden aber alle Individuen, die Organe der Gesellschaft und auch die Wirtschaft in die Pflicht genommen. Deshalb ist es eigentlich auch nur folgerichtig, transnationale Unternehmen, von denen einige eine Kapitalstärke haben, deren Volumen das Kapital aller Staaten Afrikas zusammen übersteigt, stärker in die Pflicht zu nehmen. Die Vereinten Nationen, genauer gesagt die MRK-Unterkommission zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte, hat einen Entwurf für UN-Normen für transnationale Unternehmen vorgelegt. Wir setzen uns in dem heute vorliegenden Antrag dafür ein, dass auf der Grundlage dieses Vorschlages sehr konstruktiv und ernsthaft mit dem Ziel diskutiert wird, zu möglichst verbindlichen UN-Normen für transnationale Unternehmen zu kommen. Wir möchten, dass sich auch die Vertreter der Bundesregierung in diesem Sinne noch deutlicher positionieren und denjenigen Paroli bieten, die auf der diesjährigen Tagung diesen Dialogprozess möglichst schnell beerdigen wollen und allein auf freiwillige Initiativen setzen. Diese freiwilligen Initiativen, der Global Compact, Verhaltenkodizes, Partnerschaften und anderes, sind hochwillkommen, aber eben kein Ersatz für verbindliche Menschenrechtsnormen, die für alle gelten müssen. Von den 75 000 transnationalen Unternehmen sind bisher nur 2 Prozent dem Global Compact beigetreten und einen wirkungsvollen Überprüfungsmechanismus für die Einhaltung der zehn Grundsätze gibt es nicht. Wenn wir der Globalisierung ein menschliches Antlitz geben wollen, dann brauchen wir keine Versprechungen, deren Einhaltung nicht überprüft werden kann, sondern dann brauchen wir starke ökologische und soziale Leitplanken. Dazu könnten die UN-Normen für transnationale Unternehmen ein wichtiger Baustein sein. So weit zum Thema Unternehmensverantwortung. Ich freue mich, dass Tom Koenigs auf der diesjährigen Tagung der Menschenrechtskommission in Genf sich für das Recht auf Wasser stark macht. Wir werden darüber heute Abend anläßlich eines entsprechenden Antrags noch ausführlicher diskutieren. Ich begrüße auch sehr, dass er mit einer weiteren Veranstaltung auf die Besorgnis erregende Lage der indigenen Völker aufmerksam macht. Die Tsunamikatastrophe hat gezeigt, dass einige der indigenen in Stämmen lebenden Völker ein Wissen hüten, das uns verloren gegangen ist: ein kostenloses Frühwarnsystem der besonderen Art. Am Verhalten der Tiere erkannten sie die herannahende Katastrophe und zogen sich ins Hochland zurück. Diesen „Eingeborenen“ sollten wir nicht mit der Arroganz der Hochzivilisierten begegnen, sondern mit Respekt. ({0}) Auch unser Land sollte zum Schutz der indigenen Völker so schnell wie möglich die ILO-Konvention 169 ratifizieren. Ich hoffe sehr, dass ein entsprechender Koalitionsantrag möglichst noch parallel zu der in Genf tagenden Menschenrechtskommission hier ins Parlament eingebracht werden kann. Die Flutkatastrophe hat die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Südostasien gelenkt. Dabei darf die furchtbare Situation in Darfur - der Kollege Gröhe hat sie auch schon mit eindrücklichen Worten hier benannt - nicht in Vergessenheit geraten. Dort hat sich in der Tat das Flüchtlingselend weiter verschlimmert. Ich kann ihm nur zustimmen: Es ist ein Trauerspiel, dass auf der letzten Tagung der MRK in Genf dazu keine deutlichen Worte formuliert wurden. Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung sich ständig bemüht, dieses Thema auf die Agenda des Weltsicherheitsrates zu setzen. Doch wenn weiterhin einige Nationen - ich nenne hier ausdrücklich China - die schützende Hand heben, kommen wir in diesem Bereich nicht weiter. Ich hoffe sehr, dass trotz aller Misserfolge im letzten Jahr dieses Thema auch auf die Tagesordnung der MRK in Genf gesetzt wird und dass es diesmal gelingt, Blockadehaltungen aufzubrechen und zu deutlichen Worten zu kommen. Das Thema Nepal kann ich aus Zeitgründen nur ganz kurz streifen. Auch dort gibt es einen Besorgnis erregenden Bürgerkrieg, der von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Wir haben dazu heute einen Antrag eingebracht, der deutlich macht: Dieser Konflikt ist nicht mit Waffengewalt zu lösen, auch nicht durch Waffenlieferungen, wie sie einige europäische Nachbarstaaten vornehmen. Wir brauchen hier ernsthafte Verhandlungen, auch unter Einbeziehung Indiens. Jetzt zu den Vorschlägen zur Reform der MRK. Herr Gröhe, unser Antrag ist keine Leisetreterei. Wir haben alle wesentlichen Anregungen der Hochrangigen Gruppe der Vereinten Nationen aufgenommen. Auch uns ist klar, dass die Instrumente zum Schutz der Menschenrechte geschliffen und verbessert werden müssen. Nur in einem Punkt gibt es einen Dissens: Wir sehen ganz große Schwierigkeiten darin, den Kreis praktisch einzugrenzen und eine Qualifizierung für die Aufnahme in die Menschenrechtskommission zu fordern. Der Gedanke ist verständlich, aber bei der Umsetzung könnte es große Probleme geben, wenn wichtige Akteure diese Kriterien nicht erfüllen, wenn beispielsweise die USA aufgrund ihres Verhaltens in Guantanamo die Kriterien verfehlen. Man kann nicht verschiedene Kriterien festlegen: Für die Großen gibt es einen Extrabonus und für die Kleinen werden hohe Maßstäbe angelegt. Wir halten es für notwendig, mit allen Akteuren und mit allen Staaten der Vereinten Nationen ins Gespräch zu kommen. Wir hoffen, dass es dort mehr mutige Regierungen gibt, die Rückgrat zeigen und trotz aller handelspolitischen oder machtpolitischen Verflechtungen deutlich Flagge zeigen für den Schutz der Menschenrechte. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechte befinden sich nicht erst jetzt, mit Beginn der 61. Tagung der UN-Menschenrechtskommission in Genf, in der Defensive. Wir erleben das seit Jahren. Das ist besonders durch den 11. September 2001 deutlich geworden; denn gerade beim internationalen Vorgehen gegen Terrorismus wird die Menschenrechtslage in bestimmten Staaten nicht unbedingt angesprochen. Wir erleben häufig das Phänomen, dass sich nationale Parlamente in der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Staaten zwar einig sind, die Regierungen aber dennoch die in großer Übereinstimmung beschlossenen Resolutionen und Anträge nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder sie durch Regierungshandeln sogar negieren. ({0}) In Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Menschenrechtsschutzes haben wir auch hier im Deutschen Bundestag eine gewisse Krise. Hinsichtlich der Menschenrechtssituation in China zum Beispiel sind wir uns alle einig, dass sich der Bundestag, mit welchen Formulierungen auch immer, geschlossen dafür aussprechen muss, dass das EU-Waffenembargo gegenüber der Volksrepublik China nicht aufgehoben werden soll. Diese Einigkeit gilt auch für die europäischen Parlamentarier. Wir alle kennen die Menschenrechtslage in der Volksrepublik China, die leider nicht besser wird. Leider spricht sich die Bundesregierung für das Gegenteil aus. Sie betreibt innerhalb der EU eine andere Politik. Wie sollen Menschenrechte international, in internationalen Gremien mehr Gewicht erhalten, wenn es uns noch nicht einmal hier in Deutschland gelingt, die Bundesregierung politisch verantwortlich so an unsere Beschlüsse zu binden, dass sie in europäischen und auch in internationalen Gremien entsprechend auftreten kann? Von daher habe ich überhaupt keine Hoffnung, dass bei dieser Tagung der Menschenrechtskommission in Bezug auf China ein großer Erfolg erreicht werden könnte. ({1}) Ich habe mir die Mühe gemacht, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in den Protokollen des Deutschen Bundestages aus der 13. Legislaturperiode zu blättern. Am 27. Juni 1996 haben wir über die Menschenrechtslage in China diskutiert. Joseph Fischer, heutiger Außenminister, war damals Sprecher der Grünen, die zu jener Zeit in der Opposition waren. Er hat der Bundesregierung vorgeworfen - in Worten, die ich jetzt zu meinen eigenen Worten mache -: Deswegen müssen wir mit den Chinesen unnachgiebig über Menschenrechte, über tibetische Kultur und über den Schutz von Minderheiten in China sprechen. Wenn das Aufträge kostet, dann kostet es eben Aufträge. ({2}) Ich unterstelle nicht, dass die Aufhebung des EUWaffenembargos in erster Linie betrieben wird, um Rüstungsexporte zu promoten. Die Exporte in diese Region nehmen seit 1998 zu, auch vonseiten der Bundesregierung. Aber es zeigt, was für ein Auffassungswechsel stattgefunden hat; allein die Regierungsverantwortung kann nicht zu einer insgesamt vollkommen anderen Einschätzung führen. Ich könnte das auch in Bezug auf die Politik gegenüber Tschetschenien darlegen. Auch da waren die Worte von Herrn Fischer in der Opposition knallhart; heute spielen die großen Probleme, mit der Ausweglosigkeit, wie wir sie jetzt nach der Ermordung von Maschadow sehen, keine Rolle. Dort stellt sich ebenfalls die Frage nach der Unabhängigkeit der Justiz und danach, wie die Menschen in der Russischen Föderation ihre Meinung äußern können. Da werden mit Putin Umarmungen ausgetauscht, aber diese Themen werden leider ganz nach hinten verbannt. ({3}) Deshalb ist es für die FDP sehr wichtig, dass versucht wird, bei dieser 61. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf Akzente zu setzen. Dazu gehören unverzichtbare Reformansätze; diese Einschätzung teilen wir. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn es mit der MRK so weitergeht, dann wird sie nicht nur ein Desaster, sondern sie wird sich letztendlich selbst überflüssig machen. Das wäre schlimm nach dem, was an Menschenrechtsmechanismen und -verteidigung erreicht worden ist. Wir halten den Antrag der CDU/CSU in diesen Punkten, nicht nur weil er bedeutend konkreter ist, sondern weil er meiner Meinung nach richtige Ansätze findet, für sehr viel überzeugender. Die Argumente zu den Anforderungen an die Mitgliedschaft in der UN-Menschenrechtskommission sind noch nicht alle ausgetauscht. Denn: Auch der Europarat kennt sehr wohl Anforderungen an eine Mitgliedschaft. Um Mitglied des Europarates zu werden, müssen Mindestanforderungen erfüllt werden. ({4}) Zu fordern, dass internationale Pakte gezeichnet und ratifiziert werden und dass es eine uneingeschränkte Zusammenarbeit mit Berichterstattern gibt, damit Menschenrechtspolitik, die nur in der Öffentlichkeit stattfindet, funktionieren kann, ist in meinen Augen ein richtiger Ansatz. Es lohnt sich, einen Konsens in Genf und innerhalb der Delegation, die dorthin fährt, anzustreben. Recht herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Die 61. Tagung der Menschenrechtskommission wird noch mehr im Zeichen der Reformdebatte stehen als die Tagung im vergangenen Jahr. Heute liegen zwei Anträge zu dieser Tagung vor. Mein Kollege Hermann Gröhe hat die Vorschläge in unserem Antrag begründet, die ich für wesentlich konkreter und nachvollziehbarer halte - diese Meinung hat auch Frau Leutheusser-Schnarrenberger geäußert - als die Vorschläge in dem Antrag der Koalition. Es ist wichtig, dass wir diese Diskussion nicht nur formalistisch und mechanisch führen, sondern uns auch mit der Frage beschäftigen, ob die Menschenrechtskommission thematisch noch auf der Höhe der Zeit ist. Es geht zum einen um die Frage, welche Länder dort vertreten sein sollen, und zum anderen um die Frage, welche Themen behandelt werden sollen. Die Koalition spricht in ihrem Antrag beispielsweise von der menschenrechtlichen Verantwortung transnationaler Unternehmen. Dies ist sicherlich ein wichtiges Thema, mit dem man sich beschäftigen muss. Aber ich kann dann nicht verstehen, warum Sie im Ausschuss unserem Antrag zur Durchsetzung der Meinungs- und Pressefreiheit für das Internet nicht zustimmen konnten. Dies ist ein ganz entscheidendes Zukunftsthema, mit dem wir uns gerade im Zusammenhang mit der Meinungs- und Pressefreiheit zu beschäftigen haben werden. Denn das Internet ist das Massenmedium der Zukunft. Dieses Thema ist auch deshalb so wichtig, weil die Durchsetzung von Meinungs- und Pressefreiheit immer in einer bestimmten Relation zur Durchsetzung der Menschenrechte insgesamt steht. Es ist doch kein Zufall, dass die größten Menschenrechtsverletzer zumeist diejenigen sind, die die Meinungs- und Pressefreiheit, vor allem im Internet, besonders stark einschränken. Es geht hier also um die Frage, wie man grundsätzlich zu diesem Thema steht. Das Internet ist gerade in den Ländern, in denen der Zugang zur Information eingeschränkt ist, die beste Möglichkeit, an Informationen heranzukommen und sich auszutauschen. Aus diesem Grunde kann ich es einfach nicht verstehen, dass Sie im Ausschuss unseren Antrag abgelehnt haben. Ihre Begründung für die Ablehnung, dass unser Antrag eine Aufzählung enthalten habe, ist nicht stichhaltig. Wenn wir nämlich keine Aufzählung vorgelegt hätten, dann hätten Sie uns vorgeworfen, keine Beispiele genannt zu haben. Ihre Haltung ist also nicht konsequent und auch nicht konsistent. Es gibt Gründe, auch außerhalb der MRK an diesem Thema festzuhalten, zum Beispiel auf dem Weltinformationsgipfel, der im November dieses Jahres in Tunis stattfinden wird. Tunesien gehört zu denjenigen Ländern, die in besonderem Maße das Internet kontrollieren und in besonderem Maße die Meinungs- und Pressefreiheit einschränken. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung an dieser Stelle deutliche Worte findet. Wenn Vertreter der Bundesregierung jetzt anwesend wären, würde ich sie auffordern, an diesem Thema weiter festzuhalten. ({0}) Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, das Thema Menschenrechte zu behandeln. Das Wissen über Menschenrechte ist in Deutschland nicht sonderlich weit verbreitet. Das wurde in den letzten Jahren in einigen Artikeln dargelegt. 76 Prozent der Bevölkerung halten die Menschenrechte für wichtig, 40 Prozent sind bereit, sich zu engagieren, aber nur wenige tun es. Ich glaube, dass das Thema Internet in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen sollte. Man muss sich in Deutschland, in Europa und weltweit auf diesem Gebiet engagieren und die entsprechenden Themen zur Sprache bringen. Deswegen war die Vorlage des sechsten Jahresberichts der Europäischen Union zur Menschenrechtslage für uns wichtig. Es gab im Ausschuss eine Erörterung und eine gemeinsame Beschlussempfehlung. Einen Absatz aus dieser Beschlussempfehlung halte ich für so wichtig, dass ich ihn gerne vorlesen möchte: Der Deutsche Bundestag begrüßt die Verabschiedung der Leitlinien für Menschenrechtsverteidiger als wichtiges Instrument zur Stärkung des Rechtes auf Verteidigung der Menschenrechte. Er bittet die Bundesregierung, innerhalb der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass gefährdete Menschenrechtsverteidiger durch die vorgesehenen Interventionsmöglichkeiten der EU Hilfe und Unterstützung für ihre wichtige Arbeit erhalten. Wie passt das mit dem zusammen, was der Bundesaußenminister zusammen mit den anderen europäischen Außenministern in Bezug auf Kuba beschließt? Es soll keine Einladung an Dissidenten an kubanischen Nationalfeiertagen mehr geben. Das konterkariert all das, was wir gemeinsam beschlossen haben, es konterkariert das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ sowie das Programm zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger weltweit, das wir gemeinsam aufgelegt haben. Ich finde, auch das ist keine besonders konsequente und konsistente Handlungsweise. ({1}) Vielmehr ist es, denke ich, insgesamt ein falsches Zeichen. In diesem Zusammenhang könnte man sicherlich das Thema Chinapolitik erörtern. Im Hinblick auf die schon fortgeschrittene Zeit will ich das aber unterlassen. Deutschland sollte seine führende Rolle, die es ja gedenkt einzunehmen, wenn es sagt, die Achtung der Menschenrechte sei eine Querschnittsaufgabe in der gesamten Politik, weiterhin ausfüllen. Das gilt zum Beispiel auch - das Thema steht ja heute auf der Tagesordnung für die Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Da geht es um die Antidiskriminierung. Deutschland gehört zu den Erstunterzeichnern, wie man, wenn man auf die Homepage des Auswärtigen Amtes geht, sehr schnell feststellen kann. Das Auswärtige Amt rühmt weiterhin: Es ist somit eine wesentliche Ergänzung zur EMRK und bewirkt eine Stärkung ihres Kontrollmechanismus. Aha! Weiter heißt es: Der außenpolitische Nutzen dieses Protokolls liegt aus deutscher Sicht vor allem in der von ihm ausgehenden Rechtsvereinheitlichung in Diskriminierungsfragen in Europa. Wir gehören also zu den Erstunterzeichnern. Warum ist dann aber, so fragt man sich, in den letzten vier Jahren mehr oder weniger nichts passiert? ({2}) In einem Schreiben von Frau Ministerin Zypries - also aus einem anderen Ministerium, aber von der gleichen Bundesregierung - an den Lesben- und Schwulenverband Deutschlands aus dem letzten Jahr heißt es allerdings: Die Bundesregierung hält es daher zum jetzigen Zeitpunkt zunächst für wichtig zu beobachten, wie die weitere Entwicklung … ({3}). … Über die Frage der Ratifizierung wird danach zu einem späteren Zeitpunkt entschieden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das ist nicht besonders konsequent und konsistent. Ich kann uns alle nur auffordern, bei der anstehenden MRK zu einer gemeinsamen konsequenten und konsistenten Haltung in menschenrechtlichen Fragen zurückzukehren. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich kurz etwas zum Thema China und Waffenembargo sagen. ({0}) Ich erinnere Sie diesbezüglich an unseren Antrag aus dem letzten Herbst, in dem wir ganz klar gesagt haben, dass wir als SPD-Bundestagsfraktion an eine eventuelle Aufhebung des Waffenembargos starke Bedingungen knüpfen, ({1}) die derzeit nicht erfüllt sind, und darauf hinweisen, dass es auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit für die Beibehaltung der geltenden Regelungen, also für das Embargo, gibt. ({2}) Bei unserer Entscheidung spielen die Menschenrechtssituation in China und der EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren eine entscheidende Rolle. Wir sehen derzeit keine Ratifizierung und Umsetzung des VN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, keinen Fortschritt bei der Umsetzung der Verfassungsänderungen im Bereich Menschenrechte und Privateigentum und keine Stärkung der Autonomierechte für ethnische Minderheiten. Erschwerend kommt hinzu, dass nach dem Beschluss des Volkskongresses vom Montag keine Rede mehr von einer friedlichen Streitbeilegung mit Taiwan sein kann. Der Bundeskanzler kennt die Position des Bundestages. Ich bin sicher, dass das Bundeskanzleramt seine Überlegungen zum Waffenembargo im Lichte der neuen Situation überdenken wird. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoyer?

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, gern.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, worauf stützen Sie denn Ihren Optimismus, wenn der Bundestag am 27. Oktober des letzten Jahres diese Entscheidung getroffen hat, der Regierungssprecher aber am selben Tage mit Blick auf die Beratung des Bundestages sagt, die Position des Bundestages sei dem Bundeskanzler bekannt, es sei aber auch die Position des Bundeskanzlers bekannt und dieser habe nicht die Absicht, sie zu ändern? ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, dass sich die Situation insbesondere durch den Beschluss des Volkskongresses am Montag entsprechend geändert hat, Herr Kollege. ({0}) Wir sind in der Vergangenheit schon auf die Länderanträge, die heute zur Debatte stehen, eingegangen. Deswegen möchte ich mich im Rahmen dessen, was ich jetzt vortrage, mit dem 6. EU-Jahresbericht zur Menschenrechtslage aus dem Jahre 2004 beschäftigen. Dort werden die Anstrengungen der EU beschrieben, in den wichtigsten Bereichen der Menschenrechtspolitik weltweit voranzukommen. Die EU bekennt sich bezüglich der externen, aber auch der internen Politik seit langem zur Unteilbarkeit aller Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten. Sie hat sich im abgelaufenen Berichtszeitraum insbesondere mit den Themenbereichen „Menschenrechte und Terrorismus“, „Rassismus“, „Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“, „Asyl und Migration“, „Situation von Minderheiten“, „Menschenhandel“, „Rechte des Kindes“ und „Menschenrechte der Frauen“ befasst.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ich bitte um Nachsicht. Würden Sie dem Kollegen Pflüger Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, ich habe schon entsprechend geantwortet. ({0}) Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Frage in die gleiche Richtung geht wie die zuvor, und möchte jetzt meine Rede zu Ende bringen. Sehr spannend für mich war der Bereich „Menschenrechte und Wirtschaft“. In ihm wird die soziale Verantwortung von Unternehmen unterstrichen und sehr deutlich gemacht, dass die Wirtschaft weltweit dazu beitragen kann und muss, den Herausforderungen der Globalisierung wirksam zu begegnen. Außerdem war der Themenbereich „Charta der Grundrechte“ interessant. Dort wird zum Beispiel unsere positive Haltung Angelika Graf ({1}) zum Antidiskriminierungsgesetz in allen Einzelheiten massiv unterstützt. Ganz ehrlich, beim Durcharbeiten des Berichts fühlt man sich in einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits gibt es durchaus positive Entwicklungen, über die wir uns wirklich freuen können. In diesem Bericht wird zum Beispiel Kofi Annan zitiert, der die völlige Abschaffung der Todesstrafe in 77 Staaten lobt und in Bezug auf viele weitere Staaten von Moratorien oder De-factoNichtanwendungen spricht. Andererseits relativiert sich das durch andere Zahlen. So halten 66 Staaten weiterhin an der Todesstrafe fest. Einige wie der Tschad, der Kongo, der Libanon oder Afghanistan haben nach Moratorien wieder Hinrichtungen vollstreckt. Im Jahr 2003 seien in 28 Ländern mindestens 1 146 Menschen hingerichtet worden. In 63 Staaten seien mindestens 2 756 Menschen zum Tode verurteilt worden. Die wirklichen Zahlen liegen wahrscheinlich wesentlich höher. Schätzungen sprechen von 5 600 Hinrichtungen in 2003, darunter Personen, die unter 18 Jahre alt oder geistig behindert waren. Der Bericht beschäftigt sich ausführlich mit der Rolle, die China in dieser Statistik spielt. Die EU hat auch nachdrücklich das Problem der Todesstrafe in den USA angesprochen. Die Hinrichtung jugendlicher Straftäter spielt hier eine große Rolle. Ich hoffe, dass die Entscheidung des höchsten US-Gerichts vom 1. März 2005, die Todesstrafe für Jugendliche als „verfassungswidrig grausam“ zu verbieten, die Diskussion um die Todesstrafe ganz allgemein anfacht. Tatsache ist nämlich, dass die Anzahl der Vollstreckungen in den USA in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Ich finde allerdings in diesem Bericht keine Erwähnung dessen; ich bedauere das sehr. Sehr begrüßenswert ist für mich, dass der Kampf gegen den Menschenhandel, insbesondere den Frauenhandel, ausführlich im Bericht gewürdigt wird. Der Menschenhandel, mit dem wir uns auch in diesem Hohen Hause in der letzten Zeit mehrfach beschäftigt haben, zuletzt im Zusammenhang mit der Novellierung des Strafrechts, ist eine schlimme Menschenrechtsverletzung. Die Umsetzung der im Bericht erwähnten Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die „Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer von Menschenhandel“ wird wahrscheinlich eine Änderung des Zuwanderungsgesetzes nötig machen. Den Opfern soll unter anderem der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu beruflicher und allgemeiner Bildung eröffnet werden. Dies ist übrigens seit langem eine Forderung der Opferverbände. Ich hoffe, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, im Bundestag Ihrer Empathie für die Opfer gerecht werden. ({2}) Ich freue mich übrigens, dass mit der ehemaligen österreichischen Frauenministerin Helga Konrad eine hoch kompetente Frau zur Sonderberichterstatterin „Menschenhandel“ ernannt worden ist. Was wünsche ich mir für den nächsten Bericht? Einerseits, dass in ihm wieder so ausführlich die Menschenrechtssituation in vielen Problemstaaten beschrieben wird; andererseits aber auch, dass er sich mit der Situation im Inneren der EU stärker befassen möge. Ein Beispiel: Zwar wird die Situation der Sinti und Roma an mehreren Stellen angesprochen. Der Tatsache aber, dass die Gruppe der Roma mit dem EU-Beitritt vieler osteuropäischer Staaten und mit den Beitrittsvorbereitungen einer Reihe weiterer Staaten als transnationale Minderheit nicht mit anderen Minderheiten in Europa vergleichbar ist, wird diese Erwähnung nicht gerecht. Derzeit gibt es eine Reihe von europäischen Staaten, die deutlich weniger Einwohner haben, als die Gruppe der Roma in Europa ausmacht. Menschenrechtsverletzungen an Roma sind jedoch fast in jedem Staat, insbesondere im Osten Europas, zu verzeichnen; oft haben sie einen rassistischen Hintergrund. Dies soll nur ein besonders signifikantes Beispiel dafür sein, dass sich ein Blick nach innen durchaus lohnt. Man wird durch diesen Blick nach innen auch glaubwürdiger. Im Gespräch mit Politikern aus Ländern, in denen die Menschenrechte nicht den allerhöchsten Stellenwert haben, habe ich es jedenfalls in der Vergangenheit oft als sehr angenehm empfunden, sagen zu können, dass unser Menschenrechtsausschuss in Deutschland eben nicht nur mit dem Finger auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten zeigt, sondern auch die Entwicklungen im eigenen Land im Auge behält ({3}) und so mit gutem Beispiel und ohne westliche Arroganz, die man uns ja oft vorwirft, vorangeht. Warum sollen wir diese positiven Erfahrungen nicht auf die EU übertragen? Ich wünsche mir, dass Sie alle dies unterstützen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Klaus Rose, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass Sie jetzt so zahlreich gekommen sind, freut mich, weil das Thema wichtig ist, weil der Redner nicht unbekannt ist und weil Sie wahrscheinlich lieber in diesem Kreis als im stillen Kämmerlein über das Ergebnis von Schleswig-Holstein diskutieren. ({0}) Das Hohe Haus hat schon häufig über die Menschenrechte diskutiert. Dies halte ich für gut. Es ist auch der Bedeutung des Themas angemessen, dass wir heute wieder zeitnah zu der Tagung der Menschenrechtskommission in Genf hier über Menschenrechte reden. Meine Aufgabe ist es, die Themen nun noch einmal konkret anzusprechen. Das Thema Menschenrechte wird im Zusammenhang mit China besonders konkret. Manche von Ihnen haben es nur gestreift. Gestern haben wir im Auswärtigen Ausschuss darüber beraten, welche neuen Erkenntnisse sich aus den Beschlüssen des Volkskongresses für die Bundesregierung ergäben. Ich war ein bisschen entsetzt, dass der Vertreter der Bundesregierung weniger auf die Menschenrechtslage, auf Fehlentwicklungen und Ähnliches hingewiesen hat, sondern seinen Hauptsatz darin gesehen hat, darauf hinzuweisen, dass es wichtig sei, dass sich Deutschland in einer strategischen Partnerschaft mit China befinde. Meine Damen und Herren, ich war nicht nur verwirrt, sondern enttäuscht und sogar entsetzt. Auf genaues Nachfragen hat er erklärt, gemeint sei eine wirtschaftliche strategische Partnerschaft. Aber habe ich nicht vorhin von den Vertretern der rotgrünen Koalition gehört, dass man manchmal auf ein Geschäft verzichten müsse? Hat man dies nicht auch früher von Fischer gehört? War bei uns allen die Einschätzung nicht gang und gäbe, dass wir in diesen Fragen etwas zurückhaltend sein könnten, wenn es um die Betonung der Menschenrechte geht? Am letzten Samstag fand vor dem Brandenburger Tor aus Anlass eines Jahrestages eine Kundgebung von Tibetern statt. Dort waren auch Vertreter der politischen Parteien anwesend: jemand von der FDP, ein Grüner vom Berliner Abgeordnetenhaus und ich für meine Fraktion. Aber von der SPD habe ich dort niemanden gesehen. Ich halte dies für sehr bedauerlich, weil Sie vor einigen Jahren doch noch ganz anders geredet haben und weil sich an der Lage der Tibeter in der Zwischenzeit nichts verbessert hat. ({1}) Von Chinesen wird in Bezug auf religiöse und ethnische Minderheiten nach wie vor gesagt: Uns steht das Recht zu, über euch zu urteilen, euch ins Gefängnis zu werfen, euch, nur weil ihr dem Dalai-Lama die Treue haltet, als nicht zuverlässig zu betrachten und euch entsprechend zu verklagen und einzusperren. ({2}) Meine Damen und Herren, wir müssen diese Themen weiterhin deutlich und öffentlich machen. Wir müssen das nicht nur mit den Tibetern, sondern auch mit den Chinesen selbst deutlich ansprechen. Es sind nicht bloß die Minderheiten innerhalb des chinesischen Volkes, sondern es sind die Chinesen selbst, die von ihrer eigenen Regierung in Bezug auf die Menschenrechte schlecht behandelt werden. Ich könnte dazu viele Beispiele bringen, was mir aber von der Zeit her nicht möglich ist. Vorhin war von den internationalen Unternehmen die Rede. Schauen Sie sich einmal den Bergbau in China an. Dort gibt es die verrottetsten Bergwerke und Kohlegruben der Welt. Jedes Jahr werden Tausende von Toten bewusst in Kauf genommen. Wenn die chinesische Regierung mehr Geld in die Modernisierung des Bergbaus stecken und damit Menschenleben retten würde, Geld, das sie jetzt wieder für die Raketen gegen Taiwan zur Verfügung stellt, würde sie etwas Gutes tun und auch mit Blick auf die Menschenrechte viel erreichen. ({3}) Diese Dinge wollen wir beim Namen nennen. Der Beschluss des Volkskongresses - so sehr er in den eigenen Reihen bejubelt werden mag - wird ein Bumerang. In der gesamten Welt merkt man, dass hier eine Fehlentwicklung stattfindet. Auch wir im Deutschen Bundestag sollten nicht stillhalten, sondern diese Ergebnisse angreifen. Damit greife ich auch etwas auf, was gesagt wurde, nämlich dass sich der Bundeskanzler in der Frage des Waffenembargos jetzt plötzlich umstellt und etwas ernst nimmt, was das Parlament schon lange will. ({4}) - Da bin ich aber sehr gespannt. Da muss er heute Vormittag einen Schrecken bekommen haben, weil er die Lage im eigenen Land nicht mehr im Griff hat. Aber ob er sich in der Frage des Waffenembargos wirklich umstellt, wird sich herausstellen. Schön wäre es; denn das würde zeigen, dass wir in der Menschenrechtskommission die richtigen Anträge gestellt haben. ({5}) Dass wir die FDP in ihrer Resolution zu China unterstützen, das möchte ich hier noch einmal betonen. Deshalb wäre es besser, wir würden auch in diesen Fragen wieder zu Gemeinsamkeit zurückkehren und im Interesse der Menschenrechtssituation in allen Ländern der Welt die richtigen Beschlüsse fassen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/5118 mit dem Titel „61. