Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/10/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Zunächst möchte ich den Kollegen Albrecht Feibel und Horst Schmidbauer ({0}), die in den vergangenen Tagen jeweils ihren 65. Geburtstag feiern konnten, nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses aussprechen. ({1}) Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Verhinderung von Gentechnikprojekten ({2}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Pawelski, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gleichberechtigtes Leben für Frauen und Mädchen aus Migrantenfamilien in Deutschland - Drucksache 15/5017 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor - Drucksache 15/5032 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen - Drucksache 15/5019 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({6}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Karl Addicks, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik - Verantwortungsvolle Regelungen und Maßnahmen treffen - Drucksache 15/5034 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu den durch Überschüsse möglichen Beitragssenkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 160. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss ({8}) zur Mitberatung überwiesen werden. Redetext Präsident Wolfgang Thierse Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa - Drucksachen 15/4900, 15/4939 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus ({10}) zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Horst Friedrich ({11}), Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutschland stärken - Drucksache 15/4847 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12}) Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 e sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel Humme, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({13}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Auf dem Weg in ein geschlechtergerechtes Deutschland - Gleichstellung geht alle an - Drucksache 15/5029 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({14}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Berg, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ursula Sowa, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Frauen in Wissenschaft und Forschung stärken - Chancengleichheit auch als Wettbewerbsfaktor erhöhen - Drucksache 15/5030 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Schmidt ({17}), Karin Kortmann, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck ({18}), Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Geschlechtergerechtigkeit bleibt zentrale Voraussetzung für Entwicklung - Zehn Jahre nach der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking - Drucksache 15/5031 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({19}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berichte für die Europäische Kommission zur Umsetzung des Europäischen Sozialfonds in der Bundesrepublik Deutschland - Zeiträume 1994 bis 1999 ({20}) und 2000 bis 2006 hier: Verwirklichung der Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt - Drucksache 15/2049 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({21}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Präsident Wolfgang Thierse e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Irmgard Karwatzki, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen Zehn Jahre Novellierung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes - Drucksachen 15/4146, 15/5052 Berichterstattung: Abgeordnete Christel Humme Irmingard Schewe-Gerigk ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Pawelski, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gleichberechtigtes Leben für Frauen und Mädchen aus Migrantenfamilien in Deutschland - Drucksache 15/5017 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({23}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor - Drucksache 15/5032 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({24}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion, das Wort. ({25})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Frauen haben Höhenangst“ - unter diesem Titel ging „Die Zeit“ in der letzten Woche der Frage nach, warum so wenige Frauen in den Chefetagen der Firmen zu finden sind. 1911, als der erste Internationale Frauentag begangen wurde, forderten die Frauen aus der Arbeiterbewegung ihre Rechte ein. Damals war die weibliche Hälfte der Bevölkerung völlig rechtlos. Heute, 94 Jahre später, sind Frauen nach Art. 3 Grundgesetz rechtlich gleichgestellt. Dennoch hat der Artikel in der „Zeit“ noch einmal deutlich gemacht, dass eine große Lücke zwischen Anspruch und Realität klafft. Darum ist es umso erfreulicher, dass heute alle Parteien in den von ihnen vorgelegten Anträgen dokumentieren, dass sie in der Analyse und in den Zielen einig sind. Wir alle wollen über alle Parteigrenzen hinweg mehr Frauen in Führungspositionen - das kann man dort nachlesen -, Chancengleichheit für Frauen in der Arbeitswelt und Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir alle sind uns offensichtlich einig: Wir wollen den Frauen die Höhenangst nehmen. ({0}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in den sechs Jahren, in denen Rot-Grün jetzt Regierungsverantwortung trägt, wurde frauenpolitisch viel erreicht. ({1}) Wir haben die Ziele, die ich gerade genannt habe, konsequent verfolgt und Schritt für Schritt entsprechende Maßnahmen umgesetzt. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union, behaupten, dass nach unserer Regierungsübernahme im Jahre 1998 auf diesem Gebiet nichts mehr getan worden ist, ({2}) dann kann ich dem nur entgegnen, dass Sie wohl in einer völlig anderen Welt leben. ({3}) Blicken wir doch einmal kurz zurück: Gender Mainstreaming gilt seit 1999 als durchgängiges Prinzip allen Regierungshandelns. Das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz für den öffentlichen Dienst des Bundes gilt seit 2002, das Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz für die Bundeswehr seit Ende 2004. Damit schaffen wir Chancengleichheit. Wir setzen unser Programm „Frau und Beruf“ von 1999 damit Schritt für Schritt um; denn wir - das ist entscheidend - haben Konzepte, die wir konsequent verfolgen. Diese vermisse ich, auch wenn wir uns in den Zielen einig sind, in Ihren Anträgen völlig. Das muss ich leider sagen. ({4}) - Doch, ich habe sie gelesen, Frau Lenke. Das ist ja das Schlimme. Das Gleiche gilt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Was haben wir erreicht? Flexibilisierung der Elternzeit 2001, Anspruch auf Teilzeit 2002, 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm 2003, Ausbau der Tagesbetreuung für unter Dreijährige 2004. ({5}) Auch hier gilt für uns: konsequente Umsetzung eines guten Konzepts, das ich bei Ihnen wiederum sehr vermisse. ({6}) - Frau Lenke, ein Zwischenruf nach dem Motto „Laut hilft“ ist kein Argument. Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen hat die Bundesregierung 1999 erstmals ein Gesamtkonzept für alle Ebenen der Gewaltbekämpfung vorgelegt. Auch dieses Konzept setzen wir Schritt für Schritt um. Mit dem Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt von 2002 stärken wir Frauen und Kinder, die noch immer typische Opfer von Gewalt in der Familie werden. Wir gewähren von Menschenhandel betroffenen Frauen mit einer Änderung des Strafrechts verstärkten rechtlichen Schutz. Zwangsheirat wird als besonders schwerer Fall der Nötigung bestraft. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Sie sehen, wir haben die sechs Regierungsjahre konsequent genutzt, um die Situation der Frauen zu verbessern. Wir haben in dieser Zeit mehr für die Frauen erreicht als Sie von der Opposition in all den Jahren zuvor; das muss man konstatieren. ({7}) Aber zur Ehrlichkeit gehört auch: Wir haben viel geschafft, aber eben noch nicht alles erreicht. Dafür waren die sechs Jahre im Vergleich zu den 94 Jahren zuvor etwas zu kurz. Wir arbeiten daran, unser Konzept zur Chancengleichheit und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiterzuentwickeln; darauf können sich die Frauen in der Bundesrepublik verlassen. ({8}) Denn immer wieder müssen wir erfahren, dass Frauen besonders häufig von Diskriminierung und Benachteiligung am Arbeitsplatz betroffen sind. Auf sich allein gestellt, scheuen sie häufig, sich zur Wehr zu setzen. Mit unserem Antidiskriminierungsgesetz stärken wir ihnen den Rücken. Wir möchten damit aber auch Mentalitäten ändern und für eine andere Unternehmenskultur werben. Deshalb freue ich mich, dass der Deutsche Frauenrat, der Deutsche Juristinnenbund und der DGB die Ziele des Antidiskriminierungsgesetzes in der Anhörung am letzten Montag so deutlich unterstützt haben. ({9}) Leider habe ich eine frauenpolitische Position der CDU/CSU in der Anhörung sehr vermisst. ({10}) Dabei fordern Sie, meine Herren und Damen von der CDU/CSU, doch von der Bundesregierung - ich zitiere aus Ihrem Antrag -, auf die Beseitigung bestehender struktureller Nachteile von Frauen gegenüber Männern hinzuwirken, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Ihnen an dieser Stelle unsere Antwort, nämlich das Antidiskriminierungsgesetz, nicht passt, ({11}) wie wollen Sie denn dann strukturelle Benachteiligung bekämpfen? Sie müssen schon sagen, wie Sie etwas erreichen wollen, sonst sage ich Ihnen: Sie sind nicht regierungsfähig. ({12}) - Das passt Ihnen nicht, das verstehe ich; aber Wahrheit ist Wahrheit. Wenn ich all die Anträge, die heute auf dem Tisch liegen, vergleiche, dann fällt mir auf, dass wir mittlerweile, nach sechs Jahren, doch einiges erreicht haben. Alle Parteien haben nämlich anerkannt, dass Gender Mainstreaming ein wichtiges Ziel ist. ({13}) - Frau Lenke, gerade Sie dürften diesen Zwischenruf jetzt nicht machen; denn ich erinnere mich: Vor fünf Jahren war das für Sie noch kein Thema. ({14}) - Frau Lenke, ich fahre jetzt erst einmal fort. ({15}) - Wenn Sie eine Frage stellen wollen, können Sie das am Ende meiner Rede tun; Zwischenrufe helfen nicht weiter. In den letzten sechs Jahren war das in der Tat nicht immer so. Mittlerweile aber wollen wir alle, dass jede Maßnahme daraufhin überprüft wird, welche Wirkung sie auf Männer und Frauen hat. Sehen wir uns einige konkrete Maßnahmen an. Meine Damen und Herren von der Union, Sie bieten uns zurzeit etwas Nettes an, nämlich den Pakt für Deutschland. Lassen Sie uns doch einmal schauen, wie sich der Pakt für Deutschland gender-mainstreaming-mäßig auswirkt. ({16}) Sie fordern in Ihrem Antrag zum Beispiel - da müssen Sie sich in Ihrer Fraktion schon einig sein, ob Sie diesen Antrag unterstützen oder nicht -, ({17}) den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 5 Prozent zu senken. Das würde für die Bundesagentur für Arbeit eine Mittelkürzung von 12 Milliarden Euro bedeuten. ({18}) Sie müssen aber auch ins Kalkül nehmen, was das gleichzeitig bedeutet: Damit werden nämlich wichtige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, von denen auch Frauen profitieren, deutlich zurückgefahren. Wie passt das mit Ihrer Forderung, Berufsrückkehrerinnen zu fördern, zusammen? ({19}) Ich sage Ihnen: Ihnen fehlt ein schlüssiges Konzept. Daher bleibe ich dabei: Sie sind nicht regierungsfähig. Ich bin froh, dass wir an der Regierung sind und dass wir unsere guten und schlüssigen Konzepte, die die Frauen brauchen, weiterentwickeln und fortsetzen können. Schönen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Hannelore Roedel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hannelore Roedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Zitat der SPDEuropaabgeordneten Lissy Gröner vom 28. Februar dieses Jahres in New York: In Deutschland ist der gleichstellungspolitische Fortschritt eine Schnecke. ({0}) Wo die Kollegin Recht hat, hat sie Recht. Zehn Jahre nach Peking und der Novellierung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes gilt es heute, Bilanz zu ziehen. Wie steht es um die Frauenpolitik von Rot-Grün? Tatsache ist: Die Situation von Frauen hat sich seit der Regierungsübernahme von Rot-Grün nicht verbessert. ({1}) Hierzu nenne ich gerne Zahlen: Nach wie vor verdienen Frauen bei gleichwertiger Arbeit durchschnittlich 30 Prozent weniger als Männer. ({2}) Trotz bester Bildungsabschlüsse sind Frauen in Wissenschaft und Forschung weiterhin unterrepräsentiert und lediglich 13 Prozent der Professuren in weiblicher Hand. An den außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist sogar nur jede 20. Führungskraft weiblich. In den wesentlichen Gremien im Einflussbereich des Bundes - Sie hätten es eigentlich in der Hand, dies zu ändern - liegt der Frauenanteil bei nur 16 Prozent. ({3}) Bedrückend ist die Situation allein erziehender Frauen in diesem Lande. Sie verdienen durchschnittlich nur halb so viel wie Paare mit Kindern. Über ein Drittel lebt unterhalb der Armutsgrenze. Von der Bundesregierung wurden viele wohlklingende Aktionsprogramme mit honorigen Zielen gestartet. Auch haben Sie richtigerweise erkannt, dass Maßnahmen zur Erleichterung von Arbeits- und Familienleben von entscheidender Bedeutung für die Realisierung von Chancengleichheit sind. Doch wie sieht denn die Lebenswirklichkeit von Frauen heute aus? Ich glaube, Sie sind sich darüber nicht im Klaren. ({4}) Sie leisten zwar mit Programmen eine Anschubfinanzierung für Ganztagsschulen. Aber was ist die Folge? Länder und Kommunen bleiben auf den Folgekosten in voller Höhe sitzen. ({5}) Mit Ihrer Politik haben Sie den Kommunen die finanzielle Grundlage entzogen. ({6}) Ähnliches gilt für das Tagesbetreuungsausbaugesetz. Auch hier wurde die Finanzierung von Ihnen bis heute nicht sichergestellt. ({7}) Länder und Kommunen werden angesichts ihrer angespannten Haushaltslage Probleme haben, die Kosten zu tragen. Die Bundesregierung stiehlt sich auch hier aus ihrer Verantwortung. Aber nicht nur in Ihren halbherzigen Programmen, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, liegen die Ursachen für den Stillstand in der Gleichstellungspolitik sondern vor allem in der seit sechs Jahren von Ihnen betriebenen falschen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. ({8}) Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen ist es für Frauen schwerer denn je, überhaupt eine Arbeitsstelle zu finden. Nichts gefährdet die Realisierung der Gleichberechtigung mehr als die fehlende Perspektive auf einen Job. In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist es eine Brüskierung von Arbeitslosen, dass mit laxen Regeln der Visavergabe die Tore für Zehntausende von Schwarzarbeitern geöffnet wurden. Wie wollen Sie diese Praxis zum Beispiel vor einer Frau rechtfertigen, die ihren Job durch den Volmer-Erlass an eine „legal“ eingereiste Ukrainerin verloren hat? ({9}) Sorgen muss uns insbesondere die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund bereiten. Das höhere Risiko, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, ist vielfach auf geringere Bildungs- und Ausbildungsbeteiligungen infolge traditioneller Familienstrukturen zurückzuführen. Aber letztendlich liegt die Ursache dafür ebenfalls in der schlechten Arbeitsmarktsituation, die Sie verschuldet haben. Da Sie von Gender Mainstreaming reden: Gerade auf dem Arbeitsmarkt nutzt die Implementierung von immer neuen Gender-Mainstreaming-Regelungen nichts, wenn Sie mit immer neuen Maßnahmen und Gesetzen die Wirkung dieser Regelungen konterkarieren. Es ist eben ein Irrweg, zu glauben, dass mit einem Übermaß an Bürokratie und Dirigismus auf dem Arbeitsmarkt Positives für Frauen erreicht werden kann. Aktuellstes Beispiel ist das Antidiskriminierungsgesetz - ein unausgegorener Gesetzentwurf. Selbstverständlich treten auch wir dafür ein, die europarechtlichen Vorgaben umzusetzen. ({10}) Aber das, was Sie uns vorgelegt haben, stellt einen Gipfel an Bürokratie dar und wird nicht dazu beitragen, dass mehr Arbeitsplätze in diesem Land entstehen. ({11}) Um die Lage der Frauen zu verbessern, müssen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik endlich die notwendigen Schritte eingeleitet werden. Von entscheidender Bedeutung hierfür sind Maßnahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten, Steuervereinfachungen und -entlastungen vor allem für den Mittelstand sowie der Abbau von Überregulierungen auf dem Arbeitsmarkt. ({12}) Wir heben in unserem Antrag hervor, dass Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe in Deutschland auch künftig einen hohen Stellenwert einnehmen muss. Um dem Wunsch jüngerer Frauen, Familie und Beruf miteinander zu verbinden, nachzukommen, stellen die Bemühungen um eine nachhaltige Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf den Kern für eine erfolgreiche Frauenpolitik dar. Gemeinsam mit den Unternehmen in diesem Land wollen auch wir auf eine frauen- und familienfreundliche Ausgestaltung der Arbeitswelt hinwirken. ({13}) In diesem Zusammenhang muss alles dafür getan werden, dass Frauen nach der Phase der Familientätigkeit Perspektiven für den beruflichen Wiedereinstieg haben. ({14}) Handlungsbedarf besteht auch im Hinblick auf junge Mädchen, deren Berufsziele vielfach noch die typischen Frauenberufe sind. Deshalb muss bereits in der Grundschule das Interesse der Mädchen an männertypischen Berufen in Naturwissenschaft und Technik geweckt werden; denn nur so besteht die Chance, die Spaltung des Arbeitsmarktes in relativ gut bezahlte Männerberufe und in die schlechter bezahlte Frauenbranche zu überwinden. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben gestern die Beteiligung Ihrer Fraktion am Girls’ Day betont und dabei die Frage aufgeworfen, wann die erste Frau die Männerdomäne „Bundeskanzler“ erobert. Dazu kann ich Ihnen sagen: Vergessen Sie all Ihre zeitraubenden und erfolglosen Programme, die Frauen in Männerberufe bringen sollen! Wählen Sie die Union und Angela Merkel und Sie haben 2006 eine Frau in einem typischen Männerberuf! ({15}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in der heutigen Debatte darf es aber nicht nur um die Gleichstellung gehen, sondern auch um Frauenrechte als Menschenrechte. Frauenhandel und Zwangsprostitution sind besonders widerwärtige Formen der organisierten Kriminalität. Dazu höre ich von Ihnen leider sehr wenig. Es ist ein ausgesprochener Skandal, dass die Spitze des Auswärtigen Amtes Menschenhändlern und Zuhältern ihr schmutziges Geschäft dadurch erleichtert, dass sie Einreisevisa nach dem Motto „in dubio pro libertate“ vergab. Hier wurden falsch verstandene Vorstellungen von Weltoffenheit de facto höher bewertet als die gerade von grüner Seite immer wieder beschworenen Menschenrechte. ({16}) Abschließend möchte ich mich kurz einem Problem zuwenden, das wir gerade heute nicht aus den Augen verlieren dürfen. Im Hinblick auf die in Deutschland lebenden Muslimas dürfen wir nicht akzeptieren, dass sich in diesem Land Parallelgesellschaften entwickeln, in denen patriarchalische Ehr- und Moralvorstellungen über die im Grundgesetz verankerten Frauen- und Menschenrechte gestellt werden. ({17}) So genannte Ehrenmorde - in Wirklichkeit heimtückische Morde - sind unerträglich. ({18}) Die in Art. 3 des Grundgesetzes verankerte Gleichberechtigung gilt für alle in diesem Lande lebenden Menschen. Daher dürfen wir niemanden unter dem Deckmantel der Toleranz in Parallelgesellschaften mitten unter uns allein lassen; meine Kollegin Rita Pawelski wird dies noch ausführen. Ihre oft von uns eingeforderte Solidarität können Sie heute ganz einfach unter Beweis stellen: indem Sie unserem Antrag zustimmen. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Morgen, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Grundgesetzänderung und der Internationale Frauentag haben alle Fraktionen beflügelt, Forderungen zum Thema Gleichstellung vorzulegen. Einzig die FDP hat es geschafft, vier Seiten ohne einen einzigen konkreten Vorschlag zu bedrucken. Aber das passt irgendwie. Sie begnügen sich mit Klamauk. ({0}) Ich will dazu zwei Beispiele nennen, Kollegin Lenke: Ihr Kollege Bahr setzt in die Welt, dass die falschen Frauen Kinder bekommen. Ich frage mich: Wen meint er denn wohl damit? Meint er vielleicht seine Kollegin Koch-Mehrin, die ihren nackten Babybauch zum Fotoshooting präsentiert? ({1}) Der Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen rät den alten Menschen, endlich den Löffel abzugeben. Sie sehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die FDP kann man getrost vergessen. ({2}) Nun zu den Anträgen der CDU/CSU. Frau Kollegin Roedel, ich hatte eigentlich eine andere Rede vorbereitet. Aber nach dem, was Sie hier zum Besten gegeben haben, muss ich mein Manuskript leider zur Seite legen. Sie haben allen Ernstes behauptet, die großen Erfolge in der Frauenpolitik habe die CDU/CSU bis 1998 zu verbuchen und seit unserer Regierungsübernahme herrsche hier Stagnation. Ich denke nicht, dass Sie das wirklich glauben; Sie lächeln ja auch so. ({3}) Wissen Sie eigentlich nicht, warum Sie 1998 abgewählt wurden? Wir hatten im Bereich der Frauenpolitik alle Hände voll zu tun, weil Sie Ihre Hände jahrelang in den Schoß gelegt hatten. ({4}) Wir haben nicht nur Gesetze aufgelegt und verabschiedet, sondern auch die frauenpolitische Wirklichkeit in Deutschland verändert. Ich nenne Ihnen einmal die Fakten, Frau Roedel: Seit der Verabschiedung des Bundesgleichstellungsgesetzes steigt die Zahl von Frauen in Leitungspositionen. In vielen Ministerien wurden mehr Frauen als Männer befördert. Das Justizministerium zum Beispiel hat zwei Drittel Frauen und ein Drittel Männer befördert. Im Auswärtigen Amt wurden in den letzten Jahren zu 70 Prozent Frauen eingestellt. Dank unserer Anstrengungen im Wissenschafts- und Forschungsbereich stieg der Anteil der Frauen bei den Professuren von 1998 bis heute von 9 auf 13 Prozent. Das ist noch zu wenig. Sie können aber doch nicht sagen, es sei nichts passiert. ({5}) Durch das Elternzeitgesetz verbesserte sich der Anteil der Väter, die Elternzeit in Anspruch nahmen, von 1,5 - das ist eine homöopathische Dosis - auf immerhin 5 Prozent. Ich frage mich, warum Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Wir werden auf jeden Fall nicht zulassen, dass Sie solche Schauermärchen verbreiten und die Öffentlichkeit täuschen. ({6}) Ich will nicht verhehlen, dass es noch genug zu tun gibt, gerade in der Privatwirtschaft. Weibliche Führungskräfte, Nachwuchsförderung, gleicher Lohn - Fehlanzeige. Die Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft war ein Flop; das muss man sagen. Aber wie sollte es auch anders sein, wenn noch nicht einmal die Hälfte aller Betriebe etwas von der Existenz dieser Vereinbarung weiß? Darum brauchen wir ein Bündnis für Chancengleichheit, ähnlich dem von der Ministerin Renate Schmidt initiierten Bündnis für Familie. Die Frauen wollen nicht darauf warten, aufgrund mangelnden männlichen Nachwuchses in einer alternden Gesellschaft notgedrungen auf die Chefsessel gelassen zu werden. Die Union beschäftigt sich nun auch mit der Situation der Frauen mit Migrationshintergrund. Na endlich, kann ich da nur sagen. Willkommen in der Gegenwart! Opposition tut Ihnen offensichtlich gut. ({7}) Während Ihrer Regierungszeit hatten ausländische Ehefrauen, die weniger als zwei Jahre in Deutschland verheiratet waren und aufgrund von Gewalt in ein Frauenhaus flüchteten, zwei Möglichkeiten: Entweder sie wurden abgeschoben oder sie mussten sich der Prügel durch ihren Mann weitere zwei Jahre aussetzen, bevor sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhielten. Wir haben das geändert, entgegen Ihrem Widerstand. ({8}) Auch von geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund wollten Sie nichts wissen. Natürlich müssen wir die Migrantinnen in Deutschland schützen. Das Thema Zwangsprostitution mit der erleichterten Visapraxis zu verbinden, Frau Roedel, das eignet sich hier wirklich nicht. Die Zahlen belegen, dass auch nach dem veränderten Erlass aus der Ukraine nicht mehr Kriminalität und Zwangsprostitution zu verzeichnen sind. ({9}) Nehmen Sie die Zahlen einfach zur Kenntnis! ({10}) - Hören Sie doch einmal zu, anstatt zu schreien! Im letzten Monat wurde als sechstes Opfer in vier Monaten in Berlin die Deutschtürkin Hatun Sürücü - vermutlich durch ihre eigenen Brüder - erschossen. Ihr „Verbrechen“ war, dass sie sich dagegen wehrte, dass ihre Familie Kontrolle über ihre Lebensweise, ihren Körper und die Wahl ihres Ehemannes ausübte. Dafür musste sie sterben. ({11}) - Stellen Sie doch einmal eine Frage! Das verlängert meine Redezeit. ({12}) Hier nützen aber keine strafrechtlichen Verschärfungen; denn Mord ist Mord. Hilfe und Aufklärung sind angesagt. ({13}) - Herr Präsident, so kann ich nicht reden. Im Falle der Zwangsverheiratung war es allerdings nötig, das ausdrückliche Verbot in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Das haben wir getan. Ihre Forderung ist also unnötig. Viel wichtiger aber ist, dass die aus Deutschland in das Ausland verbrachten zwangsverheirateten Frauen ein Rückkehrrecht nach Deutschland haben, und das auch später als nach sechs Monaten. ({14}) Da sind Sie gefragt, verehrte Kolleginnen von der Union. Hier können Sie etwas tun. Denn eines geht nicht an: Sie können nicht hier im Bundestag Krokodilstränen über die Situation der Frauen vergießen, aber im Bundesrat alles verhindern, was den betroffenen Frauen hilft, ein Aufenthaltsrecht zu bekommen. Wir müssen aber auch die Diskussion mit den Migrantinnen und Migranten führen. Es kann nicht sein, dass junge türkische Männer in aller Öffentlichkeit einen solchen Mord gutheißen. Es kann auch nicht sein, dass Mädchen von Mitschülern oder Brüdern bedroht werden, wenn sie kein Kopftuch tragen. Notwendig ist eine selbstkritische Diskussion in den Migranten-Communities. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines anmerken: In den Anträgen sind einige Punkte enthalten, die wir nur gemeinsam durchsetzen können. ({15}) - Ja, die FDP hat doch noch nichts Schriftliches vorgelegt. - Darin haben wir durchaus Erfahrung, zum Beispiel beim § 177 StGB oder den Unisex-Tarifen. Das wäre sowohl für den Internationalen Frauentag als auch für das zehnjährige Jubiläum des Staatsziels Gleichstellung im Grundgesetz ein positives Signal. Ich danke Ihnen recht herzlich. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion, das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass das Schauspiel, das wir heute anlässlich der Debatte des Internationalen Frauentags aufführen, gegen uns spricht. ({0}) Ich werde keine solche populistische Rede halten, wie wir sie von den Abgeordneten auf der linken Seite gehört haben. Die Frauen erwarten kein Schauspiel. Sie erwarten vielmehr am Internationalen Frauentag Solidarität mit all denen, denen wir aus dem Bundestag heraus helfen müssen. Dieses Schauspiel ist des Internationalen Frauentags unwürdig. ({1}) Wir und andere haben den Internationalen Frauentag gefeiert. Aber es stellt sich auch die Frage, ob wir mit dem, was die Frauen in Deutschland erreicht haben, zufrieden sein können. Ist das, was uns Frau Humme und andere heute vorgetragen haben, wirklich der Maßstab? Ich denke, wir sollten uns in Sachen Gleichstellung an den fortschrittlichsten Ländern messen. Aber auch am Internationalen Frauentag müssen wir die Länder im Blick haben, in denen die Gleichstellung noch meilenweit entfernt ist. Wir müssen uns bewusst sein, dass in einigen Ländern der Erde Mädchen und Frauen noch nicht einmal elementare Menschenrechte gewährt werden. Viele leben in patriarchalischer Unterdrückung. Wir haben erlebt, dass auch Türkinnen in Deutschland davon betroffen sind. In einigen Ländern der Erde haben Frauen keine politischen Mitspracherechte, keine ausreichende Gesundheitsversorgung und keine Bildungschancen. Es ist die Pflicht zuallererst der Bundesregierung, aber auch der Bundestagsfraktionen, sich entschieden für die Durchsetzung der Frauenrechte in allen Teilen dieser Welt einzusetzen. ({2}) Ich will aber an dieser Stelle auf die Situation von Frauen in Deutschland zurückkommen. Die Fakten zeigen doch, dass wir Frauen meilenweit von echter Teilhabe und Chancengleichheit entfernt sind. Dass Sie alle Maßnahmen im Rahmen der Frauenpolitik vor 1998, die Sie heute aufgezählt haben, diskriminiert haben, zeigt, dass es Ihnen in diesem Bereich um Parteipolitik geht statt um eine gemeinsame Politik, die - auch im Sinne von Gender Mainstreaming - mehr für die Frauen erreicht. ({3}) Wir Frauen tragen nämlich sehr viel zu dieser Gesellschaft bei. Wir erwirtschaften große Teile des Bruttosozialprodukts. Wir tragen wesentlich zum Steueraufkommen bei und leisten Erhebliches für unser soziales Versicherungssystem. Auch all das, was die Frauen in Familien und für ihre älteren Mitbürger tun und was sie ehrenamtlich leisten, hätte heute von Ihnen angesprochen werden müssen. Hier gibt es aber nur Streit und das bedaure ich außerordentlich. ({4}) Das Potenzial von Frauen ist - das wissen wir alle in Bezug auf Erwerbstätigkeit noch längst nicht ausgeschöpft. Aber woran liegt es, dass trotz besserer Bildungsabschlüsse Frauen in der Wirtschaft selten gut dotierte Positionen einnehmen? Der Frauenanteil an Managementpositionen in Deutschland ist seit 1998 kaum gestiegen, liebe Kolleginnen von der linken Seite. Er liegt immer noch bei 28 Prozent. Auf der höchsten Entscheidungsebene der 50 größten börsennotierten Unternehmen findet sich in Deutschland keine einzige Frau als Präsidentin und Vorstandsvorsitzende. Unterhalb dieser Ebene liegt der Frauenanteil in Deutschland bei 12 Prozent. In Norwegen und Schweden ist er doppelt so hoch. ({5}) 20 Prozent der Mitglieder der obersten Gerichtshöfe in Deutschland sind Frauen. In anderen EU-Staaten ist der Frauenanteil in diesem Bereich deutlich höher. Wiederum in Norwegen ist er doppelt so hoch wie bei uns. Bei den Professoren - das hat die Kollegin von der CDU schon angesprochen - ist der Anteil der Frauen noch beschämender. Er beträgt mehr als 10 Prozent. Damit belegt Deutschland innerhalb der EU den viertletzten Platz. ({6}) Einer der Gründe für diese typisch deutsche Misere sind die schlechten Rahmenbedingungen für Frauen. Das ist zwar ein alter Hut, aber ich sage ganz deutlich: Rot-Grün hat in diesem Bereich bislang keine Erfolge verzeichnen können. Zu diesen schlechten Rahmenbedingungen gehört vor allem das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit. Hier hat die Bundesregierung die Situation nicht verbessern können. ({7}) Der Betrag von 1,4 Milliarden Euro, den Sie angesprochen haben, ist ein Wolkenkukkucksheim. ({8}) Mir wurde von Ihnen noch keine Berechnung vorgelegt, in der Sie nachweisen können, dass den Gemeinden 1,4 Milliarden Euro für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren zur Verfügung stehen. ({9}) In unserem Antrag „Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor“ - Frau Schewe-Gerigk, das sage ich Ihnen, weil Sie ihn nicht gelesen haben ({10}) fordern wir von der Bundesregierung erstens die Beseitigung bestehender Barrieren und Benachteiligungen, die der faktischen Gleichberechtigung entgegenstehen. In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sprechen; denn hierbei geht es auch darum, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Väter zu gewährleisten. Nicht nur Frauen haben das Recht auf ein Leben mit Kindern, sondern auch Väter müssen die Chance haben, ohne Diskriminierung in ihrer Firma und ihrem gesellschaftlichen Umfeld Kinder zu erziehen. ({11}) Wenn sich ein Vater für einige Zeit der Kindererziehung widmet, wird er noch immer mit Misstrauen betrachtet, nicht aber, wie es angebracht wäre, hoch gelobt. ({12}) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann nur durch den Ausbau der Kinderbetreuung, auf den wir warten, ({13}) verbunden mit gesellschaftlicher Akzeptanz und der verbesserten Betreuung unter dreijähriger Kinder gewährleistet werden. Die FDP fordert von der Bundesregierung zweitens - das ist der wichtigste Punkt -, die existenzsichernde Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt voranzutreiben. ({14}) Meine Damen und Herren, das geschieht angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen nicht. Was wir brauchen, ist eine kluge Wirtschaftspolitik und die Beseitigung von Fehlanreizen in Steuer- und Transfersystemen, zum Beispiel den Wegfall der Steuerklasse V, ({15}) die Sie Ihren Anträgen zufolge beibehalten wollen. Wir haben diesen Vorschlag in den Bundestag eingebracht, Sie aber lehnen ihn ab. Wir wollen also die Beseitigung von Fehlanreizen in Steuer- und Transfersystemen. Darüber hinaus fordern wir von Ihnen eine bessere Arbeitsmarktpolitik und den Abbau der hohen Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt. Drittens fordert die FDP die Tarifpartner auf, die bestehenden Arbeitsbewertungssysteme und ihre Anwendung auf diskriminierende Mechanismen zu untersuchen. Die Beseitigung der Unterbewertung frauendominierter Tätigkeiten und der Überbewertung männerdominierter Tätigkeiten in Gehaltstarifen ist die Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgebern, auch und gerade im öffentlichen Dienst. Das sind einige wichtige Forderungen, die wir in unserem Antrag stellen. Frau Schewe-Gerigk, als Opposition haben wir die Regierung kritisch zu begleiten und selbst Vorschläge zu machen. Wenn Sie sich die Anträge, die die FDP-Fraktion in der letzten und in dieser Legislaturperiode in den Bundestag eingebracht hat, ansehen, stellen Sie fest, dass auch wir Frauenpolitik machen - allerdings auf eine andere Weise als Sie. ({16}) Zum Schluss eine persönliche Anmerkung. Liebe Kollegen und Kolleginnen, Frauenpolitikerinnen haben in keiner Fraktion einen leichten Stand. Dieser Politikbereich hat nicht die Priorität, die er verdient. Deshalb ist unser Antrag, in dem die Defizite dieser Regierung nach sechsjähriger Amtszeit angesprochen werden, so zu verstehen, dass wir damit die Kräfte in der Koalition stärken wollen, die sich für Gender Mainstreaming, also für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, einsetzen. Auf meinem Sprechzettel habe ich folgenden Schlusssatz notiert: Lassen Sie uns heute nicht im Streit enden, ({17}) sondern das Ziel verfolgen, für Männer und Frauen Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns allen gut tun. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion. ({0})

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Internationale Frauentag 2005 bietet die Möglichkeit für eine gleichstellungspolitische Halbzeitbilanz - ich beziehe mich nur auf die 15. Legislaturperiode - der Gleichstellungspolitik als Querschnittsaufgabe mit der Strategie des Gender Mainstreaming. Seit Jahrzehnten fordert die Frauenbewegung mit ihren Frauenverbänden, dass Frauen sich nicht zwischen Familie und Beruf entscheiden müssen, sondern dass sie wie Männer Familie und Beruf ganz selbstverständlich miteinander vereinbaren können. Was für Frauen in anderen EU-Ländern wie zum Beispiel in Frankreich und in Schweden längst Realität ist, nämlich eine verlässliche und umfassende Kinderbetreuung, war in Deutschland lange Zeit undenkbar. Durch unser 4-Milliarden-Euro-Ganztagsschulprogramm ({0}) und das Tagesbetreuungsausbaugesetz für unter Dreijährige wurde zu meiner großen Freude in meinem konservativen Schwarzwald ein fruchtbarer Gärungsprozess ausgelöst, der erste Früchte trägt. ({1}) Wenn man bedenkt, dass Bildung und Betreuung originäre Aufgaben der Länder und Kommunen sind, ist es umso erfreulicher, dass es der SPD-geführten Bundesregierung gelungen ist, diesen gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. ({2}) Klar war dabei immer, dass wir auf diesem harten und steinigen Weg vielfältige und zuverlässige Partner brauchen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Wir wollten doch in Ruhe weitermachen. - Die strategische Kooperation zwischen den Beteiligten aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften ist zwingend notwendig, um die Vereinbarkeit von Familie und Arbeitswelt zu verbessern. ({0}) Bundesministerin Renate Schmidt hat den guten Ansatz aufgegriffen und das Projekt „Allianz für Familien“ begründet. ({1}) Vor Ort haben sich inzwischen 129 „lokale Bündnisse für Familien“ entwickelt, denen sich 17 Millionen Menschen angeschlossen haben. Angebote zur flexiblen Kinderbetreuung und zum beruflichen Wiedereinstieg sind Beispiele für Aktivitäten, mit denen lokale Bündnisse in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft ganz konkret vor Ort die beruflichen und familiären Möglichkeiten von Frauen verbessern. Beim Unternehmenswettbewerb „Erfolgsfaktor Familie 2005“ hat sich aus meiner Heimat die Firma Bauser für die Endrunde qualifiziert. Ich gehe davon aus, dass Sie sich alle mit mir darüber freuen, dass diese beispielhafte Unternehmensphilosophie Raum greift. ({2}) Ich wünsche mir sehr, dass es nicht immer heißt, Wirtschaft zuerst und somit Frauenrechte als Luxus für bessere Zeiten aufgespart werden, sondern ich schließe mich hier den Worten von Frau Widmann-Mauz - das wird sie sicher erschrecken -, der Vorsitzenden der Gruppe der Frauen in der CDU, ausdrücklich an. Sie sagte: Heute und in Zukunft werden die Unternehmen in Deutschland, insbesondere angesichts der demographischen Entwicklung, nicht mehr auf die überdurchschnittlich gut ausgebildeten Frauen in Deutschland verzichten können. ({3}) Meine Damen und Herren, trotz aller positiven Entwicklungen ist Deutschland auch in der Arbeitswelt leider immer noch keine diskriminierungsfreie Zone. Zum Beispiel sind die Lohnunterschiede - das beklagen wir alle - noch immer gravierend. Bei Vollzeiterwerbstätigkeit verdienen Frauen noch immer bis zu 30 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. ({4}) Mit unserem Antidiskriminierungsgesetz ({5}) haben Frauen in Zukunft eine wirkungsvollere Handhabe ({6}) gegen Benachteiligungen und Diskriminierungen, zum Beispiel in der Arbeitswelt. ({7}) Die Tarifvertragsparteien - Arbeitgeber, Beschäftigte und Betriebsräte - sind gefordert, aktiv eine Antidiskriminierungskultur zu entwickeln. ({8}) Daimler-Chrysler geht hier mit einer sehr guten Handreichung beispielhaft voran. Wie wichtig dieses Gesetz ist, hat die anspruchsvolle Anhörung diese Woche zum Antidiskriminierungsgesetz gezeigt. ({9}) Die wertvollen Anregungen werden wir zum Teil einarbeiten. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Rita Pawelski, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Präsident, meine Damen und Herren! In Deutschland leben 3,4 Millionen Frauen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Viele von ihnen sind in unser Land gekommen, um bei uns in Freiheit zu leben, in Freiheit, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt wurde: Sie wollten leben ohne Angst vor Repressalien des Staates, der Religionsgemeinschaften oder der Familienclans. Bei uns, in ihrer neuen Heimat, schützt sie das Grundgesetz: Es sichert ihnen unveräußerliche Rechte zu wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit - und auch die Gleichberechtigung. Aber von diesen Rechten können trotz Grundgesetz viele dieser Frauen nur träumen. Wir haben aus falsch verstandener Toleranz ignoriert, dass viele Migrantinnen in unserem Land in Unfreiheit, in Angst leben. ({0}) Wir haben Themen wie Ehrenmorde oder Zwangsheiraten leichtfertig unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit oder unter „fremde Kulturen“ verschwinden lassen. Wir haben toleriert, dass mitten unter uns die Rechte von Frauen mit Füßen getreten werden. ({1}) Nun ist so mancher ideologischer Luftballon zerplatzt. Die Schriftstellerin Necla Kelek schrieb sogar: Der Traum von Multikulti ist verantwortungslos. Die Anwältin Seyran Ates sieht bei der Regierung - ich zitiere eine unglaubliche Angst, kulturelle Minderheiten an den Grundrechten zu messen … wo die Grünen sich immer so hübsch zugute halten, es mit den Menschenrechten ganz genau zu nehmen. Das Thema „Gewalt gegen türkische Frauen“ hat in den letzten Wochen für Schlagzeilen gesorgt. Ich meine jetzt nicht die Gewalt gegen türkische Frauen, ausgeübt von türkischen Polizisten in Istanbul. Ich frage mich schon, wo da die Betroffenheitsmienen einiger Minister waren, die sich doch sonst ständig äußern. Ich vermisste da Äußerungen der Regierung. ({2}) Meine Damen und Herren, ich spreche von dem grausamen Mord an einer Türkin im Februar in Berlin, der die ganze Republik erschütterte. Hatun Sürücü wurde auf offener Straße regelrecht hingerichtet, mutmaßlich von ihren eigenen Brüdern. Das Tatmotiv: verletzte Ehre. Die junge Frau wurde mit 16 mit einem Cousin verheiratet. Sie war westlich geworden, sie wollte jetzt frei leben. Sie war innerhalb weniger Monate die sechste Frau in Berlin, die im Namen der „Ehre“ ermordet wurde. Auslöser für derartige Menschenrechtsverletzungen sind archaische Familienstrukturen, zum Beispiel bei den Jeziden, aber auch die strenge, traditionelle Auslegung des Islam: Danach ist die Ehre eines Mannes abhängig von einem ehrbaren Verhalten seiner weiblichen Familienangehörigen. Verstößt eine Frau dagegen, etwa indem sie sich verliebt - möglicherweise sogar in einen Ungläubigen - oder sogar Geschlechtsverkehr vor der Ehe hat, gilt das als Beschmutzung der Ehre der Familie, der Ehre des Familienoberhaupts. Das kann nur durch Verstoßung, Verstümmelung oder - im schlimmsten Fall, wie es ja ein paar Mal passiert ist - durch Tötung der „Täterin“ gesühnt werden. Erst dann gilt seine Ehre als wieder hergestellt. Das wird auch in Deutschland, in unserem Land, praktiziert. Das wollen wir nicht weiter zulassen. ({3}) Eine Studie des Familienministeriums zeigt, dass ein Viertel der befragten Frauen, die mit einem türkischen Partner verheiratet sind oder waren, den Ehemann vor der Hochzeit nie gesehen haben. Das sind für mich Zwangsheiraten und massive Verletzungen der Menschenrechte. ({4}) Offizielle Daten zu Zwangsehen in Deutschland liegen leider nicht vor. Das ist für mich völlig unverständlich. Der Berliner Senat sprach von 230 Fällen im Jahre 2002, in denen Frauen von Zwangsehen bedroht oder betroffen waren. In Celle, einer Kleinstadt in Niedersachsen - dort leben sehr viele Jeziden -, waren es in den letzten Jahren über 200 Frauen. Jeder dort sagt, dass die Dunkelziffer sehr viel höher ist. Diese Frauen leiden. Nach Angaben der Berliner Kriseneinrichtung Papatya sind unter den dortigen Opfern der Zwangsheirat 68 Prozent minderjährig, 30 Prozent von ihnen äußerten Suizidabsichten und 80 Prozent wurden vorher misshandelt oder missbraucht. Diese Zahlen sind nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Tausende von so genannten Importbräuten - das sind junge Mädchen zum Beispiel aus Anatolien in der Türkei - hierher geholt werden, die kein Wort Deutsch können und keine Rechte kennen. Sie müssen hier abgeschirmt von der Außenwelt leben. In Gesprächen mit Beratungsstellen wurde mir oft gesagt, dass diese Frauen ihre Wohnungen oft jahrelang nicht verlassen durften und wenn doch, dann nur in Begleitung eines männlichen Wesens, sei es auch nur fünf Jahre alt. Viele wussten nach Jahren nicht einmal, in welcher Stadt sie eigentlich leben. Das alles geschieht in Deutschland. Diese Frauen brauchen Beratung - auch in türkischer und arabischer Sprache. Gleichzeitig fordern wir als CDU/CSU-Fraktion, ({5}) dass alle Institutionen und Gruppen, die mit Betroffenen von Gewalt und Zwangsheirat zu tun haben, so qualifiziert werden, dass sie die Probleme rechtzeitig erkennen und auf gute Beratungsstellen verweisen können. ({6}) Wir wollen, dass die Straftaten, bei denen die Ehre als Tatmotiv angegeben wird, in den Statistiken separat ausgewiesen werden müssen. Das geschieht bis heute leider nicht. Wir fordern, dass die Opfer von Zwangsehen mehr Rechte erhalten. Die Pflicht zur Einhaltung der einjährigen Frist zur Aufhebung dieser Ehe soll abgeschafft werden. Wir fordern, dass bei einer Zwangsheirat die Unterhaltsansprüche nicht mehr davon abhängen, ob die Betroffene vom Ehegatten bedroht oder getäuscht wurde; denn sehr oft geht die Drohung auch von der Familie aus. Übrigens werden auch oft junge Männer bedroht; denn diese werden oft genauso zwangsverheiratet. Sie sind also auch Opfer, um die wir uns kümmern müssen. ({7}) Wir wollen, dass die Zwangsheirat ein eigener Tatbestand im Strafgesetzbuch wird. Der Strafrahmen soll den aufenthaltsrechtlichen Ausweisungsvorschriften angepasst werden, sodass die Täter letztlich damit rechnen müssen, ausgewiesen zu werden. Meine Damen und Herren, ein Ausweg aus der Abhängigkeit ist die Bildung. Aber auch sie bleibt den Mädchen oft verwehrt. Sie werden von ihren Eltern zunehmend aus dem Sport-, Schwimm- oder Sexualkundeunterricht herausgenommen und dürfen keine Klassenfahrten mitmachen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte bitte zusammenhängend zu Ende reden. Nachher gerne. - Dabei haben die muslimischen Mädchen im Durchschnitt bessere Schulabschlüsse als die muslimischen Jungen. ({0}) Sie haben aber keine Chance, aus diesen guten Schulabschlüssen etwas zu machen. Das wird ihnen verwehrt. ({1}) Wir wollen, dass alle Mädchen an allen Unterrichtsfächern teilnehmen müssen. In Abstimmung mit den Bundesländern wollen wir bereits im Kindergarten eine Sprachförderung. Je eher wir damit anfangen, desto besser. ({2}) - Sie wird von einigen durchgeführt, aber leider nicht von allen. Unser Grundgesetz, vor allem Art. 3, gilt auch für Frauen und Mädchen aus anderen Kulturkreisen. Sie sollen nicht nur unter uns leben, sie sollen gleichberechtigt mit uns leben. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Kollegin Pawelski, ich stimme Ihnen zu, dass es in der Politik immer wieder einmal passiert, dass wir zu lange brauchen, um zunächst verborgene gesellschaftliche Entwicklungen zu entdecken. Das gilt für das, was Sie beschrieben haben und was sich zum Teil in unseren Migranten-Communities abspielt. ({0}) Das hat auch für sexuellen Missbrauch an Kindern und Vergewaltigung in der Ehe gegolten, wo es in den Parlamenten zunächst Widerstand dagegen gab, sich mit diesen Sachverhalten auseinander zu setzen und darauf gesetzgeberisch zu reagieren. Nun haben Sie gesagt, wir - mir war nicht ganz klar, wen Sie mit dem „wir“ meinten; ich hatte das Gefühl, Sie meinten uns - hätten das Thema „Gewalt gegen Migrantinnen“ zu lange nicht wahrgenommen. Nun hat es in der letzten Legislaturperiode eine ganz harte Auseinandersetzung um die Wahrung der Rechte von Migrantinnen gegeben, nämlich im Rahmen der Novellierung des damaligen § 19 des Ausländergesetzes. ({1}) Dabei stand der Schutz von Migrantinnen im Mittelpunkt der Debatte. ({2}) Noch einmal der Sachverhalt für diejenigen, die ihn nicht kennen: (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Handeln, nicht debattieren! Es dauerte bis dahin vier Jahre, bis eine Migrantin, die hier einen Deutschen oder einen Ausländer geheiratet hatte, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekam. Das machte sie zum Erpressungsgegenstand von Männern, die sie mit der Drohung, wenn sie zur Polizei gehe, werde sie aus Deutschland abgeschoben, misshandeln, schlagen und gegen sie Gewalt anwenden konnten. Wir haben dafür gekämpft, dass die Mindestdauer der Ehe auf zwei Jahre verkürzt und eine Härtefallregelung eingeführt wird. Die Union hat sich dieser Regelung massiv verweigert. ({3}) In Frauenhäusern - ich gehe viel in Frauenhäuser, weil ich wissen möchte, was da passiert - lernen Sie, dass für Migrantinnen genau diese Änderung in § 19 Ausländergesetz eine der größten Erleichterungen der letzten Jahre gewesen ist, weil sie endlich ihren gewalttätigen Mann verlassen können. Ein zweiter Bereich betrifft das Strafrecht. Im Februar dieses Jahres ist auf Initiative der Regierungskoalition die Strafe für Zwangsverheiratung verschärft worden, weil wir wussten, dass die Zwangsverheiratung offensichtlich auch in unserem Lande ein Thema ist und ausländische Frauen gegen ihren Willen in unser Land gebracht werden. Deswegen haben wir uns für diese Strafverschärfung eingesetzt. ({4}) Ich habe von Ihrer Seite kein „mea culpa“ dafür gehört, dass Sie zu lange übersehen haben, was passiert. Lassen Sie uns über diese Missstände reden. Lassen Sie uns überlegen: Wie schützen wir die Opfer? Wie bauen wir Netzwerke auf? Wie machen wir niedrigschwellige Angebote, die in der Regel Aufgabe von Ländern und Kommunen sind, um auch das hier einmal zu sagen? ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ihre Intervention bekommt ein Geschmäckle, Frau Kollegin, wenn Sie so tun, als ob Sie das schon immer alles gewusst hätten, und meinen, dies nun in einen Marieluise Beck ({0}) Angriff auf diese Regierung ummünzen zu müssen. Dann geht ein Stück Ehrlichkeit verloren. So sollten wir diese Auseinandersetzung nicht führen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Pawelski, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Rita Pawelski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003607, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, man muss schon ein verdammt schlechtes Gewissen haben, ({0}) wenn man eine allgemeine Äußerung wie „Wir haben toleriert“ auf sich persönlich bezieht. Man zieht immer die Pfeile an, die man verdient. Anscheinend verdienen Sie sie. ({1}) Ich finde es schön, dass Sie mir zutrauen, dass ich schon sehr lange im Bundestag bin. Aber ich bin erst seit 2002 hier. Ich habe jedoch die entsprechenden Unterlagen gelesen. Wir befinden uns im Jahre 2005. Sie hatten also sechs Jahre lang Zeit, etwas zu tun. Sie haben nicht genug getan. ({2}) Wir als CDU/CSU-Fraktion haben seit 1999 in vielen Anträgen immer wieder auf dieses Thema hingewiesen. ({3}) Sie haben nicht genug gehandelt. Sie, verehrte Frau Staatssekretärin, sagen jetzt, dass der § 240 Strafgesetzbuch geändert wurde. Dazu sage ich Ihnen: Der Tatbestand der Zwangsheirat steht nur in einem Nebensatz im Gesetz. ({4}) Wir wollen, dass ein eigener Paragraph geschaffen wird, damit jeder, der Zwangsehen veranlasst oder unterstützt, weiß, dass er möglicherweise ausgewiesen werden kann. Ich glaube, das ist eine Strafänderung, die verstanden wird. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen.

Ursula Sowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wenn die Damen seltener als die Männer Hervorragendes leisten, dann liegt das nur daran, dass ihnen keine gute Bildung zuteil wurde.“ Diese Einschätzung äußerte die französische Schriftstellerin Marie le Jars de Gournay im 17. Jahrhundert. In Deutschland sind Frauen heutzutage gut gebildet, vielfach sogar besser als Männer, es machen mehr junge Frauen das Abitur als Männer - das auch noch mit besseren Noten - und es beginnen mittlerweile genauso viele Frauen wie Männer ein Studium. Ihren Bildungsrückstand haben die Frauen aufgeholt. Trotzdem sind sie vor allem in leitenden Positionen in Wissenschaft und Forschung leider noch immer deutlich unterrepräsentiert. Madame le Jars de Gournay hatte also Unrecht. Es sind offensichtlich andere Faktoren als der Bildungsstand, die dazu führen, dass die Luft für Frauen in Wissenschaft und Forschung immer dünner wird, je weiter sie auf der Qualifikationsleiter nach oben steigen. Ein Grund dafür ist die unterschiedliche Bewertung von Leistung und Qualifikation bei Frauen und Männern. Auswahl und Berufungsverfahren verlaufen nicht geschlechtsneutral. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Auswahlgremien immer noch vor allem mit Männern besetzt sind. Eine 1997 in „Nature“ veröffentlichte Studie zeigt, dass Frauen bei der Vergabe von Forschungsmitteln hinsichtlich wissenschaftlicher Kompetenz, Forschungsvorschlag und Methodologie schlechter bewertet werden als Männer. Für die gleiche Einstufung mussten Frauen 2,6-mal mehr Veröffentlichungen in renommierten Fachpublikationen vorweisen als Männer. Oft handelt es sich dabei um unbewusste Ausschlussmechanismen. An ihren destruktiven Auswirkungen auf die Karrierewege von Frauen ändert dies allerdings nichts. Die rot-grüne Bundesregierung hat seit 1998 viel getan, um die Karrierechancen von Frauen in Wissenschaft und Forschung zu erhöhen. Erwähnen möchte ich beispielsweise das HWP-Programm „Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“, für das jährlich 30 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Damit werden Frauen gefördert, die sich wissenschaftlich qualifizieren und auf eine Professur vorbereiten. Es werden Projekte in der Frauen- und Genderforschung unterstützt. Schließlich werden Maßnahmen finanziert, um den Frauenanteil in naturwissenschaftlich-technischen Fächern zu erhöhen. Dennoch können wir mit dem Erreichten noch nicht zufrieden sein. Aktuell sind 13 Prozent der Professuren in Deutschland mit Frauen besetzt. Auch wenn dies eine deutliche Steigerung gegenüber dem Niveau von 1998 bedeutet - von dem, was davor war, ganz zu schweigen; damals betrug der Frauenanteil an den Professuren 9,5 Prozent -, geht uns die Erhöhung des Frauenanteils an den Hochschulen nicht schnell genug. In der industriellen Forschung sind Frauen mit nur knapp 10 Prozent eklatant in der Minderheit. In diesem Jahr wird erstmals ein Bericht zum Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz und damit auch zur Ausführungsvereinbarung Gleichstellung vorgelegt. Aus diesem Bericht müssen auch Konsequenzen folgen. Wir werden sehen, ob die gleichstellungspolitischen Maßnahmen ausgebaut werden müssen. Sie, meine Damen von der Opposition, ({0}) haben in Ihrem kürzlich eingebrachten Antrag zu zehn Jahren Novellierung des Gleichberechtigungsartikels im Grundgesetz, der bezeichnenderweise kaum von Männern unterstützt wurde - Gleichberechtigung scheint in der Union nur eine Sache der Frauen zu sein -, ({1}) die Unionsfraktion zur allgemeinen Erheiterung als Vorhut der Gleichberechtigung präsentiert. Ungeachtet dessen haben Sie in Ihren Änderungsanträgen zum BMBFHaushalt 2005 vorgeschlagen, bei den Strategien zur Durchsetzung von Chancengleichheit für Frauen in Bildung und Forschung um 1,5 Millionen Euro zu kürzen, und den Ansatz beim Titel „Weiterentwicklung von Hochschule und Wissenschaft sowie Realisierung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“ wollten Sie gar um 29 Millionen Euro zusammenstreichen. Erklären Sie uns bitte, wie das mit Ihrem Anspruch als frauenpolitische Avantgarde zusammengeht! ({2}) Mehr Frauen in Wissenschaft und Forschung sind nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit; mehr Frauen in Wissenschaft und Forschung bedeuten auch neue Forschungsfragen und neue Perspektiven. Auf die sind wir zur Lösung unserer Probleme dringend angewiesen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Conny Mayer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Conny Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003590, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Laut einer ganz aktuellen dpa-Meldung werden jede Woche mehrere Hundert Frauen und Mädchen im Kongo vergewaltigt. Die jüngsten sind gerade mal vier Jahre alt. Sie werden häufig Opfer von Massenvergewaltigungen. Bisher wurden nur wenige Fälle - weniger als ein Dutzend - juristisch aufgearbeitet. Die CDU/CSU-Fraktion hat im November des vergangenen Jahres einen Antrag mit dem Titel „Frauen in den Krisenregionen Subsahara-Afrikas stärken“ eingebracht. Wir hätten diesen Antrag gern hier diskutiert. Schade, dass das in dieser Debatte zum Internationalen Frauentag nicht möglich war! Die Koalition hat nämlich mit ihrer Mehrheit verhindert, dass wir diesen Antrag hier heute debattieren und dass wir damit auch den Blick auf Frauen richten, die in Armut leben und die in Kriegsregionen täglich ums Überleben kämpfen. ({0}) Der CDU/CSU-Fraktion ist es ein Anliegen, für und über Frauen und Mädchen zu sprechen, für die „Gleichstellung“ und „Gender Mainstreaming“ - das sind die Dinge, über die wir heute Morgen hier debattieren noch Fremdworte sind. Die zentrale Botschaft unseres Antrags, den wir hier heute leider nicht debattieren können - ich will trotzdem darauf hinweisen -, ist, dass wir noch stärker als bisher die Belange von Frauen auf unsere außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Agenda nehmen müssen. Kofi Annan hat letzte Woche in New York gesagt: Es gibt kein effizienteres Entwicklungsinstrument als Frauenförderung. ({1}) Die Konferenz, die derzeit in New York stattfindet, zehn Jahre nach der großen Frauenkonferenz in Peking, gibt unserem Antrag Recht. Gerade für Frauen in Krisenregionen gab es in den vergangenen zehn Jahren nur wenige Verbesserungen, in manchen Teilen der Erde wegen neuer Kriege sogar Verschlechterungen. Frauen sind von Kriegen und damit von Gewalt gleich mehrfach betroffen: als Kindersoldatinnen, die zum Dienst an der Waffe gezwungen werden, als Leidtragende, die unter schwierigsten Bedingungen für sich und ihre Familien sorgen müssen, oder eben als Opfer von sexueller Gewalt. Denken Sie an die Beispiele aus dem Ostkongo, die ich eingangs erwähnte! Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat schon im Jahr 2000 die Resolution 1325 beschlossen. Darin hat sich die Staatengemeinschaft verpflichtet, Frauen beim Aufbau nach einem Krieg, beim Friedenserhalt und bei Konfliktlösungen stärker zu beteiligen. Die Bundesregierung hat als nicht ständiges Mitglied im Sicherheitsrat zwei Jahre lang die Chance gehabt, Frau Müller, die Umsetzung der Resolution 1325 voranzutreiben. Diese Chance hat die Bundesregierung verpasst. ({2}) Die Bundesregierung hat bislang auch keinen nationalen Plan zur Umsetzung der Resolution 1325 erarbeitet. Wie schon in unserem Antrag fordere ich hiermit nachdrücklich dazu auf. Die Situation von Frauen in Krisenregionen ist das eine. Da wir von internationalen Frauenfragen reden, will ich auf eine weitere zentrale Herausforderung hinweisen: Gesundheitsfragen und HIV/Aids. In Deutschland kommt es glücklicherweise nur sehr selten vor, dass Mütter oder Säuglinge während oder nach der Geburt sterben. In anderen Teilen der Erde gehört dieses grausame Schicksal dagegen zum Alltag. Seit der Konferenz in Peking vor zehn Jahren hat sich in diesem Bereich nur sehr wenig verbessert. In Westafrika stirbt jede zwölfte Frau an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt. Ähnlich hoch sind im Moment die Zahlen in Afghanistan. Dr. Conny Mayer ({3}) Auch bei HIV/Aids ist die Situation dramatisch. Rund 38 Millionen Menschen weltweit sind mit dem Virus infiziert. Der Anteil der Frauen ist hierbei in den vergangenen Jahren auf über 50 Prozent angestiegen. Das war vor zehn Jahren noch anders. Das Risiko der Ansteckung ist für Frauen schon aus physiologischen Gründen viermal höher. Wirtschaftliche Abhängigkeit und fehlende Kontrolle über das sexuelle Verhalten des Partners tragen zusätzlich zu einer großen Infektionsgefahr bei. Neben der Herausforderung der Situation von Frauen in Krisengebieten sowie den Themen „Gesundheit“ und „HIV/Aids“ möchte ich auf eine weitere zentrale Herausforderung hinweisen. Ich bin dankbar, dass die Kollegin Sowa von den Grünen im nationalen Kontext schon darauf hingewiesen hat. Bildung ist ein zentraler Schlüssel für weltweite Entwicklung und insbesondere für die Durchsetzung von Frauenrechten. Seit der Konferenz in Peking gab es Fortschritte. Mehr Kinder, Mädchen wie Jungen, haben Zugang zu Grundbildung. Trotzdem sind noch immer zwei Drittel aller Analphabeten weiblich. Frau Schmidt, auch im Koalitionsantrag zu Peking + 10 wird betont, dass in Subsahara-Afrika und Südostasien die Bildungschancen für Frauen dramatisch schlecht sind. Schade ist, dass diese Erkenntnis, die in der Koalition offensichtlich durchaus vorhanden ist, im BMZ so wenig Beachtung findet. ({4}) Wir, die CDU/CSU-Fraktion, fordern die Bundesregierung deshalb auf, die Bildung und insbesondere das Thema „Bildung von Frauen und Mädchen“ auf der entwicklungspolitischen Agenda weiter oben anzusiedeln. ({5}) Ein letzter Punkt. Kofi Annan hat gerade erst in seiner Rede in New York auf eine neue Herausforderung hingewiesen, die es vor zehn Jahren in diesem Ausmaß - so sagt er jedenfalls - noch nicht gab: Frauen- und Kinderhandel. Auch Sie weisen in Ihrem Koalitionsantrag darauf hin, dass jährlich rund 2 Millionen Menschen, Frauen und Kinder, Mädchen wie Jungen, Opfer von Menschenhandel werden. Schade, dass die Koalition nicht mutig genug war, diesem abscheulichen Verbrechen mehr als vier Zeilen in einem siebenseitigen Papier zu widmen! ({6}) Ich möchte noch einmal auf den Ostkongo zurückkommen. Ich will meine Rede mit einem Zitat von einer Frau beenden, die von bewaffneten Kämpfern attackiert und vergewaltigt wurde. Ihr Mann weigert sich seitdem, mit ihr zusammenzuleben. Diese Frau sagte einer Mitarbeiterin von Amnesty International: Wir wollen Ihnen berichten, was passiert ist. Bitte erzählen Sie unsere Geschichten weiter, damit diesem Grauen endlich ein Ende gesetzt wird! Ich will deshalb an Sie alle, an uns alle appellieren: Lassen Sie uns Debatten wie die heutige auch dazu nutzen, auf die Situation von Frauen in den Ländern des Südens aufmerksam zu machen! Lassen Sie uns gemeinsam weiter für diese Frauen eintreten! Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Ich habe die Presseerklärung der fünf Bundesministerinnen zum Internationalen Frauentag gelesen. Was haben die Ministerinnen gemacht? Sie trafen sich mit Frauen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Medizin und diskutierten über die Karrieremöglichkeiten von Frauen. Das war sicherlich eine schöne Runde mit Lachshäppchen und Sekt. Ich habe den Eindruck, dass sich die Bundesministerinnen mit aller Macht auf Frauen konzentrieren, die Karriere machen wollen, die in die Chefetagen drängen, die endlich eine C-4-Professur erreichen wollen oder die eine Intendanz an einem schönen Theater anstreben. Das alles ist auch legitim und wichtig. Wir alle wissen - das ist in der heutigen Debatte mehrmals angesprochen worden -, wie niedrig zum Beispiel die Zahl der Professorinnen ist. Aber braucht man dafür wirklich die geballte Macht von fünf Bundesministerinnen? Ich weiß von Millionen Frauen, die keine Karriere machen können, die einfach nur einen Job haben wollen. Diese Frauen brauchen wirklich dringend politische Unterstützung. Sie sind mir bisher in der heutigen Debatte zu kurz gekommen. ({0}) Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben mit Unterstützung der CDU/CSU in dieser Legislaturperiode Gesetze verabschiedet, die Frauen in einem bisher ungekannten Maß diskriminieren. Ich meine die Hartz-Gesetze und die Gesundheitsreform. ({1}) Wir als PDS haben ein Rechtsgutachten zu Hartz IV erstellen lassen, das nachweist, dass Hartz IV gegen das Gleichstellungsgebot verstößt. Frauen werden durch die Anrechnung des Partnereinkommens in besondere Abhängigkeit gedrängt, die sie bisher nicht kannten. Über die Gleichstellungspolitik in der DDR kann man sicher viel Kritisches sagen. Doch es bleibt die Tatsache: Durch die finanzielle Unabhängigkeit der meisten Ostfrauen - über 90 Prozent hatten eine Arbeit - hatten sich diese Frauen eine größere Unabhängigkeit von den Männern gesichert. Das war eine entscheidende Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. ({2}) Deshalb trifft Hartz IV die Ostfrauen besonders hart. Ostfrauen haben oft Jahrzehnte gearbeitet und deshalb eine vergleichsweise hohe Arbeitslosenhilfe bekommen. Die Bundesregierung hat mit dem Arbeitslosengeld II, mit Hartz IV, die Frauen, die ein Jahr gearbeitet haben, mit den Frauen - und Männern natürlich -, die 30 Jahre gearbeitet haben, auf eine Stufe gestellt, herabgestuft. Gerechtigkeit sieht anders aus. ({3}) Meine Damen und Herren, ich war am Freitag vergangener Woche mit einer Gruppe von 50 Frauen aus der ganzen Republik, aus Ost und West, im Frauenministerium. Wir hatten vorher Bescheid gesagt, dass wir zum Thema „Hartz IV und Frauen“ diskutieren wollten. Zu Recht wollten die Frauen wissen, wie das Frauenministerium als Lobbyistin der Frauen bei der Hartz-IV-Gesetzgebung aufgetreten ist. Die Antworten waren mehr als dürftig. Die Frauen waren enttäuscht, dass sie in diesem Ministerium zu wenig Unterstützung gefunden haben. Aber auch Frauen, die eine Arbeit oder einen Job haben, brauchen dringend politische Unterstützung. Deshalb schlage ich Ihnen vor: Lassen Sie uns spätestens zum Frauentag 2006 gemeinsam in eine Lidl-Verkaufsstelle gehen. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Verkäuferinnen über die katastrophalen Arbeitsbedingungen sprechen. Dieses Gespräch wird sicher nicht ganz so nett wie das Gespräch mit den Karrierefrauen. ({4}) - Ich sprach von Gemeinsamkeit, meine liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Denn die Kassiererinnen müssen während des Gespräches 40 Produkte pro Minute durch den Kassenscanner schieben. Verdi hat das Schwarzbuch Lidl herausgebracht. Es liest sich wie ein Leitfaden zur Ausbildung in der Fremdenlegion. Überwachung, Drill, Hetze stehen auf der Tagesordnung. Frauen erzählen in diesem Buch, dass sie mindestens neun Stunden täglich gearbeitet haben, grundsätzlich ohne Pause. Wahrscheinlich haben diese Frauen nicht unbedingt Lust auf ein solches Gespräch, müssten sie doch die verloren gegangene Arbeitszeit nacharbeiten. Trotzdem bin ich dafür, dass wir diesen Versuch starten und gemeinsam unser Augenmerk auf die Frauen legen, die unsere Hilfe am dringlichsten brauchen. ({6}) Was die Kollegin Lenke eingangs ihrer Rede gesagt hat, kann ich nach meinem persönlichen Eindruck nur unterstützen. Gerade am Anfang dieser Debatte hat es hier eine Atmosphäre von Zwischenrufen und Gekeife gegeben, die dem Anliegen der Frauen, Gleichstellung gemeinsam durchzusetzen, sicher nicht gedient hat. Ich hoffe, dass wir uns in Zukunft gemeinsam eines Besseren besinnen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von Ihnen haben heute Morgen sicher schon ein, zwei Tassen Kaffee getrunken. Ich wette aber, dass die wenigsten von Ihnen wissen, wem wir diesen inzwischen ungetrübten Trinkgenuss zu verdanken haben. ({0}) Noch vor 100 Jahren hatte Kaffeetrinken nämlich einen bitteren Nachgeschmack. Auf dem Boden der Tasse befand sich eine Schicht bitteren schwarzbraunen Schlicks, bis die Leipzigerin Melitta Bentz auf die Idee kam, den Kaffee in einen Löschpapierfilter zu füllen. 1908 ließ sie sich diesen Filter patentieren. Seitdem ist die Kaffeefiltertüte aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. ({1}) Das ist nur ein klitzekleines Fragment aus der langen Geschichte von Erfindungen, die Frauen gemacht haben. Der Scheibenwischer zum Beispiel, der uns beim Autofahren freie Sicht beschert, ist die Erfindung einer Frau. Ventilationssysteme für Schiffe, Konstruktionen für Hängebrücken, wärmeisolierende Schwimmwesten und Spikesüberzieher für Autoreifen - all das haben Frauen erfunden und konstruiert. ({2}) Stellen Sie sich einmal vor, was uns fehlen würde, wenn wir das Potenzial von Frauen als Forscherinnen, Ingenieurinnen und Technikerinnen nicht intensiv nutzen würden. ({3}) Dieses Potenzial ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für unsere Wissensgesellschaft. Die Kompetenz von Frauen ist ein Pfund, mit dem wir im internationalen Wettbewerb wuchern können und sollten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheuer, CDU/CSU-Fraktion?

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern. ({0}) - Mal sehen, was er zu sagen hat.

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, wir sind uns ja einig, was die vielen Beteiligungen und guten Ideen von jungen Frauen in unserer Gesellschaft angeht. Ich glaube aber, dass es drängendere Fragen gibt. Was sagen Sie denn - ich darf hier die „Welt“ vom 8. März zitieren - zum steigenden Armutsrisiko für allein erziehende Frauen? Das ist Realität in Deutschland unter Rot-Grün. Was sagen Sie denn zur wirtschaftlichen Situation der Frauen in Deutschland unter einer rot-grünen Regierung? Was tun Sie dafür, diese Situation zu verbessern? Das würde mich interessieren, nicht die vielen Dinge, die irgendwann in grauer Vorzeit einmal erfunden wurden. Wir wissen, dass wir gute Frauen mit guten Ideen haben; sie müssen aber auch eine Garantie dafür haben, dass sie diese Ideen wirtschaftlich umsetzen können. ({0})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Scheuer, Sie werden es mir verzeihen, dass ich meinen Vortrag jetzt nicht nach Ihren Vorstellungen ausrichte. ({0}) Natürlich sind die Fragen, die Sie angesprochen haben, wichtig und natürlich beschäftigt sich die Regierung auch mit diesen Fragen. Selbstverständlich haben wir ein großes Interesse daran, Frauen auch in wirtschaftlich schwächeren, in konjunkturschwachen Zeiten massiv zu unterstützen. Nur, ich beziehe mich im Moment - Sie werden mir das verzeihen - auf das Thema Frauen in der Wissenschaft. Das ist mein Part und da mache ich jetzt auch weiter. Wenn wir eine Bestandsaufnahme machen und einen genaueren Blick auf die Beteiligung von Frauen in Wissenschaft und Forschung werfen, dann stellen wir ganz eindeutig eines fest: Frauen sind dort immer noch stark unterrepräsentiert, besonders in Führungspositionen. Andererseits gibt es aber seit Jahren eine positive Entwicklung, auf der wir aufbauen können. Bei den Studienanfängern und -absolventen haben Frauen mittlerweile mit Männern gleichgezogen. Der Frauenanteil bei Promotionen ist seit 1998 von 33 auf 36 Prozent gestiegen, bei den Professuren im selben Zeitraum von 9 auf 13 Prozent. Das ist eine beachtliche Steigerung, aber bei weitem nicht ausreichend. In den USA gibt es etwa doppelt so viele Professorinnen wie bei uns. Einen sehr großen Schritt nach vorn haben wir aber mit der Juniorprofessur gemacht. Da beträgt der Frauenanteil immerhin 30 Prozent. An den Hochschulen hat sich also schon einiges getan. In den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und in der industriellen Forschung ist die Situation allerdings noch ernüchternd. Frauen in Führungspositionen sind dort fast allein auf weiter Flur. Grundsätzlich gilt durchgängig für alle Bereiche des Arbeitsfelds Wissenschaft und Forschung: je höher die Qualifikation, desto geringer die Zahl der Frauen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung und auch die Länder auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Beteiligung von Frauen in Wissenschaft und Forschung weiter zu steigern. Dazu gehört zum Beispiel, dass spezielle Projekte zur Förderung der Chancengleichheit an Hochschulen und Forschungseinrichtungen weitergeführt werden. Ich finde es daher gut, dass Bund und Länder das HWP-Programm „Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“ bis 2006 fortführen werden. Sehr erfolgreiche Arbeit leistet auch das Kompetenzzentrum CEWS für Frauen in Wissenschaft und Forschung. Es vernetzt und vermittelt Wissenschaftlerinnen, fördert Pilotprojekte und begleitet gleichstellungspolitische Maßnahmen wissenschaftlich. Diese Arbeit sollte unbedingt fortgeführt werden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, 40 Prozent aller Akademikerinnen entscheiden sich gegen Kinder, weil sie Familie und Beruf nicht miteinander vereinbaren können. Das liegt im Wesentlichen an dem mangelnden Angebot an Kinderbetreuung. Wir leisten uns also den Luxus, dass ein großer Teil der gut ausgebildeten Frauen ihr Wissen und ihre Möglichkeit, Kinder zu fördern, nie selbst ans Kind bringen können. Das ist für die Wissensgesellschaft fatal. Für sie ist die Initiative der Bundesregierung wichtig, Kinderbetreuungsangebote konsequent auszubauen, auch bereits für die unter Dreijährigen. ({2}) Verzögerungen in der Ausbildung oder im beruflichen Werdegang durch Kinderbetreuung dürfen sich nicht nachteilig etwa bei Stellenbesetzungen oder bei Beförderungen auswirken. Die Familienfreundlichkeit einer Hochschule sollte bei den einschlägigen Rankings berücksichtigt werden. Auch die Wirtschaft hat erkannt, dass Familienfreundlichkeit ein wichtiger Standortfaktor ist. Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, hat kürzlich das „Jahrhundert der Frau“ ausgerufen; denn - so Braun - lange werde es sich die Wirtschaft nicht mehr leisten können, das riesige Potenzial an hoch qualifizierten Frauen nur unzureichend zu nutzen. ({3}) Recht hat er! Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Wissenschaft. Auch beim Wechsel zwischen Positionen in Wissenschaft und Wirtschaft dürfen Frauen nicht auf der Strecke bleiben. Ein Beispiel sind Ausgründungen aus Hochschulen. Hier spielen Frauen heute nur eine geringe Rolle. Das muss sich ändern. Das gilt nicht nur für Ausgründungen, sondern für Existenzgründungen insgesamt. Ich finde es daher gut, dass das BMWA und das BMBF den Aufbau einer bundesweiten Gründerinnenagentur unterstützen, die Förder- und Coachingangebote macht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Freiheit und Wohlstand bauen auf Wissen auf. Das gilt für die Gesellschaft insgesamt, aber auch für jeden einzelnen Menschen. Darum müssen Frauen und Männer gleichberechtigt Zugang zu Wissen bekommen. Aber das reicht noch nicht aus. Frauen und Männer müssen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, unsere Gesellschaft zu gestalten und weiterzuentwickeln. Darum müssen sie gleichermaßen in Führungspositionen vertreten sein. Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern, dafür zu sorgen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Grübel, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Für die CDU/CSU ist Gleichstellungspolitik ein Politikfeld, das Frauen und Männer gleichermaßen angeht. ({0}) Leider - das ist an der heutigen Rednerliste erkennbar gewesen ({1}) - Rednerinnenliste, genau - geht bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen Gleichstellungspolitik nur Frauen an. Die Männer in Ihren Parteien sind stumm geblieben. So viel zu Ihrem Einwand, Frau Sowa. ({2}) Eine gute, eine wirklich moderne Gleichstellungspolitik hat Frauen und Männer im Blick. Wir brauchen eine neue Partnerschaft zwischen den Geschlechtern. Darum fordern wir in unserem Antrag „Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen“ die Bundesregierung auf, in der Gleichstellungspolitik stärker als bislang auf einen Geschlechterkonsens hinzuwirken und darauf zu achten, dass Gleichstellungspolitik Frauen und Männer im Blick hat; … Als ich vor zwei Jahren an gleicher Stelle zur Gleichstellungspolitik geredet habe, hat anschließend die „taz“ geschrieben: Die erste Männerrechtsrede im Deutschen Bundestag. Es war nämlich so ungewöhnlich, dass nach 50 Jahren auch einmal ein Mann zu Gleichstellungsthemen geredet hat. Dabei geht es mir aber gar nicht einseitig um Männerrechte. Es geht mir darum, dass die Gleichstellungspolitik aus der feministischen Ecke herauskommt und die Männer auf einen gemeinsamen Weg mitnimmt. ({3}) Eine moderne Gleichstellungspolitik setzt dort an, wo ein Mensch aufgrund seines Geschlechts Unterstützung und Förderung braucht. Das können Frauen sein, aber auch Männer. Ich gehe durchaus davon aus, dass es in erster Linie Frauen sind, die gefördert werden müssen aber halt auch Männer. ({4}) Während die Bundesregierung jährlich einen Frauengesundheitsbericht vorlegt, gibt es kein entsprechendes Gegenstück für Männer. Während sich viele Bundestagsdrucksachen mit dem Thema Frauen in Männerberufen befassen, ist das Thema Männer in Frauenberufen nicht relevant. Es gibt Girls’ Days für Mädchen, aber keine Boys’ Days für Jungen. ({5}) - Dies betrifft ebenfalls das Thema Männer in Frauenberufen. Grundschullehrer, Erzieher, Krankenpfleger, Altenpfleger etc., das sind auch Berufe für Männer. ({6}) Der Girls’ Day möchte Mädchen und junge Frauen an Männerberufe heranführen. Aber wo ist bei Ihnen das Gegenstück dazu? Der überwiegende Teil der Schulabbrecher, Schulschwänzer und Frühkriminellen ist männlich und bräuchte dringend Förderung und Führung. Jungen weisen die größeren Defizite bei der Lesekompetenz auf als Mädchen. Nach wie vor sind spezielle Angebote für Männer im Scheidungsfall Mangelware. Während es landauf, landab Frauentage, Frauenwochen und Ähnliches gibt, sind Männertage so selten wie die blaue Mauritius. Es gibt jetzt eine Ausnahme: einen Männergesundheitstag unter dem Motto „MännerLeben“ in Esslingen. Die „Stuttgarter Zeitung“ schreibt dazu: „Einzigartig in Deutschland“. Es wird immer wieder gesagt, dass Schweden in der Gleichstellungspolitik weiter sei als Deutschland. Seitdem ich weiß, dass der Gleichstellungsbeauftragte Schwedens ein Mann ist, glaube ich das auch. ({7}) Nicht nur Gleichstellungspolitik, auch Familienpolitik ist mehr als Frauenpolitik. Das Thema Elternschaft, Kinder und Beruf ist ein Thema für Frauen und Männer. Auch hier ist eine neue Partnerschaft gefragt: bei der Aufgabenverteilung im Haushalt, bei der Betreuung der Kinder und bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({8}) Dass die Union in der Familienpolitik bei Frauen und Männern ansetzt, ist ein entscheidender Unterschied zu den Forderungen von Rot-Grün. ({9}) Lassen Sie mich hier einen kurzen Schlenker zu den Vaterschaftstests machen. Ich meine das Ansinnen der Justizministerin, Frau Zypries, dass Männer, die einen Vaterschaftstest machen lassen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bestraft werden sollen. Dieses Ansinnen macht doch deutlich, dass keine Abwägung zwischen den berechtigten Interessen der Mütter, der Kinder und der Väter stattgefunden hat. ({10}) Auch Männer haben Rechte. ({11}) Väter bzw. vermeintliche Väter haben ein legitimes Interesse, die Abstammungsverhältnisse zu klären. Daher ist der Einsatz des Strafrechts zur Regelung heimlicher Vaterschaftstests durch die Väter völlig abwegig. Auch hier wäre es gut, wenn die rot-grüne Politik aus dem Blickwinkel beider Geschlechter gemacht würde. Nichts anderes will Gender Mainstreaming. ({12}) Die selbst ernannte Frauenpartei, die Grünen, schützt im Moment nicht wirklich die Frauen. Frau ScheweGerigk hat das gerade wieder deutlich gezeigt. Dank der leichtfertigen Visapraxis von Rot-Grün ist der Frauenhandel zum risikoärmsten Geschäft der organisierten Kriminalität geworden. ({13}) Die Aussage Ihrer Kollegin aus Nordrhein-Westfalen, Bärbel Höhn, dass Zwangsprostituierte sich in einer viel schlimmeren Situation befänden, wenn sie illegal hier seien, als wenn sie ein gültiges Visum besäßen, ist eine Dreistigkeit und nur peinlich. ({14}) Alice Schwarzer nennt die Aussage im „Spiegel“ zu Recht „blanken Zynismus“. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass Menschenrechte und Frauenrechte dann zurückbleiben, wenn es darum geht, den Kollegen Joschka Fischer rauszuhauen. ({15}) Frauenhandel und Zwangsprostitution sind aufs Schärfste zu bekämpfen, und zwar von jeder Fraktion, unabhängig davon, ob man eigene Kollegen trifft. Auch Zwangsverheiratung und Ehrenmorde sind Themen, die Männer und Frauen angehen. Wir haben es vorhin gehört. Gerade bei türkischstämmigen jungen Männern müssen wir ansetzen. Nur bei den türkischen Mädchen anzusetzen greift zu kurz. ({16}) Ein Umfeld und ein Rechtsbewusstsein, die Zwangsverheiratung normal finden, müssen verändert werden. Wir haben hier eine gute Bundesratsinitiative aus BadenWürttemberg. Frau Staatssekretärin Beck, Sie sollten diese Initiative unterstützen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Grübel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk?

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Grübel, ist Ihnen bekannt, dass seit der erleichterten Visavergabe in der Ukraine die Anzahl der Frauen, die als Opfer von Zwangsprostitution bekannt geworden sind, zurückgegangen ist? ({0}) - Das passt Ihnen nicht; aber das Lagebild des Bundeskriminalamtes sollte doch vielleicht auch für Sie eine Tatsache sein. - Auch die Kriminalität hat nicht zugenommen. Das Herstellen einer Verbindung zwischen einer erleichterten Visavergabe und der Zunahme von Zwangsprostitution ist unzulässig. ({1})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich möchte Ihnen ganz deutlich sagen, dass ich es für geradezu peinlich halte, wie Sie das Problem der Zwangsprostitution relativieren und das Thema beiseite schieben wollen. ({0}) Kümmern Sie sich einmal um dieses Problem! ({1}) - Das ist die Antwort. ({2}) Junge Männer, für die es eine Frage der Ehre ist, ihre Schwestern zu züchtigen oder gar zu töten, können wir in Deutschland nicht dulden. ({3}) Für das partnerschaftliche Zusammenleben von Frauen und Männern in Deutschland gibt es ein Leitbild, das auch die bei uns lebenden Ausländer beachten müssen. Frauenpolitik allein wird dieses Problem nicht lösen. Der vorliegende Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen „Auf dem Weg in ein geschlechtergerechtes Deutschland - Gleichstellung geht alle an“ lässt zwar vermuten, dass es um Männer und Frauen geht. In den konkreten Ansätzen werden die Männer aber völlig ausgeblendet. Rechts blinken und links abbiegen - das führt nicht ans Ziel. Lassen Sie mich zum Schluss meine Aussagen in einem Satz zusammenfassen: Moderne Gleichstellungspolitik und moderne Familienpolitik - genau das ist die Politik der Union in diesem Bereich - setzt bei Frauen und Männern an. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Schmidt, SPDFraktion.

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte am Anfang meiner Rede feststellen: Männer sind verletzlich und Frauen sind der Schlüssel zur Entwicklung. ({0}) Frauen sind der Schlüssel zur Bekämpfung der Armut. Es kann keine Demokratie geben ohne die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen. Vor fast genau zehn Jahren fand die Vierte UN-Weltfrauenkonferenz in Peking statt. Die Teilnehmerinnen haben die volle Gleichberechtigung der Frauen gefordert - weltweit. Sie haben ihre Beteiligung in Entscheidungsprozessen gefordert und sie haben jegliche Gewalt gegen Frauen verurteilt. Was hat sich seitdem in den Entwicklungsländern verändert? Die Bilanz ist zwiespältig. Denn in vielen Regionen der Erde leben die Frauen noch lange nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Weltweit leben 1,3 Milliarden Menschen in extremer Armut. Wie wir wissen, sind besonders Frauen davon betroffen. Mit dem Aktionsprogramm 2015 haben wir als eine der ersten Regierungen eine konkrete Strategie zur Armutsbekämpfung verabschiedet. ({1}) Viele Frauen in den Entwicklungsländern gehören zu den Verliererinnen der Globalisierung. Das ist bekannt. Führungspositionen in Wirtschaft und Politik sind in den Ländern des Südens nicht nur überwiegend, sondern fast ausschließlich in Männerhand. Mittlerweile finden wir fast überall Frauen in Regierungen und Parlamenten. Das ist ein Fortschritt. Die 30-Prozent-Marke aber haben, wie von UN-Gremien gefordert, weltweit nur wenige Länder erreicht. Allerdings brauche ich gar nicht so weit zu schauen; denn ich muss mich nur an normalen Tagen in diesem Hause umsehen, um festzustellen, dass die Opposition in dieser Hinsicht ein Defizit hat. ({2}) Die Zahl der Frauen und Männer, die lesen und schreiben gelernt haben, hat weltweit zugenommen. Dennoch haben Mädchen noch immer einen schlechteren Zugang zu elementarer Bildung als Jungen. Auch Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor weltweit verbreitet. In Wirtschaftskrisen und bei gesellschaftlichen Umbrüchen sind Frauen die Leidtragenden von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen werden nicht nur in Kriegen zu Opfern von Vergewaltigungen und zu Opfern der so genannten Ehrverbrechen, sondern auch in vielen von uns geliebten Urlaubsländern, bis hinein in unseren Alltag. Mädchen werden in einer Vielzahl von afrikanischen Ländern, aber ebenso in einigen arabischen und asiatischen Ländern noch immer durch Beschneidung gequält und lebenslang verstümmelt. Die Zahl der Vergewaltigungen und anderer Misshandlungen von Frauen nimmt weltweit zu. Es gibt dennoch Fortschritte; denn es gibt einen Aufschrei - weltweit. So ist das Problembewusstsein hinsichtlich der Verletzung der Menschenrechte von Frauen stärker geworden. 179 der 191 UN-Mitgliedstaaten haben mittlerweile die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert. Das ist ein Fortschritt, auch wenn diese Konvention ein Vierteljahrhundert alt ist. Durch diese Konvention nehmen Frauen in der ganzen Welt ihre Rechte wahr. Sie haben mit der Konvention ein Instrument, ihre Rechte durchzusetzen. Nicht unterzeichnet haben übrigens Iran, Oman, Sudan und - man staune - die Vereinigten Staaten. Es gibt weitere Fortschritte. So wird das mutige Engagement von Frauenrechtlerinnen und Aktivistinnen in den Entwicklungsländern gewürdigt. Ihnen wird der Rücken gestärkt, ihnen, die sich für Frauen- und Menschenrechte stark gemacht haben. Ich nenne die Iranerin Shirin Ebadi, ({3}) ich nenne die Kenianerin Wangari Maathai ({4}) und ich nenne die Usbekin Tamara Chikunova, ({5}) der im Herbst für ihren mutigen Einsatz gegen Todesstrafe und Folter der Nürnberger Menschenrechtspreis verliehen wird. ({6}) Diese starken Frauen machen Mut. Sie sind nicht die Einzigen. Neben ihnen machen Politikerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen und viele andere auf die Dagmar Schmidt ({7}) Ungerechtigkeiten in ihren Ländern aufmerksam. Dafür nehmen sie einiges in Kauf. Sie werden angezeigt, verfolgt und bedroht. Viele machen trotzdem weiter. Es gibt Fortschritte und es gibt sie in vielen Ländern. Das Selbstbewusstsein von Frauen im Süden wächst. Sie dürfen auf das Erreichte stolz sein. Ich nenne das Beispiel Marokko. Dieses Land hat einen großen Sprung nach vorne gemacht, vor allem wegen der Reform des Familienrechtes im Jahr 2003. Frauen und Männern werden die gleichen Rechte eingeräumt, wenn auch zunächst per Dekret des Königs. Dennoch ist diese Reform nicht von oben aufgestülpt. Sie ist im Parlament behandelt worden und ist zu einem umfassenden Gesellschaftsprojekt geworden. Jahrzehntelang hatten Frauenorganisationen dafür gekämpft. Jetzt aber beginnt die Umsetzung. „Wir haben wunderbare Gesetze; aber es mangelt an der Umsetzung“, so haben wir das von Frauenrechtlerinnen aller Couleur in Marokko gehört. Dies ist eine Aufgabe, die Einfühlungsvermögen und Geduld erfordert; denn zwei Drittel der Marokkanerinnen sind Analphabetinnen. Erst 35 von 400 Richtern sind im neuen Recht ausgebildet. Das zeigt: Hier wie überall auf der Welt müssen auch die Köpfe erobert werden. In der Vorstellungswelt der Menschen muss der Grundsatz der Gleichheit zwischen Frauen und Männern Einzug halten. ({8}) Unsere Aufgabe muss es sein, engagierte Frauen vor Ort, Frauen in Institutionen und Frauen in Projekten zu unterstützen. Dabei darf das Effizienzargument nicht im Vordergrund stehen. Im Sinne globaler Gerechtigkeit ist es unsere Pflicht, Frauen und Männer in ihren Anstrengungen zu unterstützen. In den vergangenen Jahren haben Frauen einiges erreicht. Wir haben die reine Frauenförderung als Querschnittsaufgabe und -strategie zur Geschlechtergerechtigkeit weiterentwickelt. ({9}) Denn eine reine Frauenförderung stößt an ihre Grenzen, wenn sich Strukturen nicht verändern. ({10}) Die Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen muss in allen gesellschaftlichen Bereichen angegangen werden. Frauen und Männer müssen dabei an einem Strang ziehen. Dennoch möchte ich warnen: Frauen dürfen sich nicht zurücklehnen. Auch die Frauen in den Ländern des Nordens müssen wach bleiben. ({11}) Manche meinen ja, sie hätten alles erreicht. Sie meinen, Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte seien abgefrühstückt. Sie irren. Zehn Jahre nach der Konferenz in Peking muss das Erreichte gegen den neokonservativen Rückwärtsgang verteidigt werden. Brauchen wir dafür, nachdem die Ausrufung des Internationalen Jahres der Frau 30 Jahre zurückliegt, wieder ein Internationales Jahr der Frau? Die Beschlüsse von Peking dürfen nicht aufs Abstellgleis. ({12}) In der Entwicklungszusammenarbeit stehen uns verschiedene Instrumente zur Verfügung. Unsere Durchführungsorganisationen verknüpfen die Projekte vor Ort mit den Interessen der Frau - sei es beim Bau einer Trinkwasseranlage, sei es bei der Elektrifizierung einer Gemeinde. Dies ist also eine Querschnittsaufgabe. Der Zugang zu Land, Kapital und Bildung für Frauen steht im Fokus unserer Politik. Gerade unsere Stiftungen leisten im Dialog mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen einen wertvollen Beitrag dazu. ({13}) Zugang zu Bildung für Mädchen und berufliche Qualifizierung sowie Zugang zu Gesundheit, sauberem Trinkwasser und moderner Energie sind die Dreh- und Angelpunkte, an denen wir unsere Entwicklungszusammenarbeit mit den Partnerländern orientieren. Dazu gehören auch das Recht auf Besitz und der Zugang zu Krediten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, gleiche Rechte für Frauen und Männer sowie gleiche Entwicklungschancen sind Menschenrechte. Nur so können sich Gesellschaften demokratisieren. Nur so kann ein friedliches Zusammenleben entstehen. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen ist der Schlüssel zu Demokratie und Entwicklung. Schönen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Grübel, Sie haben gerade behauptet, die Justizministerin habe ein Verbot von Vaterschaftstests ausgesprochen, und gesagt, sie wolle ein Zuwiderhandeln mit einer Strafe von bis zu einem Jahr belegen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das falsch ist; denn hier geht es um heimliche Vaterschaftstests. Sie sind doch ebenso wie wir der Meinung, dass heimliche Vaterschaftstests verboten werden müssen, dass nicht heimlich Genanalysen erstellt werden dürfen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir zuließen, dass sich Versicherungen heimlich Gentests besorgen, um zu sehen, ob die Personen, die sie versichern wollen, möglicherweise gesundheitlich belastet sind, oder dass Arbeitgeber prüfen können, ob sie auch die richtigen Arbeitnehmer auswählen? ({0}) Sind Sie nicht mit uns der Meinung, dass heimliche Genanalysen verboten sein müssen? Sind Sie nicht mit uns der Meinung, dass es vielmehr notwendig ist, das Erheben einer Anfechtungsklage zu erleichtern? Es ist ja richtig, dass manche Väter gerne Gewissheit haben möchten. Aber hierfür gibt es Mittel und Wege; wir werden morgen im Rahmen einer Debatte darüber sprechen. Es gibt einen FDP-Antrag, die Verfahren der Vaterschaftstests zu vereinfachen. Sind Sie nicht mit uns der Ansicht, dass es verboten sein muss, heimliche Tests machen zu lassen? ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Grübel, Sie haben die Gelegenheit zur Reaktion.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich vermute, dass Sie sozusagen eine Mehrheit in diesem Haus herbeireden möchten, da die CDU/CSU hier für die Diskussion über Wirtschaftsthemen so stark vertreten ist ({0}) und Rot-Grün, auch auf der Regierungsbank, so schwach ist. Sie wollen also offensichtlich noch etwas Zeit gewinnen. Aber zur Sache. Erstens. Das Gendiagnostikgesetz ist der falsche Ort, um Vaterschaftstests zu regeln; denn hier geht es nicht um Gentests und DNA-Analysen. Deswegen liegen Sie hier schon einmal völlig falsch. Zweitens. Die Vaterschaftstests in einen Zusammenhang mit dem Strafrecht zu bringen und darüber nachzudenken, für heimliche Vaterschaftstests eine Strafe von einem Jahr auszusprechen, halte ich für völlig daneben. Über das andere können wir in der Sache trefflich streiten. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5029, 15/5030, 15/5031 und 15/2049 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5029 soll zusätzlich an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/5052 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen - Zehn Jahre Novellierung des Artikels 3 Abs. 2 des Grundgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4146 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? ({0}) Meine beiden Beisitzer sind sich nicht einig. ({1}) Sie wissen, was die Geschäftsordnung in einem solchen Fall vorsieht. Ich wiederhole die Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit abgelehnt. ({2}) Wir kommen zu den Zusatzpunkten 2 und 3. Inter- fraktionell wird Überweisungen der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5017 und 15/5032 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und b sowie Zusatzpunkt 4 auf: 3 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ronald Pofalla, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Pakt für Deutschland - Drucksachen 15/4831, 15/4986 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thea Dückert b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wider die Vertrauenskrise - Für eine konsistente und konstante Wirtschaftspolitik - Drucksachen 15/1589, 15/4985 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen - Drucksache 15/5019 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5}) Präsident Wolfgang Thierse Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({6})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle kennen die Lage in Deutschland. Ich glaube, niemand in diesem Hause hat einen Zweifel daran, dass sie extrem ernst ist. Die Arbeitslosigkeit hat mit 5,2 Millionen eine Rekordzahl erreicht. ({0}) Das ist der höchste Stand seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die Prognosen sagen bestenfalls ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent voraus und der Stabilitätspakt droht zum vierten Mal gebrochen zu werden. Die Dinge so zu benennen bedeutet nicht, Deutschland schlechtzureden; die Dinge so zu benennen heißt vielmehr, der bedrückenden Realität nüchtern in die Augen zu sehen. ({1}) Sie ist bedrückend, weil dahinter Menschen stehen, nämlich junge Menschen mit großen Hoffnungen, die enttäuscht werden, Ältere ohne Perspektive und Familien. All dies sind Schicksale. Deshalb haben wir deutlich gemacht: Eine Haltung des „Weiter so“, die Fortsetzung des üblichen Tagesgeschäftes verbieten sich angesichts dieser Situation. ({2}) Aus diesem Grund haben wir einen Pakt für Deutschland vorgeschlagen, der zehn Punkte als Sofortmaßnahmen umfasst. Im Übrigen haben wir in dieser Woche auch ein Programm für Innovation vorgelegt, das leider von Ihnen abgelehnt und nicht auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Aber das ist Ihr Stil. Sie haben alle Vorschläge abgelehnt, und zwar in der Ihnen eigenen Sprache, Herr Müntefering. Das werden Sie sicherlich auch nachher wieder tun. Aber ich sage Ihnen: Unsere Forderungen bleiben auf dem Tisch. Wir wissen, dass wir, um die Probleme Deutschlands zu lösen, dicke Bretter bohren müssen. Aber wir werden diese dicken Bretter bohren und sagen, was zu tun ist. ({3}) Es kennzeichnet den Zustand der Bundesregierung - das erkennt man auch, wenn man sich die Besetzung der Regierungsbank ansieht -, dass wir als Opposition die Initiative ergreifen müssen, ({4}) damit die Bundesregierung endlich einmal überlegt, ob sie handeln soll oder nicht. ({5}) Deshalb leisten wir mit unserem Pakt für Deutschland einen Beitrag dazu, Deutschland aus dem „Weiter so“, dem Sich-im-Kreis-Drehen und der Starre, in die es immer wieder verfällt, zu lösen. Wir wissen: Stückwerk reicht nicht. Wir brauchen so etwas wie eine nationale Kraftanstrengung, um diese Situation zu bewältigen. Meine Damen und Herren, Politik darf sich nicht von Ereignissen treiben lassen, vielmehr muss Politik führen und die Initiative ergreifen. Dafür sind wir da. ({6}) Für solch eine nationale Kraftanstrengung müssen zuerst einmal folgende Fragen gestellt werden: Was leitet uns? Was bewegt uns? Es ist vollkommen klar, dass wir uns in einer globalisierten Welt einem stärkeren Wettbewerb stellen müssen. Wir müssen uns - stellvertretend für die Menschen in Deutschland - fragen: Womit wollen wir in Zukunft unser Geld verdienen? Auf welchen Gebieten können wir besser oder schneller als andere sein? Wo liegen unsere Qualitäten? Unsere Stärken müssen wir weiterentwickeln. In den Bereichen, in denen wir Schwächen haben, müssen wir nachholen und uns sputen, um wieder Weltspitze zu werden. Das ist der Anspruch, der uns leitet. ({7}) Meine Damen und Herren, auf diese Fragen haben wir ganz konkrete Antworten. Ich möchte heute ganz deutlich sagen: ({8}) Als Erstes wollen wir, dass Bürokratie abgebaut wird. ({9}) Angesichts einer massiven Staatsverschuldung ist es das Allerbeste, erst einmal solche Maßnahmen zu ergreifen, die nichts kosten, uns befreien und Initiative ermöglichen. Deshalb sagen wir: Wir brauchen die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Ein ganz einfaches Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Wir wollten, dass seine Geltungsdauer für die neuen Bundesländer, bis der Solidarpakt im Jahre 2019 ausläuft, auf einmal verlängert wird, damit Planungssicherheit besteht und wir uns nicht Jahr für Jahr mit dieser elenden Bürokratie herumschlagen müssen. ({10}) Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, vor allen Dingen wollen wir verhindern, dass in der Situation, in der sich Deutschland gegenwärtig befindet, zusätzlich neue Bürokratie entsteht. Deshalb sagen wir: Die Diskussion, die wir im Augenblick über den Entwurf des Antidiskriminierungsgesetzes führen, ist abenteuerlich. ({11}) Sie sollten damit aufhören, sich in Ihren eigenen Reihen gegenseitig die wildesten Schuldzuweisungen zu machen. Langsam kommt die Wahrheit doch auf den Tisch. Was hat denn Frau Künast über Herrn Clement gesagt? Sie hat gesagt: Das Wirtschaftsministerium hat diesen Gesetzentwurf erarbeitet. Man fragt sich natürlich: Warum sagt Herr Clement jetzt etwas anderes? ({12}) Das weiß ich auch nicht, sagt sie. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auch ich weiß es nicht; denn der Herr Wirtschaftsminister, der uns heute leider nicht die Ehre geben kann, gehört zu denjenigen, die landauf, landab so tun, als wollten sie die Bürokratie abbauen. ({13}) Wenn es aber hart auf hart kommt, stellt sich heraus, dass wesentliche Teile dieses Arbeitsplätze vernichtenden Gesetzentwurfes in seinem eigenen Ministerium erarbeitet wurden. Meine Damen und Herren, das ist Doppelzüngigkeit. ({14}) Deshalb erwarten wir vom Bundeskanzler nicht nur, dass er bei Kabinettsitzungen seine Minister rügt, sondern auch, dass er, wenn er in der nächsten Woche seine Regierungserklärung abgibt, ankündigt, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und ihn bestenfalls durch eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie zu ersetzen. Das wäre ein echter Beitrag zu mehr Wachstum in Deutschland. ({15}) Neben dem Abbau von Bürokratie wollen wir einen absoluten Schwerpunkt bei Bildung und Innovation setzen. Schwerpunkt bei Bildung und Innovation heißt, auf Wettbewerb zu setzen. Wir sind dafür, dass wir die Besten fördern. Wir sind dafür, dass die besten Fakultäten an deutschen Universitäten gefördert werden, begutachtet von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Unsere Anträge liegen auf dem Tisch. Was wir nicht wollen, ist eine Pauschalförderung ganzer Universitäten, weil sie nämlich genau nicht zu Elite, sondern wieder zu Zentralismus führt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir machen ein konkretes Angebot. Stimmen Sie dem Antrag von Bayern und Baden-Württemberg im Bundesrat zu! Dann haben Sie übermorgen eine Exzellenzförderung, wie sie im Buche steht und wie Deutschland sie braucht. ({16}) Wir wollen ein Gentechnikgesetz, das es ermöglicht, dass Deutschland in diesem Forschungsbereich Spitze wird. Dazu gab es gestern hier eine Aktuelle Stunde. Wir sind von diesem Ziel meilenweit entfernt. Bulmahn keilt sich mit Künast und auf der Strecke bleibt die Forschung. Wir bieten an: Ändern Sie das Gentechnikgesetz! Auch Herr Clement erklärt landauf, landab, das müsse sein, ({17}) ebenso Herr Schmoldt, der Vorsitzende der IG BCE. Lassen Sie doch der Vernunft wenigstens eine Schneise! Lassen Sie die Regierung nächste Woche sagen: Wir ändern das Gesetz. Dann wären wir ein ganzes Stück weiter. ({18}) Meine Damen und Herren, wir könnten Innovation auch dadurch fördern, dass wir der forschenden pharmazeutischen Industrie für die patentgeschützten Medikamente in Deutschland wieder Planungssicherheit geben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt und das gilt nicht nur für die deutschen Unternehmen, sondern es gilt vor allen Dingen auch für die amerikanischen Investoren, die hier Planungssicherheit brauchen. Zurzeit gehen sie nach Frankreich, England und sonst wohin, aber nicht nach Deutschland. Herr Müntefering, wir sind gewählt für ein einziges Ziel. Wir können uns zwar freuen, wenn es anderen Ländern gut geht, aber gewählt sind wir, um dafür zu sorgen, dass es den Menschen in Deutschland gut geht. Das ist unser Auftrag. ({19}) Wir sind der Meinung, dass wir Flexibilität im Arbeitsrecht über das bisher Erreichte brauchen. Kleine Schritte sind gegangen worden, ({20}) aber wir glauben, dass für mittelständische und kleine Unternehmen zum Beispiel betriebliche Bündnisse für Arbeit, ({21}) also die Möglichkeit, während der Laufzeit eines Tarifvertrages von dem im Rahmen des Tarifvertrages vereinbarten Lohn und von der vereinbarten Arbeitszeit abzuweichen, ein notwendiges Mittel sind, um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu erhalten. Wir wissen von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, dass sie bereit sind, für ihren Arbeitsplatz Opfer und Einschnitte in Kauf zu nehmen. ({22}) Lassen Sie die Menschen selbst entscheiden, was für sie gut ist, meine Damen und Herren! Das ist unser Ansatz. ({23}) Wir wollen, nachdem wir wie Sie der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zugestimmt haben, dass jetzt Anreize geschaffen werden, damit Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgenommen wird. ({24}) Die Bundesagentur hat leider bis jetzt überhaupt keine Kraft, sich um die Vermittlung von Arbeitslosen zu kümmern. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist das! Jörg Tauss [SPD]: Sie wirken auch nicht kraftvoll! Sie wirken schwächelnd! Ich gehe davon aus, dass der Bundeskanzler uns nächste Woche sagen wird, wie genau dieser Punkt verbessert werden soll; denn Fordern und Fördern gehören zusammen. Ohne Verbesserungen in diesem Bereich wird es zu keiner Akzeptanz für diese Reform kommen. ({25}) Wir wollen, dass die Zuverdienstmöglichkeiten gerade im unteren Einkommensbereich noch einmal überprüft werden, und wir werden dafür auch sehr konkrete Vorschläge vorlegen. ({26}) - Sie sollten nicht schreien. Hören Sie doch einmal zu. ({27}) Zurzeit fördern Sie die 1-Euro-Jobs über die Maßen. Mit den 1-Euro-Jobs sind die Zuverdienstmöglichkeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt exorbitant besser als auf dem ersten Arbeitsmarkt. ({28}) Es ist doch ein Gebot der Vernunft - ich bitte Sie -, dass man das erkennt, dass man daraus die Schlussfolgerung zieht und nicht monatelang die Menschen in die Falle laufen lässt. ({29}) Das ist unser Ansatz und deshalb machen wir diese Vorschläge. ({30}) Ganz konkret: Wir wollen, dass die Lohnzusatzkosten sinken. Meine Damen und Herren, Sie haben im Zusammenhang mit den Reformen Hartz I, II und III eine irrsinnige Zahl von Versprechungen gemacht. Alle Versprechungen sind in sich zusammengebrochen: am meisten die bei den Personal-Service-Agenturen, auch die bei den Ich-AGs. „Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren um 2 Millionen auf 2 Millionen“, ({31}) das war die Aussage von Herrn Hartz im August des Jahres 2002. ({32}) Wenn Sie Herrn Hartz nicht mehr glauben, wenn das für Sie nicht mehr wichtig ist, dann müssen Sie uns das sagen. Aber Sie haben beim deutschen Volk damals genau diese Erwartung geweckt. ({33}) Wir sagen: Lassen Sie diese teuren Instrumente jetzt beiseite und senken Sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung! Denn wir wissen: 1 Prozentpunkt weniger Lohnzusatzkosten macht 100 000 neue Jobs. Lassen Sie uns diesen Weg gehen! Ich hoffe darauf, dass die Regierung das aufnimmt. ({34}) Meine Damen und Herren, wir wollen Veränderungen im Steuersystem. Nächste Woche - wir können es parallel zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers machen - wird unser Steuerkonzept 21 beraten. ({35}) Darin geht es um eine Vereinfachung des Steuersystems, ({36}) etwas, worauf die Menschen wirklich hoffen. ({37}) Wir sind darüber hinaus angesichts der internationalen Wettbewerbssituation bereit, gerade für unsere mittelständischen Unternehmen mit einer Unternehmensteuerreform etwas zu tun. ({38}) Ich glaube, wir sollten uns hier wirklich schnell an die Arbeit machen und nicht wieder monatelang Sachverständige befragen. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. ({39}) Lassen Sie uns das in Angriff nehmen, dann finden wir eine Lösung! Es setzt natürlich voraus, dass Sie einsehen, dass die Unternehmensteuerreform etwas Wichtiges ist für die mittelständischen Unternehmen, gerade im Wettbewerb mit Unternehmen in Österreich und in anderen Ländern. Sie können noch so viel schreien - der Mittelstand braucht das. Und ich gehe davon aus, dass wir hier etwas machen werden. ({40}) Ich will noch einen Punkt ansprechen, der Ihnen zwar wehtut, der aber für den deutschen Mittelstand wichtig ist: die Erbschaftsteuer. ({41}) Wir müssen überlegen, wie wir die Gewinne, die im Unternehmen bleiben, ein Stück mehr von der Erbschaftsteuer befreien. Dann können Investitionen in Deutschland gehalten werden und Unternehmen werden nicht gezwungen, über die Grenze zu gehen. Das ist das, was wir brauchen. ({42}) Wir wollen eine Föderalismusreform, ({43}) weil wir wissen, dass unsere Entscheidungen schneller gefällt werden müssen. - Ja, so ist das. - Das setzt voraus, dass Sie nicht noch den fünften, sechsten, siebenten, achten Prozess beim Bundesverfassungsgericht verlieren wie bei der Juniorprofessur und bei den Studiengebühren, ({44}) sondern dass Sie einsehen, dass es eine Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern gibt und dass wir in der Bundesrepublik Deutschland Wettbewerb brauchen. Wenn wir die Blockade der Bundesregierung ({45}) und der rot-grünen Fraktion bei der Bildungspolitik aufheben, ({46}) bekommen wir eine wunderbare Föderalismusreform. Wir sind dazu bereit, das endlich zu Ende zu bringen. ({47}) Wir wollen also nicht mehr und nicht weniger als durchgreifende Strukturreformen auf allen Gebieten. Was wir mit Sicherheit nicht wollen, sind kurzfristige, durch Schulden finanzierte Konjunkturprogramme, die wieder nichts als Strohfeuer sind und die die Menschen enttäuschen. ({48}) Deshalb werden wir genau das ablehnen. Auch das soll klar sein: Durchgreifende Strukturreformen, das ist es, was wir brauchen. ({49}) Ich glaube, dass es an der Zeit ist, zu überlegen, was wir im Sinne einer nationalen Kraftanstrengung hinbekommen. Wir werden offen in die Gespräche gehen. ({50}) Sie wissen, dass wir immer dann, wenn die Vorteile die Nachteile überwogen haben, den Vorschlägen zugestimmt haben, um Deutschland voranzubringen. ({51}) Ich sage aber auch: Wir brauchen keine Kaffeestunden, die die Enttäuschung der Menschen zum Schluss immer weiter erhöhen und ausdehnen; denn es gibt schon so viel Enttäuschung in diesem Land - und das mit Recht. ({52}) Meine Damen und Herren, wenn ein Bundeskanzler 1998 sagt: „Wenn es mir nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit wesentlich zu senken, dann bin ich es nicht wert, dass ich wieder gewählt werde“, ({53}) dann hat der Mann vor Beginn seiner Amtszeit noch das richtige Gefühl gehabt. ({54}) Wenn dieser Bundeskanzler den Menschen im Dezember - wiederum über eine große deutsche Illustrierte aber erklärt, er habe auf dem Gebiet der Arbeitsmarktreform alles getan, was möglich war, mehr sei nicht drin, dann darf man sich doch nicht darüber wundern, dass sich die Menschen von der Politik abwenden. Deshalb haben wir immer wieder gesagt: Die Agenda 2010 ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, diese Agenda 2010 reicht aber nicht. ({55}) Ich bin ja froh, dass der Bundeskanzler nach Jahren jetzt offensichtlich langsam einsieht, dass wir über diese Agenda 2010 hinausgehen müssen und dass wir weitere Schritte brauchen. Das dürfen aber nicht irgendwelche Schritte sein, sondern wir müssen uns überlegen, was wir bereits geschafft haben und was noch vor uns steht. ({56}) Meine Damen und Herren, der Managerkreis der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung hat dieser Tage wieder gesagt: Die Agenda 2010 ist so, als ob man mit Esslöffeln gegen Wanderdünen angeht. Das hat man getan. Okay, es ist immer noch besser, mit einem Esslöffel gegen eine Wanderdüne anzugehen, als gar nichts und das Falsche zu tun, ich sage aber: Wir brauchen anstatt eines Klein-Klein einen richtigen Quantensprung, eine echte Kraftanstrengung. Dazu sind wir bereit. ({57}) Eine solche Kraftanstrengung muss einem Maßstab folgen und einen roten Faden haben. Das heißt, es muss in Deutschland schneller gehen und wir müssen flexibler werden. Damit wir wieder gerechter zu den Menschen sind, müssen wir mit unseren Entscheidungen direkter an die Menschen heran. Das heißt, Sie dürfen nicht jeden, der in diesem Land seine Freiheiten nutzen will, unter einen öffentlichen Rechtfertigungszwang setzen. ({58}) Wir müssen endlich ein Klima der Freiheit schaffen und den Menschen in diesem Lande zeigen, dass wir ihnen etwas zutrauen. Das muss uns gelingen. ({59}) Wir leben ja nun im Einsteinjahr. Am Kanzleramt prangt derzeit ein kluger Satz von Albert Einstein, der da lautet: ({60}) Der Staat ist für die Menschen da und nicht die Menschen für den Staat. ({61}) Wenn Sie das ein Stück weit berücksichtigen würden und wenn wir mit dem Geist dieses Satzes von Albert Einstein in diesem Jahr an die Lösung der Probleme gehen, dann, das sage ich Ihnen voraus, werden wir ein gutes Stück weiterkommen. Unser guter Wille ist da. ({62}) Das, was unserem Land hilft und Vorteile bringt, werden wir im Sinne und für die Menschen dieses Landes mitmachen. Sie haben es verdient. Herzlichen Dank. ({63})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU hat den Antrag auf Drucksache 15/4831 auf eigenen Wunsch hier auf die Tagesordnung gesetzt. Diesem wollen wir uns jetzt zuwenden. Frau Merkel hat verständlicherweise relativ wenig dazu gesagt; denn was darin steht, ist enttäuschend. ({0}) Dies ist ein Antrag aus der Abteilung Taktik. Was die Ansprüche an sich selbst angeht, ist die Opposition sehr bescheiden geworden. ({1}) Bei dem, was Sie vorgelegt haben, ist nichts von dem großen Konzept zu erkennen, das kommen sollte. Frau Merkel hat zu Beginn ihrer Zeit als Vorsitzende die „neue soziale Marktwirtschaft“, die kommen sollte, beschrieben. Das hat sich im Kleinkarierten und Vordergründigen verloren. Das einzige Fettauge auf der dünnen Suppe des Antrags ist der Titel - er ist wirklich gut -: Pakt für Deutschland. Das können wir gerne miteinander machen. Aber der Inhalt des Antrags wird dem Titel nicht gerecht. ({2}) Ob das mit dem Pakt für Deutschland ehrlich gemeint ist, ist eine andere Frage. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich kann es Ihnen nicht ersparen, Sie auf zwei Punkte anzusprechen, die sich aus den Erfahrungen der letzten Wochen ergeben haben. Der erste Punkt war und ist der Vorwurf, die SPD sei in hohem Maße für die große Zahl der Nazis mitverantwortlich, die es in einigen Teilen Deutschlands wieder gibt. ({3}) - Bleiben Sie ruhig und lassen Sie uns darüber vernünftig sprechen. Diesen Punkt müssen wir miteinander klären. ({4}) - Über das, was Herr Söder und Herr Stoiber dazu gesagt haben, müssen wir im Parlament sprechen. Wir können schließlich nicht nur über Nebensächlichkeiten diskutieren, sondern müssen auch einmal an Kernthemen heran. ({5}) Die Behauptung ist: Die hohe Zahl der Arbeitslosen sei, verschuldet durch die SPD, Grund für die hohe Zahl der Nazis bei uns in einigen Teilen - Gott sei Dank nicht überall - des Landes. ({6}) Zwei Dinge will ich Ihnen dazu sagen. Erstens. Sie beleidigen damit die Arbeitslosen. Sie sind es heute nicht und sie waren es auch 1933 nicht, die damals die Braunen an die Macht gebracht haben. Es waren immer Leute in Anzug und Krawatte, die dafür gesorgt haben, dass die Braunen nach vorne gekommen sind. ({7}) Zweitens. Die demokratischen Parteien müssen an dieser Stelle aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig um unsere Möglichkeiten der Zusammenarbeit bringen. ({8}) Ich sage hier vor dem Bundestag ganz klar: Es ist nicht die Schuld der CDU/CSU, dass es viele neue Nazis gibt. Es ist aber auch nicht die Schuld der SPD. Wir müssen darauf achten, dass in diesem Lande eines klar ist: An dieser Stelle dürfen wir uns nicht gegenseitig etwas unterstellen, was so nicht gerechtfertigt ist. Wer anfängt, hier taktische Spielchen zu machen, der schadet der Demokratie. ({9}) Der zweite Punkt - auch das muss ich hier ansprechen - ist das, was am Sonntag vor einer Woche in einer Sonntagszeitung stand: CSU macht Schröder für Verbrechen an Kindern mitverantwortlich. Helfershelfer von Kinderschändern seien Teil des „Kartells der Schuldigen“. ({10}) - Nein, das stand so in der Zeitung. Da dies in Anführungszeichen gesetzt war, war es legitimiert, dies so zu schreiben. ({11}) Eine solche Vorgehensweise ist der CDU/CSU und ihrer Tradition nicht würdig. Das sollten Sie bitte bedenken. ({12}) Frau Merkel, heute wäre eine gute Gelegenheit gewesen, dazu etwas zu sagen. Dass es einen Herrn Söder gibt, der so etwas sagt, muss ich wohl respektieren. Dass aber weder Sie noch Herr Stoiber den Mut haben, deutlich zu machen, dass dies nicht Ihre Meinung ist, ist schade und bedauerlich. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, nun komme ich zu Ihrem Antrag selbst. ({14}): Ah!) Der Beginn des Antrags macht ein Ausmaß von Vergesslichkeit deutlich, das stark an Alzheimer erinnert; das muss ich Ihnen schon sagen. ({15}) Sie schreiben über die 5 Millionen Arbeitslosen so, als ob Sie vergessen hätten, dass wir miteinander ein Gesetz beschlossen haben, das notwendigerweise dazu führen musste, dass einige hunderttausend erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger in die Statistik der Bundesagentur aufgenommen wurden. Das wussten wir alle miteinander, als das Gesetz beschlossen wurde. Wir wussten nicht, ob es 300 000, 400 000 oder 500 000 sind. Im Augenblick sind es etwa 350 000 bis 400 000 Erwerbsfähige, die aus der Sackgasse der Sozialhilfe herausgeholt und in die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit überführt wurden und damit wieder vermittelbar sind und an den Arbeitsmarkt herangeführt werden. Auch wenn einige von Ihnen jetzt erstaunt gucken, wissen Sie das hoffentlich alle. Als wir damals dieses Gesetz beschlossen haben, war klar: Wenn wir das machen, wird es so sein. - Diese jungen Menschen, Alleinerziehende und sozial Schwache holen wir aus der Sackgasse der Sozialhilfe und der Vergessenheit heraus. Das ist richtig. ({16}) Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Es ist besser, die Arbeitslosenzahl mit 5,2 Millionen anzugeben und die 400 000 einzuschließen, die früher nicht berücksichtigt worden sind, als die Zahl von 4,8 Millionen zu nennen und die anderen zu vergessen und in der Sackgasse zu lassen. ({17}) Die Zahl ist bedrückend. Das ist wohl wahr. Das, was wir jetzt haben, ist die Lage von 1998 unter Kohl plus die Statistik von Hartz. ({18}) - Sie müssen ganz einfach die Zahlen zusammenzählen, dann kommen Sie auf das Ergebnis: Arbeitslosenzahl von 1998 - zu der Zeit von Helmut Kohl - plus Statistikeffekt durch Hartz. Wenn wir so viele ABM und SAM gemacht hätten wie Sie, dann läge die Zahl deutlich darunter. ({19}) Das tröstet aber die nicht, die darauf angewiesen sind, dass ihnen Hilfe zuteil wird. Was schreiben Sie in Ihrem Antrag? Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll von 6,5 Prozent auf 5,0 Prozent gesenkt werden. Frau Merkel hat gerade versucht, das noch einmal zu begründen. Wer das macht, der kürzt die Mittel der Bundesagentur für Arbeit um mindestens 11 Milliarden Euro. Es können auch ein paar Milliarden mehr sein. Wer das macht, der muss dafür sorgen, dass entweder das Arbeitslosengeld I gekürzt wird oder auf Hilfsmaßnahmen für junge Menschen, die dringend in Ausbildung gebracht werden müssen, verzichtet wird oder die Zahlung von Lohnkostenzuschüssen für Existenzgründer einzustellen ist. Es kann nicht sein, dass wir 11 Milliarden Euro aus dem Etat der Bundesagentur für Arbeit entnehmen - das wollen Sie -, gleichzeitig aber die Bundesagentur auffordern, sie solle mehr vermitteln. Das geht zumindest rechnerisch nicht. ({20}) Sie haben dann ein ganzes Kapitel, in dem Sie sich mit den Arbeitnehmerrechten auseinander setzen. Die Tarifautonomie soll geschleift werden, ebenso der Kündigungsschutz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Jugendarbeitsschutzgesetz. Sie fordern, dass es untertarifliche Entlohnung für Langzeitarbeitslose geben soll, und zwar gesetzlich fixiert. Das gibt es längst in Tarifverträgen - ich weiß nicht, ob Sie sich da genau auskennen -, Sie aber fordern eine gesetzliche Regelung. Das ist ein Zeichen dafür, dass Sie die Tarifautonomie nicht mehr ernst nehmen. ({21}) Das ist ein Punkt, über den wir uns nicht verständigen können. Es muss in Deutschland auch in Zukunft so sein - damit ist Deutschland gut gefahren -, dass starke Arbeitnehmer und starke Arbeitgeber ihre Interessen vertreten und miteinander Tarifverträge aushandeln können. Wir als Gesetzgeber werden uns da heraushalten. Die Tarifparteien sind klug genug, dieses miteinander zu vereinbaren. ({22}) Sie sind übrigens auch klug genug, Wege zu finden, vernünftige Regelungen zu finden, wenn es darauf ankommt. Sie, Frau Merkel, haben das selbst lobend in Bezug auf das erwähnt, was jetzt bei Opel passiert ist. Zitat: Es ist gelungen, weil die Menschen vor Ort, die einen Arbeitsplatz bei Opel haben, bereit waren, etwas für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu tun. - Das ist genau das, was wir sagen. Was glauben Sie aber, was heute bei Opel in Bochum und in anderen Städten los wäre, wenn es die Gewerkschaften und die Betriebsräte nicht gegeben hätte? Das ist doch die schlichte Wahrheit. ({23}) Tausende Male haben Betriebsräte und Gewerkschaften mitgeholfen, dass Betriebe lebensfähig geblieben sind. Kluge Unternehmer wissen das ganz genau. Gewerkschaften und Betriebsräte sind keine fünfte Kolonne, die versucht, die Betriebe kaputt zu machen. Sie helfen vielmehr mit, dass Betriebe bestehen bleiben, so wie es jetzt auch bei Opel gewesen ist. ({24}) Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist der Weg weg von der Souveränität der Tarifparteien. ({25}) Es ist ein Stück Demokratie, um das es geht. Das werden wir uns ganz sicher nicht wegstreichen lassen. ({26}) So viel zu Ihrem Sofortprogramm. In Ihrem Sofortprogramm steht allerdings nichts von den Zuverdienstmöglichkeiten. Das ist eine besonders schicke Sache. Weshalb haben Sie, Frau Merkel, heute Morgen nicht einmal den Mut gehabt, zu sagen, dass Sie sich damals geirrt und darauf bestanden haben, dass die Zuverdienstmöglichkeiten im unteren Bereich nicht so hoch sind, wie die Sozialdemokraten und die Grünen das wollten? So war das nämlich im Vermittlungsausschuss: Wir wollten höhere Zuverdienstmöglichkeiten erlauben. ({27}) Es wäre schon gut, wenn wenigstens einmal gesagt würde, dass Sie nicht immer die Neunmalklugen sind, sondern dass Sie sich an der Stelle korrigieren müssen. Wenn Sie es tun, ist es gut. Darüber können wir miteinander sprechen. In Ihrem Antrag sind zwei Kapitel - ich weiß nicht, ob Sie das noch einmal gelesen haben -: Es gibt einmal das Sofortprogramm, über das ich gerade gesprochen habe, und zum anderen gibt es ein Kapitel II, in dem es um Strukturreformen, zum Beispiel in der Steuer- und Bildungspolitik, geht. Da haben Sie mit der Bildungspolitik natürlich etwas Interessantes angesprochen. Das Thema Studiengebühren haben Sie aber lieber weggelassen. Es wäre interessant gewesen, heute Morgen einmal Ihre Meinung dazu zu hören, wie es denn so ist mit den Studiengebühren. Ihre Länderfürsten haben Studiengebühren angekündigt. Im Moment haben alle wieder ein bisschen Luft abgelassen. Sie haben genau gemerkt, dass es so schnell und so einfach dann doch nicht geht. Aber Sie stehen offensichtlich dazu ({28}) und sagen: Studiengebühren, ja. Das nehme ich so zur Kenntnis. Das ist ein Punkt, über den man irgendwo miteinander zu reden haben wird. ({29}) Dann haben Sie das angesprochen, was in der Föderalismuskommission dazu stattgefunden hat. Meine Meinung ist unverändert die, dass wir noch einmal einen Anlauf unternehmen sollten, um in Sachen Föderalismus in diesem Land voranzukommen. Weil das so ist, verkneife ich mir jetzt jede Antwort auf das, Frau Merkel, was Sie eben dazu gesagt haben. Wer so verfährt, wie Sie das getan haben, der macht die Möglichkeiten, an dieser Stelle zu einer Einvernehmlichkeit zu kommen, fast schon wieder kaputt. Ich zweifele, ob Sie wirklich wollen. ({30}) Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Strukturreformen, auch zur Steuer- und Bildungspolitik, noch in diesem Jahr in konkrete Gesetze gefasst werden sollten. Darüber kann man sprechen. Das werden Sie in der nächsten Woche sicherlich auch tun. Die Frage ist: Was meinen Sie eigentlich damit? Über die Senkung des Spitzensteuersatzes haben Sie heute nichts gesagt. Ihrem Papier entnehmen wir: 39 Prozent und eine Linksverschiebung der Progressionsgrenze; bei 45 000 Euro soll der Satz greifen. Das heißt, die, die unten sind, bezahlen mal wieder mehr; die, die oben sind, werden entlastet. Sie sagen in Ihrem Antrag nichts zum Abbau von Subventionen. Dazu hätte man zwei Dinge sagen können: Erstens. Eigenheimzulage. ({31}) Wenn wir im Bereich Bildung, Forschung und Technologie etwas machen wollen, dann lassen Sie uns Folgendes tun: die Eigenheimzulage abschaffen und das Geld für Forschung und Technologie einsetzen. Da wäre es für die nächste Zeit dringend nötig. ({32}) Zweitens hätten Sie etwas zum Steuervergünstigungsabbaugesetz sagen sollen. Damit hätten wir eine Menge Geld für Bund, Länder und Gemeinden realisieren können. Dass Sie das am 16. Mai 2003 abgelehnt haben, hat die öffentlichen Hände 26,9 Milliarden Euro gekostet. Es ist die blanke Heuchelei, wenn Sie und einige CDULänder, einige CDU-Bürgermeister oder -Oberbürgermeister darüber klagen, zurzeit kein Geld zu haben. Sie hätten es haben können. Sich vor Ort beklagen und dann auf der Bundesebene keinen Mut haben, das zeugt nicht gerade von politischer Weitsicht. ({33}) Nun haben Sie noch einen Antrag zum Thema Antidiskriminierungsgesetz nachgeschoben. Er hat einen interessanten Einstieg. Darin beschreiben Sie nämlich zunächst einmal, wie sinnvoll so etwas eigentlich sein könnte: Die Diskriminierung eines Menschen wegen seiner äußeren Merkmale oder seiner Veranlagung ist schlicht und ergreifend abzulehnen. ({34}) Dies ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild, welches von der Unverletzbarkeit der Würde eines jeden Einzelnen ausgeht. ({35}) Es ist daher völlig selbstverständlich, dass sich eine Gesellschaft Regeln gibt, die deutlich machen, dass negative Diskriminierung gegen die Würde eines jeden Menschen geht und geahndet werden muss. ({36}) Obwohl Sie dies geschrieben haben, steht obendrüber: Antidiskriminierungsgesetz verhindern! Das ist eine komische Logik, der Sie da folgen. ({37}) Im arbeitsrechtlichen Teil des Antidiskriminierungsgesetzes bewegen wir uns akkurat auf der Höhe dessen, was uns die EU vorschreibt. Im privatrechtlichen Bereich gehen wir darüber hinaus, weil wir Behinderte einbeziehen möchten. Wir möchten nicht, dass Gruppen von Behinderten in Restaurants rausgeschmissen werden. Wir möchten, dass bei uns in Deutschland geklärt ist, dass sie dahin kommen können, und zwar gesetzlich garantiert. ({38}) Wir werden die Ergebnisse der Anhörung auswerten. Es gibt sicherlich Korrekturmöglichkeiten, was die Verwirkungsfristen, gemischte Bewohnerschaft - das betrifft das Wohnraumförderungsgesetz - oder kirchliche Interessen anbelangt. Aber das Antidiskriminierungsgesetz wird kommen. Darauf können Sie sich ganz sicher verlassen. ({39}) Sie haben mit dem Antrag - ich habe mich auf diesen Teil konzentriert - keinerlei Hilfestellung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gegeben. Das wird aber für die Debatte in der nächsten Woche ganz wichtig sein. Heute war auf der Grundlage Ihres Antrags offenbar nicht mehr zu erwarten. Ich bin sehr gespannt, was Sie in der Debatte über die Regierungserklärung in der nächsten Woche einbringen werden. Die Frage ist, ob Sie, Frau Merkel, sprechen werden oder Herr Stoiber. Wie gesagt, wir sind sehr gespannt darauf, wie das in der nächsten Woche laufen wird. Vielleicht zeigen Sie dann ein bisschen mehr Augenmaß und Verantwortung für das ganze Land. Insgesamt, insbesondere mit Ihrem Antrag, zeigen Sie es heute jedenfalls nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({40})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun Dr. Guido Westerwelle für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Lage in Deutschland ist folgende: Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung der Republik. Wir haben die marodesten Staatsfinanzen seit Gründung der Republik. Wir haben noch nie so viele Unternehmenspleiten gehabt. Wir haben ein Wachstum, das entgegen allen optimistischen Prognosen nun nochmals zusammenbricht. Wir haben brüchige Sozialsysteme. Wir haben ein Bildungssystem, das im Allgemeinen international schlechte Noten bekommt. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass es, während der Deutsche Bundestag an einem Donnerstagvormittag - zur Kernzeit! - zum Thema Massenarbeitslosigkeit tagt, gerade einmal vier von 14 Bundesministern für notwendig erachten, anwesend zu sein. ({0}) Das, was Sie hier sehen, ist die heutige Titelseite der „BZ“, einer großen Berliner Tageszeitung: „Keine Zeit für Arbeitslose“. ({1}) Das ist in Wahrheit das Gefährlichste, was eine Regierung vermitteln kann. Nicht nur Ihre Wankelmütigkeit, sondern auch Ihre Ignoranz gegenüber dem, was notwendig ist, das ist das eigentliche Problem. ({2}) Da Ihnen, wie ich gehört habe, diese Zeitung nicht gefällt, greife ich zur nächsten, zur heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“, die Ihnen ja näher steht. Dort heißt es auf der Titelseite: „Kanzler fordert Disziplin, Minister streiten weiter“. Wie wollen Sie denn das Land aus der Krise führen, wenn Sie sich noch nicht einmal einig sind? Das kann doch nicht funktionieren. ({3}) „Der Spiegel“ steht Ihnen möglicherweise noch näher. Auf seiner Titelseite in dieser Woche macht dieses Magazin mit folgendem Zitat von Gerhard Schröder - in bewundernswerter Deutlichkeit - auf: Wenn wir die Arbeitslosenquote nicht spürbar senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden. Als Sie 1998 die Regierung übernommen haben, gab es 3,947 Millionen Arbeitslose. Nun sind es 5,216 Millionen Arbeitslose. Das ist das Ergebnis rot-grüner Politik und nicht irgendein Gottesgesetz oder ein Naturvorgang. ({4}) Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es Alternativen gibt. Denn viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem diejenigen, die mit RotGrün längst abgerechnet und Schluss gemacht haben, fragen sich besorgt: Gibt es eine Alternative? Kann es anders gehen? Ist es nicht quasi eine zwangsläufige Folge der Globalisierung, dass wir in Deutschland in einer solchen maroden Situation sind? Es ist deswegen genauso notwendig wie erforderlich, einen internationalen Vergleich anzustellen. Wenn man sieht, dass die Politik in Deutschland eine Arbeitslosenquote von 12 Prozent zu verantworten hat, während die Arbeitslosenquoten in Österreich und Großbritannien bei jeweils 4,5 Prozent und in den USA bei 5,5 Prozent liegen, dann kommt man zu dem Schluss, dass die anderen Länder etwas besser machen. ({5}) Beim Wachstum ist es doch genau dasselbe. Sie reden es jetzt mit einer Wachstumsprognose von zunächst 1,6 Prozent schön. Darauf ist der ganze Haushalt gebaut, danach ist er gestrickt. Wir sehen in diesen Tagen, wie er anhand der korrigierten Wachstumsprognosen abermals zusammenbricht. Gerade noch 1 Prozent Wirtschaftswachstum sagen die Sachverständigen Deutschland voraus. Zum Vergleich: Die Wachstumsprognose 2005 ist für Frankreich 2,2 Prozent, für Großbritannien 2,9 Prozent, für die USA 3,4 Prozent. Wenn Deutschland von allen 25 europäischen Mitgliedstaaten die schlechteste Wachstumsrate hat, dann ist dies nicht das Ergebnis einer schäbigen Weltwirtschaft, sondern das Ergebnis einer schlechten Regierung. Das ist der feine Unterschied. ({6}) Deswegen wollen wir als Opposition eine wachstumsorientierte Politik. Dass die Grünen damit Schwierigkeiten haben, ist bekannt. Sie haben sich vor 25 Jahren mit dem Ziel des Nullwachstums gegründet. Jetzt in der Regierungsverantwortung haben sie es fast geschafft - leider, muss man sagen. ({7}) Als sie sich gründeten, wollten sie den Kapitalismus besiegen. In der Regierungsverantwortung ist es ihnen nahezu gelungen. Das ist die Lage in diesem Lande. ({8}) An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Kollege Müntefering, noch einmal Folgendes vorhalten - ich halte das für einen entscheidenden Punkt -: Es ist doch nicht die Opposition, sondern es sind Ihre Genossinnen und Genossen, die mit dieser Politik längst auch öffentlich abrechnen. In dieser Woche sagte der Betriebsrat - wohlgemerkt nicht der Vorstandsvorsitzende -, Herr Gipperich - er ist SPD-Mitglied -, von Bayer aus Nordrhein-Westfalen wörtlich: Wer grün wählt, entscheidet sich gegen Arbeitsplätze. Er fügt hinzu: Was Verbraucherministerin Renate Künast mit der grünen Gentechnik macht, ist eine absolute Sauerei … Alte Arbeitsplätze werden vernichtet und neue andernorts geschaffen. Das ist die Meinung der deutschen Opposition. Wir unterstützen die Betriebsräte in ihrer Kritik an der Bundesregierung. ({9}) Verehrte Anwesende, es ist ein wichtiger Punkt, hierzu auch die Forschungsseite zu zitieren. Wovon wollen wir denn leben? Wo sollen denn Arbeitsplätze entstehen, wenn nicht in den neuen Schlüsseltechnologien? Wenn andere billiger sind, müssen wir besser sein. Deswegen wollen wir eine forschungsfreundliche Politik. Wir wollen eine wirtschafts- und investitionsfreundliche Politik, die Bio- und Gentechnologie eben nicht außer Landes treibt, sondern ihnen hier eine Chance gibt. Ich zitiere dazu den Chef der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der noch zur Jahreswende zum Gentechnikgesetz gesagt hat: Die noch in Deutschland durchgeführte Forschung wird gezwungen sein, sich ins Ausland zu verlagern. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, was die wesentliche Nachricht des SPD-Vorsitzenden an diesem Rednerpult gewesen ist. Ich hoffe, dass der deutsche Bundeskanzler nächste Woche mehr zu bieten hat. Denn wenn das alles ist, dann geht das aus wie das Hornberger Schießen: Außer Spesen nichts gewesen. ({10}) Ich sage Ihnen: Das darf nicht passieren. Wenn es solche Runden gibt, müssen auch strukturelle Ergebnisse möglich werden. Dazu sollte aus unserer Sicht vor allen Dingen die Beerdigung eines Antidiskriminierungsgesetzes gehören. Denn das ist der Totengräber für noch mehr Arbeitsplätze. ({11}) In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit hat der Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten eine einzige konkrete Nachricht: dass das Antidiskriminierungsgesetz kommen wird, und zwar gegen Herrn Clement, gegen Herrn Steinbrück, gegen zahlreiche Vertreter des Bundesinnenministeriums und auch den Bundesinnenminister selbst - wir lesen das alles nach -, gegen Betriebsräte und übrigens auch gegen mancherlei Betroffene. Dieses Antidiskriminierungsgesetz wird nicht nur Arbeitsplätze vernichten, sondern auch genau den Minderheiten schaden, die es zu schützen gilt, weil dann nämlich in Wahrheit zu einem Vorstellungsgespräch ebendiese Minderheiten gar nicht mehr eingeladen werden, aus Sorge, anschließend, wenn man aus fachlichen Gründen ablehnt, einer Klagewelle gegenüberzustehen. ({12}) Deswegen ist es völlig richtig, wie nicht irgendeiner von der Opposition, sondern wie der Genosse Ude, der Oberbürgermeister von München, das Antidiskriminierungsgesetz bewertet hat. Er sagt dazu wörtlich: Da haben sich ein paar Gutmenschen ausgetobt. Nichts ist schlimmer in Deutschland als Politik von Gutmenschen. Sie sind nämlich fein zu unterscheiden von den guten Menschen. ({13}) Die guten Menschen geben ihr eigenes Geld, die Gutmenschen - wie sie da sitzen - verteilen das Geld anderer Leute. ({14}) Wir haben einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Wir haben gesagt, wie es geht. Es gibt von uns zu jedem notwendigen Bereich, den wir hier zu beraten haben, konkrete Gesetzentwürfe: zum Bürokratieabbau, zu den Steuern, zur Unternehmensteuerreform. Wir sind dazu bereit, wir wollen mitwirken. Ich sage Ihnen dazu ganz klar: Die Zusammensetzung von Runden ist nicht das Thema, entscheidend ist, was hinten rauskommt. Wie heißt es so schön im „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe - etwas abgewandelt -: Der Briefe sind genug gewechselt, jetzt lasst uns endlich Taten sehen. Vielen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Herr Westerwelle, nachdem ich Ihre Rede heute hier gehört habe ({0}) und nachdem ich gehört habe, welche neuen Vorschläge für den Arbeitsmarkt Sie unterbreiten - Sie haben auf einen Antrag verwiesen, den Sie hier nicht vorstellen wollten, weil Sie uns Zitate aus Zeitungen vorhalten wollten -, sage ich einmal an diejenigen, die nächste Woche zusammensitzen und Probleme lösen wollen: Wie gut, dass Sie nicht dabei sein werden! ({1}) Frau Merkel, Sie haben heute Morgen gesagt, wie Sie Deutschland voranbringen wollen und was wir dazu brauchen, nämlich guten Willen und dass wir schneller werden. Darauf will ich gerne in drei Punkten eingehen. Erster Punkt: Föderalismusreform. Es steht nicht in Ihrem Antrag, dass Sie dazu etwas beitragen wollen. ({2}) Vor allen Dingen haben Sie auch bisher nichts dazu beigetragen. Als die Föderalismuskommission getagt hat und in eine schwierige Situation geraten ist, weil Ihre Länderfürsten sich aufgemäntelt haben und nicht mehr weiterkommen wollten, da sind Sie, Frau Merkel, abgetaucht und haben zu dieser großen und wichtigen Reform des Landes keinen einzigen Beitrag geleistet. ({3}) Dann haben Sie hier über das Thema Zuverdienst geredet. Wir müssen doch einmal ehrlich sein und sehen, dass es so nicht geht. Frau Merkel, haben Sie die Debatten eigentlich nicht mitbekommen? Wie lange haben wir hier im Deutschen Bundestag und im Bundesrat über die Zuverdienstmöglichkeiten geredet? Wie lange haben wir gesagt, die Zuverdienstmöglichkeiten müssten größer sein, weil wir gerade für die unteren Einkommensbezieher neue Chancen brauchen? Was haben Sie gemacht? Sie haben die Zuverdienstmöglichkeiten heruntergesetzt. Deswegen sind wir jetzt in dem Dilemma, dass wir weniger Arbeitsplätze haben und nicht mehr. Das ist Ihre eigene Verantwortung, Frau Merkel. ({4}) Vielleicht erinnern Sie sich daran: Herr Koch wollte noch mehr. Herr Koch wollte sogar, dass diejenigen, die heute in 1-Euro-Jobs in gemeinnütziger Arbeit beschäftigt sind, überhaupt nichts zusätzlich bekommen. Was sind das für Vorschläge, an die Sie sich nach ein paar Monaten nicht einmal mehr erinnern können? Jetzt sagen Sie: Man hätte schneller sein können. Ja, man hätte schneller sein können. Sie hätten schneller sein können. Wir wären heute weiter. ({5}) Der dritte Punkt, den Sie angesprochen haben, ist das Thema Bildung. Auf dieses Thema haben Sie heute nur einen ganz kurzen Satz verwandt und haben gesagt, da müsse man doch vorankommen. Heute Morgen habe ich von Herrn Pofalla gelesen, Sie wollten in der nächsten Woche ganz ernsthaft verhandeln und Sie wollten auch eigene Fehler berücksichtigen und noch einmal neu darüber nachdenken. Ich nenne beispielhaft einen Bereich, wo sie gut Ihre Haltung überdenken könnten. Damit würden Sie vor allen Dingen Ihren eigenen Ländern helfen und für bessere Bildungsmöglichkeiten in Deutschland sorgen. Wir haben hier über die Eigenheimzulage gestritten. Wir haben gesagt, diese war einmal ein richtiges Instrument, sie ist jetzt aber nicht mehr notwendig; da sie am falschen Ende ansetzt, wäre es verkehrt, sie weiter aufrechtzuerhalten. Wenn Sie unserer Argumentation gefolgt wären, hätten wir schon jetzt 6 Milliarden Euro in die Bildung investieren können, Frau Merkel. Diese 6 Milliarden Euro fehlen heute dem Bund und den Ländern. Dafür tragen Sie Verantwortung. Wir hätten da schneller handeln können. ({6}) Natürlich widme ich mich auch Ihrem so genannten Pakt. Ehrlich gesagt halte ich ihn mehr für ein „Päckchen“. Wenn man es nämlich aufmacht, stellt man fest, dass es viel alte und verbrauchte Luft enthält. In diesem Rahmen reden Sie von der Senkung der Lohnnebenkosten. Von 1982 bis 1998 - man kann diese Zahl ruhig noch einmal nennen - sind die Lohnnebenkosten von 34 auf 42 Prozent gestiegen, mit tätiger Mithilfe übrigens der FDP, obwohl sie nach außen immer so tut, als ob die Senkung von Lohnnebenkosten und Steuern zentrale Punkte ihres Parteiprogramms wären. So viel also zu Ihrer Glaubwürdigkeit, nachdem Sie uns Grünen vorgeworfen haben, wir wären nicht glaubwürdig. Die Senkung der Lohnnebenkosten ist diese Regierung als Erstes angegangen. Mithilfe der Ökosteuer sorgen wir dafür, dass der Rentenbeitrag unter 20 Prozent bleibt. Das dürfen Sie nicht vergessen, Frau Merkel. Die Ökosteuer nimmt dabei das Geld nicht von denjenigen, die es heute so dringend brauchen. Sie dagegen wollen 11 Milliarden Euro bei den Förderprogrammen einsparen, um die Kosten für die Arbeitslosenversicherung zu senken. Wissen Sie eigentlich, wie viele Leute heute Arbeitsplätze haben, die in Förderprogrammen arbeiten? Ahnen Sie das? Sie reden über 150 000 Arbeitsplätze. Wissen Sie, wie viele Leute Sie nach Hause schicken müssten, wenn Sie die Förderprogramme einstellen, und wie vielen Sie sagen müssten: Für euch gibt es keine Förderung mehr? Es handelt sich um 1,3 Millionen Menschen. Um die geht es hier. Diese wollen Sie nach Hause schicken. Denen wollen Sie sagen: ab nach Hause, ab auf die Bank, es gibt keine Förderung durch die Arbeitsagentur mehr. Eine solche Politik, die bei den kleinen Leuten ansetzt, werden wir, Frau Merkel, nicht mitmachen. ({7}) Nun zu den betrieblichen Bündnissen für Arbeit: Ich weiß nicht, ob Sie tatsächlich einmal in Unternehmen gewesen sind. Ich weiß nicht, ob Sie mitbekommen haben, was im letzten Jahr geschehen ist. 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse in Deutschland sind längst flexibilisiert. Die Regelungen für 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse in Deutschland basieren längst auf betrieblichen Bündnissen. Hätten Sie denn gewollt, Frau Merkel, dass in Bochum ein Streik angefangen worden wäre, den man überhaupt nicht wieder hätte einfangen können? Hätten Sie gewollt, dass es zu einem Dumpingwettbewerb zwischen Bochum und Rüsselsheim kommt? Wo stehen wir denn heute? Bei Opel arbeiten die Leute zu Osttarifen. Zu solchen Ergebnissen führen betriebliche Bündnisse für Arbeit. Diese wurden unter Mitwirkung der Gewerkschaften vereinbart. Wir können stolz darauf sein, dass wir in Deutschland Gewerkschaften haben, die in schwierigen Situationen auch dazu in der Lage sind, entsprechend zu handeln. ({8}) Ich will auch noch etwas zum Thema Bürokratieabbau sagen. Sie haben sich da ja aus dem Fenster gelehnt und deutlich gesagt, wo überall Bürokratieabbau möglich und notwendig wäre. Ich will in diesem ZusamKatrin Göring-Eckardt menhang gern auf das Thema Gentechnik eingehen, weil es offensichtlich sehr viele beschäftigt. ({9}) Wo wir schon über Bürokratieabbau und Gentechnikgesetz reden, will ich Ihnen heute hier einen ganz konkreten Vorschlag machen. Wir können bei der Gentechnik weiterkommen, aber nicht in dem Bereich, in dem andere Länder längst viel weiter sind als wir - das war übrigens auch schon zu Ihren Regierungszeiten so -, nämlich im Bereich der Grünen Gentechnik. Wir müssten hier einen Aufholprozess starten, um im Wettbewerb bestehen zu können, den wir, wie ich glaube, nicht erfolgreich abschließen können. Es gibt aber auch noch die Weiße Gentechnik. Da müssten Sie sich, Frau Merkel, und Ihre Klientel, die Bauern, jedoch bewegen. Sie müssten sagen: Ja, die Zuckermarktverordnung darf verändert werden; ja, der Zuckerpreis darf um 60 Prozent sinken; ({10}) ja, wir steigen in Deutschland in die Weiße Gentechnik ein. Damit würden wir es schaffen, ganz nach vorne zu kommen. Hierbei handelt es nämlich um einen Zukunftsbereich, in dem viele Arbeitsplätze entstehen können. ({11}) An dieser Stelle will ich natürlich auch noch etwas zum Antidiskriminierungsgesetz sagen. Ich tue das gerne, und zwar deswegen, weil ich glaube, dass all diejenigen, die hier gesagt haben, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden, in den nächsten Wochen und Monaten eines Besseren belehrt werden. Ich bin sehr dafür, dass wir all das, was in der Anhörung gesagt worden ist, sehr ernst nehmen. Ich bin sehr dafür, dass wir auf der einen Seite das Ziel im Auge behalten und auf der anderen Seite dort, wo etwas zu bürokratisch geregelt ist, andere Lösungsmöglichkeiten suchen. Ich glaube, dass uns das auch sehr gut gelingen wird. Ich verstehe, dass es bei Unternehmen Verunsicherung gibt. Deswegen bin ich auch dafür, dass wir eine transparente Regelung schaffen, die nicht zu Ängsten und Verunsicherung führt. Aber ich will Ihnen auch eines sagen: Europäische Nationen haben sich gemeinsam darauf verständigt, etwas für Bürgerrechte, Minderheitenrechte und Menschenrechte in Europa zu tun. Wir haben in Deutschland gesagt: Ja, das wollen wir, das gehört zu uns, das gehört zu unserer Kultur und zu unserer Würde. Das ist kein kleiner grüner „Beikram“, sondern das gehört zu uns in Deutschland und das wollen wir; wir wollen Menschenrechte, Bürgerrechte und Minderheitenrechte schützen. ({12}) Ich glaube, dass niemand der Auffassung ist, dass wir das heute plötzlich nicht mehr wollen. Nun etwas zu Ihrem Vorschlag, das auf die EU-Regelungen zu begrenzen. Das würde heißen, dass man zwar den Ausländer, der in die Disco will, dort hineinlassen muss, aber den Behinderten sagen kann: Über ein Hotelzimmer für euch hier reden wir gar nicht erst. - Diese Auseinandersetzung können wir gerne führen. Wir können auch eine Auseinandersetzung darüber führen, wieso Sie fordern, dass im zivilrechtlichen Teil die Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit oder die Diskriminierung der Schwulen und Lesben gestrichen wird. Ich finde, gerade in Deutschland ist es richtig, dass wir unser Augenmerk besonders darauf richten, dass wir Minderheiten nicht diskriminieren, dass wir in unserem Land und darüber hinaus für Menschenrechte eintreten. Es ist richtig für die Würde unseres Landes. Das werden die Grünen auch weiterhin durchsetzen. Wir werden durchsetzen, dass wir diese Würde behalten. Wir werden weiterhin für Menschen- und Minderheitenrechte eintreten. Gleichzeitig werden wir - darauf wird es in den nächsten Wochen ankommen - dafür sorgen, dass alle Anstrengungen unternommen werden und keine ideologischen Pflastersteine ausgelegt werden, damit neue Arbeitsplätze entstehen können,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Göring-Eckardt!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- zum Beispiel in Zukunftstechnologien. Wir werden über „weg vom Öl“, über neue Autos in Deutschland und über nachwachsende Rohstoffe zu reden haben. All das werden wir tun; aber dabei werden wir nicht unsere Würde verlieren und wir werden auch weiterhin dafür sorgen, dass dieses Land eines ist, wo Menschenrechte eine große Rolle spielen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Müntefering, damit es nicht heißt, ich hätte jemanden diskriminiert: Soll ich Ihre Worte oder die von Gerhard Schröder zitieren in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und dem Wählen rechtsextremer Parteien? Sie haben die Wahl. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Glos, ich beabsichtige aber nicht, darüber einen Hammelsprung herbeizuführen. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut. - Herr Kollege Müntefering, Sie haben im November 2000 gesagt: Manche Wähler suchen ein Ventil für Enttäuschung, Wut und Ängste. Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven, ein beschleunigter gesellschaftlicher Wandel infolge von Globalisierung und Individualisierung sowie Herausbildung der Wissens- und Informationsgesellschaft treiben der extremen Rechten Proteststimmen zu. Der Bundeskanzler hat am 27. Mai 1998 gesagt: Das Wiedererstarken des Rechtsextremismus liegt vor allem in der Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und in der mangelnden Fähigkeit, mit Fremdheit umzugehen. ({0}) Herr Müntefering, ich habe das nur deswegen gesagt - es geht ja heute um Arbeitslosigkeit -, weil Sie am Beginn Ihrer Rede - heute war nicht Ihr Tag; das hat man gespürt ({1}) mit Zitaten gekommen sind, von denen Sie geglaubt haben, Sie könnten sie zur Diskriminierung der CSU brauchen. Ich bin überhaupt der Meinung, dass wir heute etwas Historisches erlebt haben, nämlich die erste Abstimmungsniederlage von Rot-Grün. ({2}) Das muss den Fraktions- und Parteivorsitzenden der SPD natürlich umtreiben, genauso wie die Tatsache, dass die Umfragewerte immer schlechter werden und dass sich inzwischen offener Widerstand in der Koalition breit macht. Schily, Clement und Steinbrück sind gegen das von der Koalition beschlossene Antidiskriminierungsgesetz. Herrn Steinbrück können Sie aber nicht ruhig stellen. Er kämpft um die Verlängerung seiner Amtszeit. Es gab auch einen wochenlangen Schlagabtausch zwischen Herrn Clement und Herrn Eichel, der vorhin noch anwesend war. ({3}) - Ich freue mich, dass er noch da ist. Er dreht gerade dem Plenum den Rücken zu. Das ist symptomatisch für die SPD. ({4}) Wie ich sehe, verlässt er jetzt den Saal. ({5}) Ich befürchte nur, dass er nicht endgültig geht, sondern dass er vorher noch mehr Schaden anrichtet. ({6}) Damit komme ich zu Maastricht. Eichel will unsere Währung ruinieren und kaputtmachen. ({7}) Er will alle Mauern, mit denen die Verschuldung gestoppt werden könnte, niederreißen. In diesem Moment ist er sicherlich auf dem Weg nach Brüssel, um diesem unseligen Tun weiter nachzugehen. ({8}) Es ist offenkundig, dass bei Ihnen Ratlosigkeit herrscht. Wir können jetzt darüber rätseln, welche Hälfte der Fraktion anwesend war, als Herr Müntefering geredet hat: die Hälfte, die für Herrn Robbe war, oder die Hälfte, die für seinen Gegenkandidaten war. ({9}) Es ist eine grausame Situation - Herr Müntefering, da haben Sie mein echtes Mitgefühl -, wenn der Vorsitzende einer Fraktion - ich habe immerhin die drittgrößte Fraktion im Deutschen Bundestag zu führen - flehentlich darum bitten muss, noch einmal nachzudenken und einen Tag bis zur Entscheidung zu warten, aber diese Bitte mit Hinweis auf die Geschäftsordnung abgewiesen wird. Das wäre eigentlich ein weiterer Grund, Herr Müntefering, sich zu überlegen, ob Sie beiden Ämtern, dem Amt des Parteivorsitzenden und dem Amt des Fraktionsvorsitzenden, gewachsen sind. ({10}) Wir haben heute die bedrückende Situation, dass es offiziell fast 5,3 Millionen Arbeitslose gibt. Wir haben die bedrückende Situation, dass es in Nordrhein-Westfalen 1,1 Millionen Arbeitslose gibt. Trotzdem ist der Kanzler hier nicht anwesend, weil er auf der CeBIT in Hannover anscheinend unabkömmlich ist. Ich erinnere mich noch sehr gut an die CeBIT vor fünf Jahren. Damals hat der Bundeskanzler mit Herrn Staudt von IBM gesprochen und dann versprochen, dass er die Greencard einführt, um mithilfe von ausländischen Experten den IT-Fachkräftemangel zu beheben. Es ist dann manches anders gekommen. Nicht nur die Tatsache, dass die ausländischen Experten längst wieder weg sind, ist bedrückend, sondern auch die Tatsache, dass hoch qualifizierte Arbeitsplätze aus diesem Bereich aus Deutschland verlagert werden. ({11}) Ich könnte in diesem Zusammenhang die „HannoverZeitung“ zitieren. Für mich ist es doppelt bedrückend, was hier vor sich geht. Denn IBM will Rechenzentren in Hannover und in Schweinfurt schließen. In Hannover sind 250 und in Schweinfurt 330 Mitarbeiter betroffen - und das in einer Dienstleistungsbranche. Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich Ihnen aus den Briefen vorlesen, die ich von betroffenen jungen Familien, die Angst um ihre Zukunft haben, bekommen habe. ({12}) Ich hoffe, dass der Herr Bundeskanzler die Zeit auf der CeBIT in Hannover nutzt, um nicht nur mit Herrn Staudt und anderen Führern großer amerikanischer Tochtergesellschaften Champagner zu trinken, sondern auch um diese bedrückenden Sorgen anzusprechen. ({13}) Wir sprechen immer vom Wandel der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft. Das Bedrückende ist, dass inzwischen nicht nur die industriellen Arbeitsplätze aus Deutschland verschwinden, sondern dass auch die Dienstleistungsarbeitsplätze in einem atemberaubenden Tempo aus Deutschland verlagert werden. ({14}) Bei den Punkten, bei denen die Regierung Erfolge hatte - das waren nicht allzu viele -, haben wir als konstruktive Opposition mitgeholfen. Ich nenne als Stichwort nur die Gesundheitsreform. Dass jetzt die Beiträge gesenkt werden können, ist der Mithilfe von Horst Seehofer zu verdanken, der Chefberater, und zwar ohne Honorar, für Frau Schmidt gewesen ist. Auch dass Hartz in Kraft treten konnte, ist einer konstruktiven Opposition zu verdanken. ({15}) Wir haben nicht wie Rot-Grün in der Zeit zwischen 1994 und 1998 blockiert; denn wir haben von vornherein gesagt: Wir wollen mithelfen, Deutschland wieder in Ordnung zu bringen. Wir schauen auf die Menschen und auf die Wähler. Uns hat man gewählt, weil man will, dass es vorwärts geht. ({16}) Warum man die Grünen gewählt hat, weiß ich nicht. In diese Vorstellungswelt kann ich mich nur schwer hineinversetzen. Herr Müntefering, Ihre Zitate, die Sie auf das Angebot von Frau Merkel und des bayerischen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden Stoiber hin angeführt haben, fand ich sehr geschmacklos. ({17}) Es war gut, dass „Gerhard von Arabien“ aus Arabien angerufen und Sie zurückgepfiffen hat. ({18}) - Wie die geschmacklos sein können? Sie sind geschmacklos, weil sie von Herrn Müntefering kommen, Herr Schmidt; das ist doch ganz klar. ({19}) Sie haben gesagt, es sei menschenverachtend und was weiß ich alles, dass man sich schriftlich an den Kanzler wendet, um über die derzeitige Situation zu reden. ({20}) Jetzt lese ich Ihnen das Zitat doch vor: ({21}) Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken … ({22}) - Das haben Sie schon einmal gehört. - Hartz hat gesagt, die Arbeitslosigkeit werde binnen drei Jahren halbiert. Das war 2002; jetzt haben wir 2005. Sie aber haben es als kaltblütig und zynisch bezeichnet, dass wir mit Ihnen über einen Pakt für Arbeit reden wollen. ({23}) Sie haben gesagt, das sei moralisch verkommen. Das ist noch schlimmer. ({24}) Ich scheue mich, hier schlimme Worte zu wiederholen, die andere gesagt haben; denn ich bin dann immer als derjenige verschrieen, der mit Grobheiten um sich wirft. ({25}) Kollege Westerwelle hat zu Recht darauf hingewiesen, was Betriebsratsvorsitzende geschrieben haben. Sie haben den Betriebsratsvorsitzenden von Bayer zitiert. Ich könnte, wenn meine Redezeit reichen würde, den Betriebsratsvorsitzenden von Thyssen-Krupp zitieren. Dort wie in anderen DAX-Konzernen warnen Millionen organisierte Arbeitnehmer über diejenigen, die sie als Vertrauensleute gewählt haben, vor einer weiteren Regierungsbeteiligung der Grünen. Sie verlangen, dass in Nordrhein-Westfalen andere Verhältnisse entstehen. Sie weisen in diesem Zusammenhang auf die hohen Energiepreise hin, die bei uns in Deutschland künstlich verteuert sind; ich brauche die entsprechenden Zahlen nicht zu nennen. Wir haben nach Italien die zweithöchsten Strompreise in Europa - und das alles in erster Linie durch staatlich verordnete Nebenkosten. Wir leisten uns „Subventionsräder“, die nicht nur die Landschaft verschandeln, sondern Strom in das Netz einspeisen können, der zum Dreifachen des Marktpreises vergütet wird. Das mag sich eine reiche Gesellschaft leisten können, ein Land, das im Überfluss lebt. Aber wir in Deutschland können es uns nicht leisten, die höchsten Lohnkosten durch hohe Lohnzusatzkosten und gleichzeitig die höchsten Energiekosten zu haben. ({26}) Ich meine, dass man dafür, dass sich eine Opposition bereit erklärt, darüber zu sprechen, wie wir das alles überwinden können, im Grunde dankbar sein müsste. Herr Müntefering, ich will Ihnen zuletzt eines sagen: Sie haben kein leichtes Amt; das gebe ich zu. Sie müssen oft den Kopf für den Bundeskanzler hinhalten. Aber ganz besonders bedrückend ist es, wenn ein Partei- und Fraktionsvorsitzender aus Nordrhein-Westfalen amtiert, während Nordrhein-Westfalen nach einer viel zu langen Phase der SPD-Regierung wieder zu einer CDU-Regierung zurückkehrt. Ich glaube, Sie werden, wenn Sie das durchhalten und nicht die Nerven verlieren, auch der SPD-Parteivorsitzende sein, unter dessen Regie RotGrün im Bund abgewählt wird. Danke schön. ({27})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt. ({0})