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Reform und Normensetzung für einen verbesserten Menschenrechtsschutz“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Erste war nach übereinstimmender Auffassung des Präsidiums die Mehrheit. Damit ist dieser Antrag mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 b. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5098 mit dem Titel „Die 61. Tagung der VN-Menschenrechtskommission als Chance zur Reform - Mehr Engagement für Menschenrechte weltweit“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer Vizepräsident Dr. Norbert Lammert stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dieser Antrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt. Tagesordnungspunkt 8 c: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage, Drucksache 15/4757. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 8 d: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/4899. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4397 mit dem Titel „Nepal - Menschenrechte schützen und Gewalt beenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/3231 mit dem Titel „Einhaltung der Menschenrechte in Nepal“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Mit der Mehrheit der Koalition ist die Beschlussempfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 8 e: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/4898 zu einem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4405 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Tagesordnungspunkt 8 f: Beschlussempfehlung des gleichen Ausschusses zu dem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Menschenrechte in der Volksrepublik China einfordern“ auf Drucksache 15/4402. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition mehrheitlich angenommen. Tagesordnungspunkt 8 g: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/5040 zu dem Antrag der CDU/CSUFraktion mit dem Titel „Presse- und Meinungsfreiheit im Internet weltweit durchsetzen - Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schützen“ auf Drucksache 15/3709. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Mit Mehrheit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 8 h: Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4946 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht so aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen - Drucksachen 15/3211, 15/4553 Berichterstattung: Abgeordnete Renate Gradistanac Michaela Noll Klaus Haupt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. ({2}) - Es wäre schön, wenn diejenigen, die sich nun wegen anderer wichtiger Termine an der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt nicht beteiligen können oder wollen, ihre dringenden Staatsgespräche außerhalb des Plenarsaales fortsetzen würden. ({3}) Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Kollegin Gradistanac für die SPD-Fraktion. ({4})

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung wurde beispielhaft umgesetzt, auch bei mir im Schwarzwald. Die Kampagne „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ hatte das Ziel, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jede und jeder etwas gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen tun kann. ({0}) Das fiel auch in meinem Landkreis Calw auf fruchtbaren Boden. Auf Initiative eines Arbeitskreises gegen sexuelle Gewalt und mit vorbildlicher Unterstützung des Landrats wird eine Anlaufstelle für sexuell ausgebeutete Kinder aufgebaut. In Zeiten, da bundesweit soziale Einrichtungen gefährdet sind, freut es mich ganz besonders, wenn es gelingt, Verbündete für dieses Thema zu gewinnen. ({1}) Werte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe sehr, dass es auch in Ihrer Heimat solch gute Beispiele gibt. ({2}) Nun also gilt es - das ist das Ziel des Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen -, den Aktionsplan stetig weiterzuentwickeln. Die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ist leider - ich betone: leider - global ein Wachstumsmarkt. Das kann man nicht nur im Internet beobachten. Ich verweise hierzu auf die aktuelle Ausgabe der „Vogue Deutschland“ vom März 2005. Schon lange handelt es sich nicht mehr um ein individuelles Problem einzelner Täter oder einzelner Ausbeuter von Kindern, es gibt eindeutig kriminelle Strukturen. Darum fordern wir unsere Bundesregierung eindringlich auf: Sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen muss strafrechtlich so verfolgt werden wie Delikte der organisierten Kriminalität. ({3}) Sonderzuständigkeiten, erweiterte Ermittlungsbefugnisse und Zeuginnen- und Zeugenschutzprogramme könnten dann angewandt werden. Prüfen Sie den Einsatz weiterer Verbindungsbeamter in den Herkunftsländern der Kinder und setzen Sie das dann auch bitte durch! Das Auswärtige Amt muss zu diesem Thema dauerhaft Aus- und Fortbildung betreiben. ({4}) Es gilt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Auslandsvertretungen zu sensibilisieren und eine entsprechende Handreichung für den Einsatz zu entwickeln. Wir gehen davon aus, dass die Not der sexuell ausgebeuteten Kinder in die Lageberichte des Auswärtigen Amtes Eingang finden wird ({5}) und dass auch die Erkenntnisse der NGOs einbezogen werden. Weltweit muss es einfach selbstverständlich sein, dass das Kindeswohl Vorrang hat. ({6}) Die internationale Tourismuswirtschaft hat sich in einem Verhaltenskodex zu ihrer Sozialverantwortung bekannt. Ich gehe davon aus, dass sich auch die deutsche Tourismuswirtschaft, die weltweit Marktführer ist, ihrer Verantwortung bewusst ist. Umso erstaunlicher ist es, dass sich kein Vertreter der deutschen Tourismuswirtschaft an einer Podiumsdiskussion anlässlich der internationalen Messe „Reisepavillon“ im Februar 2005 beteiligt hat. Einspringen musste der Präsident des Österreichischen Vereins für Touristik. Er vertrat auf dem Podium die Auffassung, dass ein verantwortungsbewusster Tourismus ohne Ethik mittelfristig nicht vorstellbar sei. Die in den Chefetagen der Tourismuswirtschaft weit verbreitete Meinung, dass der engagierte Einsatz gegen die Ausbeutung von Kindern das Image schädige, ist nicht nur widerlegbar, sondern auch hasenfüßig. Sabine Minninger hat in einer beachtenswerten Diplomarbeit, die nicht den Anspruch erhebt, repräsentativ zu sein, festgestellt, dass fast drei Viertel der Befragten bei der Buchung einer Reise einen Veranstalter bevorzugen würden, der sich für den Schutz von Kindern einsetzt. 96 Prozent aller Befragten, so hat sie recherchiert, sind der Meinung, dass die Tourismusbranche Reisende über das Problem informieren sollte. Tourism Watch und die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen stellen in der aktuellen - repräsentativen - Reiseanalyse 2005 fest: 39 Prozent der Befragten wünschen sich: Ja, die Reisebranche sollte mehr für den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung durch Touristen tun. ({7}) Abschließend danke ich an dieser Stelle allen, die sich unermüdlich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung einsetzen - national wie international; das ist eine schwere Arbeit. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Angela Schmid, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Angela Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003708, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kinder sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Sie bedürfen daher unseres besonderen Schutzes. Gleichwohl ist in den vergangenen Jahren eine Reihe von schweren Sexualtaten bekannt geworden, die uns alle schockierten. Zu den abscheulichsten dieser Verbrechen gehört der sexuelle Missbrauch von Kindern. Allein im Jahr 2002 hat die Polizei rund 16 000 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs registriert. Die Dunkelziffer liegt nach Einschätzung von Fachleuten um ein Vielfaches höher. Demnach sollen in Deutschland schätzungsweise 200 000 Kinder missbraucht werden. Diese Zahlen machen deutlich, dass das, was wir bisher getan haben, nicht ausreichend war. Sie zwingen uns weiterhin zum Handeln. ({0}) Mit dem vorliegenden Antrag wird eine umfassende Strategie zur wirkungsvollen und nachhaltigen Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder gefordert. Ich denke, in dieser Zielsetzung sind wir uns alle einig. Auch wir wollen den strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern und weiterentwickeln, Prävention und Opferschutz stärken, die Hilfs- und Betreuungsangebote vernetzen und die internationale Zusammenarbeit fördern. Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Legislaturperiode den Antrag „Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern“ eingebracht, der sehr viele konkrete Forderungen enthält. Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, haben ihn seinerzeit leider abgelehnt, weil er in vielen Punkten überholt sei. ({1}) Umso erstaunlicher ist es, dass jetzt, zweieinhalb Jahre später, inhaltlich fast genau die gleichen Forderungen wieder aufs Papier gebracht wurden. ({2}) Allerdings sind die Forderungen in Ihrem Antrag sehr vage und allgemein. ({3}) Konkrete gesetzliche Regelungen werden nicht gefordert. ({4}) - Frau Deligöz, in vielen Bereichen bleiben Sie mit Ihrem Antrag hinter unseren Forderungen zurück. Ich will dies an einigen Beispielen verdeutlichen. Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein durch nichts zu rechtfertigendes Verbrechen. Das stellt auch die Bundesregierung in ihrem „Nationalen Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“ fest. ({5}) So selbstverständlich diese Erkenntnis auch ist, so wenig hat sie bislang Eingang ins deutsche Strafgesetzbuch gefunden. Auch nach der neuesten Reform des Sexualstrafrechts durch die Bundesregierung ist der sexuelle Missbrauch von Kindern nur ein Vergehen. Die Fraktion von CDU und CSU fordert seit langem, hier ein eindeutiges Zeichen zu setzen, um diese Taten der schlimmsten Art endlich als ein Verbrechen zu brandmarken. ({6}) - Genau, das haben wir auch in unserem Jugendschutzantrag dargelegt. Die Verwerflichkeit dieser Gewalttaten muss im Strafmaß deutlich zum Ausdruck kommen. Die angedrohten Strafen bei sexuellem Missbrauch von Kindern sind daher nochmals zu verschärfen, und zwar dahin gehend, dass nach deutschem Recht auch der Versuch eines solchen Missbrauchs an Kindern strafbar ist. ({7}) Zudem besteht ein wesentliches Defizit der geltenden Rechtslage darin, dass Taten, mit denen pädophile Personen Kontakte mit Kindern knüpfen können, nicht zureichend erfasst werden. So genannte Chaträume oder ähnliche Einrichtungen bieten für interessierte Personen ein weltweites Forum zur Planung und Verabredung dieser Straftaten. Mit unserem „Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten“ haben wir gefordert, dass sowohl der sexuelle Missbrauch als auch schon die Anbahnung von solchen Kontakten als Verbrechen eingestuft werden. Das haben Sie bis heute jedoch abgelehnt. Insofern sind Ihre Strafverschärfungen im Sexualstrafrecht wohl eher als halbherzig zu bezeichnen. ({8}) Auch die DNA-Analyse wird im Strafverfahren künftig nicht so konsequent wie möglich und nötig genutzt. So kann beispielsweise einem Exhibitionisten der genetische Fingerabdruck weiterhin nicht abverlangt werden, selbst wenn zu befürchten ist, dass der Betreffende künftig schwerwiegendere Straftaten verübt. ({9}) - Sie kommen doch auch aus Stuttgart, Herr Tauss. Informieren Sie sich einmal vor Ort. Es ist überhaupt kein Problem, das statistisch nachzuweisen. ({10}) - So ist es. - Es ist bewiesen, dass solche vermeintlich harmlosen Straftaten oft der Einstieg in eine Täterkarriere sind. ({11}) Ebenso haben wir seit 2001 die nachträgliche Sicherungsverwahrung gefordert, gegen die sich Ihre Koalition immer ausgesprochen hat. Unser Ziel war es, eine Handhabe gegen solche Sexualstraftäter zu schaffen, bei denen die Gefahr weiterer schwerer Straftaten erst während des Strafvollzugs festgestellt wird. Erst durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2004 hat sich die Regierungskoalition bewegt. So haben Sie unnötig viel Zeit verloren. Ich möchte noch eine weitere kritische Äußerung zum Opferschutz machen. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag unter anderem auf die massiv traumatisierten Kinder, die häufig nicht in der Lage sind, eigene Interessen und Bedürfnisse wahrzunehmen. Ihr Antrag zielt darauf ab, sexuell missbrauchte Kinder nicht nur als Subjekt des Geschehens anzuerkennen, sondern auch durch Institutionen zu schützen und aufzufangen. Wenn dem aber so ist, dann sei an dieser Stelle die Frage gestattet, warum Sie unserer Forderung, das Mainzer Modell im Strafverfahren einzuführen, nicht gefolgt sind. ({12}) Befragungen von Opferzeugen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Zeugen die Auswirkungen eines Prozesses als negativ empfinden. Sie leiden noch Monate nach der Tat unter einer Schwächung ihres Selbstwertgefühls und nehmen sich in der Prozesssituation als schwach und unsicher wahr. Für die Kinderopfer muss eine solche Prozesssituation noch weit schlimmer sein. Unser Anliegen war es, kindliche Opfer von Sexualverbrechen in einem gesonderten Raum durch den Vorsitzenden vernehmen zu können. Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag hätte ein deutliches Signal für mehr kindlichen Opferschutz im Strafverfahren bedeutet. ({13}) Wir alle wissen: Für die Opfer hat der Missbrauch schwerwiegende Folgen für Körper und Seele. Sie leiden meist ein Leben lang unter den Folgen des ihnen zugefügten Leids. Das Strickmuster ist dabei immer gleich: Die Täter setzen die Opfer mit Drohungen unter Geheimhaltungsdruck und haben so die Möglichkeit, den Missbrauch oftmals über Jahre hinweg unentdeckt fortzuführen. Sexueller Missbrauch ist in den seltensten Fällen ein einmaliges Verbrechen. Aus diesem Grunde sind Kinder- und Jugendtelefone als erste Anlaufstelle für die Opfer sexueller Gewalt besonders wichtig. ({14}) Derzeit gibt es bundesweit 95 solcher Kinder- und Jugendtelefone. Seit 1998 sind lediglich 15 neue hinzugekommen. Wir müssen den Ausbau von solchen Betreuungs- und Beratungsangeboten in Deutschland unbedingt vorantreiben. Kinder werden von Deutschen jedoch nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland sexuell missbraucht. Nach Schätzungen von Terre des hommes beträgt die Zahl der deutschen Sextouristen jährlich circa 10 000. Kindersextouristen nutzen die Existenznöte der Kinder und ihrer Familien skrupellos aus. Ein besonders wichtiger Aspekt bei der Bekämpfung von Sextourismus und Kinderprostitution ist daher die stärkere und langfristigere Beteiligung der Reisebranche an Präventionsaktionen und Informationskampagnen. Wir begrüßen es daher sehr, dass der Deutsche Reisebüro- und Reiseveranstalter-Verband und verschiedene andere Organisationen einen Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung vereinbart haben. Die Umsetzung dieses Verhaltenskodexes muss unbedingt weiter vorangebracht werden. Sie haben hier unsere volle Unterstützung. ({15}) Sexueller Missbrauch von Kindern wird zunehmend zu einem grenzüberschreitenden Problem. Dieser Antrag geht deshalb in die richtige Richtung. Ein wirksamer Schutz ist nur durch internationale Zusammenarbeit aller beteiligten Länder möglich. ({16}) Ich darf insoweit erneut auf unseren Antrag „Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern“ aus der letzten Legislaturperiode verweisen. Auch er sah vor, die Ausbeutung von Kindern im internationalen Rahmen zu bekämpfen. Leider haben Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, diesen Antrag abgelehnt. Festzuhalten bleibt: Der vorliegende Antrag ist ein gutes Signal. Er geht in die richtige Richtung, aber er bleibt in vielen Bereichen hinter unseren Forderungen zurück. Danke schön. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten und haben eigene Rechte. Sie brauchen unseren Schutz und unsere Unterstützung; denn sie sollen in dieser Gesellschaft ohne Gewalt und ohne sexuelle Übergriffe aufwachsen können. Deshalb haben wir, Rot-Grün, das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert und deshalb haben wir ein Leitbild der Erziehung formuliert, wonach seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen in diesem Land unzulässig sind. Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, haben wir von Ihrer Fraktion keine Unterstützung dafür bekommen. Das bedauere ich heute noch. ({0}) Das Schlimme ist, dass wir immer wieder betonen müssen: Erziehung in diesem Land mag Elternsache sein, aber Gewalt ist es nicht. Gewalt, egal wie und woher, verletzt die Würde des Kindes. Das Schlimme an dem sexuellen Missbrauch ist, dass ein Großteil der Täter aus dem unmittelbaren Nahbereich des Kindes kommt. Manche Statistiken sprechen davon, dass 90 Prozent der Täter aus dem Bereich der Verwandten, der Freunde und der vertrauten Menschen aus dem unmittelbaren Nahbereich kommen. Unsere Antwort darauf muss sein, dass wir Kinder stark machen ({1}) und Erwachsene sensibel und aufmerksam machen, damit sexuelle Gewalt von Anfang an keine Chance hat. Wir wissen, dass laut Statistik 15 000 Fälle jährlich erfasst werden. Wir wissen aber gleichzeitig, dass die Dunkelziffer in diesem Land um einiges höher ist als diese 15 000 Fälle. Diese Kinder leiden meist ein Leben lang unter traumatischen Folgen. Die Mädchen und Jungen fühlen sich schuldig, sie schämen sich für das Geschehen und wollen vielleicht sogar ihre Verwandten, Freunde, Brüder, Geschwister und Väter schützen. Der Geheimhaltungsdruck ist eine ständige Belastung. Die Kinder sind eingeschüchtert durch Drohungen, sie haben Angst und sie leben in Unsicherheit, dass das immer wieder passiert. Von einer unbeschwerten Kindheit kann keine Rede sein. Sie können vor allem kein Vertrauen fassen. Gerade deshalb müssen wir alles tun, um unsere Kinder davor zu schützen. Gerade deshalb brauchen diese Opfer Hilfe und Unterstützung. Das Kindeswohl muss für uns bei allem, was wir tun, Vorrang haben. Wir müssen auch die Täter konsequent verfolgen und bestrafen. ({2}) Aber, Frau Kollegin Schmid, an dieser Stelle muss ich sagen: Wir müssen die Strafgesetze konsequent anwenden. Glauben Sie aber, dass man durch die Verschärfung des bestehenden Strafrechts - Kindesmissbrauch ist eine Straftat in Deutschland - ein einziges Kind vor Missbrauch schützt oder vor einem sexuellen Übergriff rettet? ({3}) Ist das die Antwort? Ich sage Nein. Wir müssen auf unsere Kinder setzen und unsere Kinder stark machen. ({4}) Wir müssen präventiv herangehen und niedrigschwellige Angebote unterbreiten. Strafrecht allein ist mir zu wenig. Das ist mir nicht weitreichend genug. ({5}) Die Übergriffe dürfen erst gar nicht stattfinden. Ich will sie nicht verfolgen, sondern ich will, dass sie überhaupt nicht stattfinden. ({6}) Es geht um Prävention, um Intervention und darum, Kinder in dieser Gesellschaft aufzuklären. Es geht auch um die Multiplikatoren, die Polizei und die Justiz, Tourismus, Eltern und Kinder, um die Nachbarschaft, Freunde, Lehrer und Erzieher. Es geht darum, dass wir in unserer Gesellschaft füreinander Verantwortung übernehmen. Deshalb fordern wir die niedrigschwelligen Angebote wie Kinder- und Jugendtelefone. Wir wollen ein Informationszentrum zu Kindesmissbrauch. Wir wissen, dass wir relativ wenig wissen, und deshalb wollen wir mehr wissen, auch über die Täter, um unsere Kinder möglichst gut vor ihnen zu schützen. Wir wollen regionale Netzwerke, die es schon gibt. Meine Kollegin hat ein Beispiel genannt. Einen Punkt haben wir schon konsequent umgesetzt, nämlich den Rahmenbeschluss Menschenhandel. Die entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches sind mittlerweile erarbeitet worden und am 19. Februar dieses Jahres in Kraft getreten. Denn wir nehmen das Thema ernst und wollen Kinder und Jugendliche besser vor sexueller Ausbeutung schützen. ({7}) Die Familie sollte für alle Kinder ein Ort der Vertrautheit sein. Unsere Kinder sollten in dieser Gesellschaft selbstbewusst aufwachsen können. Es geht darum, ihnen Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Ich glaube, das Thema sollte nicht nach parteipolitischen Interessen behandelt werden. ({8}) Ich wünschte mir, dass Sie heute den Mut aufbringen, unserem Antrag zuzustimmen, statt lediglich festzustellen - auch wenn es gut gemeint ist -, dass nicht nur hinsichtlich der Ideologie eines verschärften Strafrechts, sondern auch für die Kinder etwas getan werden muss. ({9}) Es geht um unsere Kinder. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDPFraktion. ({0})

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass sexueller Missbrauch von Kindern zu den abscheulichsten Verbrechen gehört. Gegen die Scheußlichkeit solcher Untaten muss alles Erdenkliche getan werden, um Kinder vor unvorstellbarer Erniedrigung, Demütigung und Qual zu bewahren. ({0}) In Deutschland - Frau Kollegin Schmid hat schon darauf hingewiesen - werden laut Polizeilicher Kriminalstatistik jährlich etwa 20 000 Kinder Opfer sexueller Übergriffe. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs; die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Nach repräsentativen Erhebungen sind 8,6 Prozent der Mädchen und 2,8 Prozent der Jungen im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Übergriffe geworden. Ein Großteil dieser Taten kommt nicht zur Anzeige. Zugleich ist das Engagement gegen diese Taten stark auf die bekannten, rechtskräftig verurteilten Straftäter fokussiert. Damit bleibt ein Großteil des Problems verborgen, ungelöst und ungesühnt. Bekämpfungsstrategien können nur dann nachhaltig wirksam sein, wenn sie auf Zivilcourage setzen und das in unserer Gesellschaft leider übliche Wegschauen ein Ende hat. Dazu kann und muss die Politik einen wichtigen Beitrag leisten. Wichtige politische Aufgaben sind unter anderem: präventive Maßnahmen auszubauen und einzubetten in ein Netz ausreichender Hilfsangebote - das heißt die stärkere Verzahnung von Prävention und Intervention -; ({1}) den Opferschutz und Zeugenschutz für Kinder im Strafverfahren zu verbessern und auch deren Familien einzubeziehen; die Möglichkeit der Opferhilfe für die Kinder zu verbessern sowie effektivere opfer- und täterbezogene Präventionsmaßnahmen zu realisieren. Ich glaube, wir sind uns auch darin einig, das besondere Informationsmaßnahmen zur weiteren Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit über sexuellen Missbrauch, sein Wesen und seine verheerenden Folgen wichtig sind. Viele Missbrauchsfälle könnten verhindert werden, wenn sexuelle Übergriffe nicht übersehen oder bagatellisiert, sondern wahrgenommen und angezeigt werden. ({2}) Dazu gehört auch die altersgerechte Aufklärung der Kinder über die Gefahren sexueller Ausbeutung. Im Rahmen der Lehrpläne an den Schulen muss über die Gefahren des Missbrauchs, aber auch über die Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, aufgeklärt werden. Von zentraler Bedeutung ist auch die Verbesserung der Ausund Weiterbildung derjenigen, die beruflich mit Kindern zu tun haben, damit diese Personen Fälle von sexueller Ausbeutung erkennen und rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergreifen können. Es ist zu begrüßen, dass vorgestern 60 Reiseveranstalter in Tokio einen von UNICEF ausgearbeiteten Verhaltenskodex gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern unterzeichnet haben. Der Kindersextourismus erfordert eine besondere, ressortübergreifende Bekämpfungsstrategie, die zudem auch die unterschiedlichen Länder und Regionen einbezieht. Auch diese Bekämpfungsstrategie muss sowohl den Täterbereich als auch den Opferbereich berücksichtigen. Abschreckung und Strafe, aber auch Prävention, Information und Hilfe sind hier notwendig. Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch fügen Kindern schwersten Schaden an Leib und Seele zu. Die seelischen und womöglich auch die körperlichen Narben bleiben lebenslang bestehen. Das Grundvertrauen der betroffenen Kinder in andere Menschen wird zerstört. Es ist eine Herausforderung an die ganze Gesellschaft, diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende zu setzen. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Erwachsene sind für das Wohlergehen der Kinder in unserer Gesellschaft verantwortlich. Wir wollen - zumindest haben wir das in unserer Gesellschaft gemeinsam beschlossen -, dass sie unbeschadet aufwachsen können. Wir wollen sie vor Unheil schützen. Eine besonders abscheuliche Form des Unheils sind die sexuelle Gewalt und Ausbeutung. Es handelt sich dabei nicht um eine Naturgewalt, gegen die man machtlos ist, oder ein Kavaliersdelikt, das man sich verzeiht. Nein, sexuelle Gewalt und Ausbeutung fügen Kindern die schlimmsten Verletzungen zu. ({0}) Sie sind bewusst geplant und sorgfältig vorbereitet. Zwei Drittel der überwiegend männlichen Täter kommt aus dem sozialen Umfeld. Es sind Verwandte und Bekannte, also Väter, Stiefväter, Brüder, Onkel und Opas. Für die betroffenen Kinder ist es extrem schlimm, genau dort damit umgehen zu müssen. Die Opfer, die Kinder, haben meistens unter schwerwiegenden seelischen und körperlichen Folgen zu leiden. Nicht wenige haben ihr Leben lang daran zu tragen und werden es nicht los. Mein Kollege Haupt hat schon gesagt, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik 2003 rund 20 000 angezeigte Delikte ausweist, bei denen es um Kinder als Opfer sexueller Übergriffe geht. Wir wissen aber, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Deshalb ist es Aufgabe aller hier, nicht nur der Kinderpolitikerinnen und Kinderpolitiker, und draußen in der Gesellschaft - ich würde mich sehr freuen, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition entschließen könnten, unseren Antrag zu unterstützen -, sexuelle Gewalt und Ausbeutung durch eine umfassende Strategie zu bekämpfen. Genauso versteht sich unser Antrag. Er sieht eine Gesamtstrategie gegen sexuelle Gewalt und Ausbeutung vor. ({1}) Wir haben in den letzten Jahren Erfolge verzeichnen können. Wir haben auch an den Konferenzen in Stockholm und Yokohama aktiv teilgenommen. Wir haben zwei Aktionsprogramme umgesetzt, das letzte 2003, den Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt. Darauf bezieht sich unser gemeinsamer Antrag. ({2}) Der Aktionsplan umfasst vier Felder. Das eine ist der strafrechtliche Teil. Im Strafrecht haben wir reformiert. Marlene Rupprecht ({3}) Es ist daher unfair, zu sagen, dort sei nichts geschehen. Aber es spiegelte eine nicht vorhandene Sicherheit vor, wenn wir die Strafen zunehmend verschärften. ({4}) Denn wenn es stimmte, dass schärfere Strafen helfen, dann dürfte in den USA keine einzige Straftat in diesem Bereich passieren. Dort gilt nämlich die Todesstrafe, das heißt, die Straftat ist mit der Höchststrafe bewehrt. Wir bekennen uns in der EU dazu, dass wir die Todesstrafe nicht wollen. Aber auch die Todesstrafe kann nicht verhindern, dass jemand zum Straftäter wird und eine solche Straftat begeht. Deshalb ist es wichtig, dort, wo es notwendig ist, Strafverschärfungen vorzunehmen - das haben wir getan - und alle anderen Bedingungen zu verbessern: Opferschutz, Prävention, die Effektivierung der internationalen Zusammenarbeit und Strafverfolgung sowie die Vernetzung aller, die mit Kindern arbeiten und zum Schutz der Kinder da sind. Das muss unser Anliegen sein. ({5}) Ich will, dass solche Taten erst gar nicht geschehen. Ich will, dass sie so weit wie möglich verhindert werden. Dazu hat die Kampagne „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ im letzten Jahr beigetragen. Mit dieser Kampagne haben wir versucht, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren. Ich denke, das ist gelungen. Auch der Ratgeber „Mutig fragen - besonnen handeln“ geht genau darauf ein. Ich will noch auf die grenzüberschreitende sexuelle Gewalt gegen Kinder eingehen, Stichwort: deutschtschechische Grenze. Das Thema Opfer ist hoch sensibel, weil es sich bei den Opfern häufig um Minderheiten in diesem Land handelt. Aber wir vergessen dabei, die Täter unter die Lupe zu nehmen. Unser Blick ist sehr häufig zu opferzentriert. Wir brauchen die optimale Zusammenarbeit. Dafür hat sich bereits 2002 eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen gebildet. Es ist äußerst schwierig und sensibel, für eine Verbesserung zu sorgen. Dabei spielen die für die Polizei zuständigen Länder und der Bundesgrenzschutz eine wichtige Rolle. Sie alle versuchen gemeinsam, die Täter zu verfolgen. Die jetzige Rechtslage erlaubt bereits, die Täter da zu verfolgen, wo sie wohnen. ({6}) Wir haben bereits Maßnahmen ergriffen. Bei einigen Maßnahmen sind wir dabei, sie umzusetzen. Ich erinnere an die Bund/Länder-Koordinierungsgruppe zur Umsetzung des nationalen Aktionsplans - als Kinderbeauftragte bzw. als Mitglied der Kinderkommission gehöre ich ihr an -; auch sie trägt dazu bei, dass auf diesem Gebiet ständig weitergearbeitet wird. Wir waren uns einig - das haben alle Redebeiträge gezeigt -: Sexuelle Gewalt muss grundsätzlich gesellschaftlich geächtet sein. Da gibt es keine Toleranzzone, keine Grauzone, die offen lässt, was noch erlaubt ist und was nicht. Gesetze können nur Krücken sein. Noch immer erleben zu viele Kinder sexuelle Gewalt. Aber Kinder haben ein Recht, ohne Gewalt und ohne Missbrauch aufwachsen zu können. Wir haben ihre eigenständige Persönlichkeit und Würde zu respektieren. Das sage ich als Kinderbeauftragte, die sich eigentlich längst mit Seniorenpolitik beschäftigen müsste. Es kann in diesem Parlament und außerhalb von ihm nämlich niemals zu viele Menschen geben, die sich mit Kinderbelangen und vor allem mit dem Schutz von Kindern beschäftigen. Ich rufe Sie alle auf: Machen Sie mit! Das Wertvollste, was wir haben, sind unsere Kinder. Die Weltkonferenz in New York hat festgestellt: Kinder sind die Gegenwart, nicht erst die Zukunft. Wir müssen dafür sorgen, dass sie gut aufwachsen. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/4553 zum Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3211 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, Hubert Hüppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Forschungsförderung der Europäischen Union unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten - Drucksache 15/4934 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hierüber soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbe Stunde diskutiert werden. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Male diskutieren wir im Deutschen Bundestag das Thema der embryonalen Stammzellforschung. Bereits im Jahr 2002 wurde ein wegweisender Beschluss gefasst. Dieser über Fraktionsgrenzen hinaus getroffene Beschluss war eine bioethische Richtungsentscheidung. Der Bundestag hat eindeutig festgestellt, dass die Zerstörung eines Embryos zur Herstellung embryonaler Stammzellen gegen die Menschenwürde des Embryos und dessen Recht auf Leben verstößt. Daher wurde die Förderfähigkeit von Projekten der Stammzellforschung auf bestehende Stammzelllinien beschränkt, die bereits vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Diese Entscheidung des Bundestages hatte auch Auswirkungen auf die Europäische Union, denn auf Bitten mehrerer EU-Staaten hat die EU ein Moratorium beschlossen, demzufolge bis zum Ende des Jahres 2003 keine Vorhaben finanziert werden, bei denen menschliche Embryonen verwendet werden sollen. Darüber hinaus hat der Bundestag im Oktober 2003 an die EU-Kommission appelliert, auch nach 2003 von der Förderung verbrauchender Embryonenforschung Abstand zu nehmen. Leider sind die entsprechenden Verhandlungen auf EU-Ebene über eine mögliche Verlängerung dieses Moratoriums gescheitert. Der Bundesregierung ist es bislang nicht gelungen, auf EU-Ebene eine Lösung zu erwirken, die der deutschen Rechtslage entspricht und die die Menschenwürde der Embryos respektiert. Nach dem Abbruch der Verhandlungen auf EU-Ebene ist jetzt zu befürchten, dass im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm, welches ab 2007 gelten soll, keine Restriktionen mehr für die Finanzierung von verbrauchender Embryonenforschung vorgesehen sein werden. Dies ist eine Entwicklung, die wir nicht widerspruchslos hinnehmen dürfen. ({0}) Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn in manchen Mitgliedstaaten der EU andere Regelungen als bei uns gelten, so besteht in Deutschland kein Bedarf an einer Revidierung der Entscheidung von 2002. Die Umstände haben sich nicht geändert, die ethische Bewertung eines Embryos in Deutschland war nicht von der Entwicklung der Gesetzgebung in den Nachbarländern abhängig und darf es auch nicht werden. Daher muss sich der Deutsche Bundestag strikt dagegen wenden, dass zukünftig Forschungsvorhaben der Stammzellforschung mit europäischen und damit letztlich auch deutschen Mitteln gefördert werden, zumal wenn dieser Forschungsweg nach deutschem Recht sogar eine Straftat darstellt. Die gemeinsame Forschungsförderung ist ein Eckpfeiler der Zusammenarbeit in Europa und unverzichtbar für Innovation und wirtschaftliche Entwicklung in der EU. Sie muss daher auch im Bereich der Bioethik im Einklang mit den grundlegenden Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten stehen. Hier gibt es den Mehrheitsbeschluss des Deutschen Bundestages, dass verbrauchende Embryonenforschung gegen das Recht des Embryos auf Leben verstößt und eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens darstellt, die eben von Forschungszwecken nicht mehr gedeckt ist. ({1}) Es kann für eine breite Unterstützung und Akzeptanz der dringend nötigen Forschungsprogramme der EU deshalb nur schädlich sein, wenn diese am Maßstab des Grundgesetzes getroffene Werteentscheidung nicht respektiert würde. Wir fordern daher die Bundesregierung nachdrücklich auf, in den Verhandlungen auf EU-Ebene dafür zu sorgen, dass sich dieser Respekt für das menschliche Leben in den Richtlinien des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms niederschlägt. ({2}) Der Beschluss des Bundestages vom Januar 2002 hat konkrete Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt. Demnach dürfen nur die Forschungsvorhaben gefördert werden, die bereits zu einem festen Stichtag existierten. Auch in anderen Ländern wie den USA haben sich entsprechende Stichtagsregelungen bewährt. Sie haben auch die notwendige Grundlagenforschung in Deutschland nicht beschädigt. Auch auf europäischer Ebene dürfen entsprechend dem heute vorliegenden Antrag der CDU/CSU nur Forschungsvorhaben mit Stammzelllinien gefördert werden, die bereits zu einem festen Stichtag existierten. ({3}) Das heißt, es könnte auch ein Stichtag sein, auf den sich die Länder der Europäischen Union einigen. Es ist auf jeden Fall ethisch nicht vertretbar, ab 2007 Projekte zu fördern, für die menschliche Embryonen getötet werden. ({4}) Natürlich beinhaltet unsere Forderung nicht, dass wir als Bundesrepublik Deutschland anderen Ländern unsere Regelungen vorschreiben wollen. ({5}) Natürlich können die im nationalen Rahmen ihre eigenen Entscheidungen treffen. Im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU, welches die ethischen und verfassungsmäßigen Grundsätze aller Mitgliedstaaten berücksichtigen muss, ist jedoch eine Begrenzung unverzichtbar. Im Übrigen ist es auch eine Frage der Chancengleichheit, dass Forschungsarbeiten im Bereich der Biomedizin nicht von der EU gefördert werden, sofern sich einzelne Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Rechtsordnung nicht an ihnen beteiligen können. Das Europaparlament hat sich übrigens gerade in diesen Tagen mit einer Mehrheit von 307 zu 199 Stimmen gegen die Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung aus dem europäischen Haushalt ausgesprochen. Das entspricht genau unserem Antrag und dafür setzen wir als CDU/CSU uns ein. Nach Meinung des Europäischen Parlaments sollten die EU-Mittel stattdessen auf viel versprechende Alternativen umgelenkt werden, nämlich auf die adulte Stammzellforschung und auf die Stammzellforschung im Bereich des Nabelschnurblutes. Das ist genau der richtige Ansatz, den wir nachdrücklich unterstützen. Sehr geehrte Damen und Herren, das Konzept des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms liegt in seinen konkreten Ausführungen noch nicht auf dem Tisch. Das bietet uns die Chance - und wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Zeit nutzt -, dass wir uns gemeinsam mit den anderen Staaten der EU, die die verbrauchende Embryonenforschung ablehnen, aktiv darum bemühen, deren Förderung im EU-Forschungsrahmenprogramm zu verhindern. Eine Änderung des Stammzellkompromisses, wie er hier im Deutschen Bundestag beschlossen worden ist, praktisch durch die Hintertür über die EU ist nicht akzeptabel und wird von uns abgelehnt. ({6}) Meine Damen und Herren, das ist - das sage ich auch an die hier zahlreich vertretenen Mitglieder der deutschen Bundesregierung; man sieht daran, welchen Stellenwert dieses Thema hat ({7}) nicht nur eine Frage des Embryonenschutzes, sondern es geht auch darum, den erklärten Willen des Parlaments zu respektieren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege René Röspel, SPDFraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Januar 2002 - Herr Rachel erwähnte es eingangs - gab es im Deutschen Bundestag eine sehr große fünfstündige Debatte über die Frage, ob an embryonalen Stammzellen und an Embryonen in Deutschland geforscht werden soll. Ein Journalist hat diese Debatte damals - wie ich glaube, zu Recht - als Sternstunde des Parlaments bezeichnet. Es standen damals drei unterschiedliche Anträge zur Wahl und die Mehrheit des Deutschen Bundestages hat sich dafür entschieden, dass, wie Margot von Renesse es einmal ausdrückte, für deutsche Forschung kein Embryo sterben solle. Es wurde letztlich ein Kompromiss beschlossen, der im April 2002 im Stammzellimportgesetz seinen Ausdruck fand. Danach darf in Deutschland an embryonalen Stammzellen, die zu einem bestimmten Stichtag schon hergestellt waren, für die also kein neuer Embryo zerstört werden musste, geforscht werden. Die deutsche Rechtsund Gesetzeslage war damit seit dem Jahr 2002 klar. Anders ist es auf europäischer Ebene. Dort gibt es das 6. EU-Forschungsrahmenprogramm - ein gutes Programm. Als zentrales Instrument europäischer Forschungsförderung sieht es die Zentralisierung, die Bündelung von Forschungsaktivitäten in Europa vor. Das ist sinnvoll und vernünftig. Allerdings enthält dieses Programm aus Sicht der Mehrheit des Bundestages auch das Problem, dass mit diesen europäischen Mitteln eben auch embryonale Stammzellforschung gefördert werden kann und soll. Das hieße in der Konsequenz, dass mit Geld, das unter anderem auch aus Deutschland stammt, auf europäischer Ebene Projekte gefördert werden dürften, die nach deutscher Rechtslage nicht erlaubt, ja sogar strafbar wären. Wir haben deshalb im Januar 2002 gleichzeitig auch beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, darauf hinzuwirken - ich darf zitieren -, dass auch auf europäischer Ebene bei den Forschungsprojekten eine Beschränkung auf bestehende Stammzelllinien vorgenommen wird. Sie wird aufgefordert, entsprechende Regeln für die Stammzellforschung aus Mitteln der Europäischen Union durchzusetzen. Die Bundesregierung hat diesen Auftrag angenommen, übrigens als einziges Land in der Europäischen Union, und hat ihn sehr erfolgreich umgesetzt. ({0}) Ich will auch deutlich machen, dass der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär und jetzige Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen großes Verhandlungsgeschick bewiesen hat und auch erfolgreich war. ({1}) Er hat es nämlich geschafft, innerhalb der Europäischen Union ein Moratorium zu erreichen, durch das eine Förderung von Forschung, die in Deutschland verboten wäre, nicht stattfindet. Dieser Beschluss gilt auch weiter. Allerdings hat sich bei den Rahmenbedingungen einiges verändert. Wir haben in der Europäischen Union zehn neue Mitgliedstaaten, deren Haltung noch nicht klar ist. Wir haben mit Spanien und Portugal zwei Länder, die die Auffassung der Bundesregierung unterstützt haben, bei denen aber die Regierung gewechselt hat und jetzt eher eine andere Tendenz herrscht. Das heißt, die Situation hat sich verändert; sie ist schwieriger geworden. Nicht verändert aber hat sich das Handeln der deutschen Bundesregierung, ({2}) die entsprechend dem Auftrag, den wir ihr im Januar 2002 erteilt haben, agiert und auf europäischer Ebene versucht, dafür zu sorgen, dass keine Förderung von embryonaler Stammzellforschung stattfindet bzw. keine Embryonen zerstört werden. Das ist nicht einfach. Die Schwierigkeit ist, dass in vielen europäischen Ländern eine andere Rechtslage herrscht. In Großbritannien ist viel mehr erlaubt als nach deutschem Gesetz möglich. Unsere Gesetzeslage wird sicherlich von der breiten Mehrheit des Bundestages - es gibt ja in jeder Fraktion unterschiedliche Positionen dazu; in fast jeder, bis auf die FDP ({3}) unterstützt. Jetzt bringt die CDU/CSU einen Antrag ein, der im Wesentlichen dem Antrag folgt, den wir im Juli 2003 quer durch alle Fraktionen hier beschlossen haben, und der die Bundesregierung auffordert, ihr Handeln fortzusetzen. Wir haben es als rot-grüne Koalition nicht für nötig gehalten, einen neuen Antrag zu stellen, weil wir sehen, dass das Verhalten der Bundesregierung weiterhin im Sinne der Beschlusslage ist. Aber weil wir Ihren Antrag inhaltlich im Wesentlichen unterstützen können ({4}) - zumindest die Mehrheit unserer Fraktion; auch bei uns gibt es unterschiedliche Positionen, das ist kein Geheimnis, entspricht aber guter demokratischer Gepflogenheit -, strecken wir unsere Hand aus und bieten Ihnen an, im Rahmen des Ausschussverfahrens zu versuchen, einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen, der die Bundesregierung in Fortsetzung der mehrfach gefassten Beschlüsse ({5}) - ermuntert - ermutigt und auffordert, sich auf europäischer Ebene weiterhin dafür einzusetzen, dass embryonale Stammzellforschung nicht gefördert wird. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Wir wünschen der Bundesregierung an dieser Stelle weiterhin viel Glück und Erfolg dabei. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, FDPFraktion.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Röspel hat eben auf die Jahre 2002 und 2003 verwiesen. Die FDP war damals anderer Meinung und es wird Sie mit Sicherheit nicht erstaunen, dass wir selbstverständlich auch heute anderer Meinung sind. ({0}) Für uns ist die Ethik des Heilens der Maßstab, an dem wir uns ausrichten. Angesichts dieses Maßstabes kann Ihr heutiger Antrag natürlich nicht gut sein. Er ist sachlich falsch und er ist politisch schädlich. ({1}) Erstens. Die Forschung an embryonalen Stammzellen gehört zu den vielversprechendsten Forschungsgebieten innerhalb der thematischen Schwerpunkte im EUForschungsprogramm. ({2}) Eine sinnvolle Zusammenarbeit auf der Basis wissenschaftlicher Exzellenz kann nicht erfolgen, wenn Wissenschaftler einzelner Länder aufgrund ethischer Bedenken nicht an Forschungen teilnehmen können, bei denen es auch um menschliche Embryonen geht. ({3}) - Ja, Herr Tauss, aber so ist es. Wenn man Ihnen folgt, wird es auf der EU-Ebene eine solche Forschung nicht mehr geben. Das wollen wir Liberalen nicht. ({4}) Ihr Antrag bedeutet das Aus für solche Projekte. Das Irrwitzige dabei ist, dass Sie damit im Prinzip überhaupt nichts erreichen. Denn natürlich wird es national in den jeweiligen Nachbarländern weiter Forschung an überzähligen Embryonen geben. Das ist in Frankreich der Fall, auch außerhalb des EU-Bereichs, in der Schweiz, und selbstverständlich in Belgien, Skandinavien und Spanien. ({5}) Um es kurz zu sagen: Sie gehen hier mit einem symbolischen Akt ins Parlament, mit dem Sie auf EU-Ebene nichts erreichen können. ({6}) Zweitens. Sie behaupten, die Stichtagsregelung in Deutschland habe sich bewährt. Sie hat sich nicht bewährt. Diese Meinung haben wir immer wieder geäußert und wir haben uns auch die Mühe gemacht, mit den betroffenen Forschern hier in Deutschland zu reden. Jeder von ihnen hat uns bestätigt, dass man selbstverständlich Stammzellmaterial braucht, das jenseits des derzeit festgelegten Stichtages liegt. ({7}) In dieser Situation, mit der die Politik fertig werden muss, muss diesen Forschern geholfen werden. Drittens. Wenn man nationale ethische Standards im Bereich der Stammzellenforschung als Kriterium der Finanzierung aufstellt, dann müssen diese auch für alle anderen EU-Forschungsvorhaben gelten. Aber das wollen Sie nicht. Sie handeln also ausgesprochen inkonsequent. Das würde im Endeffekt dazu führen, dass der gesamte EU-Forschungsbereich völlig anders geregelt werden müsste, als dies zurzeit der Fall ist. Meine Redezeit ist kurz. Daher fasse ich zusammen. Ich bedauere es, dass wir uns heute erneut mit einem solchen Antrag befassen müssen. Herr Rachel, ich hätte mir gewünscht, dass Sie im Hinblick auf die EU zu weitergehenden und weiterführenden, für das Heilen in diesem Lande besseren Ergebnissen gekommen wären. ({8}) Ich sehe im Gegensatz zu Herrn Röspel nicht, dass die Bundesregierung mit ihren alten Anträgen Erfolg gehabt hat. Auch diesem Antrag wird mit Sicherheit kein Erfolg beschieden sein. Deswegen blicken wir, obwohl wir uns heute nicht durchsetzen werden, recht frohgemut in die Zukunft. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Debatten über Stammzellenforschung hat dieses Hohe Haus in den letzten Jahren sehr oft erlebt. Über Fraktionsgrenzen hinweg gab es mehrheitlich Übereinstimmung, dass in der Abwägung zwischen den grundgesetzlich geschützten Tatbeständen Forschungsfreiheit und Menschenwürde die Wahrung der Menschenwürde Vorrang habe. Es ist gut, dass sich diese ethische Position zunehmend auch im internationalen Raum durchsetzt. Die jüngste Deklaration der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 8. März 2005, die eine klare Ächtung aller Arten des Klonens von Menschen beinhaltet, ({0}) ist ein wichtiger Schritt zur Wahrung der Menschenwürde und fundamentaler ethischer Grundsätze. ({1}) Sie enthält die richtige Botschaft: Die Ausbeutung von Frauen ist abzulehnen. ({2}) Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag mit einer fraktionsübergreifenden Mehrheit in diesem Sinne auch gegen das Töten von Embryonen zu Forschungszwecken ausgesprochen und dieses Verbot sogar gesetzlich fixiert hat. ({3}) Dieses Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung gibt es aber leider nicht in allen EU-Mitgliedsländern. So droht nun in der Aufstellung des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU die unerträgliche Situation, dass mit deutschen Steuergeldern indirekt Forschung finanziert werden könnte, die in Deutschland verboten ist. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass verbrauchende Embryonenforschung auch auf europäischer Ebene keine Forschungsunterstützung erhalten darf. Dokumentiert wurde dies ausdrücklich mit dem Beschluss des Bundestages vom 16. Oktober 2003. Es ist daher als großer Erfolg zu werten, dass vor allem aufgrund des Drängens der rot-grünen Bundesregierung bisher keine EU-Forschungsmittel für verbrauchende Embryonenforschung ausgereicht wurden. Dieser Erfolg ist umso höher einzuschätzen, da er gegen den Willen des damaligen Forschungskommissars Busquin und gegen das Drängen von Ländern wie Großbritannien gelungen ist. Daher ist der heute von der Union vorgelegte Antrag im Kern mit unseren Vorstellungen vereinbar. Bereits im Vorfeld hatten wir angeboten, einen interfraktionellen Antrag gemeinsam einzubringen, damit dem gemeinsamen Anliegen auch das entsprechende politische Gewicht zugrunde liegt. Wir wissen doch, wie stark der Druck aus Großbritannien oder von Teilen der EU-Kommission ist, die Menschenwürde von Embryonen der Heilserwartung zu opfern. Wir halten es daher für zielführend, auch weiterhin interfraktionelle Beschlüsse in diesen ethischen Grundfragen zu fassen. In den Ausschussberatungen sollten wir diesen Versuch unternehmen. Auch für die grüne Fraktion gilt: Eine Forschungsförderung für verbrauchende Embryonenforschung im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU darf es nicht geben. Wir sollten uns gemeinsam überlegen, ob dieser Antrag nicht um die Ablehnung weiterer ethisch bedenklicher Forschungsmethoden erweitert werden sollte. Damit meinen wir, dass nicht nur die Forschung an und mit Embryonen, sondern auch die Nutzung menschlicher Eizellen in der Forschung klarer geregelt werden muss. Der Handel mit menschlichen Eizellen muss verboten werden, unter anderem deswegen, weil ihm gesundheitlich problematische Behandlungen vorangehen. Dabei beziehe ich mich auf die Entschließung des EU-Parlaments vom 10. März 2005. Darin wird klar gefordert, dass die Eizellspende zum Schutz der Spenderinnen streng reglementiert werden muss. Wir sollten auch diesen wichtigen Aspekt in einen Antrag des Bundestages aufnehmen. Damit stärken wir das Ersuchen des Europäischen Parlamentes an die Kommission, das Klonen von Menschen von der Finanzierung im 7. Forschungsrahmenprogramm auszuschließen. Meine Damen und Herren von der FDP, Frau Kollegin Flach, uns vom Bündnis 90/Die Grünen geht es - um das noch einmal ausdrücklich klarzustellen - nicht darum, Hoffnungen auf Heilung unerfüllt zu lassen. Für viele bisher schwer oder gar nicht zu behandelnde Krankheiten wie Alzheimer müssen wir nach Heilungsmöglichkeiten suchen. ({4}) Die Forschungsförderung bildet selbstverständlich einen wesentlichen Ansatz. Die Frage ist aber, ob wir ausgerechnet in ethisch verwerflichen Forschungsmethoden das Heil finden müssen. In den letzten Jahren hat sich doch eine große Ernüchterung für die Erfolgsaussichten von Therapiemöglichkeiten mit Stammzellen gerade bei Krankheiten wie Alzheimer breit gemacht. Wir sollten daher die Forschungsförderung vor allem für andere, deutlich Erfolg versprechende Möglichkeiten einsetzen. ({5}) Dort, wo Stammzelltherapien Aussicht auf Heilungschancen geben, bieten ethisch unbedenkliche Forschungen zum Beispiel mit adulten Stammzellen oder mit Stammzellenlinien, die vor dem Stichtag gewonnen wurden, genügend Möglichkeiten. Auch deswegen bedauern wir sehr, dass der Forscher Ian Wilmut mit deutschen Steuergeldern ausgezeichnet wurde, obwohl er ethisch verwerfliche Forschungen wie das Klonen von Menschen anstrebt. ({6}) Bündnis 90/Die Grünen haben das in der Öffentlichkeit und intern innerhalb der Regierung ausführlich kritisiert. Wir haben viele Fragen an Ian Wilmut. Kann er es ethisch vertreten, beschränkte Forschungsmittel für ethisch verwerfliche Forschungsmethoden auszugeben, obwohl sie mit Sicherheit keine Heilserwartung für die Hunderte von Millionen von Menschen ergeben, die vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern an Krankheiten sterben, für die es überhaupt noch keine Medikamente und erfolgreichen Behandlungsmethoden gibt? Hält er es für mit Art. 12 der Richtlinie 2004/23/EG, die klarstellt, dass Zahlungen - außer Entschädigungszahlungen - für Zell- und Gewebespenden in Europa nicht akzeptabel sind, ({7}) vereinbar, wenn Frauen für Eizellspenden eine IVF-Behandlung, eine Sterilisation, eine Zahnbehandlung oder Geld angeboten wird? ({8}) Wir setzen uns in diesem Hause wie auch im Europäischen Parlament dafür ein, dass sich die Forschungsförderung auf EU-Ebene am ethischen Prinzip der Menschenwürde und an den Bedürfnissen der Menschheit orientiert. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Dominke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Vera Dominke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003518, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Kollege Thomas Rachel ja schon mitgeteilt hat, hat sich das Europäische Parlament vor einer Woche mit großer Mehrheit gegen die Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung ausgesprochen. Es hat eine Resolution verabschiedet, nach der die Mitgliedstaaten, in denen eine solche Forschung - wie etwa in Großbritannien - erlaubt ist, diese auch selbst finanzieren sollen. Aus Mitteln der EU sollen dagegen die ethisch unbedenklichen Alternativen wie - Sie sagten es, Herr Rachel - die adulte Stammzellforschung gefördert werden. ({0}) Diese Resolution begrüßen wir ausdrücklich. ({1}) Leider können wir unseren Antrag damit aber noch nicht ad acta legen, denn die Entscheidungssituation in Europa ist viel komplizierter. In drei Wochen, am 6. April, will die EU-Kommission - so ist aus Brüssel zu hören - einen Vorschlag für das 7. Forschungsrahmenprogramm vorlegen. Dieser geht dann zu zwei Lesungen in das Europäische Parlament, das seinerseits Änderungsanträge stellen kann. Die letzte Entscheidung trifft dann der Ministerrat, der im günstigsten Fall die Änderungsanträge des Parlamentes berücksichtigt. Noch offen ist dabei aber, ob sich die Kommission in ihrem Vorschlag überhaupt zur Frage der Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung und zur embryonalen Stammzellforschung einlassen wird. Wenn sie das nicht tut, bleibt dieser Komplex weiterhin ungeregelt - mit der Folge, dass eine derartige Forschungsförderung durch die EU nicht ausgeschlossen ist. ({2}) Dieser Zustand besteht im Grunde genommen seit Anfang 2004, seitdem das Moratorium ausgelaufen ist, wie das auch im vorliegenden Antrag ausgeführt worden ist. Dieser Zustand sollte unseres Erachtens nicht andauern. ({3}) In der Sache haben wir in diesem Hause - das ist schon mehrfach angesprochen worden - bereits einige Male unsere Position und unsere Haltung zur verbrauchenden Embryonenforschung mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit bestätigt. Es wird jetzt weiterhin darauf ankommen, ob und wie die Bundesregierung dieses Votum des deutschen Parlamentes in Brüssel einbringt und vertritt. ({4}) - Wenn das so ist, Herr Tauss, dann ist es ja gut. Nichts anderes wollen wir. Mit unserem Antrag wollen wir der Bundesregierung noch einmal den erklärten Willen der Mehrheit des Parlamentes, Frau Flach, ({5}) mit auf den Weg geben. Wir erwarten, dass sich wiederum die Bundesregierung aktiv in diesem Sinne im Ministerrat einbringt und nicht wie gerade jüngst beim Beschluss des Wettbewerbsrates über die Richtlinie zu Softwarepatenten abtaucht. Auch hier hatten wir im Haus eine fraktionsübergreifende Mehrheit und der Vertreter der Bundesregierung hat nichts getan, um die Entscheidung des Rates zu beeinflussen. ({6}) Der dänische Kollege stand mutterseelenallein auf weiter Flur. ({7}) Wir erwarten, dass die Bundesregierung als Vertreterin dieses Staates, der einen nicht unerheblichen Anteil der Mittel in die EU einbringt, die Politik Europas aktiv und im Sinne der Beschlüsse des Bundestages mitgestaltet.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Dominke, der Kollege Tauss möchte Ihre Redezeit verlängern.