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich für die Komplimente seitens der Opposition bedanken und darauf hinweisen, Herr Glos, dass heute zum wiederholten Male nicht Ihr Tag ist. ({0}) Ich halte es für absolut gerechtfertigt, dass nach den Anwürfen, die es aus Ihren Reihen in Richtung auf die sozialdemokratische Partei, auf Herrn Münterfering und Herrn Schröder, gegeben hat, bevor mit Gesprächen begonnen wird, hier Worte des Anstandes und des Ausgleiches gefunden werden. Das, so meine ich jedenfalls, gehört zum demokratischen Selbstverständnis. ({1}) Meine Damen und Herren, mir ist aufgefallen, dass Sie sich hier hinstellen und erklären, Sie hätten alle Erfolge dieser Regierung auf dem Felde der Wirtschaftspolitik im Wesentlichen mitgetragen. Damit meinen Sie auch Hartz IV. Ich werde Ihnen sagen, was Sie praktizieren. ({2}) Sie haben Hartz IV mit uns gemeinsam im Vermittlungsausschuss und hier, im Bundestag, beschlossen. Sie haben genau gewusst, dass durch diesen Einschnitt und durch eine andere Bewertung ab dem 1. Januar 2005 die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland statistisch ansteigen wird. Jetzt aber machen Sie sich aus dem Staube und versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das ist das Prinzip, mit dem Sie hier aufwarten. ({3}) Das ist alles andere als die Übernahme demokratischer Verantwortung in der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der wir uns befinden. ({4}) Ich fände es sehr viel besser, wenn Sie hier sagten - und auch dabei helfen würden -, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Arbeitsgemeinschaften, in den Sozialämtern und in der Bundesagentur unsere Unterstützung und unsere Solidarität genießen, damit dieses Reformwerk so schnell wie möglich Wirkung zeigt und damit tatsächlich schnell vermittelt und so Arbeitslosigkeit abgebaut werden kann. ({5}) Ich muss ganz offen gestehen, Frau Merkel, dass Sie hier sehr allgemein gesprochen haben. Sie haben gesagt: Wir müssen jetzt dicke Bretter bohren. Wir brauchen eine große Kraftanstrengung. ({6}) Wir von der CDU/CSU werden sagen, was zu tun ist. Mein Gedächtnis ({7}) ist noch relativ gut intakt. Im letzten Jahr wussten Sie sowohl in Ihrer Partei als auch in Ihrer Fraktion nicht, ob Sie nach rechts oder links gehen wollen. Wohin wollen Sie bei der Gesundheitsreform? Wohin wollen Sie bei den zentralen Fragen, die dieses Land beschäftigen? Mir wird schwindlig, wenn ich daran denke, dass Sie uns sagen wollen, wohin es gehen soll. ({8}) - Warum das? ({9}) - Ach so. Ich erspare mir, darauf einzugehen. Ich verweise darauf, dass sich diese Bundesregierung im Prozess der Modernisierung dieses Landes befindet. ({10}) Sie haben offensichtlich schnell vergessen - das ist ganz klassisch -, was wir in den letzten zweieinhalb Jahren auf den Weg gebracht haben. Das betrifft die steuerlichen Aspekte genauso wie unsere Offensive für den Mittelstand. Unsere Förderkulisse lässt sich heute auf europäischer Ebene als erstklassig bezeichnen. Wir haben in den Bereichen der Existenzgründungen und der Kleinunternehmerförderung sowie bei der Handwerksordnung ganz erhebliche Erfolge erzielt. Da Sie damals versucht haben, die Reform der Handwerksordnung zu blockieren, will ich zitieren, was heute als Überschrift auf der ersten Seite in der „Welt“ steht. Dort heißt es: „Gründerboom im deutschen Handwerk - Anstieg bis zu 37 Prozent unter Lockerung des Meisterzwangs“. Das sind Nachrichten, die man hier einmal verbreiten muss, ({11}) anstatt der Schwarzrederei, es werde nichts getan. Was heißt denn „Kein Weiter so!“? Ich sage Ihnen: Wir brauchen weitere Reformschritte in der Kontinuität der ökonomischen Philosophie, die sich diese Bundesregierung zu Eigen gemacht hat. Dazu gehören - wenn ich das anmerken darf - die Ausbildungsoffensive und der Bürokratieabbau. Wir werden unsere Anstrengungen weiter verstärken. Es wird eine Jobcard geben. Wir werden uns auch noch nachhaltiger der weiteren Förderung unserer Außenwirtschaftsinitiativen widmen. All dies sind Reformbausteine. An einer Stelle aber sind Sie gefordert, und zwar sollten Sie endlich dafür Sorge tragen, dass durch die Streichung der Eigenheimzulage ein ganz gewichtiger Baustein ermöglicht werden kann, nämlich Forschung, Entwicklung und Bildung in diesem Lande zeitgemäß finanziell zu unterstützen und damit auch zu realisieren. Dies ist eine wirkliche Zukunftsaufgabe, der Sie sich bisher verschlossen haben. ({12}) - Ja, bei Ihnen bestimmt. Das weiß ich. Zum differenzierten Bild unserer Volkswirtschaft gehören auch folgende Punkte: Wir haben moderate Lohnabschlüsse in diesem Land, eine gesteigerte Produktivität und geringe Lohnstückkosten. Im Übrigen sind - obwohl es unseren Unternehmen ja angeblich so wahnsinnig schlecht geht - höhere Gewinne und Dividendenausschüttungen der im Dax, M-Dax und Tec-Dax vertretenen und auch anderer Unternehmen zu verzeichnen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Auch das ist ein Teil der Realität in unserem Lande, die es zu bewerten gilt. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Nein. - Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel anführen. Die in ökonomischer Hinsicht sicherlich auf nicht sehr starken Füßen stehende Stadt Berlin hat eine Bilanz der IHK veröffentlicht, derzufolge es im Jahre 2004 netto 10 000 Unternehmensneugründungen in Berlin gegeben hat. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, über die wir zu diskutieren haben. ({0}) Das alles heißt nicht, dass wir nicht weiterarbeiten müssten und dass wir uns auf dem bis heute erreichten Stand ausruhen könnten. Wir jedenfalls werden auch weiterhin alles Mögliche tun, um Arbeitslosigkeit in diesem Lande abzubauen und dafür Sorge zu tragen, dass Unternehmen in diesem Lande einen vernünftigen politischen und gesetzlichen Rahmen vorfinden, innerhalb dessen sie global und international wettbewerbsfähig sind. Dies ist unser Ziel, von dem wir nicht abgehen. Dabei lassen wir uns schon gar nicht mit ein paar Sprüchen von Ihnen übertreffen. ({1}) Wir werden entsprechende Gespräche führen. Der Bundeskanzler hat dies angeboten. Ich denke, das ist auch sinnvoll, und es wäre gut, wenn von Ihrer Seite konkrete Vorschläge unterbreitet würden. Kollege Müntefering hat bereits darauf verwiesen, dass vieles von dem, was Sie für den Pakt für Deutschland zu Papier gebracht haben, weiß Gott nichts Neues ist. ({2}) Im Übrigen äußere ich ausdrücklich Zweifel daran, dass die Realisierung dieser Punkte das ganz große wirtschaftliche Heil für unser Land bedeuten würde. Das halte ich für höchst zweifelhaft. ({3}) Ich glaube, dass wir gut beraten sind, die Debatte zu versachlichen und uns mit den tatsächlichen Gegebenheiten in diesem Lande auseinander zu setzen, die schwierigen Felder, aber auch die ausgesprochenen Wachstumsfelder gegeneinander zu stellen und eine vernünftige Abwägung der möglichen weiteren Schritte gemeinsam vorzunehmen. Dazu sollte man immer bereit sein. Das ist eine Frage des kultivierten politischen Dialogs über das wirtschaftliche Szenario in einem Lande. Dazu fordere ich Sie ausdrücklich auf. Ich denke, wir werden in diesem Land bei allen Prognosen, die es gibt, auch in der Zukunft ein Wachstum verzeichnen, das geeignet sein wird, in diesem und im nächsten Jahr Arbeitslosigkeit abzubauen. Das ist jedenfalls das Ziel, das wir entschlossen verfolgen. Danke schön. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Ronald Pofalla, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf die höchste Massenarbeitslosigkeit in Deutschland antwortet die Bundesregierung mit einem Parlamentarischen Staatssekretär. Ratloser kann man auf die Lage in Deutschland überhaupt nicht reagieren. ({0}) Dies ist die dritte Debatte zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland, die wir in diesem Jahr führen. Zum dritten Mal müssen Sie von Rot und Grün die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung unseres Landes verantworten. ({1}) Zum dritten Mal hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag keinen einzigen Vorschlag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt. Die Bundesregierung ist ideenlos und perspektivlos. Sie kann nicht einmal mehr Vorschläge in den Deutschen Bundestag einbringen, wie die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland wirksam bekämpft werden kann. ({2}) Wir haben Ihnen vor fast zwei Monaten eine konstruktive Zusammenarbeit, einen Pakt für Deutschland, angeboten. Vor über einer Woche haben Angela Merkel und Edmund Stoiber dieses Angebot wiederholt. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass der Bundeskanzler nach dieser langen Zeit endlich den Weg für gemeinsame Gespräche freigemacht hat. Das war überfällig. Gefreut hat mich in diesem Zusammenhang auch, dass sich der Bundeskanzler damit - entgegen der Auffassung des SPD-Vorsitzenden - für überparteiliche Gespräche ausgesprochen hat. Herr Müntefering hat diese Gespräche nicht gewollt. Es ist gut, dass sich der Bundeskanzler durchgesetzt hat. ({3}) Klar ist: Im Rahmen dieser Gespräche müssen wir zu Ergebnissen kommen. Belanglose Kaffeerunden reichen nicht aus. Deshalb müssen bis zum kommenden Donnerstag auch Vorschläge aus dem Regierungslager vorliegen, wie es weitergehen soll. Ihr destruktives Nein zu unseren Konzepten reicht nicht aus. Das ist zu wenig. Ich sage Ihnen voraus: Nächsten Donnerstag werden wir wieder über einen Großteil der Vorschläge reden, die Sie im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit abgelehnt haben. Wie wollen Sie den Spagat, dass Sie diese Vorschläge heute ablehnen, dass Sie im Rahmen von überparteilichen Gesprächen in der nächsten Woche aber doch wieder über sie reden, vermeiden? Das müssen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern erklären. ({4}) - Herr Müntefering, vorhin haben Sie die Senkung der Lohnnebenkosten angesprochen und die Auffassung vertreten, dass es kein Einsparpotenzial in Höhe von 1,5 Prozentpunkten gebe. Es gibt drei große Bereiche - das weiß jeder, der sich mit dem Beitrag zur Arbeitslosenversicherung befasst -, über die wir reden können und in denen ein solches Einsparpotenzial vorhanden ist. Zunächst zum Aussteuerungsbetrag in Höhe von 6,7 Milliarden Euro. Er wird von all denjenigen aufgebracht, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Diese 6,7 Milliarden Euro werden in diesem Jahr nicht der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt, sondern sie werden direkt in den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland gebucht. Über den Aussteuerungsbetrag und seine Höhe kann und muss geredet werden. ({5}) Es gibt eine Reihe gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die die Bundesagentur für Arbeit wahrnimmt, die bei ihr unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten aber nichts zu suchen haben, ({6}) zum Beispiel die nachschulische Bildung. Jeder hier im Hause ist der Auffassung, dass Schülerinnen und Schüler, die beispielsweise keinen Hauptschulabschluss haben, die Möglichkeit erhalten müssen, diesen zu machen. Mit der ureigenen Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit hat das aber überhaupt nichts zu tun. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die von den dafür zuständigen Stellen, nicht aber von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern finanziert werden muss. ({7}) Nun zu den Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, die sie durchführt, ist völlig wirkungslos. Wenn schon Frau EngelenKefer - ich hätte nie gedacht, dass ich mich auf sie berufen kann ({8}) die Auffassung vertritt, die Maßnahmen zu den Personal-Service-Agenturen und zu den Ich-AGs seien völlig wirkungslos, dann kann in diesem Haus mit allen Fraktionen über eine Streichung oder eine erhebliche Reduzierung dieser Maßnahmen gesprochen werden. Das wäre ein dritter Bereich, über den im Zusammenhang mit der Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages gesprochen werden kann. ({9}) Herr Müntefering, wir könnten mit der Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages um 1,5 Prozentpunkte ({10}) 150 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Das wären 150 000 Menschen, die wieder Brot und Arbeit haben, 150 000 Menschen, die wieder Steuern zahlen, und übrigens auch 150 000 Menschen, die die Bundesagentur um rund 2 Milliarden Euro entlasten ({11}) und dadurch auch einen Beitrag dazu leisten, dass wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag jetzt und hier senken können. Helfen Sie uns dabei, 150 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen! Wehren Sie sich nicht dagegen! ({12}) Geben Sie Ihre innere Blockade auf! ({13}) Wir können den Arbeitsmarkt flexibilisieren. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, das Jugendarbeitsschutzgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Tarifvertragsgesetz sinnvoll so zu ändern, dass wieder mehr Dynamik im Arbeitsmarkt entsteht, weil der Arbeitsmarkt völlig überreguliert ist und deshalb dereguliert werden muss. Diese Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir bieten Ihnen an, am nächsten Donnerstag über die gesetzliche Verankerung betrieblicher Bündnisse für Arbeit zu reden, weil wir glauben, dass in einer Situation, in der die Massenarbeitslosigkeit steigt und die Armut in Deutschland zunimmt, dieses Maßnahmenbündel jetzt umgesetzt werden muss. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Armutsbericht der Bundesregierung eingehen. Dem Armutsbericht der Bundesregierung können Sie entnehmen, ({14}) dass während Ihrer Regierungszeit, in den vergangenen sechs Jahren, bedingt durch steigende Arbeitslosigkeit die Armut von über 2 Millionen Menschen in Deutschland zugenommen hat. Das müsste ein Ansporn für Sie bei der Bekämpfung der Armut in Deutschland sein. ({15}) Sie müssten zu Reformprozessen bereit sein, zu denen Sie bisher nicht bereit waren. Helfen Sie den Menschen, wieder in Arbeit zu kommen! Bekämpfen Sie wirksam Arbeitslosigkeit und Armut in Deutschland! Herzlichen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/ Die Grünen. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wegen der Kürze der Redezeit möchte ich nur einige Anmerkungen machen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben heute hier einen Antrag vorgelegt, ein Zehnpunkteprogramm, einen „Pakt für Deutschland“. Ich verstehe es ungeheuer gut, dass Ihre Fraktions- und Parteivorsitzende hier kein einziges Wort über diesen Antrag verloren hat. ({0}) Warum hat sie darüber kein Wort verloren, meine Damen und Herren? Sie hat es nicht getan, weil in diesen zehn Punkten, die Sie vorschlagen, nichts, aber auch gar nichts enthalten ist, was tatsächlich die Beschäftigungssituation in Deutschland verbessern würde. ({1}) Es gibt einen einzigen Punkt in Ihrem Vorschlag, über den zu diskutieren wirklich interessant wäre, nämlich die Senkung der Lohnnebenkosten. Das ist das richtige Ziel und die richtige Forderung. Nur ist das, mit Verlaub, Frau Merkel und Herr Pofalla, ein leeres Versprechen; denn Sie schlagen eine Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte vor, ohne einen Vorschlag für die Gegenfinanzierung zu machen. ({2}) Das ist typisch für die Union. Es ist typisch für Sie, sich nach eigenen Forderungen vor der Verantwortung zu drücken. ({3}) Denn was bedeutet das, 11 Milliarden? Das ist entweder ein wirklich gigantisches Verschuldungsprogramm - und dann wagen Sie es, bei einem anderen Tagesordnungspunkt die Einhaltung der Maastricht-Kriterien einzufordern - oder aber eines der größten Programme, das wir in Deutschland je gesehen haben, mit dem Menschen, die arbeitslos waren und zum Beispiel über Existenzhilfen jetzt Arbeit gefunden haben, oder Menschen, die arbeitslos sind und heute in Qualifizierungsmaßnahmen sind, Hilfestellungen angeboten werden. Der Vorschlag, diese Maßnahmen zu streichen, ist gigantisch. Es betrifft Hunderttausende, die heute Hilfestellung bekommen - aus der Arbeitslosenversicherung, in die sie selber eingezahlt haben. Diese Menschen, Herr Pofalla, haben ein Recht auf Unterstützung, auf Hilfestellung dabei, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Ich finde es angesichts 5,2 Millionen Arbeitsloser zynisch, eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung vorzuschlagen, um angeblich 150 000 Arbeitsplätze zu sichern bzw. zu schaffen. Denn damit müssten gleichzeitig Hunderttausenden, die am Rande ihrer Existenz außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, die Maßnahmen gestrichen werden. ({4}) Jugendliche verlassen heute die Schule und wollen auf den Arbeitsmarkt, Jugendliche, die von unseren Schulen - und das ist Ländersache, darauf möchte ich hier auch einmal hinweisen - zum größten Teil mit Schulabschlüssen entlassen werden, die ihnen nicht helfen, sodass sie nachqualifiziert werden müssen. Wir müssen uns um diese Jugendlichen kümmern. Es hilft nichts, Herr Hinsken, dass Sie darauf verweisen, das sei nicht die Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit; das ist noch kein Finanzierungsvorschlag. ({5}) Wir haben mit Hartz IV den Kommunen und den Arbeitsagenturen vor Ort die Instrumente und die Mittel zur Verfügung gestellt, sich um diese Jugendlichen zu kümmern. Wir wollen, dass das gemacht wird, und wir wehren uns dagegen, Herr Pofalla, dass Sie hier Finanzierungsvorschläge machen, die genau diese Hilfestellung für die Jugendlichen unmöglich machen. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen, Frau Merkel.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das muss jetzt aber wirklich sehr knapp sein.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ganz knapp, ich komme zum Schluss. - Natürlich müssen wir über weitere Maßnahmen reden; das ist völlig klar. Aber dann reden Sie doch bitte schön auch darüber, welche Hilfestellungen Sie verhindert haben. Ich meine beispielsweise den Zuverdienst. Was Sie dazu im Vermittlungsausschuss durchgesetzt haben, ist ein Skandal. Und dann machen Sie sich hier einen schlanken Fuß und sprechen es hier nie an. Natürlich brauchen wir bessere Zuverdienstmöglichkeiten. Ich hoffe, Sie stellen sich der Realität und zeigen mehr Ehrlichkeit; dann kann man über Ihre Vorschläge reden. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 5 Millionen Frauen und Männer sind arbeitslos. Betroffen sind davon noch viel mehr: Kinder wachsen arm auf, Erwachsene werden entwertet, Ältere abgeschrieben. Das ist Alltag in einem der reichsten Länder der Welt, erlebbar in Ost und West. Das darf man nicht länger aussitzen, mahnt die CDU-Vorsitzende, Frau Merkel. So weit stimmt die PDS im Bundestag mit der CDU sogar überein: Das darf man wirklich nicht länger aussitzen. Wir brauchen tief greifende Reformen in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, bei den Sozialsystemen, bei Abgaben und Steuern. Die meisten Bürgerinnen und Bürger sehen das übrigens ebenso. Sie wundern und ärgern sich nur, dass es ihnen nach jeder dieser Reformen schlechter geht. Damit komme ich zur CDU/ CSU zurück: Ob man sich bewegt, ist das eine - wohin man sich bewegt, das ist das Entscheidende. ({0}) Da sage ich mit Blick auf Ihren „Pakt für Deutschland“: Die Richtung ist falsch, und wer in die falsche Richtung rast, der wird zum Geisterfahrer und damit zu einer Gefahr für die Allgemeinheit. ({1}) Wir brauchen keinen „Pakt für Deutschland“, jedenfalls keinen, wie ihn CDU und CSU vorschlagen: Alle Elemente, die Sie vorschlagen, wurden bereits getestet und haben in der Praxis versagt. Was wir brauchen, ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, ein Gesellschaftsvertrag, der unter neuen Bedingungen trägt: sozial, solidarisch und aktiv. Schauen Sie sich doch die Belege und Zahlen an: Unser Land ist nicht arm - es ist sogar reich. Arm sind allerdings wachsende Teile der Bevölkerung, und das ist ein zunehmender Widerspruch. Unser Land ist auch nicht schwach wir sind Exportweltmeister. Schwach ist allerdings der Binnenmarkt; das ist der zweite Widerspruch. Und unser Land ist auch nicht krank - es ist agil und dynamisch. Schwach sind allerdings die Sozialsysteme; das ist der dritte Widerspruch. Auf all diese tatsächlich vorhandenen Widersprüche geben Sie mit Ihrem „Pakt für Deutschland“ keine Antworten. Im Gegenteil: Sie verschärfen sie noch. ({2}) Wir, die PDS im Bundestag, wollen etwas anderes. Wir wollen den Sozialstaat und den Solidargedanken auf neue Füße stellen, auf Füße, die dem 21. Jahrhundert gemäß sind. Das ist der Sinn eines neuen Gesellschaftsvertrages und deshalb werben wir für eine Agenda Sozial. Es ist richtig: Jede Zeit birgt Chancen und Risiken. Das ist ein Allgemeinplatz, der auch heute hier mehrfach wiederholt wurde. Konkret wird es, wenn wir nach der Verteilung der Chancen und Risiken in der Gesellschaft fragen. Da zeigt sich der Unterschied: Sie wollen die Chancen privatisieren und die Risiken vergesellschaften. Deshalb verteilen Sie Steuergeschenke an die Wohlhabenden und Soziallasten weiterhin an die Armen. Wir halten es da viel mehr mit der Bibel als die Christlich Soziale Union, wir stehen nämlich zu dem Solidargebot, einer trage des anderen Last. ({3}) Auch deshalb sind wir für einen neuen Gesellschaftsvertrag und gegen einen Pakt für Deutschland. Der Pakt für Deutschland von CDU/CSU ist ein Zehnpunkteplan. Wir kennen ihn alle. Wir haben ihn im Bundestag schon einmal debattiert und aus guten Gründen mehrheitlich abgelehnt. Neu ist lediglich, dass Sie diesen Pakt für Deutschland öffentlichkeitswirksam als Werbebrief an das Bundeskanzleramt schicken. Frau Merkel, ich habe zwei Vermutungen, weshalb Sie das tun: erstens, weil in Nordrhein-Westfalen gewählt wird und die CDU dringend Werbung braucht, und zweitens, weil Sie vielleicht einen Nebenjob bei der Post AG haben. ({4}) Nun haben Bundeskanzler Schröder und später auch die SPD und die Grünen signalisiert, sie seien gesprächsbereit. In der nächsten Woche wird es ein Gipfeltreffen geben. Ich finde das gar nicht so widersprüchlich, wie manche das in der öffentlichen Kommentierung zum Ausdruck gebracht haben; denn mit dem Pakt für Deutschland widerspricht die CDU/CSU der Agenda 2010 des Kanzlers nicht. Im Gegenteil: Die Agenda wird durch den Pakt nur ergänzt. ({5}) Mit der Agenda, insbesondere mit Hartz IV, wurden die Arbeitslosen zur Kasse gebeten und den Pakt für Deutschland werden jene bezahlen, die im Moment noch Arbeit haben. Die Wirkung der beiden Konzepte ist allerdings dieselbe: Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer, der Sozialstaat verarmt weiter und der Binnenmarkt lahmt. Deshalb wiederhole ich: Das sind keine Reformen, das sind Teufelskreise. Diese müssen aktiv durchbrochen werden. Dazu brauchen wir ein klares gesellschaftliches Leitbild und verlässliche Vereinbarungen. Deshalb plädiere ich für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Er ist nicht aus dem Ärmel zu schütteln, wenn sich aber Vernünftige von Links, der Mitte und anderswo zusammentun, dann wird es sich schon lohnen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der Ölpreiskrise im Jahre 1974 gab es in Deutschland auch eine Auseinandersetzung um Wirtschaft und Beschäftigung. Franz Josef Strauß hat seinen CSU-Freunden damals den Rat gegeben, sich nicht mit den nüchternen Fragen - all das verursache nicht die Wahlergebnisse von Morgen -, sondern mit der Emotionalisierung der Bevölkerung, nämlich der Furcht, der Angst und dem düsteren Zukunftsbild sowohl innen- als auch außenpolitischer Art, zu befassen. ({0}) Er hat Ihnen dann auch gesagt, dass Sie die Auseinandersetzung nur im Grundsätzlichen führen sollen. Zur Taktik sagte er, man müsse nur anklagen und warten, aber man dürfe keine konkreten Rezepte nennen. Das ist das Sonthofener Programm der Opposition. ({1}) Deshalb hat Michael Glos als alter Straußschüler ({2}) außer Stänkereien nichts von sich gegeben. ({3}) Ihr Wahlprogramm und Ihren Pakt für Deutschland hat er verschwiegen. Das, was Sie als Drucksache vorgelegt haben, ist nur ein Aufguss. Sie wissen genau: Wenn die Menschen erfahren, was Ihr Paket enthält, dann werden sie die Annahme verweigern. ({4}) Nein, Sie wollen desinformieren und stehen mit der Wahrhaftigkeit auf Kriegsfuß. Wer sich hier hinstellt und erklärt, wir hätten heute die höchste Arbeitslosigkeit in der deutschen Nachkriegsgeschichte, der kennt die Zahlen von 1996, 1997 und 1998 nicht. ({5}) Ich gebe Ihnen die Quelle. Lassen Sie sich vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Berechnungen der stillen Reserve geben. Frau Merkel, ich gebe zu, dass man Ihnen das vielleicht nicht gesagt hat, sodass Sie mit diesem Eindruck vordergründig arbeiten können. ({6}) Wenn Sie aber jetzt, da Sie die Quelle kennen, trotzdem weiterhin die Unwahrheit sagen, werde ich Sie der Lüge bezichtigen. ({7}) Die Wahrheit ist: Wenn wir 1997 und 1998 so gezählt hätten wie heute, dann hätten die Zahlen weit über denen von heute gelegen. Ich erinnere auch an die WahlkampfABM von 1998, mit denen bis zum 31. Oktober - danach war Schluss - über 800 000 Menschen beschäftigt wurden. Wer jetzt nur anklagt, der heuchelt. ({8}) Sie wollen im Trüben fischen. Sie wollen nach Strauß ein Krisenbewusstsein schaffen. Ich sage Ihnen: Wenn wir der CDU/CSU gefolgt wären und die Hartz-IV-Reformen erst zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft gesetzt hätten, hätte heute keiner Anlass, die Menschen in Furcht und Angst zu versetzen. Vielmehr würden wir über saisonale Arbeitslosigkeit reden. Sie sollen den Menschen nicht Angst, sondern Mut machen, meine Damen und Herren! ({9}) Kehren Sie zur Wahrhaftigkeit zurück! Wir waren diejenigen, die zusammen mit Ihnen die Größe der Aufgabe statistisch ans Tageslicht geholt haben. Wir werden uns jetzt an dieser Aufgabe abarbeiten. Es gibt keinen Grund, der Bevölkerung den Mut zu nehmen. ({10}) - Die FDP darf nicht einmal mehr mitreden. Herr Westerwelle, wozu sind Sie eigentlich da? ({11}) Herr Westerwelle, nicht einmal die CDU/CSU nimmt Sie mit ins Boot. Frau Merkel hat so ihre Probleme mit den Männern: Seehofer weg, Schäuble weg, Meyer weg und jetzt auch Westerwelle weg. Auch er darf nicht. Meine Güte, sagen Sie mir, wo die Männer geblieben sind! ({12}) - Es ist klar, dass wieder die rheinischen Knaben rufen. Das hat auch mit Herrn Stoiber zu tun. ({13}) Wir haben uns mit Ihrem so genannten Pakt auseinander zu setzen, den Sie sich kaum vorzutragen trauen. Sie wollen schließlich nur allgemein Stimmung machen. Wir weisen darauf hin - ich will nicht alles wiederholen -, dass Sie zum Beispiel den betrieblichen Gesundheitsschutz schleifen und damit die Kosten der Berufsgenossenschaft für die Gesundheit erhöhen wollen. Ihr Versuch, den betrieblichen Gesundheitsschutz abzuschaffen, den Jugendarbeitsschutz zu schleifen und die Tagesarbeitszeit bis auf 14 Stunden zu erhöhen, treibt die Lohnnebenkosten in die Höhe, statt sie zu senken. ({14}) Wer wie Sie in diesen Zeiten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Kraft der Betriebsräte und der Gewerkschaften nehmen will, der macht in Zeiten des Wandels die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Freiwild. Die brauchen starke Gewerkschaften und starke Betriebsräte, damit sie sich behaupten können. ({15}) Kein Wort von Ihnen zu den DAX-Unternehmen, die fette Gewinne einstreichen, Investitionen kürzen und Entlassungen ankündigen. Früher hieß es, die Gewinne von heute sind die Arbeitsplätze von morgen. Dann schreiben Sie Herrn Ackermann hinter die Ohren, dass die Arbeitsplätze von morgen auch geschaffen werden und nicht eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent auf Kosten der Menschen als Beute eingesteckt wird. ({16}) Das gilt für alle DAX-Unternehmen. Soziale Marktwirtschaft heißt: Eigentum verpflichtet. Es soll dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Wer glaubt, Unternehmen seien nur Geldvermehrungsmaschinen für die Eigentümer, der versündigt sich an unserer gesellschaftlichen Ordnung. Da wäre Ihr Einsatz gefragt, meine Damen und Herren von der Opposition. ({17}) Wer wie Herr Ackermann eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent will, der verabschiedet sich von der Mittelstandsförderung. 1 Million Mittelständler würden gerne investieren, wenn die Banken nicht mehr Angst als Vaterlands- und Arbeitsplatzliebe hätten. So schaut die Realität aus. Wo kämpfen Sie, meine Damen und Herren? Wo bleiben Sie? ({18}) Sie nicken hier höflich. Wer von Ihnen setzt sich mit den Banken auseinander? Die Mittelständler brauchen Hilfe, nicht allgemeine Sprüche über Lohnnebenkosten und anderes. ({19}) Zum Stichwort Lohnnebenkosten ist zu sagen, dass Frau Merkel und auch Herr Pofalla unter die Voodooökonomen gegangen sind. ({20}) Es gibt eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. ({21}) Es hat festgestellt, dass Ihre falsche Finanzierung der deutschen Einheit die Lohnnebenkosten auf diese Höhe getrieben hat. Das waren Sie von Schwarz und BlauGelb. ({22}) In dem Zusammenhang hat das Institut gesagt, 150 000 Arbeitsplätze seien pro Beitragspunkt verloren gegangen. Wer glaubt, 1 Prozentpunkt weniger würde zu einer Beschäftigungsexplosion führen, der muss einen festen Irrglauben haben. ({23}) Das Gegenteil ist der Fall, Herr Pofalla. Wir brauchen das Geld für die Bundesagentur für Arbeit, ({24}) damit wir uns um die Jugendlichen kümmern können, die uns die Kultusminister als nicht Ausbildungsfähige vor die Tür stellen. ({25}) Den Kultusministern wäre eine Aussteuerungsabgabe aufzuerlegen. Von den Jugendlichen haben 10 Prozent eines Jahrgangs keine Ausbildung. Die müssen wir finanzieren. Deshalb braucht die Bundesagentur für Arbeit das Geld. Ihre Forderungen würden den Tod für viele dieser Maßnahmen bedeuten und den Menschen den Eintritt in den Arbeitsmarkt verwehren. ({26}) Sie wollen eine Sanierung auf Kosten des Bundeshaushalts. Sie sind entweder abgefeimt oder schizophren. ({27}) Einerseits sagen Sie, der Haushalt sei unsolide und könne keine Schulden mehr vertragen, auf der anderen Seite sagen Sie, Eichel solle schlankweg 6 Milliarden Euro lockermachen. So geht es nicht. Sie müssen sich schon einigen, wohin Sie wollen. Wenn Sie mit uns etwas erreichen wollen, dann kämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass wir Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit durchsetzen. Gehen Sie auf die Arbeitsgemeinschaften vor Ort zu! Machen Sie Ihren Kommunalpolitikern Beine! Die sind jetzt mitverantwortlich. Die müssen endlich etwas tun, um mit den Milliarden, die wir zur Verfügung gestellt haben, die beschlossenen Maßnahmen umzusetzen. ({28}) Sie wollten doch die Beteiligung der Kommunen. Wenn der Mund gespitzt wird, dann muss auch gepfiffen werden. Es ist ein Skandal, dass 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung stehen und nur ein Bruchteil dessen abgerufen und in Maßnahmen umgesetzt worden ist. Ran an die Arbeit, statt hier so komische Anträge zu stellen, die die Arbeitnehmer zum Freiwild machen würden! ({29}) Meine Damen und Herren, wer sich mit Ihren Vorschlägen auseinander setzt, weiß, warum Sie so wenig konkret werden. Sie wollen nur Schau, Sie wollen nur anklagen, Sie wollen nur auf einer Wahlkampfwelle reiten und nicht einmal Ihren potenziellen Koalitionspartner lassen Sie mitreiten. Der arme Kerl ist vom Pferd gefallen. ({30}) Frau Merkel, Sie sollten ihm wenigstens den Verbandskasten geben und ein Gespräch ermöglichen, damit er Ihnen vorher sagen kann, welche Sorgen er denn hat. Ohne Westerwelle - das muss ich Ihnen schon sagen wäre dieses geplante Gespräch sehr arm. ({31}) Also: Lassen Sie uns die Arbeit tun, die jetzt ansteht, nämlich das Instrumentarium der Agentur für Arbeit nutzen! Lassen Sie uns dafür kämpfen, dass der Mittelstand die Kredite für die Finanzierung bekommt! Lassen Sie uns den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesen Zeiten des Wandels starke Gewerkschaften sowie starke Betriebsrätinnen und Betriebsräte an die Seite stellen! Vielen Dank. ({32})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/4986 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Pakt für Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4831 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen. ({0}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schuss für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/4985 zum Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Wider die Vertrauenskrise - Für eine konsistente und konstante Wirtschaftspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert den Antrag auf Drucksache 15/1589 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 4. Es wird interfrak- tionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5019 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f sowie den Zusatzpunkt 5 auf: 22 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften ({1}) - Drucksache 15/5002 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG ({3}) - Drucksache 15/4999 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Daniel Bahr ({5}), Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Nachhaltige Entwicklung im demographischen Wandel fördern - Potenziale des Alters nutzen - Drucksache 15/3538 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Implementierung eines wirksamen TsunamiFrühwarnsystems für den Indischen Ozean unter Einbeziehung des deutschen Forschungsnetzwerkes - Drucksache 15/4854 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes - Drucksache 15/4115 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für ein modernes Berufsbeamtentum - Drucksache 15/4560 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Karl Addicks, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik - Verantwortungsvolle Regelungen und Maßnahmen treffen - Drucksache 15/5034 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 23 a bis 23 c. Es handelt sich um die Beschlussbefassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 a auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Öko-Landbaugesetzes - Drucksache 15/4735 ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) - Drucksache 15/4951 Berichterstattung: Abgeordnete Gustav Herzog Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Marlene Mortler Friedrich Ostendorff Dr. Christel Happach-Kasan Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4951, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 23 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 190 zu Petitionen - Drucksache 15/4940 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 190 ist mit auskömmlicher Mehrheit beschlossen. Tagesordnungspunkt 23 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 191 zu Petitionen - Drucksache 15/4941 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Sammelübersicht 191 ist einstimmig angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zu den durch Überschüsse möglichen Beitragssenkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung Zunächst erteile ich für die Bundesregierung das Wort der Bundesministerin Ulla Schmidt. ({15})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer lange Zeit Verantwortung im deutschen Gesundheitswesen trägt, der ist einiges gewohnt und wundert sich daher so schnell nicht mehr. Gestatten Sie mir dennoch, dass ich meiner Verwunderung über das Ausdruck gebe, was sich in den letzten zwei Wochen im Gesundheitswesen abgespielt hat. ({0}) Ich darf vorab sagen, dass ich mich über das vorläufige Schätzergebnis der Jahresrechnung 2004 gefreut habe. Die Krankenkassen haben einen Überschuss in Höhe von 4,022 Milliarden Euro erwirtschaftet. Das ist ein Grund zur Freude; denn das zeigt, dass es uns mit den Reformmaßnahmen, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, gelungen ist, das bestehende System zu reformieren und die Krankenkassen wieder auf gesunde Füße zu stellen. ({1}) Die erwirtschafteten Überschüsse entsprechen mit einem Volumen in Höhe von insgesamt 9 bis 10 Milliarden Euro exakt dem, was von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund der im letzten Jahr auf den Weg gebrachten Neuerungen - Einsparungen, Umfinanzierungen und Ausschluss von Leistungen - berechnet und prognostiziert worden ist. Was uns etwas Wasser in den Wein gegossen hat, ist die schlechte Einkommensentwicklung. Sie war nicht so, wie sie von den Wirtschaftsinstituten prognostiziert wurde. Deshalb konnten insgesamt Beitragssatzsenkungen nicht in dem Umfang vorgenommen werden, wie wir es alle gewünscht hätten und berechnet hatten. Wenn ich mir aber anschaue, wie sich die Kassen nun verhalten, nachdem das Finanzergebnis für das Jahr 2004 vorliegt, komme ich zu dem Schluss, dass hier ein Umdenkungsprozess stattfinden muss. Seit über einem Jahr vernehmen wir von den Kassen Monat für Monat, dass die erwirtschafteten Überschüsse vielleicht doch nicht so hoch sind, wie sie sein sollten, dass es im nächsten Monat vielleicht nicht mehr so sein wird, wie es im vergangenen Monat war, und dass die Einsparungen im nächsten Quartal vielleicht nicht so hoch sein werden wie im vorangegangenen Quartal. So ging es nicht nur im ersten und zweiten, sondern auch im dritten und vierten Quartal. Nun liegen die Fakten und der Jahresabschlussbericht 2004 vor. Danach sind über 4 Milliarden Euro Überschüsse erwirtschaftet worden. Laut Gesetz sollen die Krankenkassen ein Viertel ihrer Schulden abbauen und den Rest in Form von Beitragssatzsenkungen an ihre Versicherten weitergeben. Ich glaube, dass es unser gemeinsames Anliegen sein muss, heute deutlich zu machen, dass wir erwarten, dass die Versicherten entlastet werden. ({2}) Im vergangenen Jahr, das vor allen Dingen der Finanzkonsolidierung der Kassen gedient hat und in dem das, was wir an Strukturveränderungen beschlossen haben, erst beginnen konnte zu wirken, haben vor allen Dingen die Versicherten durch höhere Zuzahlungen, die Praxisgebühr und auch einen Ausschluss von Leistungen dazu beigetragen, dass dieses Ergebnis erzielt wurde. ({3}) Die Versicherten haben einen Anspruch darauf, dass sie auf der anderen Seite durch Beitragssatzsenkungen entlastet werden. Wir werden alles tun, um hier unseren Druck aufrechtzuerhalten. ({4}) Die gesetzlichen Krankenkassen und auch die Selbstverwaltung - Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Mitverantwortung tragen für die Organisation der Krankenkassen, für ihre Aufgaben, aber auch für die Entscheidung, ob es Beitragssatzsenkungen gibt und wie der Schuldenabbau erfolgt - verkennen, dass sie mit ihrem öffentlichen Handeln seit Monaten den großen Vertrauensvorschuss der Versicherten und das Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung verspielen. Man darf nicht vergessen - das werden viele, die an den Diskussionen im letzten Jahr beteiligt waren, wissen -, dass die Menschen die Veränderungen - wenn auch nicht zu bejubeln, aber doch - zu akzeptieren beginnen, dass viele einsehen, dass wir Veränderungen brauchten, weil eine kranke Krankenversicherung keinem kranken Menschen nutzt, der darauf vertrauen muss, dass die Krankenkassen in der Lage sind, seine Behandlung zu finanzieren. Es nützt auch niemandem, wenn sich Krankenkassen immer weiter verschulden und nachher immer mehr Beiträge gezahlt werden müssen, damit die Schulden abgebaut werden können. Die Menschen beginnen dies zu akzeptieren. Wer in dieser Situation nicht das an die Versicherten zurückgibt, was ihnen zusteht, der gefährdet den Weg, den wir gehen und auf dem die Versicherten durch mehr Bewusstsein für ihre Eigenverantwortung im Gesundheitswesen dazu beitragen wollen, dass auf Dauer eine gute und gesunde Gesundheitsversorgung finanziert und organisiert werden kann. ({5}) Hinzu kommen die Veröffentlichungen darüber, dass man in manchen Krankenkassen bei der Anhebung der Vorstandsbezüge nicht so zögerlich gewesen ist wie bei den Beitragssatzsenkungen. Ich habe nichts dagegen, dass Vorstände von Krankenkassen gut bezahlt werden, wenn sie gute Arbeit leisten, ({6}) wenn sie die Krankenkassen so organisieren, dass die Versicherten im Mittelpunkt der Versorgung stehen, wenn sie mit den Krankenhäusern, mit den Ärzten und anderen Leistungserbringern gute Verträge aushandeln und wenn sie dafür sorgen, dass jeder Euro in diesem System genau dahin kommt, wo er den kranken Menschen nutzt, und alles, was überflüssig oder von schlechter Qualität ist, im Gesundheitswesen auf Dauer vermieden wird. Nur so bleibt es bezahlbar. ({7}) Es geht aber nicht, in Zeiten, in denen auf der einen Seite eine hohe Verschuldung abzubauen ist und in denen gezögert wird, den Versicherten durch Beitragssatzsenkungen das zurückzugeben, was sie an Eigenleistungen und Zuzahlungen erbracht haben, auf der anderen Seite die Vorstandsgehälter zu erhöhen, wie es in einzelnen Krankenkassen geschehen ist. Da müssen wir ganz klar sagen: So etwas geht nicht. Das kann nicht sein. ({8}) Ich halte es auch für wirklich schändlich, wenn man argumentiert, dass jemand drei Vorstandsgehälter brauche, weil er insgesamt drei Kassen vorstehe, die insgesamt 221 000 Mitglieder betreuen. Wir müssen darüber reden, was gemacht werden kann. Ich hoffe, die Selbstverwaltung löst diese Probleme, wie es ihre Aufgabe ist. Wenn das nicht geschieht, müssen wir darüber nachdenken, ob man gesetzlich andere Wege gehen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Beitragssatzsenkungen sind notwendig. Sie müssen jetzt auf den Weg gebracht werden. Jetzt sind die Krankenkassen in der Pflicht, die Strukturveränderungen auf den Weg zu bringen, die wir mit der Reform ermöglicht haben. ({9}) Auf der einen Seite die Versicherten mit Zuzahlungen zu belasten, auf der anderen Seite aber in den Fragen der Hausarztmodelle, der integrierten Versorgung, der besseren Versorgung über Chronikerprogramme, einer besseren Organisation der Zusammenarbeit und auch einer besseren Struktur der Arzneimittelversorgung - damit jeder das bekommt, was er braucht, aber zu wirtschaftlichen Bedingungen - zögerlich zu handeln und immer zu fordern, da solle der Staat die nächsten Gesetze verabschieden, das geht nicht. Managergehälter erfordern Managerqualitäten. Dann wird auch niemand darüber reden, was eigentlich verdient wird; vielmehr wird man dann sagen: Das hat sich so gelohnt. ({10}) Ich sage zum Schluss: Lassen Sie uns gemeinsam daran weiterarbeiten, dass wir hier nach vorne kommen! Die Reform hat gezeigt, dass wir in der Lage sind, das bestehende System wieder auf eine gesunde finanzielle Basis zu stellen. Wir erwarten jetzt aber, dass die Akteure, die vom Gesetzgeber die Möglichkeiten bekommen haben, die Sache in die Hand nehmen und nach vorne gehen. Ich erwarte, dass die Arbeitgeber nicht länger sagen: Das ist alles zu wenig, wir wollen weniger Beiträge zahlen. ({11}) Ich erwarte, dass die Arbeitnehmerseite nicht immer sagt: Wir belasten die Versicherten zu viel, wir wollen niedrigere Beiträge. Ich erwarte, dass die Beteiligten da, wo sie entscheiden und wo sie handeln können, dies auch tun. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit zwei Feststellungen beginnen: Erstens. Die positive Entwicklung der Finanzlage in der gesetzlichen Krankenversicherung ist erfreulich. Das heißt, das vorgesehene Einsparvolumen wird durch die gemeinsame Reform erreicht. Zweitens. Den entscheidenden Beitrag zu diesem Erfolg haben aber fast ausschließlich die Versicherten, die Patienten und ganz besonders die Rentner durch die erhöhten Beiträge geleistet. ({0}) Das müssen wir bei aller Diskussion mit bedenken. Nachdem die Patienten und Versicherten ihren Anteil beigetragen haben, sind jetzt die Kassen gefordert - wir fordern sie dazu auch auf -, ihrer Verantwortung endlich gerecht zu werden und die Beiträge zu senken. ({1}) Die Beiträge müssen schon von Gesetzes wegen gesenkt werden. Jeder, der das Gesetz genau kennt, braucht nur in § 220 SGB V nachzuschauen. Da heißt es, dass sich der Großteil der durch das GMG erzielten Entlastungen voll auf die Höhe der Beitragssätze auswirken muss und nicht für Rücklagen oder für Schuldenabbau verwendet werden darf. Dabei handelt es sich im Einzelnen um die Leistungseinschränkungen bei Sterilisation, künstlicher Befruchtung, Sehhilfen, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, ferner um die Entlastungen durch Streichung des Sterbegeldes und des Entbindungsgeldes sowie durch die versicherungsfremden Leistungen, die steuerfinanziert werden. Die übrigen Einsparungen, die durch Einnahmeverbesserungen oder durch Ausgabenminderungen erzielt wurden, müssen - auch dies steht so im Gesetz - mindestens zur Hälfte zur Senkung der Beitragssätze verwendet werden. In der Begründung heißt es, der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass die Aufsichtsbehörden die Einhaltung dieser Vorschrift besonders sorgfältig überwachen würden. Das ist offenbar nicht der Fall. Dass die Beiträge trotz der Überschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht in ausreichendem Maße gesenkt werden, ist aus meiner Sicht auf ein dreifaches Versagen von Bundesregierung, Aufsichtsbehörden und Krankenkassenvorständen zurückzuführen. Noch während der Konsensverhandlungen im Sommer 2003 ist uns seitens der Bundesregierung eine Verschuldung der Krankenkassen in Höhe von rund 4 Milliarden Euro mitgeteilt worden. Heute wissen wir, dass die Verschuldung bei 8 Milliarden Euro oder sogar noch höher lag. ({2}) Dazu hätte es niemals kommen dürfen. Die Ursachen liegen zum einen in der, wie ich meine, nach wie vor falschen Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung, gekoppelt mit ständig zu optimistischen Prognosen bei Berechnungen. ({3}) Es handelt sich zum anderen aber auch um ein Versagen vieler Krankenkassenvorstände, die im Wettbewerb mit günstigen Beitragssätzen glänzen wollten oder eventuell auch vor den Bundestagswahlen keine Beiträge erhöhen wollten und deshalb lieber Schulden angehäuft haben. Letztendlich handelt es sich auch um ein Versagen der zuständigen Aufsichtsbehörden, ({4}) die dieses rechtswidrige Verhalten vieler Krankenkassen entweder nicht bemerkt oder nicht geahndet haben. ({5}) Dadurch ist ein gewaltiger Schaden für das Ansehen und die Vertrauenswürdigkeit der Krankenkassen eingetreten. ({6}) Wenn sich jetzt Krankenkassenvorstände für diese so genannte Meisterleistung eine saftige Gehaltserhöhung genehmigen, dann ist diese - das sage ich ganz klar - aus meiner Sicht erstens unverdient, zweitens unverständlich und drittens sogar auch unmoralisch. ({7}) Ich appelliere deshalb an die Verwaltungsräte der Krankenkassen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten sind - auch diese müssen ihrer Aufsichtspflicht endlich nachkommen -, und die Aufsichtsbehörden, diese Maßnahmen noch einmal zu überprüfen. Überlegen Sie sich einmal: Wie will ein Kassenvorstand in Gesprächen mit Leistungserbringern Honorarsteigerungen so weit wie möglich verhindern und gegenüber den Versicherten Leistungseinschränkungen vertreten, wenn er sich gleichzeitig sein Gehalt deutlich erhöht? Das passt einfach nicht zusammen. Das ist ein falsches Signal und zerstört Vertrauen. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf, alles zu tun, damit die gesetzlichen Auflagen und Vorgaben für eine Beitragssatzsenkung beachtet werden. Man sollte auch die Länder an ihre Aufsichtspflicht erinnern. Auch sie müssen ihrer Aufsichtspflicht nachkommen. Da die Regierung in letzter Zeit häufig mit den Ländern gemeinsam Gesetzentwürfe gestaltet, sollten beide entsprechende Gesprächsrunden vielleicht auch dazu nutzen, um gemeinsam dafür zu sorgen, dass sich die Aufsichtsbehörden bewegen. ({9}) Mein letzter Satz: Wenn dies nicht geschieht, steht die Akzeptanz von Reformmaßnahmen bei den Versicherten auf dem Spiel. Dies wäre dann auch ein Schaden für den Standort Deutschland. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen.

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe das GKV-Modernisierungsgesetz damals mitverhandelt. Wie schon gesagt wurde: Wir haben bei dieser Reform den Menschen verdammt viel zugemutet. ({0}) - Das spielt keine Rolle; ich habe da gerne mitgemacht und lasse mich dafür auch gerne in die Verantwortung nehmen. - All diese Zumutungen geschahen vor dem Hintergrund, dass die Lohnnebenkosten nicht steigen sollten und dass dadurch wieder neue Arbeitsplätze entstehen. Wir haben den Menschen immer gesagt, auch sie hätten etwas davon, weil von niedrigen Kassenbeiträgen nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch sie als Arbeitnehmer etwas hätten. ({1}) Den größten Posten bei den Lohnnebenkosten, die in den letzten Jahren von 30 Prozent auf über 45 Prozent gestiegen sind, machen nämlich die Sozialabgaben aus. Wir hatten es den Menschen versprochen, dass, wenn wir den Krankenkassen zu mehr Einnahmen verhelfen, die Beiträge entsprechend sinken können. Jetzt komme ich mir irgendwie verlogen vor, aber nicht, weil ich etwas Falsches versprochen hätte, auch nicht, weil wir politisch falsch entschieden hätten; denn das, was wir politisch zusammen beschlossen haben, außer mit den Kolleginnen und Kollegen von der FDP natürlich, wirkt. ({2}) Die Einnahmen der Krankenkassen sind gestiegen. Bei den Verhandlungen wussten wir natürlich auch, dass es Schulden gibt. Wir haben den Krankenkassen deshalb gesagt, dass wir es akzeptieren, wenn ein Teil der Überschüsse in die Schuldentilgung fließt. Jetzt ist aber die Arbeitslosigkeit auf einem Niveau, wie wir es uns niemals gewünscht hätten, und die Einnahmen sind nicht so hoch, wie wir sie uns gewünscht haben. Wenn ich diese Zusammenhänge den Menschen erkläre, verstehen sie sie ja auch. Was ich aber gar nicht verstehe und was mich tierisch wütend macht, ist, dass sich einige Vorstände der Kassen Lohnsteigerungen bis zu 20 Prozent genehmigt haben. In Baden-Württemberg haben sich die Vorstände der dortigen AOK - ich nenne sie jetzt einfach einmal beim Namen -, die hoch verschuldet ist, sogar eine Gehaltserhöhung von 24 Prozent genehmigt. Ich finde so etwas unglaublich. ({3}) Doch hierfür haben nicht wir in der Politik die Weichen gestellt - Herr Zöller hat es vollkommen richtig gesagt -, sondern dies haben die Verwaltungsräte der Kassen entschieden. ({4}) In diesen sitzen sowohl Vertreter der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber. In einem Flyer zur zehnten Sozialwahl einer Kasse hieß es - ich darf hier zitieren -: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Dort wird herausgestellt, dass in ihrem Verwaltungsrat demokratische Mitglieder der Solidargemeinschaft säßen, die Ausdruck unserer Gesellschaft seien und aktiv die Interessen der Bürgerinnen und Bürger verträten. Es heißt dort weiterhin: Wir haben die neuen Chancen des GKV-Modernisierungsgesetzes unverzüglich genutzt. -: Jetzt frage ich mich nur: Wo? -: Sie fordern von uns deshalb: So viel Selbstverwaltung wie möglich, so viel Staat wie nötig. Ich habe kein Interesse daran, alles immer staatlich zu regeln, ({5}) und fordere deshalb die Selbstverwaltungspartner, auch dieser Kasse, auf, endlich das zu tun, was sie mit uns zusammen verhandelt und was sie versprochen haben: Senken Sie die Beiträge für die Bürgerinnen und Bürger! Danke. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDPFraktion.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Blauer Himmel über Berlin - ungetrübter Sonnenschein auch über unserem Gesundheitswesen? ({0}) Und, wenn denn schon, zu welchem Preis? Die fiskalischen Erfolge wurden zum großen Teil auf dem Rücken der Versicherten erwirtschaftet, ohne diesen annähernd Entlastungen geboten zu haben. Die Beiträge sinken nicht in dem Maße, in dem es mit dem GMG leichtfertig versprochen worden war. Wir sind bei 14,19 Prozent durchschnittlichem Beitragssatz und sollten eigentlich bei 13,6 Prozent sein. Das Ziel, die Versicherten zwar mit höheren Zuzahlungen zu belasten, diese aber durch niedrigere Beiträge zu kompensieren, ist weit, weit verfehlt. Hinsichtlich der sozialen Balance, die Herr Seehofer - er steht dort drüben - in den Konsensgesprächen immer wieder eingefordert hat, Fehlanzeige. ({1}) Die Rentner haben ohne jeden Vertrauensschutz seit Anfang des Jahres 2004 massive Nettorentenkürzungen durch die volle Verbeitragung der Versorgungsbezüge und die Zahlung des Pflegeversicherungsbeitrages zu verkraften. Alle Versicherten haben die erhöhten Zuzahlungen sowie die Praxisgebühr zu schultern. Die fast völlige Ausgrenzung der OTC-Präparate aus der Erstattung ohne jede soziale Abfederung ({2}) bereitet mir und hoffentlich auch Ihnen, Frau Ministerin, ernsthafte Bauchschmerzen. Viele chronisch Kranke, Frau Selg, aber auch einfach ältere Menschen, deren Nachfrage nach diesen Medikamenten nicht über die Ausnahmeliste des Bundesausschusses berücksichtigt wird, leiden täglich darunter. Schauen wir in die Heime. Unsere Heimbewohner müssen meist von einem sehr mageren Taschengeld für die Zuzahlungen bis zur Obergrenze und für ihre bewährten Salben und Mittel zum Teil selbst aufkommen. Dies zu korrigieren wäre Ihre erste soziale Pflicht, Frau Ministerin. ({3}) Stattdessen wollen Sie flugs die Gunst der Stunde nutzen, Ihr im Sommer 2003 leichtfertig gegebenes Versprechen, im Gegenzug die Beiträge zu senken, einzulösen. Welch eine Heuchelei! ({4}) Erst zwingen Sie die Kassen aus wahltaktischen Gründen über Jahre zu Beitragssatzstabilität und nehmen augenzwinkernd eine drastisch steigende Verschuldung in Kauf. 8 Milliarden Euro! ({5}) Jetzt wollen Sie den Schuldenabbau stoppen, nachdem die Kassen dem Vernehmen nach gerade bei 5 Milliarden Euro gelandet sind. Dabei fehlen für langfristige Beitragssenkungen jegliche Spielräume, vor allem mit Blick auf das, was die Kassen in den nächsten Monaten noch erwartet: Nach Auskunft aller Fachleute werden die sicherlich erfreulichen Einsparungen im Arzneimittelbereich 2005 so nicht anhalten, wie man alleine mit Blick auf den reduzierten Arzneimittelrabatt und die Fehleinschätzungen im Bereich der Festbeträge feststellen kann. Die finanziellen Auswirkungen von Hartz IV auf die Krankenkassen sind nicht kalkulierbar. Wir müssen zusätzlich befürchten, dass bei dieser Regierungspolitik die Arbeitslosigkeit eher steigt als sinkt. Auch die Einspareffekte durch die so genannten Qualitätsverbesserungen im Versorgungsbereich - ich nenne beispielhaft die DMPs, die Disease-Management-Programme, und die integrierten Versorgungsprogramme lassen rein fiskalisch weiter auf sich warten. In dem größten Kostenbereich, dem der Krankenhausbehandlung, sehen wir eine Steigerung von 1,5 Prozent für das Jahr 2004. Wir wissen alle, dass medizinischer Fortschritt unser Gesundheitswesen weiter verteuern wird. Zum 1. Juli werden die Versicherten durch den Sonderbeitrag für Krankengeld und Zahnersatz zusätzlich belastet. Sollte dies durch eine geringfügige Beitragssatzsenkung abgefedert werden können, wäre das schon ein Erfolg. Bei diesen Perspektiven ist es nicht verwunderlich, dass die Kassen zögerlich mit Beitragssatzsenkungen umgehen. Sie haben kein Vertrauen in die weitere Entwicklung. Ich erinnere daran: Wir als FDP haben im Sommer 2003 dem Kompromiss zur Gesundheitsreform nicht zugestimmt. ({6}) Wir waren davon überzeugt, dass das erarbeitete Finanztableau eine geschönte Rechnung war. ({7}) Das zeigt sich heute: Die Gegenfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen durch eine Erhöhung der Tabaksteuer funktioniert eben nicht. ({8}) Aus unseren Reihen wird zu Recht die Frage gestellt, wie es mit dem Bundeszuschuss zukünftig aussehen soll. Hätten wir den Arbeitgeberanteil auf einem vernünftigen Niveau eingefroren, Frau Selg, hätten wir heute schon Arbeitsmarkteffekte durch die Entlastung der Lohnnebenkosten. ({9}) Hätten wir den Zahnersatz gänzlich aus der GKV genommen und ihn in die private Absicherung gegeben, dann hätten wir schon einen ersten Schritt in die Kapitaldecklung getan. ({10}) Hätten wir den Verschiebebahnhof zulasten der GKV beendet, wäre die Einnahmesituation auch wesentlich besser. Hätten wir die Budgetierung in allen Bereichen konsequent abgeschafft, dann wären die Patienten von Rationierungen verschont geblieben. ({11}) Hätten wir die Bürokratie ab- anstatt aufgebaut, dann stünde mehr Geld für die medizinische Versorgung oder für Beitragssatzsenkungen zur Verfügung. ({12}) Hätten wir den Wettbewerb der Krankenkassen durch Begrenzung des Pflichtleistungskatalogs gestärkt und damit den Kassen die Möglichkeit gegeben, diese Leistungen fakultativ anzubieten, wäre viel Bewegung in die Versicherungs- und Versorgungslandschaft gekommen mit individuell zugeschnittenen Angeboten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, würden Sie bitte zum Ende kommen.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. Von alledem ist nichts zu sehen. Stattdessen: Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln; mal Zügel an, mal Zügel los. Deswegen stottert der Reformmotor. Sie sind dabei, ihn gänzlich abzuwürgen. Geben Sie lieber mit uns Gas auf der Fahrt in ein unbürokratisches, freiheitliches Gesundheitssystem ({0}) mit echter Eigenverantwortung, mehr Wahlfreiheiten, fairem Wettbewerb und mehr Transparenz auf einem beispiellosen Wachstumsfeld. Danke. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion. ({0})