Vera Dominke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003518, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Tauss, ausnahmsweise - das habe ich noch nie getan - gestatte ich das einmal.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Und wir können sagen: Wir sind dabei gewesen. ({0}) Bitte schön.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dominke, seitdem wir unser Computerspiel so wunderbar abgeschlossen haben, hat sich Ihre Offenheit mir gegenüber offensichtlich unglaublich erhöht; darüber freue ich mich. Die Frage wäre, ob Sie zur Kenntnis nehmen würden, dass die Bundesregierung auch in der EU die Position des Deutschen Bundestages in Sachen Softwarepatente oder Patente für computerimplementierte Erfindungen vertritt und dass im Moment nicht im Rat eine Entscheidung zu korrigieren ist, sondern dies nur im Europäischen Parlament möglich ist und dass das Europäische Parlament in seiner großen Mehrheit offensichtlich die Position, die der Deutsche Bundestag und die deutsche Bundesregierung vertreten, übernehmen wird. Haben Sie diese Debatten auf europäischer Ebene schon mitbekommen?

Vera Dominke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003518, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, Herr Tauss, habe ich sie mitbekommen. ({0}) Gleichwohl möchte ich das nicht so im Raume stehen lassen. ({1}) - Herr Tauss, das ist doch jetzt ein bisschen daneben. Sie bestätigen jetzt meine bisherige Haltung, Ihre Zwischenfragen abzulehnen. ({2}) Dies wird heute eine Ausnahme bleiben. Tatsächlich war es - ich habe noch eine Redezeit von einer Minute; ich kann deswegen Ihre Frage im Rahmen meiner Redezeit beantworten, wenn Sie keine Antwort hören möchten - im Ministerrat möglich, ({3}) die Ansiedelung dieses Themas von der Liste B, die durchgewunken wird, in die Liste A zu übernehmen, wie es der dänische Wirtschaftsminister versucht hat, wobei er aber keine Unterstützung aus den anderen Staaten erfahren hat. Insofern hätte man an dieser Stelle, an der ein Einfluss der Regierungen möglich war, handeln können. ({4}) Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung bei diesem Thema auch auf der europäischen Ebene für ethische Grundwerte unseres Landes aktiv einbringt. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei um Unterstützung. Wir nehmen Ihr Angebot, Herr Kollege Röspel, und Ihr Angebot, Herr Kollege Fell, gerne auf, im Ausschuss zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Das würde das Thema sicherlich befördern. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das EU-Forschungsrahmenprogramm ist das weltweit größte Förderprogramm für Förderungsprojekte. Es wirkt auf die Schaffung eines europäischen Forschungsraumes hin und verbessert damit die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas. Ein zentraler Förderbereich ist dabei die Biotechnologie. Darunter fallen auch die Stammzellforschung - sowohl an tierischen als auch an menschlichen sowie an adulten wie an embryonalen Stammzellen und als Unterpunkt die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen. Für dieses Forschungsfeld gelten hier in Deutschland als die beiden zentralen nationalen Regelungen das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz. Beide Gesetze sind in diesem Hause umfangreich erörtert und einvernehmlich beschlossen worden. Wie mein Kollege René Röspel bin ich der Auffassung, dass die gemeinsame europäische Forschungsförderung mit diesen rechtlichen Grundlagen in Einklang stehen muss. ({0}) Wir haben in Deutschland mit dem Stammzellgesetz eine klare und akzeptierte Regierung gefunden. Unsere Wissenschaftler und Forscherteams halten sich an den vorgegebenen gesetzlichen Rahmen. Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach ist es selbstverständlich - Herr Rachel hat es auch schon angesprochen -, dass im Interesse der Chancengleichheit aller Mitgliedstaaten nur solche Forschungsprojekte von der EU gefördert werden, an denen sich Forscherteams aus allen Mitgliedstaaten beteiligen können. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland einen beträchtlichen Anteil des finanziellen Gesamtvolumens trägt - beim 6. EU-Forschungsrahmenprogramm sind es etwa 20 Prozent von 17,5 Milliarden Euro -, bin ich der Meinung, dass die Bundesrepublik auch einen entsprechenden Einfluss auf die Ausgestaltung des Programms haben muss. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns in diesem Punkt einig sind. Diese Einigkeit reicht noch weiter; denn auch die Bundesregierung vertritt diese Haltung. Sie setzt sich, wie sie es in der Vergangenheit schon unter Beweis gestellt hat, für die Berücksichtigung unserer nationalen rechtlichen und ethischen Grundsätze ein. ({1}) Dies scheint beim Verfassen des Antrags von Ihnen übersehen oder vergessen worden zu sein. ({2}) Bei der Lektüre Ihres Antrags konnte ich mich des Eindrucks eines Déjà-vu-Erlebnisses nicht erwehren. Die Hirnforschung jedoch belegt, dass es Déjà-vus, wie wir sie kennen oder zu kennen meinen, eigentlich gar nicht gibt. Auch mein vermeintliches Déjà-vu-Erlebnis war keines; denn nicht nur der Titel, sondern auch der Inhalt Ihres Antrags ist nahezu wortgleich mit dem interfraktionellen Beschluss, den wir hier im Bundestag am 16. Oktober 2003 gefasst haben. ({3}) Die Bundesregierung vertrat schon damals auf der Basis dieses Beschlusses in Europa die Ansicht, dass Forschungsarbeiten, an denen sich einzelne Mitgliedstaaten aus Rechtsgründen nicht beteiligen können, nicht von der EU gefördert werden sollten. Hierfür hat sich die Bundesregierung, wie ich finde, sehr engagiert eingesetzt. Sie hat diese Haltung in allen Gesprächen vehement und erfolgreich vertreten. Dafür gebührt dem Ministerium und insbesondere Wolf-Michael Catenhusen großer Dank; hier schließe ich mich den Worten von René Röspel an. Im aktuellen Forschungsrahmenprogramm werden deshalb auch nur solche Projekte gefördert, die nicht in Konflikt zu nationalen Gesetzgebungen stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, nun wollen Sie im Zusammenhang mit dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm eine Wiederauflage des Beschlusses von 2003. Mir scheint es aber so, als wollten Sie den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung von ihren damaligen Grundsätzen abgewichen sei. ({4}) Dem ist aber nicht so. ({5}) Die Haltung der Bundesregierung ist nach wie vor unverändert. Dies wird auch im Zuge der Verhandlungen zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm deutlich werden; dessen bin ich sicher. Ich sehe keinen Anlass für irgendeinen Zweifel. Noch einmal zur Klarstellung, worüber wir reden: Der Entwurf des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms, auf den Ihr Antrag abzielt, wird voraussichtlich im April von der Kommission vorgelegt werden. Es handelt sich dabei, wie gesagt, um einen Entwurf und nicht um das bereits beschlossene Programm. Mitte 2005 wird es wahrscheinlich einen offiziellen Vorschlag der Kommission geben. Die Beratungen von Rat, Kommission und Europäischem Parlament - wir haben vorhin gehört, wie das Europäische Parlament dazu steht; auch hier gibt es keinen Anlass zu Besorgnis - werden bis zur zweiten Jahreshälfte 2006 andauern. Ende 2006 wird das 7. EUForschungsrahmenprogramm voraussichtlich offiziell starten. Es bleibt also noch eine ganze Menge Zeit, „konzeptionelle Anregungen“, wie Sie sie fordern, einzubringen. Sie können sicher sein, dass dies, wenn es notwendig sein sollte, vonseiten der Bundesregierung auch getan werden wird. Kolleginnen und Kollegen, der interfraktionelle Beschluss vom Oktober 2003 ist unserer Ansicht nach absolut aktuell. Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, dass es für die Wiederholung der damaligen Aussagen in neuer Verpackung - aus meiner Sicht ist Ihr Antrag nichts anderes - keinen Bedarf gibt. Natürlich können wir dies tun. Man muss sich als Parlament jedoch fragen, ob man seine eigenen Beschlüsse nicht entwertet, wenn man sie immer wieder bekräftigen muss. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4934 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines DreiVizepräsident Dr. Norbert Lammert zehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 15/4736 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) - Drucksache 15/5112 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Friedrich Ostendorff Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbstündige Debatte stattfinden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Thalheim. ({2}) Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir schließen heute die Beratungen zur dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes ab. Ich bin überzeugt, dass uns der Entwurf in der vom Ausschuss geänderten Fassung einen großen Schritt weiterbringen wird. In dem Gesetzentwurf werden, wie Sie alle wissen, Forderungen aus der Tierärzteschaft und der Landwirtschaft aufgegriffen. Die Umsetzung wird zu Erleichterungen in der Praxis führen, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung von verschreibungspflichtigen Tierarzneimitteln, die keine Antibiotika sind. Diese können künftig für 31 Tage abgegeben werden. Zudem wird mit diesem Gesetz Gemeinschaftsrecht umgesetzt. Mit der Änderung der so genannten Umwidmungskaskade wird EU-Recht im Bundesrecht verankert. Darüber hinaus wird im Gesetzentwurf die Stellungnahme des Bundesrates berücksichtigt; damit werden die Interessen des Verbraucherschutzes und des Tierschutzes gewahrt. Das heute zur Entscheidung anstehende Gesetz schafft auf diesem Gebiet eine klare Rechtslage. Es trägt auf der einen Seite den berechtigten Interessen der Landwirtschaft und der Tierärzte Rechnung, auf der anderen Seite wird dem vorbeugenden Verbraucherschutz beim Thema Antibiotika der notwendige Stellenwert eingeräumt. Das ist notwendiger, als wir bei der Verabschiedung der elften AMG-Novelle dachten. Gerade in jüngster Zeit gab es wieder Informationen über Antibiotikarückstände in Fleisch- und Wurstwaren. Das muss uns alarmieren. Bereits mit der elften Novelle sind Verschärfungen eingeführt worden. Sie haben aber offensichtlich nicht zu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen. Am Ende eines so intensiven und langen Diskussionsprozesses lohnt es sich, ein wenig zurückzublicken. Ich erwähnte bereits die elfte AMG-Novelle. Diese ist am 21. November 2002 vom Bundesrat verabschiedet worden. Damals wurde beschlossen, Antibiotika nur noch für sieben Tage an die Tierhalter abzugeben. Das Bundesratsvotum war eindeutig, nämlich 16 : 0. Alle Länder waren damals dafür. Leider hat das einige Ländervertreter nicht davon abgehalten, in den darauf folgenden Diskussionen, beispielsweise in Bauernversammlungen - ich habe einige miterlebt -, diese Entscheidung zu kritisieren und dies der Bundesregierung anzulasten. ({3}) Um am Ende den Belangen der Landwirte Rechnung zu tragen, haben wir intensiv über Flexibilisierungsmöglichkeiten diskutiert. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt solche Ansätze. Einige werden heute Recht. Die Frage, die Siebentageregelung unter engen Restriktionen zu flexibilisieren, ist vom Bundesrat nicht aufgegriffen worden. Das erstaunt schon. Zuerst beschließt man diese Regelung mit einem Stimmenverhältnis von 16 : 0, dann wird dies kritisiert und es werden Änderungen gefordert. Aber als die Bundesregierung dann Änderungen vorschlug, lautete die Botschaft: Das war alles nicht so ernst gemeint, wir bleiben beim alten Recht, also der Siebentageregelung. Ich kann diese Regelung nur begrüßen; denn dies zeigt, dass die Bundesländer und die Verantwortlichen aus den Gesundheitsministerien der Freiheit bei der Antibiotikavergabe den entsprechenden Stellenwert einräumen. Insofern bleibt es dabei. Ich kann nur sagen: Es ist eine gute Entscheidung, die wir heute treffen. ({4}) Meine Damen und Herren, nach fast zweieinhalbjähriger Diskussion lohnt es sich natürlich auch, darüber nachzudenken, was wir nicht aufgreifen; auch das möchte ich erwähnen. Eine Pflicht zur Aufstellung eines Behandlungsplans wird es nicht geben. Die Tierärzte unterliegen schon heute umfassenden Aufzeichnungspflichten. Man muss nicht erst einen französischen Philosophen bemühen, um zu sagen, dass wir keinen zusätzlichen Behandlungsplan brauchen. Er ist überflüssig. Die Tierärzte sollen sich die Tiere anschauen und sie entsprechend behandeln. Um es mit einem tierärztlichen Begriff zu beschreiben, Herr Goldmann: Der Behandlungsplan ist eine Totgeburt. Mit der Totgeburt „Behandlungsplan“ sollte das gemacht werden, was Tierärzte und Landwirte üblicherweise mit Totgeburten tun. ({5}) Etwas anderes ist es bei der Problematik der Bestandsbetreuung. Das ist ein vernünftiger Vorschlag. Uns fehlen die grundgesetzlichen Möglichkeiten, das im Arzneimittelgesetz zu verankern. Aber über diesen Punkt sollten wir im Interesse der Landwirtschaft und im Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim Interesse des Erhalts der Gesundheit der Tierbestände reden. Ich kann nur hoffen und wünschen, dass dieses gute Gesetz auch sehr schnell vom Bundesrat verabschiedet wird, damit die Landwirte und die Tierärzte Rechtsklarheit bekommen und damit wir einen großen Schritt zu unserem Ziel, dass Produkte aus Deutschland keine Antibiotikarückstände enthalten, vorankommen. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf heilt nicht die schweren Fehler des Arzneimittelgesetzes von 2002. Im Gegenteil, von einem echten Durchbruch, auf den die Tierhalter und die Verbraucherschützer jetzt schon seit Jahren warten müssen, kann immer noch nicht die Rede sein. Auch das angebliche Ziel von mehr Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz durch Vermeidung von Antibiotikaresistenzproblemen in der Humanmedizin wird nicht erreicht. Sie lassen mit der Beibehaltung der Siebentageregelung die Tierhalter und die Tierärzte in einer rechtlichen Grauzone zurück. ({0}) Immerhin aber kann man attestieren, dass der langwierige Produktions- und Diskussionsprozess in diesem Parlament zu einigen Änderungen geführt hat. ({1}) Es hat das in diesem Parlament seltene Ereignis gegeben, dass sich die Berichterstatter der einzelnen Fraktionen - Sie, Herr Priesmeier, und meine verehrte Kollegin Frau Julia Klöckner waren dabei - über die Inhalte eines Gesetzes verständigen konnten. Der versendungsreife Brief durfte dann aber von der linken Seite des Hauses nicht unterzeichnet werden; das wurde seitens des Ministeriums blockiert. Damit wurde ein sinnvoller Prozess zum Erliegen gebracht. ({2}) Meine Damen und Herren, sei es drum! Inzwischen finden sich einige wichtige Korrekturen. Der Staatssekretär hat sie angesprochen; man soll sie auch erwähnen. Es gibt eine leicht flexibilisierte Handhabung bei den nicht antimikrobiell wirksamen Stoffen; sie können künftig für bis zu 31 Tage abgegeben werden. Es gibt die Möglichkeit, im Therapienotstand auch für Lebensmittel liefernde Tiere Arzneimittel in öffentlichen Apotheken herstellen zu lassen. Es gibt die Aufhebung des Abgabeverbotes für ungewidmete Arzneimittel. ({3}) Die Umwandlung der Genehmigungs- in eine Anzeigepflicht bei der Einfuhr von Arzneimitteln ist auch in Ordnung; das will ich ausdrücklich bestätigen. Aber das wesentliche Übel an der bestehenden Gesetzeslage ist damit bei weitem nicht ausgemerzt. Ich habe es schon angesprochen: Es bleibt bei der Siebentageregelung für die Aufbewahrung von Medikamenten. Kann mir jemand in diesem Hause erklären, welchen Unterschied es macht, ob die Medikamente sieben, acht oder zehn Tage auf dem Hof bleiben? Hier sind willkürliche Grenzen gewählt worden, die nichts mit der Praxis zu tun haben. Man hat diese Siebentageregelung etwas aufgeweicht, indem man die Formulierung der Leitlinien einer Tierarzneimittelanwendungskommission übertragen hat. ({4}) Tierarzneimittelanwendungskommission - schon der Name lässt nichts Gutes erwarten. Sie trauen der Fachkompetenz der Tierärzte nicht. Sie unterstellen den Bauern ein Interesse am Medikamentenmissbrauch ({5}) und verhindern die schnelle Umsetzung von Erfahrungen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis. Es ist, wie es immer ist: Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis, in diesem Falle: eine Kommission. Dem eigentlichen Ziel, einen Beitrag zur Verringerung des Medikamenteneinsatzes zu leisten, kommen Sie nicht nach. Ganz im Gegenteil, sie bringen die Landwirte und Tierärzte in schwierigen Situationen in eine rechtliche Grauzone. Wenn da einmal richtig kontrolliert würde, kämen die entsprechenden Ergebnisse zum Vorschein. Wir meinen, dass die Siebentageregelung so nicht sinnvoll ist, und fordern, im Rahmen eines Behandlungsplans bzw. eines Betreuungsvertrages zwischen Landwirt und Tierarzt beide Gruppen in die Verantwortung zu nehmen, um einen zielgerichteten Medikamenteneinsatz zu gewährleisten. Hierfür haben wir entsprechende Bedingungen formuliert, die ich Ihnen kurz nennen will: Erstens. Natürlich muss eine Dokumentation der angewandten Untersuchungsverfahren, der Diagnose und des verschriebenen Arzneimittels stattfinden; das geschieht heute schon bei der Abgabe von Medikamenten. Dennoch muss das hier wiederholt werden. Zweitens. Eine spezielle Behandlungsanweisung für den Tierhalter sowie Hinweise für die sachgerechte Lagerung der Arzneimittel müssen gegeben werden; auch das ist richtig. ({6}) Drittens. Die Dokumentation der Kontrolle der Arzneimittelanwendung und des Behandlungserfolges muss ebenfalls geschehen. Viertens. Auch die Dokumentation von eventuellen Wiederholungsuntersuchungen und deren Ergebnissen muss erfolgen, damit die Lebensmittelsicherheit gewährleistet bleibt. Der Schwerpunkt aber liegt auf dem Abschluss eines Betreuungsvertrages, weil damit erstmals das Interesse des Tierarztes an der Gesunderhaltung des Bestandes gestärkt wird und nicht nur an der Abgabe von Medikamenten oder an der Durchführung sonstiger Behandlungsmaßnahmen. Auch hier wollen wir Standards. Dazu gehören natürlich die Dokumentation des Gesundheitszustandes der Tiere, die Prüfung der Dokumentation der Arzneimittelanwendungen sowie eventueller Behandlungspläne durch den entsprechenden Veterinär, die Prüfung der ordnungsgemäßen Lagerung der Medikamente beim Tierhalter durch den Tierarzt sowie die obligatorische Festlegung der Bestandsbetreuung durch nur einen Tierarzt. Wenn wir das machten, würden wir allen gesellschaftlichen Gruppen und auch dem Tierschutz gerecht. Ich appelliere noch einmal an die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen, aber auch an die Bundesländer, auch diesen letzten Mangel des Gesetzentwurfs zu beheben. Dann hätten wir für alle Beteiligten etwas geschaffen, was wir ursprünglich alle wollten. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worum geht es bei der dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes, über die wir heute beraten? Mit dem im Jahr 2002 in Kraft getretenen Elften Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes wurden neue Regeln für den Umgang mit Tierarzneimitteln aufgestellt. Ziel war es, im Sinne des vorsorgenden Verbraucherschutzes und des Gesundheitsschutzes den Einsatz von Tierarzneimitteln auf ein therapeutisch notwendiges Mindestmaß zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen zu vermeiden, die Qualität von Tierarzneimitteln zu verbessern und die Sicherheit im Umgang mit Tierarzneimitteln zu erhöhen. Die Erfahrungen mit der Anwendung und dem Vollzug dieses Gesetzes haben uns aber inzwischen gezeigt, dass bei einigen Regelungen offenbar Anpassungsbedarf im Hinblick auf die Anwendbarkeit in der Praxis besteht. Wir haben uns im Verbraucherausschuss frühzeitig dieser Probleme angenommen und ich glaube, für uns alle sagen zu können, dass wir einen langen und intensiven Diskussionsprozess hinter uns haben. ({0}) Wir sind auf die Kritik des Bundesrates und der Tierärzte eingegangen. Wir haben Anhörungen durchgeführt und eine interfraktionelle Arbeitsgruppe eingerichtet. Wir mussten allerdings feststellen, dass sich die Tierärzteschaft als besonders betroffene Gruppe in der Bewertung dieses Gesetzes offenbar alles andere als einig ist. Auch der Bundesrat vertritt heute eine etwas andere Meinung als vor einem Jahr. Wir begrüßen das. Insbesondere die ursprünglich von vielen Seiten als praxisfremd kritisierte Siebentageregelung hat sich inzwischen offenbar als wesentlich unproblematischer erwiesen als zunächst behauptet. ({1}) So schreibt der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf - ich zitiere -: Bei der Umsetzung der 7-Tage-Regelung für Antibiotika wurden keine konkret nachweisbaren Probleme in der tierärztlichen Praxis festgestellt … Das erstaunte uns. Ich denke, damit sollte die dickste Kuh vom Eis sein und wir können zu einer zügigen Verabschiedung der dreizehnten AMG-Novelle kommen. Wir haben eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die der Praxis Erleichterungen bringen, etwa bei der Abgabe von Teilmengen - Herr Bleser wies darauf hin -, der Anpassung der so genannten Umwidmungskaskade an die EU-Richtlinie 2004/28/EG und der Aufhebung des Abgabeverbots umgewidmeter Arzneimittel. ({2}) Was die zu bildende Sachverständigenkommission angeht, so brauchen wir uns an dieser Stelle über deren Zusammensetzung nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, da diese ohnehin erst durch eine nachfolgende Rechtsverordnung festgesetzt werden wird. Ich denke, die lange und schwierige Diskussion, die wir über diese dreizehnte AMG-Novelle geführt haben, sollte uns allen eine Warnung sein, die jetzt gefundene weitgehende Einigkeit mit den Ländern nicht wieder infrage zu stellen. Das sage ich insbesondere mit besorgtem Blick auf das, was aus Richtung CDU/CSU zu hören ist. Wir bemerken sehr wohl, dass Sie alles tun, um die unionsgeführten Länder von der gefundenen vernünftigen Linie wieder abzubringen. Frau Kollegin Klöckner, Sie müssen langsam wirklich aufpassen, sich und den Bundesrat nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. ({3}) Wir haben die Sache nun zwei Jahre lang in alle Richtungen lang und breit diskutiert. Der Bundesrat wollte erst so, dann anders, dann wieder so. Wir haben Ihnen wahrlich genug goldene Brücken gebaut, um eine Lösung zu finden. Das, was jetzt im Gesetzentwurf steht, entspricht in den entscheidenden Punkten exakt den Wünschen des Bundesrates. Wenn ich jetzt höre, dass Sie, Frau Kollegin Klöckner, alles daran setzen, die Länder in dieser Sache zur Anrufung des Vermittlungsausschusses zu überreden, dann muss ich sagen, dass Sie damit Ihre persönliche politische Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. ({4}) Ich hoffe, Sie folgen in diesem Punkt Edmund Stoiber, der hier heute wörtlich sagte - ich zitiere -: Auch ich sehe Deutschland in einer Krise, weil wir im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behandeln … Frau Klöckner, leisten Sie Ihren Beitrag zur Überwindung der Krise und folgen Sie Herrn Stoiber, ({5}) indem Sie dafür sorgen, dass uns wenigstens bei diesem Gesetz der Vermittlungsausschuss erspart bleibt. ({6}) - Wir haben Wilhelm Schmidt mit dabei. Es könnte also gelingen. Ich glaube, wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem wir wirklich sagen sollten: Jetzt machen wir den Sack zu. Die Praxis braucht vor allen Dingen eines, nämlich Rechtssicherheit. Die praxisuntauglichste Regelung dafür wäre die, die nicht beschlossen wird. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion, das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist die Absicht aller, Tiere gesund zu erhalten bzw. zu heilen. Man braucht dafür eigentlich keinen Bundestag oder Bundesrat, sondern nur gesunden Menschenverstand und gesunden fachlichen Verstand. ({0}) Tierärzte werden sehr vernünftig ausgebildet; Kollege Priesmeier, wir beide kennen das ja. Die Ausbildung dauert fünf Jahre, danach bildet man sich fort bzw. weiter. Hier aber geschieht etwas ganz Eigenartiges. Mit Unterstützung von Veterinärbeamten einiger Bundesländer kommt der Gesetzgeber daher und sagt: Das, was euch euer gesunder Menschenverstand und die Fachlichkeit vorgeben, gilt nicht mehr; denn wir wollen das nicht. - Insofern muss man sagen, dass dieses Gesetz an der Ausgestaltung der Siebentageregelung scheitert, weil sie - Kollege Priesmeier weiß das ganz genau; denn er ist ja noch praktizierender Tierarzt - den Gesichtspunkten Tierschutz, Praxisgerechtigkeit, Heilungsauftrag, Vorsorgeauftrag, vernünftiger Umgang mit Kosten und vernünftiges Miteinander von Landwirten und Tierärzten schlicht und ergreifend nicht gerecht wird. Das wissen alle. Wir wissen ganz genau, wie es zu dieser Regelung gekommen ist. Zwei Ministerialbeamte, Veterinäre, aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachen, die schon im Vermittlungsausschuss eine entscheidende Rolle spielen wollten und die man sie auch spielen ließ, haben dafür gesorgt, dass eine Siebentageregelung im Gesetz verankert ist, die fachlichen Ansprüchen nicht gerecht wird und auch dem Gedanken des Verbraucherschutzes nicht Rechnung trägt. ({1}) Kollege Ostendorff, ich bin sehr dafür, dass man Antibiotika nur in dem Maße einsetzt, wie es nötig ist. Aber es ist schlicht ein Märchen, dass der Antibiotikaeinsatz in der Tiermedizin Resistenzen befördert. Sie wissen ganz genau, dass neueste Untersuchungsergebnisse das Gegenteil belegen. Herr Thalheim, es ist schade, dass Sie im Zusammenhang mit der Siebentageregelung nicht bereit waren, mit uns einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Ich weiß, dass das in den so genannten neuen Ländern etwas anders aussieht. Natürlich sind für die Großbetriebe keine Behandlungspläne notwendig; denn dort kommt der Tierarzt jeden Tag vorbei. Aber bei kleineren Betrieben, bei denen die Gefahr besteht, dass der Landwirt kostenmäßig, fachlich und auch sonst überfordert ist, wäre es besser gewesen, wenn man die Siebentageregelung mit dem Behandlungsplan verknüpft hätte. Das sagen auch alle vernünftigen Tierärzte. ({2}) Nun kommen Sie auf die besonders glorreiche Idee, eine Tierarzneimittelanwendungskommission einzusetzen. ({3}) Das ist an sich für jeden praktizierenden Tierarzt eine schallende Ohrfeige. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Die Tierärzte haben sich große Mühe gegeben, studiert und sich fortgebildet, und dann wird per Gesetz eine Tierarzneimittelanwendungskommission vorgeschrieben, die eine Aufgabe übernimmt, die im Grunde genommen mit dem Gesetz selbst gar nichts zu tun hat, sondern eine wissenschaftliche Herausforderung ist. Es geht darum, Leitlinien zu entwickeln, die den Antibiotikaeinsatz begleiten. Nebenbei bemerkt haben die Tierärzte das Wort „Tierarzneimittelanwendungskommission“ zum Unwort des Jahres gewählt. Schon daran können Sie sehen, dass diese Kommission eine gesetzgeberische Missgeburt ist. Sie nehmen die Kommission ja selbst nicht ernst; denn im Gesetz ist für die Kommission eine Mittelausstattung in Höhe von 7 000 Euro vorgesehen. Wenn Sie sich einmal anschauen, wer in diesem Bereich tätig ist, dann wird klar, dass diese Summe noch nicht einmal für Fahrtkosten reicht, geschweige denn für Flugkosten oder Sitzungsgelder. Diese Kommission ist wirklich nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Einige Verbesserungen sind erreicht worden, Kollege Ostendorff und Kollege Priesmeier. Wenn wir den Weg, den wir nach der Anhörung gehen wollten, weitergegangen wären - aber Sie beide sind zurückgepfiffen worden -, könnten wir heute eine Novelle zur Änderung des Arzneimittelgesetzes verabschieden, das fast allen Belangen der Praxis Rechnung trägt. Ich bedauere sehr, dass es nicht zu dieser Regelung gekommen ist. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin heute richtig froh, dass das Fass, die dreizehnte Novelle, endlich zugemacht wird und wir einen gewissen Erfolg verbuchen können, wenn auch letztlich nicht alle Wünsche der Beteiligten in Erfüllung gegangen sind. Ich will noch einmal darauf hinweisen, warum es erst zur elften und anschließend zur dreizehnten Novelle gekommen ist. ({0}) Die Ausgangssituation war der Fechter-Skandal in Bayern, der das Vertrauen der Verbraucher in tierische Lebensmittel in Sachsen, Thüringen und BadenWürttemberg - bis nach Österreich - schwer erschüttert hat. Die damalige Gesundheitsministerin in Bayern, Frau Stamm, hat monatelang, vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang - nach den Auskünften des Kollegen Pschorn weiß man das nicht so genau - Hinweise auf diesen Missbrauch in der Schublade liegen gelassen und ist dem nicht nachgegangen, was letztendlich zu ihrem Rücktritt geführt hat. Die Reaktion erfolgte nach dem Motto: Da läuft der Schuldige; da wird ein Gesetz gemacht. Mit der elften AMG-Novelle hat man nach meiner Einschätzung überreagiert. ({1}) Das war der Ausgangspunkt. Dafür ist der Bundesrat mit einem Votum von 16 : 0 verantwortlich, mit Sicherheit nicht die Bundesregierung. Das wissen auch Sie. ({2}) Das Problem, das wir heute bei der Umsetzung und Anwendung der dreizehnten Novelle haben, ergibt sich sicherlich nicht nur aufgrund des Inhalts dieses Gesetzes und der Vorgabe der Siebentagefrist. Die Gestaltungsmöglichkeiten, die man zwischenzeitlich gefunden hat - darunter muss man auch die Anwendungshinweise fassen, die sich im Rahmen der Anwendung der elften Novelle durch entsprechende Interpretation aus dem Umfeld der LAGV ergeben haben -, haben dazu geführt, dass es offensichtlich nun doch möglich ist, mit sieben Tagen zurecht zu kommen, ohne den Verbraucherschutz, die Sicherheit und die Rückstandsfreiheit tierischer Lebensmittel infrage zu stellen. Das Problem, das wir weiterhin auf der Länderebene haben werden - das wissen auch Sie, Herr Kollege Goldmann -, betrifft die Überwachung. ({3}) Wenn man Regelungen flexibler gestalten will, muss man in der Lage sein, diese Vorgaben zu überprüfen und zu kontrollieren. Dazu ist die Länderebene offensichtlich nur begrenzt in der Lage. Die Beamten haben mit allergrößten Befürchtungen auf die Behandlungspläne reagiert. Sie hatten die Befürchtung, dass das gesamte Veterinäramt unter Umständen eine Extraabteilung anmieten muss, um die Überwachungspläne unterbringen und kontrollieren zu können. Am Anfang war auch ich ein Anhänger des Behandlungsplans. Aber die Aussage, die in dem Behandlungsplan getroffen werden soll, ist nicht viel weit reichender als das, was wir in dem normalen Anwendungs- und Abgabebeleg auch haben. Ein alternativer Lösungsansatz war die Indikationenliste, die nun Gott sei Dank vom Tisch ist. Ich halte auch sie für nicht anwendungsfähig. Vor diesem Hintergrund ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass es vielleicht doch besser ist, die Siebentagefrist beizubehalten. Ob das bei der fünfzehnten Novelle auch so sein wird - das Arzneimittelgesetz wird häufiger novelliert; die vierzehnte Novelle ist schon in Bearbeitung, wenn auch aus anderen Gründen -, lasse ich einmal dahingestellt. Eine Sache ist natürlich auch klar: Das, was damals von Bayern initiiert wurde und Bundesratsbeschluss war - das ist hier schon angesprochen worden -, ist grundsätzlich richtig. ({4}) Nur, das AMG ist nicht die Rechtsgrundlage, mit der man das juristisch umsetzen kann. Das steht außer Frage, auch wenn man die höchstrichterlichen Rechtsprechungen in anderen Bereichen betrachtet. Es liegt nicht in unserer Kompetenz, diesen Bereich hier im Bundestag zu regeln. Denn Art. 74 des Grundgesetzes über die konkurrierende Gesetzgebung bietet dafür keine Rechtsgrundlage. Wir haben ausschließlich den Verkehr mit Arzneimitteln zu regeln, nicht die Gestaltung unter Umständen privater Vertragsverhältnisse, wie es im Rahmen der Bestandsbetreuung üblich ist. Daher appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, welche Rechtsgrundlage wir gemeinsam mit den Ländern finden können! Die Rechtsgrundlage, für die dringend nötige Regelung dieses Bereichs kann das AMG zwangsläufig nicht sein. Ich sehe eine vernünftige Perspektive, dieses Vorhaben im Konsens mit den Ländern anzugehen. Denn zu dem Gesetzentwurf, der von Bayern eingebracht worden ist, hat die Bundesregierung gesagt, dass sie das grundsätzliche Ansinnen positiv bewertet. Vor diesem Hintergrund halte ich es für vernünftig, dieses noch einmal anzugehen. Wenn es uns im Interesse auch anderer Aufgaben, die wir haben, gelingt, das umzusetzen, dann bedeutet das eine entscheidende Verbesserung der Qualität von tierischen Lebensmitteln, weil wir den Gesundheitsstatus verbessern und auch die Anwendung von Arzneimitteln in den Konzepten der integrierten tierärztlichen Bestandsbetreuung weiter minimieren können. Das ist unbestritten. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken! Dann können wir der dreizehnten Novelle mit ihren positiven Auswirkungen und ihren Erleichterungen ein Mehr an Sicherheit für die Verbraucher und die Landwirte und ein neues Instrumentarium, mit dem wir dieses regeln, hinzufügen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal ein herzliches Dankeschön an die Berichterstatterkollegen. Lieber Wilhelm Priesmeier, Sie haben uns aufgefordert, gemeinsam über das Thema nachzudenken. Wir haben aber schon die vergangenen zwei Jahre darüber nachgedacht. Für uns mag das durchaus witzig sein, sich zusammenzusetzen, aber für die Tierhalter, die Tierärzte, die Tiere selber und für die Verbraucher ist es alles andere als witzig, wenn wir zwei Jahre lang im Bundestag zusammentreffen und der Einwurf von Bayern zunächst als wunderbar bezeichnet wird, aber dann wieder zurückgerudert werden muss. Zu Beginn der Legislaturperiode saßen wir vier als Vertreter der vier Fraktionen im Parlament beisammen und haben uns auf die Punkte parteiübergreifend geeinigt, die in unserem Antrag enthalten sind und die auch die FDP unterstützt hat. Wir haben uns auch über die Flexibilisierung und die Änderung bzw. Öffnung der Siebentageregelung geeinigt. Ich hätte gerne heute zur Erinnerung die Reden aus jener Zeit noch einmal gehört. ({0}) - Da waren wir zwar noch jünger - das mag vielleicht sein -, aber nicht dümmer. Insofern bedaure ich das sehr. Wenn Sie ehrlich wären, lieber Kollege Ostendorff und lieber Kollege Priesmeier, dann sollten Sie sagen, dass es Ihnen wehtut, den Gesetzentwurf heute verteidigen zu müssen; denn als Praktiker empfinden Sie doch beide ganz anders. ({1}) Es heißt zwar „Gut Ding braucht Weile“, aber nicht alles, was lange dauert, ist dann auch wirklich gut. Wir befassen uns heute im Plenum zum fünften Mal mit der dreizehnten Novelle des Arzneimittelgesetzes. In diesem langen Arbeitsprozess wundert man sich manchmal über nichts mehr. Sie wurden damals zurückgepfiffen, Kollege Ostendorff. Von Regierungsseite hieß es seinerzeit, Sie dürften den Brief, den wir im Sinne eines gemeinsamen Gesetzesvorhabens an die Ministerin senden wollten, nicht unterschreiben. Wir wollten damit ein Zeichen nach draußen setzen, dass wir ein Gesetz aus der Mitte des Parlaments heraus schaffen. Wir könnten schon seit über einem Jahr mit diesem Gesetz leben. Aber das war Ihnen aufgrund des Koalitionsvertrags nicht möglich. Auch der Kollege Priesmeier durfte nicht mitmachen. Insofern war das Vorhaben versenkt. Aber nach dem, was Sie heute ausgeführt haben, scheint es diesen Brief nie gegeben zu haben. Das ist wahrscheinlich das Los, wenn man in der Regierung ist. Uns tut das sehr Leid; denn uns geht es um eine Verbesserung der Zustände und um die praxisgerechte Umsetzung der Siebentageregelung. Lob verdienen einige Verbesserungen, die von der CDU/CSU, der FDP, den beiden Kollegen Priesmeier und Ostendorff und auch vom Bundesrat - auch dafür waren wir sehr dankbar - immer wieder gefordert worden sind. Danach werden das Umfüllen von Arzneimitteln aus fertigen Gebinden, das fachgerechte Neuverpacken und Kaskadenregelungen ermöglicht. Alles in allem werden viele Maßnahmen möglich, die der Praxis gerecht werden. Das verdient Lob. Herzlichen Dank! ({2}) Aber eigentlich geht es um die Siebentageregelung, und zwar um deren Flexibilisierung, nicht um die Streichung. Wir sind nach wie vor dem Verbraucherschutz und dem Tierschutz verpflichtet. Es geht nicht darum, dass leicht und locker Antibiotika eingesetzt werden sollen. Das ist auf keinen Fall beabsichtigt. Es geht uns vielmehr darum, wie eine sachgerechte Anwendung sichergestellt und dokumentiert werden kann. Wir wollen insofern keine ersatzlose Abschaffung der Siebentageregelung, aber wir sind der Meinung, dass eine praxisgerechtere Lösung durch entsprechende Kriterien des In-Verkehr-Bringens - das heißt: flexible tierärztliche Behandlungspläne und Aufnahme von Betreuungsverträgen je nach Tierhaltungsart - möglich sind. Ehrlich gesagt bin auch ich nicht ganz glücklich über den Bundesrat. Dass sich die Länder - das gilt vor allem für unsere Kollegen aus dem Osten - durchgesetzt haben, die eine andere Tierstruktur haben, ist nachvollziehbar, aber ich halte es für zu kurz gedacht. ({3}) - Eine Kuh ist eine Kuh. Schön, dass Sie das einwerfen. ({4}) - Und ein Ochs ist ein Ochs. Auch das mag sein. Aber es hat durchaus mit der Tierhaltung zu tun, ob Sie eine Kuh oder große Herde haben und ob Sie Mutterkuhhaltung auf der Weide betreiben oder ob die Kühe im Stall sind. Das ist eine grundsätzliche Unterscheidung. Man merkt, dass Sie kein Praktiker sind. ({5}) Am besten lesen Sie etwas zu dem Thema nach und halten sich an dieser Stelle etwas zurück. ({6}) Schlicht und ergreifend falsch, lieber Kollege Priesmeier, ist meiner Meinung nach die Argumentation, dass der Bund in diesem Bereich angeblich keine Regelungskompetenz hat. Träfe das zu, dann wäre auch das jetzt geltende Recht nach der elften Novelle verfassungswidrig. Denn es geht um die auch dort geregelten regelmäßigen tierärztlichen Begutachtungen. ({7}) - Ich freue mich immer, wenn die FDP mich dabei unterstützt. - Das ist eine Auslegungsfrage und Sie wissen, dass ich darin Recht habe. ({8}) Es geht hier nicht um die konkrete Ausgestaltung zum Beispiel eines Behandlungsvertrags, sondern um die gesetzlich festzulegenden Anforderungen und deren Umsetzung. Wenn man will, geht das. Ich weiß, dass Sie gerne würden. Aber Sie durften nicht. Insofern dürfen Sie jetzt nicht wollen. Mir ist schon klar, dass es so ist. ({9}) - Sie waren ja zu Beginn der Gespräche gar nicht dabei, als wir darüber diskutiert haben. ({10}) Apropos Kompetenzfragen: Der Oberhammer ist - darauf hat Kollege Goldmann schon hingewiesen - die Tierarzneimittelanwendungskommission. Das ist eine dreiste Kompetenzverschiebung. Letztlich ist sie nichts anderes als eine Tierärzteentmündigungskommission. ({11}) Jedenfalls sind ganze 7 000 Euro für die Arbeit der Experten vorgesehen. Das reicht vielleicht gerade einmal für die Reisekosten. Meiner Meinung nach geht es hier nur vordergründig um die Fortschreibung der Antibiotikaleitlinien. Diese wurden seit 1999 ständig fortgeschrieben, und zwar auch ohne diese Kommission. Obwohl Sie selbst Tiermedizin studiert haben, tun Sie nun so, als gäbe es bis dato keine Leitlinien. Diese gibt es doch. Ehrlich gesagt geht es dem BMVEL um etwas ganz anderes: Ihnen geht es um einen Zugriff auf die Tierarzneimittelgesetzgebung, die bisher in die Zuständigkeit der Gesundheitsministerin fällt. Nun möchte Frau Künast das über die geschilderte Hilfskonstruktion ändern. Halten wir fest: Es gibt gute Ansätze. Die Arzneimittelanwendungskommission muss aus dem Gesetzentwurf herausgenommen werden. Die Siebentageregelung muss flexibilisiert werden. Wir würden gerne weiterhin zusammen mit Ihnen an der Novelle arbeiten, und zwar lieber in dieser Legislaturperiode, als später noch einmal ein Fass aufzumachen und von vorne zu beginnen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, Drucksache 15/4736. Der Ausschuss für Verbraucher- schutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5112, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/ CSU-Fraktion und FDP-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Detlef Parr, Ulrike Flach, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik ({0}) - Drucksache 15/1234 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({2}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Sachstandsbericht Präimplantationsdiagnostik - Praxis und rechtliche Regulierung in sieben ausgewählten Ländern - Drucksache 15/3500 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Detlef Parr von der FDP.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst den anderen Fraktionen herzlich danken, dass die FDP als Erste zu Wort kommen kann und dass wir einmal fünf Minuten und nicht weniger haben. Ganz herzlichen Dank. Die FDP unternimmt heute ihren zweiten Versuch, aufbauend auf einem Antrag und einem Gesetzentwurf aus der vergangenen Wahlperiode, die Präimplantationsdiagnostik, PID - das ist eine Form der künstlichen Befruchtung, um den Embryo vor der Einpflanzung auf die Gefahr einer schwerwiegenden Erbkrankheit zu untersuchen -, auch in Deutschland rechtlich abzusichern. Damals bedurfte es noch großer Anstrengungen, zur Anhörung Experten aus dem Ausland einzuladen. Dabei ist doch der Blick zu unseren europäischen Nachbarn und nach Übersee besonders wichtig, um Fehlentwicklungen zu erkennen oder uns an Vorbildern zu orientieren. Wir leben nämlich nicht auf einer Insel mit willkürlich gesetzten moralischen Schutzzäunen. ({0}) Wir leben vielmehr im Herzen Europas nahezu ohne Grenzen. Wir können leicht medizinische Leistungen in Frankreich, Belgien und Italien in Anspruch nehmen. Es ist doch absurd, wenn dort akzeptierte medizinische Verfahren bei uns unter Strafe gestellt sind. Es ist ein Verdienst des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung - danke, Kollegin Flach! -, dass durch den vorliegenden Sieben-Länder-Vergleich zur Praxis und rechtlichen Regulierung der PID eine gute Grundlage zur Fortsetzung der von der FDP im Bundestag angestoßenen Debatte in diesem Hause geschaffen worden ist. Die Untersuchung - man kann sie natürlich unterschiedlich lesen - beweist aus unserer Sicht: Die FDP hat ihren ersten Gesetzentwurf sehr sorgfältig überarbeitet. Sie hat im vorliegenden Gesetzentwurf vielen Aspekten Rechnung getragen, die nach den praktischen Erfahrungen in den Vergleichsländern von hoher Bedeutung sind. Wir wollen Rechtssicherheit für die betroffenen Paare und die Ärzte. Die PID muss aus der rechtlichen Grauzone heraus. ({1}) Wir wollen den Wertungswiderspruch auflösen, dass PID zwar verboten ist, dass es den Eltern aber ermöglicht wird, sich nach einer Pränataldiagnostik für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Wir wollen die PID nur in engen Grenzen im Falle einer hohen Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Erbkrankheit zulassen. Wir wollen die Diagnostik nur in Einzelfällen bei hoher Indikation nach vorheriger Billigung durch eine Ethikkommission ermöglichen. Außerdem wollen wir nur wenige lizenzierte Zentren in Deutschland. ({2}) Wir verzichten auf einen Indikationskatalog. Wir dürfen bestimmte Krankheitsbilder nicht stigmatisieren. ({3}) Die PID soll also eine Untersuchungsmethode bleiben, Herr Kollege Hüppe, die einer überschaubaren Zahl von Risikopaaren, die genetisch stark vorbelastet sind, vorbehalten bleibt. ({4}) In die jetzt vorliegende Fassung hat die FDP auch die Bedenken aus der Plenardebatte und der Anhörung zum alten Gesetzentwurf aufgegriffen und eingearbeitet. Die Festlegung der Kriterien für die Zulässigkeit der PID soll - anders als zuvor - nicht durch die Bundesärztekammer, sondern durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung bzw. durch uns selbst, also durch das Parlament, erfolgen. Zudem wurde die Anregung des Nationalen Ethikrates, eine jährliche Berichtspflicht vorzusehen, eingearbeitet. Der TAB-Bericht zeigt einerseits die drohenden Gefahren auf, wenn - die USA können dafür als Beispiel angeführt werden - die PID ungeregelt praktiziert und auf Indikationen ausgedehnt wird, die über die Erkennung des Risikos einer Erbkrankheit hinausgehen. Das wollen wir nicht. ({5}) Er zeigt andererseits die guten Erfahrungen unserer direkten Nachbarn, zum Beispiel Frankreichs, mit strengen Indikationsregelungen auf. Das wollen wir. Kassandrarufe über einen Dammbruch gehen offensichtlich ins Leere. ({6}) Bisher ist die Sichtweise der betroffenen Eltern viel zu kurz gekommen. Der Leidensdruck und der Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, sind immens. Meist haben die Eltern schon ein erkranktes Kind oder Schwangerschaftsabbrüche nach einer PND hinter sich. Diese Eltern wünschen sich mehrheitlich die PID. Endlich gibt es auch dazu eine Studie. Die Arbeit der Universität Marburg bestätigt auch, wie wichtig die AufkläDetlef Parr rung über die Chancen und Risiken der Methode und die Beratung sind. Eltern müssen ihre Entscheidung auf gesicherter Grundlage treffen können. Wir verstehen nicht, dass in Deutschland hingenommen wird, dass sich betroffene Eltern an Zentren im Ausland wenden und dort die PID in Anspruch nehmen. Dieser „Reproduktionstourismus“ ist eine traurige Realität. So sind zum Beispiel in Brüssel circa 20 Prozent der nachfragenden Paare deutscher Nationalität. Niemand von uns kann doch wollen, dass das so weitergeht. ({7}) Ich komme zum Schluss. Eine Insellösung für Deutschland ist daher nicht haltbar. Die Befürchtungen, dass die Zulassung der PID negative Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen haben könnte, nehmen wir sehr ernst. Doch gerade betroffene Eltern kommen meist aus einem unmittelbaren Umfeld von behinderten Menschen und zeigen eine positive Einstellung zu Menschen mit Behinderungen. Auch dies bestätigt die Marburger Studie. Zudem gibt die Gesellschaft den Eltern schon mit der PND die Möglichkeit, zu entscheiden, ob ein behindertes Kind ausgetragen werden soll oder nicht. Ich bin auf die Neuauflagen unserer Debatte gespannt. Ich wünsche mir nach den zunehmend positiven Expertisen und Abstimmungsergebnissen in anderen Gremien eine offenere und unvoreingenommenere Auseinandersetzung im Interesse der betroffenen Paare. Sie dürfen wir mit ihren Sorgen nicht länger alleine lassen. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Erika Ober von der SPD-Fraktion.