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Parr, das Thema, über das wir hier reden, ist sehr ernst. ({0}) Der Schluss Ihrer Rede hat mich aber mehr an eine Büttenrede erinnert. ({1}) Ich finde es unglaublich, in diesem Zusammenhang von „Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ zu reden. ({2}) Wir haben mit den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ein langfristiges Sanierungskonzept für die gesetzliche Krankenversicherung erarbeitet. ({3}) Wir haben im Hinterkopf die Situation auf dem Arbeitsmarkt gehabt. ({4}) Wir haben deshalb den Menschen viel zugemutet und auch deswegen, weil wir die sozialen Sicherungssysteme erhalten wollen. ({5}) Unsere Erfolgsbilanz weist einen Überschuss in Höhe von 4 Milliarden Euro aus. Wir haben bestimmte Veränderungen struktureller Art, die die Ministerin schon erwähnt hat, in Angriff genommen. Wir wünschen uns natürlich alle sehr, dass die Selbstverwaltung in dieser Hinsicht etwas schneller handeln würde und dass sie sich intensiver mit diesen Veränderungen und weniger intensiv mit der Frage, wie die Einkommen der Krankenkassenvorstände gesteigert werden können, auseinander setzen würde. ({6}) Herr Parr, ich will etwas zu Ihrem Ansatz sagen. Sie beklagen, dass Heimbewohner mit einem niedrigen Taschengeld Zuzahlungen in Höhe von 3 Euro im Monat leisten müssen. ({7}) Was bieten Sie den Menschen als Alternative an? Sie bieten ihnen die private Krankenversicherung an, die sich die meisten Menschen überhaupt nicht mehr leisten können. ({8}) Das kann doch kein Angebot sein. Aber Ihnen fällt nichts anderes ein. ({9}) Auch während der Verhandlungen sprachen Sie immer wieder von Privatisierungen. ({10}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. - Der Beitrag für eine private Zahnersatzversicherung sollte bei 8 bis 9 Euro sowohl für Menschen mit einer Rente in Höhe von 600 Euro als auch zum Beispiel für Abgeordnete mit einem Einkommen in Höhe von 7 000 Euro liegen. ({11}) Sie wollen sich letztendlich von Menschen mit niedrigem Einkommen subventionieren lassen. ({12}) Das ist nichts anderes als eine permanente Umverteilung. ({13}) - Das ist keine Unverschämtheit. Es ist so. ({14}) Jemand mit 1 000 Euro Einkommen bezahlt für die private Zahnersatzversicherung genauso 8 Euro wie jemand mit 7 000 Euro Einkommen. Das ist ganz einfach Mathematik. ({15}) Jetzt ein Wort zu Ihrem Verständnis von Wettbewerb. Sie haben Schutzzäune um bestimmte Apotheken errichtet. Das haben Sie gerade vorige Woche wieder sehr erfolgreich getan. ({16}) Es soll möglichst keinen Wettbewerb geben. Dies betrifft eine Gruppe, die vernünftig und gut aus den Verhandlungen herausgekommen ist. ({17}) Sie haben sich letztendlich allen Wettbewerbsmomenten entzogen und am Ende der Verhandlungen haben Sie sich sogar der Gesamtverantwortung für das Gesundheitssystem entzogen, indem Sie ganz einfach gegangen sind. ({18}) Hier sind Sie nicht in der Lage, einen vernünftigen Vorschlag auf den Tisch zu legen. ({19}) Jetzt bin ich mit dem Unsinn, den Sie verzapfen, fertig, und komme zu einem anderen Bereich. Das ist die Frage: Wie werden wir in Zukunft mit dem umgehen, was wir haben? Wir haben gute Maßnahmen auf den Weg gebracht. ({20}) Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass diese Maßnahmen weiterhin funktionieren. ({21}) Wir werden das deshalb unbedingt machen müssen, weil die Menschen nicht nur hören wollen, dass es der Krankenversicherung besser geht. Sie wollen natürlich auch hören, dass es Beitragssatzsenkungen gibt. ({22}) Diese müssen wir letztendlich auch einfordern. Für 28 Millionen Versicherte hat es sie bereits gegeben; das sollten Sie schlicht und einfach nicht unterschätzen. ({23}) Ein weiterer Punkt ist, dass wir Beitragssatzsenkungen dringend benötigen, um die Akzeptanz für unsere sozialen Sicherungssysteme zu erhalten. Von hieraus möchte ich sehr deutlich an die Selbstverwaltung appellieren: Wir haben der Selbstverwaltung im Gesetz noch einmal eine Chance gegeben. Die Selbstverwaltung sollte diese Chance nutzen. ({24}) Sie sollte sie nicht zur Erhöhung ihrer Einkommen nutzen, sondern für Strukturveränderungen, die notwendig sind. Sie sollte da alle Kraft hineinlegen; denn das Eigentliche, was wir brauchen, sind Veränderungen in der Struktur und Maßhalten bei den Einkommen der Vertreter der Selbstverwaltung. Dann wird es weiterhin Akzeptanz für die Sicherungssysteme geben. Danke schön. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die positive Botschaft vorweg: Das Jahresergebnis 2004 zeigt, dass die Reform greift. Die Einsparziele sind weitgehend - aber nicht vollständig - erreicht worden. Die Union steht zu dieser Reform. Wir werden in der nächsten Woche in einer Anhörung eine kritische Überprüfung nach dem ersten Jahr dieser Reform vornehmen. Aber in den Grundsätzen sind wesentliche Reformziele erreicht worden. Wenn man fragt: „Warum wurde diese Reform gemeinsam durchgeführt?“, sollte man sich einmal veranschaulichen, dass die gesetzliche Krankenversicherung ohne eine solche Reform gegen die Wand gefahren wäre und deshalb Ziel der Reform eine finanzielle Konsolidierung für einen Zeitraum bis unmittelbar nach der Bundestagswahl war. Damit sind wir mit den positiven Botschaften aber schon am Ende angekommen. ({0}) Denn die Reform hat fast allen Beteiligten eine ganze Menge abverlangt. Als Gegenleistung dazu sind sinkende Beitragssätze unerlässlich. Sie waren ein Hauptpunkt der Verhandlungen gewesen. Wenn die Beiträge im Moment nicht oder nur kaum sinken, dann hat das vor allen Dingen zwei Gründe. Der eine Grund ist die Verschuldungslage der Krankenkassen. ({1}) Kollege Wolfgang Zöller hat schon darauf hingewiesen, dass vor einem Jahr zu Beginn der Reform nicht ein Verschuldungsstand von 4 Milliarden, sondern ein Verschuldungsstand von 8 Milliarden Euro zu verzeichnen war und dass für den Fall, dass die Rücklagen der Kassen aufgefüllt werden, allein 2,25 Milliarden Euro des Überschusses für den Abbau der Verschuldung und das Auffüllen der Rücklagen verwendet werden. Dann bleibt aber immer noch ein Betrag übrig. Nun ist die spannende Frage: Warum wird dieser Betrag nicht endlich an die Versicherten weitergegeben? Damit sind wir bei dem zweiten Grund, warum die Beiträge nicht gesenkt werden, der in der Debatte bisher noch kaum eine Rolle gespielt hat. Voraussetzung für Beitragssenkungen ist natürlich neben den Einsparungen auf der Ausgabenseite eine stabile Beitragsbasis. Davon kann im Moment leider keine Rede sein. ({2}) Um Erkenntnisse über den Beitragseingang zu gewinnen, haben wir uns, weil diese schneller ermittelt werden, die Werte der gesetzlichen Rentenversicherung für die ersten beiden Monate dieses Jahres angesehen. Danach ist die Situation so, Frau Ministerin, dass die kumulierten Pflichtbeiträge für die Monate Januar und Februar um 1,86 Prozent gesunken und die gesamten Beiträge bis Ende Februar um 1,27 Prozent zurückgegangen sind. Statt der erhofften Erhöhung der Beitragsbasis ist die Beitragsbasis also deutlich rückläufig. Darin spiegelt sich die dramatische Arbeitsmarktlage wider; denn jeden Tag fallen mindestens 700 sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze weg. Für die Frage, ob wir zur Jahresmitte auf breiter Front Beitragssenkungen haben werden, ist daher entscheidend, ob es Signale für eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt gibt. Dafür tragen Sie, Frau Ministerin, und dafür trägt die rot-grüne Koalition die Hauptverantwortung. ({3}) Wir haben Ihnen angeboten - darüber haben wir in der vorhergehenden Debatte diskutiert -, gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, um aus der Arbeitsmarktmisere herauszukommen. Aber ohne eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt und ohne eine Trendwende beim Wachstum - wir müssen alles für mehr Wachstum und Beschäftigung tun - haben wir nicht den Hauch einer Chance, die Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme zu bewältigen. Ich sage es noch einmal: Wir stehen zu dieser Reform. Es ist aber deutlich geworden, dass eine solche Reform kaum Sinn macht, wenn die übrigen Politikbereiche so ausgestaltet sind, dass es zu einer Verringerung der Beitragsbasis der Sozialversicherung kommt. Deshalb meine nachdrückliche Aufforderung an die rotgrüne Koalition: Gehen Sie in sich und ergreifen Sie endlich die notwendigen Maßnahmen, damit es zu einer Trendwende auf dem Arbeitsmarkt kommt! Nur dann haben wir die Chance, dass den Versicherten das zugute kommt, was ihnen versprochen wurde, nämlich eine spürbare Absenkung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema dieser Aktuellen Stunde schließt sehr gut an die Debatte vom Vormittag an, bei der wir über die größte Problematik, die es im Moment zu bewältigen gibt, gesprochen haben, nämlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Union, wie es auch in dieser Debatte deutlich wird, zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz steht, das für die Kassen in vielen Bereichen zu einer Entlastung geführt hat. Einen Akzent aber möchte ich anders setzen, Herr Storm. Ich glaube, dass die Senkung der Lohnnebenkosten auch Ausgangspunkt sein muss, um die Spirale in Richtung mehr Beschäftigung in Gang zu setzen. Wenn es ein Programm zur Entlastung der Kassen in Höhe von 9 bis 10 Milliarden Euro gibt, müssen wir auch gemeinsam Druck ausüben, dass diese Spirale, die sich nach unten bewegt, umgekehrt wird und es zu einer Senkung der Lohnnebenkosten kommt; denn dies führt zu einer Erhöhung der Beschäftigung. Die Botschaft, die von dieser Aktuellen Stunde ausgeht, muss sein: Es gibt Raum für die Senkung der Lohnnebenkosten. ({0}) Damit komme ich zu Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP. ({1}) Sie haben in dieser Aktuellen Stunde nur einen Redner gestellt. Soll es wirklich Botschaft der FDP sein, dass es Gründe gibt, warum es nicht zu einer Beitragssenkung kommen kann? Sie sagen zum einen, wie schrecklich es ist, dass wir die Menschen belastet haben, ({2}) und zum anderen, Herr Parr, dass sich die armen Kassen gar nicht anders verhalten können. Damit zeichnen Sie sich wieder als Vertreter der Lobbygruppen in diesem System aus. ({3}) - Hören Sie einmal zu! - Ich bin wirklich entsetzt, dass Sie das Verhalten der Kassen entschuldigen ({4}) und die Botschaft senden, dass es überhaupt keinen Grund für eine Beitragssenkung gibt. Das ist kein Beitrag zu dem zentralen Problem, das wir in Deutschland haben. Es geht nämlich darum, mehr Beschäftigung zu schaffen. ({5}) - Ich will das noch etwas weiter ausführen, Herr Parr. Seien Sie doch einmal ruhig, hören Sie zu und denken Sie dann auch darüber nach! Wir haben zum Beispiel entschieden, mithilfe von Steuermitteln den Bereich Gesundheit zu unterstützen. Wir haben ({6}) im Hinblick auf die Tabaksteuereinnahmen demnächst bestimmt keine leichte Situation zu erwarten. Auf die Forderung der Selbstverwaltung „so viel Selbstverwaltung wie möglich und so viel Staat wie nötig“ - wahrscheinlich vertreten auch Sie diese Forderung ({7}) erwidere ich in aller Deutlichkeit: Mein Vertrauen in die Selbstverwaltung ist durchaus begrenzt. ({8}) Ihr Kollege Fricke aus der FDP hat sehr wohl und richtigerweise mit uns dafür gestritten. Wenn Steuermittel in den Bereich der Krankenkassen fließen, dann müssen wir auch kontrollieren, zum Beispiel mithilfe des Rechnungshofs, ob sie effizient eingesetzt werden. Spätestens seit den vergangenen Tagen, in denen wir über die Steigerung der Vorstandsgehälter im zweistelligen prozentualen Bereich gesprochen haben, ist auch einigen von Ihnen bewusst, dass wir bei den Kassen mehr Kontrollen brauchen, ob sie zu Strukturreformen fähig sind und die Mittel effizient einsetzen. Das werden wir machen. Sie von der FDP haben keinen Beitrag zu dieser Kritik geleistet. Das war sehr schwach. ({9}) - Sie haben sich heute sehr einseitig geäußert. Hoffentlich werden Sie noch in sich gehen. - Ich sage in aller Deutlichkeit: Der Staat soll nicht dirigistisch eingreifen, das ist klar. ({10}) Wir haben aber auch bei der Bundesagentur für Arbeit erlebt, dass die dort langjährig eingespielten Verbandsvertreter, die in den Aufsichtsorganen sitzen, in den vergangenen Jahren nicht unbedingt ein Beispiel an Reformfreude gegeben haben. Deswegen meine ich, dass alle Fraktionen in diesem Bundestag die Aufgabe haben, die Reformfreude auch in dem Bereich anzustoßen, ohne dass ich in Anspruch nehmen wollte, dass wir das fehlerfrei machten. Aber einen Rückzug nach dem Motto „Lassen wir die mal machen“ halte ich für völlig falsch. Ich komme zum Schluss. Wir haben im Gesundheitswesen eine bedeutsame Senkung der Kosten in Höhe von 7,5 bis 8 Milliarden Euro erreicht. ({11}) Richtig ist auch, dass diese Kostensenkung im Verhältnis zu der Schuldenbelastung zu sehen ist, die bei den Kassen geherrscht hat. ({12}) Dabei ist es aber auch wichtig, dass der Schuldenabbau in der Weise erfolgen sollte, dass in beide Richtungen positive Effekte erzielt werden: Es geht darum, dass die Kassen die Schulden abbauen und dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Beides ist möglich. Eine einseitige Verweigerung in einem Bereich ist angesichts der Arbeitsmarktlage nicht zu verantworten. Dieses Signal sollte heute gegeben werden und ich bin froh, dass das auch für drei Fraktionen dieses Hauses gilt. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gerald Weiß, CDU/ CSU-Fraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ministerin Schmidt hat vorhin ausgeführt, dass die gesetzliche Krankenversicherung wieder auf gesunde Füße gestellt worden sei. Es wurde eine gewisse Stabilisierung erreicht, an der auch wir mitgewirkt haben. Die Last haben im Wesentlichen die Versicherten und die Patienten zu schultern gehabt, aber wir wären ohne das GMG heute unzweifelhaft in einer noch schlechteren Situation. Das ist völlig klar. Aber wie weit die gesunden Füße, wie Sie es genannt haben, Frau Schmidt, wirklich tragen können, bleibt abzuwarten. Denn es ist ein dornenvoller Weg, der von den Kassen zu gehen ist. Er ist mit vielen Risiken belastet. Gerald Weiß ({0}) Der Kollege Storm hat meines Erachtens richtig herausgearbeitet, dass das wesentliche Risiko darin besteht, dass Sie es nicht schaffen, dieses Land in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nach vorne zu bringen und Arbeitsplätze zu schaffen. ({1}) Im siebten Jahr der Regierung Schröder ist es um Wachstum und Beschäftigung in Deutschland verheerend bestellt. Deshalb ist es im Jahr sieben seit Schröder - das hat Kollege Storm ganz eindeutig begründet - auch um die Sozialversicherungssysteme so schlecht bestellt. Auf die entsprechenden Zahlen haben Sie selbst hingewiesen. Diese Indizien sprechen eine deutliche Sprache. Die Beitragsentwicklung verläuft nicht wie gewünscht. Im Februar dieses Jahres ist das Aufkommen der Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung um 3,05 Prozent gesunken. Kollege Storm hat zu Recht gefragt, was das für die gesetzliche Krankenversicherung bedeutet. Bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen kommt es zu einer Erosion. Ihre Anzahl sinkt jeden Tag um 700 bis 1 000. Die allgemeine Einkommensentwicklung stagniert. Gegenwärtig ist ein Wachstum unserer Volkswirtschaft in diesem Jahr um nur noch 1 Prozent zu erwarten. Aus einem solch niedrigen Wachstum können weder neue Arbeitsplätze generiert noch Sozialversicherungsbeiträge gewonnen werden. Auf dem Weg, den die Krankenkassen auf ihren nun angeblich gesunden Füßen gehen sollen, streuen Sie durch Ihre Politik Dornen. Sie verweigern im Grunde genommen jede vernünftige Antwort, die einen Beitrag zu einer zukunftsträchtigen Entwicklung leisten könnte. Wir verlieren zu viel Arbeit an das Ausland, gewinnen aber zu wenig Arbeit aus dem Ausland. Wir verlieren zu viel Arbeit an die Schattenwirtschaft. Wir verlieren zu viel Arbeit ans Nichts. Das bedeutet, dass die Einnahmen und die Ausgaben der Sozialversicherungen nicht ins Gleichgewicht kommen können. Natürlich sollen die Krankenkassen ihre Beiträge, soweit es ihnen möglich ist, senken. Frau Hajduk hat völlig Recht, wenn sie sagt, dass aus der Senkung der Beiträge und damit der Lohnnebenkosten selbstverständlich mehr Beschäftigung erwachsen kann. ({2}) Das ist der richtige Weg. Aber den Weg, Arbeits- und Sozialversicherungskosten konsequent zu entkoppeln, sind Sie nicht gegangen. Wenn es eine Strategie gibt, mit der wir vorankommen könnten, dann ist es die Entkopplung von Sozialversicherungs- und Arbeitskosten. Wie ich Ihren Bemerkungen entnehme, nähern Sie sich unserem Modell einer solidarischen Gesundheitsprämie immer mehr an. Meinen Glückwunsch! Das finde ich gut. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Strategie, die im stormschen Sinne bei den Einnahmen unserer Krankenkassen, also auf der Aufkommensseite, beim Wachstum unserer Volkswirtschaft und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen ansetzt, besteht in der Tat aus einem Bündel von Maßnahmen. Dazu gehören zum Beispiel eine Steuerreform im Sinne einer großen Flurbereinigung und eine wirksame Unternehmensteuerreform; von der Entkopplung der Sozialversicherungs- und Arbeitskosten habe ich bereits gesprochen. Dazu gehört auch eine umfassende Strategie der Entbürokratisierung im weitesten Sinne des Wortes. Und dazu gehört, dass man die Blockaden, die durch die hohen Energiepreise verursacht werden, zugunsten zukunftsweisender Technologien beseitigt. Auf all diesen Feldern haben vor allem die Grünen gnadenlos blockiert und sich den notwendigen Einsichten bis ins Letzte verweigert. Daher müssen wir von vorn beginnen, mit einer Strategie, die bei Wachstum und Beschäftigung ansetzt. ({4}) Dann werden wir die sozialen Sicherungssysteme wieder in Ordnung bringen können. Danke. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich frage mich, woran es liegt, dass ich, wenn vonseiten der CDU gesagt wird, wir müssten unser Land nach vorn bringen, immer wieder Ihre Forderungen nach dem Abbau des Kündigungsschutzes, der Betriebsverfassungen und der Arbeitnehmerrechte vor Augen habe. ({0}) Hinzu kommt, dass der hessische Ministerpräsident vor kurzem gefordert hat, ausländischen Managern, die in unserem Land arbeiten, einen Steuerrabatt zu gewähren. ({1}) Ich sage Ihnen: Diese Forderungen bringen unser Land nicht nach vorn. ({2}) Nun zur Gesundheitsprämie bzw. - besser gesagt zur Kopfpauschale. ({3}) Ich kann immer noch nicht glauben, Herr Weiß, dass Sie es für richtig halten, wenn zum Beispiel eine Verkäuferin den gleichen Krankenversicherungsbeitrag zahlen soll wie ich. ({4}) Das kann doch nicht richtig sein. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch schön, dass wir heute einmal über Überschüsse in Höhe von 4 Milliarden Euro bei den Krankenkassen diskutieren können. ({6}) Im Frühjahr des Jahres 2003 haben wir angesichts der finanziellen Situation der Krankenkassen daran alle nicht gedacht. Wir haben damals gemeinsam mit der Opposition die Reform auf den Weg gebracht, damit die Beiträge nicht weiter steigen. Die FDP war eine gewisse Zeit lang daran beteiligt, hat sich dann aber auf die Flucht begeben. ({7}) Diese Reform war eigentlich nur mit vereinten Kräften möglich, aber Sie haben die Flucht ergriffen, ({8}) weil Ihren Vorstellungen von Kostenerstattungen niemand gefolgt ist. ({9}) Sie beklagen heute die Belastung der Versicherten und vergießen dabei Krokodilstränen. ({10}) Mit der von Ihnen geforderten Kostenerstattung wäre die Belastung der Versicherten noch höher gewesen. Von daher ist das, was Sie sagen, doch sehr unglaubwürdig, Herr Parr. ({11}) Wir haben vor eineinhalb Jahren diese Reform auf den Weg gebracht und die Stabilisierung ist gelungen. Überschüsse bzw. Einsparungen in Höhe von 9 bis 10 Milliarden Euro sind erreicht worden. Allein im Bereich der Arzneimittelausgaben sind die Ausgaben um 2,5 Milliarden Euro gesunken. Zu diesen Überschüssen hat das Reformgesetz den Kassen verholfen; das muss man auch noch einmal deutlich machen. ({12}) Wir haben mit Recht festgelegt, was mit den Überschüssen passieren soll, dass nämlich ein Teil der Überschüsse für Beitragssenkungen genutzt werden soll. Herr Zöller, natürlich hätte die Belastung der Versicherten hier und da noch etwas anders aussehen können, wenn Sie dem einen oder anderen Vorschlag von uns gefolgt wären. Ich bin froh, dass uns eine Einigung gelungen ist und Sie unserer Forderung zugestimmt haben, die Überforderungsklausel ins Gesetz aufzunehmen, weil sonst die Belastung für die Versicherten doch sehr viel schlimmer gewesen wäre. Ein Wort auch noch zur Selbstverwaltung, weil die Frage der Beitragssenkung in die Verantwortung der Selbstverwaltung gehört. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an die Selbstverwaltung appellieren, aber nicht nur an die Versichertenseite, sondern insbesondere auch an die Arbeitgeberseite, die nach meiner Meinung hier ebenfalls gefordert ist. Wenn das ganze Jahr über lauthals eine Senkung der Lohnnebenkosten gefordert wird, sollten die Arbeitgebervertreter auch in den Verwaltungsräten der Krankenversicherungen den notwendigen Druck machen. Ich halte es für den besseren Weg, die Beiträge dort zu senken, wo es möglich ist, nämlich in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung, wie sie Herr Storm vorgeschlagen hat, würde nicht dazu führen, dass wir bei der Arbeitsmarktpolitik vorankommen, sondern es würde die Situation eintreten, dass zahlreiche Arbeitsmarktmaßnahmen, die als Ausgleich für ein Versagen in der Bildung notwendig sind, nicht mehr möglich wären. Ich sage noch einmal, Herr Zöller: Sie haben auch Recht gehabt mit Ihrem Appell an die Länder, die ihrer Aufsicht nachkommen müssen. Das kann ich nur noch einmal unterstreichen. Unterstreichen kann ich auch Ihren Appell an die Manager bei den Krankenkassen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich wissen wir, dass wir für gute Arbeit auch gute Manager brauchen. Aber Grundlage für die Erfolge, die bisher eingefahren worden sind, ist das Gesetz. ({0}) Wir haben damit ausreichende Möglichkeiten für weitere Einsparungen bei den Krankenkassen geschaffen, die zunächst einmal - ein Schritt nach dem anderen umgesetzt werden sollten. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - In dieser Debatte fiel der Satz „Die Gesundheitsreform greift“. Ich bin der Auffassung, dieser Satz ist unvollständig. Vollständig müsste er heißen: „Die Gesundheitsreform greift den Patienten in die Tasche“. ({0}) Immer wenn ich die Bundesregierung auf Versäumnisse und schwere Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform hinweise, bekomme ich zur Antwort, dass es in der Bundesrepublik kein staatlich gelenktes Gesundheitssystem gibt. Das ist richtig und das weiß ich. Doch ich finde, das Gegenteil von staatlicher Lenkung können doch nicht Anarchie und gierige Selbstbedienungsmentalität sein. ({1}) Es ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung und die große Koalition von SPD, CDU/ CSU und Grünen eine Gesundheitsreform verabschieden, an die sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger halten muss, dass einige aber diese Gesundheitsreform offensichtlich als wenig bindende Empfehlung betrachten und auf ihre Autonomie verweisen, um sich schamlos zu bereichern. Kann es denn im Sinne des Gesetzgebers sein, meine Damen und Herren, dass viele Menschen auf einen Arztbesuch oder auf Medikamente aus finanziellen Gründen verzichten müssen, obwohl sie jeden Monat brav ihren Krankenkassenbeitrag zahlen? Gleichzeitig sieht der Gesetzgeber zu, wie sich Vorstände von Krankenkassen das Geld der Beitragszahler mit vollen Händen in die eigene Tasche schaufeln, und hebt höchstens einmal den Zeigefinger. Es ist doch nicht in Ordnung, dass zum Beispiel der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Nordrhein-Westfalen 240 000 Euro im Jahr bekommt und darüber hinaus auch noch die Genehmigung hat, nebenbei in seiner Praxis zu arbeiten. Die Bundesregierung misst auch bei der Gesundheitspolitik mit zweierlei Maß: Dem Patienten wird die bittere Pille dreimal im Hals umgedreht, bevor er sie schlucken darf, alles wird bis ins letzte Detail kontrolliert und unerträglich reglementiert. Doch wenn es zum Beispiel um die sittenwidrigen Gehälter der Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Vorstände der Krankenkassen geht, ist die Bundesregierung großzügig und hebt, wie gesagt, zwar mal den Zeigefinger, erklärt sich aber für nicht zuständig. Ich finde, das ist eine absurde Klientelpolitik. ({2}) An diesen wenigen Beispielen zeigt sich das Dilemma dieser Gesundheitsreform: Sie schröpft die Patienten, sie trägt nicht zur Senkung der Lohnnebenkosten bei und sie hat die pervertierten Strukturen, die die Kosten in die Höhe treiben, eben nicht aufgebrochen. Ich finde es deshalb unredlich, wenn hier alle im Chor die Vorstände der Krankenkassen und auch der Kassenärztlichen Vereinigungen beschimpfen. Sie hatten es mit der Gesundheitsreform in der Hand, die gesetzlichen Regelungen klar zu formulieren. Sie hätten zum Beispiel die anachronistische Kassenärztliche Vereinigung abschaffen können und Sie hätten gesetzliche Vorkehrungen gegen die Gehaltserhöhungen, die jetzt alle beklagen, schaffen können. Also, meine Damen und Herren, heben Sie nicht nur den Zeigefinger, jammern Sie nicht nur, sondern bessern Sie die Gesetze nach! Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Erika Ober, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Erika Ober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Auch ich möchte mit etwas Positivem anfangen, ich möchte hier keine Schwarzweißmalerei betreiben wie meine Vorrednerin. Es wurde ja schon betont: In der GKV ist ein Überschuss in Höhe von 4,022 Milliarden Euro erwirtschaftet worden, vor allem durch eine höhere Eigenbeteiligung der Patientinnen und Patienten. Eine umfangreiche Senkung der Beiträge bleibt aus. Das verstehen die Patienten nicht. Die Beitragszahler wollen eine Aufklärung, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Gehälter der Kassenvorstände zum Teil unverhältnismäßig erhöht wurden, was für Aufregung gesorgt hat. Deshalb ist es unsere Pflicht und unsere Aufgabe, darüber öffentlich zu diskutieren. Manche Vorstandsvorsitzenden beziehen zum Teil unverhältnismäßig hohe Gehälter. Für die Öffentlichkeit sind Gehaltserhöhungen in dieser Größenordnung in der heutigen Zeit nicht nachzuvollziehen. In eine allgemeine Verurteilung aller Vorstandsfunktionäre möchte ich mich nicht einreihen. Ich möchte eine differenzierte Betrachtungsweise; dies sind wir der Öffentlichkeit auch schuldig. Dazu gehört allerdings auch festzustellen, dass in einigen Selbstverwaltungen das gezahlte Gehalt nicht der geforderten und notwendigen Professionalität entspricht, und zwar in den Selbstverwaltungsgremien sowohl der Krankenkassen als auch der Kassenärztlichen Vereinigungen. Genau aus diesem Grunde wurde im Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Offenlegung der Gehälter der Vorstände geregelt. Die Transparenz ist in vielen Teilen vorhanden und für diejenigen, die die Gelder aufbringen müssen, auch ersichtlich. Die Höhe der Gehälter ist sicher nicht immer nachvollziehbar. ({0}) Bei Teilen der Krankenkassen fehlt die Transparenz bis heute. Warum fehlt sie und warum werden die Zahlen nicht offen gelegt? Ist dort etwas zu verbergen? Dem müssen wir nachgehen. ({1}) Bei einigen wenigen Krankenkassen - es sind zehn ist zurzeit die Aufsicht eingeschaltet, um möglicherweise überhöhte Vergütungen zu korrigieren. Es ist sicher nicht die Aufgabe der Politik, die Vorstandsgehälter festzulegen. Meine Vorredner haben es schon gesagt: Die Selbstverwaltungsorgane haben sich darum zu kümmern. ({2}) Warum es bei den Bruttoeinkommen der Vorstände von Kassenärztlichen Vereinigungen eine Spanne zwischen 130 000 und 260 000 Euro pro Jahr gibt, warum Dienstwagen teilweise Standard sind und teilweise nicht und warum Nebentätigkeiten teilweise möglich sind und teilweise nicht, verstehe ich als KV-Mitglied nicht und ist auch all denjenigen, die das Geld letztlich aufzubringen haben, nämlich den Beitragszahlern, nicht zu vermitteln. ({3}) In Zeiten leerer Kassen und ausbleibender Beitragssatzsenkungen sind überzogene Gehaltserhöhungen bei einigen Vorständen der Kassen und KVen schlicht ein falsches Signal. Das zeugt von mangelndem Fingerspitzengefühl. ({4}) Ich möchte aber auch nicht vergessen, diejenigen zu erwähnen, die ihre Beiträge gesenkt haben. Es gibt Krankenkassen - große Versorgerkassen -, die ihre Beitragssätze gesenkt haben. Das sollten wir auch nicht vergessen. ({5}) Unser Motto lautet weiterhin: Erwirtschaftete Überschüsse in der GKV müssen zum Schuldenabbau und zur Beitragssatzsenkung genutzt werden. In der heute sicher schwierigen Zeit erwarte ich von allen einen angemessenen Umgang mit dem Geld der Versicherten durch ein entsprechendes Abwägen seitens der Vorstände der Selbstverwaltungen bei ganz klarer Transparenz. ({6}) In der Konsequenz bedeutet das auch einen angemessenen Umgang mit den eigenen Gehältern. Gestatten Sie mir am Schluss noch ein Wort an die Opposition. ({7}) Die FDP hat über Jahre hinweg eine stärkere Eigenverantwortung der Patienten gefordert und sie hat die Kostenerstattung in ihr Programm aufgenommen. ({8}) Daneben stellt sie in einem populistischen Antrag die Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen. Das macht sie unglaubwürdig. ({9}) Lassen Sie diese populistischen Anträge; denn wer Kostenerstattung und Bürokratieabbau fordert, der will mehr Belastungen für die Patienten vor Ort. ({10}) Das ist kein Bürokratieabbau, das macht Sie unglaubwürdig. Ich meine, das Thema ist zu ernst, als dass man darüber in dieser Form debattieren könnte. ({11}) Ich fordere Sie auf, diesen Populismus in Zukunft zu lassen und in der Sache konstruktiv mit uns zu diskutieren. Danke. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Georg Faust, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geschätzte Frau Kollegin Ober, Sie haben gesagt, die gesetzlichen Krankenkassen hätten im vergangenen Jahr einen Überschuss von circa 4 Milliarden Euro erwirtschaftet. Diese Mehreinnahmen in Höhe von 4 Milliarden Euro haben die Versicherten und die Patienten durch eine erhöhte Zuzahlung und einen Verzicht auf Leistungen erwirtschaftet. ({0}) Das haben wir den Bürgern im Konsens zugemutet. Wir haben ihnen dafür eine Stabilisierung des Gesundheitssystems - heute wurde hier sogar von einer langfristigen Stabilisierung gesprochen - und eine Senkung des Kassenbeitrages angekündigt. Nach Aussage des AOK-Bundesverbandes werden allein durch die zusätzlichen Einnahmen aus der vollen Verbeitragung der Betriebsrenten 1,6 Milliarden Euro in das Kassensystem fließen. ({1}) In den alten Bundesländern sind die Ausgaben für Fahrtkosten um 8,2 Prozent, für Hilfsmittel um 15 Prozent und für Arzneimittel um 9,4 Prozent zurückgegangen. Die Ausgaben für das Krankengeld liegen mit minus 8,6 Prozent auf einem historischen Tief. Das hat eben nichts mit klugem Wirtschaften der Krankenkassen zu tun, sondern ist schlichtweg Ausdruck der katastrophalen Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit ({2}) und der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes im Krankheitsfall. Wir haben den Bürgern viel zugemutet. Die Schulden - das ist klar - müssen nach Plan über die Jahre abgebaut werden. Wir fordern aber als Signal an die belasteten Versicherten und an die Patienten eine signifikante, deutlich erkennbare Senkung des Beitragssatzes von heute 14,19 Prozent. ({3}) Eine weitere Debatte über die Legitimation des GKVModernisierungsgesetzes wäre verheerend. Gesundheitspolitik muss wieder berechenbar werden. Das ist angesichts der großen Probleme durch die demographische Entwicklung und den medizinischen Fortschritt unerlässlich. Die Bürger wissen doch, dass es mit den bisherigen Gesetzen noch immer nicht getan ist. Sie wissen, dass wir auf der Einnahmeseite die Krankheitskosten von den Arbeitskosten trennen müssen, dass wir in den Ausgabensektor mehr Markt und mehr Wettbewerb bringen müssen und dass wir auch eine Debatte um notwendige Leistungen, die von der Krankenversicherung solidarisch finanziert werden, führen müssen. Deutschland hat sicherlich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Die Leistungen sind von hoher Qualität. Das System ist objektiv, aber auch nach dem Empfinden der Bundesbürger ein gerechtes System. Als Arzt sage ich, dass sich die Leistungen für den normal gesetzlich versicherten Patienten durchaus in Sichtweite der Leistungen befinden, die die Spitzenmedizin international anbietet, und die Gewährung dieser Leistungen eben nicht vom Geld abhängig ist. Ich meine hier nicht das Einzelzimmer oder die Chefarztbehandlung, sondern ich freue mich für unsere Bürger darüber, dass wir jedem Patienten den Facharztstandard gewähren können. Aber wenn das auch in absehbarer Zeit noch möglich sein soll, dann dürfen wir uns nicht in irgendwelche unkontrollierten Rationierungsdebatten verlieren, damit Gesundheitspolitik in den Augen der Bevölkerung ihren Ernst und ihre Verlässlichkeit behält. Wir müssen sagen, dass wir mit begrenzten Mitteln keine unbegrenzten Leistungen finanzieren können und dass die Vorstellung, dass Prävention schnell Geld spart, eine verhängnisvolle und falsche Vorstellung ist. Prävention kostet erst einmal Geld. Wenn sie schon Geld kostet, dann sollen wenigstens diejenigen, die das Geld bezahlen, in den Genuss der Ergebnisse kommen und die Entscheidung über die Verwendung der Mittel treffen können. Krankenkassen sollen ihr Geld dazu verwenden, die Beiträge zu senken. Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe - das ist auch in der Anhörung deutlich geworden - und darf nicht fast ausschließlich aus Mitteln der GKV bezahlt werden. ({4}) Wir fordern die Bundesregierung auf, die Rahmenbedingungen für eine verlässliche Gesundheitspolitik in Deutschland zu schaffen. Eine ganz entscheidende Grundlage dafür sind ein Rückgang der Arbeitslosigkeit und dadurch höhere Beiträge, eine Entkopplung der Krankenversicherungsbeiträge von den Arbeitskosten sowie eine zielgerichtete Debatte darüber, was eine gesetzliche solidarische Krankenversicherung in Zukunft leisten kann und soll. Dafür bieten wir ausdrücklich unsere Hilfe an. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben gemeinsam das GKV-Modernisierungsgesetz auf den Weg gebracht und dabei vielen vieles zugemutet; das ist schon gesagt worden. Wir haben aber auch Aufgaben verteilt. Wir erwarten, dass diese Aufgabe von denen, die sie machen können, weil sie nämlich das Geld der Versicherten verwalten, wahrgenommen werden. Hier geht es darum, neue effiziente Strukturen zu schaffen, die dazu führen, dass die Patienten das erhalten, was sie brauchen, damit sie gesund werden und wir die Kosten senken können, und nicht das, was man verkaufen kann. ({0}) Es geht auch darum, Fehlversorgungen und Doppeluntersuchungen, die jetzt noch sehr hohe Kosten verursachen, zu vermeiden. Wir haben im GKV-Modernisierungsgesetz, aber auch schon in früheren Gesetzen konkrete Werkzeuge zur Verfügung gestellt. Wir haben beobachtet, dass die Möglichkeit einer integrierten Versorgung, die es seit mehr als fünf Jahren gibt, kaum wahrgenommen wurde. Es wurden kaum integrierte Versorgungsformen geschaffen. Erst jetzt, nachdem der Gesetzgeber finanzielle Anreize geschaffen hat, versucht man, erste Modelle zu bilden, und erst jetzt kommen die Kassen in die Puschen und fangen an mitzudenken. Dabei möchte ich hervorheben, dass die neuen Ideen, die es gibt, längst nicht immer von den Funktionären mit den hohen Gehältern kommen, sondern dass diese ganz oft an der Basis geboren werden. Es sind diejenigen, die an der Basis Verantwortung tragen, die direkt in der Versorgung tätig sind - Krankenhausärzte, Pflegedienste, Allgemeinmediziner -, die etwas verbessern wollen. Sie haben große Schwierigkeiten, den Kassen ihre Ideen zu vermitteln. Das bedarf eines genauen Hinsehens. Häufig tun sich mehrere Leistungserbringer zusammen, die etwas Neues anbieten wollen, und stellen ihr Konzept dann den Kassen vor. Es gibt aber über 250 Kassen. Diese Leistungserbringer schließen meistens einen Vertrag mit nur einer Kasse. Sie können die ganze Verhandlungsarbeit mit allen Kassen gar nicht leisten. Häufig merken sie erst später, dass der Vertrag nur für die Patienten gilt, die bei der einen Kasse versichert sind. Das ist nur ein Bruchteil der Patienten. Sie würden aber die neue Versorgungsform gerne für alle Patienten einführen. Das ist aber nicht von vornherein gegeben. Die Kassen suchen sich bestimmte Projekte aus, von denen sie glauben, dass sie zu ihrem Konzept passen. Sie konzentrieren sich auf ganz bestimmte Arbeitsfelder. Das ist für diejenigen, die in der Region die Strukturen sicherstellen wollen, sehr schwierig. Wir müssen hinschauen, wie sich der Kassenwettbewerb auswirkt, ob er zielführend ist und ob die Kassen gemeinsam das machen, was für alle notwendig ist. Nur dann kommen wir weg von einem Flickenteppich von Innovationen, nur dann kommen wir zu Strukturen, die effizient sein können, weil Synergieeffekte genutzt werden und weil sie allen Menschen zur Verfügung stehen. ({1}) Wir haben die durch den Hausarzt koordinierte Behandlung eingeführt und sie obligatorisch gemacht. Jeder Versicherte hat das Recht, über einen Hausarzt koordiniert zu werden. Die Krankenkassen haben ein solches Modell anzubieten. Das wird erfreulicherweise auch zunehmend gemacht. Es gibt konkrete Verträge von vielen Krankenkassen mit Hausärzteverbänden und sogar Apotheken, um eine bessere Koordination bei der Patientenbehandlung und der Diagnostik zu erreichen, damit Doppeluntersuchungen vermieden werden und nur die Behandlung erfolgt, die der Patient braucht. Das Ziel muss dabei sein, dass die Patienten nur so behandelt werden, wie der Hausarzt auch seine Familie behandeln würde, und ihnen nicht alles Mögliche verkauft wird; denn wir wissen, dass es vieles gibt, was unnötig ist. ({2}) Die hausärztliche Versorgung ist ein Bereich, der langsam anläuft. Wir haben außerdem die medizinischen Versorgungszentren als neues Strukturelement möglich gemacht. Für die medizinischen Versorgungszentren gibt es mittlerweile 87 Anträge. Diese werden bearbeitet. Auch da entwickelt sich etwas. Es handelt sich dabei erstaunlicherweise häufig um ehemalige Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften, die sich von dem Punktedruck befreien wollen. Es sind Ärzte, die nicht immer nur auf die Abrechnung mit der KV schauen wollen, sondern lieber ihr Gehalt haben und sich ganz auf ihre Arbeit mit den Patienten konzentrieren wollen. Ich finde, das sind ermutigende Ansätze, die wir unterstützen sollten und die von den Kassen gefördert werden müssen. ({3}) Ich glaube auch, dass wir mit den Disease-Management-Programmen den richtigen Weg eingeschlagen haben. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ist ein guter Ansatz. All diese Dinge müssen aber erst greifen. Die Kassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Manager, die sich jetzt die hohen Gehälter genehmigt haben, sind in der Pflicht, den Garten zu pflegen und die richtigen Blumen wachsen zu lassen. Das erwarten wir von ihnen. Wir werden am Ende des Jahres schauen, ob sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Wenn sie das nicht tun, dann müssen die Gehälter gekürzt werden. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind froh darüber - das ist in der heutigen Debatte deutlich geworden -, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen so ist, wie sie ist, dass wir also, was die Kostensteigerungen angeht, eine kleine, vielleicht auch eine etwas längere Atempause haben. Ich glaube nicht, dass es ein langfristiges Konsolidierungskonzept ist. ({0}) Denken Sie an die jetzige innenpolitische Debatte! Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten den Menschen alles das zugemutet, was wir ihnen bei der Gesundheitsreform zugemutet haben - vielen, die es bezahlt haben, ist es schwer gefallen; viele, etwa Ältere oder Personen, die eine Betriebsrente beziehen, sind in ihrer Lebensplanung schwer getroffen worden -, und die ganze Operation hätte noch nicht einmal dazu geführt, dass wir eine Atempause bekommen! Lassen Sie uns also froh darüber sein, dass das so ist. Wir brauchen diese Atempause, damit die Schulden abgebaut werden können, liebe Frau Schmidt, die die Krankenkassen in Ihrer Regierungszeit aufhäufen mussten. ({1}) Um nichts anderes geht es. Jetzt müssen wir erst einmal zusehen, dass die Schulden abgebaut und gleichzeitig die Beiträge gesenkt werden. Nun zu dem, was in den letzten Monaten passiert ist - das ist heute schon vielfach angesprochen worden -, zu dem, was sich die Vorstände reingetan haben; darüber sind wir uns hier einig. Ich hoffe nur, dass es nicht bei diesem allgemeinen Geklingel bleibt, dass es nicht nur ein Sturm im Wasserglas ist und es am Ende bleibt, wie es ist. Diese Leute finden Gehälter von 250 000 Euro ganz normal. Wenn wir das umrechnen, sind das 500 000 DM. Das sind die gleichen Leute, die die Pflegesatzverhandlungen mit den Einrichtungen führen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen. Da gibt es eine Umbruchsituation in der Krankenhausfinanzierung und dadurch kommt es dazu, dass Krankenhäuser, um überhaupt noch liquide zu bleiben, das Weihnachtsgeld der Krankenschwestern streichen. Das ist die Wahrheit. Ich kann Ihnen zig Krankenhäuser nennen, die nicht in der Lage waren, das Weihnachtsgeld zu zahlen. Und die Leute, die diese Verhandlungen führen, machen in ihren Vorständen die schon beschriebene Politik! Damit dürfen sie nicht durchkommen! ({2}) Dabei wundere ich mich schon sehr über die Selbstverwaltung, ({3}) zumindest soweit die alten RVO-Kassen betroffen sind, bei denen Arbeitgeber und Gewerkschaften vertreten sind. Dabei unterhalten wir uns auch über die BKK. Da ist einiges im Bundesverband passiert. Ich werde noch heute einen Brief zu dem schreiben, was da passiert ist, weil ich seit 32 Jahren Mitglied einer BKK bin. ({4}) Da haben doch Arbeitgeberfunktionäre und Gewerkschaftsfunktionäre zugestimmt; denn sonst wäre es ja nicht gegangen! ({5}) Ich sage auch einmal: Liebe Leute in den Arbeitgeberverbänden, jeden Tag die großen Reden halten, dass die Lohnnebenkosten zu hoch sind und im Sozialsystem gespart werden muss, aber dann keinen Mumm in den Knochen haben, um in einer solchen Angelegenheit einmal mit Nein zu stimmen! Sie sind mir feine Herren! ({6}) Darauf, wie die Gewerkschaftsfunktionäre ihren Leuten erklären wollen, dass sie da zugestimmt haben, bin ich auch gespannt. Im Juni/Juli sind die Sozialwahlen bei den Krankenkassen. Wir aus der Politik sollten uns in einer Sache absprechen, nämlich dass es in diesem Jahr bei den Krankenkassen wieder einmal zu echten Wahlen kommt ({7}) und die Kartelle, die da seit Jahren bestehen - vielleicht geht es für den einen oder anderen Verband mittlerweile um Versorgungsposten -, endlich aufgebrochen werden und neue Listen mit frischen Kandidaten zustande kommen, die mit diesem Gebaren in der Selbstverwaltung aufräumen. Wir müssen dort wieder zu normalen und vernünftigen Wahlen kommen. Das sollten wir einleiten. ({8}) Ich finde nicht, dass die IG Metall noch das Recht hat, darin zu sitzen, wenn sie bei einer Kasse diesen Dingen zugestimmt hat. Wir sollten uns politisch wirklich einmal darum kümmern - das ist mein Appell heute -, dass die Sozialwahlen in Deutschland wieder richtige Wahlen werden, sodass am Ende verantwortungsbewusste Vertreterinnen und Vertreter im Amt sind; denn darin liegt die einzige Chance dafür, dass die Selbstverwaltung, die von der Grundidee her eigentlich etwas Gutes ist, auf Dauer als ein Ordnungsinstrument in der Sozialversicherung überlebt. Das sollte uns schon sehr am Herzen liegen. Wir müssen uns auch weiter überlegen, wie die Sozialversicherungen einen Beitrag dazu leisten können, dass wir wieder zu mehr Beschäftigung in Deutschland kommen. Das wird nur gelingen, wenn wir einen Teil der sozialen Sicherung in Deutschland vom Arbeitsverhältnis abkoppeln. Frau Ministerin, Sie nicken. Die Frage des Ob ist unter Fachleuten eigentlich schon entschieden. In der jetzigen Lage kann die Politik nicht bis 2007, also bis nach der nächsten Bundestagswahl, damit warten, eine Antwort auf die Frage des Wie zu geben. Das Ob ist unter Fachleuten bereits entschieden. Geben wir doch jetzt gemeinsam - vor allen Dingen Sie zusammen mit dem Ministerium - eine Antwort auf das Wie! Ich glaube, dass wir hier einen großen Beitrag für mehr Beschäftigung leisten können. Wenn wir das aber in den nächsten anderthalb Jahren nicht angehen und weiter jeden Tag 700 Jobs verlieren, dann werden wir uns wundern, wie schwer es sein wird, die Aufholjagd zu gewinnen und Grund in die Sache zu bekommen. Schönen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Peter Dreßen, SPD-Fraktion.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Laumann, gut gebrüllt zum Thema neue Listen für die Sozialwahlen! Aber ich glaube, dass Sie nicht ganz zu Ende gedacht haben. ({0}) - Nein. ({1}) Kollege Laumann, das gab es doch schon. Damals haben wir erlebt, dass Beschäftigte Interessenlisten aufgestellt und auf Anhieb 50 Prozent gewonnen haben, obwohl die Leute, die sie gewählt haben, nicht einmal wussten, was sie eigentlich vertreten. Hinterher ist herausgekommen, dass es sich um von Krankenkassen gesteuerte Listen handelte. Wir sollten uns genau überlegen, wie die Sozialwahlen durchgeführt werden sollen ({2}) - das kostet natürlich wieder Geld; denn solche Wahlen sind nicht billig -, und wir dürfen dabei nicht vergessen, was in der Vergangenheit zum Teil passiert ist. Der Kollege Zöller hat in seinem Eingangsreferat erläutert, allein die Versicherten seien für den Erfolg verantwortlich. Zugegeben, er hat Recht. Aber, Herr Kollege Zöller, wir dürfen nicht vergessen, dass wir ursprünglich noch mehr wollten. Wir wollten auch die Leistungserbringer ein bisschen mehr in die Pflicht nehmen. Hier wurden uns allerdings durch die Verhandlungen mit Ihnen Schranken gesetzt. Ich darf außerdem daran erinnern, dass wir die Einführung einer Positivliste vorgeschlagen hatten, um die Pharmaindustrie etwas besser in den Griff zu bekommen. Muss denn dieser Industriezweig erst Gewinne in Höhe von 25 Prozent des Umsatzes machen, bevor es ihm gut geht? Ich habe erst neulich wieder gelesen, dass eine Pharmaindustrie, die einen Gewinn in Höhe von 15 Prozent des Umsatzes macht, sozusagen Halsweh hat, dass es ihr schlecht geht und dass sie dann Leute entlassen muss. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass die Einführung einer Positivliste nicht schlecht gewesen wäre. Ich erinnere des Weiteren daran, dass wir einen Korruptionsbeauftragten haben wollten. Aber auch das ist den Verhandlungen zum Opfer gefallen. Man muss ja froh sein, dass die AOK Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen und einiges aufgedeckt hat. Einen Korruptionsbeauftragten bräuchten wir sicherlich auch in Zukunft. Kollege Zöller, ich könnte mir außerdem vorstellen, dass die Umsetzung unseres damaligen Vorschlags für mehr Transparenz, wonach die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur auf Verlangen, sondern obligatorisch eine Rechnung vom Arzt bekommen sollten, einiges bewirkt hätte. Als Letztes möchte ich auf das Thema Transparenz noch genauer eingehen. Wir haben heute über die Gehälter der Vorstandsmitglieder der gesetzlichen Krankenkassen hart diskutiert. Dazu will ich nur sagen: Wenn es das GMG nicht gäbe, würden wir darüber gar nicht diskutieren. ({3}) In § 35 a Abs. 6 des SGB IV steht jetzt, dass die Gehälter veröffentlicht werden müssen. Das war früher nicht der Fall. Gäbe es diese Vorschrift nicht, könnten wir uns nun gar nicht streiten, weil wir die Höhe der Gehälter gar nicht erfahren hätten. Insofern glaube ich, dass das GMG insgesamt gut ist. In diesem Zusammenhang denke ich insbesondere - deswegen kann ich Ihrer Aussage, allein die Versicherten seien für den Erfolg verantwortlich, nicht ganz zustimmen, Herr Kollege Zöller - an die I-Karte, die Disease-Management-Programme und die Fallpauschalen, alles Dinge, die die Leistungserbringer zwingen, etwas zu tun. Herr Parr, auf Sie möchte ich eigentlich gar nicht eingehen. Nur so viel: Wenn ich die Wahlprogramme Ihrer Partei lese und mir die Äußerungen Ihres Vorsitzenden vor Augen führe, dann muss ich feststellen, dass Sie nur von Privatisierung reden. Ihr Motto scheint zu sein: Ab in die privaten Krankenversicherungen! Haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie hoch allein die Verwaltungskosten der privaten Krankenkassen sind - sie sind mehr als doppelt so hoch wie die der gesetzlichen Krankenversicherung - und was es für Familien und Rentner bedeutete, wenn sie die hohen Beiträge zur PKV zahlen müssten? Das wäre ein Unding hoch drei. Herr Parr, ich kann nur der Kollegin Selg zustimmen, die vorhin Ihre Ausführungen als eine interessengeleitete Rede zugunsten der PKV bezeichnet hat. Nichts anderes war Ihre Rede! ({4}) Ich komme zum Schluss. Ich bin froh, dass wir mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die beiden Solidargedanken - derjenige, der mehr verdient, hilft demjenigen, der weniger hat, und der Gesunde ist für den Kranken da - erhalten haben und dass wir in Zukunft den Solidargedanken mit unserem Gesetzesvorhaben zur Einführung einer Bürgerversicherung noch ausweiten wollen. Denn es weitet ihn aus, wenn Besserverdienende in der gesetzlichen Krankenversicherung zum Beispiel den Hartz-IV-Empfängern helfen und die Beiträge sinken. ({5}) Das ist eine gute Geschichte. Ich kann Sie nur auffordern, Ihre Blockadehaltung in dieser Hinsicht aufzugeben. Wir alle sind froh, wenn die Bürgerversicherung kommt, wie wir es vorsehen. ({6}) - Das kann ich mir vorstellen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ Patientenverfügungen - Drucksache 15/3700 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wie werde ich sterben? Werde ich unter starken Schmerzen leiden müssen? Werde ich einsam sterben müssen? Allein in einem Krankenhauszimmer? An Kabel und Schläuche angeschlossen und einer nicht mehr loslassen wollenden Medizin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert? Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind Fragen, die für die meisten jüngeren Menschen - das ist auch gut so - sicher noch kaum eine Rolle spielen. Für viele sehr kranke oder ältere Menschen, für die der Tod - oder treffender gesagt: das Sterben - näher kommt, werden diese Fragen immer wichtiger. Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages hat in der letzten Legislaturperiode vor allem Themen bearbeitet, die den Beginn des menschlichen Lebens betrafen, Forschung an embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik beispielsweise. In dieser Legislaturperiode befasst sich die Enquete-Kommission nun auch mit dem Ende des Lebens. Damit arbeiten wir an einem Thema, das irgendwann in allen Familien besprochen werden wird. Damit haben wir die Verantwortung angenommen, uns mit den Fragen zu beschäftigen, die ich eingangs erwähnte. Ich bin überzeugt, dass wir auf diese Fragen Antworten bieten können. Wir werden das in einem Bericht zu Palliativmedizin und Hospizbewegung tun, den wir nächstes Jahr vorstellen werden. Wir werden mit unseren Antworten vielen Menschen die Angst vor einem schmerzvollen Tod nehmen können. Wir werden Möglichkeiten aufzeigen, wie die Angst vor dem einsamen Sterben genommen werden kann. Dennoch bleibt es die Entscheidung eines jeden einzelnen Menschen, seine individuelle Antwort auf die eingangs erwähnten Fragen zu finden. Es ist auch sein unabdingbares Recht, dies zu tun. Jeder einwilligungsfähige Mensch, jeder, der in der Lage ist, die Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung zu überblicken und zu beurteilen, kann sein Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen. Das kann auch bedeuten, dass er zum Beispiel eine medizinische Behandlung ablehnt, sei sie noch so vernünftig oder sogar lebensrettend. Ein Arzt dürfte ihn dann nicht behandeln. Genauso gut aber könnte sich der Patient noch in der letzten Minute für die Therapie entscheiden, die er noch vor kurzem abgelehnt hat. Schwierig wird die Suche nach den richtigen Antworten auf diese Fragen, wenn ein Patient nicht mehr einwilligungsfähig ist und Dritte die Entscheidung für ihn treffen müssen. In diesem Zusammenhang sehen viele Menschen - man schätzt, bis zu 10 Prozent der Bevölkerung - eine Lösung darin, eine Patientenverfügung zu verfassen. Unter einer Patientenverfügung versteht man gemeinhin eine Willensäußerung, mit der jemand festlegt, in welcher Weise er medizinisch behandelt oder eben auch nicht behandelt werden möchte, falls er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst zustimmungsfähig ist. Weil dieses Thema bei den Menschen zunehmend Bedeutung erlangt und wir eine Verunsicherung bei der Auslegung von Rechtsprechung bei Patienten und Ärzteschaft feststellen können, hat die Enquete-Kommission im Oktober 2003 beschlossen, das Thema Patientenverfügung aus ihrem Aufgabenbereich „Menschenwürdig leben bis zuletzt“ herauszunehmen und einen Zwischenbericht dazu vorzulegen. Der Zwischenbericht, den wir heute debattieren, ist nach fast einjähriger intensiver Beratung auch unter Zuhilfenahme externen Sachverstandes und nach Diskussionen in der Öffentlichkeit und Besuchen von Einrichtungen wie zum Beispiel Hospizen entstanden. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal betonen, für welchen beispielhaften parlamentarischen Glücksfall ich das Instrument der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages halte. Die Arbeitsweise und die Zusammensetzung der Enquete-Kommissionen tun der parlamentarischen Arbeit gut. Es ist gut, dass sich unser Parlament diese Freiheit bewahrt. 13 Mitglieder des Bundestages aus allen Fraktionen arbeiten mit 13 berufenen Sachverständigen gleichberechtigt zusammen. Meinungsbildung und -austausch finden sehr häufig sehr intensiv und leidenschaftlich - manchmal auch zum Leidwesen des Vorsitzenden - im Plenum der Kommission statt. Jedes Mitglied bringt seine politischen und fachlichen, aber eben auch seine persönlichen Erfahrungen in die Arbeit mit ein. Wohl deshalb finden Entscheidungen in der Regel über die Parteigrenzen hinweg statt. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen ganz herzlichen Dank an die Sachverständigen und an alle Mitarbeiter des Sekretariats der Enquete-Kommission richten, die wirklich hervorragende Arbeit verrichtet haben. ({0}) Auch die Diskussion zum Zwischenbericht „Patientenverfügung“ ist sehr intensiv geführt worden. Die Enquete-Kommission ist der Ansicht, dass der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille eines Menschen grundsätzlich verbindlich ist, wenn die Verfügung freiwillig und im Zustand der Einwilligungsfähigkeit abgegeben wurde. Arzt, Betreuer und Bevollmächtigter haben dann den Willen des Patienten umzusetzen, wenn es keine Anhaltspunkte für eine Willensänderung gibt. Einen Vorbehalt macht allerdings die absolute Mehrheit der Enquete-Kommission - wie ich finde, zu Recht -: Eine Patientenverfügung kann nicht unabhängig vom Krankheitsverlauf gesehen werden. Die Schwierigkeit einer Patientenverfügung ist nämlich, dass sie sich auf eine Situation in der Zukunft bezieht, auf den Krankheitsfall, in dem man nicht mehr selbst entscheiden kann. Dieser Fall ist fast nie genau vorherzusagen. Eine angepasste ärztliche Beratung und Information, die vielleicht unvorhersehbare Möglichkeiten aufzeigt, aber immer auch Voraussetzung für eine selbstbestimmte Entscheidung ist, kann nicht mehr durchgeführt werden. Es kann also dazu kommen, dass eine Patientenverfügung, die vor Monaten oder vielleicht vor Jahren von einem Gesunden verfasst worden ist, für eine jetzt eingetretene Krankheitssituation angewandt werden soll. Es kann sein, dass der ursprünglich geäußerte Wille dem jetzigen Wohl des Patienten elementar gegenübersteht. „Wenn ich einmal dement bin, will ich keine medizinische Versorgung mehr!“ - Was soll der Arzt tun, der diese Patientenverfügung liest, vor sich jedoch eine zwar demente, aber in ihrer Art fröhliche alte Frau sieht, die sich freut, wenn ihre Enkelkinder zu Besuch kommen? Soll er sie an einer Lungenentzündung sterben lassen, die durch Antibiotikagabe innerhalb weniger Tage wieder kuriert werden könnte? Die Mehrheit der EnqueteKommission sagt Nein und fordert eine gewisse Flexibilität, wenn es um die Entscheidung über Leben und Tod geht. ({1}) Sie bewegt sich nach meiner Auffassung damit in einer vermittelnden und abwägenden Position zwischen der absoluten Selbstbestimmung und Durchsetzung des Willens auf der einen und dem Wohl des Menschen auf der anderen Seite. Eine Minderheit der Kommission lässt das Pendel eher zur Seite der vermeintlichen Selbstbestimmung ausschlagen. Diese Frage, wie man sich bei dem Konflikt zwischen Wille und Wohl entscheidet, wird sicher auch die nun beginnende parlamentarische Diskussion bestimmen. Wir geben die Entscheidung nun in die Hände des Parlamentes und in die Verantwortung eines jeden und einer jeden einzelnen Abgeordneten. Nutzen Sie zu Ihrer Entscheidung die Grundlage, die wir mit unserem Zwischenbericht anbieten! Ich bin mir sicher, dass wir - gleich wie wir letztendlich entscheiden werden - bei dieser schwierigen Frage des Lebens und Sterbens immer Härtefälle haben werden. Deswegen wünsche ich uns allen eine glückliche Hand und eine gute Entscheidung. Danke. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Frage, wie man sich das Ende seines Lebens vorstellt, ist eine sehr persönliche Frage. Die meisten Menschen werden wohl den Wunsch haben, so zu sterben, wie es die Bibel über Abraham schreibt: „alt und lebenssatt“. Mit der steigenden Lebenserwartung und dem medizinischen und technischen Fortschritt erlangt das Thema „Menschenwürdige Sterbebegleitung und Patientenverfügung“ zunehmend an Bedeutung. Der Umgang mit Sterben und Tod ist ein zentrales Thema gerade auch für uns Christdemokraten, denn es hat Bezüge zum eigenen Menschenbild. Nicht nur Wissenschaft und Politik, sondern auch die Öffentlichkeit befassen sich mit der ethischen Fragestellung, was medizinisch am Lebensende eines Menschen wünschenswert, sinnvoll, aber auch problematisch oder sogar menschenunwürdig sei. Viele Menschen haben Angst vor einer Situation, in der sie nicht mehr selber einwilligungsfähig sind. Sie wollen nicht bei einer schweren Krankheit oder am Lebensende gegen ihren Willen einer technisierten Medizin ausgeliefert sein. Uns ist es wichtig, die Menschen ernst zu nehmen. Das heißt zum einen, die Palliativmedizin sowie die Hospize auszubauen. Deutschland hängt auf diesem Gebiet der Entwicklung in anderen europäischen Ländern erheblich hinterher. Die Hospizbewegung vermittelt durch ihren ehrenamtlichen Einsatz den sterbenden Menschen das Gefühl, dass sie bis zuletzt geachtet und geliebt sind. Das heißt zum anderen, Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten zu ermöglichen. Diese stellen eine Möglichkeit für die Menschen dar, konstruktiv auf solche Besorgnisse und Befürchtungen zu reagieren, und bieten dem Patienten die Möglichkeit, zu vermeiden, dass in der Situation einer Einwilligungsunfähigkeit etwas mit ihm passiert, geschieht oder bei ihm unterlassen wird, was er selber nicht möchte. Für uns Christdemokraten stellen Patientenverfügungen und Palliativmedizin sowie Hospize einen humanen Gegenentwurf zur aktiven Sterbehilfe dar, wie sie leider in den Niederlanden praktiziert wird. Auch die Kirchen haben dies mit ihrer „Christlichen Patientenverfügung“ zum Ausdruck gebracht. Grundsätzlich gilt: Die Rechtmäßigkeit eines medizinischen Eingriffs ist von der Zustimmung des Patienten abhängig. Die Frage, mit der wir uns jetzt hier befassen, ist die, ob dies auch bei einer Festlegung für die Zukunft, also einer Vorausverfügung im Falle eigener Nichteinwilligungsfähigkeit uneingeschränkt gilt. Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Bundestages hat sich für eine gesetzliche Verankerung der Patientenverfügung ausgesprochen, um Rechtsklarheit zu schaffen. Sie hat jedoch eine inhaltliche Begrenzung vorgenommen, die extrem weit reichende Verfügungen ausschließt. Insbesondere für Grundleiden, die heilbar sind, wo es also Behandlungsmöglichkeiten gibt, sollte kein Ausschluss lebenserhaltender Maßnahmen im Voraus erfolgen können. ({0}) Bei Patientenverfügungen gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Lebens auf der einen Seite und dem Recht auf Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Doch was ist das eigentlich: Selbstbestimmung? Für Frau Zypries scheint die Antwort unproblematisch: Sie will die aktuelle Einwilligung in eine konkret in Aussicht gestellte Behandlung letztlich auf das gleiche Niveau wie eine vor Jahren getroffene Verfügung stellen. Beides soll im entscheidenden Moment das gleiche Gewicht haben. Aus dem bürgerlichen Recht wissen wir aber, dass es schon bei weniger schwer wiegenden Festlegungen Einschränkungen gibt: Anfechtungsgründe, Kündigungsgründe und Möglichkeiten des Widerrufs, um nur einiges zu nennen. Unser Recht geht also relativ vorsichtig mit dem um, was Menschen rechtsverbindlich erklären können. Ich denke, dies muss erst recht bei Fragen gelten, bei denen es um Leben und Tod geht. Meine Damen und Herren, Selbstbestimmung bedeutet zunächst etwas ganz Konkretes: Ich befinde mich in einer bestimmten Situation und entscheide aufgrund und in Ansehung dieser Situation, was ich tue und was gegebenenfalls andere Menschen mit mir tun dürfen. Diese aktuelle Selbstbestimmung erfährt in der Medizin keine Einschränkung. Eine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Patienten ist nicht vertretbar. Hiervon zu trennen ist jedoch die Möglichkeit des Menschen, im Voraus, also für die Zukunft, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Wir müssen uns klar machen: Menschen ändern ihre Einstellungen im Laufe der Zeit. Erfahrungen, Lebensumstände, Alter, soziales Umfeld - all dies sind Faktoren, die unsere Lebenspläne, unsere Wertvorstellungen und das, was wir als erstrebenswert, als erträglich oder als wünschenswert empfinden, verändern. Es sind die großen Krisen des Lebens, die unsere eigenen Vorstellungen und Meinungen vom Leben verändern. Das gilt natürlich erst recht für die Sterbephase. Es besteht ein Unterschied zwischen einer Entscheidung in der Gegenwart und einer Verfügung für die Zukunft. Wir müssen auch im Auge behalten, dass sich die Festlegung für die Zukunft womöglich gegen den aktuellen Patientenwillen in einer konkreten Situation richten kann. Wir müssen also mit Vorausverfügungen vorsichtig umgehen: Je schwerer eine Entscheidung wiegt und je gravierender die Folgen eines Behandlungsverzichts sind, desto mehr Vorsicht ist geboten. So stellt es zum Beispiel einen Unterschied dar, ob ein Patient, der an einem tödlichen Krebsleiden erkrankt ist und in dessen Gehirn sich Metastasen gebildet haben, für den Fall bald eintretender Bewusstlosigkeit darum bittet, keine weitere ärztliche Behandlung zu erfahren, oder ob jemand einmal vor langer Zeit als junger Mensch verfügt hat, dass er keine Wiederbelebung nach einem Unfall wünscht, wenn die Gefahr besteht, dass er infolge dieses Unfalls an einen Rollstuhl gebunden sein wird. Beides sind doch völlig unterschiedlich gelagerte Fälle. Die Enquete-Kommission hat in der Mehrheit empfohlen, die Patientenverfügung auf die Fälle zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Heilbehandlung aus ärztlicher Sicht zum Tode führen wird. Eine zeitliche Nähe zum Tod ist damit nicht erforderlich. Mit dieser inhaltlichen Reichweitenbegrenzung versuchen wir, den Problemen und Gefahren von Vorausverfügungen Rechnung zu tragen, ohne das Selbstbestimmungsrecht des Patienten unverhältnismäßig zu beschneiden. Besonders bedenklich am Referentenentwurf von Frau Zypries ist die Regelung zum mutmaßlichen Willen. Ist der Patient einwilligungsunfähig und hat keine Patientenverfügung erstellt, wird dem Betreuer oder Bevollmächtigten eine unbeschränkte Entscheidungsbefugnis eingeräumt. Da keine Vorausverfügung vorliegt, wird auf allgemeine Äußerungen zurückgegriffen. Die Entscheidung des Bevollmächtigten oder Betreuers wird also regelmäßig auf Mutmaßungen beruhen. Hier können auch Missverständnisse entstehen. Der Referentenentwurf sieht hierfür weder eine inhaltliche Begrenzung noch eine wirksame Kontrolle vor. Dies schafft Missbrauchsgefahren und Rechtsunsicherheiten. Es wird die Möglichkeit eröffnet, dass Dritte - nicht der Patient - unbegrenzt über das Weiterleben des Patienten entscheiden. Der Bevollmächtigte kann sogar gegen den Willen des Arztes den Behandlungsverzicht verfügen. Dass ein Bevollmächtigter unter Umständen ein fremdes Interesse am Unterlassen der lebensnotwendigen Behandlung haben kann, bleibt außer Acht. Die Enquete-Kommission hat demgegenüber ein beratendes Konsil empfohlen, das eine vorherige Anhörung des Pflegepersonals, der nahen Angehörigen oder mitbehandelnder Ärzte sicherstellt. Meine Damen und Herren, das Thema Patientenverfügung ist aber nur ein Teilaspekt der Situation am Lebensende. Wer die Patienten und ihr Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt, muss beachten, was sie sich am Lebensende wünschen, nämlich nicht allein gelassen zu werden und nicht unter Schmerzen leiden zu müssen. Die CDU/CSU fordert deshalb eine Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung sowie einen Ausbau der Hospize. ({1}) Unter den zahlreichen Briefen, die mich zu diesem Thema erreichen, schrieb mir ein Ehemann über das Sterben seiner Frau folgende Zeilen: Meine Frau hatte zum Schluss Selbstbestimmung, Biografie und Sprache verloren, nicht aber ihre Persönlichkeit. So weit reicht die Reduktion nicht. Anmut und Würde bleiben ihr bis zum Schluss erhalten. Von außen aber, für die Tüchtigkeitsfanatiker, hätte ihr Leben sicherlich keinen Wert mehr gehabt. Ich denke, diese Zeilen müssen uns alle nachdenklich stimmen. Unsere Gesellschaft sollte sich der Auseinandersetzung mit dem Tod stellen und diesen nicht aus der Lebenswelt der Menschen verbannen. Nur so können wir angemessene Wege für ein Sterben in Würde finden. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/ Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Alte, gebt den Löffel ab!“, das war der Kommentar des Jungliberalen Dittrich zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Nein, er habe natürlich mitnichten einen rotzfrechen Appell zum pflegekassen- und erbenfreundlichen Frühableben beabsichtigt, sondern alles ganz harmlos und anders gemeint. Aber dieser vergiftete Pfeil haftet mit Widerhaken und er verstärkt die unterschwellige böse Botschaft, der sich Alte, schwer und chronisch Kranke täglich ausgesetzt fühlen, wenn sie auf allen Kanälen und Sendern und in Zeitungen mit immer neuen Meldungen von explodierenden Pflegekosten, der so genannten Vergreisung der Gesellschaft und Pflegenotständen konfrontiert werden. Sie sehen sich einem aggressiven Jugend- und Vollkommenheitswahn ausgesetzt, in dem ein gutes Leben im Rollstuhl, als Demenzkranker oder - wie Sie hier sehr eindrucksvoll gesagt haben, Herr Kollege Rachel - als Sterbender völlig zu Unrecht überhaupt nicht mehr vorstellbar erscheint. Viele alte Menschen haben dieses gesellschaftlich vermittelte Zerrbild bereits verinnerlicht. Genau in diesem Sinne haben mir etliche alte Leute geschrieben, dass ein Leben als schwer Pflegebedürftiger oder Demenzkranker nicht lebenswert sei und viel Geld zur Betreuung verschlinge, für das die Gesellschaft, ihre eigenen Kinder und Enkelkinder sinnvollere Verwendungsmöglichkeiten hätten. Das zu lesen tut mir ziemlich weh. Die allermeisten Menschen wünschen sich ein Sterben ohne unnötige Leiden und Schmerzen zu Hause, pflegerisch und medizinisch gut betreut im Kreise vertrauter und lieber Menschen. Aber ganz im Widerspruch zu diesem dringlichsten aller Wünsche sterben die meisten in Krankenhäusern oder anderen Einrichtungen. Mit dem Tod hat die Gesellschaft auch die Sterbenden aus ihrer Mitte verbannt. Schon der Philosoph Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass die bürgerliche Gesellschaft ihren Mitgliedern die Möglichkeit verschafft hat, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. Er schrieb: Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. … Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut. Das Wissen darum, dass wir alle einmal sterben müssen, steht im schroffen Gegensatz zum weit verbreiteten Unwissen über Tod und Sterben und macht uns anfällig für vermeintlich klare und eindeutige Auswege aus diesem Dilemma. Nur vor diesem Hintergrund ist überhaupt zu verstehen, warum viele Menschen eine verbindliche Patientenverfügung, die ohne jede Begrenzung auch für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bei nicht tödlich verlaufenden Krankheiten gelten soll, für den Königsweg zum Sterben in Autonomie und Selbstbestimmung halten. Begriffe wie Selbstbestimmung und Autonomie suggerieren, dass das eigene Sterben mit einer Mentalität angegangen werden könne, die der Karriereplanung entspricht. Jeder, der jemals mit Kranken, schwer Pflegebedürftigen, Gehandicapten oder Sterbenden zu tun hatte, weiß, dass das völlig lebensfremd ist. Frau Ministerin Zypries, Sie wurden in einem Interview mit der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ am 18. November 2004 mit dem Beispiel eines jungen, sportlichen Menschen konfrontiert, der vorausverfügt, dass bei ihm nach einem schweren Unfall mit Querschnittslähmung alle lebenserhaltenden Maßnahmen abgebrochen werden müssen, weil er nicht im Rollstuhl sitzen will. Die Frage, ob das umzusetzen sei, bejahten Sie: Wenn es eine völlig eindeutige Verfügung ist und die Eltern diese nur nicht akzeptieren wollen, haben sie keine rechtlichen Möglichkeiten. Ich frage mich: Wie können Lebenspartner, Kinder oder Eltern mit solch einem Handeln weiterleben? In welche Rolle werden Ärzte und Pflegende gedrängt, deren Aufgabe das Helfen, Heilen, Lindern sowie die tägliche Pflege und Versorgung ist? In diesem Beruf erlebt man tagtäglich, dass Menschen, wenn sie ansprechbar und bei Bewusstsein sind, auch in schwierigsten Situationen, zum Beispiel einer Querschnittslähmung, zusammen mit ihren Ärzten und Verwandten durchaus Mut machende neue Lebensperspektiven entwickeln. ({0}) Besonders für Demenzkranke und Wachkomapatienten wird immer wieder die Möglichkeit einer Einstellung der Ernährung eingefordert. Die Kollegen Röspel und Rachel haben schon darauf hingewiesen. Ich habe 13 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, überwiegend auf einer internistischen Intensivstation. Wir wissen aus der Palliativmedizin, dass in der Sterbephase Ernährung nicht angezeigt ist, weil sie eher Unwohlsein und Unbehagen beim Patienten verursacht. Wir wissen aber nicht, wie eine Einstellung der künstlichen Ernährung zu einem früheren Zeitpunkt, deutlich vor der Sterbephase, vom Patienten erlebt wird. Ganz klar sind aber die körperlichen Folgen: Die Einstellung der Ernährung hätte den Tod des Patienten nach Wochen, wenn sowohl die Ernährung als auch die Flüssigkeitsgabe eingestellt wird, oder - bei Fortsetzung der Flüssigkeitsgabe - bis zu Monaten zur Folge. Im Klartext heißt das: Verhungern und Verdursten. Ich bin als Krankenschwester nie in eine solche Lage gekommen. Es ist für mich schlechterdings unvorstellbar, dass eine Patientenverfügung dies in Zukunft möglich machen könnte. ({1}) Wie sollen wir Bundestagsabgeordnete den Schwestern und Pflegern klar machen, dass es zukünftig zu ihren Aufgaben gehören soll, Menschen zu pflegen und sie gleichzeitig über Wochen verhungern zu sehen? Wer je Wachkomapatienten gepflegt hat - ich habe sie gepflegt -, erkennt an vielen Zeichen, ob er und sie sich wohl fühlt oder ob dem Betreffenden etwas fehlt. Was soll das für ein ärztliches Ethos sein, wenn Ärzte gesetzlich gezwungen würden, so etwas anzuordnen? Was soll aus einer Gesellschaft werden, die im Namen von vorgeblicher Autonomie und Selbstbestimmung nicht Einwilligungsfähige auf solche Art und Weise dem jämmerlichen Verhungern und Verdursten anheim gibt? Frau Ministerin Zypries und Herr Kauch, niemand im Bundestag verwechselt aktive und passive Sterbehilfe. Ich brauche aber kein Prophet zu sein, um vorherzusagen: Wenn in unseren Heimen und Krankenhäusern Menschen auf diese Art und Weise verhungern und verdursten, dann wird der Ruf nach aktiver Sterbehilfe sofort laut erschallen. Das ist ganz klar. ({2}) Trotz aller Probleme gehören wir zu den reichsten Ländern der Erde. Aber da, wo es um Krankheit, Alter und Sterben geht, haben wir noch beschämend viel zu tun. Glücklicherweise gibt es seit Jahren eine langsam, aber stetig wachsende Bürgerbewegung für ein menschenwürdiges Leben bis zum letzten Atemzug, maßgeblich bewegt von den Hospizvereinen. Den Hospizvereinen, denjenigen, die die Menschen pflegen und einen großen Teil ihrer eigenen Lebensqualität zurückstellen, weil es ihnen wichtig ist, dass Menschen in unserer Gesellschaft in Würde und gut aufgehoben krank sein und sterben können, schulden wir sehr viel Dank. Ich glaube, diesen Dank sollten wir alle immer wieder auch bei unserer Wahlkreisarbeit aussprechen. Das will ich auch hier tun: Vielen herzlichen Dank! ({3}) Diese beruflich oder ehrenamtlich Tätigen und die Familienangehörigen sollten wissen: Sie haben im Parlament gute Bündnispartner, die wirklich notwendigen, überfälligen Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Eine davon - aber nicht die bedeutendste - ist die Verbesserung der Patientenverfügung als wichtiges Indiz für den Willen der Patienten. Das heißt aber auf gar keinen Fall, die Patientenverfügung zum Goldenen Kalb der Patientenautonomie aufzublasen und sie zu vergötzen. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch, FDP-Fraktion.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion und auch die Minderheit in der Enquete-Kommission, zu der ich gehöre, begrüßen, dass wir uns endlich auf der Grundlage des vorliegenden Zwischenberichtes über das zentrale ethische Thema der Patientenverfügung austauschen können. Eines möchte ich voranstellen: Frau Nickels hat hier wieder ein Beispiel dafür gegeben, wie zur Emotionalisierung der Debatte Dinge vermischt werden, die nicht vermischt gehören. ({0}) Frau Nickels, zu der peinlichen Aufforderung, den Löffel abzugeben, möchte ich nichts sagen; das hat mit der Diskussion hier nichts zu tun. Aber die Hysterie, die Sie schüren, ist doch nur dazu geeignet, eine sachliche Auseinandersetzung zu verhindern. Das ist ein gängiges Argumentationsmuster und zeigt, in welcher Art und Weise die Mehrheit in der Kommission hier agiert. ({1}) Wir reden im Zusammenhang mit der Patientenverfügung eben nicht über aktive Sterbehilfe oder assistierten Suizid. Wir reden nicht über die gezielte Tötung von Menschen. Es geht auch nicht um die Verweigerung indizierter und gewünschter Behandlungen. Vielmehr streiten wir über die Regeln für Patientenverfügungen, die vorsehen, eine Therapie abzubrechen oder gar nicht erst aufzunehmen. Es geht nicht um Töten. Es geht um Sterben-Lassen. ({2}) Es geht darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der Patient das wünscht. Bereits im Juni 2004 haben die Liberalen als erste und einzige Fraktion einen Antrag zur Stärkung der Patientenautonomie und Patientenverfügung in den Deutschen Bundestag eingebracht. Leitbild ist dabei unser liberales Menschenbild, das eines Menschen, der über sein Leben auch in existenziellen Fragen so weit wie möglich selbst entscheiden kann, ein Menschenbild, das Selbstbestimmung Vorrang vor Überlegungen Dritter gibt - und seien sie noch so fürsorglich. Frau Nickels, der Arzt kann gehen; der Patient kann es nicht. Wenn sich ein Arzt aus seinen ethischen Grundüberzeugungen heraus nicht in der Lage sieht, eine Willenserklärung eines Patienten umzusetzen, dann muss er dafür sorgen, dass ein anderer Arzt den Patienten betreut. Wenn sich kein Arzt findet, der es aufgrund seines ärztlichen Ethos für vertretbar hält, dem Patientenwillen zu folgen, dann werden wir es wahrscheinlich mit einer Patientenverfügung zu tun haben, die nicht anwendbar und umsetzbar ist. Sie aber drehen die Argumentation um. Der Arzt muss dies mit seinem Ethos vertreten; das ist Ihre zentrale Argumentation. Nein, Frau Nickels, der Patient ist der Schwache, der nicht gehen kann und der vom Recht geschützt werden muss. ({3}) Die eigentliche Trennlinie zwischen den Lagern in dieser Diskussion liegt zwischen einem fürsorglichen Paternalismus, der Zwangsbehandlung in Kauf nimmt, und dem Vertrauen auf die Kraft und Urteilsfähigkeit des einzelnen Menschen. ({4}) Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstellung von einem autonomen Individuum. Natürlich ist der Mensch in Beziehungen eingebettet. Er hat auch innere Zwänge. Gerade bei der Patientenverfügung kommt hinzu: Er verfügt etwas für die Zukunft, etwas, was er nicht abschätzen kann, bei dem es Unsicherheiten gibt. Der vorausverfügte Wille ist immer schwächer als der aktuelle Wille. Aber was ist die Alternative? Die Alternative zu diesem schwächeren eigenen, vorausverfügten Willen ist die Fremdbestimmung durch Dritte. Bei aller Relativierung des autonom handelnden Menschen kann ich als Liberaler nur sagen: Wir entscheiden uns - im Leben wie im Sterben - für die Selbstbestimmung. ({5}) Meine Damen und Herren, die moderne Intensivmedizin hat bedeutende Möglichkeiten geschaffen, Leben zu retten und zu verlängern. Manche Menschen erleben dies als Chance, andere als unwürdige Behandlung. Die Frage, ob lebenserhaltende Maßnahmen ein Geschenk oder eine Qual sind, kann nur der einzelne Mensch für sich entscheiden. Jede medizinische Maßnahme - und eben nicht der Verzicht darauf - ist durch die Einwilligung des Patienten zu rechtfertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung; dem Arzt drohen strafrechtliche Konsequenzen. Das gilt im Grundsatz auch für den nicht einwilligungsfähigen Patienten. Die FDP will deshalb die rechtliche Verbindlichkeit von Patientenverfügungen stärken. Die Patienten brauchen Rechtssicherheit, insbesondere dann, wenn sie am schwächsten sind, weil sie nicht mehr kommunikationsfähig sind und sich deshalb nicht mehr wehren können. Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper gehört zum Kernbestand der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Wir bedauern daher, dass die Mehrheit der Enquete-Kommission die Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen nicht ablehnt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Kommissionsmehrheit, mit Ihrem Entwurf setzen Sie die Patientinnen und Patienten gegen ihren erklärten Willen Zwangsbehandlungen aus. Damit wird das Gegenteil von dem erreicht, was sich die Enquete-Kommission ursprünglich zur Aufgabe gemacht hat. ({6}) Denn die Rechtsfigur des „irreversibel tödlichen Verlaufs“ macht den Patienten von einer ärztlichen Prognose abhängig; diese ist aber genauso mit Unsicherheiten verbunden wie die Vorausverfügung des Patienten. ({7}) Für den Anwendungsfall des Wachkomas geht die Kommissionsmehrheit mit Blick auf die Selbstbestimmung noch hinter die Rechtslage zurück. Die Bundesärztekammer sagt, dass es sich nicht um Sterbende handelt - das ist richtig - und sie deshalb auch ernährt werden müssen. Allerdings sagt sie weiter: unter Beachtung ihres Willens. Diese Einschränkung wischt die Enquete-Kommission einfach weg. Auch gegen den Willen der Patienten sollen Magensonden gelegt, Sehnen zerschnitten, Antibiotika verabreicht und Reanimationen durchgeführt werden. ({8}) Das hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun. Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschränkungen setzen Sie sich locker hinweg. Wenn ein Zeuge Jehovas sagt, niemals eine Bluttransfusion zu wollen, auch wenn er deshalb sterben muss, dann halte ich das für tragisch und falsch, aber ich muss es achten. Durch eine Zwangsbehandlung würde in diesem Fall nicht nur die Menschenwürde, sondern auch die Religionsfreiheit mit Füßen getreten. ({9}) Die FDP möchte, dass Therapiebegrenzungen, Therapiewünsche und Therapieverbote in jeder Krankheitsphase möglich sind. Das gilt ausdrücklich nicht für die Basispflege; sie muss immer sichergestellt sein, beispielsweise das Waschen und das Befeuchten der Lippen. Voraussetzung ist, dass die Patientenverfügung klar definiert und anwendbar ist und dass sie - das ist etwas, dem die FDP große Bedeutung zumisst - dem Patienten noch personal zurechenbar ist. Hier kommen wir zu dem Fall der Demenzkranken. Wenn die Patientin, wie beschrieben, offensichtlich glücklich lebt und gar nicht mehr die Persönlichkeit darstellt, die sie einmal war, wenn sie auch nicht mehr weiß, dass sie einmal eine Patientenverfügung abgegeben hat, dann muss man dies natürlich anders bewerten, als wenn jemand, durch einen Unfall verursacht, im Wachkoma liegt, seinen Willen also nicht mehr ändern konnte und auch keine Willenserklärung mehr abgeben kann. ({10}) - Die Prüfung und Bewertung der Anwendung haben die Entscheider vorzunehmen, ({11}) also entweder, wie es Frau Zypries und die FDP wollen, im Falle des Konsenses der Arzt und der Betreuer bzw. Angehörige oder eben, wie Sie es wollen, das Vormundschaftsgericht. Wir von der FDP setzen uns - darin unterscheiden wir uns von dem anderen Minderheitenvotum - nur für die Schriftform ein, nicht für Aktualisierungs- und Beratungspflichten. Denn wir denken, dass es an der Lebenswirklichkeit vor allem älterer Menschen vorbeigeht, wenn bestimmte Willenserklärungen nur deshalb unwirksam werden, weil der Stichtag vergessen wurde, an dem eine weitere Unterschrift fällig war. Kurz vor unserer Debatte hat Frau Zypries ihren Gesetzentwurf überraschend zurückgezogen. Wir waren nicht in allen Punkten mit ihm einverstanden, aber wir haben in der Richtung übereingestimmt. Sie sind leider mit Ihrem Gesetzentwurf an den paternalistischen Hardlinern von Rot-Grün gescheitert. ({12}) Aus Sicht der FDP ist diese Entscheidung eine Bankrotterklärung. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik zu Recht eine Entscheidung in dieser Frage, die die Bundesregierung aber nicht herbeigeführt hat. Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von Patientenverfügungen müssen noch in diesem Jahr neu geregelt werden. Wir können die Neuregelung nicht wieder auf die nächste Legislaturperiode verschieben. Die Menschen erwarten eine Antwort. Das Parlament muss jetzt handeln. Wir haben als einzige Fraktion einen Antrag zur Patientenverfügung in den Bundestag eingebracht. Wir werden auf dieser Grundlage gemeinsam mit denjenigen im Parlament, die ähnlich denken wie wir, einen Gesetzentwurf erarbeiten, um diesen als Gruppengesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen und eine Entscheidung herbeizuführen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg, SPD-Fraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Streit, den wir heute erleben, und die Art und Weise, in der er geführt wird, stimmen mich sehr nachdenklich. Der Ton, den Herr Kauch eben angeschlagen hat, als er von Rechtsfiguren und Zwangsbehandlung gesprochen hat, verrät ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Strukturen, auf die wir angewiesen sind, wenn wir krank sind. Das spricht aus dem, was von Herrn Kauch eben dargestellt worden ist und was wir heute diskutieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Alternativen. Das Pflegepersonal und das ärztliche Personal in den Krankenhäusern beklagen sich sehr über eine Verrechtlichung der Medizin. Sie sind an Qualitätsnormen gebunden, die sich am BGB orientieren. Sie haben Behandlungsauflagen und Wirtschaftlichkeitsauflagen zu erfüllen, was sie auch tun. Das ist vermutlich auch notwendig, aber es steht zum Teil im Widerspruch zu dem, was sie aus Sorge und Fürsorge gegenüber den Patienten für richtig halten. Ich wünsche mir, dass wir Regelungen schaffen, die das wertvolle Gut der Empathie des Pflegepersonals und der Ärzte auch in Zukunft aufrechterhalten und die nicht dazu führen, dass Menschen gegen ihr Gewissen handeln müssen. Sie argumentieren, dass man sich schließlich einen anderen Arzt suchen könne. Das ist aber im Krankenhaus nicht so einfach. Im Krankenhaus gibt es Regeln und Hierarchien. Die Regeln müssen auch verlässlich sein, weil mit ihnen Haftungsfragen und rechtliche Konsequenzen verbunden sind. Wenn an die Stelle medizinischer Regeln und des Sorgeauftrags etwas Formales tritt, was allein kraft seiner schriftlichen Form Gültigkeit hat und nicht aus Empathie und Sorge entstanden ist, dann bedeutet dies einen Verlust, den wir nicht ersetzen können. Ich möchte Ihnen ein Beispiel anführen, um zu versuchen, das Dilemma ein wenig deutlicher zu machen. Ein Ehemann hat eine Patientenverfügung verfasst, in der festgeschrieben wird, dass in dem Fall, dass er in ein Koma fallen sollte, nach sechs Wochen alle Apparate und Maschinen ausgeschaltet und alle weiteren ärztlichen Maßnahmen eingestellt werden müssen. Aufgrund eines Unfalls kommt er in genau die von ihm unmissverständlich beschriebene Situation. Als sechs Wochen vergangen sind, müssten nach dem Wortlaut der Verfügung alle lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden. Seine Frau, die als Betreuerin eingesetzt ist, berät sich in dieser Situation mit den behandelnden Ärzten. Die Ärzte erläutern ihr, dass noch eine gut begründete Hoffnung besteht, dass ihr Mann wieder zu Bewusstsein kommen könnte. Daraufhin entscheidet sie sich gegen die Patientenverfügung und für die Weiterbehandlung ihres Mannes. Nach einer gewissen Zeit gelingt es den Ärzten, ihren Mann aus dem Koma zu holen. Heute ist er am Leben und auf dem Wege der Besserung. Wäre dagegen seine Patientenverfügung angewandt worden, wie es in dem inzwischen zurückgezogenen Gesetzentwurf des BMJ zwingend vorgeschrieben werden sollte, dann wäre dieser Mensch heute tot. Oft wird einem, wenn man einen solchen Fall schildert, entgegengehalten, eine Patientenverfügung müsse natürlich interpretiert werden, Patientenverfügungen würden nur in den seltensten Fällen auf die tatsächlich eingetretene Situation wirklich passen und Ähnliches. Daher sei es auch nicht zwingend, eine problematische Verfügung um jeden Preis umzusetzen. Das mag zwar in vielen Fällen so sein. Aber in dem gerade geschilderten Fall war es nicht so. Die Verfügung war absolut unzweifelhaft und eindeutig. Außerdem war genau die Situation eingetreten, die der Patient in seiner Verfügung beschrieben hatte. Daran gibt es nicht das Geringste zu deuteln. Die Ärzte und Angehörigen haben die Verfügung nicht interpretiert, sondern sie haben sich klar und bewusst gegen die Verfügung entschieden. Dafür hatten sie mehr als gute Gründe; denn sie konnten sicher sein, dass der Patient, wenn er in der konkreten Situation unter Kenntnis aller Umstände zu entscheiden gehabt hätte, eine andere Entscheidung getroffen hätte als die, die er vielleicht Jahre zuvor, als er seine Patientenverfügung verfasst hatte, niedergelegt hatte. Auch muss man sich einmal vorstellen, was es für Ärzte, Pflegepersonal und Betreuer bedeutet hätte, wenn per Gesetz festgelegt worden wäre, dass eine Patientenverfügung eine rechtsverbindliche Willenserklärung im Sinne des BGB darstellt. Dann hätten sie sich nämlich der Körperverletzung strafbar gemacht. Kein Arzt würde einen Patienten, der über das, was medizinisch möglich ist, genau aufgeklärt ist, gegen seinen erklärten und stabilen Willen behandeln; darüber sind wir uns alle einig. Wer nicht behandelt werden will, der darf auch nicht behandelt werden; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber dieser Grundsatz lässt sich nicht eins zu eins auf das Thema Patientenverfügung übertragen. Ein Patient, der im Koma liegt oder dement ist, hat nicht die Chance, die aktuelle Situation zu beurteilen und auf dieser Grundlage seine Entscheidung zu treffen. Er hat seine Entscheidung lange Zeit zuvor auf der Grundlage seines damaligen Wissensstandes und seiner damaligen Haltung getroffen. Vielleicht gibt es aber inzwischen neue therapeutische Möglichkeiten. Vielleicht haben sich seine Einstellungen inzwischen gewandelt. Vielleicht kann er trotz einer Demenz noch Freude am Leben haben, was diejenigen, die den Patienten kennen, bemerken. Entsprechende Beispiele haben wir gehört. Deshalb darf eine Patientenverfügung nicht als fortwirkende rechtsverbindliche Willenserklärung im Sinne des BGB angesehen werden, sondern sie ist die Äußerung eines Wunsches, die immer im Licht der eingetretenen Situation bewertet und ausgelegt werden muss. Das erfordert eingehende Beratung, die nicht von nur einem Arzt oder einer Pflegekraft geleistet werden soll. Vielmehr fordert die Enquete-Kommission - das halte ich für den wichtigsten Vorschlag, den sie erarbeitet hat -, dass es ein Konsil geben muss: Alle Personen, die dem Patienten gegenüber Verantwortung tragen - die Ärzte, das Pflegepersonal, die Angehörigen oder Betreuer sowie die Bevollmächtigten - sollten zusammenkommen und gemeinsam überlegen, was der Patient vor dem Hintergrund der vorliegenden schriftlichen und mündlichen Willenserklärungen in seiner gegenwärtigen Situation wollen würde. ({0}) In einem solchen Fall ist die Interpretation dieser Personen die beste Grundlage für eine Entscheidung. Ich bin der Meinung, dass es nicht schadet, sondern nützlich ist, wenn das Vormundschaftsgericht davon in Kenntnis gesetzt wird. Ich möchte nicht, dass das Vormundschaftsgericht entscheidet. Allerdings möchte ich, dass solch schwerwiegende Entscheidungen - die viel schwerwiegender sind als Haushaltsauflösungen, die dem Vormundschaftsgericht selbstverständlich vorgelegt werden müssen - zumindest erfasst werden. Nur so können wir gewährleisten, dass wir in Deutschland - anders als in der Schweiz, wo private Organisationen gegen Geld Suizidhilfe betreiben - überhaupt wissen, was passiert. Das Beispiel aus der Schweiz, das genannt wurde, zeigt, dass fast alle Menschen, die einen solchen Service in Anspruch genommen haben, gestorben sind.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber in den Fällen, in denen die Patienten genug Zeit hatten, um sich ihre Entscheidung zu überlegen, und in denen sie das tödliche Mittel nach Hause mitnehmen durften, wie es in Oregon der Fall ist, sind nur 40 Prozent so gestorben, wie sie es einmal geplant hatten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hier ist ein Wandel eingetreten. Deshalb denke ich, dass wir eine falsche Patientenautonomie fordern, wenn wir das Ganze verrechtlichen. Wir haben noch genug Zeit, hier über dieses Thema zu diskutieren. Derzeit besteht kein Zeitdruck. Daher sollten wir nicht vorschnell Änderungen der rechtlichen Regelungen beschließen. Ich freue mich auf die Debatte. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Entwicklung der Spitzenmedizin ist eine Dimension der persönlichen Betroffenheit und damit auch der persönlichen Verantwortung erreicht, die es im Zusammenhang mit medizinischen Möglichkeiten vorher so nicht gegeben hat. Deshalb ist es selbstverständlich, dass die Menschen in solchen Situationen verlässliche Orientierung brauchen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass Mediziner, Juristen und Politiker mit den wachsenden Möglichkeiten der Medizin verantwortlich umgehen. Aber trotz aller Fortschritte, trotz vieler Erfolge, Krankheiten auch im hohen Alter noch wirksam zu bekämpfen, gibt es selbstverständlich Grenzen. Sterben ist in der Regel nicht die Folge des Scheiterns ärztlichen Bemühens. Das muss man gerade vor dem Hintergrund der hohen Erwartungshaltung an die Medizin immer wieder neu betonen. Sterben lassen - das ist auch ein Stück Respekt vor der Würde von Menschen, die nicht mehr behandelbar sind und denen ein qualvoller Tod erspart werden sollte. Aber wann sind diese Grenzen der Therapie und des ärztlichen Heilauftrages erreicht? Gibt es Grenzen der Zumutbarkeit für die Patienten? Wann kann ein Mediziner es überhaupt verantworten, den letzten Schritt, den Therapieverzicht, zu gehen? Ist das mit seinem Berufsethos vereinbar? Wann hat das Selbstbestimmungsrecht des Patienten Vorrang vor der Garantenpflicht des Arztes? Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind Fragen, die gerade bei der Behandlung älterer und schwerstkranker Menschen für Ärzte und Angehörige nicht nur schwer zu beantworten, sondern oft auch schwer erträglich sind. Die Grenzen der Behandlung kann auch der Gesetzgeber nicht Punkt für Punkt definieren. Man kann nicht in Richtlinien festhalten, wann im Einzelfall eine Therapie an ihre Grenzen stößt. Das ist angesichts der Komplexität von Krankheiten im Alter weder möglich noch wünschenswert. Damit würde sich nämlich der Staat sehr schnell zum Zensor ärztlichen Handelns machen. Das ärztliche Berufsethos steht und fällt damit, dass der Arzt keine andere Aufgabe übernimmt als den Dienst am Leben. Er ist damit ein Anwalt des Schutzes menschlichen Lebens und der Menschenwürde verpflichtet. Aber ebenso selbstverständlich ist es, dass es auch nicht human sein kann, jeden Menschen, dessen Organismus definitiv versagt und dessen Leben zu Ende geht, mit allen Mitteln der Technik am Leben zu erhalten. Schutz menschlichen Lebens - das kann für einen Todkranken auch heißen, ihm jede erdenkliche Hilfe in der letzten Lebensphase im Sinne einer Hilfe im Sterben zu gewähren. Menschen haben ein Recht darauf, dass man sie menschenwürdig sterben lässt, wobei allerdings auch gilt: Nicht alles, was ein Patient will, zum Beispiel seine Tötung, kann der Patient erzwingen. Hier hat die Selbstbestimmung eine klare Grenze. Aber nichts, was er nicht möchte, muss er sich gefallen lassen, zum Beispiel eine Operation zur Verlängerung des Sterbeprozesses. Denn nicht die Effizienz der Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung bestimmt die Grenzen der Behandlungspflicht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sterbebegleitung - das heißt, Hilfe im Sterben - ist etwas ganz anderes als Hilfe zum Sterben. Die absichtliche Tötung, die gewaltsame Beendigung des Lebens, also die so genannte aktive Sterbehilfe und damit auch Tötung auf Verlangen, rühren an die Grundlagen der Menschlichkeit in unserer Kultur. Die Enquete-Kommission hat die Patientenverfügung zu Recht eingebettet in das große Ganze der Bemühungen um ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt. Wenn wir uns dem Thema „Tod und Sterben“ allerdings von der Seite der Patientenverfügung her nähern, zäumen wir das Pferd quasi von hinten auf. Die Patientenverfügung und der berechtigte Wunsch nach Selbstbestimmung dürfen eben nicht abgekoppelt werden von den Bemühungen um eine Stärkung der Hospizarbeit und der Palliativmedizin. ({0}) Neben der medizinischen Behandlung und Pflege umfasst die Sterbebegleitung aber auch eine ganz persönliche Betreuung. Es geht um den Aufbau einer Beziehung, in der sich der Patient angenommen und mit seinen Sorgen und auch mit seinen Ängsten nicht allein gelassen fühlt. So darf gerade Zeit am Sterbebett kein knapp kalkuliertes Gut sein. Zuwendung, insbesondere Gespräche mit Sterbenden über Belastendes, sind, wie ich meine, unverzichtbarer Bestandteil einer angemessenen, würdigen Begleitung im Sterbeprozess. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Auseinandersetzung darf die Gesellschaft aber nicht allein den so genannten Profis wie Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern überlassen bzw. aufbürden. Die Bereitschaft in unserer Gesellschaft muss wachsen, hier in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Es scheint modern zu sein, in Beziehungen möglichst unverbindlich zu sein. Aber was macht Partnerschaft und Familie noch aus, wenn die Beziehungen nicht die Tiefe haben, dass sie Fürsorge und Begleitung bis zuletzt umfassen? ({2}) Deshalb muss die Betreuung Sterbender insgesamt darauf ausgerichtet sein, so viel Lebensqualität wie möglich zu erhalten. Dazu gehört auch jede schmerzlindernde Therapie und ganz besonders menschliche Zuwendung. Wenn wir in diesem Geist gemeinsam das Ziel erreichen, hätte der Bundestag eine sehr menschliche Aufgabe positiv erledigt. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Zöller, als ich hier vor zwei Stunden vom Vorsitz der Sitzung abgelöst wurde, haben Sie geredet. Jetzt komme ich wieder, und Sie reden noch immer. ({0}) Das bringt meine Vorstellungen über die von den Fraktionen gewährten Redezeiten endgültig zum Einsturz. Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Selbstbestimmungsrecht gehört zum Kernbereich der grundgesetzlich geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Es wird durch die Willensäußerung des entscheidungsfähigen Menschen ausgeübt. Relevante Festlegungen können auch in die Zukunft wirken. Das deutsche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper höher als die Schutzpflichten anderer für sein Leben. ({0}) Das ist auch der Grund dafür, dass alle ärztlichen Eingriffe nur nach einer Einwilligung zulässig und ohne Einwilligung strafbar sind. Wie steht es aber um die Selbstbestimmung und Menschenwürde der 70 Prozent aller Menschen, die in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen sterben? Zwei Drittel der im Krankenhaus Beschäftigten sagen dazu, dass ein würdevolles Sterben im Krankenhaus nicht möglich sei. Die meisten Mediziner sind sich einig: Der Zeitpunkt und die Art des Sterbens werden zunehmend von medizinischen Entscheidungen bestimmt. So sind heute, wie es der Berliner Palliativmediziner Professor Christof Müller-Busch sagt, Sterben und Tod zu einer medizinischen Aufgabe geworden, da es immer weniger von den Krankheiten selbst abhängt, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärztlichen Maßnahmen. Er führt weiter aus, dass Sterben innerhalb medizinischer Institutionen letztlich immer nur dann ermöglicht wird, wenn auf Maßnahmen verzichtet wird, die zu einer, wenn auch begrenzten, Lebensverlängerung beitragen könnten. Aber gerade mit dieser Verzichtsentscheidung entstehen viele ethische Probleme und sie stellt in der Tat hohe Anforderungen an alle Beteiligten. Da ist es gut, zu wissen, wie die Person selbst entschieden hätte. In solchen Situationen sind Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten, wie sie 20 Prozent aller im Hospiz Behandelten haben, wichtige Hilfen, um Entscheidungen zu treffen, die dem Willen der Patientin und des Patienten entsprechen. Hier stellt sich die zentrale Frage: Muss der in einer Verfügung festgelegte Wille unabhängig vom Krankheitsstadium befolgt werden - zumal wenn er genau die Situation beschreibt - oder darf man den Willen missachten, weil der Patient ihn nicht mehr bestätigen kann und ein Dritter für ihn bzw. gegen ihn entscheidet? Ich sage dazu: Nein. Ich finde, das wäre eine falsch verstandene Fürsorge. Nach einer Umfrage glauben 50 Prozent der befragten Ärzte, es sei aktive Sterbehilfe, wenn sie aufgrund des geäußerten Willens des Patienten die Atemgeräte abstellen. Das macht nicht nur fehlendes juristisches Wissen deutlich, sondern das ist auch ein Indiz dafür, dass es zur Nichtverwirklichung der Patientenautonomie kommt. ({1}) Durch das BGH-Urteil vom 17. März 2003 wurde zwar die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung bestätigt, trotzdem herrscht in der Bevölkerung auch aufgrund der unterschiedlichen Rechtsprechung eine große Unsicherheit. Darum unterstütze ich das Bestreben der Bundesjustizministerin, das Selbstbestimmungsrecht durch gesetzliche Regelungen auch am Lebensende zu stärken und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Das bedeutet nicht den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in der Vergangenheit vielfach behauptet wurde. ({2}) Nur durch vier Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung überhaupt wirksam: Erstens. Die in der Verfügung beschriebene Situation stimmt mit der konkreten Situation überein. Zweitens. Der Wille ist noch aktuell; es gibt keine Anzeichen einer Willensänderung. Drittens. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Verfügung durch äußeren Druck entstanden ist. Viertens. Es wird keine aktive Sterbehilfe verlangt. Ich habe den Eindruck, insoweit sind wir uns in diesem Hause einig. Die in den letzten Monaten mit großer Heftigkeit geführte Auseinandersetzung drehte sich aber darum, ob eine solche Patientenverfügung nur für den Fall Gültigkeit haben darf, dass das Leiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf haben wird. Ich sage dazu: Nein. Wenn ein aktuell einwilligungsfähiger Mensch lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille auch geachtet werden, wenn er im Voraus für eine bestimmte Situation geäußert wurde, in der keine Äußerungsfähigkeit mehr gegeben ist. Achtet man den Willen nämlich nur im Falle eines tödlichen Verlaufs des Leidens, dann bedeutet das im Umkehrschluss eine Zwangsbehandlung, die nicht erlaubt ist. Wir alle kennen doch die Situation, in der der Einsatz in der Intensivmedizin dazu führt, dass Menschen jahrelang am Sterben gehindert werden. Ich bin aber auch der Meinung, dass in den nicht sterbenahen Situationen besondere Anforderungen an die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu stellen sind, durch die einerseits das Recht auf Selbstbestimmung geschützt und andererseits der Schutz schwerstbehinderter Menschen ermöglicht und Missbrauch vermieden wird. Darüber sollten wir in den nächsten Monaten in aller Ruhe diskutieren. Ich muss aber sagen: Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, nur einem Teil der 180 verschiedenen Verfügungsmuster Respekt und Anerkennung zu zollen und das Selbstbestimmungsrecht, das in anderen Verfügungen zum Ausdruck kommt, zu missachten. Wenn es hierüber in diesem Hause keine Verständigung geben sollte, dann sollten wir überhaupt keine gesetzliche Regelung treffen, sondern alles so lassen, wie es ist. Ich danke Ihnen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Enquete-Kommission hatte sich mit allen Themen an der Schnittstelle von Ethik und Recht zu befassen. Das sind immer Themen, die ganz besonders emotional bestimmt sind und deren rechtliche Bedeutung ganz besonders schwierig zu definieren ist. Das zeigt sich auch wieder an der Debatte um den Geltungsbereich der Patientenverfügung. Es stellt sich die Frage, wie diese Gesellschaft mit dem Tod umgeht. Sie steht immer im Hintergrund und wurde von den Vorrednerinnen und Vorrednern schon diskutiert. Jeder Einzelne hat aufgrund familiärer Ereignisse oder aufgrund von Sterbefällen im Freundeskreis einen eigenen Erfahrungshintergrund und meint, in gewisser Weise mitreden zu können, wenn ich das so sagen darf. Eine andere Frage ist, welche rechtliche Verbindlichkeit Entscheidungen in diesem Rahmen haben können. Ich finde es schön, dass die Debatte wieder einen gewissen Grad an Sachlichkeit erreicht hat. Insbesondere danke ich meiner Vorrednerin dafür; ({0}) denn das ist mir wichtig. Ich möchte auch gerne, dass Sie hier zur Kenntnis nehmen, dass ich das Recht des Parlaments sehr wohl achte. Es kann deshalb keine Rede davon sein, dass ich einen Gesetzentwurf zurückgezogen habe. Der entsprechende Entwurf war noch gar nicht eingebracht, weil er über das Stadium eines Referentenentwurfs überhaupt nicht hinausgekommen ist. ({1}) Anlass dafür, dass wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu beschäftigen, war die Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Dass ein Bedarf besteht, sich mit der Frage „Wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit Patientenverfügungen um?“ auseinander zu setzen, erhellt doch nicht zuletzt die Tatsache, dass es in Deutschland bereits 7 Millionen Patientenverfügungen gibt. ({2}) Trotzdem besteht große Rechtsunsicherheit darüber, welchen Geltungsbereich sie haben. Sie alle haben dazu viel Post bekommen. Bei uns im Ministerium ist bisher zu keinem anderen Thema so viel Post wie zu dieser Frage eingegangen. Die Mehrzahl der Menschen treibt die Frage um: Wie kann ich mich darauf verlassen, dass das, was ich will, tatsächlich gemacht wird? Dieses Problem bewegt die Menschen. Ich meine, dass sich der Bundestag damit auseinander setzen muss. ({3}) Der Gesetzentwurf wurde also nicht zurückgezogen. Vielmehr wird der Entwurf von Joachim Stünker, dem rechtspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und anderen Rechtspolitikern übernommen. ({4}) Dieser Gesetzentwurf ist nicht allein in unserem Hause entstanden, sondern er beruht auf der langen Arbeit einer Arbeitsgruppe, in der Ärzte, Juristen, Vertreter der Hospizbewegung, Wohlfahrtsverbände, Patienten- und Verbraucherschutzverbände sowie die beiden großen Kirchen mitgewirkt haben. Es ist also nicht so, dass an diesem Entwurf zwei Beamte gearbeitet und vorgegeben haben, wie er aussehen soll, sondern all diejenigen, die sich auch jetzt an diesem gesellschaftlichen Diskussionsprozess beteiligen, waren auch damals dabei. Ausgangspunkt der Überlegungen dieser Arbeitsgruppe, die ich mir zu Eigen gemacht habe, war in der Tat die Feststellung, dass jeder Mensch das Recht hat, in jeder Phase seines Lebens für sich zu entscheiden, ob und welche medizinischen Maßnahmen für ihn ergriffen werden. Ich sage immer: Der Arzt empfiehlt die Therapie und der Patient muss entscheiden, ob er sie macht. Das ist der normale Gang der Dinge. ({5}) Umgekehrt ist schön, dass auch klargestellt wurde, dass wir nicht über aktive Sterbehilfe reden. Niemand darf - das ist ganz klar - einen anderen Menschen aktiv töten. Tötung auf Verlangen ist und bleibt strafbar. Darüber reden wir in diesem Zusammenhang gar nicht. Wir stellen uns die Frage: Wie kann der Wille der Menschen, die sich nicht mehr artikulieren können, transportiert werden? Das kann sich zum einen auf die Frage beziehen - das möchte ich gerne noch einmal deutlich machen -, was alles nicht gemacht werden soll; dieser Aspekt ist schon mehrfach beleuchtet worden. Das kann sich zum anderen auch darauf beziehen, dass jemand in seiner Patientenverfügung festlegt, dass für ihn alles medizinisch Mögliche getan wird, damit er so lange wie möglich lebt. Ich möchte herzlich darum bitten, dies bei der ganzen Debatte nicht zu vergessen. Es geht nicht um die Frage: Wie sterbe ich schneller? Vielmehr geht es darum: Wie transportiere ich meinen Willen? Natürlich kann der Wille auch darauf gerichtet sein - das sagte ich eben -, dass alles medizinisch Mögliche unternommen wird. Diesen Punkt sollten wir nicht vergessen. ({6}) Ich möchte gerne noch drei Punkte ansprechen. Es muss klargestellt werden, dass eine Patientenverfügung so lange gilt, wie keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie widerrufen wurde. Das heißt, man muss von einer bestimmten Aktualität ausgehen. Ihre Beispiele von mehrere Jahre alten Verfügungen lassen natürlich den Patientenwillen fragwürdig erscheinen, weil man nicht weiß, was sich in der Zwischenzeit verändert hat. Unsere Arbeitsgruppe hat empfohlen - das hat mir eingeleuchtet -, an das Ende eine Gesamtschau des Lebens zu stellen und die Lebenssituation des Patienten zu beschreiben, damit sich Arzt oder Ärztin ein Bild über die Person machen können. Die Patientenverfügung muss in jedem Krankheitsstadium gelten. Die Einschränkung der Reichweite, die hier auch schon behandelt wurde, halte ich für nicht vertretbar. Ich möchte Sie bitten, dass bei der sicherlich stattfindenden Anhörung dazu auch Verfassungsrechtler gehört werden. ({7}) Mir scheint es in der Tat auch ein verfassungsrechtliches Problem zu sein, inwieweit der Staat legitimiert ist, das Selbstbestimmungsrecht der Menschen für einen bestimmten Zeitraum ihres Lebens einzuschränken. ({8}) Solange jemand reden kann, ist das unbestritten. Wenn die Krankheit einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat, ist es auch unbestritten. Die Frage ist: Woraus ergibt sich die staatliche Legitimation, in einem bestimmten Stadium festzulegen, dass nun der Mensch nicht mehr selber entscheiden darf? Das müssen wir, der Gesetzgeber, legitimieren; denn sonst darf er nicht in die Grundrechte eingreifen. Das ist das kleine Einmaleins der Grundrechte. Natürlich müssen Patientenverfügungen immer in irgendeiner Form ausgelegt werden. Es wird selten sein - das wurde schon gesagt -, dass der Fall hundertprozentig eintritt. Insofern kann ich Ihr Beispiel, Herr Wodarg, nicht ganz nachvollziehen. Selbstverständlich steht dahinter die Einschätzung, dass nach einer bestimmten Zeit im Koma ein bestimmter Prozess eingetreten ist. Wenn Ärzte aber bescheinigen können, dass dieser Prozess eben nicht eingetreten ist, sondern es nur eine Woche länger dauert als üblicherweise, ({9}) dann ist die Auslegung der Patientenverfügung, dass er es so nicht gemeint hat, nur natürlich. ({10}) - Wir werden das alles diskutieren. Meine Redezeit läuft mir leider weg. Ich komme zur Frage der zwingenden Formvorschriften. Wir hatten ursprünglich gesagt, dass die Patientenverfügung nicht schriftlich vorliegen muss. Wir haben jetzt mit Herrn Stünker darüber gesprochen und sind zu der Überzeugung gekommen, dass es doch sinnvoll sein kann, der Schriftform wenigstens eine stärkere Verbindlichkeit zu geben. Das werden wir noch diskutieren. Wie das ausformuliert wird, muss Herr Stünker mit seiner Gruppe entscheiden. Es kann in der Tat so sein, dass der schriftlich geäußerte Wille gegenüber dem mündlichen besonders hervorgehoben werden soll. Mir wäre wichtig, dass klar ist, dass erstens der mündliche Wille gilt und dass zweitens die schriftliche Verfügung auch mündlich widerrufen werden kann. ({11}) Wir wollen hinterher am Krankenbett nicht einen Streit über Formalitäten austragen. Das würde niemand wollen. Ein Aspekt ist mir noch wichtig: Die generelle Einschaltung des Vormundschaftsgerichts, die Sie und die Mehrheit der Enquete vorsehen, und auch die vorgeschaltete Einbindung eines Konsils scheint mir in dieser Generalität nicht praktikabel. ({12}) Wir müssen auch darauf achten, was vernünftig ist. Wenn weder beim Arzt noch beim Betreuer Zweifel über den Patientenwillen bestehen, dann kann ich nicht erkennen, warum ein Gericht angerufen werden soll. Ich würde herzlich bitten, darüber noch einmal zu diskutieren. Das Gericht sieht die Sache völlig von außen und kennt weder den Patienten noch den Arzt oder den Krankheitsverlauf. Darüber hinaus hat es keinen medizinischen Sachverstand. Das scheint mir nicht vernünftig. Ich freue mich auf eine sachliche und intensive Diskussion mit Ihnen in der nächsten Zeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/ CSU-Fraktion.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns vor wenigen Wochen erst im Rahmen der zweiten Änderung des Betreuungsrechts mit der Stärkung der Vorsorgevollmacht befasst und dabei dort und auch in anderen reformbedürftigen Punkten großes Einvernehmen in diesem Haus erzielt. Es bleibt zu hoffen, dass uns das jetzt mit den anstehenden Beratungen zur dritten Änderung des Betreuungsrechts ebenso gelingt. Es geht um die Patientenverfügung. Wir wissen, dass die Thematik ungleich schwieriger ist als bei der Vorsorgevollmacht. Das kann man schon feststellen, wenn man sich mit dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission befasst, aber auch wenn man die vielen Eingaben liest, die von Verbänden und Bürgern kommen. Ich nenne stellvertretend für viele die Deutsche Hospiz-Stiftung und die beiden Kirchen. Die Erwartungen, aber auch die Ängste der Menschen in unserem Land müssen in den anstehenden Beratungen aufgenommen werden. Im Spannungsfeld zwischen dem grundrechtlich verankerten Schutz des Lebens und dem ebenso im Grundgesetz verankerten Recht auf Selbstbestimmung müssen auf breiter Basis tragbare Regelungen gefunden werden. Dabei geht es auch um die Frage nach dem wertgebundenen Maßstab von Politik, um die Frage nach dem Menschenbild. Unser europäisches Menschenbild, das auch unserer Verfassung zugrunde liegt, hat antike, jüdische und vor allem christliche Quellen. Dieses Menschenbild bestimmt sich über den Begriff der Würde, die absolut ist. Wer diesen Absolutheitsanspruch versagt, muss wissen, dass er damit Dritten eine Verfügungsvollmacht zubilligt, die das Ende der Selbstbestimmung eines Menschen bedeutet. ({0}) Die Würde des Menschen ist vor jeder Einschränkung zu schützen, und zwar unabhängig von seiner augenblicklichen Verfassung. Die Würde ist unantastbar und damit sind auch der eigenen Gestaltungsmacht Grenzen gesetzt. Der Natur ihr Recht zu belassen, verlangt den Verzicht auf sterbebeschleunigende Maßnahmen und gebietet umgekehrt nicht den Einsatz einer lebensverlängernden Maßnahme um jeden Preis. Die Schlussfolgerung hieraus ist - bei einem christlichen Menschenbild - ein unmissverständliches Verbot der aktiven Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe hingegen, die auf ein menschenwürdiges Sterben-Lassen hinzielt, ist erlaubt, vielleicht sogar in einer größeren Zahl von Fällen geboten. Wenn nun die Frage gestellt wird: „Wer entscheidet, was zu tun oder zu lassen ist?“, dann steht sicherlich der Wille des Patienten - bei Begleitung durch den Arzt im Vordergrund. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben hierbei einen Rahmen zu setzen, in dem eine Entscheidung zu treffen ist. Letztlich fließen zahllose Einzelgesichtspunkte in die Entscheidung ein, die ein kluges und bedachtes Urteil erfordern. Eine komplette Verrechtlichung dort vorzunehmen, wo der Mensch dem Gang der Natur folgend die Grenze zwischen Leben und Tod überschreitet, bringt uns keiner Lösung näher; denn dann schlägt nicht die Stunde des Juristen oder des Philosophen; dann geht es allein darum, dass der Mensch dem Menschen als Mensch begegnet. Die Erfahrungen in der Palliativmedizin und der Hospizbewegung sind in dieser Situation identisch. Kein Schwerkranker will sterben, wenn seine Schmerzen und andere Symptome kontrolliert sind und er als Mensch angenommen ist. Dieser elementare Lebenswunsch des Schwerkranken muss Wegweiser für uns und insbesondere für die flächendeckende Ausweitung der Palliativmedizin und der Hospizbewegung sowie auch für die qualifizierte Aus- und Weiterbildung der dort tätigen Menschen sein. ({1}) Wenn der Wille des Patienten wesentlicher Maßstab des Handelns sein soll, dann findet er in der Patientenverfügung den richtigen Niederschlag und als Ausdruck der Selbstbestimmung seine Rechtfertigung in der Verfassung. Bislang ist die Patientenverfügung gesetzlich nicht geregelt, aber viel diskutiert. Fragen bestehen in vielerlei Hinsicht, etwa bezüglich der Wirksamkeitsvoraussetzungen, der Umsetzung oder der Beteiligung des Vormundschaftsgerichts. Der BGH hat bereits vor zwei Jahren die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung für die Fälle bestätigt, in denen ein Patient einwilligungsunfähig ist und die Krankheit einen irreversiblen Verlauf genommen hat. Soweit ein solcher erklärter Wille nicht festgestellt werden kann, so der BGH, beurteilt sich die Zulässigkeit etwaiger Maßnahmen nach dem mutmaßlichen Willen, wobei in Betreuungsfällen bei Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts erforderlich ist. Wenn nun der Gesetzgeber mit Blick auf die Rechtsprechung gefragt ist, ein Stück weit Rechtssicherheit zu schaffen, führt schon die Frage der Gültigkeit zu einer großen Diskussion. Wir sind bereits in der EnqueteKommission unterschiedlicher Auffassung. 7 Millionen Patientenverfügungen - wir haben es gerade gehört zeigen den dringenden Regelungsbedarf auf. Im Konsens darüber, dass die Basisversorgung, das heißt Ernährung und Körperpflege, nicht zur Disposition stehen darf, scheint der von der Deutschen Hospiz-Stiftung aufgezeigte Weg vorzugswürdig zu sein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte, Frau Nickels.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, die Zahl von 7 Millionen Patientenverfügungen in Deutschland geistert durch alle Blätter. Ich habe mich intensiv darum bemüht, zu erfahren, nach welchen statistischen Erhebungen diese Zahl zustande gekommen ist. Ich habe nur eine einzige Quelle gefunden: eine Emnid-Umfrage von Juni 1999. Das war eine Stichprobe. 1 000 Menschen sind generell zu Willenserklärungen befragt worden. Daraus hat man auf alle 80 Millionen Menschen - einschließlich Kinder, noch nicht Volljährige, nicht Einwilligungsfähige - die Zahl der Patientenverfügungen hochgerechnet. Ich habe auch mit Fachleuten darüber gesprochen. Sie haben mir gesagt, diese Zahl sei nicht valide. Meine Frage ist: Haben Sie außer dieser Emnid-Umfrage von 1999, bei der 1 000 Personen befragt worden sind, eine aktuelle oder überhaupt eine andere Quelle? Das würde mich sehr interessieren. Ich kenne keine.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch ich habe nur diese Zahl. Es ist aber nicht so wichtig, denke ich, ob es nun 7 Millionen oder 5 Millionen oder 4 Millionen sind. Solange nicht festgelegt ist, wie eine Patientenverfügung definiert ist - es gibt keinen festgelegten Rahmen, es gibt keinen festgelegten Inhalt -, ist es schwer, festzustellen: Ist das eine Patientenverfügung, wie wir sie meinen, oder ist es die Niederlegung eines Willens dazu, wie am Lebensende zu verfahren ist? Auch wenn es nur 2 Millionen Patientenverfügungen wären: Das zeigt, dass die Menschen eine Möglichkeit erhalten sollten, für sich in Sicherheit festzulegen, wie in einer Situation zum Lebensende, wenn nicht mehr die Möglichkeit besteht, frei zu entscheiden, verfahren werden soll. Angesichts dessen ist es unsere Aufgabe, hierfür einen Rechtsrahmen zu schaffen. Das ist Grundlage unseres Gesprächs. ({0}) Zurück zu dem, worüber in diesem Haus Konsens besteht. Die Grundversorgung, das heißt Ernährung und Körperpflege, sollte nicht zur Disposition stehen. Meiner Meinung nach ist der Weg, den die Deutsche HospizStiftung aufzeigt, vorzugswürdig. Danach soll die Verbindlichkeit der Patientenverfügung zwar in ihrem Kern nicht beschränkt, wohl aber festgeschrieben werden und ihre Grenze im geltenden Recht finden. Unsere Verfassung hatte ich schon vorhin angesprochen. Möglichen Missbrauchsgefahren kann durch erhöhte Qualitätskriterien begegnet werden: Schriftform der Patientenverfügung, umfassende Beratungs- und Informationspflichten sowie entsprechende Verfahrensvorschriften, grundsätzliche Beteiligung des Vormundschaftsgerichts und - ganz wichtig - das Konsil. Es ist erfreulich, dass bezüglich des Schriftformerfordernisses der Patientenverfügung mittlerweile keine Diskussion mehr besteht und dass auch das Bundesjustizministerium dessen Notwendigkeit erkannt hat. Wünschenswert wäre außerdem, eine vorgeschaltete, umfassende Beratungspflicht und eine regelmäßige Aktualisierung als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Patientenverfügung festzuschreiben. Ein Konsil ist meines Erachtens in allen Fällen verbindlich festzuschreiben. Bei der Frage, ob in jedem Fall bei Verzicht oder Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme das Vormundschaftsgericht eingebunden werden muss, sollte ebenfalls im Sinne der Empfehlung der Deutschen HospizStiftung differenziert werden. Eine vormundschaftsgerichtliche Entscheidung sollte nur dann erforderlich sein, wenn eine verbindliche Patientenverfügung nicht vorliegt und Einvernehmen im Konsil nicht erzielt werden kann. Diese Differenzierung ist gerechtfertigt, wenn man für die Patientenverfügung einen hohen Qualitätsstandard fordert. Das wäre sehr zu begrüßen. Es ist unsere Aufgabe - ebenso wie bei der Vorsorgevollmacht -, bei den Menschen im Land dafür zu werben, dass sie sich für eine qualifizierte Patientenverfügung entscheiden und damit selbst bestimmen, wie sie für sich die Phase ihres Lebensendes gestalten wollen. Hoffen wir, dass dieses Haus bald in einem breiten Konsens die Rechtsgrundlage hierfür schafft. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tatsache, dass und wie wir diskutieren, zeigt schon, dass es hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt. Ich bin froh, dass wir mit der heutigen Debatte in die Diskussion einsteigen und ihr - hoffentlich einen vernünftigen sowie der Schwere und der Ernsthaftigkeit des Problems angemessenen Rahmen geben. Ich bin dezidiert der Auffassung, dass es - ich glaube, das ist gesellschaftlich feststellbar - einen sehr großen und dringenden Bedarf gibt, die Fragen, über die wir heute reden, gesetzgeberisch zu regeln. ({0}) Dabei ist es mir gleichgültig, ob es sich um mehr oder weniger als 7 Millionen Patientenverfügungen in Deutschland - diese Zahl habe ich ebenfalls in meinem Manuskript stehen - handelt. Ich glaube, dass man die Veränderung der Einstellung zu diesem Thema in der Gesellschaft sehen kann. Mittlerweile machen sich nicht nur ältere Menschen Gedanken darüber, wie sie mit ihrem Leben am Lebensende umgehen wollen, sondern auch zunehmend jüngere. Ich finde, dass das eine Auseinandersetzung mit der Zukunft ist, die wir als Gesetzgeber ernst nehmen müssen. Ich sage an dieser Stelle an die Adresse von Wolfgang Wodarg und anderen: Wenn wir hier, wo es Handlungsund Entscheidungsbedarf gibt, über das Problem ausschließlich unter dem Aspekt der Verrechtlichung diskutieren, dann sind wir auf einem völlig falschen Trip. Aber wer, bitte schön, soll letztendlich darüber entscheiden und die Regeln festlegen können, wie eine Patientenverfügung auszusehen hat und welche Voraussetzungen an ihre Wirksamkeit zu stellen sind, wenn nicht das geltende Recht, die Rechtsordnung in diesem Staat? Das ist die Grenze, über die wir reden und die wir letztendlich bestimmen müssen. Das ist genau der Punkt, um den es geht. ({1}) Das Urteil des BGH ist bereits angesprochen worden. Ich glaube, schon hier ist deutlich geworden, dass zwar bestimmte, nicht aber alle Fälle geklärt worden sind und dass weiterhin ein großer Klärungsbedarf besteht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Wir, die SPD-Fraktion, insbesondere die Arbeitsgruppe „Recht“, sind dezidiert der Auffassung, dass wir dieses Problem lösen müssen, und zwar im Rahmen des Betreuungsrechts. Das werden wir auf den Weg bringen. An dieser Stelle wollen wir mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Ich denke, dass ist das, was die Betroffenen von uns, dem Gesetzgeber, erwarten. Das sollten wir ihnen auch geben. ({2}) Ich bin zwar sehr froh, dass die Enquete-Kommission nun einen umfassenden Zwischenbericht vorgelegt hat. Aber wir sollten, wie ich bereits eingangs gesagt habe, mit dem notwendigen Ernst und Respekt vor der Auffassung Andersdenkender diskutieren. Herr Kollege Kauch, ich finde es daher nicht hilfreich, wenn Sie hier behaupten, dass rot-grüne paternalistische Hardliner das Gesetz vom Tisch gefegt hätten. Das hilft uns nicht. Ich sage vielmehr: Es hat einen Gesetzentwurf im Hause des Bundesjustizministeriums gegeben. Wenn eine Entscheidung nicht an Fraktionsgrenzen festzumachen ist und ein Regierungsentwurf nicht weiterverfolgt wird, dann finde ich das einen richtigen und guten Weg, der nicht Häme, sondern Unterstützung und Beifall verdient. ({3}) Genauso wenig sollten sich diejenigen, die der Mehrheitsmeinung der Enquete-Kommission folgen, dazu hinreißen lassen, denjenigen, die eine rechtssichere Formulierung wollen, den Einstieg in die aktive Sterbehilfe vorzuwerfen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Ansatz lassen wir uns in dieser Diskussion nicht aufzwingen. Wer der Auffassung ist, dass es eine verbindliche, eine wirksame Patientenverfügung auch für den Fall von nicht irreversiblen Krankheiten geben muss, spricht sich nicht für aktive Sterbehilfe aus. Wir sind weit davon entfernt. Ich bitte auch diejenigen, die das anders sehen, dies zu respektieren, damit wir eine sachliche, vernünftige Grundlage für die weitere Debatte haben. ({4}) Ich möchte die Dinge ansprechen, die aus meiner Sicht geregelt werden müssen; ich glaube, dass das die Punkte sind, über die wir bei den verschiedenen Gesetzentwürfen zu reden haben werden. Zunächst einmal ist für mich - dabei bin ich sehr nahe an dem nicht mehr existenten ({5}) Gesetzentwurf aus dem Hause des BMJ - die Schriftform einer Patientenverfügung verbindlich. Das ist für mich die einzige Wirksamkeitsvoraussetzung, die es geben muss. Wir müssen doch den Betroffenen Hilfestellung geben. Wir müssen Rechtsklarheit haben. Das ist mit der Schriftform einfacher. Sie sollten wir auf jeden Fall gewährleisten. Deswegen sollten wir an dieser Stelle keine weiteren Streitigkeiten austragen. Leider gehen meine fünf Minuten schon zu Ende. Ich glaube, dass wir nicht den Schritt tun sollten, die Reichweite der Patientenverfügung zu beschränken. Ich gehe davon aus, dass Selbstbestimmung - ich sage ausdrücklich „Selbstbestimmung“ und nicht wie andere hier „vermeintliche Selbstbestimmung“ - auch den Fall noch nicht irreversibler Krankheiten umfassen muss und dass man dieses Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch in Richtung ihres möglichen Todes respektieren muss. Deshalb sollte man eine solche Beschränkung nicht ins Gesetz aufnehmen. Die Patientenverfügung muss gelten, wenn sie schriftlich abgefasst und nicht unter Druck erzeugt worden ist. Das sollten wir als Gesetzgeber unter der Wirksamkeit des Grundgesetzes - Art. 2 - respektieren. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Hubert Hüppe, CDU/ CSU-Fraktion.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der Sterberituale verkümmern. Angehörige haben keine Zeit oder fühlen sich überfordert. Immer mehr Menschen sterben heute, ohne dass sie selbst jemals einen Sterbenden gesehen haben. Der Tod wird uns immer fremder. Das ist unnatürlich und fördert die Angst vor dem Tod. Wo Sterben nicht mehr als das Teil des Lebens verstanden wird, geht die Kultur des Sterbens verloren. Die meisten Menschen wünschen, dass das medizinisch Notwendige und Sinnvolle getan wird. Kein Mensch möchte unter unerträglichen Schmerzen leiden. Niemand möchte in seinen letzten Stunden abgeschoben werden und einsam sterben. Deswegen - das sage ich hier noch einmal ganz deutlich - fände ich es richtiger, wir würden uns im Deutschen Bundestag erst einmal damit beschäftigen, wie wir eine flächendeckende Palliativversorgung gewährleisten, bevor wir über die Patientenverfügung sprechen, die dann vielleicht gar nicht mehr notwendig wäre. ({0}) Die Frage ist: Wie können wir erreichen, dass Menschen zu Hause sterben können und nicht, wie jetzt, zu 70 Prozent in Einrichtungen? Wie können wir ambulante Hilfen aufbauen und die Angehörigen dabei unterstützen, diese Menschen zu begleiten? Wie können wir eine vernünftige Schmerzbehandlung gewährleisten? Alle, die Kutzer-Kommission, die Justizministerin und die Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, haben immer betont, dass hier in Deutschland noch viel Nachholbedarf besteht. Doch statt diese Hilfen für Menschen zu regeln, sollen jetzt zunächst die Patientenverfügungen geregelt werden. Unter diesem Druck ist auch der Zwischenbericht der Enquete-Kommission entstanden. Immer wieder wird gesagt, durch Patientenverfügungen solle die Selbstbestimmung abgesichert werden. Aber ist das wirklich so? Einem Patienten wird vor einem ärztlichen Eingriff eine Diagnose erklärt. Der Arzt berät ihn über die verschiedenen medizinischen Möglichkeiten, die Risiken und Heilungschancen. Dann stimmt der Patient zu oder er lehnt die Maßnahme ab. Von der Patientenverfügung allerdings wird erwartet, dass diese Einwilligung oder Nichteinwilligung im Voraus festgelegt wird - selbst dann, wenn man gar nicht weiß, welche Krankheit später einmal eintritt. Kann ich heute eine Entscheidung für alle denkbaren Erkrankungen treffen? Kann ich wirklich wissen, ob ich in ein, zwei oder gar zehn Jahren noch genauso denke? Würde nicht jemand, der heute eine lebensverlängernde Operation ablehnt, später vielleicht in seiner konkreten Situation ganz anders denken - wenn er zum Beispiel wüsste, dass er dann noch die Chance hätte, seinen Enkel, dessen Geburt gerade bevorsteht, einmal vor seinem Tod zu sehen? ({1}) Das ist natürlich nur ein Einzelfall. Das zeigt aber, wie schwierig so etwas im Vorhinein zu beurteilen ist. Das ist für mich der viel wichtigere Punkt. Wer weiß schon, wie er empfinden würde, wenn er sich im Wachkoma befindet oder altersverwirrt ist? Sicher, es gibt immer wieder Situationen, in denen eine Patientenverfügung sinnvoll sein kann. Das hat auch keiner hier im Hause bezweifelt. Ich meine auch, es sollten nicht immer alle Dinge getan werden, die die Hochleistungsmedizin ermöglicht. Inzwischen sagen mir die Praktiker aber, dass das nicht mehr die große Gefahr ist. Ich weiß auch nicht, ob die Ängste, die im Zusammenhang mit der Hochleistungsmedizin geschürt werden - das klang heute manchmal mit -, einen Bezug zur Realität haben. Ich habe vielmehr aufgrund der Ressourcendiskussion für die Zukunft Angst, dass wir nicht mehr alle Mittel haben werden, den Menschen die Hilfen - auch die medizinischen Hilfen - zukommen zu lassen, die sie eigentlich brauchten. Ich habe nicht die Angst - ich war in vielen Einrichtungen -, dass es zu viel Zeit für die Pflege gibt. Ich habe eher die Angst, dass es zu wenig Zeit für die Pflege gibt. Man muss einmal deutlich machen, dass das die eigentliche Problematik ist. ({2}) Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, dass man immer dann, wenn Selbstbestimmung Geld kostet, nicht mehr selbst bestimmen darf; denn dann kann man nicht die Therapie durch eine Verfügung einfordern. ({3}) Die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass die Patientenverfügungen längst nicht das halten, was sich hier viele davon versprechen. So ist in den USA die Patientenverfügung seit 14 Jahren gesetzlich verankert. Es gab und gibt dort massive Werbung für die Verfügungen. Ärzte und Kliniken sind verpflichtet, den Patienten auf das Verfassen einer Verfügung hinzuweisen. Trotzdem haben nur 18 Prozent der Amerikaner eine solche Verfügung. Die Metastudien, die es jetzt gibt, besagen, dass in der Praxis so gut wie keine Verfügung im konkreten Fall angewendet werden kann. Grund dafür ist immer wieder der mutmaßliche Wille. Wir sollten also keine zu großen Erwartungen an die Patientenverfügungen knüpfen. Es ist - das ist mir wichtig - eben nicht nur eine juristische Frage, sondern auch eine soziale Frage. Wir sollten darauf achten, dass nicht gerade Alte, Kranke oder Behinderte einem sozialen Druck ausgesetzt werden, eine Verfügung auszufüllen, weil sie meinen, der Gesellschaft, den Angehörigen oder dem Pflegepersonal zur Last zu fallen. In der Tat, die Justizministerin hat ihren Gesetzentwurf, den es angeblich gar nicht gab, der jetzt aber wieder von Herrn Stünker eingebracht wird, zurückgezogen. Das war auch gut so. Ich halte nämlich den Inhalt dieses Entwurfs für extrem gefährlich. So sollte dieser Gesetzentwurf es ermöglichen, Menschen im Wachkoma durch Nahrungsentzug sterben zu lassen, so heißt es. Dies sollte sogar ohne Patientenverfügung - das muss man einmal beachten - möglich sein, nämlich auch dann, wenn allein der Arzt und der Betreuer sich einig wären, dass dies dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen würde. Es müssen sich also nur Arzt und Betreuer einig sein, das reicht aus - ohne Vormundschaftsgericht, ohne Pflegende, ohne Angehörige.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stöckel?

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Kollege Hüppe, Sie haben gerade den Gesetzentwurf, der nicht eingebracht worden ist und deswegen auch nicht zurückgezogen werden musste, im Zusammenhang mit Wachkomapatienten als extrem gefährlich bezeichnet. Sie wurden vor einigen Tagen anlässlich des Besuchs einer Einrichtung für Wachkomapatienten zusammen mit der Kollegin Merkel etwas direkter. Sie haben da gesagt: Wenn der Entwurf der Justizministerin Zypries Wirklichkeit wird, müssen Wachkomapatienten um ihre Sicherheit bzw. um ihr Leben fürchten. Können Sie dem Hohen Haus einmal erläutern, wie Sie das meinten?

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nenne dazu ein Beispiel, Herr Kollege Stöckel. Nehmen wir einmal an, jemand macht eine Verfügung, in der steht: Wenn ich mehr als ein halbes Jahr im Wachkoma liege, möchte ich keine künstliche Beatmung oder keine künstliche Ernährung mehr. Künstliche Ernährung brauchen Wachkomapatienten in vielen Fällen deswegen, weil bei ihnen ab und zu der Schluckreflex nicht funktioniert. Im Haus Königsborn, das Sie angesprochen haben - Sie kennen es so gut wie ich -, haben viele der dortigen Patienten diesen Zustand schon überwunden; sie können schon wieder empfinden, hören auf Musik oder machen sogar selber Musik. Eine solche Verfügung würde aber bedeuten, dass, wenn der Gesetzentwurf so eingebracht und beschlossen wird, wie er einmal vorgesehen war, nach diesem halben Jahr die vielleicht noch erforderliche künstliche Ernährung, egal welcher therapeutische Fortschritt schon erzielt worden ist, eingestellt werden müsste. Das, meine Damen und Herren, wäre, wie ich gesagt habe, gefährlich für die betroffenen Patienten. ({0}) Ich füge noch etwas an: Überlegen Sie sich einmal, was Sie dem Pflegepersonal in diesem Falle zumuten! Bei den Pflegenden handelt es sich um Menschen, die sich oft viel mehr um die Patienten kümmern und mehr Zeit mit ihnen verbringen als der Arzt - das geht auch gar nicht anders - und manchmal auch mehr als die Betreuer. Hauptberufliche Betreuer werden nach dem, was wir gerade beschlossen haben, nur noch für zweieinhalb Stunden im Monat bezahlt. Gerade die Pfleger sollen jedoch nicht mitentscheiden. Sie müssen dann aber mit ansehen, wie ein Mensch, den sie gestreichelt haben, mit dem sie gesprochen haben und den sie sauber gemacht haben, verhungert. Sie wollen diesen Menschen also zumuten, mit ansehen zu müssen, wie ihre Patienten über Tage oder Wochen oder gar, wie Frau Nickels sagte, über Monate verhungern. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht, dass so etwas in Deutschland geschieht. Das möchte ich den Pflegerinnen und Pflegern nicht zumuten. ({1}) Wachkomapatienten sind eben, um das noch einmal zu sagen, keine Hirntoten, keine Sterbenden und auch keine lebenden Toten, wie manchmal gesagt wird, sondern es handelt sich einfach um Menschen mit einer Behinderung auf einer anderen Bewusstseinsebene. Aufgrund Ihrer Frage kann ich meinen Redetext verkürzen; dieser Punkt wäre jetzt vorgesehen gewesen. Ich bin dankbar, dass ich jetzt noch auf etwas anderes eingehen kann. ({2}) Meine Damen und Herren, das Gleiche, was ich gerade zu Wachkomapatienten gesagt habe, gilt auch für Altersdemente. Deswegen hat die Enquete-Kommission vorgeschlagen, für die Ermittlung des Patientenwillens ein Konsilium einzurichten, in dem die Pflegenden und die Angehörigen vertreten sind. Wir sind auch der Meinung, dass weder Wachkoma noch Demenz alleine Grund sein können, lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen. In der Tat verschwimmt hier - es tut mir Leid, das sagen zu müssen - doch etwas die Grenze zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Es ist völlig vollkommen richtig, dass es juristisch nicht das Gleiche ist, aber das Ergebnis ist dasselbe. Das muss man einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Ich weiß, dass viele dies nicht einsehen wollen. Nachdem ich aber gestern im Ticker gelesen habe, dass Sie, Herr Kollege Stöckel, das Schweizer Modell, also die Einführung eines ärztlich assistierten Selbstmordes, in Betracht ziehen und dass Sie, Herr Kauch, sich gerne anschauen würden, wie in Oregon verfahren wird, wo Ärzte tödlich wirkende Mittel für Patienten verschreiben dürfen, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die oben angesprochene Grenze verschwimmt. Ich muss hier Frau Nickels Recht geben, die sagt, das eine ist eigentlich die logische Konsequenz des anderen. Der Entwurf der Justizministerin wurde zwar zurückgezogen, aber sein Gedankengut lebt weiter. Einige Kollegen der SPD und der FDP wollen diesen Entwurf mit einigen Änderungen einbringen. Wahrscheinlich werden sich dem auch Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion anschließen. Wir haben da kein Kollektivgewissen, wie es bei der FDP der Fall ist. ({3}) Aber man muss das zur Kenntnis nehmen. Ich möchte zum Schluss noch ein Erlebnis vom gestrigen Parlamentarischen Abend der Lebenshilfe - einige von Ihnen waren dabei - erzählen. Dort hat die Mutter eines geistig behinderten Kindes Folgendes gefragt - ich zitiere -: Was bedeutet es für mein Kind, wenn sich eine Sichtweise breit macht, dass abhängig zu sein, nicht einwilligungsfähig zu sein so schlimm ist, dass man schon vorher bestimmen kann, nicht mehr ernährt zu werden, weil es besser ist, zu sterben, als zu leben? Ich denke, das ist eine Frage in Bezug auf diese Menschen, die wir ebenfalls beachten und in die Überlegung einfließen lassen müssen, ob wir tatsächlich zu der Einstellung kommen können, dass es Lebenszustände gibt, die es nicht wert sind, gelebt zu werden. Meine Damen und Herren, es ist gut, wenn wir uns mit den Grenzen der modernen Medizin auseinander setzen. Aber wir müssen darauf achten, dass sich der Wunsch nach einem würdigen Sterben nicht gegen die Menschlichkeit richtet. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPD-Fraktion.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rasante medizinische Entwicklung, die technischen und medikamentösen Möglichkeiten der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass Leben in wesentlich größerem Ausmaß als früher gerettet, aber eben auch verlängert werden kann. Wie so häufig besitzt diese im Grunde sehr erfreuliche Entwicklung auch eine Kehrseite. Viele Menschen haben Angst vor zusätzlichen Schmerzen und Leiden durch intensivmedizinische Maßnahmen am Lebensende. Die Vorstellung, nicht mehr äußerungsfähig zu sein und somit nicht mehr selbst über medizinische Maßnahmen entscheiden zu können, ist für viele beängstigend. An diesem Punkt setzt das Instrument der Patientenverfügung an. Wir reden hier über Patientenverfügungen, nicht über Sterbehilfe und andere Dinge. Ich bitte, das im Sinne einer differenzierten Diskussion zu trennen. ({0}) Die Patientenverfügung soll die Patientenautonomie stärken und eine selbstbestimmte Entscheidung am Lebensende ermöglichen. Deshalb unterstütze ich, wie die Kollegen, die Empfehlung der Enquete-Kommission, dies gesetzlich zu regeln. Im Gegensatz zu den Empfehlungen im Zwischenbericht vertrete ich jedoch ein Konzept, das eine stärkere Verbindlichkeit bei gleichzeitig größerer Reichweite von Patientenverfügungen und somit eine deutlichere Stärkung der Patientenautonomie vorsieht. Zusammen mit den Kollegen Volkmer, Mayer und der Sachverständigen Professor Albers bin ich der Auffassung, dass die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen nicht auf Konstellationen beschränkt sein sollte, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führt. Denn die Beurteilung, ob es sich in der Tat um ein irreversibles, zum Tode führendes Grundleiden handelt, ist auch für Ärzte in vielen Fällen kaum möglich. Gleichzeitig drohen den Ärzten bei einer Fehleinschätzung rechtliche Sanktionen. Vor diesem Hintergrund besteht immer die Gefahr, dass Ärzte behandlungsablehnende Patientenverfügungen - über die reden wir im Wesentlichen - nicht oder nicht vollständig beachten und der in der Verfügung enthaltene Wille des Patienten dann doch unberücksichtigt bleibt. Letztlich führt das zu keiner Verbesserung der bisherigen Situation. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass durch die Einschränkung der Reichweite und der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, wie sie die Empfehlungen des Zwischenberichts vorsehen, das Recht jedes Einzelnen auf Selbstbestimmung zu stark beschnitten wird. Bei aller notwendigen Fürsorge des Staates darf der Gesetzgeber die Freiheit des Einzelnen, der eine informierte Entscheidung für sich persönlich trifft, nicht in diesem Ausmaß begrenzen. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, dass es keine Einschränkung bei der Verbindlichkeit und der Reichweite von Patientenverfügungen geben sollte, wenn - das ist der entscheidende Punkt - bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. Dazu zählen die Schriftlichkeit der Patientenverfügung, die ärztliche Aufklärung und Information vor der Verfassung der Patientenverfügung und eine regelmäßige Aktualisierung der Patientenverfügung. Die ärztliche Aufklärung dient dazu, über Krankheiten und denkbare Verläufe, medizinische Möglichkeiten und Behandlungsalternativen zu informieren. Denn natürlich sind Patientenverfügungen - das ist schon angeklungen - Vorausverfügungen mit all den Unzulänglichkeiten, die Extrapolationen nun einmal haben. Das muss jedem Einzelnen klar sein. In einem solchen Gespräch können auch mögliche Fehlvorstellungen angesprochen und Ängste ausgeräumt werden sowie die Folgen eines Behandlungsverzichts sehr deutlich gemacht werden. Auch die Aktualisierung der Patientenverfügung sollte mit einer erneuten Beratung einhergehen, damit der Verfasser einer solchen Verfügung auf diese Weise regelmäßig über medizinisch-technische Fortschritte, über neue Behandlungsmöglichkeiten und auch über Entwicklungen der Palliativmedizin informiert werden kann. Durch die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen ist meiner Ansicht nach sichergestellt, dass der Einzelne gut informiert ist und eine reflektierte Entscheidung trifft. Denn eine Patientenverfügung zu verfassen ist etwas anderes, als sich einfach nur ein Formular aus dem Internet herunterzuladen und zu unterschreiben. Unter diesen Voraussetzungen sind eine uneingeschränkte Verbindlichkeit und eine uneingeschränkte Reichweite von Patientenverfügungen meiner Ansicht nach verantwortbar. Kolleginnen und Kollegen, Ziel muss es sein, ein menschenwürdiges und bis zuletzt selbstbestimmtes Leben auf der Basis einer ausreichenden Information und einer reflektierten Entscheidung zu ermöglichen. Die Kopplung der Reichweite und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen an die genannten - ich finde: sehr strengen - Wirksamkeitsvoraussetzungen halte ich für den besten Weg, dieses Ziel zu erreichen und die Patientenautonomie auch am Lebensende zu stärken. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält das Wort die Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-Fraktion.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leben und Sterben eines jeden Menschen sind immer einmalig. Was Menschen für sich ablehnen und als unzumutbare Belastung oder vielleicht sogar als würdelos empfinden, ist ganz unterschiedlich und hängt ganz entscheidend von religiösen und weltanschaulichen Einstellungen ab. Dieses Selbstverständnis der Betroffenen haben wir zu respektieren; denn es geht um ihr Leben und um ihr Sterben. In den Fällen, in denen ein Patient nicht mehr mit dem Arzt kommunizieren kann, ist der mutmaßliche Wille des Patienten maßgeblich. Patientenverfügungen sind ein Instrument, um diesen mutmaßlichen Willen zu ermitteln. Menschen schließen eine Patientenverfügung ab, weil sie nicht wollen, dass sie zum Objekt medizinischer Eingriffe gemacht werden, wenn sie entscheidungs- und äußerungsunfähig sind. Es handelt sich häufig um Eingriffe, die zwar gut gemeint sind, die aber mit den Wünschen und Vorstellungen der Betroffenen häufig nichts zu tun haben. ({0}) Das sind zum Teil Eingriffe, die den Charakter einer Zwangsbehandlung haben. Patientinnen und Patienten müssen Gewissheit haben, dass ihre Auseinandersetzung mit dem Sterben ernst genommen wird. Auch Angehörigen muss die Ohnmacht genommen werden, mit der sie zusehen müssen, wie ihre Mutter oder ihr Vater gegen den erklärten Willen weiterbehandelt wird. Ärzte müssen Rechtssicherheit haben, wenn sie lebenserhaltende Maßnahmen nicht anwenden. Deshalb sollte die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder einen Behandlungsverzicht vorsehen, nicht davon abhängen, dass das Grundleiden irreversibel ist und trotz Behandlung zum Tode führen wird. Aus einer ethischen Perspektive, die die Selbstbestimmung und die Menschenwürde achtet, ist die Verbindlichkeit solcher Verfügungen, die den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen fordern, genauso schützenswert wie Verfügungen, die vorab die Einwilligung in sämtliche lebenserhaltende Maßnahmen erklären. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied zur Mehrheitsmeinung der Enquete-Kommission. Patientenverfügungen sind schwer wiegende Entscheidungen über eine Situation in der Zukunft, die schwer vorauszusehen ist und die keine Kommunikation mit der Verfasserin oder mit dem Verfasser zulässt. Die Entscheidung ist nur dann selbstbestimmt, wenn sie im Bewusstsein ihrer Tragweite und der Konsequenzen gefällt wird. Deswegen bedürfen solche Verfügungen mit uneingeschränkter Reichweite der Schriftform und der Beratung - ich plädiere für die ärztliche Beratung vor der Abfassung - sowie einer Aktualisierung, weil sich die Lebensumstände und auch die medizinischen Möglichkeiten ändern. Wir alle haben Angst vor dem Sterben, insbesondere vor Schmerzen und Einsamkeit. Die Patientenverfügung kann uns vor unnötigen Behandlungen, die wir ablehnen, bewahren. Aber das Sterben humaner zu gestalten wird uns nicht allein durch die Verbindlichkeit der Patientenverfügung gelingen. Ein ethisch verantwortlicher Umgang mit dem Sterben und dem Tod braucht Zuwendung zum Menschen. Das nimmt uns keine Patientenverfügung ab. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer Geschäftsordnung hat nun der Kollege Rolf Stöckel das Wort.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich dazu äußern, dass Herr Hüppe im Zusammenhang mit der Gefährdung von Altersdementen und Wachkomapatienten behauptet hat, dass ich die Schweizer Freitodregelung, das heißt den assistierten Suizid, befürworten würde. Ich möchte hierzu eindeutig erklären, dass wir hier über Patientenverfügungen und Selbstbestimmungsrechte diskutieren und nicht über weitergehende mögliche Änderungen des Strafgesetzbuches, wozu jeder eine persönliche Meinung haben kann. Ich weise von mir, gesagt zu haben, ich sei für die Übernahme der Schweizer Freitodregelung. Er bezieht sich, wie ich jedenfalls vermute, auf einen Artikel im „Rheinischen Merkur“ vom heutigen Tage, der zufällig den gleichen Anfang hat wie die Rede der Kollegin Nickels, nämlich: „Alte, gebt den Löffel ab!“. ({0}) Es geht um ein Zitat, das der betreffende Journalist im Übrigen richtig wiedergegeben hat. Damit alle informiert sind, lese ich es hier vor: „Ich halte die Schweizer Rechtslage für sinnvoll. Ich nehme einfach zur Kenntnis, dass auch sehr viele schwer erkrankte Patienten aus Deutschland diese Regelung nutzen“, sagt SPD-Mann Rolf Stöckel. „In Deutschland müsste es dazu eine breite Debatte geben.“ Dass die hier nicht stattfindet, haben alle festgestellt. Dass sie vielleicht in Zukunft stattfinden wird, weil pro Jahr 500 schwer erkrankte Patienten Gründe dafür haben müssen, die Schweizer Regelung zu nutzen, ist ein Hinweis darauf, dass wir vielleicht doch das eine oder andere regeln sollten, wenn wir ein solches Vorgehen in Deutschland verhindern wollen. Wir sollten aber aufhören - die Debatte war qualitativ hochwertig; auf unterschiedliche Meinungen und ethische Vorstellungen wurde Rücksicht genommen; einige klare rechtliche Hinweise wurden gegeben -, ständig durch irgendwelche Unterstellungen demjenigen, der anders denkt oder eine andere Einstellung hat, aber vielleicht auch Ahnung von dem Thema hat, etwas an die Backe zu kleben. Das möchte ich hier deutlich erklären. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, es besteht keine Möglichkeit der Erwiderung, weil es sich hier nicht um eine Kurzintervention handelt, sondern um eine persönliche Erklärung zur Aussprache. Die ist auch formgerecht erfolgt und insofern nicht zu beanstanden. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht so aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d auf: 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlTheodor Freiherr von und zu Guttenberg, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für ein stärkeres Engagement der Europäischen Union auf dem westlichen Balkan - Drucksache 15/4722 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Europäische Zukunft für Bosnien und Herzegowina - „Bonn Powers“ des Hohen Repräsentanten abschaffen - Drucksache 15/4406 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Status des Kosovos als EU-Treuhandgebiet - Drucksachen 15/2860, 15/4799 - Berichterstattung: Abgeordnete Uta Zapf Dr. Friedbert Pflüger Dr. Ludger Volmer d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse ihrer Bemühungen um die Weiterentwicklung der politischen und ökonomischen Gesamtstrategie für die Balkanstaaten und ganz Südosteuropa für das Jahr 2004 - Drucksache 15/4813 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben am 8. Februar den Bericht der Bundesregierung zur Gesamtstrategie für die Balkanstaaten vorgelegt bekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich bedauere, dass Sie keine Möglichkeit hatten, diesen Bericht vor der Abfassung Ihres Antrages zu lesen. In diesem Bericht sind nämlich die Fortschritte, die Defizite, die Probleme der Region sowie die Anstrengungen, die die Bundesregierung im Rahmen der EU und der internationalen Staatengemeinschaft unternommen hat, um die Regionen zu stabilisieren und in die europäischen Strukturen zu integrieren, sehr exakt beschrieben. Die Behauptung in Ihrem Antrag, die Bundesregierung betreibe eine „Politik des mutlosen Verharrens im Status quo“ und zementiere - das ist im Übrigen sehr unelegant formuliert - „entwicklungspolitische und militärische Kosten“, ist einfach eine Frechheit. ({0}) - Nein. - Das impliziert, dass die Bundesregierung die Integration und die Annäherung an die Europäische Union behindere. Dies ist nun wahrlich eine Verleumdung. Etwas anderes kann man dazu nicht sagen. ({1}) Die Bundesregierung war und ist die treibende Kraft bei der Stabilisierung der Region, bei der Unterstützung der Demokratisierung, der Menschenrechte und des Aufbaus von Rechtsstaatlichkeit und der Integration in die euroatlantischen Strukturen. Die Bundesregierung - auch das haben Sie wohl wieder vergessen - war die treibende Kraft beim Zustandekommen des Stabilitätspaktes. Sie wirkt in der Kosovokontaktgruppe sehr intensiv und sehr konstruktiv bei der Entwicklung von Lösungsstrategien mit. Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass die entsprechenden Lösungen so einfach zu haben sind. Fast alle Forderungen in Ihrem Antrag werden von der Bundesregierung längst eingelöst oder werden von ihr mit Engagement verfolgt. Deshalb ist Ihr Antrag im Grunde genommen nichts als heiße Luft und Gemeinplätze. Die europäische Perspektive bleibt der positive Ankerpunkt für die südosteuropäischen Staaten; aber es ist eine langfristige Perspektive. Diese Perspektive - ich weiß, wir alle sind uns darüber einig - darf nicht genommen werden. Diese Länder müssen aber auch das Ihrige tun, um die europäischen Standards umzusetzen. Auch wenn der Stabilitätspaktkoordinator sagt, die Demokratisierung auf dem Balkan sei in seinen Augen unumkehrbar, sind die Probleme der Region bei weitem noch nicht gelöst. Ich glaube, wir tun ganz gut daran, wenn wir uns einmal einen realistischen Problemaufriss vor Augen führen. Diese Debatte ist aktuell sehr angemessen, weil wir gerade Dinge erleben, die mit dieser Region zu tun haben und die diese Region auch wieder in Schwierigkeiten stürzen können. Was ist denn passiert? Vor zehn Jahren wurde das Abkommen von Dayton unterzeichnet. Wir alle wissen, dass die damit verbundenen Dinge verändert werden müssen. Es ist aber schwer, das in die Tat umzusetzen, weil alles immer im Konsens gemacht werden muss. Seit fünf Jahren gibt es den Stabilitätspakt. Wir können sagen, er ist ein Erfolg. Was Sie jedoch für den Stabilitätspakt in Zukunft fordern, wurde doch längst umgesetzt. In den letzten paar Jahren hat er sich genau auf die Gebiete konzentriert, deren Behandlung Sie hier einfordern. Es wird in 2005 - deshalb wird es immer als ein Schicksalsjahr für diese Region bezeichnet - den Beginn von Statusgesprächen im Kosovo geben. Vor einem Jahr gab es Unruhen im Kosovo. Erinnern Sie sich? Letztes Jahr im März waren wir hier tief besorgt. ({2}) Gestern ist Haradinaj nach Den Haag abgereist. Bosnien-Herzegowina hat ein Kriegsverbrechertribunal eingerichtet. Serbien hat mehrere Generäle überstellt. Der Beginn der Verhandlungen mit Kroatien über einen EUBeitritt ist wegen mangelnder Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal infrage gestellt worden. Sie sehen also, es ergibt sich ein gemischtes Bild von der Lage. Kroatien war sozusagen das wunderbare Zugpferd; die gelungene Annäherung, aus der sich die Chance ergibt, der EU beizutreten, stellte ein Vorzeigeprojekt dar. In Mazedonien finden demnächst Kommunalwahlen statt, die ersten nach der Dezentralisierungsgesetzgebung. Die Wahl wird ein Test auf Umsetzung des Abkommens von Ohrid sein. Wir werden sehr gespannt hinschauen, wie die Parteien in diesem Kommunalwahlkampf agieren. Lassen Sie mich auf einige Länder zu sprechen kommen. Ich werde mich wohl nicht mehr zu allen äußern können, aber das für mich Wichtigste wird der Kosovo sein. Mein Kollege Dzembritzki wird dann das Thema Bosnien-Herzegowina vertiefen. Die Situation im Kosovo ist paradox. Unter Haradinaj und Jessen-Petersen, dem UNMIK-Repräsentanten, ist die Reform der Standarderfüllung wesentlich vorangetrieben worden. Jessen-Petersen ergeht sich in Lobeshymnen für Haradinaj, der aber nach seiner Anklage freiwillig nach Den Haag gegangen ist. Trotzdem ist es im Kosovo bisher ruhig geblieben. Wir können uns aber weiß Gott nicht darauf verlassen, dass das so bleibt. Die Überprüfung der Standards, die Sie auch einfordern, läuft schon längst. Wir alle wissen, dass es keine Rückkehr zum Status quo geben kann. Aber wir alle wissen auch, dass die Frage nicht lösbar ist, ohne Serbien mit einzubeziehen. Es ist nicht möglich, über Serbien hinweg eine Lösung in Bezug auf die Unabhängigkeit zu finden. Deshalb wird es sehr wichtig sein, dass wir immer wieder darauf hinwirken, dass Belgrad eine tragfähige Lösung angeboten wird, von der auch Belgrad etwas hat. Gleichzeitig sind die Serben aber - auch das ist paradox - im Kosovo selber nicht an der Zukunftsentwicklung des Landes beteiligt. Die Gründe dafür sind uns bekannt. Ich denke, diese Probleme müssen in diesem Jahr trotz der kurzen Zeit, die zur Verfügung steht, gelöst werden. Die EU hat im Übrigen angekündigt, dass sie sich - auch in finanzieller Hinsicht - noch stärker im Kosovo engagieren will. Sie leistet schon heute sehr viel im vierten Pfeiler, der Wirtschaft. Aber so leichtfertig, wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen sich die rechtlichen Hürden, die der Privatisierung der so genannten volkseigenen Betriebe im Weg stehen, nicht beseitigen. Denn in dieser Frage müsste sich Belgrad bewegen oder es müsste die Sicherheitsresolution 1244 geändert werden. Das wird nicht so einfach sein. Wie Sie wissen, haben sich die internationale Staatengemeinschaft und diejenigen, die - beginnend mit Steiner - damit beschäftigt waren, bis heute die Zähne daran ausgebissen. Ich glaube, dass wir den Blick auch auf Serbien richten müssen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Unterstützung der demokratischen Kräfte in Serbien. Was tut denn die Bundesregierung - und zwar nicht erst seit Milosevics Abgang - anderes, als die demokratischen Kräfte dort zu unterstützen? Aber Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass die Wahlen in Serbien zu einem Rechtsruck geführt haben und dass Tadic, der reformorientierte Präsident, geradezu einen Drahtseilakt vollführen muss. Es ist nicht so einfach, wie Sie es sich vorstellen. Wir müssen die gesamte Region im Blick behalten. Die wirtschaftliche Entwicklung ist zwar ein entscheidendes Element, aber in allen Ländern sind der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die Schaffung stabiler Rahmenbedingungen, die eine Voraussetzung für Investitionen sind, noch mangelhaft, ganz zu schweigen vom Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. An der Lösung dieser Aufgabe wird zwar gearbeitet, aber es wird noch eine Weile dauern. Eine Lösung im Hauruckverfahren nach dem Motto „EU rein - Probleme raus“ gibt es nicht. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fast fertig. - Die internationale Staatengemeinschaft wird möglichst schnell eine adäquate Lösung suchen müssen, aber bitte nicht im Hauruckverfahren. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor drei Tagen ist im Kosovo Regierungschef Haradinaj zurückgetreten, weil er vom Haager Kriegsverbrechertribunal angeklagt wird. Wir begrüßen, dass Haradinaj zur freiwilligen Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal bereit ist. Für die Vertrauensbildung und Befriedung der Region des westlichen Balkans ist es wichtig, dass die schwarzen Kapitel der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal ist dafür unverzichtbar. Die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit Den Haag ist eine wesentliche Bedingung, um die Standards zu erfüllen, die Mitte dieses Jahres überprüft werden sollen. ({0}) Wir anerkennen, dass Haradinaj engagiert für die Umsetzung dieser Standards geworben hat. Wir fordern die Nachfolgerregierung auf, den Prozess der Implementierung unverzüglich und mit Nachdruck fortzusetzen. ({1}) Wenn bei der Überprüfung erhebliche Verzögerungen festgestellt werden, ist der Beginn der Statusgespräche im Oktober dieses Jahres gefährdet. Damit droht die Gewalt erneut zu eskalieren. Was für das Kosovo gilt, gilt auch für die anderen Länder der gesamten Region. Deshalb begrüßen wir, dass sich vom Haager Tribunal Angeklagte in jüngster Zeit sowohl in Serbien als auch in Bosnien und Herzegowina freiwillig gestellt haben. Das sind nur erste Schritte, die bei weitem nicht ausreichen. Deswegen sagen wir ganz unmissverständlich: Den Ländern, die nicht überzeugend mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal zusammenarbeiten, wird der Weg in Richtung EU und NATO verbaut bleiben, ob es dabei um die Teilnahme an dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“, den Abschluss von Assoziierungsabkommen oder den Beginn von Beitrittsverhandlungen geht. Frau Kollegin Zapf, da Sie Kroatien angesprochen haben, sage ich Ihnen: Wir hoffen sehr, dass die Beitrittsverhandlungen wie geplant in der nächsten Woche beginnen können. Dafür setzen wir uns ein. Das heißt aber auch, dass die Regierung in Zagreb nicht den Eindruck erwecken darf, sie würde das Haager Tribunal bei der Auffindung des ehemaligen Generals Gotovina behindern; denn beides gehört zusammen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Rücktritt Haradinajs und die damit zusammenhängende erhöhte Alarmbereitschaft der Stabilisierungskräfte im Kosovo, die fortgesetzte Notwendigkeit der Truppenpräsenz in Bosnien und Herzegowina und die Vorwürfe des Haager Tribunals gegen die Regierung in Zagreb zeigen: Trotz aller Fortschritte, die wir in den vergangenen Jahren auf dem Balkan erreicht haben - Frau Kollegin Zapf, es sind nicht wenige Fortschritte und wir leugnen sie auch nicht -, sind wir von einer stabilen Situation in der Region weit entfernt. In einzelnen Ländern wird eine weitere politische und wirtschaftliche Stabilisierung erheblich erschwert: durch ungelöste Fragen des politischen Status, ethnische Konfliktpotenziale, mangelnde Rechtssicherheit, organisierte Kriminalität, Menschenhandel und Korruption. Diese Konfliktpotenziale stellen für Frieden und Stabilität in der gesamten Region große Risiken dar. Europa - das wissen wir alle - wäre von einem Wiederaufflammen der Konflikte direkt betroffen. Wenn sich auf dem Balkan eine dauerhafte Instabilität entwickelt und er zu einer Drehscheibe der Kriminalität wird, werden wir die Konsequenzen unmittelbar spüren. Darüber hinaus stellt Europa den größten Anteil der Stabilisierungskräfte in der Region. Deshalb liegt es im europäischen Sicherheitsinteresse, dass diese Herausforderungen möglichst bald bewältigt werden und somit auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Anzahl unserer Soldaten und Polizeikräfte weiter reduziert werden kann. Verehrte Frau Kollegin, Sie haben sich an einer Formulierung unseres Antrags gerieben: dass die Bundesregierung „eine Politik des mutlosen Verharrens im Status quo“ betreibe. Liebe Frau Kollegin, das ist nichts anderes als eine Umschreibung dafür, dass die Bundesregierung schlichtweg nichts tut. ({3}) - Liebe Frau Kollegin, zuerst haben Sie geredet; aber jetzt rede ich. ({4}) Wir unterhalten uns in diesem Hause regelmäßig über die Verlängerung des Mandats. ({5}) - Derjenige, der hier heute fehlt, hat es nicht so mit der Wahrheit. ({6}) Lieber Herr Kuhn, Sie sollten aufhören, von Wahrheit zu sprechen; denn Sie haben Ihre Unschuld verloren. ({7}) Ich könnte nämlich auch über eine andere Region sprechen. Wenn jemand in aller Kürze sagt, es sei unschön, wenn zehntausendfach Zwangsprostitution erfolgt, ({8}) und sich in einem anderen Halbsatz erdreistet, zu sagen, dass man Kroatien deshalb aber nicht kriminalisieren dürfe, ({9}) muss ich Ihnen verdammt noch mal sagen: Diese arrogante Hybris werden Sie noch zu spüren bekommen. ({10}) Kommen wir zurück zum Thema. ({11}) - Wir nehmen die Emotionen zurück, aber hören Sie bei diesem Minister, der nach allem, was er sich geleistet hat, an seinem Amt klebt, mit Zwischenrufen zur Wahrheit auf. ({12}) - Es ist extrem arrogant, lieber Wilhelm Schmidt. Dass ihr euch dafür hergebt, ist euer Problem. Jetzt kommen wir zum Thema zurück. ({13}) Es hat auch etwas mit Wahrheit zu tun. Wir reden jedes Jahr über die Verlängerung des Mandats. Was sagen wir eigentlich den Bundeswehrsoldaten, die zum Teil zum dritten, vierten und fünften Mal in ihren Turnus in das Kosovo nach Pristina oder nach Bosnien-Herzegowina geschickt werden, ohne dass sich dort politisch irgendetwas verändert hat? Gehen sie wirklich dorthin in dem Bewusstsein, einen politischen Prozess zu unterstützen? Oder gehen sie dorthin, weil uns nichts mehr einfällt? Entschuldigung, es ist nicht hinnehmbar, dass wir hohe entwicklungspolitische und militärische Kosten einfach fortschreiben, dass es sogar Profiteure von anhaltender Instabilität gibt, dass die politische Eigenverantwortung der Menschen und Staaten in der Region gehemmt wird. Deshalb muss die Bundesregierung zusammen mit unseren EU-Partnern darauf bestehen, dass im Herbst die Gespräche über den künftigen Status des Kosovos geführt werden. ({14}) Voraussetzung dafür ist, dass im Sommer überprüft wird, ob substanzielle Fortschritte bei der Erfüllung der Standards wie Sicherheit, Minderheitenschutz, Flüchtlingsrückkehr, Dezentralisierung und Bewegungsfreiheit erzielt wurden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Standards und Status bedingen einander. Die Erfüllung von Standards schafft Status und eine Änderung im Status des Kosovos muss die Stabilität der gesamten Region und insbesondere auch von Serbien und Montenegro berücksichtigen. Eine Rückkehr zu einem Status von vor 1999 ist genauso auszuschließen wie eine sofortige Unabhängigkeit des Kosovos. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Strategie vorzulegen, um UNMIK-Verantwortlichkeiten Zug um Zug auf die provisorische Selbstverwaltung des Kosovos und auf regionale Organisationen zu übertragen. ({15}) Den Kosovaren sollten entsprechend der Erfüllung der Standards schrittweise alle Rechte und Pflichten übertragen werden mit Ausnahme der Zuständigkeit für die Außen- und Verteidigungspolitik. Nur durch ein verstärktes zielgerichtetes europäisches Engagement können diese schrittweise Übernahme von Eigenverantwortung erreicht und eine neue weitere Spaltung der Region vermieden werden. Europa muss politisch und militärisch stärker Verantwortung übernehmen. Die Europäische Union muss deshalb die zentrale Rolle im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit mit den Ländern des Balkans übernehmen. Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die Grünen.

Marianne Tritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003647, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 15 Jahren brach aufgrund lang anhaltender ethnischer Konflikte auf dem Balkan ein Krieg aus, der begleitet wurde von Vertreibung und von Massakern an ethnischen Volksgruppen. Der Flächenbrand des Krieges erreichte innerhalb kürzester Zeit die einzelnen Länder des Balkans. Die internationale Gemeinschaft hat damals militärisch interveniert und anschließend mit verschiedenen Mitteln und Instrumenten versucht, Frieden in die Region zu bringen. Die internationale Gemeinschaft hatte sich damals zum Ziel gesetzt, der Gewalt Einhalt zu gebieten, wirtschaftliche Entwicklungsprobleme zu lösen, ethnische Differenzen beizulegen und Minderheitenrechte zu garantieren. Neben einer andauernden Militärpräsenz wurden die Verträge von Dayton und Rambouillet geschlossen, Hohe Beauftragte oder spezielle Repräsentanten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen ernannt, der Polizeiapparat aufgebaut und das Justizwesen zum Teil reformiert. Das Ziel war es, unter der Leitung der Vereinten Nationen den Aufbau demokratischer Staaten voranzutreiben. Das ist zu einem großen Teil gelungen. Herr Kollege, Sie haben vorhin gefragt, was denn bisher auf den Weg gebracht worden ist. Was hat die internationale Gemeinschaft erreicht? Die Sicherheitslage im Kosovo hat sich - abgesehen von den Unruhen im März 2004 - weiter stark verbessert. Auch die Menschenrechtssituation in Südosteuropa hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Freie und faire Wahlen wurden durchgeführt. Die Perspektive einer EU-Annäherung könnte in den Ländern des westlichen Balkans die entscheidende Grundlage für die Festigung der politischen Stabilität und der wirtschaftlichen Entwicklung sein. Das ist eine ganze Menge. Aber selbstverständlich müssen wir nach all den Jahren einmal Bilanz ziehen und auch die Defizite benennen, die nach wie vor bestehen - selbstverständlich gibt es noch Defizite -: Nach wie vor herrscht ein großes Misstrauen der ethnischen Gruppen untereinander, das tief sitzt. Der Aufbau geht zum Teil schleppend voran; das stimmt. Zum Teil sind Doppelstrukturen in den Verwaltungen und Rechtssystemen entstanden, die sich heute gegenseitig behindern. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, es gibt kaum Wirtschaftswachstum, dafür organisierte Kriminalität und ein großes Misstrauen gegenüber den Vereinten Nationen. Schauen wir uns einmal die Situation in Kosovo an: Das Durchschnittsalter liegt bei 22 Jahren, das Durchschnittseinkommen bei 200 Euro und die Arbeitslosigkeit zwischen 55 und 60 Prozent. Das sind natürlich schlechte Grundlagen für die Stabilität eines Landes. Sechs Jahre nach Kriegsende erwarten die Menschen in Kosovo, dass es mit dem Aufbau ihres Landes vorangeht. Sie erwarten zu Recht, dass der Status ihres Landes geklärt wird, damit sie Investoren in das Land holen können, damit sie endlich wissen, wo ihr Platz innerhalb Europas ist. Um diesen Status zu klären, hat ihnen die internationale Gemeinschaft auferlegt, so genannte Standards zu erfüllen, das heißt, den Schutz von Minderheiten, den Schutz von Flüchtlingen und Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit herzustellen und die wirtschaftliche Entwicklung auf den Weg zu bringen. Premierminister Haradinaj hat in Kosovo ein atemberaubendes Tempo vorgelegt, diese Standards zu implementieren. Seine Entscheidung, sein Amt niederzulegen und nach Den Haag zu reisen, weil der Internationale Strafgerichtshof Anklage gegen ihn erhoben hat, verdient unseren höchsten Respekt und sollte ein Vorbild für die anderen Länder des Balkans sein, die sich mit der Auslieferung ihrer Angeklagten und Kriegsverbrecher zum Teil nach wie vor sehr schwer tun und sich selbst dabei auf dem Weg nach Europa behindern. ({0}) Haradinaj hat seine Anhänger zur Ruhe gemahnt. Die Kosovaren haben nämlich begriffen, dass die weiteren Entscheidungen in der Statusfrage, dass ihre Unabhängigkeit von ihrem rechtsstaatlichen Verhalten abhängen. Ich bin der Meinung, dass die Implementierung der Standards und die Klärung des Status paralleler laufen müssen, damit der Teufelskreis endlich durchbrochen wird, an dem es immer wieder hakt: dass einerseits Wirtschaftswachstum zu einer der Voraussetzungen für die Klärung der Statusfrage gemacht wird, Investitionen in die Wirtschaft andererseits aber ohne die Klärung des Status nicht möglich sind. Kein seriöses Unternehmen investiert in politisch unklare Verhältnisse. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Europa kann, wie ich finde, noch einiges dazu beitragen, Ländern wie dem Kosovo auf diesem Weg unter die Arme zu greifen. Dazu gehört zum Beispiel, dass Europa sich einmal überlegt, inwieweit es mehr in das Kosovo investiert, anstatt nur zu warten, bis bestimmte Standards erfüllt sind. Es sollte von sich aus die Initiative ergreifen, damit so etwas wie eine Basisversorgung in diesem Land endlich gewährleistet wird. Wir waren erst in der letzten Woche dort und haben uns die Verhältnisse angeschaut. Die Menschen sind natürlich nicht guten Mutes, wenn sie ohne Strom und ohne Wasser leben müssen, wenn sich in ihren Straßen der Müll häuft, wenn die Basisversorgung nicht gewährleistet ist, wenn ganz einfache Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, die das Leben angenehmer machen und auf denen man die Alltäglichkeiten des Lebens aufbauen kann. Da ist Europa tatsächlich gefordert, die Hände zu reichen und etwas zu machen. Ebenso sollte man meiner Meinung nach überlegen, die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge aus den anderen Ländern in das Kosovo noch einmal zu thematisieren. Nach wie vor werden Leute mehr oder weniger unfreiwillig abgeschoben und zurückgeführt. Das ist ein Problem: Damit tragen wir natürlich zur Instabilität der Region bei; das muss uns klar sein. Wir entlassen die Menschen in ein Leben in einer Region, wo es keine Arbeitsplätze gibt, keine Grundversorgung. Sie wissen nicht, wie und wovon sie leben sollen, und das, nachdem sie hier mit ihren Kindern und Familien zum Teil seit über zehn Jahren voll integriert sind. Ich finde, das geht nicht. Ich möchte, dass wir darüber noch einmal reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa muss anerkennen, dass der Balkan ein Teil von ihm ist. Umgekehrt müssen die Länder des Balkans anerkennen, dass die Europäische Union eine Wertegemeinschaft ist und ihnen bestimmte Bedingungen auferlegt, wenn sie ein Teil dieser Wertegemeinschaft werden wollen. Dazu gehört auf alle Fälle - ich glaube, das ist die breite Meinung in diesem Haus -, dass Kriegsverbrecher nicht gedeckt werden, sondern dass man voll kooperiert, um ihrer habhaft zu werden, wie zum Beispiel gerade im Fall von Kroatien. Haradinaj ist mit gutem Beispiel vorangegangen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner, FDP-Fraktion.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich mir die Reden der beiden Vertreterinnen der Koalitionsfraktionen angehört habe, frage ich mich wie die Amerikaner: Where is the beef? Was ist dort los? Frau Zapf, Sie haben uns erzählt, was alles nicht geht, und Frau Tritz, Sie haben uns erzählt, was dort alles noch an Defiziten ist. So, wie die Bürger in diesem Lande auch, erwarten wir, dass die Bundesregierung, solange sie noch am Ruder ist, etwas Konkretes tut und uns Entsprechendes vorlegt - nicht, was ist und welche Probleme es noch gibt, sondern, was sie im Jahre 2005 ganz konkret tun will. ({0}) Wir sitzen hier nicht in einem politischen Seminar; wir sind hier, damit wir etwas tun. Sie können jetzt noch etwas tun und ich fordere Sie dazu auf. ({1}) Frau Tritz, meine Fraktion, die FDP, hat im Gegensatz zu Ihrer Fraktion zwei ganz konkrete Anträge gestellt. Unser Antrag „Status des Kosovos als EU-Treuhandgebiet“ ist ein Jahr alt. Auch nach dem Weggang von Haradinaj nach Den Haag ist der Antrag noch so taufrisch wie am ersten Tag. Frau Zapf, Sie haben heute nicht genau gesagt, was Sie eigentlich wollen. Sie werden in der Presse zitiert, dass Sie für die Unabhängigkeit des Kosovos sind. Das will das Pentagon auch. Trotzdem sage ich: In dieser Form ist das falsch. Die Europäische Union muss sich in dieser Region stärker engagieren. Liebe Freunde, wir können doch nicht verlangen, dass sich die Afrikanische Union um Darfur und die arabische Welt mehr um den Nahen Osten kümmert, wenn wir als Europäische Union nicht bereit sind, auf dem Balkan konkret tätig zu werden. Deshalb haben wir unseren Antrag auch so konkret gestellt. Herr Schmidt, der Antrag geht nicht in die Breite, sondern er wurde spitz, auf einen Problemkreis bezogen und ganz konkret gestellt. ({2}) Herr Schmidt, wir alle - Sie hoffentlich auch - wissen, dass die drei Möglichkeiten, nämlich erstens die Rückkehr zu Serbien, zweitens die Teilung des Landes und drittens die unmittelbare Unabhängigkeit, im Augenblick wirklich keine politischen Optionen auf dem Balkan sind. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis! Deshalb müssen wir gemeinsam nach neuen Wegen suchen. Die Europäische Union hat der Region in Thessaloniki eine ganz konkrete europäische Perspektive gegeben. Unser Vorschlag eines europäischen Treuhandgebietes, wie wir es bezogen auf das Kosovo genannt haben, ist eine komplementäre Strategie für diese Region hin zu Europa. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass dies für Belgrad die einzig verdaubare politische Option für diese Region ist. Alles andere wird mit Belgrad nicht zu machen sein. ({3}) Von daher glaube ich, dass wir das hier auch berücksichtigen sollten. Wir Deutsche sind besonders gefordert, hier einen ganz konkreten und nicht allgemeinen politischen Beitrag zu einer politischen Perspektive zu leisten. Wir dürfen nicht nur sagen, was alles noch nicht funktioniert, sondern wir müssen hier und heute ganz konkret sagen, was wir wollen. Das sind wir auch unseren Soldaten dort schuldig, ({4}) die bereit sind, einen schwierigen Dienst zu tun. Diese Soldaten erwarten von uns zu Recht, dass wir politische Lösungswege aufzeigen und dass sie nicht als Ersatz für politische Lösungen herhalten müssen. Politische Lösungswege aufzuzeigen, das ist unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag. ({5}) Das Gleiche gilt natürlich auch für Bosnien und Herzegowina. Zehn Jahre nach Dayton müssen wir endlich den Weg zu einer politischen Lösung finden, freimachen und organisieren. Auch dazu haben wir einen konkreten Vorschlag gemacht, über den wir hier noch diskutieren können. Vergleichen wir die Zeithorizonte von Afghanistan und Irak auf der einen Seite und Bosnien-Herzegowina auf der anderen Seite: Im Ergebnis müssen wir feststellen, Herr Dzembritzki, dass irgendetwas falsch gelaufen ist, weil wir noch nach zehn Jahren herumeiern und dem Volk nicht die Möglichkeit geben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb sagen wir: Zehn Jahre nach dem Dayton-Abkommen muss den Organen in BosnienHerzegowina die volle Kompetenz übertragen werden. Die „Bonn Powers“ verhindern Eigenverantwortung und die - um es mit einem neudeutschen Wort zu sagen Ownership der Politiker in diesem Lande. Diese müssen dringend abgeschafft werden. Zehn Jahre nach dem Dayton-Abkommen fordern wir, dass der Hohe Repräsentant einen großen europäischen Hut trägt und die europäische Rolle verstärkt zur Geltung bringt. Bosnien-Herzegowina will in die Europäische Union. Wir Europäer haben dafür - das ist selbstverständlich klare Bedingungen gestellt. Wir sind bereit, dieses Land dabei zu unterstützen. Wir müssen die Menschen aber auch ermächtigen, diesen Weg selber zu gehen. Deshalb ist unser Antrag so wichtig; es muss eine Veränderung der politischen Situation herbeigeführt werden. Wir wissen, dass unsere Anträge von der noch herrschenden Koalition abgelehnt werden. Die, wie wir sagen, „same procedure“ kennen wir schon. ({6}) Aber ich gehe mit Ihnen eine Wette ein: Die „Bonn Powers“ in Bosnien-Herzegowina werden, so wie wir es fordern, abgeschafft werden. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich wette mit Ihnen, dass noch in diesem Jahr die europäische Rolle im Kosovo deutlich verstärkt wird. ({7}) - Die Kontaktgruppe, Frau Zapf, wird dafür sorgen. Sie haben die Chance, unserem Antrag zuzustimmen. Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung. Ich finde es gut, dass Sie zur Vernunft gekommen sind.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wäre ein gutes Schlusswort gewesen, Herr Kollege.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Kontaktgruppe wird das so bestimmen. Wir werden heute - das ist mein letzter Satz, Herr Präsident; ich bedanke mich für Ihr Verständnis - für unseren Antrag keine Zustimmung bekommen; das wissen wir. Wir wissen aber, dass uns die Realität Recht geben wird. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist uns - ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis - noch wichtiger. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Stinner, ich bitte um Nachsicht, dass ich an meiner Vermutung festhalte, dass die Aufforderung zur Zustimmung noch wirkungsvoller war als die resignative Bemerkung, dass es wohl keine Zustimmung geben werde. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Detlef Dzembritzki für die SPD-Fraktion. ({1})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über die Entwicklung und die Perspektiven Südosteuropas in unserem Haus ist richtig. Ich denke, dass wir uns angesichts der Gesamtverantwortung, die wir als Parlament und Bundesregierung übernommen haben, dieser Diskussion regelmäßig zu stellen haben. Ich plädiere aber in diesem Zusammenhang dafür, nicht nur auf die zweifellos vorhandenen Probleme abzuheben, sondern sich auch durchaus der Fortschritte bewusst zu werden, die eindeutig zu erkennen sind, weil sonst, lieber Herr Kollege Dr. Stinner, diejenigen, die vor Ort tätig sind, völlig verzweifeln müssten. Deswegen hilft es bei solchen Debatten nicht, Herr Kollege Schockenhoff, mit Emotionen zu operieren und zu unterstellen, dass in dieser Region noch auf Jahrzehnte hin eine riesige Militärpräsenz notwendig sein wird. ({0}) Vergleichen Sie einmal die Militärpräsenz am Anfang mit der heutigen. Sie werden dann erhebliche Unterschiede und Fortschritte erkennen, weil Zehntausende von Soldaten abgezogen wurden. Ich denke, man muss einmal deutlich machen, welche Veränderungen sich dort ergeben haben. ({1}) Wir müssen uns auch die historische Perspektive vor Augen führen, in welch unglaublich kurzer Zeit Demokratisierungsprozesse in Osteuropa stattgefunden haben und was der Wandel bewirkt hat. Wir haben gestern dem ukrainischen Präsidenten Juschtschenko ob der Leistung der orangenen Opposition in der Ukraine Standing Ovations gezollt. Wir können doch nicht einfach beiseite wischen, wie schwierig solche Prozesse sind. Angesichts der Entwicklung in den ehemaligen jugoslawischen Republiken auf dem Balkan kann die Erfahrung dieses furchtbaren Bürgerkrieges nicht einfach weggewischt werden. Sie ist eine Last, die in dieser Region zu spüren ist. Wenn es der internationalen Staatengemeinschaft damals gelungen wäre, diese zu verhindern, dann wäre heute manches einfacher. Es ist aber so, wie es ist, und wir haben uns dieser Situation zu stellen. Weil wir die Verantwortung mit übernommen haben - das Parlament, die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung -, müssen wir bereit sein, zu erkennen, dass das Licht, das im ehemaligen Jugoslawien zu sehen ist, die schrecklichen Schattenseiten inzwischen ein bisschen überstrahlt. Wenn ich mir den Antrag der CDU/CSU-Fraktion anschaue, dann sehe ich, dass das im Wesentlichen bestätigt wird. Darüber hinaus - das muss ich leider feststellen - finde ich wenig Substanzielles in diesem Antrag. ({2}) Deswegen wird es Sie nicht überraschen, dass wir ihm nicht zustimmen werden. Wir haben bei der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung, beim Aufbau staatlicher Strukturen, im Justizwesen und bei der Rückführung von Flüchtlingen beachtliche Fortschritte erzielt. Das gilt auch für Bosnien-Herzegowina, das mir besonders am Herzen liegt. Herr Kollege Dr. Stinner, selbstverständlich wird der zehnte Jahrestag des Dayton-Abkommens Anlass sein, darüber nachzudenken, wie dieser Prozess weiterentwickelt werden kann. ({3}) Wir beide sind gemeinsam bemüht gewesen, Anstöße zu geben. Es geht einmal um die Revision des Friedensvertrages und es geht zum anderen - das ist offensichtlich Ihr Schwerpunkt in Ihrem Antrag - um die Abschaffung der so genannten „Bonn Powers“. Das ist vom Grundsatz her eine völlig richtige Weichenstellung. ({4}) Ich denke, dass die Diskussion, die darüber geführt wird, deutlich macht, dass erkennbare Fortschritte in BosnienHerzegowina gemacht worden sind. Ich weiß auch, dass Sie, Herr Kollege Dr. Stinner, ein Kenner von BosnienHerzegowina sind. Deswegen meine ich, dass wir uns etwas Zeit nehmen müssen und nicht so vehement unsere Forderungen einbringen sollten. Wir sollten den Prozess vielmehr differenzierter sehen. Nehmen wir einmal die „Bonn Powers“, die Paddy Ashdown im Dezember eingesetzt hat. Es ging damals nicht um Querelen der ethnischen Gruppen untereinander bzw. darüber, dass man sich nicht über Nummernschilder von Autos oder die Mehrwertsteuerreform einigen konnte. Es ging vielmehr darum, dass ein Teil dieser ethnischen Gruppen - sprich: die Republik Srpska und ihre Regierungsverantwortlichen - nicht bereit waren, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil: Man musste den Eindruck haben, dass Kriegsverbrecher geschützt wurden. So bedauerlich es ist, ohne die „Bonn Powers“ wäre überhaupt nichts passiert. Dass der Prozess der Demokratisierung und der Staatenbildung noch nicht so weit ist, dass die Kräfte vor Ort in der Lage sind, diese Leistung zu vollbringen, signalisiert - ob wir es wollen oder nicht -, dass Korrektive in der Gestalt, die die „Bonn Powers“ möglich machen, noch notwendig sind. Ich meine, dass es unsere Aufgabe ist, zu helfen, soweit wir helfen können. Wir haben darin Erfahrung. Ich erinnere an die Erfolge im wirtschaftlichen oder im institutionellen Bereich. Ich denke dabei an manche gesamtstaatlichen Initiativen, die verwirklicht wurden, zum Beispiel die Reform der Mehrwertsteuer oder die Verteidigungsreform. Das sollte eigentlich die Verantwortungsträger in den unterschiedlichen ethnischen Gruppen ermutigen - ob in Mostar, in Banja Luka oder in Sarajevo -, sich stärker aufeinander zuzubewegen und die Blockademöglichkeiten, die sie aufgrund des DaytonAbkommens haben, selber abzubauen. Je mehr das gelingt und je mehr Verantwortungsbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen in Bosnien-Herzegowina erkennbar ist, umso eher wird es möglich sein, das Instrument der „Bonn Powers“, das ein Vehikel ist, das überhaupt nicht ins demokratische Europa passt, rückgängig zu machen. ({5}) Das geht aber nicht auf Knopfdruck. Sosehr ich Ihre Ungeduld verstehen kann, muss ich an mich selbst, aber auch an uns alle appellieren, die notwendige Geduld aufzubringen. Denn wir müssen auch über die Konsequenzen diskutieren. Wenn wir Eigenverantwortung wollen - zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina -, dann können wir nicht sagen: Ihr habt das so und so zu machen. Wenn wir die Menschen nicht auf den Weg der Demokratisierung mitnehmen, dann sind unsere Worte verhältnismäßig hohl. Deswegen hört es sich gut an, von der Regierung zu fordern, mehr zu tun. Man muss aber akzeptieren, dass es sich hier - frei nach Max Weber - um das Bohren sehr dicker Bretter handelt. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie hervorragend am Bohren dieser dicken Bretter arbeitet. Wir sollten aufzeigen, dass diese Region und insbesondere Bosnien-Herzegowina nicht nur die Chance haben, die „Bonn Powers“ loszuwerden, wenn sie bereit sind, die aufgezeigten Defizite abzubauen, sondern auch die Chance, einen Weg in die Europäische Union zu finden. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen, CDU/ CSU-Fraktion.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stimme mit meinem Vorredner darin überein, dass in den zehn Jahren seit dem Daytoner Friedensabkommen viele Entwicklungen auf dem Balkan gut und richtig gelaufen sind und dass es auch hoffnungsvolle Ansätze auf dem Balkan gibt. Wir alle wissen, dass der Friedens- und Demokratisierungsprozess auf dem Balkan noch längst nicht abgeschlossen ist und dass wir dort noch einen langen Atem brauchen. Bei mir allerdings wächst die Sorge, dass gerade das Jahr 2005 für den Balkan zu einem Jahr vieler Rückschläge werden kann und mindestens von den Balkanländern als ein schwarzes Jahr empfunden werden kann. Ich will zu dieser komplexen Thematik nur einige Problemfelder kurz ansprechen. Zunächst zu Kroatien. Seit Mitte der 90er-Jahre hat es Kroatien Schritt für Schritt, manchmal auch Schrittchen für Schrittchen, geschafft, Erfolge bei der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung zu erzielen. Im letzten Jahr gab es wie in einem normalen demokratischen Land einen friedlichen Regierungswechsel. Er hat die demokratische Reife des Landes deutlich bestätigt. Die Erfolge Kroatiens in den letzten Jahren waren so überzeugend, dass die Europäische Union beschlossen hat, im März dieses Jahres Beitrittsverhandlungen mit Kroatien zu beginnen. Diese positive Entwicklung insgesamt ist plötzlich infrage gestellt, und zwar durch einen mindestens für Außenstehende völlig undurchsichtigen Vorgang. Es geht darum, dass Kroatien vom Internationalen StrafgerichtsMichael Stübgen hof der Vorwurf gemacht wird, bei der Festsetzung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Gotovina nicht intensiv genug zu kooperieren. Die kroatische Regierung bestreitet diesen Vorwurf vehement und verweist richtigerweise darauf, dass Herr Gotovina einen französischen Pass habe, insofern in der ganzen Europäischen Union, nahezu weltweit frei herumreisen könne, weshalb sie nicht verantwortlich gemacht werden könne, wenn sie ihn in ihrem Land nicht festsetzen könne. Ich kann diese Vorwürfe an die kroatische Regierung und die Verteidigung der kroatischen Regierung nicht zweifelsfrei bewerten. Aber ich weiß eines: Wenn es in der nächsten Woche dazu kommen sollte, dass der geplante Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien verschoben wird, auf unabsehbare Zeit auf die lange Bank geschoben wird, dann wird dieser Vorgang in Kroatien als unverhältnismäßig und ungerecht empfunden werden können. ({0}) Es wird sich der fade Beigeschmack ausbreiten, dass Kroatien härter behandelt wird als andere Aspiranten wie die Türkei. ({1}) Solche psychologischen Effekte sind gerade auf dem Balkan gefährlich. Nach meiner Überzeugung ist das Krisenmanagement der Europäischen Union bisher unzureichend. Wenn es denn dazu kommt, dass in der nächsten Woche der Beschluss zum Beginn der Beitrittsverhandlungen nicht umgesetzt wird - es sieht danach aus; es steht heute auch schon in der Zeitung -, dann halte ich persönlich zwei Dinge für existenziell: Erstens. Der Europäische Rat muss einen neuen Termin, am besten noch in diesem Jahr, festsetzen. Er darf nicht einfach erklären: Irgendwann, wenn Kroatien irgendetwas umsetzt, was nicht einmal genau definiert ist, fangen wir mit den Verhandlungen an. Zweitens. Ich erwarte, dass die Europäische Union die Handlungsanforderungen an Kroatien klar definiert. Es reicht eben nicht aus, allgemeine Anschuldigungen vorzubringen und auf irgendwelche Geheimdiensterkenntnisse zu verweisen, die auch nirgendwo richtig begründet werden. Falls Kroatien wirklich nicht ausreichend kooperiert, gibt gerade das Kroatien die Möglichkeit, mit Ausreden immer wieder auszuweichen. Es muss also klar werden: Was muss Kroatien zu welchem Zeitpunkt tun? Dann können wir alle, auch die Balkanländer, bewerten, ob Kroatien mit offenen Karten spielt oder ob es, wie der Vorwurf im Moment ist, abzutauchen versucht. Ich denke, die in der nächsten Woche zu treffende Entscheidung der Europäischen Union und insbesondere ihre Umsetzung werden für die Zukunft der gesamten Balkanregion sehr wichtig sein; denn wenn die Entscheidung nicht ordentlich umgesetzt wird, besteht langfristig die Gefahr, dass die Destabilisierung voranschreitet und dass der fortschrittliche Prozess in Kroatien aufhört und sich ins Gegenteil verkehrt. Das wäre in jedem Fall das Schädlichste und eine schlechte Basis. Ich erwarte in dieser Angelegenheit mehr und offeneres Engagement der Bundesregierung als bisher. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt spricht der Kollege Siegfried Helias, CDU/CSUFraktion.