Dr. Erika Ober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute steht mit dem Gesetzentwurf der FDP wieder die Präimplantationsdiagnostik auf der Tagesordnung. Ich persönlich finde es gut, dass über dieses wichtige und auch schwierige Thema an dieser Stelle debattiert wird. Lieber Herr Parr, es ist kein Thema, das fraktionsweise abzuhandeln ist. ({0}) Deshalb ist es auch klar, dass Sie als Einbringer des Gesetzentwurfes hier als Erster reden durften. ({1}) Als Erstes weise ich ausdrücklich darauf hin, dass die Rechtslage klar geregelt ist. Wir brauchen zum jetzigen Zeitpunkt keinen neuen Gesetzentwurf, der eine Rechtsverordnung zum Ziel hat. ({2}) Was wir brauchen, ist eine breite und öffentliche Sachdiskussion darüber, wie wir zukünftig mit dem Thema Präimplantationsdiagnostik umzugehen haben. Aus diesem Grunde begrüße ich die heutige Debatte. Ich denke, dass eine Rechtsverordnung, wie sie die FDP in ihrem Entwurf vorschlägt, der Komplexität des Themas nicht ganz gerecht wird. Ihr Entwurf greift für meine Begriffe zu kurz. Ihm fehlt die nötige formelle Weitsicht. Ich komme zum derzeitigen Stand: Es ist in Deutschland nicht erlaubt, befruchtete Eizellen außer zur Herbeiführung einer Schwangerschaft zu erzeugen. Konkret heißt das: In Deutschland ist es erlaubt, Eizellen zu befruchten und diese in die Gebärmutter einzusetzen. Es ist aber nicht erlaubt, sie vorher auf chromosomale Störungen zu untersuchen. Eine chromosomale Störung ist zum Beispiel die Verdopplung von Chromosomen, was in über 50 Prozent der Fälle zu Fehlgeburten führt. Dagegen ist eine genetische Untersuchung während einer schon bestehenden Schwangerschaft erlaubt. Wir müssen früher oder später die Frage beantworten, warum in Deutschland die Entnahme, Befruchtung und Implantation von Eizellen in die Gebärmutter erlaubt ist, nicht aber die vorherige genetische Untersuchung der befruchteten Zellen in der Petrischale. ({3}) Was kann Präimplantationsdiagnostik? Unter Präimplantationsdiagnostik versteht man medizinische Verfahren zur Untersuchung einer künstlich befruchteten Eizelle. Diese Eizelle wird im Rahmen einer In-vitroFertilisation aus dem Eierstock der Frau nach einer Hormonbehandlung gewonnen und außerhalb des Mutterleibes befruchtet. Alle befruchteten Eizellen müssen nach circa drei Tagen reimplantiert werden. Präimplantationsdiagnostik - Sie haben es gesagt - ist in vielen europäischen Ländern unter unterschiedlichsten Bedingungen möglich. Den Sachstandsbericht zur Präimplantationsdiagnostik haben Sie angesprochen. Darin werden die Regelungen in sechs europäischen Ländern und in den USA dargestellt und miteinander verglichen. Dieser muss ausgewertet werden. ({4}) Wie begründen wir gegenüber den Menschen, die sich ein Kind wünschen, aber eine schwere gesundheitliche Vorbelastung aufweisen, dass wir nicht das erlauben, was in anderen Ländern möglich ist? Ich sehe als Folge der Erfahrungen aus anderen Ländern die Notwendigkeit, über diese Frage weiter zu debattieren. Wichtig ist dabei auch die Analyse der gesellschaftlichen Realität. Ich wiederhole es noch einmal: Bei chromosomalen Störungen kommt es im Verlauf der Schwangerschaft in über 50 Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt. Weil die Präimplantationsdiagnostik nicht erlaubt ist, wird ausweichend oder als Notlösung in Deutschland zunehmend eine Polkörperchenuntersuchung der weiblichen Eizelle vorgenommen. ({5}) Hier ist es nur möglich, den halben Chromosomensatz, nämlich den der Mutter, zu untersuchen. Im Gegensatz dazu wird bei der Präimplantationsdiagnostik der gesamte Chromosomensatz untersucht. Die Polkörperchendiagnostik liefert also Aufschluss über die mütterliche Seite und hat demzufolge nur eine begrenzte Aufschlussrate, nämlich 50 Prozent. Bei schwerwiegender gesundheitlicher Vorbelastung der Eltern oder eines Elternteiles wird möglicherweise um die 15. Schwangerschaftswoche eine Pränataldiagnostik durchgeführt, insbesondere bei einem Wunschkind. Das müssen wir wissen. Das heißt, bei entsprechender Disposition der Eltern kann eine Untersuchung des Embryos nicht außerhalb des Mutterleibes, sondern frühestens um die 15. Schwangerschaftswoche erfolgen, also bei schon bestehender und fortgeschrittener Schwangerschaft. Die Untersuchung im Mehrzellenstadium - wir reden hier von 16 Zellen - vor der Implantation ist verboten. Uns allen ist klar: Es geht bei der Präimplantationsdiagnostik um ein sehr schwieriges Thema. Wir wissen, dass es sehr unterschiedliche Meinungen zum Thema Präimplantationsdiagnostik gibt, die unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt verdienen. Bekannt ist das Votum der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2002: Hier wird uns mehrheitlich eine Präzisierung der Regelungen von Präimplantationsdiagnostik zu diagnostischen Zwecken aufgegeben. Der Nationale Ethikrat hat im Januar 2003 für eine eng begrenzte und verantwortungsvolle Zulassung der Präimplantationsdiagnostik votiert. Der Ethikrat sieht kein verfassungsrechtliches Verbot vorgegeben. Vielmehr wurde ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers konstatiert. Darüber hinaus wenden sich viele einzelne Menschen und Gruppen aus der Gesellschaft an uns Mitglieder des Deutschen Bundestags, um ihre Meinungen und Erfahrungen an uns heranzutragen. Die einzelne Meinung hat Respekt verdient und der Gesetzgeber hat die Aufgabe, die gesellschaftliche Realität mitsamt der vorhandenen Meinungsvielfalt in seine Beschlüsse einzubinden. Dies bedeutet, das Für und Wider abzuwägen und aus gegebenem Anlass auch das Bestehende zu überdenken. Ich halte es für falsch, eine Entscheidung zur Präimplantationsdiagnostik immer wieder aufzuschieben. Dem steht auch entgegen, dass wir ständig mit neuen Informationen aus der Biotechnologie rechnen müssen. Hier ist eine Abwägung nötig, aber um Missverständnissen vorzubeugen, sage ich gleich dazu: Man muss nicht alles machen, was geht. Der heute vorliegende Entwurf verzichtet auf eine konkrete inhaltliche Regelung. Er fordert eine Rechtsverordnung und will die inhaltliche Auseinandersetzung um ethische Fragen anderen zuweisen. Damit werden Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihrer eigenen Forderung nach mehr Rechtsverbindlichkeit nicht gerecht. Wir müssen anerkennen, dass wir vor einem großen Widerspruch stehen und dafür lieber früher als später eine rechtliche Lösung finden müssen. ({6}) - Lassen Sie uns diskutieren, Herr Parr! - Es verdichtet sich, dass eine Ausformulierung über den zukünftigen Umgang mit Präimplantationsdiagnostik in Deutschland benötigt wird. Wir brauchen einen rechtsverbindlichen Rahmen, der die realen Lebensumstände der Menschen besser berücksichtigt. Wir sollten Verantwortung zeigen und den Rahmen für Präimplantationsdiagnostik präzisieren. Das geht aus meiner Sicht mit einem formellen Gesetz und nicht mit einer Rechtsverordnung. Sinnvoll wäre meiner Meinung nach die Einbettung einer Regelung zur Präimplantationsdiagnostik in einen Gesamtkontext der Reproduktionsmedizin. Eine ausschließlich strafrechtliche Regelung, wie wir sie jetzt im Embryonenschutzgesetz haben, wird der Gesamtproblematik sicher nicht gerecht. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe von der CDU/CSU-Fraktion.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Präimplantationsdiagnostik ist eine Untersuchungsmethode, um menschliche Embryonen auf ihre erblichen Eigenschaften hin zu untersuchen. Die FDP spricht in ihrem Gesetzentwurf ganz unbefangen von „Erbkrankheiten“. Es geht also um eine Selektion von erbkrankem Nachwuchs und das Ergebnis der PID ist die Tötung von menschlichem Leben, weil es krank oder behindert ist. Nach dem von der FDP vorgelegten Gesetzentwurf wird eine künstliche Befruchtung nicht durchgeführt, weil ein Paar sonst keine Kinder bekommen könnte, sondern allein aus dem Grund, um Kinder nach genetischen Merkmalen auszusuchen. ({0}) Ziel der künstlichen Befruchtung darf es aber eben nicht sein, menschliches Leben zu erzeugen, um es zu testen, sondern Ziel muss sein, dass es zur Welt kommt, meine Damen und Herren. ({1}) Die FDP - gerade auch Herr Parr wieder - behauptet, sie wolle die PID eng begrenzen. Der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung, den wir heute mit beraten, hat mehrere Länder untersucht, in denen die PID schon praktiziert wird. Er zeigt, wie schwer es ist, PID zu begrenzen, wenn sie erst einmal zulässig ist. Der Bericht belegt, dass jede neue Einsatzmöglichkeit von PID zu Druck führt, sie auch zuzulassen. PID wird im Ausland sogar zur Geschlechtswahl aus sozialen Gründen eingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, wird in der Petrischale getötet. ({2}) - Ich komme gleich dazu. - In Großbritannien dürfen seit November Embryonen aussortiert werden, die ein erhöhtes genetisches Risiko für Darmkrebs haben. ({3}) In anderen Ländern wird auf ein erhöhtes Brustkrebsrisiko untersucht und danach selektiert. Mit anderen Worten: Man tötet in diesen Ländern Embryonen auch dann, wenn man gar nicht weiß, ob diese Menschen später einmal erkranken oder behindert sein werden. Nur der Verdacht reicht aus. Inzwischen gibt es sogar einen Test auf niedrige Intelligenz. Wer hat eigentlich noch eine Chance, geboren zu werden, wenn bald mithilfe des DNA-Chips Tausende von Erbanlagen in einem Durchgang geprüft werden können? Ich glaube, dass - jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Parr - die FDP mit einer Ausweitung der PID rechnet, wenn diese erst einmal zugelassen ist. So schreiben Sie selbst, dass man - so wörtlich - „bis auf weiteres nur mit wenigen hundert Fällen“ rechnet. Also kalkulieren Sie doch offensichtlich die Ausweitung der PID ein. So heißt es auch in Ihrer Begründung, deutsche Paare führen immer häufiger nach Belgien. Heute haben Sie gesagt, das wolle man diesen Paaren ersparen. Natürlich weiß die FDP, wenn sie den Bericht gelesen hat, wie liberal die PID in Belgien praktiziert wird. Außer der Geschlechtswahl aus sozialen Gründen, also „social sexing“, ist dort alles möglich. Wenn die FDP den PID-Tourismus nach Belgien zum Kronzeugen macht, dann ist es die logische Konsequenz, über kurz oder lang in Deutschland PID für alles zu erlauben, was in Belgien möglich ist. ({4}) - Die Leute würden ja weiterhin nach Belgien fahren, wenn sie die Indikation, die sie hier haben möchten, in Deutschland nicht bekommen. Dieses Argument kann nicht gelten, Frau Ober. ({5}) Die FDP will PID einführen, damit es vorbelasteten Paaren möglich gemacht wird - so wörtlich -, „eigene genetisch gesunde Kinder zu bekommen“ und späte Abtreibung nach Pränataldiagnostik zu verhindern. Ich kann diesen Wunsch einiger betroffener Paare sehr gut verstehen. Aber was sind die Erfahrungen aus dem Ausland? Die Datensammlung der European Society of Human Reproduction and Embryology, die im Schlussbericht der Enquete-Kommission berücksichtigt wurde, enthält die Daten von 1 561 Patientinnen mit über 2 000 Behandlungszyklen. Danach - hören Sie genau zu - entstanden aus 26 783 entnommenen Eizellen gerade einmal 309 Schwangerschaften, die zu 215 Geburten von 279 Kindern führten. Zur Kontrolle der PID wurde bei 42 Prozent aller Föten eine invasive Pränataldiagnostik vorgenommen. Dabei wurden sieben Fehldiagnosen festgestellt, die vier Spätabtreibungen zur Folge hatten. Außerdem gab es - weil es heißt, man wolle Abtreibungen verhindern - 15 Abtreibungen durch so genannten selektiven Fetozid bei Mehrlingsschwangerschaften. Das heißt, durch die Bauchdecke der Schwangeren wird eine Spritze mit Kaliumchlorid in das Herz des Fötus gestochen, um ihn zu töten. 6,6 Prozent der nach PID geborenen Kinder wiesen Fehlbildungen auf, waren also behindert. Bei 42 Prozent der Geburten traten Komplikationen auf, drei davon mit Todesfolge. ({6}) Mit anderen Worten: Nur jede siebte Frau, die eine PID vornehmen lässt, kann überhaupt mit der Geburt eines Kindes rechnen. Diese Zahlen zeigen, dass PID bei der übergroßen Mehrheit gerade nicht garantiert, ein gesundes Kind oder überhaupt ein Kind zu bekommen. PID ist auch keine Garantie gegen Abtreibungen nach Pränataldiagnostik. Angesichts dieser Daten dürfen aber auch das Wohlergehen und die Gesundheit der Frauen nicht unbeachtet bleiben, die nach mehreren körperlich und seelisch belastenden Behandlungen weiterhin kinderlos bleiben. Man kann annehmen - das ist auch meine persönliche Erfahrung -, dass es diesen Frauen hinterher wesentlich schlechter ging, als wenn sie sich gar nicht auf das Verfahren eingelassen hätten. Meine Damen und Herren, erstaunlich ist, wer die Einführung der PID befürwortet: die FDP-Fraktion, die Forschungsministerin, die Gesundheitsministerin und der Bundeskanzler - nach der heutigen Aussage, dass er auch fürs Klonen ist, kein Wunder -, ({7}) vor allem wenn es sich, wie immer betont wird, nur um 100 oder 200 Paare handeln soll, die betroffen sind. Erstaunlich finde ich das deswegen, weil es zahlenmäßig weitaus größere Patienten- und Behindertengruppen gibt, die zum Teil viel größere Probleme haben. Diese Gruppen wären froh, wenn sie nur einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit für ihre Probleme erhalten würden. ({8}) Ich habe den Verdacht, dass es vielen Befürwortern darum geht - ich unterstelle das nicht jedem, aber einigen -, das Embryonenschutzgesetz insgesamt zu knacken, auch um durch die PID an überzählige Embryonen in Deutschland zu gelangen, die es jetzt nicht gibt. ({9}) - Frau Flach, Sie haben doch Anträge gestellt, in denen Sie die verbrauchende Embryonenforschung auch in Deutschland befürworten. Wenn Sie dagegen sind, dann sagen Sie es bitte jetzt. Ich wäre damit zufrieden. Aber ich glaube nicht, dass Sie dies tun werden. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hüppe, kommen Sie bitte zum Schluss.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir werden gegen den Antrag stimmen, weil mit ihm eine Tür geöffnet werden soll, die wir vielleicht nie mehr schließen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Parr, Ihre Fraktion schlägt vor, das Embryonenschutzgesetz zu ändern und die so genannte Präimplantationsdiagnostik in, wie Sie sagen, eng begrenzten Fällen zuzulassen. Wir werden dem nicht zustimmen. Ich sage Ihnen, warum. Das alles hört sich viel zu einfach an. Man muss sich vergegenwärtigen, was dieses Verfahren allein schon auf der individuellen Ebene bedeutet. Eine Frau, die durchaus auf natürlichem Wege schwanger werden kann, ({0}) muss sich, damit das von Ihnen vorgeschlagene Verfahren überhaupt greifen kann, zunächst einmal der In-vitro-Befruchtung unterziehen. Das macht man nicht einfach im Vorbeigehen. Dieses Verfahren bedeutet eine Hormonbehandlung, damit eine Überzahl von Eizellen heranreift, und einen operativen Eingriff, mit dem diese Eizellen entnommen werden. Es bedeutet ferner die gezielte und gewollte Erzeugung von überzähligen Embryonen im Glas - man will ja selektieren -, die Vernichtung der Embryonen mit der unerwünschten genetischen Ausstattung ({1}) und schließlich die Implantation derjenigen Eizellen, die man für geeignet hält. Wie groß ist anschließend die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft? Wir alle wissen sehr genau, dass die so genannte Baby-take-home-Rate bei der In-vitroBefruchtung äußerst gering ist. ({2}) Es kann also sein, dass die Frau nach all diesen Maßnahmen kein Kind bekommt. Ich finde, das sollte man sich erst einmal klar machen. Es werden hier Hoffnungen geweckt. Aber der Preis, der dafür zu zahlen ist, und die Enttäuschung, die sich aus einem Fehlschlag ergeben kann, werden zu sehr aus den Augen verloren. ({3}) Ich halte den Vergleich mit der Abtreibung nicht für richtig. Herr Parr, wenn ich Sie recht verstanden habe, dann haben Sie gesagt, dass man im Rahmen einer bestehenden Schwangerschaft nach der Pränataldiagnostik die Wahl habe, die Schwangerschaft weiterzuführen oder nicht. Das stimmt so nicht. Es ist ein Unterschied, ob Embryonen in der Petrischale erzeugt werden, zu denen die Frau oder das Paar keine persönliche Beziehung hat, ({4}) oder ob eine Frau bereits etwa 17 Wochen schwanger ist und ein Kind in ihrem Körper heranreifen fühlt. In diesem Fall ist das Gefühl der persönlichen Bindung ungleich stärker. Vor allem aber werden bei einer natürlichen Schwangerschaft eben keine überzähligen Embryonen erzeugt, die man anschließend vernichtet. Es besteht auch ein rechtlicher Unterschied. Denn die Abtreibung ist ein Abwehrrecht, bei dem der Staat auf seinen Schutzanspruch wegen der Unzumutbarkeit für die Frau zum Teil verzichtet. Die rechtliche Regelung ist bekanntlich immer noch so, dass eine Abtreibung als rechtswidrig angesehen wird, aber straffrei bleibt. Was Sie wollen, ist ein Anspruch der Frau auf eine genetische Selektion, auf ein genetisch gesundes Kind. Das ganze Verfahren soll noch nicht einmal rechtswidrig sein. Das würde schon eine sehr gravierende rechtliche Veränderung bedeuten, auf die wir uns nicht verständigen können. ({5}) Herr Parr, es mag ja sein, dass Sie eine solche neue Regelung auf vergleichsweise wenige Fälle beschränken wollen; aber ich sage Ihnen, dass das nicht machbar sein wird. Es wird zu einer Indikationsausweitung kommen. Das ist im Übrigen auch die Erfahrung in all den Ländern, in denen diese Regelung zunächst in eng begrenzten Fällen eingeführt wurde. Wenn es tatsächlich eine Rechtsverordnung gäbe, in der das Justizministerium bestimmte Krankheitsbilder beschreibt, bei denen eine solche Diagnostik und Selektion zulässig wäre, dann muss ich fragen: Was bedeutet das eigentlich für die Menschen, die diese Krankheit haben? Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? ({6}) Das führt doch zur Stigmatisierung bestimmter Krankheitsbilder. Wie soll man dann in Zukunft in der Gesellschaft über diese Art der Behinderung reden? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie sprechen so ohne weiteres von „genetisch belasteten Paaren“. Wir reden von Menschen mit Krankheiten, mit denen man offensichtlich erwachsen wird und bei denen die Lebensqualität so hoch ist, dass man sich Kinder wünscht und sich in der Lage fühlt, sie auch ins Leben zu begleiten. Gleichzeitig soll man einen Katalog von Krankheiten verabschieden, bei deren Vorliegen der Embryo vernichtet werden darf. Das halten wir für ethisch nicht vertretbar. ({7}) Wir fürchten uns auch vor den Folgen, die ein solcher Mechanismus für den Umgang mit behinderten Menschen in unserer Gesellschaft hätte. Wenn es erst einmal heißt, dass man eine Auslese betreiben kann, die dazu führt, dass solche Menschen gar nicht erst geboren werden, dann werden wir, so glaube ich, für ein solidarisches Miteinander mit Menschen mit Behinderungen weniger Platz denn je haben. Wir wollen gerade das Gegenteil. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir über das Thema, das wir heute beraten, diskutiert. Der Fortschritt von Wissenschaft und Forschung bringt für uns die Verpflichtung, neue Entwicklungen immer wieder zu prüfen. Es muss geklärt werden, wie sie sich generell auf die Situation der Menschen und auf die Entwicklung der Gesellschaft auswirken. Maßstab ist für mich und uns dabei die Würde des Menschen von Anfang an. Das christliche Menschenbild steht für den Schutz des Menschenlebens in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Das gilt auch für Grenzsituationen des Lebens - gleichgültig, ob es sich um eine Behinderung, eine schwere Erkrankung, das Leben vor der Geburt oder die Situation des Sterbens handelt. Das christliche Menschenbild steht gegen eine „Verzweckung“ des Menschen und gegen eine Unterscheidung von „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben. Es steht auch gegen eine Reduzierung von Menschen auf ihre Nützlichkeit. Menschliches Leben entsteht nach überwiegender Auffassung mit der Vereinigung von Ei und Samenzelle. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein eigenständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkeiten. Deshalb hat der frühe Embryo in jedem Fall bereits Anspruch auf einen besonderen Schutz der Rechtsordnung. Die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht in diesem Stadium eine Gendiagnostik und damit in der Konsequenz entweder den Transfer des Embryos oder seine Vernichtung - das heißt: Selektion. Die PID ist in Deutschland nach den Regelungen des Embryonenschutzgesetzes nicht zulässig. Die Vorstellung, die Anwendung der PID sei gesetzlich beschränkbar, wird von Fachleuten bestritten. So spricht der Deutsche Ärztinnenbund in seiner Stellungnahme von einer „Türöffnerfunktion“. Indikationen, Listen nicht akzeptabler Erkrankungen, nach denen gefahndet wird, würden bald ergänzt, erweitert und schließlich ganz abgeschafft werden. Gesetzliche Einschränkungen werden keinen Bestand haben können. Wer kann denn Eltern gegenüber auf Dauer begründen, welche Krankheiten oder Behinderungen zumutbar sind und welche nicht? ({0}) Die Erfahrungen in anderen Ländern, in denen es solche Begrenzungen zunächst gegeben hat, zeigen, Herr Kollege Parr, dass diese auf Dauer nicht haltbar sind und dass auch gesunde Menschen die PID zum Beispiel für eine Wunschkindproduktion nutzen. ({1}) Auch bei der Entwicklung der Pränataldiagnostik hat man in Deutschland anfangs von einer begrenzten Zahl von 175 Paaren gesprochen. Heute sind es mehr als 70 000. Das muss man einfach wissen. Eine Zulassung der PID kann auch nicht mit der Rechtssituation für den Schwangerschaftsabbruch gemäß §§ 218 ff. StGB begründet werden. Die Ausnahmen von der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen betreffen Situationen, in denen es um einen Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und dem Recht der Schwangeren auf Leben und physische und psychische Unversehrtheit geht. Die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs wird damit gerechtfertigt, dass der Konflikt für die Frau „nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“, wie es im Gesetz heißt. Letztlich geht es um die Abwägung des Lebensrechts der Mutter und des Lebensrechts des Kindes. Das ist bei der PID nicht der Fall. ({2}) Eine Einführung der PID fördert die Gefahr, in Kategorien von „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“ Leben zu denken und zu handeln. Bereits heute müssen sich Eltern behinderter Kinder fragen lassen: Hat denn das sein müssen? Der soziale Druck auf Eltern und insbesondere auf Frauen, die Kinder mit Behinderungen zur Welt bringen, würde sehr groß werden. Durch die Zulassung eines solchen Verfahrens würde sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Menschen mit Behinderung verändern. Dies träfe dann aber alle Menschen, die aufgrund von Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen sowie aufgrund von Erkrankungen und Unfällen im späteren Leben behindert sind. Das sind 80 bis 90 Prozent der Behinderten. Auch die PID, die Präimplantationsdiagnostik, kann kein gesundes und nicht behindertes Kind garantieren. Die PID ist grundsätzlich mit einer In-vitro-Fertilisation verbunden; meine Vorrednerin hat es angesprochen. In Anhörungen im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde wiederholt bestätigt, dass diese mit großen physischen und psychischen Belastungen insbesondere für die Frau verbunden ist. Gesundheitliche Risiken sind nachgewiesen. Zudem ist - auch das wurde vorhin gesagt - die Anwendung der IVF sehr ineffizient. Ich kenne keinen Frauenverband, der für die PID ist. Der Deutsche Ärztinnenbund und der Deutsche Frauenrat zum Beispiel sprechen sich nachdrücklich gegen die PID aus. Der Wunsch von Eltern, das Risiko einer schweren genetischen Erkrankung oder einer Behinderung des eigenen Kindes weitgehend auszuschließen, rechtfertigt kein Verfahren, das menschliches Leben auf den Prüfstand stellt. Auch eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik führt zu einer Aufkündigung des Wertekonsenses in unserer Gesellschaft. Die Menschenwürde steht nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht zur Disposition. Daher ist es notwendig, klare ethische Grenzen zu setzen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1234 und 15/3500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der Tagesordnung soll die Vorlage auf Drucksache 15/1234 federführend an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche - Drucksache 15/4134 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 15/5132 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Jerzy Montag Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Ich bedanke mich sehr herzlich, verehrter Herr Präsident, und grüße Sie ganz herzlich. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. In diesem Entwurf wird genau das geregelt, was wir bereits im Zusammenhang mit der Mietrechtsreform im September 2001 gewollt haben. Weil ich das damals als rechtspolitischer Sprecher gewollt habe, rede ich heute zu diesem Thema; denn es war einer meiner Herzenswünsche, dass dies so kommt. ({0}) Die Mietrechtsreform hat die Kündigungsfrist zugunsten der Mieter geändert: Seit September 2001 können Mieter grundsätzlich mit einer dreimonatigen Frist kündigen. Diese Kündigungsfrist kann von den Vertragsparteien nicht verlängert werden. Dieses so genannte Abweichungsverbot gilt allerdings nicht für Verträge, in denen die Parteien vor dem 1. September 2001 andere Kündigungsfristen vereinbart haben. Ob eine solche Vereinbarung auch dann vorliegt, wenn ein Formularmietvertrag lediglich den alten Gesetzeswortlaut wiedergibt, war umstritten. Nach dem Willen des Rechtsausschusses des Bundestages sollte in diesen Fällen das Abweichungsverbot gelten. Das heißt, es sollten die neuen Kündigungsfristen Anwendung finden. Der Rechtsausschuss ist davon ausgegangen, dass der Gesetzeswortlaut dies deutlich zum Ausdruck bringt. So haben es auch verschiedene Instanzgerichte gesehen, beispielsweise das Landgericht Hamburg, das im Jahr 2002 entschieden hat, dass längere Kündigungsfristen in Altverträgen nur dann gelten, wenn sie individuell vereinbart worden sind. Der Bundesgerichtshof hat allerdings im Juni 2003 entschieden, dass auch bei Formularverträgen, die nur die bestehende Gesetzeslage wiederholen, eine vertragliche Vereinbarung im Sinne der Übergangsvorschrift vorliegt und in diesen Fällen die alten Kündigungsfristen weiter gelten. Die Koalitionsfraktionen haben daraufhin das Für und Wider einer Regelung, wie sie ursprünglich vom Rechtsausschuss beabsichtigt war, erneut umfassend abgewogen. Das Ergebnis ist der vorliegende Gesetzentwurf, mit dem die Übergangsvorschrift so auf Altmietverträge angewendet werden kann, wie es der Rechtsausschuss von Anfang an gewollt hat. Zukünftig werden also Kündigungsfristen in Altmietverträgen nur dann zu beachten sein, wenn die entsprechende Formularklausel etwas anderes als eine bloße Wiederholung der früher geltenden gesetzlichen Regelungen enthält oder wenn es sich um eine individuelle Vereinbarung handelt. Wie ich bereits eingangs sagte, begrüßt die Bundesregierung den vorliegenden Gesetzentwurf. Er verhilft dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers wieder zur Geltung und sorgt für Rechtsklarheit und für Rechtssicherheit. Damit kommen zahlreiche Mieter, die bislang nur mit einer sechs- oder zwölfmonatigen Frist ihre Verträge kündigen können, in den Genuss der kurzen dreimonatigen Kündigungsfrist. Wir stärken damit die Mietermobilität, wie wir es auch schon mit der Einführung der neuen kurzen Kündigungsfrist getan haben. ({1}) Wir helfen damit den Mietern, auf die Erfordernisse des modernen Arbeitsmarkts zu reagieren, der ihnen immer wieder auch Ortswechsel oder, wie Sie sagen, mehr Mobilität abverlangt. ({2}) Ich bin mir sicher, dass die wenigen Vermieter, die von der Regelung noch betroffen sind, sich leicht darauf einrichten und gut damit werden umgehen können. Es ist richtig, dass für den Vermieter die in manchen Altmietverträgen vorgesehenen längeren Kündigungsfristen günstiger waren. Aber ich meine, dass wir mit den Kündigungsfristen der Mietrechtsreform einen angemessenen Interessenausgleich gefunden haben, der nach Maßgabe dieses Gesetzentwurfs auch auf Altmietverträge übertragen werden sollte. Ein großer deutscher Vermieterverband, ein Wohnungsverband, macht dies auch bei Altmietverträgen für alle Mieter so. Die Rechte der Vermieter sind dabei ausreichend geschützt; denn immer dann, wenn die Parteien eine individuelle Vereinbarung getroffen oder aber eine Formularklausel vereinbart haben, die von der seinerzeitigen Gesetzeslage abweicht, bleibt es bei den so vereinbarten Kündigungsfristen. Wir geben also dem Gestaltungswillen der Parteien Vorrang vor der gesetzlichen Regelung. ({3}) - Ich bin schon rot, Herr Funke. - Damit schützen wir das Vertrauen der Vertragsparteien dort, wo es berechtigt ist, nämlich bei den echten Vereinbarungen über die Kündigungsfrist. Wo nur zur Information der Parteien auf eine gesetzliche Regelung verwiesen wird, kann ich dagegen ein solches schutzwürdiges Vertrauen nicht erkennen. Deshalb ist es in diesen Fällen richtig, wenn die kurzen Kündigungsfristen der Mietrechtsreform gelten. Dieses hübsche lindgrüne Papier, welches einen Entschließungsantrag der FDP-Fraktion enthält, sollte man zwar lesen, weil der Entschließungsantrag sehr gut die politische Haltung der FDP wiedergibt. Ich bitte Sie aber, diesem Antrag nicht zuzustimmen, wohl aber unserem Gesetz. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stünker hat gestern den vorliegenden Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen im Rechtsausschuss als Restant aus der vergangenen Wahlperiode des Deutschen Bundestages bezeichnet. ({0}) Restant kommt vom lateinischen Wort restare, das „übrig bleiben“ bedeutet. Ich hatte mich gefragt, worin die Aktualität dieses Wortes liegt. ({1}) Angesichts der heute Nachmittag und jetzt noch stattfindenden Kuriositäten in Schleswig-Holstein sehe ich jedoch, wo Ihre Restanten sind. ({2}) Ich würde allerdings nicht sagen, dass es sich bei dem Gesetzentwurf um einen Restanten, also um etwas Übriggebliebenes, etwas Zurückgebliebenes oder noch zu Lösendes handelt. ({3}) - Wir sind gerade bei Ihrem Restanten, Herr Kollege Stünker. ({4}) Ich glaube vielmehr, dass es sich bei dem Gesetzentwurf um so etwas wie einen Rückläufer handelt. Den Rückläufer haben Sie vom VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bekommen, verkündet am 18. Juni 2003 und mit dem Stempel „untauglich und handwerklich schlecht gemacht“ versehen. Anstatt nun in sich zu gehen, haben Sie sich auf das Gleis der Gerichtsschelte begeben. Trotzig wird das Ganze jetzt noch einmal versucht. ({5}) - Sie nicht, Herr Staatssekretär. - Ich glaube, das Gleis führt ins Leere. In diesem Fall ist das ein weiterer Beitrag zum Niedergang der deutschen Wohnungswirtschaft. ({6}) An deren Sarg wird aber vonseiten der Regierung schon länger gebastelt. Ein paar der benutzten Nägel werde ich noch einmal ans Licht holen. ({7}) Bleiben wir zunächst aber beim einschlägigen Urteil des BGH und bei der Sachlage, auch wenn es Ihnen weh tut. Sie haben im Jahre 2001 einseitig die Vermieter schlechter gestellt und damit die wichtige Balance im deutschen Mietrecht zwischen Vermieterinteressen, die sich im Übrigen direkt aus der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes ergeben, und den eigentumsähnlichen Rechten der Mieter empfindlich gestört. Zu Recht wurde schon damals in der Debatte hier im Hohen Hause darauf hingewiesen, dass insbesondere die höhere Mobilität der Menschen in unserer Zeit - der Staatssekretär hat es angesprochen - kürzere Kündigungsfristen bei Mietverträgen erfordert. Das ist ohne Frage richtig. Ich füge allerdings hinzu, dass dies auch in Zukunft nicht alle Menschen betreffen wird und viele Menschen immer noch sehr lange Mietverträge haben. Klar ist aber auch, dass in weiten Teilen der Bundesrepublik heutzutage der Wohnungsmangel einem Überangebot gewichen ist. Dieser Trend wird sich auch weiterhin verstärken. Deshalb reden wir ja beispielsweise über Stadtumbau und -rückbau. Dennoch wollen wir bei der Gestaltung des Mietrechts den Prozess des demographischen Wandels berücksichtigen. Wir wollen beispielsweise den sozialen Mix in den Wohnquartieren weiterhin sicherstellen und nicht nur die Substanz herunterwirtschaften, sondern auch investieren, um eine hohe Qualität zu sichern. Deshalb gehört es zur Wahrheit, dass man neben die höhere Mobilität der Mieter auch die Problematik der Weitervermietbarkeit der Immobilien auf der Vermieterseite setzt. Bei einer dreimonatigen Kündigungsfrist aufseiten der Mieter ist man sicher am unteren Ende dessen angelangt, was auf der anderen Seite dem Vermieter zuzumuten ist. Man muss sich die Frage stellen, warum man dem Vermieter im Gegenzug für den Fall, dass er sich aus wirtschaftlichen Gründen - mit denen ist auch mieterseitig die Mobilität begründet - umorientiert, eine bis zu neunmonatige Kündigungsfrist aufzwingt. Aber das war und ist Ihre Entscheidung, und zwar allein Ihre Entscheidung. Auch hier ist Ihr beliebter Ausspruch „Mehrheit ist Mehrheit“ sicherlich wieder sehr passend. Dass Sie allerdings eine Rückwirkung vorgesehen haben, was man bei Dauerschuldverhältnissen ohne Zweifel kann, halte ich angesichts der gewählten Form für bedenklich und im Zusammenhang mit den gerade erwähnten Eigentumsrechten nach wie vor auch für verfassungsrechtlich bedenklich. Sie wollten nämlich nahezu alle vor Ihrer Reform 2001 abgeschlossenen alten Mietverträge mit den neuen Kündigungsfristen versehen. Was aber wollten die Vertragsparteien bei Vertragsschluss? Sie wollten bewusst die jeweils gewählten Kündigungsfristen vereinbaren oder die Geltung der damaligen gesetzlichen Kündigungsfristen. In letzterem Falle kann man noch am ehesten sagen: Sie haben zwar gewusst, wie diese zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses lauteten, haben aber eine spätere Änderung der Gesetzeslage einkalkuliert. Ich sage ganz bewusst „einkalkuliert“. Das betrifft nämlich auch die betriebswirtschaftliche Kalkulation der Vermieter, etwa bei Investitionen, die sich über längere Zeiträume amortisieren müssen. Ansonsten ist es aber anders. Es ist nämlich einzig die Sache der Vertragsparteien, in welcher Form sie die Kündigungsfristen festgehalten haben. Ich muss mir an dieser Stelle wieder einmal die Frage stellen, ob Ihnen der Wert von Privatautonomie und Vertragsfreiheit eigentlich bewusst ist ({8}) und ob er Ihnen etwas wert ist. ({9}) Die Vertragsfreiheit ist eines der konstitutiven Elemente unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung. Ich frage mich wirklich, warum Sie an allen Ecken versuchen, sie kaputtzumachen. ({10}) Ich kann Ihnen auch an dieser Stelle einen kurzen Ausflug in das Antidiskriminierungsgesetz und seine mietrechtlichen Auswirkungen nicht ersparen. ({11}) - Ich beschränke mich auf den zivilrechtlichen Teil und dabei auf das, was heute zur Debatte steht. Sie wollen für die so genannten Massengeschäfte - wie auch immer man diesen Begriff am Ende auslegt die freie Wahl des Vertragspartners faktisch aufheben. Das Anwenden aller in der einschlägigen EU-Richtlinie benannten Diskriminierungsmerkmale ist aber ausdrücklich nicht für das Zivilrecht vorgesehen. Sie wollen also ohne Not ein Mehr an hoheitlichem Eingriff. Was passiert nun in diesem konkreten Bereich, falls Ihr Gesetzentwurf in Kraft tritt? Wie kann ein Vermieter noch einen Vertrag abschließen, ohne Gefahr zu laufen, vor Gericht gezerrt zu werden? Kann er beispielsweise eine junge Familie mit drei Kindern gegenüber einem allein stehenden älteren Herrn oder einem ausländischen Mitbürger bevorzugen? ({12}) - Er kann es - entgegen allen gegenteiligen Bekundungen - nicht. ({13}) Er kann es deshalb nicht, weil gerade Kinder nicht als Diskriminierungsmerkmal vorgesehen sind. Er kann es nicht, weil er sich sonst der Gefahr aussetzt, dass er die Beweislast dafür trägt, dass in diesem Beispiel keine Altersdiskriminierung und keine Diskriminierung nach ethnischer Herkunft oder Rasse vorliegen. ({14}) Nun kann man jeden Vertrag gleich mit Anwalt und Zeugen aushandeln und dokumentieren. Das wird Deutschland bestimmt retten. Das einzig taugliche Kriterium ist dann noch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mieters. Das ist ein objektives Kriterium; nach ihm darf man dann wählen. So viel zum Thema „soziale Wärme in Deutschland unter Rot-Grün“! ({15}) An dieser Stelle noch ein offenes Wort von einem Abgeordneten aus dem Freistaat Sachsen: In der ehemaligen DDR war Privateigentum - auch an Immobilien nicht vom Staat gewünscht. Diejenigen, die privates Eigentum hielten, wurden nach besten Kräften bekämpft, unter anderem dadurch, dass man ihnen gegen ihren Willen Mieter in die Wohnungen gesetzt hat. ({16}) Wenn wir in diesem Gleis weiterfahren, auf das Sie sich unter anderem mit dem Antidiskriminierungsgesetz begeben, sind wir auf einem Weg, der mich ein Stück weit an dieses Verhalten erinnert. ({17}) Das würde im Übrigen nicht nur private Vermieter, sondern auch Genossenschaften und Wohnungsgesellschaften betreffen. Ich glaube, damit werden wir nicht weit kommen. Ich will ganz kurz zwei weitere Themen ansprechen. Auch das Thema Graffiti betrifft die Wohnungswirtschaft. Seit Jahren, seit ich mich hier entsinnen kann - die Kollegen, die schon länger dabei sind, können es schon ein Stückchen länger -, reden wir hier über dieses Thema. Wir alle sind uns sehr einig. Einigen wenigen - oder besser gesagt: einem Einzelnen, der heute nicht unter uns ist - gelingt es aber, dieses Gesetz und die Verbesserungen zu blockieren, die insbesondere den volkswirtschaftlichen Schaden reduzieren würden. ({18}) - Den volkswirtschaftlichen Schaden kann ich Ihnen erläutern, Herr Hacker. Von ihm war auch schon in den Anhörungen die Rede. ({19}) Wir haben jede Menge Sachbeschädigungen und jede Menge daraus entstehende Schäden. Sie kommen derzeit nicht zuletzt deshalb so oft vor, weil der Verfolgungsdruck so gering ist. Wir könnten sie verringern. ({20}) Kommen wir zum Thema zurück! ({21}) Was hat Ihnen der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes zu diesem Gesetz ins Stammbuch geschrieben? Ich hoffe, dass Sie das Urteil gelesen haben. Es ist lesenswert. Er hat Ihnen sinngemäß gesagt, dass die Formulierung des Rechtsausschusses, in dem auch zum damaligen Zeitpunkt schon Rot-Grün die Mehrheit gestellt hat, nicht zu mehr Rechtssicherheit auf diesem Gebiet führt, sondern dass - jetzt zitiere ich das Ziel der Mietrechtsreform verfehlt wurde, durch eine verständliche und transparente Gestaltung des Mietrechts dem Rechtsfrieden zu dienen. ({22}) Meine Damen und Herren, das ist überdeutlich; so etwas muss einen doch eigentlich zum Nachdenken bringen. Ich zitiere weiter aus dem Urteil: Die vom Rechtsausschuss vorgenommene Unterscheidung zwischen echten und unechten Vereinbarungen würde die Notwendigkeit nach sich ziehen, die tatsächlichen Umstände des lange zurückliegenden Vertragsschlusses aufzuklären. Haben Sie auch das gelesen? ({23}) - Ich glaube, nicht. ({24}) Sie sind auf der Suche nach einer Formulierung, um den Kranken ins beabsichtigte Korsett zu zwingen, fündig geworden. Bei Vereinbarung durch Vertrag - jetzt zitiere ich aus Ihrem Gesetzentwurf gilt dies nicht, wenn die Kündigungsfristen des § 565 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches in der bis zum 1. September 2001 geltenden Fassung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen vereinbart worden sind. Meine Damen und Herren, wir hatten im parlamentarischen Verfahren auch ein erweitertes Berichterstattergespräch zu dem Thema, so eine Art kleine Anhörung. Genau dabei schrieb Ihnen der Vertreter des Deutschen Mietgerichtstages, Professor Dr. Derleder, ins Stammbuch, dass die Formulierung in Form einer doppelten Negation missglückt sei. Herr Rechtsanwalt Schönleber führte als Sachverständiger des Deutschen Anwaltvereins aus, ({25}) dass eine neuerliche Änderung für Verunsicherung sorgen werde und es sich bei der gewählten Unterscheidung um eine künstliche handele, die gesetzlich konstruiert werde durch eine Art Zweistufigkeit der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Das klingt nicht nach vorbehaltloser Unterstützung. Nun ist die große Frage: Was macht man mit so einer Expertenanhörung? Wir hatten vereinbart, diese Expertenanhörung noch einmal auszuwerten. ({26}) Das ist nicht geschehen. Jetzt haben wir das Thema auf der Tagesordnung; ich nehme das zur Kenntnis - so viel zum geordneten parlamentarischen Verfahren. Nach alledem bleibt der CDU/CSU-Fraktion nur die Ablehnung des Gesetzentwurfes, weil er wie die zugrunde liegende Mietrechtsreform in weiten Teilen - auch in der Sache - den Realitäten des Wohnungsmarktes nicht gerecht wird, ({27}) weil er handwerklich schlecht ist und neuen Streit, neue Unsicherheit, neue Prozesse - vielleicht bis hin zu einer neuen höchstrichterlichen Rechtsprechung - provozieren wird. Ein kurzer Satz zum Entschließungsantrag der FDPFraktion zu dieser Thematik: Wir halten diesen Antrag in weiten Teilen für begrüßenswert. Aber gerade vor dem Hintergrund der Sachverständigeneinlassungen und als ausdrückliche Aufforderung an die Bundesregierung wollen wir, dass der gesamte Komplex noch einmal auf den Prüfstand gestellt wird. Hier müssen in Größenordnungen Veränderungen erfolgen. Deshalb halten wir den Antrag der FDP für noch nicht weitgehend genug und enthalten uns zu diesem Antrag der Stimme. ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte wieder zur Sache kommen: Meines Wissens stehen heute weder das Antidiskriminierungsgesetz noch die Graffitibekämpfung auf der Tagesordnung, ({0}) sondern das Mietrecht, speziell der Umgang mit den Altmietverträgen und mit den Kündigungsfristen. ({1}) Ich finde es sehr wichtig, dass wir zu diesem schwierigen Punkt gekommen sind, der uns schon bei der letzten Mietrechtsnovelle beschäftigt hat. Es ist wichtig, dass nicht nur Neumietverträge dem Mieter eine Kündigungsfrist von drei Monaten ermöglichen, sondern auch die alten Formularmietverträge. Das ist in Zeiten der hohen Mobilität, die wir unserer Gesellschaft heute zumuten, einfach notwendig - sei es, weil jemand woanders kurzfristig Arbeit angenommen hat, sei es, dass ältere Menschen in ein Heim umziehen müssen. Kündigungsfristen von neun - damals sogar zwölf - Monaten führten oftmals dazu, dass die Betroffenen über längere Zeit doppelt Miete zahlen müssen. Von daher begrüße ich es sehr, dass es jetzt gelungen ist, diese Nachbesserungen, die wir tatsächlich seit der letzten Legislaturperiode schuldig sind, heute abzuschließen. ({2}) Ich muss auch sagen, dass in dem Berichterstattergespräch, das wir in Form einer kleinen Anhörung durchgeführt haben, sehr wohl eine deutliche Unterstützung dafür zum Ausdruck kam. Natürlich ist der Punkt strittig; das ist völlig klar. Dennoch bin ich der Meinung, dass es richtig ist, dass sich Rot-Grün bereits in der letzten Legislaturperiode und auch jetzt wieder in ganz klarer und eindeutiger Weise dazu bekannt hat. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich die Asymmetrie, die wir damit bewusst eingeführt haben, für zumutbar halte. Ich bin mir wohl bewusst, dass das für die Seite der Eigentümer kein Spaziergang ist. Aber wenn ein Eigentümer die Entscheidung fällt, dass er sein Haus oder seine Wohnung anders verwenden will, dann sind längere Kündigungsfristen - drei Monate bei einer Mietvertragslaufzeit bis fünf Jahre, später sechs und neun Monate - völlig angemessen; schließlich plant er ja langfristig. Der Unterschied zwischen Vermieter und Mieter ist real, weshalb es hier angemessen ist, Ungleiches auch ungleich zu behandeln und nicht so zu tun, als seien Vermieter und Mieter gleich. ({3}) In diesem Sinne werbe ich bei allen Beteiligten dafür, hier die Kirche im Dorf zu lassen und nicht so zu tun, als sei das unzumutbar. Die kurze Redezeit, die ich habe, möchte ich nutzen, um ein paar Takte zu dem FDP-Antrag zu sagen, der mich ziemlich erschreckt hat. Was Sie, Herr Wanderwitz, eben gesagt haben - im Grunde halten Sie ihn für begrüßenswert, aber er gehe Ihnen nicht weit genug; so ähnlich war das eben zu verstehen -, hat mich schon irritiert. Ich erinnere mich noch genau daran, dass die Mietrechtsreform 1996/97, die seinerzeit unter Ihrer Regierung durchgeführt werden sollte - Rainer Funke weiß das sehr genau, da er damals aktiv daran beteiligt und verantwortlich war -, daran gescheitert ist, dass zumindest die CSU die Forderung nach einer wirklich harten Neoliberalisierung des Mietrechts, die von der rechten Seite des Hauses gekommen ist, für nicht verantwortbar gehalten hat. Nur dadurch haben wir die Gelegenheit bekommen, das Mietrecht zu novellieren. Einige der älteren Kollegen hier wissen das sehr wohl. Zu den drei Forderungen, die Sie hier jetzt noch einmal aufgegriffen haben, möchte ich ein paar deutliche Worte sagen: Als Erstes fordern Sie wieder die symmetrischen Kündigungsfristen. Ich glaube, dazu haben wir von unserer Seite - von Rot-Grün - zur Genüge gesagt, dass wir das für nicht akzeptabel halten. Als Zweites wollen Sie die Möglichkeit einräumen, die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen wieder auf 30 Prozent anzuheben. Damit ignorieren Sie wirklich die zwischenzeitliche Entwicklung. Die breite Schicht der arbeitenden Menschen erhält keine nennenswerten Einkommenserhöhungen mehr. Daneben gibt es eine hohe Zahl von Arbeitslosen. In dieser Situation zu sagen, es sei zumutbar, von heute auf morgen eine Mieterhöhung von 30 Prozent zu verkraften, halte ich für sehr freidemokratisch. Wir stimmen deutlich und entschlossen dagegen. ({4}) Auch Ihrem dritten Punkt, die Schonfrist bei Mietrückständen, die wir auf zwei Monate erhöht haben, wieder auf einen Monat zurückzuführen, stimmen wir nicht zu. In der letzten Legislaturperiode hat es ausführliche Diskussionen darüber gegeben, ob die Ausweitung der Schonfrist für die Mieter, die Probleme mit ihren Mietrückständen haben, notwendig ist. Wir wissen sehr wohl, dass das ein sehr großes Problem für die Eigentümer ist; das will ich überhaupt nicht leugnen. Ich denke hier aber auch daran, dass die betroffenen Sozialämter - heute und in Zukunft wahrscheinlich überwiegend die Arbeitsagenturen oder die Arbeitsgemeinschaften - Zeit brauchen, um das Problem zu lösen, damit die Miete überwiesen werden kann. Ich finde es nicht gut, dass die FDP hier wieder zu harten Zeiten zurück will; denn es war ein großer Erfolg, dass wir diese Verlängerung geschafft haben. Gerade auch für die Vermieter wurden dadurch sehr viel stabilere Verhältnisse geschaffen. In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag sehr entschieden ablehnen und sehr genau darauf achten, wie die CDU/CSU stimmt. Am liebsten wäre es mir, wenn wir über alle drei Punkte getrennt abstimmen, damit wir sehen können, ob die CDU/CSU auf einmal wieder neoliberal geworden ist. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesem Reparaturgesetz - Frau Eichstädt-Bohlig, so ist es von Ihnen selbst bezeichnet worden - hätten Sie heute die Möglichkeit gehabt, die verunglückte Mietrechtsreform von 2001 zu korrigieren. Stattdessen machen Sie alles nur noch schlimmer. Sie schaffen die asymmetrischen Kündigungsfristen nicht ab. Nein, Sie weiten sie sogar noch auf Altmietverträge aus, und zwar in einer Weise, von der nur ein Vertragspartner profitiert. Hingegen sollen Vereinbarungen zum Nachteil des Vermieters unverändert wirksam bleiben. Die Ungleichbehandlung von Mietern und Vermietern erreicht damit ein neues Ausmaß. Vermieter haben bei Ihnen von Rot-Grün nichts zu lachen. Die nächste böse Überraschung für Vermieter steht in Form des Antidiskriminierungsgesetzes schon bereit. ({0}) - Das ist leider die reine Wahrheit. Das muss man einmal sagen dürfen, Herr Hacker. Die FDP geht einen anderen Weg. Frau EichstädtBohlig hat das kritisiert. Ich bin der Meinung, dass dies der richtige Weg ist. Wir sprechen uns für eine einheitliche Kündigungsfrist von drei Monaten für Vermieter und Mieter aus. Die Zeiten, in denen Mieter auf zusätzlichen Schutz durch lange Kündigungsfristen angewiesen sind, sind vorbei. Die Situation am Wohnungsmarkt - das wissen Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, am besten - ist entspannt. Angebot und Nachfrage haben sich ausgeglichen. Die allgemeinen Lebensbedingungen gehen in Richtung mehr Flexibilität. Durch das soziale Mietrecht, das ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Kündigung verlangt, sind Mieter ohnehin hinreichend geschützt. ({1}) Bezahlbaren Wohnraum schafft man nicht dadurch, indem man Vermieter verschreckt. ({2}) Bezahlbaren Wohnraum schafft man, indem man Kapitalanlegern Anreiz zu Investitionen bietet und die Attraktivität des privaten Wohnungsbaus steigert. Daher schlägt Ihnen die FDP zu Recht Länderöffnungsklauseln zur Erhöhung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen auf 30 Prozent vor. Sie haben es bereits erwähnt; darauf brauche ich nicht mehr einzugehen. Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Hören Sie endlich damit auf, den Vermietern immer neue Belastungen aufzuerlegen! Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab! ({3}) Bekennen Sie sich endlich zu einem fairen Ausgleich von Vermieter- und Mieterinteressen und lassen Sie auch wieder einmal den Markt sprechen! Der Markt ist das beste Regulativ für Mieter und Vermieter und im Übrigen auch für den Mietzins. ({4}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat zum Abschluss dieser Debatte der Kollege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass wir bei der Mietrechtsreform im Jahre 2001 die Kündigungsfristen verändert haben, war ein großer Fortschritt. Für die Mieter gelten generell drei Monate und für die Vermieter drei Monate, nach fünf Jahren Mietdauer sechs Monate und nach acht Jahren neun Monate Kündigungsfrist. Ich glaube, diese Regelung der Kündigungsfristen war wichtig und ist sozial ausgewogen, ({0}) weil wir langjährigen, zuverlässigen Mieterinnen und Mietern damit einen besonderen Schutz gewähren. ({1}) Herr Wanderwitz, Sie haben gesagt, diese Neuregelung der Kündigungsfristen sei einer der Sargnägel für die Wohnungswirtschaft. Entschuldigen Sie, das ist blühender Unsinn. ({2}) Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass ein großer Wohnungsverband mit immerhin 7 Millionen Wohnungen diese Regelung bereits vor der Mietrechtsreform in seine Musterverträge aufgenommen hatte. Sollte dieser Verband den ersten Nagel für seinen eigenen Sarg tatsächlich selbst eingeschlagen haben? Das glauben Sie doch selbst nicht. ({3}) Es ist auch begründet worden, warum die Kündigungsfristen für die Mieter verkürzt wurden - das muss ich nicht im Einzelnen wiederholen -: Der Mobilität, die Sie alle in Ihren Reden immer wieder fordern, muss man auch beim Mietrecht Rechnung tragen. Über Monate doppelte Mieten zu zahlen ist ein entscheidendes Hindernis, wenn man zum Beispiel zum ersten Mal in einer Nachbarstadt einen Job annehmen will. Auch beim Wechsel ins Pflegeheim waren lange Kündigungsfristen immer ein Hindernis und stellten eine große finanzielle Belastung für die Betroffenen dar. Wir haben auch den Vermietern durchaus Entgegenkommen gezeigt und den zwölfmonatigen Kündigungsschutz damals abgeschafft. Es war von Anfang an klar, dass wir die neuen Regelungen auch für möglichst viele Altmietverträge haben wollen. Es ist damals - das kann man im Ausschussprotokoll nachlesen - auf eine entsprechende Klarstellung im Gesetz verzichtet worden, aber in der Begründung ist deutlich gemacht worden, dass auch die Formularverträge Berücksichtigung finden sollten. Das heißt, der Wille des Gesetzgebers war eindeutig, auch wenn es - das ist richtig - keine gesetzliche Regelung gab. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs tun wir nichts anderes, als unseren ursprünglichen Willen als Gesetzgeber hier noch einmal klarzustellen und das, was wir für richtig halten, ins Gesetz zu schreiben. ({4}) Noch einmal: Das, was wir damals für richtig gehalten haben, halten wir auch heute nach wie vor für richtig. Frau Eichstädt-Bohlig ist bereits auf den Entschließungsantrag der FDP eingegangen; aber ich möchte, dass dieser Antrag, der uns heute vorliegt, aus dem Halbdunkel der Beratungen des Rechtsausschusses voll ins Licht der Öffentlichkeit gezogen wird. ({5}) Was Sie, Herr Funke, verlangen, ist nichts anderes, als den Kündigungsschutz für die Mieterinnen und Mieter drastisch zu beschneiden, ja zu verstümmeln, ({6}) den Spielraum für Mieterhöhungen drastisch anzuheben - Sie wollen höhere Mieten - und außerordentliche, fristlose Kündigungen zu beschleunigen. ({7}) Das würde das Ende des sozialen Mietrechts bedeuten. ({8}) Ich will noch einmal betonen: Die Mietwohnung ist ein Wirtschaftsgut. Als Wirtschaftsgut liegt Ihnen, Herr Funke, die Mietwohnung sehr am Herzen. Sie ist aber auch ein Sozialgut. Das vergessen Sie hierbei. ({9}) Sehr gewundert habe ich mich über den Beitrag von Herrn Wanderwitz. Wenn Sie hier frank und frei sagen, Sie enthalten sich nur deshalb, weil Ihnen der Antrag nicht weit genug geht - ich habe gedacht, Sie enthalten sich, weil Sie noch nicht Stellung beziehen wollen -, ({10}) dann weiß ich nicht, was Sie darüber hinaus noch wollen. Wollen Sie jetzt den Mieterschutz ganz abschaffen? Wollen Sie auf alle Kappungsgrenzen verzichten und damit jeglicher Mieterhöhung Tür und Tor öffnen? Dass Sie am Ende noch den Begriff von der sozialen Wärme in den Mund genommen haben, ist schon fast ein Treppenwitz. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des EinfühVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms rungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf Drucksache 15/4134. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5132, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5135. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Gitta Connemann, Dr. Wolfgang Bötsch, Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Situation der Breitenkultur in Deutschland - Drucksache 15/4140 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz nach meiner Wahl zur Vorsitzenden der Kultur-Enquete gab ich einer großen Tageszeitung ein Interview und sah mich mit folgender Frage, die übrigens völlig ernst gemeint war, konfrontiert: „Frau Connemann, Sie kommen doch vom Land. Gibt es denn da überhaupt Kultur?“ ({0}) - Das hat mich ernsthaft jemand gefragt. ({1}) - Deswegen bin ich auch so froh, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen, Frau Hiller-Ohm. Es stimmt: Ich lebe in einer ländlichen Region, wie 16 Millionen Menschen in Deutschland. In meiner ostfriesisch-emsländischen Heimat gibt es keine kulturellen Leuchttürme. Bei uns zu Hause gibt es keine feste Bühne. Das nächste Staatstheater ist mehr als 60 Kilometer entfernt. Von einem Opernhaus können wir nur träumen. Doch deshalb diesem Raum, meiner Heimat, die Kultur abzusprechen zeugt entweder von Unkenntnis oder von einem verengten Kulturbegriff. Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, dass sich die bedeutendste Orgellandschaft Europas in meiner Heimat befindet. Unkenntnis wäre es, nicht zu wissen, wie viele Menschen sich kulturell vor Ort engagieren, sei es in Chören, in plattdeutschen Theatergruppen, in Spielmannszügen oder in Heimat- und Kulturvereinen. Eine Nachfrage ergab, dass dies dem Reporter durchaus bewusst war. Für ihn waren diese Aktivitäten aber keine Kultur. Sein Kulturbegriff beschränkte sich auf die institutionalisierte und professionelle Kultur, die so genannten kulturellen Leuchttürme. Das ist ein verengter Kulturbegriff, mit dem er leider nicht alleine steht. Deshalb bin ich auch für das Bekenntnis unseres Bundespräsidenten Köhler zur Laienkultur anlässlich der Verleihung der Zelter Medaille sehr dankbar. Der Bundespräsident hat erkannt, dass das ehrenamtliche Engagement von nahezu 7 Millionen Menschen unverzichtbar für die Pflege der Kultur in unserem Land ist. In Chören, Orchestern, Schauspielgruppen und Kulturvereinen wird tagtäglich gelebt, was sich die Gesellschaft wünscht und die Politik in ihren Sonntagsreden einfordert: Engagement, Leistungsbereitschaft, Teamgeist, Disziplin, Zuverlässigkeit und vieles mehr, verbunden mit einem hohen Zeitaufwand, und das alles ohne Entgelt. Im Gegenteil: Chorsänger, Amateurschauspieler und Musiker zahlen Beiträge und finanzieren Konzerte und Veranstaltungen aus eigener Tasche. Aber damit nicht genug: Vereinsvorsitzende müssen unter anderem im Sozialversicherungs-, Gemeinnützigkeits- und Urheberrecht Detailkenntnisse besitzen. Bei Verstößen haften sie mit ihrem privaten Vermögen. Das ist für Ehrenamtliche nicht zu schaffen und schreckt Menschen davon ab, sich zu engagieren. Die vielen Menschen, die im Bereich der Breitenkultur Außergewöhnliches leisten, haben es verdient, ernst genommen zu werden. Trotzdem haben sie bisher nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen angemessen wäre. Deshalb haben wir von der CDU/CSU die Große Anfrage eingebracht. Wir wollen mit dieser Anfrage Aufmerksamkeit erzeugen und die Erstellung eines Berichts über die aktuelle Situation der Breitenkultur in Deutschland erreichen. Wir geben damit der Bundesregierung die Chance, Stellung zu beziehen. Wie steht die Bundesregierung zur Breitenkultur? Was wird sie zukünftig für sie tun? Gründe, sich zu engagieren, gibt es genug: Erstens. Wer „Kultur für alle“ fordert, der muss auch „Kultur von allen“ fördern. Hochkultur und Breitenkultur dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich. ({2}) Zweitens. Wer eine Spitze will, muss auf eine breite Basis bauen. Wir brauchen eine lebendige Breitenkultur. Wir brauchen sie, um unseren talentierten Nachwuchs zu entdecken und ihn fördern zu können. Wir brauchen sie, um Kultur für viele zu öffnen. ({3}) Drittens. Kultur stiftet Identität; Breitenkultur sichert Pluralität. Unsere kulturelle Zugehörigkeit wächst aus regionalen, nationalen und europäischen Kontexten. Es gilt, die Vielfalt und damit die Breite des Angebotes zu bewahren. Zu dieser Breite zählt auch die Laienkultur. Viertens. Breitenkultur war und ist Bürgerkultur. Nirgendwo kommt der Geist der Selbstbestimmung und der Solidarität so gut zum Ausdruck wie im kulturellen Engagement. Wenn wir die Bürgergesellschaft wirklich stärken und beleben wollen, dürfen wir nicht die kulturellen Quellen des bürgerschaftlichen Engagements versiegen lassen. In letzter Zeit mehren sich aber gegenteilige Anzeichen. Es droht uns ein Generationenbruch. Die Folgen nachlassender Förderung in Schulen, Musikschulen, Chören, Vereinen und Freizeiteinrichtungen sind überall spürbar. Wir brauchen deshalb Informationen darüber, wo der Schuh drückt, wo gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Gegenwärtig haben wir es leider noch immer mit einer Terra incognita zu tun. Deshalb gibt es unsere Große Anfrage. Wir brauchen verlässliche Zahlen über Umfang und Art des Engagements in der Breitenkultur. Wir brauchen Auskunft über Ausmaß und Ursache von Nachwuchsproblemen. Wir brauchen Erfahrungswerte in Fragen des Einkommensteuerrechts, beispielsweise zur Praxis der Übungsleiterpauschale. Frau Kollegin Griefahn, ich bin froh, dass Sie mir insoweit zustimmen. Wir brauchen Auskunft über Reformbedarf im Vereinsrecht, beispielsweise über Regelungen zur vereinfachten Erlangung des Status der Gemeinnützigkeit. Wir brauchen Informationen über die Praxis des derzeitigen Haftungsrechtes, ({4}) beispielsweise über positive Effekte einer Ausnahmeregelung für kleine Vereine. Die Liste ließe sich verlängern. Wir sind uns aber sicherlich im Grundsatz einig. Der Staat wird keine flächendeckende Kulturversorgung leisten können. Wir sind uns, so hoffe ich, auch in einem Punkt der Problemlösung im Grundsatz einig. Wollen wir unserer Kultur auch in Zukunft Ehre machen, brauchen wir eine neue Kultur des Ehrenamtes. ({5}) Mit den Bürgerinnen und Bürgern kann man, so haben wir zu lernen, nicht nur Staat, sondern auch Kultur machen. Deshalb lautet meine Aufforderung an Sie, die Damen und Herren von der Koalition, und an die Bundesregierung: Nehmen Sie unsere Große Anfrage zur Breitenkultur ernst! Nehmen Sie die Breitenkultur in Deutschland ernst! ({6}): Das ist Länder- sache!) - Gemeinnützigkeitsrecht, Steuerrecht und Urheberrecht sind Bundesangelegenheit, liebe Frau Kollegin Griefahn. Das dürfte selbst Ihnen nicht entgangen sein. Wir wissen, dass die Beantwortung unserer Großen Anfrage mit Arbeit verbunden ist. Aber insoweit geht es frei nach Valentin: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung endlich an diese Arbeit macht. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Dr. Christina Weiss.