Siegfried Helias (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003144, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir, die CDU/CSU-Fraktion, uns für ein stärkeres Engagement der EU auf dem westlichen Balkan aussprechen, dann liegt das nicht nur an dem scheinbar mutlosen Beharren der Bundesregierung auf dem Status quo, sondern auch an den fehlenden Zukunftsstrategien für diese Region insgesamt. Frau Zapf, Anstrengung und guter Wille alleine genügen nicht. Sie haben gesagt, dass die Bundesrepublik hier die treibende Kraft sei. Dazu kann ich nur anmerken: Allenfalls ein Bummelzug hat sich in Bewegung gesetzt. ({0}) Nehmen wir als Beispiel das Kosovo. Dort sieht auch sechs Jahre nach Kriegsende die Gesamtbilanz düster aus, und zwar nicht zuletzt aufgrund des ebenso kostspieligen wie missglückten Managements der internationalen Gemeinschaft. Wir müssen feststellen, dass die internationale Staatengemeinschaft mit ihren bisherigen Konzepten für das Kosovo schlichtweg gescheitert ist. ({1}) Allein im Rahmen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurden rund 2 Milliarden Euro investiert oder - besser gesagt - verpulvert. Schauen wir auf die wirtschaftliche Entwicklung! Frau Zapf, Sie haben Recht: Das ist ein entscheidendes Element. Die Kollegin Tritz hat bereits auf die katastrophalen wirtschaftlichen Zustände hingewiesen. Schauen wir noch ein bisschen genauer hin! Im Kosovo hat sich allenfalls eine labile Dienstleistungswirtschaft entwickelt, die ohne die hohe internationale Personalpräsenz gar nicht lebensfähig wäre. Produzierendes Gewerbe gibt es kaum. Das belegt auch das Missverhältnis von Einfuhr und Ausfuhr. So exportierte das Kosovo in einem Wirtschaftsjahr Waren im Wert von 27 Millionen Euro und importierte im selben Zeitraum ein Pendant von rund 1 Milliarde. Das muss man sich einmal vorstellen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass wir in einigen Gegenden des Kosovos eine Arbeitslosenquote von rund 60 Prozent zu beklagen haben. Wie fast überall auf dem westlichen Balkan sehen die Menschen im Kosovo keine Perspektive. Qualifizierte Nachwuchskräfte wandern ins Ausland ab. Die Kosovaren wollen aber nicht nur Empfänger von Hilfsleistungen, sondern gleichberechtigter Partner in der Entwicklungszusammenarbeit sein. ({2}) Eine grundlegende Verbesserung der ökonomischen Situation wird durch die unklaren politischen Vorgaben behindert. Dafür nenne ich drei Beispiele, bei denen dringender Handlungsbedarf besteht. Ausländische Investoren machen sich rar, solange sie ein staatliches Provisorium vor Augen haben. Frau Zapf, die Privatisierung der so genannten volkseigenen Betriebe ist natürlich schwer, aber nicht unmöglich. Sie kann allerdings nicht anlaufen, solange eine rechtliche Regelung der Ersatzansprüche von Alteigentümern aussteht. Erschwerend kommt hinzu, dass Investoren für die Altschulden haften müssen. Diese Zustände können wir nicht länger hinnehmen. Ich weiß zwar um die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man etwas verändern will. Wenn wir aber eine Regelung als schlecht und ungenügend ansehen, dann müssen wir auch die Kraft haben, sie zu ändern. Ohne Eigenstaatlichkeit kann das Kosovo außerdem keine Kredite aufnehmen, um Infrastrukturvorhaben zu verwirklichen. Keine Frage, ohne internationale Unterstützung wird sich in Zukunft in Kosovo nichts bewegen. Das sagen auch die Experten der renommierten International Crisis Group, deren Vorschläge durchaus einer näheren Betrachtung wert sind. Demnach soll die Region spätestens 2006 unabhängig werden, und zwar unter der Bedingung, dass eine Strategie zum Minderheitenschutz erarbeitet wird. Ein UN-Vermittler soll den Einigungsentwurf vorbereiten, der noch 2005 unter Einbeziehung der Konfliktparteien auf einer internationalen Konferenz beraten wird. Die Kosovaren würden dann im Jahre 2006 im Rahmen eines Referendums darüber abstimmen. Nun kann man über diesen Vorschlag streiten. An einem Punkt kommen wir jedoch nicht vorbei: Für die EU ist in diesen Plänen keine Rolle vorgesehen. Das darf nicht weiter verwundern; denn Europa hat offensichtlich keine einheitliche Strategie für das Kosovo und für den gesamten Balkan vorzuweisen. Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept zu entwickeln, wie die Aufgaben des Stabilitätspaktes schrittweise in die Verantwortung der Region übertragen werden können, ({3}) nicht nur zum Wohle des westlichen Balkans, sondern zum Wohle ganz Europas. Solange ein solches Konzept nicht vorliegt, ist die Koalition gut beraten, die konkreten Vorschläge der Opposition - sowohl von der CDU/ CSU als auch von der FDP - unvoreingenommen und gründlich zu prüfen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4722 und 15/4406 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht dazu Einverständnis? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Tagesordnungspunkt 5 c. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4799 zum Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet“. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag auf Drucksache 15/2860 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit einer breiten Mehrheit angenommen. ({0}) - Herr Kollege Pflüger, offenkundig ist das Beobachtungsvermögen im Präsidium ausgeprägter als in den ersten Reihen der Opposition. ({1}) Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 5 d. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4813 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist einvernehmlich. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ - Drucksache 15/4998 ({2}) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Fraktionen haben sich auf eine Redezeit von 30 Minuten verständigt. Möchte jemand weiter gehende Anträge zur Redezeit stellen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung erhält zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann das Wort.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat am 15. Dezember letzten Jahres den Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ beschlossen. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Wertschätzung von und die Nachfrage nach hochwertigen Planungs- und Bauleistungen zu sichern und auf Dauer zu steigern, in Deutschland ebenso wie gegenüber dem Ausland. Dazu bedarf es für das deutsche Planungsund Bauwesen neuer Formen der Kommunikation und der Mobilisierung, die es in ähnlicher Form in anderen Nationen oder in anderen Bereichen bereits gibt. Ich denke an verschiedene Stiftungen in den Bereichen Kultur, Denkmalschutz und Umweltschutz. Mit der „Bundesstiftung Baukultur“ will die Bundesregierung diese bundesweite Kommunikations- und Aktionsplattform schaffen. Die Stiftung soll das Bewusstsein für Baukultur bei Bauschaffenden und in der Öffentlichkeit stärken und das Leistungsniveau deutscher Planer national wie international besser herausstellen. Wir glauben, dass es wirklich einiges gibt, was man ins Schaufenster stellen kann. Ich glaube auch, dass wir in diesem Bereich international Nachholbedarf haben. ({0}) Das Stiftungsprojekt stellt nicht nur ein wichtiges Vorhaben der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode dar. Wir tragen damit auch dem Deutschen Bundestag Rechnung, der das Anliegen in seinem Beschluss zur Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen im Oktober 2003 fraktionsübergreifend unterstützt und die Bundesregierung aufgefordert hat, einen entsprechenden Gesetzentwurf einzubringen. ({1}) Die Idee einer Bundesstiftung, mit der der mit der Bundesinitiative „Architektur und Baukultur“ angestoßene Dialog fortgeführt wird, ist im breiten Konsens mit allen Beteiligten und von Anfang an auch im engen Dialog mit den Ländern entwickelt worden. Deshalb überrascht es, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme zwar die Notwendigkeit, die Baukultur in Deutschland zu fördern, ausdrücklich bekräftigt, zugleich aber dem Bund unter Hinweis auf die Kulturhoheit der Länder eine Regelungskompetenz abspricht. Die Bundesregierung hat dies in ihrer Gegenäußerung zurückgewiesen; denn der Bundesrat geht in seiner Stellungnahme nicht von dem Begriff der Baukultur aus, der dem Gesetzentwurf zugrunde liegt. Dieser Begriff, wie wir ihn verstehen und auch im Gesetz definieren, umfasst nicht allein die ästhetische Dimension und auch nicht allein den Ausdruck künstlerischen Schaffens. Er beinhaltet vielmehr das, was alle Fachleute unter Baukultur verstehen: die technischen und funktionalen Aspekte, Planung und Planungsverfahren, Bauen und Instandhalten. Baukultur kann man nur ganzheitlich verstehen. Sie ergibt sich unteilbar aus dem Zusammenspiel aller Disziplinen. Im Ergebnis lässt sich daher nicht sagen: Einfaches Bauen ist Baupolitik, anspruchsvolles Bauen ist Kulturpolitik. Wir alle, das heißt Länder, Bund, Gemeinden und Private, sind - natürlich jeder in seinem Verantwortungsbereich - einer Kultur des Bauens verpflichtet. Der Bund hat hierbei als Bauherr mit Vorbildfunktion und als Verantwortlicher für wichtige Rahmenbedingungen im Bauwesen, im Planungsrecht und im Städtebau Vorschlags-, Beschluss- und Gesetzesrecht. Er hat im Hinblick auf die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der Baukultur als nationaler Standortfaktor und Imageträger die Pflicht, dies voranzustellen. Wir haben also die Kompetenz, den öffentlichen Qualitätsdialog um die Maßstäbe guter Planung und guten Bauens zu organisieren. Auch die Baupolitik des Bundes muss dieser Bedeutung des Bauens Rechnung tragen. Ich möchte deshalb nochmals betonen: Es geht bei der geplanten „Bundesstiftung Baukultur“ nicht um die Förderung kultureller Projekte und nicht um Kulturpolitik. Die Bundesstiftung konzentriert sich auf Kommunikationsinstrumente mit überregionaler und internationaler Ausstrahlung und ist im gesamtstaatlichen Zusammenhang ein ganz wichtiger Baustein für die sehr bedeutenden Bereiche des Planens und des Bauens. Der Namensbestandteil „Kultur“ im Namen „Bundesstiftung Baukultur“ sollte also nicht zu Missverständnissen Anlass geben oder gar für durchsichtige politische Manöver missbraucht werden, ({2}) zumal über die Notwendigkeit, das Bewusstsein für Baukultur zu stärken, breitestes Einvernehmen besteht. Alles andere wäre eine herbe Abfuhr für die Berufsgruppen der Architekten und der Ingenieure, für die Berufsgruppen der Städtebauer und der Landschaftsplaner sowie für viele andere, die mit hohem Einsatz für die Errichtung einer bundesweiten Stiftung gekämpft haben. ({3}) Ich erinnere noch einmal an das, was ich schon im Bundesrat gesagt habe: Bei den Bauministerkonferenzen haben die Länder auf dem Weg zur Bundesstiftung immer mitgestimmt. In der Bauministerkonferenz saßen auch Kolleginnen und Kollegen, die Verfassungsressorts betreuen, ({4}) mit denen wir in jedem Detail besprochen haben, dass wir natürlich eine bundesgesetzliche Möglichkeit haben, uns aber auf das beschränken, was der Bund machen kann. Wir erwarten, dass - über die Anschubfinanzierung des Bundes hinaus - langfristig der Finanzbedarf der Stiftung wesentlich von privaten Dritten mitgetragen wird. Eine erfolgreiche Werbung von privaten Spendern und Sponsoren setzt aber voraus, dass die Stiftung ihre Arbeit aufnimmt, nach außen in Erscheinung tritt und als kompetente Stimme der Baukultur in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Wir möchten daher die Bundesstiftung möglichst zügig noch in diesem Jahr errichten. Ich bin überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Stiftung - in enger Kooperation mit den vielfältigen Institutionen und Akteuren auf Länder- und Gemeindeebene - zu einer positiven Auseinandersetzung der Bürger mit ihrem Umfeld beiträgt, die Wahrnehmung für die baukulturellen Aktivitäten in unserem Land verbessert und die Architekten und Ingenieure auf internationaler Ebene in eine viel bessere Position bringt. Deshalb bitte ich Sie herzlich, das Gesetzgebungsverfahren positiv zu begleiten und die Errichtung der „Bundesstiftung Baukultur“ zu unterstützen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir waren uns doch parteiübergreifend im Ausschuss und im Plenum des Bundestages einig, dass sich das Thema Baukultur keinesfalls für einen parteipolitischen Streit auf Bundesebene eignet. ({0}) Das Thema Baukultur ist nämlich eine Daueraufgabe und dient auch dazu, um die gute Leistung von deutschen Architekten und Ingenieuren weltweit bekannt zu machen. Deshalb haben wir dem Antrag der Koalitionsfraktionen „Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen“ zugestimmt. Dieser Antrag fand sogar einhellige Zustimmung. Alle zehn im Antrag enthaltenen Punkte haben nach wie vor Gültigkeit. ({1}) Von uns allen gemeinsam wurde die Bundesregierung aufgefordert, den Klärungsprozess so weit voranzutreiben, dass die „Stiftung Baukultur“ konkrete Gestalt annehmen und über ein Stiftungsgesetz beraten werden könne, und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Fachverbänden, Hochschulen, Institutionen und Persönlichkeiten ein Konzept für den Aufbau einer „Stiftung Baukultur“ zu erarbeiten. Das Anliegen ist richtig. Allerdings ist der Zeitablauf nicht gerade günstig gewählt worden. Die Bundesregierung hat nämlich den Gesetzentwurf zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt in die politische Arena geworfen. ({2}) Den Gesetzentwurf jetzt dem Bundesrat zur Stellungnahme zu übermitteln, war nicht hilfreich. Es war doch erkennbar, dass der Bundesrat zum gleichen Zeitpunkt die künftige Finanzierung der Akademie der Künste in Berlin zum Anlass für Grundsatzdebatten über die Kompetenz des Bundes in Kulturfragen nimmt. Die Bundesregierung hat damit den Bundesrat geradezu genötigt, den Gesetzentwurf zur „Bundesstiftung Baukultur“ jetzt grundsätzlich abzulehnen, ({3}) auch wenn die Fachausschüsse zustimmend votierten. Am 15. Dezember wurde im Bundeskabinett der Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ beschlossen. Minister Stolpe führte damals anlässlich der Befragung der Bundesregierung unter anderem aus, dass wir in Deutschland allen Grund hätten, die Leistungen der deutschen Planer, Ingenieure und Architekten stärker zu beachten und dafür Sorge zu tragen, dass sie Unterstützung erfahren und auch im Ausland wahrgenommen werden. Man habe gelegentlich den Eindruck, dass diese Leistungen weithin unterschätzt würden, wir uns aber durchaus mit anderen messen könnten. Nach Ansicht der Bundesregierung brauche die Baukultur wie die Bereiche Kultur, Denkmal- und Umweltschutz neue Formen der Motivierung und Mobilisierung. - So weit sinngemäß der Minister. ({4}) Meine Damen und Herren, gerade bei dem Thema Kultur ist der Bundesrat sehr sensibel; denn seit dem Scheitern der Föderalismuskommission achten die Bundesländer noch stärker auf die Wahrung ihrer Verfassungsrechte. Das hätte die Bundesregierung beachten müssen. Wenn der Bundesrat der Auffassung ist, dass der Bund für die Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ - wir sprachen ja vorher immer von einer „Stiftung Baukultur“ - in Deutschland keine verfassungsrechtliche Kompetenz habe, dann ist diese nachvollziehbar; denn der Gesetzentwurf geht nach Ansicht des Bundesrates vor allem in seinen Bestimmungen über den Konvent der Baukultur davon aus, dass Baukultur ein Teilbereich der Kultur ist. ({5}) Baukultur ist jener Bereich, der über die bloße Bautechnik, Baustatik, Materialanalyse und -verwendung sowie über die bloße Funktionalität von Bauwerken hinausweist und Ausdruck künstlerischen Schaffens ist. Dementsprechend wird zu Recht auch in der Gesetzesbegründung ausgeführt, dass die gebaute Umwelt in besonderer Weise Selbstverständnis und Werthaltungen unserer Gesellschaft, ihre Modernisierungsbereitschaft und ihre Leistungsfähigkeit widerspiegele und Baukultur einen Beitrag für attraktive Städte und Gemeinden leisten müsse, „in denen die Bürger sich wohl fühlen“ … Dies sind aber kulturpolitische Zielsetzungen, deren Förderung, Entwicklung und Repräsentation allein in die Verantwortung der Länder fällt. So die Aussage der Mehrheit des Bundesrates, die nachvollziehbar und verständlich ist. Weiter führt der Bundesrat aus: Die Kulturhoheit liegt grundsätzlich bei den Ländern. Sie ist ihr verfassungsrechtlicher Auftrag und Kernstück ihrer Eigenstaatlichkeit. Ungeschriebene Kompetenzen des Bundes bedürfen mit Blick auf die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder als Ausnahme daher einer besonderen Rechtfertigung. Die Gesetzesbegründung enthält jedoch keinerlei Hinweis darauf, welche Kompetenzgrundlage die Bundesregierung für die Errichtung dieser neuen rechtsfähigen Stiftung des öffentlichen Rechts heranzieht. Nach Auffassung des Bundesrates ist die Förderung der Baukultur als staatliche Aufgabe der Bundesgesetzgebung entzogen. In seiner Stellungnahme vom 18. Februar hat der Bundesrat insbesondere die Frage nach der dem Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ zugrunde liegenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes gestellt. Nach Ansicht des Bundesrates hat die Bundesregierung diese Frage in ihrer Gegenäußerung nur unzureichend beantwortet. Ausdrücklich bekräftigt der Bundesrat jedoch die Notwendigkeit, die Baukultur in Deutschland zu fördern und das Bewusstsein für ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit und bei den Bauherren zu stärken. ({6}) Nur müssen diese Zielsetzungen in verfassungsrechtlich gebotener Weise realisiert und unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit durchgeführt werden. Am 15. Dezember 2004 jedoch habe ich in der Regierungsbefragung auf meine Frage, wie sich die Länder zu einer Bundeskulturstiftung verhalten, als Antwort erhalten, dass sich die Bundesregierung „von Anfang an sehr intensiv zu dem Vorhaben mit den Ländern ausgetauscht“ habe, ({7}) weil auch der Bundesregierung klar sei, dass die Länder in diesem Bereich ganz klar definierte Kompetenzen haben. Für uns kommt als Aufgabenstellung all das infrage, was länderübergreifend oder von internationaler Bedeutung ist. Das kann natürlich nur in Übereinstimmung mit den Ländern gestaltet werden. So die Aussage von Minister Stolpe. ({8}) Diese damaligen Aussagen des Ministers lassen nach der ablehnenden Haltung des Bundesrates nur den eindeutigen Schluss zu, dass Minister Stolpe oder Staatssekretär Großmann mit den Ländern nicht richtig verhandelt hat. ({9}) Zugegebenermaßen hat sich der Bundesrat mit seinem sehr kurzfristig eingebrachten Antrag nicht gerade kooperationsfreudig gezeigt. Die Bundesregierung muss aber dafür Sorge tragen, dass der Start der „Bundesstiftung Baukultur“ nicht von einem handfesten Verfassungsstreit begleitet wird. Wir sind bereit, die parlamentarische Beratung im Zeitablauf so zu gestalten, dass die Bundesregierung im Gespräch mit den Ländern nach Lösungen suchen kann, bevor der Konflikt im Bundesrat weiter eskaliert. ({10}) Dem gemeinsamen Anliegen ist nicht geholfen, wenn die Koalition den Gesetzentwurf gegen den Willen des Bundesrates mit ihrer Mehrheit durch den Bundestag peitscht und am Ende der Stiftungsstart im Schatten einer Verfassungsklage steht. Das sollten Sie bitte einmal bedenken, meine Damen und Herren. Das Thema Baukultur und eine „Stiftung Baukultur“ wurden in den vergangenen Jahren viel diskutiert. Es war die Rede davon, dass die Stiftung von privatem Kapital getragen werden solle. Es sollten sich zum Beispiel Architekten, Ingenieure und Weitere beteiligen. Das ist nun gründlich schief gegangen. Denn es hat sich gezeigt, dass die finanzielle Beteiligung der betroffenen Berufsstände nicht eingetroffen ist. Man ging davon aus, dass jede der 125 000 betroffenen Personen 100 Euro zahlt, was 12,5 Millionen Euro ergeben hätte, bei fünf Jahren also 2,5 Millionen Euro pro Jahr. Aber die Berufsstände haben sich nicht beteiligt. Dass dieser Betrag allein von der Bundesregierung aufgebracht wird, war in den Vorgesprächen nicht vorgesehen. Eine Anmerkung zum Deutschen Kulturrat kann ich mir allerdings nicht verkneifen. Der Deutsche Kulturrat führt aus, dass das vom Bund vorgeschlagene Stiftungskapital von 250 000 Euro in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem vom Bund geschätzten Finanzbedarf der Stiftung von jährlich bis zu 2,5 Millionen Euro stehe. ({11}) Aber der Deutsche Kulturrat muss sich natürlich schon einmal fragen lassen, ob er der Meinung ist, dass unendlich viel Geld zur Verfügung steht. Er befürchtet wohl eher, nicht beteiligt zu werden, weshalb er auch bezweifelt, dass der Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und der Finanzminister zuständig seien. - Ja, wer denn eigentlich sonst? ({12}) Der Bauminister ist eben zuständig für das Bauen. Zurück zur Baukultur. Man sollte auch beachten, dass die betroffenen Berufsstände in vielen Bundesländern - da könnte ich Ihnen genügend Beispiele nennen: Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, NordrheinWestfalen - bereits ein Umfeld vorfinden, in dem sie ihre Vorstellungen von Baukultur durchaus verwirklichen können. Die Aufgaben einer „Stiftung Baukultur“, unter anderem die Sicherstellung der Qualität von gebauter Umwelt, wie sie sich in Gebäuden und Infrastrukturanlagen sowie in deren Einordnung ins Landschafts- und Siedlungsbild und im öffentlichen Raum zeigt, werden in vielen Bundesländern bereits seit vielen Jahren realisiert. Qualitätsvolles Bauen und Planen bestätigt diejenigen Bundesländer und Kommunen, die auf diesem Gebiet seit langem traditionell erfolgreich handeln. Baukultur kann nicht von oben verordnet werden. ({13}) - Herr Kollege Beckmeyer, in Bayern hat qualitätsvolles Bauen eine sehr lange Tradition. ({14}) Ich wollte das in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnen, weil ich die Situation für die gesamte Bundesrepublik darstellen wollte. Ihr Land kann sich ein Beispiel an Bayern nehmen. ({15}) Wie gesagt: Baukultur kann nicht von oben verordnet werden. Sie muss als konstruktiver und kreativer Dialogprozess in den Städten und Gemeinden unter Einbeziehung aller Verantwortlichen entwickelt werden. Bauen ist nicht nur eine Angelegenheit von Bauherren und Architekten. Immer liegt auch ein öffentliches Interesse vor. Baukultur bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen individueller Nützlichkeit und sozialer Brauchbarkeit. Baukultur ist daher keine Nebensache und schon gar nicht gefällige Verpackung. Nachdem die grundsätzlichen Aufgaben der „Stiftung Baukultur“ - nämlich kontinuierlich eine Standortbestimmung zur Baukultur in Deutschland vorzunehmen, den öffentlichen Dialog über Baukultur in vielfältiger Weise anzuregen und zu fördern, ein Kommunikationsnetzwerk der Akteure im Bereich der Baukultur aufzubauen und die Leistungen deutscher Architekten, Ingenieure und anderer am Planen und Bauen Beteiligter vor allem international darzustellen und bekannt zu machen - Übereinstimmung finden, fordern wir die Bundesregierung auf, mit den Ländern unverzüglich in Gespräche über die Lösung des Problems einzutreten. Nach der heutigen ersten Lesung könnte bei gutem Willen bis zur endgültigen Verabschiedung des Gesetzentwurfs mit den Ländern noch nachverhandelt werden. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schade, Frau Kollegin Blank, dass auch Sie inzwischen der Kirchturmspolitik der schwarzen Mehrheit im Bundesrat auf den Leim gehen, obwohl Sie doch immer sehr konstruktiv über Kunst und Kultur sowie über bauliche und städtebauliche Qualität diskutieren. Aus meiner Sicht geht es in erster Linie nicht darum, deutsche Leistungen zu vermarkten - das kann an bestimmten Stellen sinnvoll und nötig sein -, sondern darum, in Deutschland den Diskurs über Schönheit und Qualität von Bau und Planung im Hinblick auf Baumaterialien, Maßstabstreue, Farben und Formen sowie städtebauliche und konstruktive Ordnung zu führen. Diese Diskussionskultur im eigenen Lande zu etablieren ist dringend erforderlich. ({0}) Wenn uns das gelingt, dann können wir - noch sehr viel besser als jetzt - diese Qualität auch auf internationaler Ebene darstellen und sie mit den verschiedenen Gruppen von Bauschaffenden, die es bei uns gibt, teilweise realisieren. ({1}) Obwohl unser Land in seiner Geschichte sehr viel Baukultur erfahren hat, mit der wir uns in hohem Maße identifizieren - ich nenne als Beispiel die Moderne der 20er-Jahre, die für uns im Hinblick auf die Qualität Maßstäbe setzt -, müssen wir sagen, dass sich in unseren Städten sehr missglückte Entwicklungen zeigen. ({2}) Es besteht eine Tendenz zu gewaltigen Solitärbauten. Nahezu in jeder Stadt steht ein eitles oder auch missglücktes Projekt neben dem anderen. ({3}) Auf Baumessen wie der bautec wird mir angesichts des Kitsches und der Scheußlichkeiten, die ich dort sehe, regelrecht schlecht. Ich denke, auch über die Alltagsbaukultur muss intensiver diskutiert werden. ({4}) Von daher glaube ich, dass es für uns alle eine sehr wichtige Aufgabe ist, daran ein Stück weiterzuarbeiten. Das geht tatsächlich am besten in einem Diskurs, der auf allen drei Stufen, auf der Ebene des Bundes und damit der Gesamtnation, auf der Ebene der Länder und auf der Ebene der einzelnen Kommunen, jeweils am eigenen Ort geführt wird. ({5}) Ich komme jetzt zu einem weiteren Punkt. Ich verstehe überhaupt nicht, warum der Bundesrat meint, sich dagegen sträuben zu müssen. Als Erstes muss ich ganz schlicht sagen: Wir haben einen Bauminister, also haben wir doch die Zuständigkeit für das Bauen. Als Zweites ist zu sagen: Wer meint, dass die Kultur eine Art föderales Monopol der Länder ist, weiß nicht, dass unser ganzes Leben, jede Aktion, all das, was wir gesellschaftlich und materiell gestalten, Kultur ist. Zu sagen: „Weil es eine Hoheit der Länder für Kulturpolitik gibt, darf der Bund keine ,Stiftung für Baukultur‘, gründen und diesen Diskurs initiieren“, halte ich für eine absolut kleinkarierte Kirchturmpolitik. ({6}) Dürfen jetzt über die Gehry-Architektur in Düsseldorf nur noch die Nordrhein-Westfalen diskutieren? Dürfen über die eben gelobte bayerische Architektur nur noch die Bayern diskutieren ({7}) und dürfen wir anderen nicht hören, nicht sehen, nicht schmecken? ({8}) Dürfen, weil das Kanzleramt zufällig in Berlin steht, nur die Berliner sagen: „Das ist die Kanzlerwaschmaschine“, und darf kein anderer dazu ein entsprechend qualifiziertes Urteil abgeben? Liebe Frau Blank, das ist schlicht unter Niveau. ({9}) - Doch, darüber diskutieren wir jetzt. ({10}) Insofern ganz schlicht mein Fazit: Formal ist es regelrecht absurd, was der Bundesrat mit seiner Mehrheit beschlossen hat. Liebe Kollegin, es ist wirklich unter Ihrem Level, dass Sie dies zumindest erst einmal unterstützt haben, auch wenn Sie versuchen, einen Verfahrensausweg zu finden. Ich halte ihn für überhaupt nicht nötig. Ich finde, wir sollten den Bundesrat mit unseren Mehrheiten überstimmen. Dies ist eigentlich auch unter dem Niveau des Bundesrats. Zu sagen, die Akademie der Künste sei der Anlass, ist eine eigene Diskussion wert. Es ist zu prüfen, ob es nicht notwendig ist, dass der Bund auch in diesen Bereichen seine eigene kulturpolitische Definition für unsere gesamte Nation ein Stück weit vorantreibt. Wir haben anlässlich der Nacht der Schiller-Lesungen erlebt, dass es sehr wichtig ist, auch auf nationaler Ebene unser kulturelles Selbstverständnis zu definieren, darzustellen und nach außen zu tragen. In diesem Sinne wünsche ich, dass die „Bundesstiftung Baukultur“ auf den Weg gebracht wird. Ich wünsche mir auch - da sind wir uns einig -, dass sich die gesellschaftlichen Akteure mit großer Entschiedenheit daran beteiligen. Dafür sollten wir alle werben. ({11}) Die Architekten, Ingenieure und auch die Bauwirtschaft sowie die Immobilienwirtschaft sollten mit ins Boot; das halte ich für dringend notwendig. Aber ich lehne diesen kleinkarierten Streit ab, in dem es darum geht, dass der Bundesrat wieder einmal meint, er sei mit seinen Kirchtürmen für alles zuständig und wir könnten die Nation kulturlos vertreten. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Otto.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, meine Redezeit verbietet es mir leider, mich an dem hehren Diskurs über Schönheit und Ästhetik zu beteiligen. ({0}) Ich will nur feststellen: In der Sache haben Sie sicherlich Recht. Wenn man durch deutsche Länder fährt - ich meine alle deutschen Länder, nicht nur Bayern -, dann hat man den Eindruck, dass der Bauästhetik durch einen Bewusstseinswandel ein bisschen auf die Beine geholfen werden sollte. Deswegen ist die Idee einer Stiftung sicherlich gut. Aber ich möchte, um die Diskussion in den Ausschüssen ein bisschen zu befruchten, jenseits der Frage der Zuständigkeit auf zwei problematische Punkte hinweisen. Der erste Punkt. Lieber Herr Staatssekretär Großmann, wenn Sie darauf setzen, dass in großem Umfang privates Kapital in diese Stiftung fließt, verstehe ich überhaupt nicht, dass diese Stiftung eine Stiftung öffentlichen Rechts sein soll. Es spräche alles dafür, eine privatrechtliche Stiftung zu errichten, ({1}) zumal wir auch die Kulturstiftung des Bundes als Stiftung bürgerlichen Rechts ausgestaltet haben. Das ist, offen gesagt, ein sehr diskussionsbedürftiger Aspekt. Wir werden das in den Ausschüssen noch erörtern. Frau Kollegin Blank, ich bin übrigens der Auffassung, wir könnten, wenn wir eine Stiftung privaten Rechts errichteten, wahrscheinlich diesen ganzen Verfassungskonflikt mit den Ländern vermeiden und sagen: Beteiligt euch doch! ({2}) Wenn die Länder meinen, sie seien hier zuständig, dann sollen sie sich auch finanziell beteiligen. Die finanzielle Beteiligung ist der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte. Ich teile schon die Auffassung, die der Deutsche Kulturrat und andere geäußert haben: Angesichts des Umfangs der Aufgaben ist ein finanzieller Grundstock - ein Stiftungskapital - von 250 000 Euro unterirdisch niedrig. Ich denke, wenn wir von vornherein wissen, es wird jährlich Ausgaben in Höhe von circa 2,5 Millionen Euro geben, dann kann doch das Stiftungskapital nicht nur ein Zehntel davon betragen. Lieber Herr Großmann, das ist ein Etikettenschwindel, das ist keine Stiftung mehr. Eine Stiftung braucht einen Kapitalstock, der einem bestimmten Zweck gewidmet ist. Wenn Sie nur so wenig hineingeben wollen, dann müssen wir es sein lassen. ({3}) Hans-Joachim Otto ({4}) Mein Vorschlag ist: Lassen Sie uns wirklich in den Ausschüssen noch einmal darüber reden, dass wir eine Stiftung privaten Rechts errichten. Sie haben vorhin eine interessante Rechnung aufgestellt und dabei die Beteiligung aller Architekten und Ingenieure vorausgesetzt. Warum sollten sie sich nicht beteiligen, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig? Mit einer Stiftung privaten Rechts werden wir möglicherweise auch diesen Verfassungskonflikt vermeiden. Eines ist mir nämlich wichtig: Ich halte es für abwegig und für schädlich, wenn eine gute Sache dadurch belastet wird, dass wir im Bundesrat unerquickliche Diskussionen über die Zuständigkeit führen. ({5}) Mir liegt schon daran, dass wir hier eine Lösung finden. Da wir eigentlich alle der Auffassung sind, dass hier eine Zuständigkeit von allen - von Bund, Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft - gegeben ist, spricht doch alles dafür, hier eine Stiftung privaten Rechts einzurichten und bei der Kapitalausstattung etwas draufzulegen. Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion in den Ausschüssen und kann Ihnen zusichern, dass auch die FDP-Fraktion dem Anliegen im Grundsatz positiv gegenübersteht. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Weis. ({0})

Petra Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003657, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Blank, ich war schon sehr gespannt, wie Sie heute sozusagen Ihren Kopf aus der argumentativen Schlinge ziehen, welche die Mehrheit des Bundesrates Ihnen bereitet hat. Ich muss gestehen: Mich haben Ihre Äußerungen nicht überzeugt. Ich werde gleich noch einmal kurz darauf zurückkommen. ({0}) - Ja, das ist vielleicht mein Problem. Ich glaube aber, es ist ein Stück weit auch unser gemeinsames Problem. Wir diskutieren ein Gesetzesvorhaben, von dem wir eigentlich mit Fug und Recht sagen könnten, dass es in den letzten fünf Jahren mit einer außerordentlichen Zielstrebigkeit vorangetrieben worden ist. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, die Zielstrebigkeit ist fast vorbildlich gewesen, jedenfalls bis vor ein paar Tagen, als wir die Stellungnahme des Bundesrates zur Kenntnis nehmen mussten. ({1}) Dieses Lob will ich nicht nur auf die Bundesregierung - in Person auf den Kollegen Großmann - beziehen, sondern ausnahmsweise auch auf uns selbst; denn ich denke, es ist uns bislang gelungen, in einer ziemlich großen Einmütigkeit ein Projekt weiterzuentwickeln, das bereits jetzt seine Wirkung entfaltet und das weit über unsere eigene Zeit hinausweist. ({2}) Wir haben relativ kurzfristig in einer konzertierten und zugleich konzentrierten Aktion eine, wie ich glaube, in sich schlüssige Konzeption erarbeitet, die sich als tragfähiges Fundament eignet, um die Baukultur als eine übergreifende Aufgabe zur Verbesserung der Qualität von Bauen und Planen zu begreifen. Die Qualität dieses Diskussions- und Entscheidungsprozesses ist neben dem allgemeinen Problemdruck natürlich auch durch die Einsicht und das Interesse der Beteiligten, eine vorausschauende und gleichzeitig nachhaltige Politik zu betreiben, geprägt. Neben ihrer originären Funktion fügt sich die „Bundesstiftung Baukultur“, wie sie jetzt konzipiert ist, in den integrativen Ansatz unserer Stadtentwicklungs- und Städtebauförderungspolitik ein. Wenn wir über den Stadtumbau Ost und West, über die Weiterentwicklung des Programms „Soziale Stadt“, über den städtebaulichen Denkmalschutz oder über vieles andere mehr reden, dann reden wir immer auch über baukulturelle Aufgabenstellungen und Ziele. Die Baukultur wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten große Auswirkungen auf die Weiterentwicklung unserer Städte haben. Wir werden sicherlich in ein paar Wochen aus Anlass der Vorlage des Berichts zum Städtebau darüber intensiver diskutieren können. Jetzt nur so viel: Der Erfolg der Attraktivierung unserer Innenstädte, die Bereitschaft und der Wunsch von Menschen, in Städten wohnen zu bleiben oder wieder in Städte zu ziehen und das erfolgreiche Annehmen der Herausforderungen, die mit einer gleichzeitig alternden und schrumpfenden Gesellschaft verbunden sind, werden auch davon abhängen, ob es uns gelingt, den baukulturellen Bedürfnissen und Ansprüchen in einem ganzheitlichen Sinne nachzukommen. Auch insofern ist und bleibt das Thema Baukultur - darin sind wir uns durchaus einig, Frau Kollegin Blank - eine Daueraufgabe, die auf die Kompetenz und den guten Willen aller Beteiligten angewiesen ist, die sich wiederum nicht nur an ihren eigenen Interessen orientieren können, sondern auch ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein müssen. Dass der Bund die finanziellen Verpflichtungen, die mit der Gründung der Stiftung verbunden sind, tatsächlich eingeht, ist eine Prioritätensetzung, die diesem zweifellos ambitionierten Projekt entspricht. Die Baukultur ist - das habe ich schon in der letzten Debatte angemerkt kein Luxusgut für konjunkturelle Schönwetterzeiten; gleichwohl muss sie sich den finanzpolitischen Gegebenheiten anpassen. Das bedeutet auch - Herr Großmann hat darauf hingewiesen -, dass es im Zuge der weiteren Entwicklung möglich sein muss, den Finanzbedarf langfristig durch Dritte tragen zu lassen. Damit waren zunächst einmal nicht die Länder gemeint, Herr Otto. Der Bund kann und soll einen Rahmen vorgeben und da, wo er selbst Bauherr ist, mit gutem Beispiel vorangehen. Er soll auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene für den baukulturellen Standort Deutschland werben, wann und wo immer es ihm möglich ist. Das schließt ausdrücklich ein, die deutschen Planerinnen und Planer auf dem internationalen Parkett so gut wie möglich zu positionieren, obwohl ich Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig Recht geben muss: Der Ansatz geht weit darüber hinaus. Aber ich glaube, dass wir auch diesen Aspekt noch einmal betonen sollten. Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass der Bundesrat mehrheitlich der Auffassung ist, dass wir uns mit einer „Bundesstiftung Baukultur“ verfassungsrechtlich überheben. Das überrascht mich, nachdem wir schon einige Jahre der Diskussion hinter uns haben, ({3}) und es ärgert mich, ehrlich gesagt, auch. Denn die Argumentation, dass es sich bei der jetzt vorgestellten Konzeption der Stiftung um einen Eingriff in die Kulturhoheit der Länder handelt, ist für mich und sicherlich auch für meine Kolleginnen und Kollegen schlichtweg nicht nachvollziehbar. ({4}) Weder geht der deutsche Föderalismus an der Baukultur zugrunde, noch wird er an ihr genesen. Ich denke, darüber sind wir uns einig. ({5}) Nach meiner und unserer festen Überzeugung kann das gemeinsame Anliegen, die Baukultur in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Wirksamkeit zu stärken, kein Störfeuer gebrauchen. Insofern halte ich Ihre Argumentation für ein reines Ablenkungsmanöver, Frau Kollegin Blank. Einen mehrjährigen, ausgesprochen engagierten Prozess aller Beteiligten auf diese Art und Weise nahezu zu torpedieren erscheint mir als bloße politische Taktik durchschaubar. Deswegen hoffe ich sehr, dass Sie Ihren Einfluss geltend machen und dass wir in der Tat in den weiteren Beratungen konstruktiv diskutieren können, damit wir das Projekt als solches nicht gefährden. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4998 ({0}) an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit sowie an den Ausschuss für Tourismus vorgeschla- gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Otto Bernhardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Umsatzgrenze bei der Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten - Drucksache 15/3193 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 15/4814 - Berichterstattung: Abgeordnete Lydia Westrich Kerstin Andreae b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform der Umsatzsteuer - Durch Umstellung von der Soll- auf die Istbesteuerung Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen und unnötige Liquiditätsbelastungen der Wirtschaft vermeiden - Drucksachen 15/2977, 15/4814 Berichterstattung: Abgeordnete Lydia Westrich Kerstin Andreae Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Peter Rzepka.

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zielsetzung der Gesetzesinitiative der Unionsfraktionen, die wir heute in zweiter und dritter Beratung diskutieren, ist es, gezielt die kleinen Unternehmen zu stärken, um einen Beitrag für dringend notwendige Wachstums- und Beschäftigungsimpulse zu leisten. ({0}) Ausgangspunkt unseres Gesetzentwurfes ist die Beobachtung, dass sich die Zahlungsmoral im Umfeld einer anhaltend schwachen Konjunktur zunehmend verschlechtert. Insbesondere für mittelständische Unternehmen kann es aufgrund schleppender Zahlungseingänge zu ernsten, existenzbedrohenden Liquiditätsengpässen kommen. Die Versteuerung nach vereinbarten Entgelten, die so genannte Sollbesteuerung, verschärft diese Problematik, da die Unternehmen die Umsatzsteuer unabhängig davon an das Finanzamt abführen müssen, ob sie das Entgelt vereinnahmt haben oder nicht. Durch die Sollbesteuerung wirken sich verzögerte Zahlungseingänge doppelt negativ auf die Liquiditätslage der Unternehmen aus, was in einer bereits angespannten wirtschaftlichen Situation zu mehr Insolvenzen führt und damit zahlreiche Arbeitsplätze kostet. Daher fordern wir, die Regelung einzuführen, dass Unternehmen, die weniger als eine halbe Million Euro Umsatz machen, die Umsatzsteuer zeitlich unbefristet erst dann an das Finanzamt abführen müssen, wenn ihr Auftraggeber die Rechnung beglichen hat. Da sich der Grundsatz der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten auf kleine Unternehmen in den neuen und alten Bundesländern gleichermaßen nachteilig auswirkt, soll diese Regelung nach unserem Vorschlag bundesweit einheitlich gelten. ({1}) Die bisherige Istversteuerungsgrenze von 125 000 Euro in den alten Bundesländern soll ebenso wie die zeitliche Befristung für die bereits bestehende Umsatzgrenze von 500 000 Euro in den neuen Bundesländern aufgehoben werden. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die Umsatzgrenze von 250 000 DM bzw. jetzt 125 000 Euro in den alten Bundesländern im Wesentlichen unverändert seit 1968 gilt, sodass schon aus diesem Grund eine Erhöhung gerechtfertigt erscheint. ({2}) Die Unionsfraktion leistet damit nicht nur einen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung in Deutschland, sondern sie reagiert damit vor allen Dingen auf die verheerenden Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Angesichts von 5,2 Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen, angesichts von fast 40 000 Unternehmensinsolvenzen im Jahre 2004, vor allem im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, und angesichts der wiederum nach unten korrigierten Wachstumsprognosen ist es unerträglich, die Untätigkeit der Bundesregierung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu beobachten. ({3}) Indem Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, können Sie ein Zeichen setzen, auf das zum Beispiel das deutsche Handwerk seit langem wartet, und ihren Worten endlich Taten folgen lassen. ({4}) Der Standort Deutschland lässt sich allein durch Ablenkungsmanöver und Ankündigungen nicht mehr schönreden. Keinem ist geholfen, wenn zwar Wirtschaftsminister Clement unsere Ansicht teilt, ({5}) dass der Wirtschaftsstandort Deutschland noch vor einem Regierungswechsel 2006 attraktiver gemacht werden muss, der zuständige Finanzminister Eichel aber alle Reformvorschläge blockiert. In ihrer Ausgabe vom 23. Februar 2005 hat die „Berliner Zeitung“ berichtet, Herr Clement wolle einen alten Plan aufgreifen und dafür sorgen, dass kleine Firmen erst dann Umsatzsteuer zahlen müssen, wenn ihre Kunden ihre Rechnungen bezahlt haben. Dafür muss Herr Clement nicht erst einen alten Plan aufgreifen. ({6}) Dafür müssen Sie nur dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen und damit signalisieren, dass Sie sich nicht mit dem wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands abfinden. ({7}) Die Fortdauer des Theaters, das die Bundesregierung derzeit aufführt, und die Fortdauer der steuerpolitischen Stagnation kann sich Deutschland im Wettbewerb der Standorte um Investitionen und Arbeitsplätze nicht mehr erlauben. Es gehört nicht gerade zu den am besten gehüteten Geheimnissen, dass es die kleinen und mittleren Unternehmen sind, die in Deutschland Arbeitsplätze schaffen. ({8}) - Und Ausbildungsplätze; sehr richtig. - Deshalb muss insbesondere bei den kleinen und mittleren Unternehmen angesetzt werden, will man im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit erfolgreich sein. Das Argument der Bundesregierung, durch die Senkung der Einkommensteuersätze bereits genug für diese Unternehmen getan zu haben, da Einzelunternehmen und Personengesellschaften von der Tarifentlastung profitieren würden, trifft nicht zu. Sieht man genau hin - das Karl-Bräuer-Institut des Steuerzahlerbundes hat das getan -, dann zeigt sich, dass Bezieher mittlerer Einkommen unter dem Strich nicht nur nicht entlastet, sondern sogar zusätzlich belastet wurden. Den Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts zufolge reicht die tarifliche Entlastung zwischen 1990 und 2005 für einen Durchschnittsverdiener gerade einmal aus, um den zwischenzeitlich eingeführten Solidaritätszuschlag und die aus einer inflationsbedingten Tarifprogression resultierenden Belastungen auszugleichen. Wer 1990 80 000 DM verdiente und 2005 bei zwischenzeitlichen Gehaltssteigerungen in Höhe der jeweiligen Inflationsrate 59 310 Euro verdient, dessen Belastung ist in den vergangenen 15 Jahren sogar um 2,7 Prozentpunkte angestiegen. Bedenkt man, dass zwischenzeitlich Vergünstigungen gestrichen und damit SteuererhöhunPeter Rzepka gen vorgenommen wurden, so ist endgültig das Vorurteil entkräftet, bei der steuerlichen Belastung der kleinen und mittleren Unternehmen bestehe in den nächsten Jahren kein Entlastungs- und Handlungsbedarf. Lassen Sie mich ergänzend feststellen, dass sich die von uns vorgeschlagene Änderung des Umsatzsteuergesetzes auch im Einklang mit der maßgebenden 6. EGRichtlinie befindet. ({9}) Auch die Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte sind unseres Erachtens vertretbar; denn die Steuermindereinnahmen sind nur temporärer Natur. Es sind nur Steuerverschiebungen und sie dürften moderat ausfallen. Jedenfalls sind sie im Interesse der kleinen Unternehmen und ihrer Liquidität gerechtfertigt. ({10}) Wenn es uns gelingt, die Insolvenzwelle im Mittelstand durch diese und weitere Maßnahmen zu stoppen, kann dies sogar zu Steuermehreinnahmen führen. Wenn wir uns eine Entlastung der Unternehmen nicht mehr leisten können, können wir uns bald gar nichts mehr leisten. Die Behauptungen aus der Regierungskoalition in den Ausschussberatungen, die Heraufsetzung der Umsatzgrenzen für die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten sei übereilt, treffen unseres Erachtens jedenfalls nicht zu. ({11}) Der Union geht es mit dieser Initiative nicht in erster Linie um die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges. Auf die Ergebnisse des Planspiels und der Machbarkeitsstudie zu diesem Thema zu warten, ist, was unsere Gesetzesinitiative angeht, jedenfalls nicht erforderlich. Im Gegenteil, die wirtschaftliche Situation lässt fortdauernde Tatenlosigkeit nicht zu. ({12}) Steuerpolitische Maßnahmen zur Entlastung des Mittelstandes sind vor diesem Hintergrund nicht übereilt, sondern überfällig. Anders stellt sich die Situation bei der von der Fraktion der FDP vorgesehenen generellen Umstellung auf die Istbesteuerung dar. Zwar habe ich bereits in meiner Rede am 26. September 2003 - nach meinen Informationen als Erster in diesem Hause - angeregt, ({13}) zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges über die Ausweitung der Istbesteuerung nachzudenken; allerdings ist es vor dem Hintergrund der immer noch laufenden Machbarkeitsstudie und des nach wie vor bestehenden Beratungsbedarfs im Zusammenhang mit dem Umsatzsteuerbetrug zu früh, die Praktikabilität einer generellen Umstellung auf die Istbesteuerung zu beurteilen. Sie wissen ja auch, dass weitere Vorschläge in der Diskussion sind und ebenfalls im Rahmen von Machbarkeitsstudien geprüft werden. Ich erinnere an das Reverse-Charge-Modell. Auch eine Istbesteuerung verlangt nach effektiver Kontrolle, unter anderem der tatsächlichen Rechnungsbegleichung. Wie eine solche Kontrolle ohne erheblichen bürokratischen Mehraufwand für Finanzverwaltung und Unternehmen praktisch auszugestalten ist, wurde von der FDP-Fraktion immer noch nicht dargelegt. Dessen ungeachtet hat diese Initiative ihre Berechtigung und wir freuen uns darüber, dass unsere Anregung sowohl von der FDP-Fraktion als auch vom Bundesfinanzministerium aufgegriffen worden ist und zu der bereits erwähnten Machbarkeitsstudie geführt hat. Besonders hinweisen möchte ich auch auf die Notwendigkeit, unsere Vorgehensweise mit der EU-Kommission abzustimmen, ohne deren Zustimmung eine Systemumstellung nicht möglich ist. Unserer Vorstellung entspricht es, zunächst auf nationaler und europäischer Ebene Überlegungen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges auf Grundlage des geltenden Rechts voranzutreiben. Da ist nach meiner Auffassung noch längst nicht alles getan, was möglich wäre. ({14}) So unterstützen wir die von der Europäischen Kommission zuletzt in ihrem 5. Bericht vom 17. Januar dieses Jahres geforderte Schaffung von auf Informationserhebung, Informationsanalyse und Informationsweitergabe spezialisierten Stellen. Wir bieten bei der Umsetzung eines bundeseinheitlichen EDV-gestützten Risikomanagements - wie bei allen Maßnahmen, die zur effektiven Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges geeignet sind - ausdrücklich unsere Hilfe an. Einen Systemwechsel sollten wir aber erst dann gemeinsam in Angriff nehmen, wenn alle damit zusammenhängenden Fragen und Probleme hinreichend geklärt worden sind. Die Union wird sich aus diesen Gründen zum Antrag der FDP-Fraktion der Stimme enthalten. Ungeachtet dessen hoffen wir, dass unser Gesetzentwurf im Interesse der kleinen Unternehmen, die in besonderer Weise unter der von dieser Regierung zu verantwortenden Wachstums- und Beschäftigungskrise leiden, eine Mehrheit in diesem Hause finden wird. Lassen Sie mich zum Schluss meines Beitrages darauf hinweisen, dass der von uns vorgelegte Gesetzentwurf nur ein kleiner Baustein auf dem Wege zu einer umfassenden Unternehmensteuerreform sein kann. Entschlossenes Handeln auf dem Gebiet der Unternehmensteuern duldet nach Auffassung der Unionsfraktion keinen Aufschub mehr. ({15}) Ein weiteres Zögern bedeutet nicht nur Stillstand, sondern ein weiteres Zurückfallen im internationalen Wettbewerb, der auch auf dem Gebiete der Steuern ausgetragen wird. Die Konzepte der Opposition zu den Unternehmensteuern liegen auf dem Tisch. Wir fordern die Bundesregierung auf, zu handeln und endlich beratungsfähige Gesetzentwürfe vorzulegen. Die Zeit drängt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Lydia Westrich.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, dass wir wieder einmal über die Umsatzsteuer reden. ({0}) - Herr Seiffert, ich bin schon sehr gespannt auf das neue Konzept, das uns heute wieder einmal angekündigt wurde. Bei Ihrem letzten Steuerkonzept haben Sie die Unternehmensteuern ja ganz vergessen gehabt. ({1}) Wir werden sehen, was nächste Woche oder wann auch immer von Ihnen auf den Tisch gelegt wird. Vielleicht ein Bierdeckel für die Unternehmensteuer? Wir werden sehen. ({2}) Die Umsatzsteuer ist eine unserer wichtigsten Einnahmequellen, die wir gemeinsam immerfort hegen und pflegen. Unser Finanzminister Gernot Mittler aus Rheinland-Pfalz hat gesagt, die Umsatzsteuer werde zur Achillesferse der öffentlichen Haushalte in ganz Europa werden. Er hat die vom Ifo-Institut angegebenen Fehlbeträge, die von kriminellem Missbrauch der Umsatzsteuer herrühren, hochgerechnet. Schon in der früheren EU der 15 gab es Steuerausfälle von jährlich 60 Milliarden Euro. Das sind 60 Prozent des EU-Haushaltes eines Jahres! Bei der jetzigen EU können wir noch einiges mehr dazuzählen. Wir reden also von großen Summen und einem Missstand, den wir nicht hinnehmen können. ({3}) Ich denke, darin sind wir uns alle einig; Sie haben das ja im September noch einmal sehr ausführlich erläutert. ({4}) Wir haben in den letzten Jahren mit wichtigen gesetzgeberischen Maßnahmen die Bekämpfung des Umsatzsteuermissbrauchs sehr offensiv vorangetrieben. ({5}) Die Steuerverwaltung hat Instrumente an die Hand bekommen, die zwischenzeitlich mit gutem Erfolg angewendet werden, Herr Seiffert. ({6}) Das waren gemeinsame Anstrengungen der Bundesregierung, der Koalitionsfraktionen und der Länder, aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, waren nicht dabei. Wo bleibt Ihre Verantwortung für die Lösung dieses gemeinsam beklagten Missstandes? Das muss ich schon einmal deutlich fragen. ({7}) Ich denke nur an die Diskussion, die wir damals über die unangekündigte Nachschau geführt haben. Heute sagen uns in der Anhörung sogar die Vertreter von Wirtschaftsverbänden, dass wir damit ein hilfreiches Instrument für die Finanzverwaltungen eingeführt haben. ({8}) Sie hatten damals nicht den Mut, dazu Ja zu sagen. ({9}) Wir alle wissen, dass die Umsatzsteuerhinterziehung nicht nur den Staat und die Steuerzahler, sondern natürlich auch die Wirtschaft in sehr hohem Maße schädigt. Deswegen arbeitet die Wirtschaft mit daran, den Missbrauch einzudämmen. Steuerehrliche Unternehmen können mit steuerunehrlichen Unternehmen nicht konkurrieren, sie werden vom Markt verdrängt. Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze gehen verloren. Natürlich können wir dabei nicht zusehen. Da wir heute über Ihren Antrag bzw. Ihren Gesetzentwurf reden, ist klar, dass Sie sich dieses Problems, dieses großen Missstandes sehr wohl bewusst sind, auch wenn Sie nicht mutig genug sind, dabei mitzumachen, die Verwaltung in ihrem Kampf gegen die kriminellen Elemente wirksam zu unterstützen. Sicher gibt es immer verschiedene Wege, bestimmte Ziele zu erreichen. Der Antrag der FDP auf sofortige Umstellung der Umsatzsteuererhebung von der Soll- auf die Istbesteuerung, um den Umsatzsteuerbetrug wirksam zu bekämpfen und gleichzeitig für mehr Liquidität in den Unternehmen zu sorgen, ist aber leider nur als kaum ernst zu nehmender Schnellschuss zu bezeichnen. Das hat Herr Rzepka schon ausgeführt. ({10}) Sie wissen genau: Auch, wenn wir wollten, können wir das gar nicht so schnell realisieren. Die EU hat dabei nämlich noch ein Wort mitzureden. Wir sind an die 6. EG-Richtlinie gebunden und die Signale aus Brüssel in dieser Richtung sind nicht allzu ermutigend. Daneben wissen Sie genau, dass wir Planspiele in Gang gesetzt haben, durch die die Möglichkeiten eines anderen Mehrwertsteuersystems ausgelotet werden. ({11}) Ich nenne das Reverse-Charge-Modell und die Istbesteuerung verbunden mit einem Cross-Check. Warten Sie doch wenigstens diese Ergebnisse ab. Dann können wir auch mit handfesten Argumenten in Brüssel auftreten, sodass wir uns nicht mehr mit neuen, unausgegorenen Vorschlägen gleich ins Hintertreffen bringen. Wir sind uns einig, dass wir mit unseren gesetzgeberischen, technischen und organisatorischen Mitteln bei der Bekämpfung des Umsatzsteuermissbrauchs nicht mehr viel weiter kommen. Die Länder können bei der Steuerfahndung und bei der Intensität ihrer Prüfungstätigkeit sicher noch einiges mehr tun. Das können sie ruhig noch höher fahren. Wir hier sind gefordert, zu überlegen, wie wir das Mehrwertsteuersystem so verändern können, dass es sich nicht mehr zum Bedienungsfeld krimineller Elemente eignet. Dies muss seriös und mit Hand und Fuß geschehen. Schnellschüsse, bei denen wir nicht einschätzen können, welche neuen betrügerischen Möglichkeiten damit verbunden sind, können wir uns nicht mehr leisten. ({12}) Herr Solms, ob die Steuerberater damit einverstanden sind, die Haftung und Verantwortung für ein solch ungeprüftes Feld zu übernehmen, wage ich zudem zu bezweifeln. Wir müssen Ihren Antrag zum jetzigen Zeitpunkt also ablehnen. ({13}) Wir haben an Sie aber die Bitte, dass Sie fundiert weiter mit uns diskutieren, wenn die Erkenntnisse aus den Planspielen vorliegen. ({14}) Die CDU/CSU verfolgt mit ihrem Gesetzentwurf eine andere Intention, das ist klar. Sie wollen Liquiditätsengpässen von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenwirken. ({15}) Leider ist der Gesetzentwurf ebenfalls untauglich. ({16}) Erstens würden weit mehr Kosten als die von Ihnen veranschlagten 700 Millionen Euro anfallen, wobei auch diese natürlich schon kein Pappenstiel sind, zumal Sie selbst ständig Sparsamkeit anmahnen. Laut den Daten des Statistischen Bundesamtes würden dort leicht über 2 Milliarden Euro zusammenkommen. Sie sagen, das könne man einfach mal locker ausgeben, es seien Einmaleffekte. Trotzdem ist das nicht zu finanzieren. Der zweite, noch wichtigere Ablehnungsgrund ist, dass wir damit bundesweit ein System einrichten würden, das hoch betrugsanfällig ist; das wissen Sie auch selbst. Soll- und Istbesteuerung würden dabei nämlich nebeneinander herlaufen und es würde noch erheblich größere Betrugspotenziale zulasten unseres Haushaltes geben als vorher. Die generelle Umstellung, die die FDP fordert, wäre Ihrem Gesetzentwurf vorzuziehen, da es dann wenigstens nur ein System gäbe, das wir zu realisieren hätten. Außerdem haben wir für die kleinen Unternehmen aus den neuen Ländern die Istbesteuerung mit der höheren Umsatzgrenze nur nach einem größeren Abwägungsprozess zugelassen. Eine bundesweite Ausdehnung auf höhere Umsatzgrenzen kommt derzeit nicht infrage. Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen. Wollen Sie eine Umsatzsteuer, die als wichtige Einnahmequelle weiterhin den Interessen der ehrlichen Bürgerinnen und Bürger dient, oder wollen Sie ein Durcheinander von Systemen, bei denen den kriminellen Elementen das Herz lacht? ({17}) Kleinunternehmen hilft dieses Durcheinander nicht weiter. Sie täten besser daran, diese kriminellen Machenschaften mit uns wirksam zu bekämpfen ({18}) und mit uns ein Mehrwertsteuersystem zu erarbeiten, das nicht mehr in diesem Maße betrugsanfällig ist. ({19}) Ehrlich gesagt, würden Sie in Ihren Ländern - das wissen Sie selbst ganz genau - weder für den Antrag noch für den Gesetzentwurf eine Mehrheit finden. ({20}) Warum legen Sie uns Gesetzentwürfe vor, von denen Sie wissen, dass sie im Bundesrat auf jeden Fall scheitern werden? Es tut mir sehr Leid, dass wir den Gesetzentwurf und den Antrag ablehnen müssen. Vielen Dank. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat das Wort der verehrte Herr Kollege Hermann Otto Solms. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man genau zugehört hat, stellt man fest, dass wir uns in der Diagnose parteiübergreifend einig sind. Die Umsatzsteuer hat im Erhebungsverfahren erhebliche Nachteile. Sie belastet die Liquidität von kleinen und mittleren Unternehmen und Handwerksbetrieben. Sie ist zudem international besonders betrugsanfällig. Es ist gut, dass wir uns in dieser Diagnose einig sind. Ich freue mich auch, zu hören, dass man im Finanzministerium große Anstrengungen unternimmt, die richtigen Korrekturverfahren zu ermitteln, um dann die entsprechenden Vorschläge zu machen. Die CDU/CSU hat den Vorschlag gemacht, die Istbesteuerung in Ost- wie in Westdeutschland auf Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 500 000 Euro auszudehnen. Der Vorschlag geht nach unserer Meinung in die richtige Richtung, weil er gerade bei kleineren Unternehmen eine Liquiditätsentlastung bewirkt. Deswegen können wir diesem Vorschlag ohne weiteres zustimmen. Wir haben vorgeschlagen, generell auf die Istbesteuerung überzugehen. Ich bin auch nach längerer Lektüre der entsprechenden Fragen der Meinung, dass dies wahrscheinlich der richtige Weg sein wird. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass die Kombination mit einem aufwendigen Cross-Check-Verfahren in die Irre führt. Großbritannien hat es uns vorgemacht. Dort wird mit einer Bagatellgrenze von meinetwegen 5 000 oder 10 000 Euro Umsatz gearbeitet. Diese geringen Umsätze brauchen dann nicht mehr speziell geprüft zu werden. Ansonsten wird mit Stichproben gearbeitet. In der heutigen Computerwelt ist es nicht schwer, auffällige größere Umsätze durch Stichproben besonders zu prüfen. Ich denke, dass der Weg dahin führen wird. Jedenfalls scheint mir die Umstellung von der Sollauf die Istbesteuerung auch europarechtlich der einfachere und gangbarere Weg zu sein. Wie ich höre, ist das Finanzministerium der gleichen Meinung. Allerdings wollen wir gerne die Machbarkeitsstudie genauso wie das Planspiel beim Reverse-Charge-Verfahren abwarten, welches dann allerdings europarechtlich auf größere Schwierigkeiten stoßen dürfte und eine Vereinbarung in Europa über die Länder hinweg zur Voraussetzung hätte. Diese dürfte sehr schwer zu erreichen sein. Entscheidend ist, dass jetzt gehandelt wird. Wir haben unseren Antrag vor einem Jahr eingebracht. Ich hatte vorher schon in einem Artikel der „FAZ“ die Richtung, in die wir denken, angedeutet. Wir müssen handeln, weil durch Groß- wie durch Kleinbetrug zweistellige Milliardenbeträge verloren gehen, wie das Ifo-Institut ermittelt hat. Das können sich weder die Finanzminister der Länder noch der Finanzminister des Bundes leisten. Im Übrigen sind auch die Kommunen an der Umsatzsteuer beteiligt. ({0}) Deswegen hoffe und erwarte ich, dass die Bundesregierung nach der Überprüfung der Verfahren möglichst noch in diesem Jahr einen Vorschlag macht, dem wir hoffentlich alle zustimmen können; denn diese Sache ist zwischen den Parteien nicht umstritten. In diesem Sinne sehe ich unseren Antrag als Antrieb für eine solche Entscheidung. Auch wenn er heute keine Mehrheit findet, glauben wir, dass wir das richtige Signal gesetzt haben. Wir hoffen, noch in diesem Jahr gemeinsam zu einer Lösung zu kommen. Das würde für die Haushalte von Bund und Ländern eine entscheidende Entlastung bedeuten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta Krüger-Jacob.

Jutta Krüger-Jacob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003712, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Um es vorwegzunehmen: Die Grünen werden gemäß der Beschlussempfehlung des federführenden Finanzausschusses den Gesetzentwurf der Union sowie den Antrag der FDP ablehnen. ({0}) Da der Antrag und der Gesetzentwurf aber aus unserer Sicht ein eminent wichtiges Thema betreffen und deren inhaltliche Richtigkeit nicht pauschal infrage gestellt werden soll, ist uns an einer sachlichen Auseinandersetzung gelegen. Die aktuelle Debatte darüber, kleinen Unternehmen die Möglichkeit einzuräumen, bei der Umsatzsteuer statt der Soll- die Istbesteuerung anwenden zu dürfen, hat zwei Stoßrichtungen: Zum einen handelt es sich um ein Mittel zur Betrugsbekämpfung, zum anderen um eine wirtschaftspolitische Maßnahme. Diese beiden Ziele sollten wir unbedingt auseinander halten. Der Umsatzsteuerbetrug verursacht jährlich einen Steuerausfall in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro. Hätten wir diese Einnahmen, dann läge das Haushaltsdefizit unter 3 Prozent, wäre damit Maastricht-konform und wir hätten weniger sonstige Debatten. Allein diese Größe zeigt, dass wir keinerlei Alternative zur wirksamen Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges haben. Zurzeit gibt es durchschnittlich nur alle 50 Jahre eine Prüfung pro Unternehmen in Bezug auf die Umsatzsteuer. Der Grund hierfür ist zu wenig Personal. Das Problem liegt dabei in der Aufdeckung der Betrugsfälle. Hingegen ist die Bearbeitung der bekannt gewordenen Fälle einfacher. Als großes Hindernis stellt sich dabei die Tatsache dar, dass wir keine Bundessteuerverwaltung haben. Eine zentrale Verwaltung mit allen Daten in einer Hand würde einen schnelleren länderübergreifenden Abgleich ermöglichen. ({1}) Dadurch würde die Aufdeckung von Betrugsfällen gerade bei der Umsatzsteuer erheblich vereinfacht. Da zur Betrugsbekämpfung ein Mehr an Prüfung notwendig ist, prüft das BMF zurzeit das so genannte Cross-CheckVerfahren. Wesentliche Voraussetzung hierfür ist eine flächendeckende elektronische Umsatzsteuerbearbeitung. ({2}) Um einen Abgleich von Umsatzsteuer und Vorsteuer zu ermöglichen, muss jeder Unternehmer elektronisch im Rahmen einer monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung die einzelnen Rechnungsbeträge und die darauf entfallende Umsatzsteuer anmelden, und zwar bei einer noch einzurichtenden Zentralbehörde. Diese gleicht dann den Ausgangsumsatz bei Unternehmer A mit dem entsprechenden Eingangsumsatz bei Unternehmer B ab. Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob die Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs für den Leistungsempfänger vorliegen. Bagatellumsätze bis 500 Euro sind von diesem Verfahren ausgenommen. Die hierzu laufende Machbarkeitsstudie wird bis Mitte dieses Jahres abgeschlossen sein. Wir sollten die Studie abwarten und bei Reformbemühungen deren Ergebnisse berücksichtigen. Nordrhein-Westfalen wird übrigens als erstes Bundesland zur Koordinierung aller Maßnahmen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges ein Zentralfinanzamt einrichten und damit einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen. ({3}) Der FDP-Antrag befasst sich leider nicht mit der Betrugsbekämpfung, sondern ist im Kern ein Vorschlag für eine Umsatzsteuerreform. Jedoch kann alleine mit dem Übergang von der Soll- zur Istbesteuerung der Umsatzsteuerbetrug nicht bekämpft werden, denn bei beiden Alternativen muss vom Finanzamt gleichermaßen geprüft werden. Dies im Übrigen auch deshalb, weil ein Kontoauszug ebenso leicht gefälscht werden kann wie eine Rechnung. Insbesondere bei Onlinebanken, wo man die Kontoauszüge zu Hause ausdrucken kann, ist der Rechnungseingang ebenso betrugsanfällig, wenn kriminelle Energie vorhanden ist. Auch wenn die Einführung der Istbesteuerung, in welchen Grenzen auch immer, ohne Cross-Check und ohne Ausweitung der Prüfmöglichkeiten keine Betrugsbekämpfung darstellt, könnte sie eine Maßnahme sinnvoller Wirtschaftspolitik sein. Eines jedenfalls ist offensichtlich: Die Istbesteuerung verschafft eine höhere Liquidität, was gerade für kleine und mittlere Unternehmen wichtig ist. Es ist auch sinnvoll und den Betroffenen darüber hinaus viel besser zu vermitteln, dass Steuern erst bei Eingang des Rechnungsbetrages gezahlt werden müssen. ({4}) Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen auch weiterhin stärken müssen; ({5}) denn sie sind unverzichtbarer Kern unserer Volkswirtschaft. ({6}) Wenn aber diese Stärkungsmaßnahmen zu enormen Steuerausfällen führen, müssen wir offen über Kosten und Gegenfinanzierungen sprechen. ({7}) Nach den Berechnungen des BMF würde es einen einmaligen Steuerausfall in Höhe von 4,2 Milliarden Euro verursachen, wenn gemäß dem FDP-Antrag alle Unternehmen, deren Umsatz unter 2,5 Millionen Euro liegt, die Möglichkeit der Istbesteuerung erhalten würden. Dies stellt für unseren Haushalt zumindest zurzeit ein echtes Problem dar. ({8}) Die Union hat die Umsatzgrenze mit 500 000 Euro zwar bescheidener angesetzt, aber auch hier entsteht ein Steuerausfall in Höhe von 2,8 Milliarden Euro. ({9}) Solange wir keine Möglichkeit haben, diese - und seien es nur vorübergehende - Steuerausfälle gegenzufinanzieren, können wir diese Anträge nicht umsetzen und müssen sie ablehnen. Im Hinblick auf die wesentliche Bedeutung des Themas muss es jedoch in unser aller Interesse sein, die Umsatzsteuer immer wieder zu unserem Gesprächsthema zu machen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3193 zur Vereinheitlichung der Umsatzgrenze bei der Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4814, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die weitere Beratung. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4814 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2977 mit dem Titel „Reform der Umsatzsteuer - Durch Umstellung von der Soll- auf die Istbesteuerung Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen und unnötige Liquiditätsbelastungen der Wirtschaft vermeiden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP und eine Stimme aus der CDU/ CSU bei sonstiger Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Stabilitätspolitik im Kaukasus und die Zukunft Tschetscheniens - Drucksache 15/4855 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Markus Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass Tschetschenien heute wieder Thema unserer Debatte ist. Wir alle wissen, dass - nicht bei uns im Bundestag, aber in der öffentlich stattfindenden politischen Debatte - über Tschetschenien und den dort vorherrschenden Krieg und Terror allzu oft und allzu lange geschwiegen wird. Es ist gewiss richtig - das betrifft nicht nur uns Deutsche, sondern den Westen überhaupt -, dass wir Russland als Partner brauchen. Das wird auch künftig so sein. Doch das darf nicht dazu führen, dass wir diesen Konflikt, der bis zum heutigen Tag viele zivile Opfer fordert, ausblenden. Schreckliche Terroranschläge, wie zuletzt in Beslan, rütteln uns auf. Vor wenigen Monaten haben wir hier der vielen Kinder, der russischen und inguschetischen Opfer gedacht. Doch dann gehen wir allzu schnell wieder zur Tagesordnung über. Die Tschetschenen sind seit Jahrhunderten ein schwer geprüftes Volk. Nach der Unterwerfung im Zarenreich nutzte Stalin den Zweiten Weltkrieg, um große Teile des Volkes unter dem Vorwand, sie würden mit HitlerDeutschland zusammenarbeiten, zu deportieren. Von den 550 000 Deportierten kam mehr als die Hälfte um. Die anderen durften erst nach Chrustschows Geheimrede, ab 1956, wieder zurückkommen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten die Tschetschenen das Pech, keine Unionsrepublik zu sein, sondern nur eine autonome Republik innerhalb Russlands. So blieben sie gegen ihren Willen Teil Russlands. Da wir nun wiederum kein Interesse am Zerfall Russlands haben, fanden sie und ihr Unabhängigkeitsstreben keine internationale Unterstützung. Stattdessen begann Jelzin Ende 1994 den ersten Tschetschenienkrieg, über den wir vor ziemlich genau zehn Jahren im Deutschen Bundestag, damals in Bonn, diskutierten. Wir riefen Moskau zur Mäßigung der Gewalt auf. Schon damals wurde Tschetschenien fast vollständig zerstört. Nach dem Friedensschluss von 1997 versagte dann der fast selbstständige Staat, und zwar sowohl aufgrund innerer Widersprüche und Gewalt als auch aufgrund fehlender russischer und internationaler Hilfe. Der islamische Fundamentalismus und Terrorismus, der dort eigentlich keine Heimstatt hatte, gewann zunehmend Einfluss. Putin begann 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg und wurde mit ihm Präsident. Mit überbordender Gewalt wird seitdem das kleine Volk der Tschetschenen in eine ausweglose Lage gebracht. Massive Verletzungen fundamentaler Menschenrechte gehören seitdem zum Alltag der tschetschenischen Bevölkerung. Nach Schätzungen internationaler Menschenrechtsorganisationen wurden seit 1994 180 000 Tschetschenen getötet, und das bei einer Bevölkerungszahl von nicht einmal 1 Million. Hinzu kommt die Zahl der Verletzten, der Entwurzelten und der Stigmatisierten. Die tschetschenische Gesellschaft ist vielfach zerstört. Eigene Traditionen wie die Blutrache und die fehlenden Rechte der Frauen erschweren das Überleben des Volkes zusätzlich. Der Befreiungskampf wurde immer mehr zu Terrorismus. Wir sehen die Terrorakte und können sie nur ablehnen; denn sie führen lediglich zu mehr Gewalt. Wie überall bietet Terror auch hier keine Möglichkeit, Konflikte zu lösen. Diese Terrorakte schaden nicht nur den russischen und den tschetschenischen Opfern sowie ihren Familien, sondern auch dem tschetschenischen Volk insgesamt. Dennoch müssen wir unterscheiden. Während es bei dem internationalen Terrorismus der al-Qaida keinen Dialog und keine Gespräche geben kann, weil diese Organisation nur unsere Zivilisation zerstören will, handelt es sich hier um einen Terrorismus, der sich aus einem Regionalkonflikt entwickelt hat. Dieser Konflikt ist nicht mit Gewalt und Terror, sondern nur mit Gesprächen und Verhandlungen zu lösen. Nur so verliert dieser Terrorismus seinen Boden. Die bis heute täglich stattfindende Gewalt heizt ihn jedoch immer wieder an. Die Versuche der russischen Regierung, eine militärische Lösung zu ihren Gunsten herbeizuführen, sind seit Jahren fehlgeschlagen. Aber auch die Strategie der Tschetschenisierung in den letzten Jahren mit der Übertragung der Macht an Kreml-treue Tschetschenen hat keine Befriedung der Region gebracht, genauso wenig wie die so genannten Wahlen und die durch Referendum geltende Verfassung. Wir alle wissen, dass diese Wahlen noch weniger frei waren als der erste und zweite Wahlgang in der Ukraine. Dies waren keine Wahlen. Aus ihnen sprach nicht der Wille des Volkes. Wir müssen sehen, dass unter dem Vorwand der Suche nach Terroristen die ganze Bevölkerung täglich aufs Neue terrorisiert wird, und zwar nicht nur durch das russische Militär, sondern auch durch Truppen des FSB, des Innenministeriums und der Milizen von Ramsan Kadyrow, der nach dem Mord an seinem Vater zum stellvertretenden Ministerpräsidenten gemacht wurde. Nur eine politische Lösung wird auf Dauer für Sicherheit und Stabilität in der Region des Kaukasus sorgen können. Dabei ist es gewiss eine schwer zu beantwortende Frage, wie dies erreicht werden kann. Sicher ist aber eines: Wer eine politische Lösung will, braucht Partner. Ich persönlich glaube, dass der 1997 gewählte tschetschenische Präsident Maschadow ein Partner war. Ihn hat man - das haben wir gehört - vor zwei Tagen getötet. Ich bin überzeugt, dass man damit keinen Sieg errungen hat. Die Chancen für eine Lösung sind so weiter gesunken. Ich glaube, im Endeffekt müssten auch seine Gegner um ihn trauern. Denn die Gefahr ist groß, dass die Spirale der Gewalt sich nun nur noch schneller dreht, dass das Leid dieses Volkes sich ins Ausweglose steigert und dass der tschetschenische Terror auch immer mehr russische Opfer fordert. Es braucht heute vertrauensbildende Maßnahmen aufseiten Russlands und die Bereitschaft, sich von der internationalen Gemeinschaft helfen zu lassen. Die Äußerungen Putins im Dezember in Hamburg gaben Anlass zur Hoffnung. Dort hatte Präsident Putin erstmals eingeräumt, dass die Destabilisierung der Region ein Problem für die internationale Gemeinschaft darstellt. Er hat sich dabei offen für internationale Unterstützung bei der Stabilisierung der Lage und beim Wiederaufbau gezeigt. Inzwischen wächst die Sorge, dass man doch wieder hauptsächlich oder gar allein auf militärische und andere Lösungen alten Stils setzt. Dies aber würde die Katastrophe fortsetzen und vergrößern. Wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben und Russland überzeugen, dass politische Lösungen unter Einbeziehung aller - auch derer, die für Unabhängigkeit kämpfen - notwendig sind. Dieser Krieg ist keine innere Angelegenheit Russlands, weil Menschenrechtsverletzungen im 21. Jahrhundert nie mehr und nirgendwo innere Angelegenheit sein können und werden. Zu danken ist dem Europarat und hier insbesondere dem Berichterstatter, unserem Kollegen Rudolf Bindig, der sich mit großem Engagement und Sachlichkeit diesem Konflikt gewidmet hat. ({0}) Noch im März soll es in Straßburg einen runden Tisch zu den Fragen Tschetscheniens mit verschiedenen Partnern geben. Wichtig ist aber auch die Initiative der russischen Soldatenmütter, die vor zwei Wochen mithilfe von Europaparlamentariern einen Gesprächsprozess mit Achmed Sakajew, dem bisherigen Beauftragten von Maschadow, begonnen haben, vergleichbar etwa der Genfer Initiative im Nahostkonflikt. Diese und andere Bemühungen müssen weitergehen und auf andere politische Ebenen übertragen werden. Eine politische Lösung gibt es nur, wenn alle Seiten in das Gespräch einbezogen werden. Wir wissen, dass nach der Tötung Maschadows am 8. März Bemühungen um einen Dialog wahrhaftig unter einem noch schlechteren Stern stehen als vorher. Angesichts der drohenden Eskalation sind aber gerade diese Bemühungen umso dringlicher. Diese Woche hielt sich der Vorsitzende der neu geschaffenen Kommission für die Koordination der Aktivitäten im Nordkaukasus, Dmitrij Kosak, zu Konsultationen in Berlin auf. Ich hoffe, dass dabei Fortschritte in der Frage erzielt werden konnten, welchen Beitrag die internationale Gemeinschaft leisten kann und soll. Wir sind bereit, als Deutsche und im Rahmen der EU oder eben auch des Europarates alles zu tun, was dem russischen und dem tschetschenischen Volk bei der Lösung dieses Konfliktes hilft. Wir wollen, dass diese offene Wunde am Rande Europas heilt. Dies dient der Sicherheit und der Stabilität der Russischen Föderation und Europas. Ein Letztes: Wir sollten darauf achten, dass die Emigranten und Flüchtlinge, die in Europa sind, selbst ein Potenzial für die politische Lösung sind. Daher ist es wichtig, dass sie Gespräche führen und reisen können. Ich möchte deshalb von dieser Stelle aus Frankreich bitten, die Aufnahme von Achmed Sakajew in die Schengen-Liste rückgängig zu machen. Dieses Potenzial für eine politische Lösung muss auch in Zukunft genutzt werden. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Nolte. ({0})

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es ist wichtig, dass wir ein wiederholtes Mal eine Debatte über Tschetschenien führen, einen Schauplatz von Kriegen, Vertreibung, Terrorismus und massenhaften Menschenrechtsverletzungen; denn die Dramatik nimmt weiter zu. Allerdings legen Sie von der Koalition uns heute einen Antrag vor, bei dem man förmlich spürt, dass Sie sich gedrängt fühlten, irgendetwas vorzulegen. Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen setzen sich für eine politische Lösung im Tschetschenienkonflikt und gegen die Menschenrechtsverletzungen dort ein; ich nehme Ihnen Ihr Engagement auch ab. Zu Ihrem Antrag kann man aber nur sagen: Es wäre besser gewesen, Sie wären bei dem Beschluss der Grünen von ihrem Bundesparteitag im letzten Jahr geblieben. ({0}) Dieser Beschluss ist dadurch, dass ihn die FDP in ihrem hier eingebrachten Antrag inhaltlich aufgreift, nicht schlechter geworden; wir können uns dem Antrag der FDP gut anschließen. Ihr Antrag liefert eigentlich nur eine zusätzliche Rechtfertigung unserer Kritik an der Bundesregierung, die sich einfach nicht traut, gegenüber dem russischen Präsidenten einen ganz klaren Kurswechsel in der Tschetschenienpolitik einzufordern. ({1}) Ihr Antrag macht die Diskrepanz zwischen dem, was Sie für richtig halten, und dem, was Sie opportun finden, erst richtig deutlich. Meinen die Grünen, sie wären mit dem jetzt vorliegenden Antrag auf ihrem Parteitag durchgekommen? Das, was Sie hier machen, grenzt schon an Selbstverleugnung. ({2}) Herr Erler, Sie hatten in der letzten Debatte zu diesem Thema im Dezember in einem Zwischenruf gefragt, ob man sich nicht vorstellen könne, eigene parlamentarische Initiativen zu ergreifen. Auch wenn das keine Rechtfertigung für das Nichtstun der Bundesregierung ist, sage ich Ihnen: Natürlich, Sie haben Recht. Aber wo sind denn diese Initiativen? Bringen Sie doch einen entsprechenden klaren Antrag ein. Sie hätten die Chance dazu gehabt. Ihr Antrag enthält kaum ein kritisches Wort zu Tschetschenien. In Ihrem Parteitagsbeschluss haben Sie die Wahl in Tschetschenien noch klar als Farce bezeichnet. Warum ist kein Wort dazu in Ihrem Antrag zu finden? Dabei ist diese Wahl doch symptomatische für den Tschetschenienkonflikt, nämlich für die Frage, wie sich Russland einbringt, wie es durch Härte die Gewaltspirale immer wieder selber anheizt, und dafür, dass es Gelegenheiten zu Dialog und politischen Lösungen nicht wahrnimmt. Das nimmt auch kein Ende. Mit der Tötung von Maschadow wird die Gewaltspirale wieder verschärft werden. Man hat sich im Kreml erneut die Chance genommen, Wege eines Dialogs zu beschreiten, und das, obwohl Maschadow über Rückhalt bei den Tschetschenen verfügte und damit ein verhandlungsfähiger Dialogpartner gewesen wäre. Im April 1995 schrieben einige SPD-Kollegen - Sie waren dabei, Herr Erler und Herr Meckel - an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl sinngemäß, er möge gegenüber dem Präsidenten Jelzin wie auch öffentlich in aller Klarheit die Position des Deutschen Bundestages darstellen und den Krieg und die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verurteilen. Die demokratischen Kräfte Russlands brauchen die Unterstützung des Westens, der Deutschen und ihres Bundeskanzlers. So schrieben Sie. ({3}) Zehn Jahre später sind Sie nicht einmal mehr bereit, dazu beizutragen, dass der Bundestag eine so klare Positionierung vorbringen kann. Aber auch zehn Jahre nach diesem Brief gilt: Die demokratischen Kräfte Russlands brauchen die Unterstützung des Westens, der Deutschen und ihres Bundeskanzlers. Sie haben in Ihrem Antrag demgegenüber nicht einmal das Wort Demokratie verwendet. Sie können doch nicht über Stabilität im Kaukasus reden, ohne auch über Demokratie zu reden. ({4}) Die georgische Parlamentspräsidentin hat vergangene Woche in einem Vortrag in Berlin gesagt, die beste Rahmenbedingung für die Weiterentwicklung Georgiens wäre es, wenn Russland auf dem demokratischen Weg bleibt. Ich denke, man kann das noch weiter fassen: Stabilität im Kaukasus ist nur durch das glaubhafte Bekenntnis Russlands zur Demokratie zu erreichen; denn Demokratie in Russland ist Bedingung für eine demokratische Politik Russlands. Wenn man die russische Armee, die Polizei und die Geheimdienste zur Achtung der Menschenrechte bewegen will, dann braucht man eine demokratische Kontrolle. Wenn man eine politische Lösung im Tschetschenienkonflikt möchte, bedarf es dort demokratischer Strukturen und Wahlen. Wenn man Stabilität im Kaukasus möchte, bedarf es dort demokratischer Staaten in Selbstbestimmung. Für all diese Punkte ist ein demokratisches Russland der zentrale Faktor. Vor einigen Wochen hatte die deutsch-russische Parlamentariergruppe ein Gespräch mit Vertretern der Menschenrechtsorganisation Memorial. Auf die Frage, in welcher Weise Deutschland Unterstützung bieten könne, sagten sie sinngemäß: Es würde schon helfen, wenn Sie manchmal schwiegen. Die Umarmung unseres Präsidenten diskreditiert zum Teil unsere Arbeit. ({5}) Man bezog das nicht zuletzt auf die Äußerung des Bundeskanzlers, dass er bei den Wahlen in Tschetschenien keine empfindlichen Störungen feststellen konnte. Dieser Kommentar war eben nicht nur nicht nötig, er war sogar schädlich. ({6}) Gerade wenn es um einen so wichtigen Partner wie Russland geht, darf man ganz fundamentale Grundwerte wie Demokratie und Wahrung der Menschenrechte bei Gesprächen nicht hinten herunterfallen lassen. Sie haben ja für Ihren Antrag den Titel gewählt: „Stabilitätspolitik im Kaukasus und die Zukunft Tschetscheniens“. Diese Passage ist die anspruchsvollste im ganzen Antrag. Allzu viel Zukunftsweisendes zu Tschetschenien findet man nicht. Das ist zugegebenermaßen auch schwierig. Da steht im Beschluss der Grünen - wir sind ja dankbar, dass die FDP ihn in die parlamentarische Debatte eingebracht hat - mehr drin. ({7}) - Das reicht uns. Wir können uns dem anschließen; das ist ganz einfach. ({8}) Zum Kaukasus finden Sie die vage Formulierung, man möge die Möglichkeiten einer umfassenden Strategie der Stabilisierung und Vertrauensbildung ausloten. Eigentlich gäbe es ja ein Instrument dafür, eine Organisation, die ausdrücklich diese Aufgabe hat: die OSZE. Es ist nur eben ein Dilemma, dass die OSZE kaum handlungsfähig ist, weil sie sich in einer tiefen Krise befindet. Das hat etwas mit dem Vertrauen der Mitgliedstaaten der OSZE untereinander zu tun. Wir wissen, auch bei der Lösung dieser Frage kommt Russland eine ganz wichtige Schlüsselstellung zu. Deswegen ist auch das ein Thema, das der Bundeskanzler mit dem russischen Präsidenten Putin besprechen muss. Ich kann es nur noch einmal deutlich unterstreichen: Das besonders gute Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und dem russischen Präsidenten bringt eben auch eine besondere Verantwortung unseres Bundeskanzlers in dieser Frage mit sich. ({9}) Es gibt einen Punkt in Ihrem Antrag, den ich ausdrücklich unterstreichen möchte, nämlich dass jede politische Lösung des Tschetschenienkonflikts bei einer Untersuchung und Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ansetzen muss. Die Menschen in Tschetschenien brauchen eine Perspektive. Erst dann kann es eine Befriedung geben. Was wird aus den Kindern, die heute in Tschetschenien aufwachsen, in einem Klima der Gewalt und Zerstörung? Es besteht die Gefahr, dass sie die Terroristen der Zukunft sein werden. Wir müssen also alle Anstrengungen unternehmen, um dies zu verhindern. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Fritz Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Eskalation in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus insbesondere seit 1999 ist der Nährboden für weitere Gewalt, für Verzweiflung und insbesondere für weiteren Terrorismus und das Anwachsen des Einflusses islamistischer Fundamentalisten. Darüber müssen wir nicht streiten. Wir müssen hier auch nicht, Frau Nolte, in einen Wettbewerb eintreten bezüglich der Frage, wessen Formulierungen diese Sachverhalte drastischer beschreiben. ({0}) Wir sind der Überzeugung, dass es zu Lösungen via Verhandlungen und Gesprächen, also zu politischen Lösungen, keine Alternative gibt. Weder Krieg noch die Logik von Schlag und Gegenschlag bieten hier eine Alternative. Ich glaube, an dieser Stelle unterscheiden wir uns nicht. ({1}) Dies gilt auch für die so genannte Tschetschenisierung; dabei handelt es sich ja um nichts anderes als um eine andere gewaltsame Methode von Schlag und Gegenschlag. Deswegen geht es uns um politische Lösungen. Die Tötung Maschadows ist wahrscheinlich ein Rückschlag, weil damit letzten Endes Perspektiven für Verhandlungen und Gespräche zunichte gemacht worden sind. ({2}) Wer die Differenzierung zwischen Leuten, die in Tschetschenien aus separatistisch-nationalistischen Gründen agieren und kämpfen, und solchen, die aus islamistischfundamentalistischen Gründen agieren und kämpfen, beseitigt, kann am Schluss nur noch einen Weg gehen, nämlich die totale Vernichtung aller, die in Tschetschenien gegen die Russen aufgestellt sind. Die totale Vernichtung aller Gegner führt dazu, dass die Chance, zu einer Verhandlungslösung zu kommen - das wäre ja möglich; eine solche Lösung muss immer möglich sein -, zunichte gemacht wird. Deswegen waren die Ereignisse in dieser Woche mit Blick auf den Frieden, auf die Möglichkeit eines Wegs zum Frieden sehr negativ. Zu dem Antrag, Frau Nolte. Ich kann nicht verstehen, dass Sie hier so über die Antragslage reden, wenn Sie selber gar keinen Antrag einbringen. ({3}) Selbstverständlich macht es einen Unterschied aus, ob wir - darüber müssen wir ganz offen reden - auf einem Parteitag eine Resolution bzw. einen Antrag verabschieden oder ob unsere beiden Fraktionen, die die Koalition bilden ({4}) - jetzt hören Sie einmal zu, Sie kommen ja nachher dran -, daraus einen Bundestagsantrag machen, der die Regierung zu einem bestimmten Handeln auffordern und verpflichten will. ({5}) Wir haben in unserer Parteitagsresolution unsere Grundsätze und unsere Einschätzung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien dargelegt. Daraus ist in dem Antrag von Rot und Grün, der heute hier vorliegt, ({6}) das geworden, was wir jetzt von der Bundesregierung in ihrem Agieren kurzfristig umzusetzen verlangen. Wissen Sie, Frau Nolte, es geht in der Politik und auch im Dialog, in den Gesprächen mit der russischen Regierung um den feinen Unterschied zwischen Recht haben und Recht bekommen. ({7}) Wenn der Bundeskanzler und der Außenminister in den Gesprächen mit der russischen Regierung fordern sollen - wie Sie es vorgeschlagen haben -, zuerst einmal im eigenen Land eine Demokratie zu schaffen, bevor die Lösung der Probleme angegangen werde, ({8}) dann kann ich Ihnen voraussagen, dass wir da nichts erreichen werden. ({9}) Ich weiß aus meiner Teilnahme an den Gesprächen mit Putin oder anderen Vertretern der russischen Regierung, dass immer gefragt wird, wie die Schritte zur Stabilisierung im nördlichen Kaukasus, insbesondere in Tschetschenien, aussehen, und dass auf diesem Thema eindringlich beharrt wird. Ich kann verstehen, dass Sie in der Opposition die Frage der konkreten Umsetzung, wie wir tatsächlich etwas für die Menschen schaffen, nicht so arg interessieren muss. Aber uns muss sie interessieren. Darin liegt die Differenz der beiden Anträge, über die wir hier reden. Dass Sie, Frau Nolte, unseren Antrag banalisiert haben, finde ich nicht gut; denn er enthält zentrale Elemente dessen, was jetzt helfen würde und notwendig wäre. Er enthält einen klaren Appell, wie ihn der Europarat formuliert hat, zur Beachtung der Menschenrechte. Er plädiert dafür, dass wir Lösungen finden, wie Journalisten und Hilfsorganisationen in Tschetschenien ihre Arbeit aufnehmen können. Das ist, wie wir wissen, ein ganz entscheidender Punkt, damit sich überhaupt etwas verändern kann. Denn in dieses Land kommt - abgesehen von einigen Mitgliedern des Europarates, die vorsichtige Reisen unternehmen - praktisch überhaupt niemand mehr hinein. Wir haben klar gesagt, wie wir uns künftig demokratische Wahlen vorstellen. Es gibt den eindringlichen Appell, an dem Thema Stabilitätspakt für den Kaukasus unter Federführung der EU weiterzuarbeiten. Außerdem gibt es viele weitere Punkte, die in dem Antrag genannt sind. Wer es mit der zarten Pflanze der Hoffnung wirklich ernst meint und hier nicht nur deklamatorisch darüber redet, der muss diesen Antrag unterstützen. Ich kann ja verstehen, dass Sie weiter gehen wollen. Es ehrt die FDP auch, dass sie unseren Beschluss in ihrem Antrag aufgegriffen hat. Darüber will ich mich nicht lustig machen; dass wir uns da nicht falsch verstehen. Aber wenn das, was in dem Antrag steht, in den Gesprächen vorangetrieben wird, dann entsteht ein Stück weit Hoffnung, dass wir etwas verändern können. So ist die konkrete Lage. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen ist Aslan Maschadow gestorben, wahrscheinlich ermordet worden. Die Umstände sind noch nicht ganz klar; vielleicht werden wir es nie genau wissen. Es ist zu befürchten, dass der Kampf weiter geht und eskaliert, dass blutige Rache geübt wird. Maschadow hatte sich von den verabscheuungswürdigen Anschlägen durch tschetschenische Terroristen immer distanziert. Es mag sein, dass sein mäßigender Einfluss noch vermisst werden wird. Präsident Putin hatte bei seinem Deutschlandbesuch im Dezember noch verkündet, der Tschetschenienkrieg sei seit drei Jahren beendet. Die Realitäten, auch der letzten Tage, sprechen leider eine ganz andere Sprache. Immer wieder berichten Nichtregierungsorganisationen, aber auch Fachleute, nicht zuletzt Vertreter des Deutschen Bundestages im Europarat, wie der Kollege Bindig, von Menschenrechtsverletzungen durch russische Sicherheitskräfte. Die Literatur, die in den letzten Tagen dazugekommen ist - nicht zuletzt das beeindruckende Buch von Anna Politkovskaja über Putins Russland -, unterstreicht die Dringlichkeit, dass wir uns mit diesem Thema erneut befassen müssen. Es ist ein höchst aktuelles Thema und es ist sehr wichtig, dass wir uns von der Befassung mit diesem Thema durch die Beschwichtigungsbemühungen aus Moskau nicht abbringen lassen. Rot-Grün hat einen Antrag zur Lage in Tschetschenien eingebracht. In diesem Antrag wird die Bereitschaft der russischen Regierung, nach einer politischen Lösung in Tschetschenien zu suchen, ausdrücklich gelobt. ({0}) Ich muss aber sagen, dass ich diese Bereitschaft nicht erkennen kann. Ich würde mich einer solchen Bewertung gerne anschließen, aber ich kann sie mir nicht zu Eigen machen. Ich wundere mich nicht darüber, dass Sie über diesen Antrag am liebsten schon heute abgestimmt hätten, damit das Thema vom Tisch kommt und im Ausschuss nicht beraten werden muss. Dieser Antrag kann nach meiner Auffassung die kritische Prüfung im Rahmen einer Ausschussberatung nicht bestehen. ({1}) Es ist interessant - dafür habe ich volles Verständnis -, dass der Kollege Markus Meckel über diesen Antrag vorsichtshalber nichts gesagt hat, ({2}) sondern nur über die sehr bedrückende Situation in Tschetschenien selbst. Es ist außerdem sehr erhellend, dass heute die Bundesregierung, obwohl durch Staatsminister Bury vertreten, zu dieser Thematik hier keine Stellung nehmen will. Die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien werden in dem Antrag nur stark verklausuliert angesprochen. Das reicht nicht. Der Bundestag muss diese Menschenrechtsverletzungen klar beim Namen nennen. ({3}) Die Grünen hatten auf ihrem Parteitag einen sehr viel weiter gehenden, einen sehr viel mutigeren Antrag verabschiedet. Wir haben diesen richtigen und wichtigen Antrag wortgleich im Bundestag eingebracht. Wir waren allerdings nicht bereit, ihn im Rahmen dieser Debatte sozusagen zu konsumieren. Wir werden Ihnen aber noch Gelegenheit geben, ausführlich dazu Stellung zu nehmen. In einer namentlichen Abstimmung können Sie sich dazu bekennen oder auch nicht. Wir werden noch vor der Sommerpause auf dieses Thema zurückkommen. Wir sollten aber abwarten, wie die Entwicklung in den nächsten Wochen verläuft, ob die Befürchtung, dass es in den nächsten Wochen zu einer Verschärfung des Konfliktes kommt, eintritt, was wir alle nicht hoffen, oder ob die in jüngster Zeit durchaus erkennbar gewordenen Anknüpfungspunkte für eine politische Lösung aufgegriffen werden. Das Memorandum, das Vertreter Tschetscheniens und der russischen Soldatenmütter - Markus Meckel hatte das bereits erwähnt - unter Vermittlung und Beteiligung von Parlamentariern des Europäischen Parlaments und des Europarats für das Treffen am 24. Februar in London vorgelegt haben, bietet Präsident Putin und der russischen Regierung die Chance, ihren Friedenswillen doch noch unter Beweis zu stellen. Wir werden diese Entwicklung abwarten und dann zu einer endgültigen Bewertung kommen. Die Grünen werden aber nicht daran vorbeikommen, zu ihrem eigenen Antrag Ja oder Nein zu sagen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Melanie Oßwald.

Melanie Oßwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003641, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ist es wirklich nötig, dass wir heute bereits zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten über die Zukunft Tschetscheniens debattieren? Allein am Tag unserer letzten Debatte sind fünf Familienmitglieder des früheren tschetschenischen Präsidenten Maschadow verschleppt worden. Dutzende weiterer Menschen folgten. Täglich werden Leichen mit Folterspuren gefunden. Dass der Kanzler dazu schweigt, ist blanker Hohn für die Opfer. ({0}) Ich warne: Untätiges Zuschauen kommt einer Komplizenschaft mit den Mördern gleich. Bei unserer letzten Debatte hat die FDP die Bundesregierung aufgefordert, in ihrem Dialog mit der Regierung von Wladimir Putin weiterhin darauf zu drängen, dass erstens bei der Bekämpfung des Terrorismus die Grundlagen des Völkerrechts und die Menschenrechte nicht weiter verletzt werden und zweitens sorgfältig zwischen potenziell verhandlungsbereiten Separatisten einerseits und Terroristen andererseits unterschieden wird und alle Möglichkeiten des Dialoges mit politischen Gruppen genutzt werden. ({1}) Was ist bis dato geschehen? Nichts! Überhaupt nichts ist geschehen. Herr Bury, da Sie auf der Regierungsbank sitzen, möchte ich Sie gerne fragen, warum der Kanzler dazu schweigt. Wo ist hier der kritische Dialog? Wo ist seine Besorgnis über Russlands Umgang mit den fundamentalen Bestandteilen der Demokratie, mit der Rechtsstaatlichkeit, mit dem Minderheitenschutz, mit der Meinungs- und Pressefreiheit und seine Besorgnis über den Umgang mit der Opposition? Ist der Bundeskanzler wirklich derart realitätsfremd? Präsident Bush hat doch gezeigt, wie es geht. ({2}) Er hat bei seinem Treffen mit Putin all diese Punkte offen angesprochen und die beiden verstehen sich trotzdem blendend. Das wäre ein tolles Vorbild für den Kanzler. ({3}) Ich frage mich, wovor er Angst hat, dass er nicht die leiseste Kritik an der russischen Autokratie anzubringen wagt. ({4}) Der Bundeskanzler begnügt sich auch nicht damit, selbst zu schweigen. Erst verpasst er seinem Koalitionspartner einen Maulkorb und heute lässt er nicht einmal den Tschetschenienexperten aus seinen eigenen Reihen sprechen. ({5}) - Es hätte Ihnen, glaube ich, sehr gut getan, wenn er gesprochen hätte. Es ist beschämend, dass aus dem an sich unterstützenswerten - das möchte ich betonen - Beschluss des Parteitags der Grünen ein armseliges, inhaltsleeres Anträglein geworden ist. ({6}) Wo steht in Ihrem Antrag, dass alle russischen Staatsorgane, insbesondere Armee und Geheimdienste, auf die strikte Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden müssen? Wo steht, dass Verbrechen, die von Vertretern staatlicher Organe begangen werden, in öffentlichen Verfahren aufgeklärt und Schuldige verurteilt werden müssen? Sie trauen sich nicht, Menschenrechtsverletzungen mit eigenen Worten zu beschreiben. Lediglich auf die Feststellungen des Europarates verweisen Sie. Das ist wirklich der Gipfel der Feigheit! ({7}) Immerhin wollen Sie sich Ihrem Antrag zufolge dafür einsetzen, dass künftige Wahlen in Tschetschenien nach internationalen Standards vorbereitet und durchgeführt sowie internationale Wahlbeobachtung ermöglicht werden … Ich frage mich, warum. Die letzte Wahl war doch nach des Kanzlers Worten durchaus akzeptabel. Wir bräuchten doch diese Debatte heute gar nicht. Das ist Wahrheitsbeugung, die an Realitätsverleugnung grenzt. Aber da befindet sich der Bundeskanzler in allerbester Gesellschaft. Schließlich behauptete sein Freund Putin, in Tschetschenien gebe es - wir haben es bereits gehört - seit drei Jahren keinen Krieg mehr. Ich sage: Das ist wirklich beschämend. Richtig ist, dass der Tschetschenienkonflikt in den letzten Jahren islamisiert wurde. Genauso richtig ist, dass dieser Konflikt durch das unterschiedslos brutale Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte … selbst zu einer Brutstätte immer neuer Gewalthandlungen geworden ist. ({8}) Das ist ein unglaubliches Zitat aus Ihren eigenen Reihen. Demnach hatten Sie die Wahrheit schon einmal erkannt. Ich frage Sie, wo Ihre Einsicht jetzt bei diesem neuen Antrag bleibt. Übrig geblieben ist dieses Pamphlet, in dem Sie geradewegs bedauernd feststellen, dass - ich zitiere sich der enge Zusammenhang der … Terrorakte mit dem ungelösten Tschetschenienkonflikt nicht leugnen lässt. Der Mord an Präsident Maschadow zeigt aber, dass Putins Machtverständnis nichts mit den elementarsten Regeln der Demokratie zu tun hat. Der Terrorismus wird dadurch nicht bekämpft, sondern eher gefördert. Es geht nicht darum, Putin in irgendeine Ecke zu stellen, sondern darum, dass er endlich internationale Hilfe annimmt, um den Konflikt zu lösen. ({9}) Denken Sie über folgende Worte des toten Maschadows nach: Es gibt keine militärische Lösung für diesen Konflikt. Es gibt keinen Sieger. Wer das nicht verstanden hat, ist weit von der Realität entfernt. Von einem Bundeskanzler erwarte ich mehr Realitätsnähe und vor allem mehr Verantwortung in der Außenpolitik. Dazu braucht es klare und offene Worte gegenüber dem russischen Präsidenten. Aber der Bundeskanzler redet sich stattdessen Putins gelenkte Demokratie lupenrein, wie überall zu lesen war. Schröders demokratischer Persilschein macht aus Putin damit noch lange keinen weißen Riesen. Ich jedenfalls gedenke Maschadows und der anderen Opfer des Tschetschenienkrieges. Er stand für eine mögliche Verhandlungslösung und für Frieden in einem Land, dessen Volk wie jedes andere auch das Recht hat, in Würde zu leben. Putin sagt ja, es gebe in Tschetschenien noch viel zu tun. Ich hoffe, Sie werden ihm da folgen und es endlich anpacken. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/4855 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Marita Sehn, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Probleme des Tourismus in Deutschland trotz des weltweiten Aufschwungs dieser Zukunfts- branche - Drucksachen 15/2033, 15/3287 - b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus Haupt, weiteren Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes - Drucksache 15/2664 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Helga Daub, Daniel Bahr ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sommerferienregelung verbraucherfreundli- cher gestalten - Gesamtferienzeitraum auf 90 Tage ausdehnen - Drucksachen 15/3102, 15/4121 - Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brähmig d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Marketing für die Hauptstadt Berlin - Drucksachen 15/3491, 15/5014 Berichterstattung: Abgeordnete Annette Faße Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die FDP soll fünf Minuten erhalten. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen beginnt in Berlin die weltgrößte Tourismusmesse, die ITB. Dass die FDP die heutige Debatte beantragt hat, zeigt, welchen Stellenwert wir dem Tourismus einräumen. Angesichts dieser großen Messe ist es wichtig, dass sich auch der Deutsche Bundestag mit dem Thema Tourismus beschäftigt. ({0}) Wir alle kennen die Zahlen: 2,8 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen am Tourismus. Der Tourismus trägt rund 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Über 100 000 junge Leute werden in der Tourismusbranche ausgebildet. Das sind Zahlen, die sich sehen lassen können. Es sind Arbeitsplätze, die zum großen Teil standortgebunden sind und nicht einfach irgendwohin verlagert werden können. Es gibt ein Potenzial an zusätzlichen Arbeitsplätzen. Deswegen muss uns dieser Bereich so sehr beschäftigen. Eine Prognos-Studie kommt zum Ergebnis, dass in Europa für 2004/2005 mit einem Wachstum beim Tourismus von 5 Prozent zu rechnen ist. Nachdenklich muss allerdings die folgende Einschätzung von Prognos machen - ich zitiere -: Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland wird dabei von „hausgemachten“ wirtschaftlichen Hemmnissen stärker tangiert als die Entwicklung in den meisten anderen europäischen Staaten, die bereits wieder auf Wachstum eingeschwenkt sind. ({1}) Das war der Grund dafür, dass wir die Große Anfrage gestellt haben. Die Antwort hat uns bestätigt, dass es eine Menge hausgemachter Probleme gibt. Wenn diese Regierung sie endlich anpackte und löste, dann könnten wir Zigtausende von zusätzlichen Arbeitsplätzen in Deutschland schaffen. ({2}) Bei einer Zahl von über 5 Millionen Arbeitslosen ist es unverständlich, dass es nicht getan wird. Ich will in der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung steht, nur ein paar Punkte nennen: Liberalisierung der Sperrzeiten. Man stelle sich vor, bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 kommt es zum Endspiel Deutschland gegen Brasilien. In der Halbzeit würden bei uns die Bürgersteige hochgeklappt, weil Außengastronomie nur bis 22 Uhr möglich ist. Wenn wir den Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ glaubhaft machen wollen, müssen wir das ändern, und zwar schnell. ({3}) Thema Jugendarbeitslosigkeit. Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vor. Es ist völlig realitätsfern, wenn man heute einem 16- oder 17-Jährigen, der in der Hotelund Gastronomiebranche ausgebildet wird, sagt: Du musst um 22 Uhr aufhören. - Das ist weltfremd, realitätsfern und führt dazu, dass junge Menschen - Hauptschüler, Realschüler - keine Chance auf einen Ausbildungsplatz mehr haben. Deshalb sage ich: Endlich weg mit dieser unsinnigen Regelung! Es sind keine kleinen 17-jährigen Kinder; sie können sehr wohl bis 23 Uhr oder bis Mitternacht arbeiten und haben damit auch eine Chance, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. ({4}) Thema Sommerferienregelung. Auch hierzu liegt heute ein Antrag der FDP-Fraktion vor. Wir müssen dahin kommen, dass die Sommerferienzeit wieder ausgedehnt wird. Es ist der größte Unsinn und schädlich für den Deutschlandtourismus, die Sommerferien auf solch einen kurzen Zeitraum zu reduzieren. Das führt dazu, dass im Juli die Betten leer sind und dass im August alles überfüllt und damit teurer ist. Im Sinne einer familienfreundlichen Politik muss man es schaffen, dass der Ferienzeitraum wieder auf 90 Tage ausgedehnt wird. ({5}) Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Thema Bürokratieabbau. Wir werden das Thema noch an anderer Stelle diskutieren. Er ist eine der angesagtesten Maßnahmen. Etwas ganz Aktuelles: Thema Kerosinbesteuerung. Es gibt dazu Meldungen. Der Deutsche Bundestag hat sich für Kerosinbesteuerung ausgesprochen, aber sie soll in ganz Europa gelten. Alles andere würde nur dazu führen, dass die Flughäfen und die Luftverkehrsgesellschaften bei uns vom Markt verdrängt werden. Es wäre ein Beschäftigungsprogramm für das Ausland. Hören Sie mit dieser Gespensterdiskussion auf! Machen Sie es europaweit oder gar nicht! ({6}) Schließlich ein Thema, das uns jetzt immer wieder beschäftigt: das Antidiskriminierungsgesetz. Was Sie mit diesem Horrorszenario vorhaben, ist unglaublich. Damit wird eine enorme Bürokratie geschaffen. Sie schränken die Vertragsfreiheit in unerträglicher Weise ein. Wenn Sie dieses Horrorwerk eines Antidiskriminierungsgesetzes durchpeitschen, dann werden Sie gerade auch im Tourismus Zigtausende von Arbeitsplätzen aufs Spiel setzen. Deshalb wird die FDP alles tun, dass das Antidiskriminierungsgesetz in der von Ihnen vorgelegten Fassung nicht beschlossen wird. ({7}) Lassen Sie mich zum Schluss den Präsidenten des Internationalen Bustouristikverbandes, Richard Eberhardt, zitieren, der heute in einem Zeitungsartikel festgestellt hat: Was die Menschen hierzulande wirklich brauchen, um entspannt eine Reise zu buchen, ist private Planungssicherheit. In besonderem Maße ist dabei Politik gefordert. Renten müssen berechenbar sein, Sozialabgaben und Gesundheitsfürsorge auch. Insgesamt brauchen wir ein Klima, das von Optimismus getragen sein muss und nicht von fast täglichen Negativmeldungen. Wir wollen mit unseren Initiativen zum Optimismus beitragen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, bitte.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie uns seitens der Politik die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass der Tourismus in diesem Land zu dem Erfolg wird, der möglich ist! Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Faße.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute vier Vorlagen zu debattieren, mit denen die Opposition versucht, in der Öffentlichkeit Stimmung zu machen. Der Kollege Burgbacher hat das eben noch um einige Dauerthemen ergänzt, die wir immer wieder diskutieren, von der Kerosinbesteuerung bis zu den Sperrzeiten; hinzu kommt das Antidiskriminierungsgesetz. ({0}) Man kann in diese Debatte eigentlich alles hineinpacken. Ich möchte mich aber auf die Punkte konzentrieren, die auf der Tagesordnung stehen, damit wir nicht dauernd alles wiederholen. Denn wir sind bereits in der Situation, dass wir alte Themen wiederholen. ({1}) Von der FDP werden keine neuen Forderungen erhoben. Die vorliegenden Anträge sind reine Showanträge. Ich will das an zwei Beispielen belegen. In dem Antrag mit der Überschrift „Marketing für die Hauptstadt Berlin“ machen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die Regierung für vieles verantwortlich. Zu unserer Verantwortung soll es jetzt auch gehören - dazu werden wir aufgefordert -, uns für eine weltweite Bewusstseinsänderung bei den Besuchern Berlins einzusetzen. Ich wiederhole: Wir sollen mit einem Marketing für die Stadt Berlin erreichen, dass alle Bürger dieser Welt mit dem Begriff „Hauptstadt der Deutschen“ inhaltlich besser umgehen. Ich frage mich, wie Sie zu der Behauptung kommen, dass sich die Besucher Berlins nicht darüber klar sind, dass sie sich in der Hauptstadt Deutschlands, einer bunten, vielfältigen Stadt mit einer großen Geschichte und Kultur, befinden. Ihrem Antrag fehlt völlig die Basis. ({2}) Der Antrag greift zudem in die Hoheit der Länder ein. Ich habe heute Diskussionen geführt, in denen die Bedeutung der Länder hervorgehoben wurde; Stichwort: Föderalismus. Sie hingegen fordern eine verstärkte Förderung der Hauptstadt Berlin auf Bundesebene. Sie haben die Föderalismuskommission wegen der Zuständigkeiten im Kulturbereich scheitern lassen. Aber jetzt fordern Sie Geld von uns. Berlin boomt. Sie fordern Geld von der Regierung für das Marketing einer Stadt, die im vergangenen Jahr die meistbesuchte Stadt in Deutschland war. ({3}) Sie fordern Geld für das Marketing einer Stadt, die im vergangenen Jahr die Rekordzahl von 13 Millionen Besuchern erreicht hat. Sie fordern Geld für das Marketing einer Stadt, die ein Wachstum der Gästezahl von traumhaften 16,1 Prozent zu verzeichnen hatte. Ich frage Sie in diesem Zusammenhang, ob Sie nicht an Realitätsverlust leiden. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Grundannahme entbehrt jeglicher gesicherter und nachvollziehbarer Basis. Unsinnige Forderungen können wir nicht unterstützen. Dafür sind uns die Steuergelder zu schade. Ich habe mich gefreut, dass die FDP im Ausschuss unsere Meinung geteilt hat. ({4}) Nun zum Werk der FDP. Ich greife einen Punkt heraus: die Sommerferienregelung, über die wir schon hundertmal diskutiert haben. Wir haben hier das gleiche Ziel und haben auf den verschiedensten Ebenen sehr viele Gespräche geführt. ({5}) In dem Antrag, den Sie heute vorlegen, heißt es: Der Deutsche Bundestag fordert die Kultusministerkonferenz … auf, die Sommerferienregelung so zu entzerren, dass sich ein Gesamtferienzeitraum von 90 Tagen ergibt. ({6}) Das Ziel ist zwar richtig, aber der Weg - meine Herren, das wissen Sie ganz genau - ist falsch; ({7}) denn der Bundestag wird sich nicht in die Angelegenheiten der Länder einmischen. ({8}) Sie wissen ganz genau, wie sensibel dieses Thema ist. ({9}) Wir haben mithilfe von DTV und BTW und gemeinsam mit den Ministerpräsidenten und Kultusministern versucht, den Schaden vom Tourismus abzuwenden. Wir haben immerhin erreicht, dass die Kultusministerkonferenz die Zeitspanne von ursprünglich 75 Tagen auf 83 Tage erhöht hat. ({10}) Das ist zwar keine optimale Lösung, aber ein Teilerfolg. ({11}) Sie wissen, dass wir nicht par ordre du mufti handeln können. ({12}) Wenn Sie meinen, dass diese Regelung für unsere Tourismuswirtschaft nicht ausreicht - hier unterstütze ich Sie -, dann muss ich Ihnen, meine Herren Hinsken und Burgbacher, sagen: Sehen Sie sich die Situation in Bayern und Baden-Württemberg an; denn diese Länder haben sich in Bezug auf die Sommerferienregelung am sperrigsten angestellt. ({13}) So war es. Daher muss ich sagen: Wenn wir Einfluss nehmen wollen, dann sollten wir mit diesen Ländern anfangen. Die Bundesregierung kann das allerdings nicht anordnen und erst recht kein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. Darum sage ich ganz klar: Ihr Antrag ist für mich in höchstem Maße unseriös. ({14}) Nun noch ein paar Worte zur Großen Anfrage der FDP, über die ich sagen muss: Ihr negativer Titel passt zur FDP und auch zur CDU/CSU. ({15}) In ihrer Überschrift heißt es „Probleme des Tourismus“. Dann folgen 108 Fragen. Wenn Sie 108 Fragen stellen müssen, frage ich mich, was Sie über den Tourismus in Deutschland wissen. ({16}) Viele der Fragen, die Sie stellen, sind nicht etwa nach vorne gerichtet, sondern rückwärtsgewandt. In der Überschrift Ihrer Großen Anfrage sprechen Sie von großen Problemen, anstatt deutlich zu machen, dass wir es mit einem boomenden Markt zu tun haben. ({17}) Bei Übernachtungen ausländischer Gäste ist ein Plus von 9 Prozent, bei inländischen Ankünften ein Plus von 2,1 Prozent zu verzeichnen. Die Gesamtzahl der Übernachtungen zeigt einen geringen Zuwachs in Höhe von 0,2 Prozent. Die Fachpresse spricht von einer Konsolidierung auf hohem Niveau. ({18}) Die Hotellerie verzeichnet ein Plus von 3 Prozent, die Zimmerauslastung ist um 4,2 Prozent gestiegen. ({19}) Die Anzahl der Fluggäste stieg im Vergleich zu 2003 um 15,1 Millionen; das ist ein Plus von 9,3 Prozent. Die Reiseveranstalter rechnen mit einem Plus von 5 Prozent. Reisebüros verzeichnen positive Bilanzen. Bei den Ausbildungsplätzen im Tourismus gibt es einen Boom. In der Gastronomie ist das nicht so; das räume ich ein. Aber auch hier sind die Probleme rückläufig. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich Ihnen: Wenn man eine Branche schlechtreden will, dann fängt man mit einer solchen Überschrift an. Herr Kollege Burgbacher, das haben Sie leider wieder einmal geschafft. Aber Sie sollten einmal die positiven Zahlen in den Mittelpunkt rücken und nennen. ({20}) Dann würde man sehen, dass Sie auch positive Bilanzen akzeptieren; denn mit dem Tourismus in Deutschland geht es in Richtung Wachstum. Danke, meine Damen und Herren. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Vorabend der Internationalen Tourismusbörse 2005 diskutiert der Deutsche Bundestag über die Situation der Tourismuswirtschaft. So werden in den kommenden Tagen in den Hallen unter dem Funkturm nicht nur die neuesten Trends und Reiseziele durch die Branche präsentiert. Vielmehr sind wir als Tourismuspolitiker dazu aufgefordert, hier im Parlament neben den Stärken auch die Probleme des Wirtschaftssektors Tourismus am Standort Deutschland zu thematisieren. Fest steht jedenfalls: Deutschland besitzt als Reiseziel für Gäste aus nah und fern eine hohe Attraktivität und die deutsche Bevölkerung ist als Kunde im eigenen Land und weltweit ein gern gesehener Gast. Betrachtet man den Tourismusstandort Deutschland, so kann man aber wahrlich nicht behaupten, den deutschen Unternehmen der Branche gehe es blendend. Gerade der Dienstleistungssektor ist aufs Engste mit der Binnenwirtschaft und der Stimmungslage der Konsumenten verbunden. Diese gleicht aber zurzeit eher dem Zustand einer Depression, ohne dass sich ein Silberstreif am Horizont abzeichnen würde. ({0}) Die rot-grüne Bundesregierung hat die Bevölkerung unseres Landes nach nur sechseinhalb Jahren Amtszeit zutiefst verunsichert. Kein einziges ihrer Reformvorhaben ist bislang geglückt. Bei einigen ihrer Politikansätze konnte allerdings dank einer wachsamen Opposition Schlimmeres verhindert werden. ({1}) Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit wirkt weiterhin äußerst dämpfend auf den Binnenkonsum und legt sich wie Mehltau über unser Land. ({2}) Für unser Land sind die hohen Arbeitslosenzahlen und die dahinter steckenden Einzelschicksale schlichtweg eine Katastrophe. So wollen wir zum Beispiel mit dem „Pakt für Deutschland“ erreichen, die rot-grünen Orgien an zusätzlicher Bürokratie mit ihren enormen Belastungen für den deutschen Mittelstand, soweit es geht, abzuschwächen. ({3}) Dass das geplante Antidiskriminierungsgesetz ein Jobkiller ersten Ranges wird, bezweifelt inzwischen doch nur noch die grüne Bundestagsfraktion. ({4}) Selbst große Teile der SPD wünschen sich heute, man hätte sich nur auf die Eins-zu-eins-Umsetzung der Vorgaben der Europäischen Union beschränkt. Meine Damen und Herren, wenn wir in die USA schauen und sehen, wie sich der dortige Tourismussektor als Jobmotor mit einer enormen binnenwirtschaftlichen Bedeutung entwickelt, kann man hierzulande geradezu neidisch werden. So rechnet beispielsweise die amerikanische Gastronomie im kommenden Jahr mit einem Umsatzwachstum von 4,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. ({5}) In den letzten Jahren wurden jährlich durchschnittlich 270 000 neue Stellen geschaffen und in den kommenden zehn Jahren sollen weitere 1,8 Millionen neue Jobs entstehen. Die SPD interessiert das allerdings offensichtlich nicht. Selbst wenn man die unterschiedliche Größe der Länder in Rechnung stellt, ist der Unterschied zu Deutschland eklatant. Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt kurzund mittelfristig etwas Positives bewirken wollen, wird dies nur durch den Dienstleistungssektor und hier insbesondere durch den Tourismus und das Handwerk gelingen. ({6}) Dabei muss unser Hauptaugenmerk der Sicherung der bestehenden Unternehmen gelten. Diese sichern die Arbeitsplätze in Deutschland und würden bei besserer Umsatzsituation und besseren Rahmenbedingungen mehr neue Arbeitsplätze schaffen. Die Union hat die Regierung immer wieder eindringlich darauf hingewiesen, dass es die tief greifenden strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes und des Wachstums sind, die unseren Arbeitsmarkt und damit unser Land vor riesige Probleme stellen. Auch hier ist der Tourismussektor als arbeitsintensive Branche mit nicht exportierbaren Arbeitsplätzen in besonderem Maße betroffen. Natürlich möchte ich auch auf Positives hinweisen, damit man der Union nicht vorwerfen kann, sie würde alles in unserem Land nur schwarz malen. Der Anteil der ausländischen Gäste, die im vergangenen Jahr Deutschland besucht haben, war so groß wie nie zuvor in der Geschichte. Dies ist für unser weltoffenes und tolerantes Land ein großer Erfolg. Unsere Deutsche Zentrale für Tourismus hat hieran einen sehr großen Anteil. Jedoch muss immer wieder betont werden, dass Deutschland noch immer ein Defizit in der touristischen Außenhandelsbilanz von fast 40 Milliarden Euro hat. 58 Milliarden Euro gaben die Deutschen im Jahr 2004 während ihrer Reisen im Ausland aus; nur rund 21 Milliarden Euro wurden von ausländischen Gästen bei uns im Land eingenommen. Wie gelingt uns der Ausgleich? Erstens durch eine Stärkung des Binnentourismus, zweitens durch eine Erhöhung des Anteils ausländischer und kaufkraftstarker Gäste, die unser Land besuchen, und drittens durch die Ausstattung der DZT mit einem höheren Budget. ({7}) Meine Damen und Herren, die Union hat hier immer wieder Anträge auf Erhöhung des Budgets gestellt, die leider im Fachausschuss abgebügelt wurden. Bei Besuchen und Gesprächen in Auslandsvertretungen der DZT haben wir wiederholt festgestellt, dass deren Einsparpotenzial beinahe ausgeschöpft ist. Mit einem zusätzlichen Marketingbudget von bis zu 5 Millionen Euro könnte im Ausland eine große Werbewirkung erzielt werden. ({8}) Die Bundesregierung investiert aber lieber in kostspielige Kampagnen des Bundespresseamtes, die in der Bevölkerung schon lange keine Resonanz mehr hervorrufen. ({9}) Meine Damen und Herren, zur Budgeterhöhung gibt es keine Alternative: Denn wir müssen die traditionellen Märkte pflegen und die Erschließung neuer Märkte vorantreiben; ich denke hier vor allem an die Vereinigten Arabischen Emirate, an Indien, an China, an Osteuropa und natürlich an Russland. Das Gebot der Stunde ist, bei Inlandswerbung und Auslandswerbung die Kräfte zu bündeln. Unser Nachbar Schweiz geht hier mit gutem Beispiel und großem Erfolg voran. ({10}) Lassen Sie mich zum Abschluss auf einen einzigen Punkt des vorliegenden Berlin-Antrags eingehen, liebe Kollegin Faße, nämlich den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Warum soll in der Hauptstadt nicht etwas gelingen, was in Dresden mit der Frauenkirchen-Bürgerinitiative um Professor Ludwig Güttler so erfolgreich gelungen ist? Für die Attraktivität der Hauptstadt als Tourismusdestination wäre ein wieder errichtetes Stadtschloss im Herzen Berlins ein großes Plus. ({11}) Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen, dass das Know-how vom Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden keine weitere Anwendung findet. Nein, die Baustelle, die im Herbst in Dresden erfolgreich abgeschlossen wird, muss spätestens im Frühjahr 2006 auf dem Berliner Schlossplatz ihre Neuauflage finden. Sie sehen: Für die Sicherung des Tourismusstandorts Deutschland gibt es noch viel zu tun. Lassen Sie uns gemeinsam und zügig darangehen, die richtigen Rahmenbedingungen für die Branche zu schaffen! Vielen herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth von Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Rängen! Wir reden heute hier, wie das schon mehrfach gesagt worden ist, über vier Punkte: erstens über eine Große Anfrage der FDP mit dem in meinen Augen schon etwas sonderbaren Titel „Probleme des Tourismus in Deutschland trotz des weltweiten Aufschwungs dieser Zukunftsbranche“. Dann fehlt irgendwie ein Wort: „benennen“, „zusammenstellen“, „ändern“? Zweitens reden wir über einen Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, auch von der FDP-Fraktion; drittens über einen Antrag zur Sommerferienregelung, wiederum von der FDP-Fraktion, und viertens über einen Antrag der Union, die der Meinung ist, dass die Bundesregierung das Marketing für die Hauptstadt Berlin in die Hand nehmen sollte. Das alles soll Ihrer Meinung nach dem Tourismus helfen. Ob das so ist, darüber kann man ganz sicher streiten. Auf jeden Fall gibt es uns die Gelegenheit, über den wichtigen Wirtschaftsfaktor Tourismus und über die Bedeutung der Tourismuswirtschaft für die Arbeitsplätze in Deutschland zu reden. Das kann man gar nicht oft genug machen, finde ich. Das ist das Gute an Ihren Anträgen: Wir führen wieder einmal eine Debatte über die Bedeutung der Tourismuspolitik. Damit hört es aber auch schon fast auf. ({0}) Denn ich frage mich: Hilft es der Tourismuswirtschaft wirklich, wenn wir über Öffnungszeiten von Biergärten reden? ({1}) Undine Kurth ({2}) Wir wissen doch genau: Das wird vor Ort entschieden. ({3}) Hilft es der Tourismuswirtschaft, wenn wir über Veränderungen im Jugendarbeitsschutzgesetz reden, Veränderungen, über die letztendlich die Tarifpartner entscheiden? Ich denke, meine Kollegin Renate Gradistanac wird noch etwas dazu sagen. Hilft es der Tourismuswirtschaft, wenn Sie verminderte Mehrwertsteuersätze einfordern, obwohl uns eine ganz sicher nicht rot-grüne Europäische Kommission als Ergebnis eines Experimentes dargelegt hat, dass dadurch weder mehr Arbeitsplätze entstehen, noch Schwarzarbeit zurückgedrängt wird? Wozu immer wieder diesen Popanz bemühen? Und was den Antrag zur Sommerferienregelung angeht, da sind wir doch alle einer Meinung, Herr Burgbacher; das wissen wir doch. Aber es ist nicht unsere Sache - die KMK entscheidet. ({4}) - Sicher, wir können der KMK zum x-ten Male sagen, dass sie das ändern soll, und werden das auch tun. Ich glaube, wir können die heutige Debatte zumindest als eine Art Zwischenbilanz rot-grüner Tourismuspolitik begreifen. Ich finde es gut, dass wir darüber noch einmal reden können. Dann sollten wir aber auch über positive Dinge reden, zum Beispiel über die Entwicklung in Ostdeutschland. Herr Brähmig, dazu hätten Sie doch auch etwas sagen können - wir beide kommen aus Ostdeutschland -: Dort hat der Tourismus unglaublich viel Positives geleistet. ({5}) Sorgenkind, was die Arbeitslosigkeit angeht, ist der Osten oft. Aber Ostdeutschland konnte zum Beispiel im Zeitraum von 1992 bis 2003 seinen Anteil an der Gesamtzahl der Übernachtungen in Deutschland von 10,1 auf 20,2 Prozent verdoppeln; das ist eine gute Bilanz. Von den rund 2,5 Millionen Gästebetten in Deutschland entfallen inzwischen 22 Prozent auf Ostdeutschland. Auch das ist keine schlechte Bilanz. ({6}) In Sachsen-Anhalt werden heute 45 000 Arbeitsplätze durch die Tourismuswirtschaft gesichert. ({7}) 1992 waren es noch 32 000. In Mecklenburg-Vorpommern ist jeder sechste Arbeitsplatz durch die Tourismuswirtschaft gesichert. ({8}) Ich denke, Sie könnten auch mal sagen, dass die Förderpolitik etwas Positives für den Tourismus bewirkt. ({9}) Die „Mitteldeutsche Zeitung“ - ich weiß nicht, wer von Ihnen sie kennt; sie ist mit Sicherheit keine Zeitung, der man eine ganz besondere Nähe zu Rot-Grün unterstellen muss - hat vor wenigen Tagen, am 22. Februar 2005, getitelt: „Sachsen-Anhalt legt die beste Tourismusbilanz seit 1990 vor“. ({10}) Man sieht also: Die in den Tourismus investierten Fördergelder rechnen sich. Ich denke, das ist ein Grund, darüber zu reden. Ich komme nun zu einem zweiten Punkt, den ich gerne noch ansprechen möchte, nämlich zur Barrierefreiheit. Wir alle reden immer wieder darüber, dass wir sie zum Qualitätsmerkmal des Deutschlandtourismus machen wollen. ({11}) Wir sagen, die Barrierefreiheit ist ein ganz wichtiger Aspekt. Meine Herren auf der rechten Seite des Hauses - es haben ja nur Herren geredet -: Wie steht Ihre Aussage zum Antidiskriminierungsgesetz dazu? Gerade wir, die wir uns mit dem Tourismus beschäftigen, wissen doch, wie viel Diskriminierung es noch gibt und wie wichtig geeignete Maßnahmen wären. ({12}) - Genau, es gibt leider immer noch Gastronomen, die sagen: Sie dürfen nicht mit dem Rollstuhl hinein, Sie dürfen nicht mit Ihrem Blindenhund hinein und eine Gruppe von Behinderten wollen wir hier schon gar nicht haben. ({13}) Genau das ist doch mit ein Grund, für ein Antidiskriminierungsgesetz zu stimmen, wenn man es mit dem barrierefreien Tourismus ernst meint. ({14}) Da meine Redezeit zu Ende ist ({15}) und ich natürlich nicht überziehen möchte, Herr Präsident, möchte ich zum Schluss nur noch sagen: Es gibt ganz gewiss eine Menge zu tun; das wissen wir. ({16}) Wir wollen das auch tun. Ich glaube aber, dass es klüger ist, wirklich darüber nachzudenken, womit wir dem Tourismus erstens in der öffentlichen Wahrnehmung und zweitens in der politischen Diskussion helfen können, anstatt sich an der Wein- oder Biersteuer und Ähnlichem festzubeißen. Undine Kurth ({17}) ({18}) Es ist eine Menge Gutes passiert, aber natürlich müssen wir weitermachen und weiter dafür werben. Niemand ist wirklich jemals fertig, aber man muss die Dinge tun, die auch wirklich nützlich sind. Vielen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute Abend schon mehrmals gesagt worden, dass morgen die Internationale Tourismus-Börse beginnt. 10 000 Aussteller aus 180 Ländern auf der einen Seite und viele Tausend Besucher auf der anderen Seite werden erwartet. Das Schönste ist: Deutschland ist der Ausrichter der diesjährigen Internationalen TourismusBörse. ({0}) Wir haben die Möglichkeit, unser Land als weltoffenes, gastfreundliches und interessantes Land besonders herauszustellen. Diese Chance wird sicherlich genutzt werden. ({1}) So weit zur schönen Seite, dem Beginn der Internationalen Tourismus-Börse. Wir sind heute aber hier im Plenum versammelt, um die Tourismuspolitik unter die Lupe zu nehmen. Dort liegt vieles im Argen. Meine Vorredner, Kollegen Brähmig und Burgbacher, haben bereits darauf verwiesen. Verehrte Frau Kollegin Faße, es darf uns einfach nicht entgehen, dass die Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland stagniert. ({2}) Im Jahre 2002 hatten wir in Deutschland 338,2 Millionen Übernachtungen, ein Jahr später waren es 338,5 Millionen und wieder ein Jahr später waren es 338,8 Millionen. ({3}) Diese Zahlen sind in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Quote der Ausländer, die zu uns gekommen sind, um Urlaub zu machen, Gott sei Dank um 9 Prozent gestiegen ist. Währenddessen ist es für den Inländer überhaupt nicht mehr möglich, so oft in den Urlaub zu fahren, wie er gerne möchte bzw. wie er es früher getan hat. Warum? Das liegt daran, dass die Wirtschaft stagniert und die Leute Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Sie haben nicht mehr das Geld, das sie brauchen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. ({4}) Sie sagen sich: Wer weiß, was den Rot-Grünen noch alles einfällt, ich muss das Geld sparen. - Die Sparquote liegt bei uns bei 10,7 Prozent, in den USA liegt sie zum Beispiel bei nur 1,5 Prozent. Warum? Die Leute haben Angst vor den Schreckgespenstern, die von Ihnen noch kommen können. ({5}) Der Vorschlag der FDP, das Jugendarbeitsschutzgesetz zu ändern, findet, lieber Kollege Burgbacher, unsere volle Unterstützung. ({6}) Warum? Weil er in die richtige Richtung geht. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, zu sagen, einem über 16-Jährigen sei es nicht zuzumuten, bis 23 Uhr zu arbeiten, noch dazu, wenn er einen Tag vor dem Berufsschultag spätestens um 21 Uhr nach Hause gehen darf. ({7}) Meine Damen und Herren, haben Sie denn übersehen, dass gerade Hotellerie und Gastronomie diejenigen waren, die im letzten Jahr 6 Prozent mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen haben? Das ist doch eine großartige Sache. ({8}) - Sie würden noch viel mehr Ausbildungsplätze schaffen, wenn sie nicht diesen bürokratischen Hemmnissen unterworfen wären. ({9}) Das spricht eine eindeutige Sprache. Angesichts dieser Zuwachsraten und angesichts der Tatsache, dass in Hotellerie und Gastronomie schon 94 000 Auszubildende beschäftigt sind, will ich all denjenigen Danke sagen, die bereit sind, unserer Forderung nach mehr Ausbildungsplätzen nachzukommen. ({10}) Eine Möglichkeit, für weitere Zuwachsraten zu sorgen, wäre, die Sommerferienregelung zu ändern. Jeder zusätzliche Tag würde 1 Million mehr Übernachtungen bringen. Jede Übernachtung bringt im Schnitt 70 Euro ein. Rechnen Sie sich einmal aus, was sich hier der Staat durch die Lappen gehen lässt, nur weil wir nicht in der Lage sind, in dieser Hinsicht eine vernünftige Regelung zu finden! ({11}) Da sind nicht nur die Kultusminister der Länder, sondern auch wir als Tourismuspolitiker gefordert, neben der Bildungspolitik vor allen Dingen die Tourismuspolitik im Auge zu behalten und dabei nicht nur durch die bildungspolitische, sondern auch durch die ökonomische Brille zu sehen. ({12}) Ich meine, dass Hotellerie und Gastronomie vor allen Dingen durch die enorme Bürokratie belastet werden. In den letzten Jahren wurden zwar 700 Verordnungen abgeschafft, aber mehr als 1 700 neue Verordnungen erlassen. Damit ist niemandem geholfen; das passt doch nicht zusammen. ({13}) Sie haben zum Beispiel den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit per Gesetz durchgesetzt. Was ist das Ergebnis? Ein Minus von 250 000 Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland! Jetzt kommen Sie mit den verheerenden Änderungen bei der Umsetzung des Antidiskriminierungsgesetzes, das überhaupt niemand mehr versteht. Reden Sie einmal mit den betroffenen Unternehmern vor Ort! Sie haben einen Horror vor dem, was ihnen tagtäglich an Neuem geboten wird. ({14}) Das ist nicht die Politik, die die Bundesrepublik Deutschland und vor allen Dingen die Tourismusbranche braucht. Deutschland ist wahrlich ein schönes Land. Deutschland ist ein kulturell reiches Land. Deutschland verdient es, dass viele Touristen zu Besuch kommen. Wir waren letzte Woche bei unserer verehrten Kollegin Frau Falk in Xanten und haben dort festgestellt, dass Deutschland nicht nur in Bayern und im Osten, sondern zum Beispiel auch im Westen schön und durchaus bereisenswert ist. ({15}) Ich meine, dieses Erlebnis sollte allen gegönnt werden. Wir sind aufgefordert, hier tätig zu werden und vor allen Dingen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit es unserer Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland wieder besser geht. Ihr Versagen muss angeprangert und abgestellt werden. Dafür werden wir sorgen. ({16}) Das dauert zwar noch ein bisschen, aber spätestens im nächsten Jahr sitzen wir auf der Regierungsbank und werden die notwendigen Weichenstellungen vornehmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Gradistanac von der SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Abend, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 2. April 2003 haben Sie, Herr Burgbacher, mit Ihrer FDP-Fraktion einen Antrag auf Liberalisierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes gestellt. ({0}) Damals haben Sie gefordert, dass jugendliche Auszubildende über 16 Jahre bis 24 Uhr arbeiten dürfen. In dem heute zu beratenden Antrag vom 10. März 2004, also etwa ein Jahr später, fordern Sie erneut eine Anhebung der Arbeitszeit, dieses Mal bis 23 Uhr. ({1}) Ich nehme zur Kenntnis, werte Kolleginnen und Kollegen, dass Sie ein wenig dazugelernt haben. ({2}) Gemeinsam mit dem DEHOGA bewegen Sie sich in die richtige Richtung, nämlich in die Richtung des bestehenden guten Jugendarbeitsschutzes. ({3}) Wenn Sie schon meinen, Ihre bereits abgelehnten Anträge noch einmal in den Deutschen Bundestag einbringen zu müssen, dann habe ich eine große Bitte: Schreiben Sie doch nicht Ihre alten Anträge einfach ab. Lassen Sie sich neue und vor allem gute Argumente einfallen. ({4}) Kalter Kaffee wird nicht dadurch besser, dass man ihn immer wieder aufwärmt. Damals wie heute behaupten Sie, es gehe Ihnen darum, ({5}) die Aussichten der meist unter 18-jährigen Haupt- und Realschüler auf eine Ausbildung im Gaststättengewerbe zu verbessern. Sie sehen damals wie heute eine Bevorzugung der Abiturientinnen und Abiturienten bei der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, da diese in der Regel über 18 Jahre sind. Dieses Argument ist schlichtweg falsch. Die Antwort der Bundesregierung vom 14. Juni 2004 auf Ihre Große Anfrage zeigt dies eindrücklich anhand der amtlichen Statistik. ({6}) Der Anteil der Auszubildenden mit Hochschulreife - Sie haben das sicher gelesen - im Gastgewerbe ist gesunken. Absolut gestiegen - das haben wir schon lobend bemerkt - ist allerdings die Zahl der jugendlichen Auszubildenden. ({7}) In der Realität ist das Gastgewerbe nach wie vor also die Branche, in der gerade jugendliche Haupt- und Realschüler gute Ausbildungsperspektiven haben. ({8}) Meine Damen und Herren von der Opposition, mein Anliegen ist: Übernehmen Sie doch nicht immer unreflektiert die Forderungen der Wirtschaft, in diesem Fall des DEHOGA. ({9}) Tatsache ist, dass das Jugendarbeitsschutzgesetz bereits heute den Anforderungen des Gastgewerbes nachkommt. Normalerweise dürfen Jugendliche bis 20 Uhr arbeiten, im Gastgewerbe ist dies für Auszubildende ab 16 Jahren bis 22 Uhr möglich, wenn ein Schichtbetrieb vorhanden ist, bis 23 Uhr. Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist für uns jedenfalls ein Schutzgesetz. Entsprechend ihrem Entwicklungsstand schützt es junge Menschen vor Überforderung, ({10}) Überbeanspruchung und Gefahren am Arbeitsplatz. Hören Sie endlich auf, von Bürokratieabbau zu reden, wenn Sie eigentlich den Abbau von Schutzbestimmungen und Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern meinen. ({11}) - Du brauchst dich gar nicht aufzustellen, ich sage eh Nein. ({12}) Meine SPD-Fraktion und ich halten es mit Harry Belafonte, der sagt: Rühre nie an einer Grundidee, wenn sie Qualität besitzt. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2664 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 15/4121 zu dem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Sommerferienregelung verbraucherfreundlicher gestalten - Gesamtferienzeitraum auf 90 Tage ausdehnen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3102 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 15/5014 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Marketing für die Hauptstadt Berlin“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3491 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Statistikregistergesetzes und sonstiger Statistikgesetze - Drucksache 15/4696 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1}) - Drucksache 15/4955 Berichterstattung: Abgeordneter Alexander Dobrindt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk von der SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das heute zur Verabschiedung stehende Gesetz zur Änderung des Statistikregistergesetzes steht in einer Reihe von Gesetzen und Maßnahmen ({0}) zur Verbesserung der amtlichen Statistik in Deutschland. Ich weiß, Statistik ist kein besonders beliebtes Thema. Sie steht eher in dem Ruf, eine Belästigung der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen darzustellen. Leider wird das auch von Verantwortlichen, insbesondere von der Opposition, noch unterstützt. ({1}) Dabei ist nicht nur unter den Herstellern, sondern auch unter den Nutzern amtlicher Statistiken und Daten unbestritten, dass sie ein Schlüsselelement in Wirtschaft und Gesellschaft darstellen. Diejenigen, die diese Daten nutzen, wissen ihren Wert einzuschätzen. Die Nachfragen nach Daten der amtlichen Statistik, so der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Professor Hahlen, hat lawinenartig zugenommen. Deswegen sage ich allen Vorurteilen zum Trotz: Eine zuverlässige Datenbasis und die Fülle der von ihr zu erhaltenden Informationen sind für die Beurteilung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels wichtig. ({2}) Nur mit ihrer Hilfe können Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftler in Unternehmen, Wissenschaft und Verwaltung Analysen ausarbeiten, die für rationale Entscheidungen unentbehrlich sind. Das weiß übrigens niemand besser als die Unternehmen, die Konsumgüter herstellen; aber auch Banken und Versicherungen kennen die Vorteile. Sie alle legen Wert auf diese Statistiken. Auf dem viel zitierten Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft sind aussagekräftige und verlässliche Daten ohnehin ein wesentliches strategisches Element: Sie sind der Rohstoff, ohne den ihr das Fundament entzogen wäre. Fehlen nämlich zuverlässige Daten und Informationen, kommt es zu einer erheblichen Unsicherheit. Das kann für alle, die Entscheidungen fällen, sehr teuer, ja katastrophal werden. Wenn Sie sich über den Wert von Daten und Informationen informieren wollen, empfehle ich Ihnen eine berühmte Schrift aus dem vergangenen Jahrhundert: Clausewitz hat auf den Wert von Informationen für strategische Entscheidungen deutlich hingewiesen. Wir sollten nie vergessen, dass nicht nur Wirtschaft und Staat ein Interesse an amtlicher Statistik haben. In einem demokratischen Staat ist eine allgemein zugängliche Informationsquelle ein öffentliches Gut: Sie ist zuverlässig und vertrauenswürdig, die Nutzung ist grundsätzlich kostenlos für jeden Bürger, jedes Unternehmen, die Gewerkschaften, die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft. Die Erhebung der Daten ist natürlich nicht kostenlos, weder für die befragten Bürger und Unternehmen noch für den erhebenden Staat. Deswegen müssen Statistiken möglichst effizient und unbürokratisch ermittelt und die Befragten so wenig wie möglich belastet werden. Die Erhebung der Daten muss sich auch an den Bedürfnissen der Nutzer orientieren, das heißt, sie muss aktuell und zuverlässig sein und sich hinsichtlich Umfang und Fragestellungen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen kontinuierlich anpassen. Fast zwei Jahrzehnte lang hat man diese Zusammenhänge in der deutschen Politik gröblich vernachlässigt. Die deutsche Statistik war, was die Aktualität betrifft, weit hinter die USA und viele europäischen Länder zurückgefallen. Seit dem Europäischen Aktionsplan, der am 29. September 2000 beschlossen wurde, wird das nun erfreulicherweise, kräftig unterstützt von der Bundesregierung, systematisch nachgeholt. So wurde im Jahre 2003 zum Beispiel ein wichtiger Schritt hin zu einer effektiveren Nutzung vorhandenen Datenmaterials getan. Primärerhebungen können so vermieden und Unternehmen entlastet werden. Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz wird die statistikinterne Verknüpfung von Daten wesentlich vereinfacht, wird der Kommunalstatistik als Ersatz für die entfallende Arbeitsstättenzählung Zugang zu ausgewählten Daten des Statistikregisters gewährt, werden Daten aus dem Unternehmensregister und Verwaltungsdaten - das ist für das Handwerk besonders wichtig; damit kommen wir einem besonderen Wunsch des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks nach; wo ist denn der Herr Kollege Hinsken? - nun auch wieder für das zulassungsfreie Handwerk statistisch ausgewertet, wird eine bessere Zusammenarbeit der statistischen Ämter ermöglicht und wird vor allem die Arbeit der Forschungsdatenzentren gerade aus Sicht der Datenschützer besser rechtlich abgesichert. Schließlich wird die Aufstockung des Stichprobenumfangs auf 20 000 Einheiten zur unentbehrlichen Verbesserung der freiwilligen Erhebungen ermöglicht. Auch die Änderung der Zusammensetzung des Statistischen Beirats ist angemessen und im Grunde überfällig; denn Eurostat, die Umweltverbände und ein weiterer Vertreter der Wissenschaft können die Qualitätssicherung und die Fortentwicklung der amtlichen Informationsbasis nur günstig beeinflussen. Zusammengenommen ist der Gesetzentwurf gemeinsam mit den Ergänzungen durch die Koalitionsfraktionen und - das möchte ich betonen - unter weitgehender Berücksichtigung der Empfehlungen des Bundesrates ein weiterer Schritt in die richtige Richtung innerhalb des oft schwierigen föderalistischen Systems in Deutschland. ({3}) - Ich kann es ebenfalls nicht verstehen; denn die meisten Vorschläge des Bundesrates sind ja aufgenommen worden, außer einigen Petitessen. Wer in Statistik - das sage ich Ihnen nachdrücklich nur Erbsenzählerei auf Kosten des Steuerzahlers sowie eine Belastung für Bürger und Unternehmen sieht, dem sei zugerufen: Wissen und Information sind in einer modernen Produktions- und Dienstleistungsgesellschaft, die im internationalen Wettbewerb steht, keine Belästigung, sondern ein strategisches Gut, ein Produktionsfaktor, dessen Nutzen für unser Land seine Kosten bei weitem übertrifft. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt von der CDU/CSU-Fraktion.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über den Entwurf eines Statistikgesetzes, das laut Drucksache zur Vermeidung neuer statistischer Erhebungen durch eine effizientere Nutzung bereits vorhandener Daten beitragen soll. Es handelt sich also eigentlich um ein BürokraAlexander Dobrindt tieabbaugesetz. Aber leider steht das so nicht drin. Es ist vielmehr ein klassisches Mehr-Bürokratie-Gesetz, das im Ergebnis dazu beiträgt, dass mehr Lasten auf den Mittelstand verteilt werden, dass mehr Kosten vom Mittelstand zu tragen sind und dass wieder weniger Freiheit anstatt mehr Freiheit bei den Unternehmen ankommt. Wie kann man das sonst verstehen? Mit der Novellierung der Handwerksordnung, Ihrem Frontalangriff auf das deutsche Handwerk 2003, wollten Sie die Zahl der in der Anlage A aufgeführten zulassungspflichtigen Gewerbe von 94 auf 29 verringern. Wir haben durch unser massives Dagegenhalten dafür gesorgt, dass 90 Prozent aller Betriebe das Meisterprivileg erhalten. Nun stellen Sie fest, dass die nicht mehr in der Anlage A befindlichen Betriebe im Statistikregistergesetz nicht mehr erfasst sind. Sofort stellen Sie die Forderung auf, dass eine statistische Erfassung sein muss. Dazu wird der Versuch unternommen, ein Bürokratieabbaugesetz zur Einführung zusätzlicher Statistikpflichten zu missbrauchen. Sie haben zwar den Unternehmen die Privilegien genommen, wollen aber bei den Pflichten immer wieder draufsatteln. Da machen wir nicht mit. Wir wollen die Mittelständler von bürokratischen Gängeleien entlasten. Dazu gehört, dass wir weniger Statistiken von den Unternehmen einfordern. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Dobrindt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Kollegin.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass die von Ihnen beklagte Belastung der Unternehmen, diese statistische Ergänzung, ausgerechnet vom Zentralverband des Deutschen Handwerks ausdrücklich gewünscht wurde?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, genau das ist vielleicht Ihr Problem. Sie können sich in den Champagneretagen mit den Kollegen aus dem ZDH und sonstwo unterhalten. ({0}) Gehen Sie doch bitte einmal in Ihren Wahlkreis! Reden Sie mit den Handwerkern vor Ort und fragen Sie die, wie sie zu den statistischen Erfassungen stehen! Dann werden Sie sehen, wie die Menschen das wirklich sehen. ({1}) - Das ist zitierfähig. ({2}) - Das dürfen Sie gerne zitieren. Es wäre auf jeden Fall sinnvoller, die zulassungspflichtigen wie auch die zulassungsfreien Gewerbe von der kompletten Statistik zu befreien. Wenn Sie schon statistische Aufgaben verlangen, dann sollten Sie die Auskunft begehrende Stelle auch entsprechend bezahlen lassen. Offensichtlich kann man den Drang nach Erhebungen nicht anders eindämmen. Frau Skarpelis-Sperk, weil Sie nicht wahrhaben wollen, dass Ihr Gesetz zu zusätzlichen Belastungen und mehr Bürokratie führt, lese ich gerne aus der Begründung zu Nr. 03 der Beschlussempfehlung zu dem Gesetz vor: … ein Stichprobenumfang von 10 000 Einheiten ({3}) häufig nicht aus …, um im Falle eines kurzfristig auftretenden Datenbedarfs oder zur Klärung wissenschaftlich-methodischer Fragestellungen hinreichend gesicherte statistische Aussagen zu gewinnen. Eine Aufstockung der Obergrenze auf 20 000 schafft mehr Flexibilität … Meine Damen und Herren, für wen schafft das mehr Flexibilität? Für die Unternehmen? Für die Betriebe? Für die Betroffenen? Sicher nicht. Sie verdoppeln mit diesem Gesetz die Stichprobengröße von 10 000 auf 20 000 und reden dabei von Bürokratieabbau. Sie wollen doppelt so viele Mittelständler wie bisher mit Statistiken und Kosten belasten und reden von Bürokratieabbau. Da machen wir schlichtweg nicht mit. ({4}) Ihnen fällt nicht nur nichts ein, wie man die Wirtschaft entlasten könnte; Sie legen immer noch eine Schaufel drauf. Masterplan Bürokratieabbau? Bis heute nicht vorhanden. Was ist mit der Ankündigung des Bundeskanzlers, die Verwaltung schlanker und effizienter zu machen und hemmende Bürokratie rasch zu beseitigen? Das Gegenteil ist passiert. Bürokratieabbau bedeutet mehr Eigenverantwortung, mehr Freiheit, weniger Staat, mehr Mut zum Risiko. Die Hälfte der Unternehmer in Deutschland sagen, dass die Bürokratie nach Steuer- und Abgabenlast das größte Hindernis für den betrieblichen Erfolg sei. 3 500 Euro muss heute ein Mittelständler pro Arbeitsplatz an Bürokratiekosten ausgeben. International ist Deutschland unter den Industrienationen Spitzenreiter, was die bürokratische Regelungsdichte betrifft. Anstatt diese Erkenntnisse zum Anlass zu nehmen, darüber nachzudenken, wie man die stetig anwachsende Bürokratie in den Griff bekommt, fehlt Rot-Grün inzwischen sogar der Mut, sich gegen restlos unsinnige Regelungen aus Brüssel zur Wehr zu setzen. Ich erzähle Ihnen hier gern ein interessantes Beispiel. Letzte Woche haben wir im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit die so genannte europäische Richtlinie zur optischen Strahlung beraten. In dieser Richtlinie wird eine Dokumentationspflicht für all diejenigen Betriebe verordnet, deren Mitarbeiter dem Sonnenlicht ausgesetzt sind, grob gesagt also all diejenigen, die auf dem Bau arbeiten, im Gartenbau, im Pflasterbau. ({5}) Diese Unternehmen sollen künftig Aufzeichnungen darüber machen, welche Mitarbeiter sich einer erhöhten Gefährdung durch Sonnenlicht aussetzen, auch noch gestaffelt nach Risikogruppen. ({6}) Selbst die Berufsgenossenschaften warnen vor einer solchen Regelung. Sie sagen vernünftigerweise, dass das Sonnenlicht während der Arbeit kaum ein anderes als während der Freizeit ist und deswegen die Gefährdung oder Nichtgefährdung während der Freizeit genauso groß oder klein wie während der Arbeitszeit ist. Es ist vollkommen sinnlos, Aufzeichnungen zu verlangen, um vielleicht nach 20 Jahren festzustellen, wie viel Sonne jemand während der Arbeitszeit theoretisch ausgesetzt war. Wir haben einen Antrag dazu vorgelegt, damit die Bundesregierung in Brüssel darüber verhandelt. Sie haben ihn abgelehnt, mit der üblichen Begründung - diesmal von Staatssekretär Schlauch -, die Bundesregierung glaube nicht, dass hier zusätzliche Belastungen für den deutschen Mittelstand entstünden. Meine Damen und Herren, 45 Prozent aller Betriebe werden auf eine konsequente Entbürokratisierung mit mehr Investitionen und mit mehr Personaleinstellungen reagieren. Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen in diesem Land sollte das Grund genug sein, endlich mit dem Bürokratieabbau anzufangen. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede des Kollegen Werner Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen soll zu Protokoll genommen werden.1) Ich denke, Sie sind damit einverstanden. Dann kommen wir jetzt zur Rede des Kollegen Dr. Karl Addicks von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetz- entwurf, den wir hier heute abschließend beraten, wird von uns, der FDP-Fraktion, im Grundsatz begrüßt. Den- noch werden wir uns wahrscheinlich - wie schon im Ausschuss - der Stimme enthalten. Warum? Wir wollen mit dieser Enthaltung dokumen- tieren, dass wir den Entwurf zwar für einen Schritt in die 1) Anlage 2 richtige Richtung halten, er uns aber nicht weit genug geht; denn wir wollen einen viel umfassenderen Bürokratieabbau in diesem Lande. ({0}) Sicher, das Gesetz ist für die Bereiche, auf die es abzielt, eine Erleichterung. Schließlich hilft es, wahre Datenschätze aus verschiedenen Bereichen der Statistik zu heben und zusammenzuführen. Wir hoffen allerdings, dass daraus keine neuen Kosten für den Bundeshaushalt entstehen; in den Anlagen zu diesem Entwurf bleibt das leider weitgehend im Dunkeln. Die Bürokratie liegt wie Mehltau über diesem Land und über der Wirtschaft, das ist uns allen klar. Sie aber sind in der Regierungsverantwortung. Befreien Sie endlich die Wirtschaft von diesem Joch ({1}) und seien Sie dabei ein bisschen energischer! Die Arbeitsmärkte würden wirklich aufatmen. Was erleben wir stattdessen? Lange Ankündigungen ohne tatkräftige Folgen. Herr Staatssekretär Staffelt, was ist denn mit dem Masterplan Bürokratieabbau? ({2}) Was ist denn mit den Modellregionen? Das alles sind Fata Morganas, die sich verflüchtigen, wenn man ihnen folgt. Land und Leute verdursten dabei, um in diesem Bild zu bleiben. Das Gesetz macht durchaus Sinn: Statt gänzlich neue Daten zu erheben und damit den Auskunftspflichtigen auf die Nerven zu fallen, werden vorhandene Statistiken zusammengeführt, was zu neuen Möglichkeiten in der Nutzung dieser Daten führt. Allerdings geht es hier nur um eine redaktionelle Anpassung an die reformierte Handwerksordnung und um eine Koordinierung der verschiedenen Statistikdienste auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Wir begrüßen diese geplante Vernetzung der einzelnen Datenpools. Nur, warum geht das eigentlich alles so langsam? ({3}) Die Bundesregierung ist immer noch in ruhigem Schneckentempo unterwegs, obwohl es an allen Ecken und Enden brennt. ({4}) Wachen Sie auf und tun Sie endlich etwas! Wenn Sie wollen, können Sie doch mit Schnellschüssen kommen, siehe Versammlungsgesetz. Dieser Entwurf ermöglicht die Datenverknüpfung, so weit, so gut. Jedoch bleibt es bei unser Kritik: Warum dehnen Sie den Bürokratieabbau nicht endlich auf alle Bereiche der Wirtschaft aus? Warum hat Herr Clement nicht die Kraft, unserer Wirtschaft die Statistikfrondienste endlich zu erlassen? ({5}) Das Institut für Mittelstandsforschung hat die Kosten der aufgeblasenen Bürokratie auf rund 50 Milliarden Euro berechnet - was für ein Wettbewerbsnachteil für dieses Land und seine Unternehmen! ({6}) Wie soll man als Global Player dabei eigentlich konkurrenzfähig sein? Im Zusammenhang mit den so genannten Innovationsregionen haben Sie viele schöne Vorschläge gemacht. Passiert ist so gut wie gar nichts. Herr Clement lamentiert wegen des Kraken Bürokratie, aber die Leute wollen ein bisschen mehr als Lippenbekenntnisse. Wenn Sie also Ernst machen wollen, dann bleiben Sie nicht bei diesem ersten Schritt stehen, sondern schreiten Sie mutig voran und bringen Sie uns allen endlich die lange überfälligen Erleichterungen! Das Land lechzt ja geradezu danach. ({7}) Aber kommen Sie uns bitte nicht mit neuen Belastungen! Insbesondere braucht dieses Land keine Ausbildungsplatzabgabe und kein Antidiskriminierungsgesetz, zumindest nicht in der vorliegenden Fassung. ({8}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Um zu signalisieren, dass die Bundesregierung weiter in der Pflicht ist, stimmen wir heute diesem Gesetz nicht zu. Wir enthalten uns oder stimmen dagegen; ({9}) das hängt von den Mehrheitsverhältnissen ab, die wir gleich testen werden. ({10}) Vielleicht wirkt das ja als kleiner Stimulus für Ihren weiteren Bürokratieabbau. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Addicks, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Herr Kollege Addicks, beim nächsten Mal werde ich allerdings etwas strenger auf die Redezeit achten. ({1}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Angela Schmid von der CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Angela Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003708, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir alle kennen die Klagen der Wirtschaft über zu hohe Bürokratiekosten und zeitraubende Auskunftspflichten für statistische Erhebungen. Wir alle sind uns einig, dass das bestehende System der Wirtschaftsstatistiken einer eingehenden Überprüfung bedarf. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung nun die bei den statistischen Ämtern vorhandenen Daten effizienter nutzen und so neue statistische Erhebungen vermeiden. Zweifellos ein zu begrüßendes Ziel, zumal die Bundesregierung auch noch ausdrücklich ausführt, dass durch die Gesetzesänderung den Unternehmen kein zusätzlicher Aufwand entstehen wird, sondern eher sogar das Gegenteil eintreten wird. Schaut man aber genauer hin, sieht die Lage anders aus. Denn neben der Zusammenführung von Daten sollen auch die jetzt zulassungsfreien Handwerke in die Auswertung des Statistikregisters einbezogen werden, ({0}) um so eine Gleichbehandlung mit den zulassungspflichtigen Handwerken zu erreichen. Auch dieses Ziel mag auf den ersten Blick noch vertretbar erscheinen; denn die Verpflichtung zu statistischen Angaben nur den zulassungspflichtigen Gewerbebetrieben aufzuerlegen, wäre zweifellos willkürlich und ungerecht. Enttäuschend ist nur, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass Ihnen zur Schließung dieser Gesetzeslücke nur eine Idee gekommen ist: die zulassungsfreien Gewerbe gleichermaßen wie die zulassungspflichtigen Gewerbe mit Auskunftspflichten über statistische Angaben zu belasten. Andere Wege und Möglichkeiten kamen für Sie natürlich nicht in Betracht. Dabei haben Sie doch im letzten Sommer in Ihrem eigenen Gesetzentwurf noch selbst festgestellt, dass weitere Maßnahmen zum Abbau von Statistiken notwendig seien, um die Berichtspflichtigen und die statistischen Ämter zu entlasten. Fest steht auch, dass im Rahmen der parlamentarischen Selbstkontrolle und der Gesetzesfolgenabschätzung bei jedem neuen Gesetzentwurf geprüft werden sollte, welcher Aufwand und welche Kosten für Bürger und Unternehmen mit dem neuen Gesetz verbunden sein werden. Es verwundert daher schon sehr, dass Sie gerade bei dem nun vorliegenden Entwurf nicht auch die Frage geprüft haben, inwieweit auf statistische Angaben sowohl von zulassungsfreien als auch von zulassungspflichtigen Gewerben verzichtet werden kann. Sie wissen selbst: Statistische Erhebungen bringen besonders für mittelständische Unternehmen eine enorme Zeit- und Kostenbelastung mit sich. ({1}) Die Bürokratiekosten betragen derzeit beispielsweise in kleineren Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten 4 400 Euro pro Arbeitsplatz. Entsprechend groß ist der zeitliche Aufwand: Bis zu 64 Stunden im Jahr gehen pro Mitarbeiter dafür drauf. Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher seit langem eine deutliche Reduzierung der statistischen Auskunftspflichten und damit eine erhebliche Bürokratieerleichterung für Unternehmen. ({2}) Für alle Statistikpflichten sollte die Regel gelten: Wer eine Statistik bestellt, muss sie auch bezahlen. ({3}) Im Bereich der Statistik ist dieser Gedanke im Prinzip der Ressortdeckung umgesetzt worden, wie es in Bayern seit vergangenem Jahr erprobt wird: Alle Ausweitungen von Statistikanforderungen gehen danach zu Lasten des fachlich federführenden Ressorts, das die dadurch entstehenden Kosten bei der Haushaltsaufstellung decken muss. Damit soll das Kostenbewusstsein der Fachseite gestärkt werden. Mit Durchsetzung des Ressortdeckungsprinzips wird die Arbeit der statistischen Ämter als Datenlieferant für Entscheidungsträger in allen Bereichen des täglichen Lebens auf einem tragbaren Niveau gehalten. ({4}) Zudem besteht dadurch die Chance, Betrieben und Unternehmen keine weiteren Lasten durch die Erstellung von Statistiken aufzubürden. Derzeit kostet die staatlich verordnete Bürokratie die deutschen Unternehmen 46 Milliarden Euro im Jahr. ({5}) Daran wird sich auch mit diesem Gesetzentwurf nichts ändern. ({6}) Der von Bundesminister Clement propagierte Abbau von Bürokratiekosten kommt einfach nicht voran. Angesichts dessen ist es kaum zu glauben: Nach offiziellen Bekundungen des Bundeswirtschaftsministeriums soll der Bürokratieabbau Chefsache sein. Der vorliegende Entwurf setzt ein völlig falsches Signal. Bei all Ihren Bemühungen, Gerechtigkeit zu schaffen und zulassungspflichtige und zulassungsfreie Gewerbe im Hinblick auf ihre statistischen Auskunftspflichten gleich zu behandeln, übersehen Sie wieder einmal mögliche gesetzgeberische Alternativen. Obwohl das Problem der Bürokratiebelastung durch statistische Auskunftspflichten für die Unternehmen erkannt ist und ein weiter gehender Abbau von Wirtschaftsstatistiken versprochen wurde, werden hier neue Wege, wie beispielsweise von unserer Fraktion vorgeschlagen, schlicht und einfach ignoriert - ein erneuter Beweis für mangelnden Sachverstand und fehlenden politischen Weitblick. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schmid, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Statistikregistergesetzes und sonstiger Statistikgesetze, Drucksache 15/4696. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4955, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten CarlLudwig Thiele, Stephan Hilsberg, Franziska Eichstädt-Bohlig, Werner Kuhn ({1}), Ulrich Adam und weiterer Abgeordneter Gelände um das Brandenburger Tor als Ort des Erinnerns an die Berliner Mauer, des Gedenkens an ihre Opfer und der Freude über die Überwindung der deutschen Teilung - Drucksache 15/4795 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache vorgesehen, dass vier Abgeordnete aus der Gruppe der Antragsteller jeweils fünf Minuten Redezeit erhalten. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele von der FDPFraktion das Wort.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Herr Präsident - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie viele andere in diesem Haus bin ich politisch geprägt - ich bin Jahrgang 1953 - von der Teilung Deutschlands 1961 bis 1989 durch die Mauer, wobei die Mauer ja nicht nur eine Mauer war, sondern sich in einem Todesstreifen befand. Dieser Todesstreifen teilte Berlin, teilte Deutschland, teilte die ganze Welt. Als ich 1990 die Ehre hatte, Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages zu werden, habe ich mich sehr gefreut, dass der damalige Alterspräsident Willy Brandt war, der ebenso für die Überwindung der deutschen Teilung stand wie Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl und andere Politiker Deutschlands, über die Parteigrenzen hinweg. Wenn ich heute meinen Kindern - mein ältester Sohn wird in diesem Jahr 17 Jahre alt - erklären soll, wie die deutsche Teilung war und wie die Überwindung der Teilung abgelaufen ist, dann bin ich dazu überhaupt nicht in der Lage. Die Menschen und insbesondere die Jugend der Welt kommen an das Brandenburger Tor - kein anderer Ort in Deutschland steht so sehr für die Teilung und wollen erfahren, wie es war, als das Land geteilt war, und wie es war, als diese Teilung überwunden wurde. Aber ihnen wird an dieser zentralen Stelle kein Hinweis darauf gegeben. Deshalb war es gut - dieses Thema hat mich länger umgetrieben -, dass ich im Herbst 2003 darüber mit dem Kollegen Hilsberg gesprochen habe, der heute bedauerlicherweise erkrankt ist und dem ich von dieser Stelle aus gute Besserung wünsche. ({0}) Es hat sich das Gefühl entwickelt, dass wir etwas unternehmen müssen. Wir haben einen Antrag vorbereitet und Kontakt mit der Kollegin Eichstädt-Bohlig und dem Kollegen Kuhn aufgenommen. Sie, Frau EichstädtBohlig, hatten ebenfalls festgestellt, dass etwas fehle. Wir vier Initiatoren - zwei Initiatoren kommen aus dem Westen und zwei aus dem Osten - stehen für die Generation Deutschlands zu Zeiten der Teilung. Die Mauer wurde nicht nur vom Westen, sondern noch viel stärker vom Osten als trennendes Element empfunden. Ich erinnere mich daran, dass es auch bei den Jungen Liberalen seinerzeit eine Diskussion um die Zweistaatlichkeit gab. Man sprach darüber, ob man nicht irgendwann einmal die Realität anerkennen sollte, dass Deutschland geteilt sei. Auf einem Bundeskongress der Jungen Liberalen, den ich geleitet habe, wurde eine entsprechende Frage an Hans-Dietrich Genscher gerichtet. Darauf antwortete er: Dieser Punkt mag für den einen oder anderen im Westen nicht von großer Bedeutung sein. Aber für die Bürger im Osten ist er von zentraler Bedeutung. Man darf den Menschen nie die Hoffnung nehmen. - Daraufhin wurde die Anerkennung der Zweistaatlichkeit auch von den Jungen Liberalen abgelehnt. Die Hoffnung, die deutsche Teilung zu überwinden, hat uns weiter getragen, auch wenn wir nicht alle jederzeit daran geglaubt haben. Es ist richtig, dass wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht haben. Ich möchte mich auch dafür bedanken, dass inzwischen ein Drittel der Abgeordneten des Deutschen Bundestages diesen Antrag als Initiatoren unterstützt. Es besteht ein Vakuum. Aber allein die Diskussion darüber hat dazu beigetragen, dass Lösungsvorschläge erarbeitet werden und dass das Thema in den Vordergrund gerückt ist. Wir hatten uns als Datum der ersten öffentlichen Präsentation dieses Antrags den 9. November des letzten Jahres ausgesucht, weil sich an diesem Tag die Überwindung der Teilung Deutschlands zum 15. Mal jährte. Aber auch durch die Kreuze von Frau Hildebrandt am Checkpoint Charlie und durch die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße wird auf die Teilung hingewiesen. Die Bevölkerung hat ein Bedürfnis nach Information. In unserem Antrag fordern wir, dass das Dokumentationszentrum an der Bernauer Straße aufgewertet werden soll. Wir wollen, dass die deutsche Teilung dokumentiert wird. Wir wollen allerdings auch, dass die Überwindung der Teilung dokumentiert wird. Wie, das werden wir im zuständigen Ausschuss und in der nachfolgenden Diskussion erörtern. Wir sind der Auffassung, dass hier ein Vakuum besteht und dass es unsere gesamtdeutsche Pflicht ist, über die Parteigrenzen hinweg hier tätig zu werden. ({1}) Ich bin froh darüber, dass es auch in Zeiten der innenpolitischen Konfrontation gelungen ist, dieses Thema über die Parteigrenzen hinweg zu behandeln. Wir versuchen, für unser Anliegen eine Mehrheit zu finden. Ich wäre froh, wenn dieses Thema über alle Parteigrenzen hinweg weiterhin auf der Tagesordnung bliebe. Wir wollen alles dafür tun, dass dies so bleibt. ({2}) Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Geschichte muss erfahrbar sein. Gestern haben wir von Präsident Juschtschenko gehört, dass die Freiheit erlebbar ist. Sie ist insbesondere dann erlebbar, wenn man weiß, was Unfreiheit tatsächlich bedeutet. Wenn wir nichts mehr über die Unfreiheit wissen, dann haben wir auch nicht mehr die Möglichkeit, die Freiheit als besonderes Gut zu empfinden. Deshalb muss die Geschichte an diesem zentralen Ort erfahrbar werden, damit sich diese Geschichte nicht wiederholt und damit nie wieder Willkür und Ideologie über Menschenrechte und Menschenwürde gestellt werden. Ich bedanke mich im Vorhinein für die Mitarbeit und hoffe auf konstruktive Beratungen, damit dieser Antrag im gesamtdeutschen Interesse und im Interesse der Menschen, die wir hier im Bundestag repräsentieren, tatsächlich zu dem Ergebnis führt, dass dieser zentrale Ort aufgewertet wird - in welcher Form, darüber werden wir diskutieren - und dieser zentrale Ort, wie wir es im Antrag formuliert haben, für die Teilung Deutschlands, Berlins und der Welt, aber auch für die Überwindung der Teilung und für die Freiheit steht. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Meckel von der SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier für Stephan Hilsberg, der, wie eben schon erwähnt worden ist, heute aus Krankheitsgründen nicht anwesend sein kann. Ich kann deshalb mit umso größerer Unbefangenheit den Initiatoren dafür danken, dass sie diese Initiative ergriffen haben. Denn ich muss klar sagen: Hier ist ein Defizit aufgegriffen worden, das endlich zur Sprache kommen muss und dem man sich widmen muss. Dass dies in dieser parteiübergreifenden Weise geschehen ist, verdient unser aller Dank. ({0}) Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht verstanden, warum wir die Mauer in Berlin an allen grundlegenden Stellen weggerissen haben. Dass wir sie 1989 als politische Grenze niedergerissen haben, war überhaupt keine Frage; das war die Voraussetzung für die deutsche Einheit. Aber es ist richtig: An diese Teilung, an diese unsere gemeinsame nationale Geschichte - denn die Teilung war unsere gemeinsame Geschichte in Ost und West, wenn auch für uns im Osten natürlich noch viel schmerzlicher und schwieriger - muss gemeinsam erinnert werden. Wo, wenn nicht hier in Berlin? Ich muss auch sagen: Wo, wenn nicht hier am Brandenburger Tor? Denn das Brandenburger Tor war - die Geschichte dieser Jahrzehnte macht es deutlich - das Symbol der deutschen und europäischen Teilung und es wurde das Symbol der deutschen und europäischen Einigung. Das heißt, es wurde zum Signal, dass der Kalte Krieg zu Ende ist und dass Europa wieder zusammenwächst. Heute kommen aus aller Welt Millionen nach Berlin. Sie haben Berlin als die Stadt im Kopf, die für die Teilung Europas und die Teilung Deutschlands, ja für die Teilung dieser Welt stand. Viele suchen Orte, wo man sich dessen erinnern kann, und finden keine bis auf ein paar kleine Zeichen für Fachleute - so muss man fast sagen -, wie etwa den Kopfsteinpflasterstreifen oder die wahrhaftig gut gemeinte Gedenkstätte an der Bernauer Straße, die übrigens von der Kirchengemeinde dort mit großem Engagement gepflegt wird. Dort wurde mit großem Einsatz ein Museum, das leider ein privates Museum ist, errichtet. Man hat eine Versöhnungskapelle eingerichtet. Auch das war ein ganz wichtiger Akt. Aber man muss feststellen: Sowohl der Bund als auch die Stadt Berlin haben die Aufgabe, eine Gedenkstätte zu gestalten, bis heute nicht in angemessener Weise aufgegriffen. Dass dies jetzt in dieser Weise passiert, ist ein wichtiges Zeichen. Es ist gut, dass die Zahl der Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die die Erfüllung dieser Aufgabe parteiübergreifend gemeinsam fordern, zunimmt. Dass die zuständige Staatsministerin sagt: „Ja, wir wollen uns dieses Defizites annehmen und es gemeinsam bearbeiten“, ist wahrhaftig ein wichtiges und gutes Zeichen. ({1}) Ich stimme meinem Vorredner zu, dass viele Köche ({2}) dabei mitgespielt haben, auf dieses Defizit aufmerksam zu machen. Auch ich finde übrigens, dass man Frau Hildebrandt dafür danken muss, dass sie mit den Kreuzen nicht nur auf die grundsätzliche Frage der deutschen Teilung aufmerksam gemacht hat, sondern ganz gezielt an die Opfer erinnert und versucht hat, die Namen der Opfer ins Gedächtnis zu rufen. Damit hat man den Menschen und auch ihren Familien einen Ort gegeben. Dass das wahrscheinlich nicht so bleiben kann, ist die eine Sache; aber es ist ein ganz wesentlicher Punkt, dass wir dies als einen Aufruf nehmen, auch diese Dimension in die künftige Gestaltung der Erinnerung an die deutsche Teilung aufzunehmen. Ich erinnere an die Mauergalerie in der Nähe des Ostbahnhofes, die bis heute leidet; die Gemälde gehen kaputt. Ich denke auch: Das Geld für die Pflege muss da sein! ({3}) Da haben 1990 Künstler aus aller Welt die Mauer von der Ostseite bemalt - das war wahrhaftig etwas Besonderes -, als Zeichen dafür, dass sie niedergerissen ist. Deshalb muss dieses Mauerstück erhalten und entsprechend gestaltet werden. ({4}) Ich glaube, dass der Antrag die richtigen Akzente setzt. Ich bin froh, dass es eine parteiübergreifende Gemeinsamkeit dabei gibt, dies zu gestalten. Ich persönlich möchte sogar ein Stück weiter gehen. Ich glaube, dass wir in Bezug auf die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Endeffekt ein Museum der deutschen und europäischen Teilung brauchen, das daran erinnert. Wir werden sehen, ob das Deutsche Historische Museum, das hoffentlich demnächst eröffnet wird, einer solchen Aufgabe gerecht wird. Es wäre meines Erachtens der richtige Ort dafür. Man wird es sehen. Die langfristige Perspektive sollte man vielleicht nicht aus dem Blick verlieren. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich kann mich dem nur anschließen, was der Kollege Thiele und der Kollege Meckel eben schon berichtet haben. Es ist tatsächlich so: Bis auf die amerikanische Botschaft ist der Pariser Platz, die gute Stube Berlins, inFranziska Eichstädt-Bohlig zwischen perfekt fertig gestellt, mit Kugelbäumen, Lampen und edlem Pflaster zum Flanieren. Es erinnert aber nichts mehr daran, dass all dies von 1961 bis 1989 Teil eines unüberwindlichen Todesstreifens war. Ich selbst weiß nicht mehr, obwohl ich sehr oft zwischen West und Ost gependelt bin, wo eigentlich die Hinterlandmauer war. Die auf der Westseite gelegene Mauer finden wir im Asphalt. Man muss aber schon sehr genau hinschauen und ziemlich gut Bescheid wissen, damit man das überhaupt entdeckt. Wir sehen auch an den weißen Kreuzen - wir alle wissen, es sind die Kreuze, die unten an der Spree hinter dem jetzigen Paul-LöbeHaus waren - und an den Blumen, die dort hingelegt werden, wie groß das Bedürfnis ist, auch an dieser Stelle der Toten, die bei dem Versuch, die Grenze zu überwinden, getötet worden sind, zu gedenken. Bis vor kurzem kam niemand auf die Idee, dass an diesem Ort tatsächlich die Erinnerung an die Zeit der deutschen Teilung gesucht wird und dass gerade das Brandenburger Tor der Ort ist, wo nicht nur die Berliner, nicht nur die Deutschen, sondern die Menschen weltweit die Geschichte der deutschen Teilung, des Eisernen Vorhangs und des Kalten Krieges suchen. Ich glaube schon, dass man sich wirklich darüber im Klaren sein muss, dass gerade auch Touristen hier ihre eigene Geschichte suchen oder junge Menschen die Geschichte ihrer Eltern an diesem Ort suchen. Mir wurde vorgehalten, das sei ja nur für den Tourismus. Ich muss deswegen mit Entschiedenheit sagen: Das ist doch überhaupt kein Argument. Wenn ich nach Hiroshima komme, dann erwarte ich, dass die Stadt mir die Geschichte von Hiroshima in eindringlicher Weise deutlich macht. Wenn die Menschen am Brandenburger Tor die Erinnerung suchen, dann muss dort auch in eindrücklicher Weise auf die Geschichte der deutschen Teilung und der Teilung der Welt hingewiesen werden. ({0}) Es ist auch gesagt worden, es sei eine Konkurrenz zum Holocaust-Mahnmal. Ich glaube nicht, dass es das ist. Wir haben sehr deutlich gesagt: Die deutsche Geschichte hat sich die Nähe zwischen diesen unterschiedlichen Phasen - es geht nicht darum, sie in einen Topf zu werfen - gesucht, nicht wir, die gesagt haben: Das muss ein Ort des Gedenkens werden. Von daher meine ich, dass das Holocaust-Mahnmal und die Erinnerung an die Roma und Sinti - ich hoffe, dass bald auch ein solches Mahnmal geschaffen wird und die ermordeten Homosexuellen zusammengehören. Das alles sind Mahnmale unserer eigenen Geschichte. Wenn sie so dicht beieinander liegen, dann sollten wir das nicht beklagen; wir sollten sie vielmehr als Mahnmale in dem Sinne nehmen, dass sie uns an das erinnern, was sowohl im Faschismus als auch in Zeiten des sozialistischen Regimes in Deutschland und Berlin passiert ist. Insofern möchte ich dafür werben, dass all diejenigen, die zumindest in den letzten Wochen sehr skeptisch waren, diese Skepsis überwinden und das Thema mutig angehen. Es geht nicht darum, einen abgegrenzten Ort zu schaffen, den niemand berühren kann und an dem man in Ehrfurcht erstarren muss. Es geht vielmehr darum, ein künstlerisches Zeichen zu setzen und die Menschen in einer würdigen Form darüber zu informieren, was der Todesstreifen am Brandenburger Tor konkret bedeutet hat, aber auch darüber, dass von hier aus Wege zu anderen Gedenkstätten, zum Beispiel zur Bernauer Straße, führen. Aus meiner Sicht sollte dieser Ort die zentrale Gedenkstätte sein und es sollten dort die Namen der tausend an der Mauer und der deutschen Grenze Getöteten aufgezeichnet werden. Das Brandenburger Tor sollte also nicht mit Gedenken überfrachtet werden. Aber das Erinnern - auch bildnerisches Erinnern - und die wichtigen Informationen gehören eindeutig an diesen Ort. Das wünsche ich mir. Ich glaube, wir sind inzwischen auch so weit, dass die vielen Vorbehalte - ich muss gestehen, dass ich ein wenig erstaunt darüber bin, wie zahlreich sie waren - allmählich abflauen, dass die Menschen das Brandenburger Tor anders wahrnehmen und sich daran gewöhnen, dass auch dieser Ort ein Erinnerungszeichen braucht. Das schließt die Erinnerungszeichen an den anderen Orten in keiner Weise aus. Wir wollen sie nicht entfernen und auch nicht kleinreden. Aber leider ist nun einmal das Brandenburger Tor das Zentrum des Eisernen Vorhangs gewesen. Vielleicht bekommt man dafür auch noch ein eigenes Zeichen, das das Überwinden der Mauer darstellt. Das Bild vom Brandenburger Tor mit den Menschen, die obendrauf gesessen haben, war nur an diesem Ort möglich, an dem die Panzersperren so breit waren, dass man darauf stehen, sitzen und tanzen konnte. Ich suche nach Künstlern, die das darstellen können, auch wenn ich nicht weiß, ob das miteinander zu vereinbaren ist. Vielleicht braucht man unterschiedliche Zeichen für beide Bilder. Darüber sollen diejenigen nachdenken, die dazu besser berufen sind als wir. Aber auch das gehört mit zu unserer Geschichte. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn von der CDU/ CSU-Fraktion.