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es sehr wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit einem kulturpolitischen Thema beschäftigt, das für den gesellschaftlichen Kanon von sehr großer Bedeutung ist. Millionen Bürgerinnen und Bürger engagieren sich - darin stimme ich Ihnen völlig zu, Frau Connemann - in der Breitenkultur quer durch alle Sparten, ({0}) entweder ehrenamtlich oder hauptberuflich, aber immer künstlerisch aktiv, ideenreich und kreativ. Breitenkultur bildet also durchaus den Humus, der Spitzenleistungen in der Kultur erst möglich macht. Zur Definition des Begriffs „Breitenkultur“ werden Sie in unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage einiges lesen können. Wichtig erscheinen mir in der heutigen Debatte zwei Aspekte: Erstens. Breitenkultur ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Ausbildung eine aktive Teilhabe an kulturellen Prozessen. ({1}) Zweitens. Die Förderung der Breitenkultur ist eine kulturpolitische Strategie, um mehr Bürgerinnen und Bürger für Kunst und Kultur zu interessieren und auch zur Teilhabe zu befähigen. ({2}) Wesentliche Träger der Breitenkultur sind vor diesem Hintergrund die Laienkulturvereine und die Laienkulturinitiativen, aber auch - um nur einige zu nennen - die Volkshochschulen, die Stadtbibliotheken, die Stadtteilbibliotheken, die Kunst- und Musikschulen, die soziokulturellen Zentren und die Geschichtswerkstätten. Ich bin über den Zeitpunkt, den Sie für diese Debatte gewählt haben, etwas überrascht und verwundert. Nachdem Ihre Große Anfrage zur Breitenkultur im November vergangenen Jahres in meiner Behörde eingegangen war, habe ich dem Präsidenten des Bundestages umgehend mitgeteilt, dass sie Anfang Juli dieses Jahres beantwortet wird. Kritik an dieser Planung ist mir bisher nicht zu Ohren gekommen. Der Zeitrahmen lässt sich gar nicht enger fassen, weil die Anfrage, wie Sie wissen, aus 57 Einzelfragen besteht, die zum Teil sehr umfänglich und mitunter etwas vage formuliert sind. Aber angesichts der Spannbreite der einzelnen Fragen und angesichts der Komplexität des erbetenen Datenmaterials ist die Beteiligung einer Reihe von Ressorts auch in den Ländern vonnöten. Ebenso ist es natürlich sinnvoll, Institute und Verbände einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund muss schon die Frage erlaubt sein, warum wir die heutige Debatte eigentlich führen. ({3}) Mich haben aber nicht nur das Verfahren befremdet, sondern auch die inhaltlichen Schwerpunkte. Der Begriff der Breitenkultur lässt sich nicht präzise abgrenzen. Er findet in den amtlichen Statistiken keine Anwendung, was die Ermittlung von gesicherten empirischen Daten erheblich erschwert. Auch ist eigentlich völlig unstrittig, dass die Förderung der Breitenkultur vorrangig eine Kernaufgabe der Länder und Kommunen ist. Die Strukturen dieser sehr speziellen Kulturförderung setzen lokal an. Sie entfalten sich in aller Regel aus dem bürgerschaftlichen Engagement in den Kommunen, in den Regionen. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips dürfte für den Bereich der Breitenkultur daher außer Zweifel stehen. Die Bundesregierung hat - im Rahmen ihrer sehr begrenzten Zuständigkeit - in den vergangenen Jahren sehr viel dafür getan, die Breitenkultur aufzuwerten. ({4}) Das geschah zunächst einmal dadurch - ich darf Sie vielleicht an die Folgen für diesen Kulturbereich erinnern -, dass rechtliche Rahmenbedingungen für das kulturelle Leben insgesamt verbessert werden konnten. Es war mein Amt, das die Reform des steuerlichen und zivilen Stiftungsrechts befördert hat. ({5}) Ich darf auf die neue Struktur im Spendenrecht aufmerksam machen. Für die Breitenkultur ist es sehr relevant, dass das Durchlaufspendenverfahren beseitigt wurde. Auch die Erhöhung der Übungsleiterpauschale muss hier unbedingt erwähnt werden. ({6}) Das sind ganz wichtige Stützpunkte. ({7}) Außerdem fördere ich aus meinem Haushalt einzelne Bereiche der Breitenkultur, was von den Ländern im Übrigen durchaus heftig torpediert wird. Zu nennen sind die beiden Hauptsäulen unserer Förderung: die Dachverbände der Laienmusik ({8}) und der Fonds Soziokultur. Um aufzugreifen, was schon angesprochen worden ist - ich nenne das drastischste Beispiel -: Im Gegensatz etwa zum unionsgeführten Land Niedersachsen habe ich die Förderung der Soziokultur nicht nur nicht gekürzt, sondern die Bundesförderung des Fonds Soziokultur sogar auf 1 Million Euro jährlich verdoppelt. ({9}) Bei aller Wertschätzung für die Sache, die Sie in diesem Handeln vielleicht erkennen können, registriere ich verwundert, dass Ihnen plötzlich so sehr daran gelegen ist, die Breitenkultur auf die bundespolitische Ebene zu heben. Ich habe gar nichts dagegen. ({10}) Aber warum ist es Ihnen so wichtig? Eigentlich ist es doch unser aller Auffassung, dass man dieser Verantwortung gerade in den Ländern nachkommen muss. Die Bundesregierung weiß sehr genau um die Bedeutung von soziokulturellen Strukturen der Breitenkultur. Sie trägt deshalb in vielfältiger Weise zur Entwicklung von Kunst und Kultur bei. Wir versuchen, der Breitenkultur Wertschätzung zukommen zu lassen, weil wir wissen, dass die Breitenkultur unsere Bürgergesellschaft in schönster Weise prägt. ({11}) Unter diesen Vorzeichen freue ich mich sehr auf die weitere Diskussion. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Situation der Breitenkultur in Deutschland wird Anlass für eine erneute Debatte über dieses Thema sein. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass dieses Thema heute auch im Deutschen Bundestag diskutiert wird. Ich warne eigentlich davor, jetzt immer gleich nach Kompetenzen zu rufen. ({0}) Aufgabe dieses Parlaments muss auch sein, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Deshalb bin ich der Union für die heutige Debatte dankbar. ({1}) Bei der Diskussion über dieses Thema zeigt sich, dass wir ein Problem mit diesem Begriff haben: „Breitenkultur“ ist eigentlich ein furchtbares Wort. Frau Connemann und Herr Bötsch, Sie wissen ja, auch in unseren Verbänden diskutieren wir. Es ist ja so, dass im Französischen das Wort Amateur auf das Wort „aimer“, lieben, zurückgeht. Wir schwanken zwischen den Begriffen Laien und Amateure, aber keiner passt richtig. Es wäre also die Zeit wert, sich einmal zu überlegen, warum das eigentlich so ist. ({2}) Eines ist doch ganz klar: Nie war das Thema so aktuell wie heute. In Zeiten, wo wir uns alle, Regierung und Opposition, fragen müssen, welche Aufgaben vom Staat und welche von anderen wahrgenommen werden müssen, ist das Thema aktueller denn je. ({3}) Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel, dass gerade die vielfältigen Organisationen der Breitenkultur unschätzbare Dienste für unsere Gesellschaft leisten. Man muss wirklich allen dankbar sein, die sich irgendwo im Kulturbereich ehrenamtlich engagieren. ({4}) Es steht ja in Ihrer Großen Anfrage völlig richtig: Laienkultur ist langfristig angelegt, in aller Regel in der Rechtsform des Vereins. Deshalb müssen wir uns im Bundestag zunächst einmal, ohne das gleich auf die Länder abzuwälzen, fragen, was der Bund tun kann, wo er Unterstützung bieten und helfen kann. Ich möchte übrigens, Frau Staatsministerin Weiss, neben der Förderung des musikalischen Verständnisses auch die gesellschaftliche Bedeutung des Erlernens von Musik ausdrücklich betonen. Junge Menschen, die zum Beispiel in einem Orchester Musik machen, lernen soziale Verhaltensformen. ({5}) Deren Persönlichkeit wird in einer Weise gebildet, wie es woanders kaum möglich ist. Völlig klar ist, dass Breitenkultur die Voraussetzung dafür ist, dass kulturelle Spitzenleistungen hervorgebracht werden. Damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir uns überlegen - das ist nun wirklich Bundesaufgabe -, wie wir unser Steuer- und Vereinsrecht so weiterentwickeln können, dass Vereine überhaupt noch in der Lage sind, vernünftig zu arbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel mehr junge Menschen, die bereit sind, etwas zu tun, als es landläufig dargestellt wird. Sie sind aber nicht bereit, im Verein die Funktion eines Vorsitzenden oder eines Kassiers zu übernehmen, wenn sie dafür eigentlich eine juristische Ausbildung brauchen. Es ist verrückt, was da zurzeit abläuft. Wir alle müssen zusehen, dass entsprechende Änderungen vorgenommen werden. ({6}) Die FDP wird sich sehr offen an dieser Diskussion beteiligen. Ich bin insbesondere sehr froh, dass so langsam das Bewusstsein dafür wächst, dass der Laienkultur eine große Bedeutung zukommt. Das wird auch im Deutschen Musikrat so gesehen; dort spielt die Laienkultur mittlerweile eine viel größere Rolle. Wir müssen das unterstützen, wo wir nur können. Wir müssen auch bereit sein, einiges bezüglich des Ehrenamtes neu zu überdenken. Die Mobilität der jungen Generation, die wir ja alle wollen, führt zu gewaltigen Veränderungen. Das müssen wir bedenken und hierfür müssen wir Voraussetzungen schaffen. Da ist auch der Bundesgesetzgeber gefordert. Ich freue mich auf die weitere Diskussion und natürlich auch auf die Antworten auf diese Große Anfrage. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es stimmt, was die Staatsministerin gesagt hat: Breitenkultur ist Bürgerkultur. Man kann auch im Anschluss an Herrn Burgbacher sagen: eine wunderbare Liebhaberei von Bürgern. Aus meiner Sicht kann es gar nicht häufig genug Gelegenheiten geben, im Deutschen Bundestag über Kunst und Kultur zu diskutieren. Von daher bin ich auch den Kollegen von der CDU/CSU dankbar, dass sie dieses Thema aufgesetzt haben. Es besteht ja große Einigkeit unter uns Kulturpolitikern, wie auch sonst manchmal in der Kulturpolitik, darüber, dass dieses ein außerordentlich wichtiges Thema ist, dass die Breitenkulturlandschaft die Basis darstellt und wir diese institutionell fördern müssen. ({0}) Allerdings wissen ja auch Sie - das kann man Ihnen nicht ohne eine ironische Bemerkung durchgehen lassen -, dass gerade die Förderung von Breitenkultur Aufgabe von Ländern und Kommunen ist. ({1}) Wir tragen ja in diesem Haus unendlich viele Kämpfe mit eben diesen Ländern über die Frage aus, ob wir das, was wir für die Kultur tun wollen, auch dürfen. Von daher kann man sagen: Wollen hätten wir schon, aber um das Dürfen müssen wir immer wieder mit diesen Ländern ringen. ({2}) Deswegen ist auch schwer zu verstehen, warum Sie jetzt so einen Druck machen und diskutieren wollen, ohne dass Sie die vollständige Antwort haben, obwohl Sie genau wissen, woran das liegt. Es gibt - das ist ja ein Thema unserer Enquete-Kommission - keine zentrale Kulturstatistik und keine Gesamterfassung aller Laientheater und Laienensembles. Deswegen wäre es eigentlich richtig gewesen, Sie hätten die Große Anfrage gleich an den Bundesrat gerichtet. Dann hätten Sie wirklich Druck machen können. ({3}) Da es nun aber so ist und weil ja auch Sie - ich weiß das von Ihnen allen - oft den Kopf darüber schütteln, dass die Länder uns das, was wir gern tun wollen, oft so schwer machen, darf man nun auch einmal ein paar kritische Worte über die Praxis der Länder bei der Vertretung ihrer Kulturhoheit gerade im Bereich Breitenkultur hier äußern. ({4}) Sie reißen so viel Kompetenz wie möglich an sich, versuchen sogar, Debatten über diese Themen hier einzuschränken, um dann im Zweifelsfall doch die Mittel für die Kultur zu kürzen. Das ist nach meiner Meinung eine echte Doppelbotschaft. ({5}) Schaut man sich exemplarisch den Kulturhaushalt in Niedersachsen an, dann wird deutlich, dass dort die Breitenkultur, vor allen Dingen die Soziokultur, also Laienmusik, Chöre, Heimatpflege und Musikschulen, überproportional von Kürzungen betroffen ist, ({6}) und das in einer Zeit, wo wir alle sagen - jetzt kann ich ja wieder für uns alle reden, denn das ist ein großes Thema in der Enquete-Kommission -, dass gerade die kulturelle Bildung für unsere Jugendlichen überproportional wichtig ist, ({7}) dass sie gerade für Jugendliche eine große Hilfe ist, damit sie sich in einer für sie manchmal bedrohlichen Umwelt auf ihre eigenen Fähigkeiten und ihre eigene Kreativität verlassen können. Bedeutende Statistiken besagen: Bei Jugendlichen, die eine Gelegenheit hatten, ein Instrument zu erlernen oder in einem Theater oder in einem Musical in der Schule mitzuspielen, ist die Kriminalitätsrate später relevant niedriger. Da gibt es also einen unmittelbaren Zusammenhang. Von daher ist Breitenkulturpolitik gerade mit Jugendlichen auch präventive Politik und Gesellschaftspolitik. ({8}) Umso mehr, liebe, liebe Länder, die ihr so auf euren Kompetenzen besteht: ({9}) Tut mehr im Bereich von Breitenkultur, tut mehr im Engagement für Jugendliche! ({10}) Wir tun einiges, manchmal fast an der Grenze der länderpolitischen Illegalität; die Staatsministerin hat es gesagt. Wir unterstützen Dachverbände wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater und den Bund Deutscher Amateurtheater sowie zahlreiche Wettbewerbe, zum Beispiel „Jugend musiziert“ und „Jugend jazzt“. Wir haben die Gelder für die Soziokultur von 480 000 Euro auf 1 Million Euro mehr als verdoppelt. Das macht deutlich, wie wichtig dieses Engagement für uns ist. Ich möchte besonders erwähnen, dass diese Förderung nicht auf Kosten der Spitzenkultur erfolgt, wozu wir früher einmal geneigt haben, sondern dass wir beides gleichzeitig fördern. ({11}) Unser Wille, die Institutionen insgesamt zu fördern, bürgerschaftliches Engagement für die Kulturinstitutionen in der Breite zu fördern, ist ungebrochen, wie Sie wissen. Die Möglichkeiten des Bundes in diesem Bereich sind beschränkt. Dennoch tun wir mehr, als wir nach der aktuellen Kompetenzverteilung tun müssten. Als Ergebnis der Diskussion in der Enquete-Kommission erhoffe ich mir, dass wir uns gemeinsam neue Aufgaben erkämpfen. Die Kommission wird am Ende auch ein Wort dazu sagen, ob dieses Land auf allen Ebenen, auf kommunaler Ebene, auf Länderebene und auf Bundesebene, zu einer Selbstverpflichtung bereit ist, für den weltweiten Ruf einer Kulturnation konkret etwas zu tun. Wenn wir da die eine oder andere Barriere einmal elegant überspringen könnten, wäre ich sehr froh darüber. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wurde auf dem Herweg ermuntert, etwas zum Breitenfußball oder zum Thema Briefmarken zu sagen. Nein, ich habe wirklich vor, zur Kultur zu sprechen, insbesondere zur Musik. ({0}) Herr Kollege Kubatschka, ich mache Ihnen ein Angebot: Ich spiele Klavier oder Orgel und Sie können ein anderes Instrument dazu heraussuchen; dann geben wir bestimmt ein gutes Duo ab. ({1}) - Sie dürfen mitmachen, dann bilden wir ein Trio. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau Staatsministerin hat gewissermaßen im Sinne eines Themas mit Variationen gefragt: Warum eigentlich diese Debatte zu diesem Zeitpunkt? Frau Staatsministerin, formal könnte man antworten: Ein Blick in die Geschäftsordnung könnte die Frage ohne weiteres beantworten. Dort steht, dass nach einer gewissen Frist nach der Einreichung einer Großen Anfrage eine solche Debatte möglich ist. Deshalb wurde sie von uns auf die Tagesordnung gesetzt. ({2}) Es wäre aber sicherlich zu kurz gegriffen, wenn man sich nur auf die Fristen der Geschäftsordnung berufen würde. ({3}) - Ja. - Man kann, hat die Frau Vizepräsidentin gesagt - auch wenn sie es ein paar Sätze später wieder eingeschränkt hat -, gar nicht oft genug über dieses Thema diskutieren. Wenn ich ganz scharf wäre - was ich normalerweise nicht bin -, Frau Staatsministerin, dann würde ich sagen: ({4}) Die parlamentarische Erfahrung ist etwas, was man durchaus in ein Amt einbringen kann, auch wenn man selbst nicht Parlamentarier ist. Sie können uns nicht dafür bestrafen, dass Ihnen diese parlamentarische Erfahrung offensichtlich fehlt. ({5}) - Natürlich; sonst hätte sie diese Frage überhaupt nicht gestellt. Wir können auch nicht die Föderalismuskommission in diesem Hause fortführen. Ich teile einige Punkte der Kritik, zum Beispiel wenn Sie sagen, dass die Länder beim Sparen ganz schön hingelangt haben. Aber da sollten Sie vielleicht nicht nur auf Niedersachsen schauen. Schauen Sie sich einmal den Haushalt von NordrheinWestfalen an! ({6}) - Darüber reden wir besser nicht; denn die Kulturförderung in Bayern ist wirklich vorbildlich, und zwar sowohl in der Breite als auch in Bezug auf die Spitze. Vielleicht kann man auch dort den einen oder anderen Punkt kritisieren. Aber das kann für uns hier im Bundestag natürlich überhaupt kein Grund sein, dass wir uns mit dem Thema nicht beschäftigen. Die Antwort auf die Große Anfrage ist für den 1. Juli angekündigt. Jeder, der in den Sitzungsplan des Bundestages schaut, weiß, dass genau dann die Sommerpause beginnt. In der ersten Sitzungswoche im September wird der Haushalt beraten und in der zweiten Sitzungswoche, die erst 14 Tage später ist, haben wir wahrscheinlich auch etwas anderes zu tun, sodass es mindestens Oktober werden würde, bis es zu einer solchen Debatte käme. Insofern haben wir es angesichts der Bedeutung der Laienkultur durchaus für opportun, richtig, ja notwendig gehalten, eine solche Debatte schon vorher zu führen, um das Bewusstsein zu stärken. ({7}) Meine Damen und Herren Kollegen von der Opposition ({8}) - von der Regierung, Entschuldigung; Sie haben völlig Recht, Herr Tauss, aber ich erinnere mich natürlich gern an alte Zeiten -, in einigen Punkten stimmen wir vollkommen überein. Hinsichtlich der Bedeutung der Laienkultur, der Laienmusik werden wir wenig Unterschiede finden. Aber die Frage, wie wir fördern und welche Möglichkeiten wir haben - der Kollege Burgbacher hat es gesagt -, nicht nur musikalisch oder künstlerisch tätig zu sein, ist eine Frage der Gesellschaftspolitik. Jede Mark, die wir in diesen Bereich investieren, sparen wir bei präventiven Maßnahmen oder gar Maßnahmen für „nach dem Feste“, für Jugendliche oder andere, die möglicherweise in Schwierigkeiten geraten sind. ({9}) Wir geben das Geld besser vorher aus. Was bei uns an Breitenkultur gelebt und gegeben wird, ist in keiner Weise amateurhaft oder oberflächlich. Im Gegenteil, für außerordentlich viele Menschen sind künstlerisches Gestalten und musikalischer Ausdruck zu Grundbedürfnissen geworden. Sie gewinnen durch ihr Tun Selbstvertrauen und entwickeln ihre geistigen, schöpferischen und auch sozialen Fähigkeiten. Wer sich auf diese Weise engagiert, kreist nicht nur um sich selbst. Das kann einer Gesellschaft nur gut tun. ({10}) Deshalb muss es das ureigene Interesse ihrer Vertreter sein, möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, sich in das kulturelle Angebot vor Ort aktiv einzubringen, möglichst von klein auf. Die Existenz so vieler auf Kunst und Traditionspflege ausgerichteter Vereine und Verbände ist schützenswert und nicht selbstverständlich. Sie sind der Humus, aus dem in unseren Städten und Dörfern Lebensqualität und Bürgersinn entstehen. Dafür sollten wir unseren Beitrag leisten. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Barthel von der SPD-Fraktion. ({0})

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Nach all diesen Beiträgen habe ich den Eindruck, dass es hinsichtlich der Unterstützung und der Förderung der Breitenkultur überhaupt keinen Dissens gibt. Es stellt sich jetzt nur die Frage, wie und wie stark man fördert. Aber eines sollte man nicht machen, nämlich das bürgerschaftliche Engagement im Hinblick auf die Breitenkultur als Alternative zur öffentlichen Förderung der Breitenkultur hinstellen, wie Sie das teilweise getan haben. Das wäre sehr schlecht. ({0}) Wir Kulturpolitiker wollen, dass das gesamte Spektrum der Kultur und nicht nur die Breitenkultur gefördert wird. Wenn wir uns die entsprechenden Stiftungen anschauen, dann können wir erkennen, dass die Förderung der Kultur schon sehr weit gediehen ist. Das heißt aber nicht, dass wir in unseren Bemühungen nachlassen dürfen. ({1}) Ich wundere mich, dass von der Opposition nur ein Mitglied des Kulturausschusses anwesend ist. Woran liegt das? Ich glaube nicht, dass kein Interesse an der Breitenkultur besteht. Ich glaube vielmehr, dass sich viele gefragt haben, warum eine Debatte über eine Große Anfrage auf der Tagesordnung steht, zu der es noch keine Antworten gibt. Worüber sollen wir diskutieren? Ich bin schon sechs Jahre Mitglied dieses Hauses. Aber ich habe noch nie über eine Große Anfrage diskutiert, ohne dass die entsprechenden Antworten vorlagen. ({2}) Was wir hier tun ist eine Art Trockenschwimmkurs. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als das über die Breitenkultur zu sagen, was wir schon immer sagen wollten. Ich gestehe, dass das nicht schlecht sein muss. ({3}) Trotzdem muss ich sagen, dass diese Debatte nur den Zweck hat, sich einmal zu diesem Thema allgemein zu äußern. Das müssen Sie doch zugeben. ({4}) Da ich nicht weiß, zu welcher Frage ich eigentlich Stellung nehmen soll, habe ich mir einmal die „neue musikzeitung“, die ich sehr schätze, angeschaut. Dort finden sich Kommentare von Frau Connemann zu dieser Anfrage. Teilweise werfen Sie, Frau Connemann, der Staatsministerin vor - das finde ich ein bisschen traurig -, sie interessiere sich nicht für Breitenkultur. ({5}) Außerdem äußern Sie den Verdacht, dass - auf sie bezogen - die Politiker in jede Oper gehen, aber die Breitenkultur aus den Augen verlieren. ({6}) Ich glaube, die Staatsministerin hat in ihrem kurzen Beitrag ziemlich deutlich gemacht, wie weit die Förderung durch die Bundesebene gediehen ist. Insoweit, Frau Connemann, finde ich Ihre Kommentare nicht sehr treffend. ({7}) Wir alle halten die Förderung der Breitenkultur für wichtig und notwendig. Ich war vor meiner Abgeordnetenzeit journalistisch tätig und weiß, dass ein Ehrenkodex lautet: Erst informieren und dann werten. Bei Ihnen ist es offensichtlich umgekehrt. Das ist kein guter Stil. Sie sollten davon wegkommen. ({8}) Was bedeutet eigentlich der Begriff Breitenkultur? Diese Große Anfrage hat mich veranlasst, einmal in verschiedenen Lexika nachzuschauen, was darunter zu verstehen ist. Mein Problem war, dass ich diesen Begriff nicht gefunden habe. In Ihrer Großen Anfrage - jetzt komme ich doch noch darauf zu sprechen - ist von „Breitenkultur“ wie auch von „Laienkultur“ und manchmal von „Breiten- bzw. Laienkultur“ die Rede. Man könnte jetzt sagen, dies sei nicht wichtig, weil wir alle wissen, worum es geht. Aber ich habe die Erfahrung gemacht: Wer die Begriffe nicht klar definiert, kann auch nicht klar darüber denken. Deswegen scheint es mir wichtig zu sein, den Begriff Breitenkultur zu definieren. Ihre erste Frage bezieht sich darauf, was die Bundesregierung unter Breitenkultur versteht. An diese Frage hängen Sie 56 Fragen an. Wir müssen zwar über eine Eckhardt Barthel ({9}) entsprechende Definition reden. Dennoch glaube ich nicht, dass es allein um eine Definition der Breitenkultur geht. Denn es gibt auch eine Überschneidung mit der Soziokultur. Insofern ist das nicht nur etwas für das stille Kämmerlein, sondern geht weiter. Die Antragsteller haben ganz am Anfang ihrer Großen Anfrage darauf hingewiesen, dass das Subsidiaritätsprinzip gilt. An diesem Punkt sind wir uns einig. Aber Sie halten das in Ihren Fragen gar nicht durch. Bei einer Frage - sehen Sie, ich gehe doch auf Ihre Fragen ein - ist mir das besonders aufgefallen. Ich meine den zweiten Teil von Frage 15, die sich auf Immigranten und Kultur bezieht: Wie informiert die Bundesregierung Immigranten über die Möglichkeiten des bürgerschaftlichen Engagements in Laienkulturvereinen mit überwiegend deutschen Mitgliedern? Arme Frau Weiss! Wie soll sie diese Frage beantworten? Ich kann mir das praktisch nicht vorstellen. Zum Beispiel wohne ich hier in Berlin noch in einem kleinen Bezirk mit 330 000 Einwohnern. Gott sei Dank haben wir dort viele dieser Laien- und Kulturvereine - ich bin übrigens in einem Mitglied -, ({10}) in denen viel gemacht wird. Wie aber sollen wir von der Bundesebene aus Immigranten aufzeigen, wo sie Laienkultur zusammen mit der deutschen Bevölkerung machen können? ({11}) Man sieht also, dass Sie bei Ihrer Großen Anfrage einfach einmal alles das aufgeschrieben haben, was möglich erschien. ({12}) Ich möchte ja gerne, dass der Bund in Sachen Kultur mehr Kompetenzen bekommt. Das gestehe ich. ({13}) - Dazu eine Fußnote. Nach dem, was ich heute Morgen gehört habe, nach der Debatte über Föderalismus müssen wir Kulturpolitiker aufpassen, dass die Kulturpolitik nicht auf dem Altar des Ausgleiches geopfert wird. Das bitte ich zu bedenken. ({14}) Zum Abschluss möchte ich einen versöhnlichen Satz sagen. Ich glaube, wir sind in der Tat alle von der Bedeutung der Breitenkultur überzeugt. Ich finde es auch richtig, dass in Ihrer Großen Anfrage das bürgerschaftliche Engagement ganz stark betont wird. Darüber besteht Einigkeit. Ich würde mich aber freuen, dass wir das nächste Mal erst dann über eine Große Anfrage diskutieren, wenn wir auch die Antworten haben. Ich bedanke mich. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({1}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Impulse für eine internationale Ausrichtung des Schulwesens - Den Bildungsstandort Deutschland auch im Schulbereich stärken - Drucksachen 15/4723, 15/5097 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ernst Dieter Rossmann Marion Seib Monika Lazar Cornelia Pieper Die Redner Gesine Multhaupt, Dr. Ernst-Dieter Rossmann, Bernward Müller, Kristina Köhler, Grietje Bettin1) und Cornelia Pieper2) haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/5097 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP mit dem Titel „Impulse für eine internationale Ausrichtung des Schulwesens - Den Bildungsstandort Deutschland auch im Schulbereich stärken“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4723 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundstückverkehrsgesetzes und des Landpachtverkehrsgesetzes - Drucksache 15/4535 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 1) Anlage 2 2) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Die Redner Elvira Drobinski-Weiß, Kurt Segner, Friedrich Ostendorff und Ernst Burgbacher haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4535 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck ({3}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zum Beginn der Dekade „Wasser zum Leben“ der Vereinten Nationen - Drucksache 15/5115 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Redner Dagmar Schmidt, Ulrich Petzold, Christa Reichard, Uschi Eid, Ulrich Heinrich und Gesine Lötzsch haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5115 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 1) Anlage 3 2) Anlage 4 verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Die Wahlrichtlinien der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen Afrika ({5}) als Maßstab für freie und faire Wah- len auch in Simbabwe - Drucksache 15/5117 - Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD, Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Rainer Stinner, FDP, Arnold Vaatz,3) CDU/CSU, und Hartwig Fischer4) ({6}), CDU/CSU, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/5117 mit dem Titel „Die Wahlrichtlinien der Entwicklungsgemeinschaft der Staaten im südlichen Afrika ({7}) als Maßstab für freie und faire Wahlen auch in Simbabwe“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. März 2005, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.