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Ehre für mich, heute den Gruppenantrag für die CDU/CSU-Fraktion mit über 100 Unterstützern im Deutschen Bundestag einbringen zu können. Ich hätte in meinen kühnsten Träumen nie daran gedacht, dass ich eines Tages im Reichstag einen solchen Antrag für meine Fraktion einbringen kann. Ich glaube, dass diese Debatte gerade für uns Ostdeutsche, die in der DDR groß geworden sind, mit sehr starken Emotionen verbunden ist. Ich habe das auch bei den Kollegen Meckel und Hilsberg gespürt. Werner Kuhn ({0}) Wenn man als Nordlicht gefragt wird, was einen an diesem Antrag berührt oder was einen dazu bewegt, eine solche Initiative in Angriff zu nehmen, die bewundernswerterweise vom Kollegen Thiele initiiert worden ist, dann antworte ich: Auch wir an der Ostseeküste haben letztendlich die Teilung schrecklich erfahren müssen. Dort durfte man sich nach Sonnenuntergang nicht mehr am Ostseestrand aufhalten. Das Meer wurde mit großen Lampen nach denjenigen abgeleuchtet, die den Weg in die Freiheit suchten. Wenn wir das eine oder andere Mal mit unserem Trabbi nach Berlin gekommen sind, dann war die Wilhelmstraße Endstation. Wir haben das Brandenburger Tor, das mit Sichtblenden versperrt war, in der Ferne sehen können. Dann hat man sich schon gefragt, ob dieses Tor wohl eines Tages in die Freiheit geöffnet wird. Viele haben dazu beigetragen, dass das passiert ist. Wichtig waren auch der Mut, die Besonnenheit und der unbändige Wille zu Freiheit und Demokratie der Bürgerbewegung in der DDR. ({1}) Viele von uns haben dabei mitgeholfen und etwas gewagt. Auch mit den Friedensgebeten, die wir gemeinsam gestaltet und durchgeführt haben, als die Mauer noch stand, war ein gewisses Risiko verbunden. Niemand wusste genau, wie das ausgeht. Wir müssen uns nun gemeinsam Gedanken darüber machen, wie wir auf der einen Seite derer gedenken können, die um der Freiheit willen ihr Leben gelassen haben, und wie wir auf der anderen Seite unsere Freude darüber zum Ausdruck bringen können, dass diese widerliche Vernichtungsmauer am 9. November 1989 niedergerissen werden konnte. Dazu haben wir gemeinsam Ideen entwickelt, von denen Frau Eichstädt-Bohlig einige angerissen hat. Ich denke, es ist wichtig und notwendig, dass wir diejenigen, die dort umgekommen sind, verlässlich bei ihren Namen nennen können, wie es auch in der Bibel steht. Frau Kulturstaatsministerin Weiss - ich finde es angemessen, dass auch Sie an dieser Debatte teilnehmen; es ist sehr gut, dass Sie uns unterstützen wollen -, in diesem Zusammenhang sollten wir einen Auftrag zur wissenschaftlichen Fundierung der Aufarbeitung der Geschichte erteilen. ({2}) Wir müssen darüber nachdenken, wo wir unserer Toten bzw. derjenigen, die an der Mauer Menschen verloren haben, letztendlich am besten gedenken können. Ich könnte mir vorstellen, dass die Möglichkeit besteht, in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor eine Tafel zu errichten. Dort gibt es bereits den „Raum der Stille“. Die Freude darüber, dass die Mauer niedergerissen wurde, wird durch die Bilder, die um die Welt gegangen sind, dokumentiert, auf denen Menschen zu sehen waren, die auf den Mauerresten und Panzersperren tanzten. Damit werden wir identifiziert. Auch Ministerpräsident Juschtschenko, der die orangene Revolution vorantrieb, sagte: Da haben wir gesehen: Wir sind das Volk bzw. wir sind ein Volk. Die gleichen Probleme, die wir in der Ukraine haben, habt auch ihr in Angriff genommen und bewältigt. - Es macht einen stolz und froh, dass diese Bürgerbewegung ganz Europa erfasst hat, dass es den Eisernen Vorhang und die sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke nicht mehr gibt und dass wir gemeinsam in Freiheit und Demokratie leben können. Ich glaube, ein anderer interessanter Ort für eine Dokumentation wäre die U-Bahn-Station, die sich gerade im Bau befindet. Dort bestünden Möglichkeiten, um zu dokumentieren, wie diese menschenverachtende Anlage, die Berliner Mauer, konzipiert war. Wenn wir die Rahmenbedingungen für eine Ausschreibung herausgeben, würde sicherlich ein gutes Ergebnis erzielt werden. Wir sollten schon in unserer Gruppe die eine oder andere Idee formulieren, damit wir im Nachhinein über das Ergebnis einer künstlerischen Bearbeitung nicht unnötig enttäuscht sind. Ich denke, das können wir im Rahmen des gesamten Gedenkstättenkonzeptes in Angriff nehmen. Wir müssen unsere eigenen Ideen dazu entwickeln, wie wir sowohl das Gedenken an die Opfer, die es an der Berliner Mauer gab, als auch die Freude darüber, dass die Mauer niedergerissen wurde - ich erinnere noch einmal an die Bilder von den tanzenden Menschen, die um die Welt gingen -, am besten zum Ausdruck bringen können. Ich freue mich sehr, dass wir so viele Unterstützer gewonnen haben, und ich glaube, dass wir gemeinsam mit dem Berliner Abgeordnetenhaus und dem Senat eine gute Lösung finden werden. Die Unterstützung der Kulturstaatsministerin ist uns gewiss. Daher bin ich sehr froh und optimistisch gestimmt. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4795 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Schmidt ({0}), Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Christa Reichard ({1}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({2}), Thilo Hoppe, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Biologische Vielfalt schützen und zur Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklung nutzen - Drucksache 15/4661 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht zur deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit im Waldsektor - Drucksache 15/4600 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dagmar Schmidt von der SPD-Fraktion. ({6})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weltgemeinschaft steht vor der Herausforderung des 21. Jahrhunderts: Armutsbekämpfung und Umweltschutz - so der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderung“ in seinem Jahresgutachten 2004. Die Entwicklung der armen Länder setzt eine wirksame Umweltpolitik voraus. Diese grundlegende Erkenntnis wird sicherlich von allen Anwesenden geteilt. Was aber bedeutet dies für unsere zukünftige Politik? Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag folgen wir dieser Erkenntnis. Wir machen deutlich: Der Schutz der biologischen Vielfalt ist nicht nur ein globales Umweltproblem; er ist eben auch ein globales Entwicklungsproblem. Wir machen damit deutlich: Armutsbekämpfung ist nur dann möglich, wenn auch beim Erhalt der biologischen Vielfalt ein Durchbruch erzielt wird. Unser Ziel ist klar: In Johannesburg vor drei Jahren hat die Weltgemeinschaft vereinbart, die Verlustrate an biologischer Vielfalt bis zum Jahr 2010 signifikant zu reduzieren. Was tun wir für die Zukunft unseres Planeten? Die Bundesrepublik leistet international einen überproportional hohen Anteil. Unsere Entwicklungszusammenarbeit genießt deshalb im Bereich des Umwelt- und Ressourcenschutzes seit vielen Jahren international ein hohes Ansehen. Das finanzielle Volumen hat bei der rotgrünen Regierung in drei Jahren eine Steigerung von rund 27 Prozent auf insgesamt 710 Millionen Euro erfahren. Noch gewaltiger ist die Steigerungsrate des deutschen Anteils bei den multilateralen Gebern. Dennoch belegen die aktuellen Daten, dass sich trotz aller Anstrengungen die Zerstörung von Ökosystemen und der Verlust an Arten in alarmierender Weise beschleunigen. Was heißt das konkret? Die Welternährungsorganisation FAO geht davon aus, dass jährlich 15 Millionen Hektar Wald vernichtet werden. Diese Verluste sind regional sehr unterschiedlich und konzentrieren sich insbesondere auf die Tropenwälder. Während in Europa die Waldfläche in den letzten zehn Jahren sogar leicht zugenommen hat, verzeichnen Afrika und Südamerika unverändert die höchsten Verluste an Naturwald. Auch der Verlust an Arten und damit an genetischen Ressourcen schreitet ungebremst voran. Täglich sterben 150 Arten aus und gehen damit unwiederbringlich verloren. Die Folgen der Zerstörung ganzer Ökosysteme sind gravierend. Klimawandel, eine Störung des Wasserhaushaltes, Wüstenbildung, Armut sowie die langfristig daraus resultierenden Migrationsströme und Ressourcenkonflikte treffen uns alle. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Mit jedem Hektar Wald, der vernichtet wird, mit jeder Pflanzenart und mit jeder Tierart, die von unserem Planeten verschwindet, wird ein Stück Zukunft verbaut. Vor diesem bedrückenden Hintergrund möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Union, für die konstruktive Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Anhörung und des vorliegenden Antrages danken. Ehrlich gesagt, war ich eine ganze Zeit lang skeptisch, ob wir in der Frage der biologischen Vielfalt auf einen gemeinsamen Nenner kommen würden. Zunächst lagen unsere Konzepte über die Rolle der Biodiversität in der Entwicklungszusammenarbeit zu weit auseinander. Auf der einen Seite stand Ihr am klassischen Naturschutzgedanken der 80er-Jahre orientierter Ansatz. Sie konzentrierten sich damit vor allem auf den Erhalt von Flora und Fauna in den Entwicklungsländern. Die Belastungen der Menschen in den Partnerländern und deren Nutzungsinteressen spielten für Sie dabei eher eine untergeordnete Rolle. Uns dagegen geht es um die Verbindung von Umweltschutz, Armutsbekämpfung und nachhaltiger Entwicklung durch die konsequente Verwirklichung der drei UN-Konventionsziele: erstens Schutz der biologischen Vielfalt, zweitens ihre nachhaltige Nutzung und drittens gerechter und ausgewogener Vorteilsausgleich zwischen Nord und Süd. Für uns heißt das konkret: Die biologische Vielfalt ist das Kapital der Armen. Der biologische, das heißt der genetische Reichtum unseres Planeten ist nicht gleichmäßig verteilt. Die Zentren der Biodiversität liegen fast immer in den Entwicklungsländern. Die nachhaltige Nutzung dieser Vielfalt bietet für unsere Partnerländer wichtige ökonomische Grundlagen. Lassen Sie mich dies anhand einiger weniger Zahlen verdeutlichen: Vom weltweiten Umsatz auf dem Pharmamarkt von rund 400 Milliarden US-Dollar werden knapp ein Drittel mit Naturstoffen oder deren Derivaten erzielt. Der Welthandel mit Heilpflanzen wird auf 800 Millionen US-Dollar im Jahr geschätzt. 42 Prozent der 25 weltweit erfolgreichsten Medikamente sind Naturstoffe oder von Naturstoffen abgeleitet. Darüber hinaus stellen natürliche Dagmar Schmidt ({0}) Ökosysteme mit ihrer biologischen Vielfalt für arme ländliche Lebensgemeinschaften und indigene Völker sowohl Supermarkt als auch Apotheke dar. Eine intakte Umwelt ist für sie existenziell. Eine fatale Armutsspirale wird in Gang gesetzt, wenn das ökologische Gleichgewicht durch erhöhten Nutzungsdruck und den Verlust von Lebensräumen erst beeinträchtigt ist. Die Entwicklungsländer haben den Wert ihres biologischen Reichtums erkannt. Das kaufmännische und technologische Wissen für die industrielle Nutzung und die Vermarktung der biologischen Vielfalt sind jedoch in den Industrieländern konzentriert. Meine Damen und Herren, die UN-Konvention über die biologische Vielfalt bietet die völkerrechtlich verbindliche Grundlage für die Schaffung eines internationalen Regimes für den Vorteilsausgleich und die Verhinderung von Biopiraterie. Wir begrüßen daher ausdrücklich die Beschlüsse des Weltgipfels von Johannesburg und der 7. Vertragsstaatenkonferenz der UN-Konvention über die biologische Vielfalt in Kuala Lumpur. Damit stehen die Fragen des Zugangs zu den genetischen Ressourcen und des gerechten Vorteilsausgleichs ganz oben auf der internationalen Agenda. Ich möchte noch zwei grundsätzliche Forderungen unseres Antrags ansprechen. Wir fordern zum einen den effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel und eine Steigerung der Synergien bei internationalen Vereinbarungen. Die Konzentration und Vernetzung im globalen Umweltschutz ist auch im Sinne der Entwicklungsländer: Ihnen fehlen häufig die Ressourcen, um im globalen Konferenzmarathon mitzuhalten und ihre Interessen wirksam einzubringen. Zum anderen möchte ich den folgenden grundsätzlichen Punkt ansprechen: Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung auf, weitere Staaten zu ermuntern, der UN-Konvention über die biologische Vielfalt beizutreten. Warum? Eigentlich ist dies eine banale Forderung angesichts der Tatsache, dass weltweit nur noch sechs Staaten fehlen, darunter Andorra und der Vatikan. Aber der sechste Staat, der die UN-Konvention über die biologische Vielfalt noch nicht unterzeichnet hat, sind die USA. Ebenso wie beim Klimaschutz steht Amerika beim globalen Schutz der biologischen Vielfalt im Abseits. Bei seiner Rede in Brüssel hat US-Präsident Bush unlängst die europäisch-amerikanische Allianz als Grundpfeiler für Frieden und Wohlstand in der Welt betont. Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung, globaler Schutz des Weltklimas und der Umwelt - das waren neue, hoffnungsvoll stimmende Töne. Mögen diesen Worten bald Taten folgen. Denn wir brauchen eine weltweite Allianz für den Erhalt der Umwelt und zur Bekämpfung der Armut, eine Allianz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, eine Allianz zwischen den lokalen, nationalen und internationalen Institutionen und Initiativen und eine Allianz zwischen Privatwirtschaft und Politik. Denn die finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hände alleine reichen nicht aus. Hier ist die Verantwortung der Unternehmen für eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Ausgestaltung der Globalisierung gefordert. Für uns gilt: Umwelt- und Entwicklungsfragen sind Zukunftsfragen der Menschheit. Sie müssen daher den gleichen Stellenwert erhalten wie Wirtschafts- und Sicherheitsaspekte. ({1}) Unter Rot-Grün hat die Bundesrepublik weltweit eine Vorreiterrolle in der Entwicklungs- und Umweltschutzpolitik eingenommen. Vor ziemlich genau einem Jahr hat Papst Johannes Paul II. dieses dem Bundespräsidenten gegenüber betont. Deutschland genießt international also ein hohes Ansehen. Unser ganzer Einsatz wird auch in Zukunft darauf gerichtet sein, diesem Lob gerecht zu bleiben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Entschuldigen Sie, dass ich die Themen so durchgehechelt bin und Ihnen kaum Gelegenheit gegeben habe, zu applaudieren. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Christa Reichard von der CDU/CSU-Fraktion.

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Menschen ist es überhaupt nicht klar: Die biologische Vielfalt, die Variabilität des Lebens in all seinen Formen, ist in vielerlei Hinsicht die Grundlage für nachhaltige Entwicklung. Die Beseitigung der Armut, die Ernährungssicherheit, die Versorgung mit Trinkwasser, der Schutz der Böden und die Gesundheitsversorgung sind allesamt unmittelbar auf die Erhaltung und Nutzung der biologischen Vielfalt der Welt angewiesen. Sie garantiert die Bereitstellung von Produkten und Leistungen, die das Wohlergehen von Mensch und Natur ermöglichen und erhalten helfen. In besonderer Weise ist die biologische Vielfalt auch für die Menschen von Bedeutung, deren Existenzgrundlage direkt von den an ihrem Wohnort verfügbaren Ressourcen abhängig ist. Das ist uns sehr wohl bewusst und uns nicht erst nach der Debatte über diesen Antrag klar geworden. Doch der Verlust von Arten und die Zerstörung von Ökosystemen beschleunigen sich in besorgniserregender Weise und bedrohen somit die natürliche Lebensgrundlage der Menschen vor allem in den Entwicklungsländern. Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist, dass sie ziemlich lautlos abläuft und ohne unmittelbar sichtbare Folgen bleibt. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Von den ursprünglichen Urwäldern der Erde existieren heute nur noch 20 Prozent. Jährlich gehen weltweit rund 15 Millionen Hektar Wald verloren. Das ist in etwa so viel wie die Flächen der Bundesländer Bayern, Hessen und Niedersachsen zusammengenommen. Diese Entwicklung ist nicht folgenlos geblieben. Mit dem Verlust dieser Flächen versiegen Flüsse und Bäche, der GrundChrista Reichard ({0}) wasserspiegel sinkt, wertvolle Naturressourcen gehen verloren, die Bodenerosion nimmt zu und der Klimawandel verstärkt sich. Das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten vollzieht sich heute, wie bereits gesagt, hundert- bis tausendmal schneller als in der Vergangenheit. Das hat also auch etwas mit unserem Agieren zu tun. Manche Experten gehen davon aus, dass pro Tag etwa 150 Arten aussterben. Ich weiß allerdings nicht, mit welcher Methode das gezählt wird. Ur- und Regenwälder beherbergen über zwei Drittel aller auf dem Land lebenden Arten, womit gerade ihnen eine besondere Bedeutung für den Arterhalt zukommt. Selbst das Aussterben einer einzelnen Tierart kann die Fähigkeit eines Ökosystems schwächen, sich wechselnden Umweltbedingungen anzupassen. Auf einen Aspekt möchte ich ganz besonders hinweisen: Für Säugetierarten auf dem Festland stellen der Verlust oder die Zerstörung von Lebensraum und nicht, wie das oft gesagt wird, ihre Nutzung durch den Menschen die größte Bedrohung dar. Im Gegenteil: In vielen Fällen kann gerade durch eine kontrollierte nachhaltige Nutzung wild lebender Arten deren Ausrottung verhindert werden. Alarmierend ist auch der Zustand der Weltmeere und Binnenseen. Hier ist in der Tat die Übernutzung durch den Menschen in Form der kommerziellen Fischerei für den Artenschwund und den Rückgang der Fischbestände verantwortlich. Zudem führt die zunehmende Meeresverschmutzung zu einer großflächigen Gefährdung und Zerstörung von wertvollen Küsten-Ökosystemen. Natürlich liegt es auch in unserer gesellschaftlichen Verantwortung, die Vielfalt der Schöpfung und die ökologische Integrität wichtiger Ökosysteme für zukünftige Generationen zu bewahren. Sie werden mir sicher zustimmen: Leider haben Appelle dieser Art in der Vergangenheit selten etwas bewirken können, vor allem in Entwicklungsländern nicht, in denen die Politiker auch andere dringende Probleme zu lösen haben. Ich möchte daher eine Lanze für die Umweltökonomie und für ihre Methoden zur monetären Bewertung der Kosten der Umweltzerstörung brechen. Dank der Umweltökonomie wissen wir heute, dass die Naturzerstörung auch ein handfestes ökonomisches Problem darstellt. Es ist ganz einfach so: Die Naturzerstörung ausgedrückt in volkswirtschaftlichen Kosten bleibt viel eher in den Köpfen der Entscheidungsträger hängen als ökologische Appelle allein. ({1}) Die ökonomische Bewertung der Biodiversität und der damit verbundenen Produkte und Leistungen hat in vielen Fällen schon geholfen, die Vernichtung bedeutender Nationalparks und Ökosysteme zu verhindern. Ich denke in diesem Zusammenhang aber auch an das große Potenzial der Regenwälder oder anderer Wildnisgebiete für Forschung, Wissenschaft und Medizin, welches uns zunehmend verloren geht. Gleiches gilt für den ökonomischen Wert von biologischen Ressourcen und Ökosystemleistungen. Ein prominentes Beispiel sind die durch Tropenwaldvernichtung verursachten Kosten bei der Klimaerwärmung. In Südostasien werden jährlich rund 5,8 Millionen Hektar Tropenwald vernichtet, ein Gebiet so groß wie die Schweiz. Allein die 1997 durch Walddegradierung provozierten Torfbrände im indonesischen Teil der Insel Borneo haben eine Kohlendioxidmenge freigesetzt, die mehr als dem Zehnfachen dessen entspricht, was in Deutschland in den letzten zehn Jahren im Rahmen der Kioto-Vereinbarung mit Milliarden von Kosten eingespart wurde. Rein finanziell betrachtet, wäre es für Deutschland also wesentlich günstiger gewesen, sich im Tropenwaldschutz in Südostasien zu engagieren, als Treibhausemissionen in Deutschland einzusparen. Ich möchte damit nicht nur sagen, dass wir ein ureigenes Interesse haben, in den Schutz der Natur zu investieren, sondern auch, dass wir uns viel intensiver mit den volkswirtschaftlichen Kosten der Natur- und Umweltzerstörung befassen müssen. ({2}) Angesichts der ohne Übertreibung als dramatisch zu bezeichnenden Bedrohung der globalen Biodiversität stehen nationale Regierungen und die internationale Entwicklungspolitik vor einer Herausforderung, der wir uns besser heute als morgen stellen. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstören. Die Arbeit der Entwicklungsministerin in diesem Sektor lässt aber leider zu wünschen übrig. Dass der Erhalt der Umwelt nicht ihr Lieblingsthema ist, ist international bekannt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Auf dem World Parks Congress in Südafrika 2003 - ein Kongress, der nur alle zehn Jahre stattfindet - kamen Experten der Welt zusammen, um über ein globales Netzwerk von Schutzgebieten zu beraten. Deutschland gehörte zu den wenigen Industrieländern, die keinen Vertreter des Entwicklungsministeriums entsendet haben. Das halte ich für peinlich. ({3}) Der schleichende Bedeutungsverlust des Sektors Natur- und Ressourcenschutz in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit muss umgehend ein Ende haben. Ich weiß gar nicht, meine Damen und Herren von der grünen Partei, was Sie eigentlich Ihren Wählern erzählen. ({4}) Unter der Unionsregierung wurde im BMZ die Tropenwaldreserve und unter dem Dach der GTZ das „Begleitprogramm Tropenökologie“ ins Leben gerufen. Die rotgrüne Regierung hat Letzteres zum Entsetzen der Experten abgeschafft und das deutsche Engagement im Tropenwaldsektor zurückgefahren. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, wurde auf Initiative der CDU/CSUFraktion letztes Jahr eine Expertenanhörung durchgeführt. Ich möchte die Äußerung eines der namhaften Experten zitieren: Gemessen an den globalen Trends ist auch der Beitrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit als viel zu gering und ineffizient beim Biodiversitätserhalt zu bewerten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Reichard, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eid?

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Reichard, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung und speziell die Kreditanstalt für Wiederaufbau, der größte Geldgeber der Friedensparks sind? Gerade heute war eine Delegation aus Südafrika - ein Mitglied dieser Delegation ist für diese Friedensparks zuständig - zu Besuch. In einem Gespräch mit der Entwicklungsministerin wurde noch einmal zugesagt, ({0}) dass wir die Erweiterung und Ausdehnung dieser Parks über die Grenzen hinweg nach Mosambik in einem weiteren Schritt unterstützen werden. Allein die Tatsache, dass die Ministerin oder die Parlamentarische Staatssekretärin auf einer Konferenz nicht anwesend ist, kann doch - ich bitte Sie, mir darin zuzustimmen - nicht als Beweis dafür gelten, dass wir nichts tun. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. ({1})

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete Eid, natürlich nehme ich das gerne zur Kenntnis. Trotzdem ist das Projekt der Friedensparks nur ein Ausschnitt dieses weltweiten Netzes. Ich begrüße es ausdrücklich, wenn wir uns daran beteiligen. Ich halte es aber nicht für ausreichend, was durch die Bundesregierung in diesem Rahmen geleistet wird. ({0}) Ich bin froh, dass wir uns auf einen interfraktionellen Antrag einigen konnten, in dem wir gemeinsam die Bundesregierung auffordern, das deutsche Engagement zum Schutz der globalen Biodiversität wieder auszuweiten. Mein besonderer Dank gilt in diesem Fall auch den Kollegen von Rot-Grün im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die uns der Sache wegen bei diesem Antrag unterstützt haben und bei dem wir eine gemeinsame Linie finden konnten. Ich möchte auf einige Forderungen des gemeinsamen Antrags eingehen, die der CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig sind. Wir fordern zum Beispiel die Bundesregierung auf, unseren biodiversitäts- und tropenwaldreichen Partnerländern folgendes Angebot zu machen: Wir sollten ihnen anbieten, sie zusätzlich zu den in Regierungsverhandlungen vereinbarten Kooperationssektoren im Bereich Schutz und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen zu unterstützen. Des Weiteren erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie endlich die entsprechenden Maßnahmen ergreift, um den Import von illegal eingeschlagenem Tropenholz nach Deutschland zu unterbinden. Zum Schutz und zur langfristigen Sicherung von Naturschutzgebieten in Entwicklungsländern sind innovative Instrumente gefragt. Deshalb fordern wir die Einrichtung und Unterstützung von Stiftungen zur Finanzierung von Schutzgebieten sowie die Beratung von Entwicklungsländern zur Förderung von kommunalen und privaten Schutzstrategien. ({1}) Wir erwarten auch, dass die Bundesregierung die Ergebnisse der 7. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über biologische Vielfalt zu Schutzgebieten umsetzt. Uns allen sollte jedoch klar sein, dass der größte Anteil der Biodiversität außerhalb von Schutzgebieten existiert. Deshalb sollten wir uns zusätzlich auf Konzepte orientieren, die geeignet sind, biologische Vielfalt auch außerhalb von Schutzgebieten zu erhalten. Schutz durch nachhaltige Nutzung, ganz im Sinne der Konvention über biologische Vielfalt, ist hier oft der erfolgreichste Ansatz. Meine Damen und Herren, bitte verstehen Sie uns nicht falsch. In vielen Fällen ist es nicht unbedingt nötig, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Vieles kann durch mehr Engagement erreicht werden. Wir erwarten zum Beispiel von der Bundesregierung, dass sie die Weltbank und die regionalen Entwicklungsbanken ermutigt, in ihren Projektplanungen den Schutz und die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt stärker zu berücksichtigen. Auch wünschen wir uns, dass der Schutz global wichtiger Naturressourcen von allen beteiligten Bundesministerien, wie zum Beispiel dem BMZ, dem Umweltministerium, dem Bildungs- und Forschungsministerium und dem Auswärtigen Amt, gleichermaßen unterstützt wird. Das ist bisher leider nicht immer der Fall. Abschließend möchte ich sagen, dass CDU und CSU in dem Antrag eine Chance sehen, den etwas in Vergessenheit geratenen Sektor Schutz der Biodiversität wieder zu beleben. Wir reichen der Regierung die Hand und bieten unsere konstruktive Unterstützung an. Es geht nicht nur um die Lebensgrundlagen künftiger Generationen, sondern auch um die Vermeidung von Krisen und Konflikten. Bereits nächste Woche treffen sich die Umweltund Entwicklungsminister der G-8-Staaten in England zu Beratungen über den globalen Umweltschutz. Das wäre ein geeigneter Anlass für die Bundesregierung, neue Akzente zu setzen. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst sagen: Auch ich finde es gut, dass es nach einigen Mühen gelungen ist, hier einen schwarzrot-grünen Antrag einzubringen. Das entspricht der Größe der globalen Herausforderung. Nun kann man sich über die Bewertung dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, streiten. Ich will zurückweisen, dass dieses Thema in Vergessenheit geraten ist oder vernachlässigt wurde. Aber richten wir den Blick nach vorne! Uns eint die Überzeugung, dass in diesem Bereich noch mehr getan werden kann und dass größere Investitionen in den Schutz der biologischen Vielfalt notwendig sind. Auf dem Weltgipfel von Johannisburg hat sich die Weltgemeinschaft zum Ziel gesetzt, die Verluste an biologischer Vielfalt bis zum Jahr 2010 stark zu reduzieren. Doch die Wahrheit sieht ganz anders aus. Das wurde schon von den Vorrednerinnen deutlich gemacht; das muss ich hier jetzt nicht wiederholen. Die Zerstörung der Ökosysteme und der Verlust von Arten gehen in einer alarmierenden Weise weiter voran. Dieser Prozess beschleunigt sich sogar noch. Was das für unsere Erde bedeutet, kann in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht ermessen werden. Alles greift ineinander. Erst jüngst hat die Tsunamikatastrophe gezeigt, dass die Zerstörung der Mangrovenwälder und Korallenriffe die Katastrophe in einigen Bereichen noch weiter verschärft hat. Dort, wo die Mangrovenwälder und Korallenriffe intakt waren, waren die Auswirkungen der Flutkatastrophe weitaus geringer. In den Entwicklungsländern ist die Anzahl der Umweltflüchtlinge schon heute höher als die Anzahl der Menschen, die infolge von Kriegen und Bürgerkriegen ihre Heimat verlassen müssen. Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist eine globale öffentliche Aufgabe. Die biologische Vielfalt ist ein Weltnaturerbe. Das aufs Spiel zu setzen ist auch aus wirtschaftlichen Gründen absurd. Dass die Abholzung des tropischen Regenwaldes ein Schnitt in die grüne Lunge unseres Planeten ist, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Jedes Schulkind weiß das. Doch die aus dieser Erkenntnis gezogenen Konsequenzen lassen noch zu wünschen übrig. Der Erhalt des Regenwaldes wird sich nur dann erreichen lassen, wenn den tropenwaldreichen Ländern durch den Schutz der ökologischen Vielfalt langfristig mehr Einnahmen entstehen und dadurch ihre kurzfristigen Interessen - schnelles Geld aufgrund von schnellen Abholzungen - in den Hintergrund treten. Dazu können wir beitragen. Wir tun das auch: durch bilaterale Projekte im Bereich des Umwelt- und Ressourcenschutzes und durch Projekte zur Sicherung der Agrobiodiversität. Ich denke zum Beispiel an Projekte der GTZ in Indien, bei denen es darum geht, pflanzengenetische Ressourcen und die Vielfalt von Reis- bzw. Getreidesorten durch verschiedene Maßnahmen - vom Aufbau von Forstverwaltungen über die Unterstützung nationaler Schutzgebietefonds bis hin zum angepassten Tourismus - zu erhalten. Nationalparkmanagement - daran erinnert uns immer der Kollege Ruck, der uns durch die Nationalparks führt - muss so angepackt werden, dass die örtliche Bevölkerung nicht als störend angesehen und ausgesperrt wird. Sie muss einbezogen werden und vom Erhalt der ökologischen Vielfalt auch einen ökonomischen Nutzen haben. Als beispielhaft empfinde ich einen Projektansatz, der uns in Bolivien vorgestellt wurde. Dort wird der indigenen einheimischen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, durch das Sammeln von wilden Kakaobohnen in einem Nationalpark Einkommen zu generieren. Aus diesen wilden Kakaobohnen wird eine ganz exquisite Schokoladensorte, eine neue Schokoladenspezialität hergestellt, die über die Fair-Trade-Schiene vermarktet wird, auch in Deutschland. Das ist ein Projekt, das im wahrsten Sinne des Wortes mehr als eine Schokoladenseite hat. Was die deutsche bilaterale Entwicklungszusammenarbeit betrifft, sind wir auf einem guten Weg. Die Zusagen Deutschlands im bilateralen Bereich - Stichworte FZ und TZ - wurden von circa 558 Millionen Euro im Jahr 2000 auf circa 710 Millionen Euro im Jahr 2003 gesteigert. Allen, auch negativen Aussagen zum Trotz ist Deutschland einer der größten Geber im Bereich des Tropenwaldschutzes. Angesichts der großen Herausforderung ist aber mehr nötig. Wir Grünen erwarten, dass die Mittel für diesen Bereich gesteigert werden. Sie haben die Möglichkeit angesprochen, den Schwerpunkt- und Partnerländern zusätzlich zu den bereits vereinbarten Sektoren weitere Kooperationsangebote im Bereich des Tropenwaldschutzes, im Bereich des Erhaltes der Biodiversität zu machen. Das tragen wir ausdrücklich mit. Dafür braucht man nicht nur mehr Engagement, sondern tatsächlich auch mehr Geld. Wir Grünen werden uns dafür stark machen, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit deutlich angehoben werden. Bei uns gibt es - das ist besonders wichtig einen Schulterschluss mit unseren Haushältern. Vorgestern Abend hat unsere Fraktion einstimmig, unter Beteiligung aller Grünen, beschlossen, dass es einen festen Fahrplan geben soll: 0,7 Prozent bis 2014. Mit dieser Vorgabe gehen wir in die Gespräche mit dem Koalitionspartner. Parallel dazu erwarten wir, dass auch andere bilaterale Entwicklungsinstitutionen wie die Weltbank und die regionalen Entwicklungsbanken zum Erhalt der biologischen Vielfalt mehr beitragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hoppe, denken Sie bitte an die Zeit.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme jetzt schnell zum Schluss. Ich muss mir einige Dinge schenken, die andere Kolleginnen und Kollegen schon gesagt haben. Einen entscheidenden Faktor möchte ich noch ansprechen. Bei der Weltbank wollen einige Akteure - das scheint ein Trend zu sein - biologische Standards aufweichen. Ich finde es sehr schön, dass wir diesem Trend gemeinsam widerstehen wollen. Die biologischen Standards der Weltbank müssen nicht aufgeweicht, sondern verschärft werden. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Heinrich, FDPFraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit im Waldsektor ist eine sehr gute Grundlage für zukünftige Entwicklungspolitik und rückt den Wald in seiner großen Bedeutung in das richtige Licht und in den Vordergrund. Trotz allen politischen Streits im Bundestag ist mit Genugtuung zu registrieren, dass unsere Beamten einen lesenswerten Bericht geschrieben haben, den ich allen Interessierten zur Lektüre nur wärmstens empfehlen kann. Trotz aller Gemeinsamkeiten gibt es aber einiges, was uns trennt. Ich möchte einige Punkte aufführen, die begründen, warum wir den gemeinsamen Antrag von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen noch nicht unterstützen. Lassen Sie mich zuerst aber einige grundsätzliche Dinge nennen. Neben den geläufigen Funktionen des Waldes, die wir alle kennen und jeden Tag mehr oder weniger herunterbeten, wird häufig vergessen, die Funktion der CO2-Senke anzusprechen. Diese Funktion versetzt die Entwicklungsländer in eine gute Position, durch den Handel mit Emissionszertifikaten die einheimische Wirtschaft zu stärken und gleichzeitig interessante zusätzliche Aufforstungsprojekte auf den Weg zu bringen. Zu überlegen wäre ebenfalls, ob aus diesen Gründen die KfW nicht eine verstärkte Förderung von Neuaufforstungen ins Auge fassen sollte, ({0}) und dies nicht nur aufgrund des Handels mit Zertifikaten, sondern auch, um in kritischen Regionen einer weiteren Versteppung und Verkarstung entgegenzuwirken. Dass der Wald nur durch eine nachhaltige Bewirtschaftung, und zwar im Sinne der Agenda 21, seine volle Funktion erfüllen kann, ist unbestritten. Die Agenda enthält drei Säulen, die im Hinblick auf die Nachhaltigkeit gleichberechtigt nebeneinander stehen: die wirtschaftlichen Ziele, die sozialen Ziele und die ökologischen Ziele. Dem widerspricht allerdings die dritte Forderung des Antrags auf Drucksache 15/4661 eindeutig. Hier wird gefordert, dass die bestehenden Zielkonflikte zwischen internationalen Handelsvereinbarungen und Umweltkonventionen zulasten Ersterer gelöst werden sollen. Das ist eine einseitige Bevorzugung der ökologischen Seite. Hier müssen wir eine Korrektur anbringen. ({1}) Dies widerspricht auch den Interessen der Entwicklungsländer und damit dem partizipatorischen Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit. ({2}) Die Forderungen 11 und 12 des Antrages widersprechen diesem Ansatz ebenfalls. Wir können und wollen den HIPC-Ländern nicht vorschreiben, die durch Entschuldung frei werdenden Mittel zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen einzusetzen. Den Ländern muss es selbst überlassen bleiben, wie sie ihre Armutsstrategien gestalten. Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Forderung 22, in der nur von FSC als Zertifizierungssystem die Rede ist. Ich rufe in Erinnerung: Es gibt acht unabhängige Systeme und die FAO fordert zu Recht, alle acht zu berücksichtigen. Die Politik täte gut daran, sich aus den marktwirtschaftlichen Entscheidungen der Entwicklungsländer herauszuhalten. Es muss den Entwicklungsländern überlassen bleiben, die ihnen am sinnvollsten erscheinenden Zertifizierungssysteme einzusetzen. Die FDP jedenfalls lehnt jede einseitige Bevorzugung eines Zertifizierungssystems rundweg ab. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Heinrich, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist der letzte Satz. Wir beraten heute erstmals über den vorliegenden Antrag. Wenn wir die von mir angesprochenen Punkte noch ändern können, dann gibt es eine gute Chance, einen gemeinsamen Antrag mit der FDP auf den Weg zu bringen. Wir wollen jedenfalls eine sehr breit angelegte Zusammenarbeit. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4661 und 15/4600 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2003 ({0}) - Drucksache 15/4400 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Ditmar Staffelt das Wort.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen den Rüstungsexportbericht vorstellen, den die Bundesregierung nunmehr zum fünften Mal vorlegt. Seit dem ersten Bericht 1999 ist das Berichtsformat ständig weiterentwickelt worden. Ich glaube, man kann mit Recht sagen, dass es auf breite Zustimmung gestoßen ist und sich auch dem internationalen Vergleich sehr wohl stellen kann. Auch für 2003 haben wir eine weitere Verbesserung der Berichtspraxis erreicht. Der Bericht ist nunmehr noch transparenter, als er in der Vergangenheit war. Im Abschnitt über die erteilten Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter wurde erstmals der Anteil der Genehmigungen, die sich auf Kriegswaffen beziehen, offen gelegt. Vorbild war hier der schwedische Rüstungsexportbericht. Dem Vorschlag einer Nichtregierungsorganisation folgend, wurde der Abschnitt über die tatsächlichen Ausfuhren von Kriegswaffen ergänzt. Dort wird nunmehr über alle Empfängerländer statt wie bisher nur über die 20 wichtigsten berichtet. Dem eigentlichen Bericht vorangestellt wurde auch diesmal eine ausführliche Schilderung der deutschen Exportkontrolle für Rüstungsgüter und der wichtigsten Entscheidungsgrundlagen. Auch für zukünftige Berichte werden wir weiterhin Anregungen zur Weiterentwicklung prüfen. Wir unterstützen im Übrigen die Bestrebungen zu einer Harmonisierung des Berichtswesens innerhalb der Europäischen Union. Den Kern des Berichts bildet die Darstellung der rechtlichen und politischen Entscheidungsgrundlagen für die Rüstungsexportpolitik. Diese Darstellung wird durch umfangreiches Zahlenmaterial insbesondere in der Anlage 5 vervollständigt, die lückenlos über alle erteilten Ausfuhrgenehmigungen Auskunft gibt. Ein besonderer Schwerpunkt der Berichterstattung lag wiederum in den Genehmigungen für die Ausfuhr von Kleinwaffen. Das hierfür gewählte Berichtsformat - die Auflistung aller Drittländer, für die Genehmigungen für Kleinwaffen und Munition erteilt wurden, samt Stückzahl, Wert und Waffenart - wurde erstmals im Vorjahr praktiziert und fand ebenfalls ausdrückliche internationale Anerkennung. ({0}) Meine Damen und Herren, diese Schwerpunktsetzung spiegelt die besondere Aufmerksamkeit wider, die die Bundesregierung dieser Waffenkategorie beimisst. Deutschland setzt sich zusammen mit den europäischen Partnern für eine strikte Kontrolle von Kleinwaffenausfuhren ein. Es gilt, einer unkontrollierten Verbreitung derartiger Waffen Einhalt zu gebieten. ({1}) Der Anteil der Rüstungsexporte an den deutschen Gesamtausfuhren ist nach wie vor sehr gering. Bei Kriegswaffen liegen statistische Daten über die tatsächlich erfolgten Ausfuhren vor. Sie machten im Jahre 2003 rund 0,2 Prozent der deutschen Gesamtausfuhren aus. Der Gesamtwert aller ausgeführten Kriegswaffen lag bei 1,3 Milliarden Euro. Gegenüber dem sehr geringen Vorjahreswert bedeutet dies allerdings einen Anstieg. Die Gründe hierfür sind aber sehr plausibel zu erläutern. Im Jahre 2003 wurden Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von 4,9 Milliarden Euro erteilt. Das sind 1,6 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Mehr als zwei Drittel gingen allerdings in EU-, NATO- und NATOgleichgestellte Länder. Nur 33 Prozent entfallen auf so genannte andere Länder, also Drittländer. Für die Kategorie der Kleinwaffen ist der Gesamtwert im Jahre 2003 deutlich auf 53 Millionen Euro zurückgegangen. Hiervon entfallen rund 84 Prozent auf EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder. Die Steigerungen bei den Genehmigungswerten für alle Rüstungsgüter sind durch einige Einzelentscheidungen zu erklären. Hier sind zum einen insbesondere die Korvetten für Südafrika und Malaysia hervorzuheben, für deren Auslieferung es einen außerordentlich guten Grund gab, nämlich die internationale Sicherung der Wasserwege der durch Piraterie bedrohten Gewässer in diesen Regionen, und zum anderen auch die - ich denke, von diesem Hause sehr wohl unterstützte - leihweise Überlassung von zwei Flugabwehrraketensystemen an Israel. Ungeachtet dieser wertmäßig herausragenden Entscheidungen für Drittländer entfallen mehr als zwei Drittel des Gesamtwerts der erteilten Ausfuhrgenehmigungen auf EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder. Diese Zahlen und die dahinter stehenden Fälle zeigen aus meiner Sicht, dass die Bundesregierung gegenüber Drittländern eine verantwortungsbewusste Politik mit Augenmaß betreibt. Genehmigungen werden auf der Grundlage der politischen Grundsätze der Bundesregierung für Rüstungsgüterexporte erteilt. Dabei werden alle Umstände des Falles, insbesondere auch die innere Lage im Empfängerland einschließlich der dortigen Menschenrechtssituation, berücksichtigt. Bei Kriegswaffen muss vor einer Genehmigungserteilung darüber hinaus festgestellt werden, dass die Ausfuhr unseren außen- und sicherheitspolitischen Interessen entspricht. Meine Damen und Herren, ich darf an dieser Stelle wohl sagen, dass wir Rüstungsexportpolitik seitens dieser Bundesregierung mit Zurückhaltung und Augenmaß betreiben. ({2}) Dies wird auch weiterhin Gegenstand unseres politischen Handelns sein. In diesem Rahmen haben wir auch gegenüber anderen Bundesregierungen ganz erfolgreich und ganz herausragend eine neue Transparenz und Nachvollziehbarkeit unserer Politik realisiert. Danke. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Erich Fritz von der CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe verbliebene Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung glänzt gern mit deutschen Erfolgen in der Exportpolitik. Im Jahreswirtschaftsbericht rühmt sie sich ihrer Exporterfolge, die Deutschland 2003 den Titel des Exportweltmeisters eingebracht haben und es voraussichtlich 2004 wieder tun werden. Auch Panzer und Gewehre sind deutsche Exportschlager. Die deutschen Kriegswaffenausfuhren haben 2003 mit 1,3 Milliarden Euro - viermal so viel wie 2002 - einen neuen Höchststand erreicht. Auch die Genehmigungen für Rüstungsexporte schnellten in die Höhe. Während 2002 Genehmigungen für Rüstungsexporte in Höhe von rund 3,3 Milliarden Euro erteilt wurden, waren es 2003 mit 4,9 Milliarden Euro fast 50 Prozent mehr als im Vorjahr. So viel zu der restriktiven Politik, die der Staatssekretär gerade vorgestellt hat. ({0}) Diese Entwicklung steht in deutlichem Widerspruch zu dem, Herr Staffelt, was Ihr Kollege Gerd Andres letztes Jahr in dieser Debatte, die etwa um die gleiche Zeit stattfand, gesagt hat. Er sagte: Auch in Zukunft wird die Bundesregierung ihre mit Zurückhaltung und Augenmaß betriebene Rüstungsexportpolitik fortsetzen. Deutsche Waffen - Panzer, Hubschrauber, Schiffe waren 2003 bestimmt für die USA, Griechenland, Malaysia, die Türkei und Südafrika. Nach dem Stockholmer SIPRI ist Deutschland von Rang 5 auf Platz 4 der Hitliste der Rüstungsexporteure geklettert. Ein beeindruckender Erfolg rot-grüner Politik, meine Damen und Herren! Bemerkenswert sind die in 2003 erneut gestiegenen Lieferungen in Entwicklungsländer. Etwa ein Viertel des Gesamtwertes bei den genehmigten Rüstungsausfuhren entfällt auf Staaten, die der Entwicklungshilfeausschuss der OECD als Empfänger offizieller Entwicklungshilfe erfasst. Die Bundesregierung spricht dagegen von einem Ausfuhranteil in Entwicklungsländer von nur 12 Prozent und unterläuft - das ist zumindest die berechtigte Kritik der Kirchen in Deutschland - international vereinbarte Kriterien über die Definition von klassischen Entwicklungsländern. Das Schönen der Statistik gehört nun auch in diesem Politikbereich zum Handwerkszeug der Bundesregierung. Ausfuhren erfolgten auch 2003 wieder in Spannungsgebiete wie Afghanistan, Irak und Nigeria. Besonders deutlich ist der Anstieg der Lieferungen an Indonesien. Dabei gibt es weder Frieden in Aceh noch Versöhnung. Darüber müsste man doch diskutieren. Besorgniserregend ist auch der gestiegene Export von Kleinwaffen und Munition. Ich weiß gar nicht, wie Sie zu der Aussage kommen, er sei geringer geworden, Herr Staffelt. Selbst Mitglieder der Koalitionsfraktionen, die Kollegen Erler und Nachtwei, haben das kritisiert. Um Kritik aus den eigenen Reihen scheinen sich aber die Mitglieder des Bundessicherheitsrates nicht ernsthaft zu scheren. Ich denke beispielsweise an die Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Saudi-Arabien, deren Wert trotz Kritik aus den Reihen der Grünen 2003 fast doppelt so hoch wie im Jahr davor lag, oder an die Rüstungsexporte an die Vereinigten Arabischen Emirate. Ihr Wert betrug im Jahr 2003 49,2 Millionen Euro. Das geht auch künftig munter so weiter. Schließlich hat der Bundeskanzler gerade die Lieferung von 32 Fuchs-Spürpanzern zugesagt. Grüne Kritik an der Lieferung, auch hier vom Kollegen Nachtwei, angesichts der Nichtratifizierung wichtiger Rüstungskontrollverträge durch die Vereinigten Arabischen Emirate - immerhin ein Maßstab, den man berechtigterweise heranziehen kann; ich denke an das Ottawa-Übereinkommen oder das Biowaffenübereinkommen - schert die Regierung nicht. ({1}) - Sie kommen gleich dran. Der Berichtszeitraum, für den Herr Staffelt gerade die Veränderung der Rüstungsexporte dargestellt hat, liegt wiederum zwölf Monate zurück. Das ist wirklich nicht europäischer Standard, Herr Staffelt. In Großbritannien wird vierteljährlich jeweils im Nachhinein berichtet. Es geht also noch besser. Mangelnde Zeitnähe, lückenhafte Angaben über Art, Stückzahlen und vor allen Dingen Endempfänger zeichnen den Bericht aus. Das kritisiert übrigens auch die Parteivorsitzende der Grünen, Frau Roth. ({2}) Meine Damen und Herren, Rot-Grün praktizieren politisch das - das ist das Ergebnis des Studiums dieses Berichts -, was sie bis 1998 aufs Heftigste kritisiert haben. ({3}) Ja, Sie sind sogar, wenn man sich die Zahlen anschaut, „besser“ als von der Union und der FDP geführte Regierungen. Die Einzelausfuhrgenehmigungen erreichen einen Wert, der zuletzt 1996 erzielt wurde, als die ganzen NVA-Bestände verramscht wurden und SIPRI diese alle mit Neupreisen ansetzte. Wie schnell sich die Zeiten ändern und wie schnell Realpolitik und Pragmatismus rot-grüne Maximen verdrängen, ist doch erstaunlich. In der „Financial Times Deutschland“ vom 27. Mai letzten Jahres wird der Kollege Weigel zitiert. Eine weniger restriktive Politik gegenüber etwa der Türkei oder Ägypten könne womöglich mehr erreichen. „Außenpolitisch schafft Rüstungszusammenarbeit Bindungen und Einflussnahme …“ Man hat Rüstungsexportpolitik jetzt als Teil der Außenpolitik erkannt. Gernot Erler wird in einem „Spiegel“-Artikel vom Oktober 2004 mit den Worten zitiert, de facto würde sich niemand um die Endverbleibsklauseln scheren, eine systematische Kontrolle gebe es nicht. Herr Kollege Erler, ich gebe Ihnen Recht. Aber schon damals, als Sie das festgestellt haben, haben wir gesagt, das sei im Binnenmarkt ein schwieriges Unterfangen und erfordere einen Aufwand, den vermutlich keine Regierung leisten kann. Es muss also in jedem Einzelfall abgewogen werden. Anders geht es nicht. Interessen müssen beim Namen genannt werden, Grundsätze muss man ernst nehmen. Was hier vorgetragen worden ist, ist schon ein wenig scheinheilig. Blickt man nach vorne und sieht man sich die neuen Pläne der rot-grünen Bundesregierung für Rüstungsgeschäfte an, stellt man fest, dass es eine Reihe von Zusagen gibt. Kernnormen deutscher Rüstungsexportpolitik geraten damit auch in Zukunft regelmäßig in Konflikt. Das ist abzusehen. Denken Sie an die weitere Lieferung von Atom-U-Booten der Dolphin-Klasse an Israel. Es geht offensichtlich überhaupt nicht mehr um die Frage, ob umgerüstet wird. ({4}) - Natürlich haben Sie Recht, Herr Kollege. Ich meine die Lieferung von U-Booten; ({5}) ich habe den Begriff Atom schon im Kopf gehabt. - Dabei wird doch von Israel gar nicht mehr bestritten, dass die Abschussvorrichtungen eben für atomwaffenfähige Trägersysteme umgerüstet wurden. Die israelische Zeitung „Ma’ariv“ schreibt, die Bundesregierung habe ihren Widerstand gegen eine mögliche Umrüstung der Boote aufgegeben ({6}) - sie schreibt es; ich zitiere nur -, weil sie plane, künftig eine aggressivere Rüstungsexportpolitik zu verfolgen. Das ist, finde ich, eine klare Erkenntnis. Der Bundeskanzler belegt ziemlich regelmäßig, dass es in diese Richtung geht. Es gibt die Genehmigung der Schützenpanzer für den Irak. Darüber kann man in anderem Zusammenhang durchaus sprechen. Aber es muss auch erwähnt werden, dass es möglicherweise Lieferungen von Leo-II-Panzern an die Türkei gibt. Dass die Unterstützung der Annährung der Türkei an die EU durch Rot-Grün ausgerechnet bei der Modernisierung der Streitkräfte anfängt, verwundert mich schon sehr. Wenn ich daran denke, wie dort in den vergangenen Tagen Demonstranten niedergeprügelt wurden, und mir vorstelle, es könnte zu ernsthaften Auseinandersetzungen in der Türkei kommen, dann komme ich zu dem Schluss, dass die Frage des Umgangs mit Rüstungsexporten in dieses Land heute nicht anders als vor zehn Jahren beantwortet werden kann. ({7}) Meine Damen und Herren, die Entscheidungen und Diskussionen der letzten Monate zeigen ganz deutlich: Stringenz und Logik sind in der rot-grünen Rüstungsexportpolitik nicht zu Hause. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das, was Herr Schlauch sich vor nicht allzu langer Zeit geleistet hat, indem er Auskünfte einfach mit dem Hinweis verweigerte, er sei schließlich nicht im Bundessicherheitsrat. Das ist ziemlich prinzipienlos. Das gilt auch für die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China. Der Bundeskanzler ignoriert das Votum des Bundestages völlig; es ist ihm schnurzpiepe. ({8}) Das Europäische Parlament hat sich demgegenüber gerade für die Beibehaltung des Waffenembargos ausgesprochen. In diesen Tagen ist in China über das Antisezessionsgesetz beraten worden. Der Bundeskanzler ignoriert auch, dass Taiwan jetzt offen mit Krieg gedroht wird für den Fall, dass es sich nicht wohl verhält. Selbst grüne Kollegen haben kürzlich darauf hingewiesen, dass Waffenlieferungen an China die Sicherheitsinteressen der USA als Schutzmacht Taiwans direkt betreffen. ({9}) Das alles scheint den Bundeskanzler aber nicht groß zu berühren. Das Argument der Bundesregierung, ein gemeinsamer EU-Verhaltenskodex für Waffenexporte könne das Waffenembargo sozusagen ersetzen, halte ich für eine abenteuerliche Behauptung. ({10}) - Moment! Aus Ihren Reihen ist behauptet worden, man könne das Embargo ruhig aufheben, man habe ja den europäischen Kodex. ({11}) Sie wissen aber, dass überhaupt nicht entschieden ist, ob dieser Verhaltenskodex nun den Charakter einer rechtsunverbindlichen Richtschnur für die nationale Politik behalten wird, den er jetzt hat, oder ob er tatsächlich eine verbindliche EU-Richtlinie wird. Wenn Sie sich die Äußerungen in Frankreich und Großbritannien ansehen, stellen Sie fest, dass überhaupt nichts darauf hinweist, dass es in kurzer Zeit gelingen kann, aus dem Kodex eine solche verbindliche Richtlinie zu machen. Dafür sind auch die Interessen viel zu unterschiedlich. Sie wissen genau, dass die Franzosen ihre Fühler schon nach China ausgestreckt haben und dass sie die Ersten sein werden, die bei einer Aufhebung des Embargos bereit sein werden, in großem Umfang zu liefern. Das kann eigentlich nicht in unserem Sinne sein. Gerade wenn wir die Zusammenarbeit mit China intensivieren wollen, dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass sich die Menschenrechtssituation dort nicht verbessert hat und dass das Verhältnis zu Taiwan eher schwieriger werden dürfte. Setzen Sie sich also für eine echte Harmonisierung ein! Die gegenwärtige Bearbeitung des Kodex bietet vielleicht Chancen dazu. Ich hoffe, dass es solche Chancen gibt. Verlässlichkeit auf europäischer Ebene ist gefragt, damit Rüstungsexportpolitik als Teil einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll gestaltet werden kann, und zwar im europäischen Interesse und weniger von den Interessen geleitet, die jetzt vorherrschen, zum Beispiel aufgrund von Exportdruck durch Überkapazitäten, die es nach wie vor in einigen Ländern gibt. Wir hoffen, dass es auf EU-Ebene zu einer baldigen Einigung kommen wird. Sollte der Verhaltenskodex Rechtsverbindlichkeit erlangen, wäre das durchaus ein wichtiger Schritt. Dann allerdings bräuchten wir auch keine nationalen Sonderwege mehr zu gehen, die ja, wie sich nicht nur am Beispiel der Endverbleibsregelung zeigt, nicht immer sinnvoll sind. Vor allen Dingen aber sind solche Reservatrechte in Zukunft dann nicht mehr sinnvoll, wenn es tatsächlich gelingen sollte, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben. Dann muss auch dieser Bereich deutlich einheitlich geregelt sein. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Fritz, Sie haben einige Beispiele genannt, die zeigen, warum Rüstungsexporte immer wieder besonders heiße Eisen sind. Gestatten Sie mir aber zunächst zwei Klarstellungen. Erste Klarstellung. Solange es Streitkräfte gibt, wird Ausrüstung benötigt. Aber Ausrüstung gibt es nicht ohne Rüstungsproduktion. Da sich kein Land eine autarke Rüstungsproduktion leisten kann, gibt es grundsätzlich einen Handel mit Rüstungsgütern. Zugleich aber sind Waffen und Rüstungsgüter keine Waren wie andere. Sie haben erhebliche sicherheitspolitische und friedenspolitische Bedeutung und Brisanz. Deswegen gibt es Rüstungsexportgesetze und die Rüstungsexportrichtlinie. Zweite Klarstellung. Die Entscheidungsbefugnis über Rüstungsexporte liegt in Deutschland allein in der Hand der Exekutive. Diese Entscheidungen unterliegen einer sehr großen Geheimhaltung. Das Parlament kann die Rüstungsexporte nur im Nachhinein bewerten. Darin liegt ein Unterschied zu etlichen Verbündeten, in deren Ländern im Vorhinein eine gewisse Mitkontrolle stattfindet. Der Exportbericht 2003 zeigt: Im Jahr 2003 nahm der Umfang der deutschen Rüstungsexporte erheblich zu. Das Genehmigungsvolumen wuchs um 50 Prozent auf 4,9 Milliarden Euro. Der Wert der tatsächlichen Ausfuhren von Kriegswaffen stieg von 318 Millionen auf 1,3 Milliarden Euro. ({0}) - Richtig. Solche pauschalen Zahlen sind aber nur begrenzt aussagefähig. Entscheidend ist vor allem die Aussage, in welche Länder welche Rüstungsgüter und Waffen exportiert wurden. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Anstieg im Jahre 2003 zu 85 Prozent durch drei Sonderfaktoren verursacht wurde: Es wurden jeweils zwei Korvetten an Malaysia - die Gründe für diese Lieferung wurden schon genannt - und an Südafrika geliefert und es wurde ferner Bundeswehrmaterial an Verbündete abgegeben. Man kann feststellen: Insgesamt gab es eine Zurückhaltung bei deutschen Kriegswaffenexporten in Drittländer. Es ist ausdrücklich festzustellen, dass es im Jahr 2003 keine Kriegswaffenexporte aus der Bundesrepublik in arme Entwicklungsländer gegeben hat. Neben den Kriegswaffen gibt es noch den Bereich der sonstigen Rüstungsgüter, zum Beispiel Ersatzteile für Munitionsfabriken, die in den 80er-Jahren geliefert wurden. Hier greift das Außenwirtschaftsgesetz, das erheblich weniger restriktiv ist und in dem nur schwer zu beschränkende Genehmigungsansprüche enthalten sind. Ein solches Entgegenkommen gegenüber Produzenten von so genannten sonstigen Rüstungsgütern gibt es in Europa übrigens nur noch in Österreich. Wegen der Sensibilität vieler sonstiger Rüstungsgüter sind die Abschaffung des grundsätzlichen Genehmigungsanspruchs und die Anpassung an die europäische Regel angesagt. ({1}) Kritisch bewerten wir etliche Rüstungsexporte in einige Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Asiens. Hier ist längst nicht immer erkennbar, dass ein Missbrauch hinsichtlich systematischer Menschenrechtsverletzung und Förderung von Spannungen ausgeschlossen werden kann. Es ist auch längst nicht immer erkennbar, worin das in den Rüstungsexportrichtlinien geforderte besondere außen- und sicherheitspolitische Interesse Deutschlands besteht. ({2}) Wenn die Lieferung an Drittländer begründet werden müsste, wäre das ein großer Fortschritt hinsichtlich Transparenz und Kontrolle. Die Begründungspflicht für Rüstungsexporte wird zum Beispiel von den Kirchen ausdrücklich gefordert. Bei Kleinwaffen ist die Differenzierung nach Stückzahl und Waffenart in dem vorliegenden Bericht ein großer Fortschritt hinsichtlich der Transparenz. Die reale Entwicklung ist beunruhigend. Kleinwaffen werden nicht selten an Staaten geliefert, bei denen ich erhebliche Zweifel an einem sicheren Endverbleib habe. Hier beWinfried Nachtwei steht die akute Gefahr, dass die restriktiven Exportkriterien unter dem Anspruch „Bekämpfung des internationalen Terrorismus“ aufgeweicht werden. Hier ist ein Gegensteuern notwendig. ({3}) Im Jahr 2003 führte die Bundesregierung beim Export von Kleinwaffen den wichtigen Grundsatz „Neu für alt“ ein, um dem besonderen Risiko von Überschusswaffen entgegenzuwirken. Hierbei hat sich herausgestellt, dass dieser Grundsatz nicht auf freiwilliger Grundlage umgesetzt wird. In diesem Bereich sollten wir offensichtlich zu einer verbindlichen Regelung kommen. Eine restriktive Rüstungsexportpolitik ist ein Eckpfeiler einer vorbeugenden, kollektiven und damit realistischen Sicherheitspolitik. Eine solche Rüstungsexportpolitik erfordert eine wirksamere parlamentarische Kontrolle. Sie benötigt ein systematisches Lernen von den Erfahrungen anderer Verbündeter. Sie braucht nicht zuletzt die kritische Begleitung der Zivilgesellschaft. Auch wenn die Bundesregierung und Rot-Grün über die alljährliche Stellungnahme der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung zum Rüstungsexportbericht nicht erfreut sein können

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Denken Sie bitte an die Zeit!

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- ich komme sofort zum Schluss -, hilfreich ist diese zivilgesellschaftliche Kontrolle dennoch. Dafür danken wir den Autoren dieser Stellungnahme. Guten Abend. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung macht eines deutlich: Deutsche Hightechrüstung entwickelt sich unter Rot-Grün zu einem Exportschlager. In der Tat, deutsche Rüstungsgüter sind überall in der Welt hoch angesehen und begehrt. Dennoch ist und bleibt die entscheidende Frage der Rüstungsexportpolitik: Wohin, also an wen und in welche Länder, werden Rüstungsgüter geliefert? Es ist schon erstaunlich, welche Tendenzen sich unter Rot-Grün beim Verkauf deutscher Waffen zeigen. Wir erinnern uns: Die rot-grüne Bundesregierung trat 1998 damit an, Rüstungsexporte grundsätzlich zu beschränken. Die Wahrheit ist eine andere. ({0}) Ohne mit der Wimper zu zucken, werden deutsche Kleinwaffen auch an problematische Staaten geliefert. Ich denke zum Beispiel an Ägypten, Saudi-Arabien, Malaysia, Thailand und Mexiko. Menschenrechtsverletzungen im Empfängerland scheinen für Rot-Grün kein Hinderungsgrund zu sein. Nehmen wir China. Der Bundeskanzler möchte das EU-Waffenembargo gegenüber China aufheben. ({1}) Die Bundesregierung behauptet zwar, hierbei gehe es gar nicht um Rüstungslieferungen nach China, sondern lediglich um ein Signal des Goodwills gegenüber Peking. Ich frage mich aber, was man der chinesischen Führung überhaupt signalisieren will. Will man ihr allen Ernstes ein Gütesiegel für ihre Menschenrechts-, ihre Tibet- und ihre Taiwanpolitik ausstellen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, heute auf den Tag genau vor 46 Jahren haben chinesische Soldaten einen Aufstand der Tibeter blutig niedergeschlagen und bis heute findet dort Unterdrückung statt. Ich sage Ihnen hier und heute klipp und klar: Eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China wird es mit der FDP nicht geben. Die französische Verteidigungsministerin begründet die Aufhebung des Embargos übrigens etwas unverblümter als Herr Schröder. Sie sagt: Besser wir Europäer liefern den Chinesen die erwünschten Rüstungsgüter, als dass sie diese in diesem sensiblen Hightechbereich selbst entwickeln. - Liebe Freunde von Rot-Grün, wer garantiert denn, dass die Chinesen im Falle der Aufhebung des Waffenembargos die in Deutschland gekauften Hightechwaffen nicht in kürzester Zeit kopieren und dann selber produzieren? Der Bundeskanzler hat zahlreiche Rüstungsaufträge von seiner Reise in die Golfstaaten mitgebracht. Dabei sollte er sich fragen, wozu die Golfstaaten diese Rüstungsgüter überhaupt brauchen. Wir alle wissen, dass die Regime am Golf zu den letzten Bastionen des Absolutismus gehören und Demokratie dort unbekannt ist. Wir hoffen, dass die arabische Welt vor einem Modernisierungsschub steht, der sich dann allerdings ganz sicher auch gegen die absolutistischen Regime richten wird. ({2}) Ist es in dieser Situation klug und richtig, ausgerechnet diese Regime, die von außen überhaupt keine Bedrohung haben, mit modernen Rüstungsgütern auszustatten? Mir scheint, dem Bundeskanzler ist derzeit nur noch wichtig, dass der Rubel rollt. Jedoch kann eine solch unsensible Waffenexportpolitik schnell zu einem russischen Roulette werden. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Bericht der Bundesregierung, der den Grünen eigentlich richtig wehtun müsste. Es geht um deutsche Rüstungsexporte. Die Bilanz ist ernüchternd. Das Geschäft mit dem Tod boomt. ({0}) Friedens- und Menschenrechtsorganisationen haben erneut hochgerechnet, mit dem Ergebnis: Die deutschen Rüstungsexporte nehmen Jahr für Jahr zu. Die PDS im Bundestag hält das für grundfalsch und auch für gefährlich. ({1}) Übrigens: Selbst in Krisengebiete - darüber haben die Kollegen schon gesprochen - werden Waffen und Kriegsgüter geliefert, was SPD und Grüne früher ausdrücklich verhindern wollten. Aber auch diese Grundsätze sind offensichtlich passé. Ich habe sehr wohl vernommen, welche geschäftigen Botschaften von Bundeskanzler Schröder bei seiner jüngsten Reise durch den arabischen Raum ausgegangen sind: Die Rüstungsexporte sollen weiter zunehmen. Damit verliert auch der jährliche Bericht über die Rüstungsexporte seinen ursprünglichen politischen Sinn; denn ursprünglich sollten Rüstungsgeschäfte transparenter werden, um sie einzuschränken. Daraus ist aber nichts geworden. Worum es dabei vorrangig geht, verrät übrigens ein Zitat. Es stammt nicht etwa aus einem altlinken Lehrbuch, sondern vom Vorsitzenden der Diehl-Stiftung, einem Konzerngeflecht im weltweiten Rüstungsgeschäft. Dr. Diehl sagte schon im Jahre 2000: Die Regierung muss im Blick behalten, dass Unternehmen Rendite erzielen müssen, und dies geht bei Rüstungsgütern nur selten, wenn man sich allein auf die Belieferung der nationalen Streitkräfte beschränkt. … Deutschland hat ein großes Interesse an … dem Ausbau einer gemeinsamen europäischen Hochtechnologie- und rüstungsindustriellen Basis. Dafür müsse sich Deutschland mit Gewicht einbringen, so Diehl. Die Bundesregierung hat diesen Appell offenbar sehr wohl vernommen. Man könnte auch sagen: Sie beugt sich dem Druck der Rüstungslobby. ({2}) Im Interesse Deutschlands, wie Dr. Diehl behauptet, ist das natürlich überhaupt nicht. Es geht, wie er selbst einräumt, schlicht um Rendite und Profit. Sie können das für wichtig halten. Die PDS tut das nicht. Sie sollten dann allerdings auch so ehrlich sein und die eigene Rüstungspolitik nicht auch noch mit friedensbewegten oder menschenrechtlichen Floskeln verhüllen. Das wird Ihnen ohnehin immer weniger abgenommen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Christian Müller von der SPDFraktion das Wort.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht und seine fortentwickelten Bestandteile wurden ausführlich beleuchtet. Besonders zu begrüßen ist, dass auch zur Information der Öffentlichkeit das Exportkontrollsystem für Rüstungsgüter ausführlich dargestellt wird. Auf die anderen Dinge muss ich nicht mehr hinweisen. Die Zahlen wurden hier in den vergangenen Beiträgen in alle denkbaren Richtungen gedeutet. Trotzdem ist klar: Nach wie vor und auch künftig unterliegt die Ausfuhr von Rüstungsgütern einem umfassenden Genehmigungsvorbehalt nach den geltenden Bestimmungen. Nach wie vor wird vor allen Dingen wegen der Rüstungsgüter, die an Drittländer geliefert werden, eine restriktive, politisch zu bewertende, einzelfallorientierte Genehmigungspolitik verfolgt, was speziell für den hier heute Abend schon mehrfach aufgetauchten Fall der Korvetten beschrieben und nachgewiesen werden kann. Eine restriktive Rüstungsexportpolitik zielt bekanntlich nicht auf immer weiter sinkende Exportquoten, die irgendwann bei Null anlangen müssten; sie hat vielmehr den konkreten Einzelfall im Visier, um die Zulassung kritischer Exporte zu verhindern, die im Widerspruch zu den politischen Grundsätzen stünden. Wir haben mehrfach betont, dass das erstrangige Ziel auch dieser Bundesregierung darin besteht, bei der Friedenssicherung zu helfen, Konflikten möglichst im Ansatz vorzubeugen und zu verhindern, dass aus Deutschland stammende Waffen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen zum Einsatz kommen. Den Anstieg der Exporte, der hier moniert wurde - dabei ging es um die Korvetten für Südafrika und Malaysia -, ist erklärbar. Insofern ist es etwas merkwürdig, Herr Kollege Fritz - an dieser Stelle muss ich, auf Sie gerichtet, von Scheinheiligkeit sprechen -, wenn in den Presseerklärungen Ihrer Fraktion vordergründig ein Unterschied zwischen Moral und politischer Praxis der Bundesregierung konstruiert und von „Exportschlagern“ gesprochen wird. Das halte ich für ein wenig scheinheilig, zumal es bekannterweise einen nachgewiesenen Experten für Moral gibt. Pfahls ist der Name, wenn ich mich richtig entsinne. Es ist ein schwieriges Feld; zumindest das möchte ich an dieser Stelle anmerken. Steigende oder sinkende Zahlen sind insgesamt kein Beleg für eine großzügigere oder strengere Kontrollpolitik. Es ist auch sinnvoll, die Mittelwerte über mehrere Jahre hinweg zu betrachten. Dabei ist festzustellen, dass Rüstungsgüterexporte gemessen an den Gesamtexporten der Bundesrepublik Deutschland eine sehr kleine Rolle spielen. Die Kriegswaffenexporte beispielsweise machen meines Wissens nur 0,2 Prozent der deutschen Gesamtexporte aus. Kollege Nachtwei hat dankenswerterweise auf den Zusammenhang von Waffen, Rüstungsgütern, Frieden Christian Müller ({0}) und Produktion hingewiesen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Herstellung von Waffen und Rüstungsgütern und leider auch deren Verwendung eine bedauerliche Begleiterscheinung der Zivilisation ist. Wir haben, glaube ich, den Nachweis für dauerhafte Friedfertigkeit noch nicht erbracht. Insofern kommt es durchaus auf die Verwendung dieser Güter an. Die Bundeswehr hat einen klaren, auf Friedenserhalt gerichteten grundgesetzlichen Auftrag und wesentliche Bündnisverpflichtungen. Sie muss - das hat Kollege Nachtwei schon hervorgehoben - entsprechend ausgerüstet werden. Das bedingt eine wehrtechnische Industrie, die sich wiederum im Wettbewerb behaupten muss. In diesem Spannungsverhältnis müssen wir uns in den Debatten zu diesem Thema bewegen. Das alles ist uns sehr bewusst, wenn wir über Rüstungsexporte und das unverzichtbare restriktive Kontrollsystem sprechen. Deshalb haben wir das inzwischen schon mehrfach bekundete Interesse und Ziel, dass auch der EU-Verhaltenskodex - darin stimme ich mit Ihnen überein - zu einem vergleichbar restriktiven Maßstab für Rüstungsexporte entwickelt wird. Wir hatten deshalb bereits im Oktober die Bundesregierung aufgefordert, für dessen Fortentwicklung einzutreten. Ich freue mich, dass wir darin einer Meinung sind. Wir haben in unserem Antrag seinerzeit auch gefordert, die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber China an diese Fortschritte zu knüpfen. Auch das möchte ich heute noch einmal unterstreichen. Das gilt insbesondere auch dann, wenn wir die jüngere Entwicklung im Verhältnis der Volksrepublik China und Taiwan betrachten, die auch ich persönlich für sehr bedenklich halte. Insofern ist festzuhalten: Eine Entwicklung, wie sie sich derzeit abzeichnet, ist nicht die geeignete Grundlage für eine Aufhebung des EU-Waffenembargos; es sei denn, wir verfolgten einen Weg, der ein verbindliches System an seine Stelle setzte. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes - Drucksache 15/4977 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion, Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion, Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen, Joachim Günther ({1}), FDP, und der Parlamentarischen Staatssekretä- rin Iris Gleicke.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/4977 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta Connemann, Dr. Peter Jahr, Peter H. Carstensen ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Projekt des Umweltbundesamtes zur so ge- nannten unangekündigten Feldbeobachtung endgültig stoppen - Drucksache 15/4935 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. Volker Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verdeckte und unangekündigte Feldbeobachtung durch Umweltbundesamt ({3}) stoppen - Drucksache 15/5033 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol- len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion, Gitta Connemann und Arthur Auern- hammer von der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Christel Happach-Kasan von der FDP-Fraktion.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 15/4935 und 15/5033 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Aus- schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung vorgeschlagen, wobei die Federführung jeweils beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Ernst Bahr ({4}), Götz-Peter 1) Anlage 3 2) Anlage 4 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Lohmann, Ingrid Arndt-Brauer, Cornelia Behm und weiterer Abgeordneter Die Regionalentwicklung in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern braucht Klarheit - Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist überfällig - Drucksache 15/4792 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({5}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sinnvolles Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr - Drucksache 15/4956 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({6}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Kolbow das Wort. ({7})

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr verfolgt in der Tat seit Übernahme des Truppenübungsplatzes Wittstock die Absicht, das Gelände als Luft-Boden-Schießplatz für die Luftwaffe und für die Ausbildung von Bodentruppen zu nutzen, um ihre Aufgaben umfassend erfüllen zu können. Es liegt in der politischen Verantwortung aller an der Entscheidung zum Einsatz von Streitkräften beteiligten Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, also des Deutschen Bundestages, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Soldatinnen und Soldaten auf ihre mit Gefahr für Leib und Leben verbundenen Aufgaben bestmöglich vorbereitet werden können. ({0}) Somit obliegt dem Dienstherrn und der Politik die Verpflichtung, bestmögliche Vorsorge dafür zu treffen, dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Luftfahrzeugbesatzungen sowie Dritter keinen Schaden nehmen. All dies macht die Bereitstellung ausreichender Übungsmöglichkeiten unabdingbar. Das Parlament muss sein Parlamentsheer bestmöglich schützen. Unter qualitativer Betrachtung ist gerade der Truppenübungsplatz Wittstock für den Übungsbetrieb der Bundeswehr in diesem Gesamtzusammenhang unverzichtbar. Der Einsatz von Flugzeugen im gesamten Einsatzspektrum ist unter militärischen Gesichtspunkten nach wie vor erforderlich. ({1}) Es besteht also auch zukünftig militärischer Bedarf für den Betrieb von Luft- und Bodenschießplätzen und von Tiefflugübungen in Deutschland. Das regelmäßige Üben von Waffeneinsatzverfahren auf Luft-Boden-Schießplätzen ist ein wesentlicher Bestandteil einer wirksamen und am Auftrag orientierten Ausbildung von fliegenden Besatzungen in Kampfflugzeugen. Dies trifft auch noch bei dem Einsatz von Abstands- und Präzisionswaffen durch unsere Luftwaffe zu. Der Übungsplatz Wittstock bietet für die fliegenden Waffensysteme der Luftwaffe, auch aufgrund der räumlichen Ausdehnung, als einziger Übungsplatz in Deutschland die Möglichkeit, Einsatzverfahren streitkräftegemeinsam und im Rahmen der vernetzten Operationsführung realistisch zu üben. Dabei wird ausschließlich nicht detonierende Übungsmunition verwendet. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, den Truppenübungsplatz neben der fliegerischen Nutzung auch für die Ausbildung von Bodentruppen gemeinsam zu nutzen. Auf dem Platz sind Übungen von Flugabwehrraketenverbänden, elektronischen Kampfführungs-, Objektschutz-, Radarführungs- und Einsatzführungskräften mit Truppenstärken bis zu 1 000 Soldaten an 80 bis 100 Tagen im Jahr geplant. Die Stationierung eines Luftausbildungsbataillons - circa 800 Soldaten und 150 Zivilbedienstete - in Wittstock war von Anfang an Teil der Gesamtüberlegungen. Das wurde mit dem Stationierungskonzept der Bundeswehr auch bestätigt. Im Zuge der Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock werden auch schnellstmöglich die von den sowjetischen Truppen hinterlassenen Altlasten beseitigt und die stark munitionsbelasteten Flächen des gesamten Platzes entmunitioniert. Der Umfang der festgestellten Altlasten wird zurzeit ermittelt. Man geht davon aus, dass die Beseitigung zehn bis 15 Jahre dauern wird und Kosten in Höhe von mehr als 200 Millionen Euro zu veranschlagen sind. Im Rahmen der Munitionsräumung und Altlastenbeseitigung werden temporär durchschnittlich 400 Arbeitskräfte aus der Region bei zivilen Räum- und Entsorgungsfirmen beschäftigt werden. Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, dass bereits seit vielen Jahren etwa 75 Prozent der jährlichen Schießübungen der deutschen Luftwaffe im Ausland durchgeführt werden. Eine weitere Reduzierung der Übungen in Deutschland ist nicht geplant und wäre auch unseren Luftwaffenverbänden nicht vermittelbar. Eine gerechte und solidarische Verteilung der mit dem Übungsbetrieb der Bundeswehr hier in Deutschland verbundenen Lasten muss selbstverständlich sein. Die parlamentarischen Diskussionen über das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr in den Jahren 1992 und 1993 reflektieren, dass die Gesamtbelastungen durch den Übungsbetrieb der Bundeswehr zukünftig möglichst ausgewogen, auch unter Einbeziehung der neuen Bundesländer, zu verteilen seien. Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages hat daraufhin mehrheitlich festgestellt, dass er die Aufteilung des noch in Deutschland verbleibenden Anteils der LuftBoden-Schießausbildung auf die drei Übungsplätze Nordhorn in Niedersachsen, Siegenburg in Bayern und das heute in Rede stehende Wittstock erwarte. Das Bundesministerium der Verteidigung hält an diesem Grundsatz und an einer Beschränkung des Übungsumfanges auf das unabdingbare Mindestmaß fest und bittet den Deutschen Bundestag, dabei zu folgen. Meine Damen und Herren, ohne die Aufteilung auf alle drei Luft-Boden-Schießplätze sind jedoch die zur Entlastung der Bevölkerung im Umland von Siegenburg und Nordhorn dringend erforderlichen weiteren Reduzierungen der Einsätze und eine ausgewogene regionale Verteilung nicht möglich. Durch die Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock wird ein maßgeblicher Beitrag zu dieser Lastenverteilung erreicht. Deswegen drängen auch die Anliegergemeinden, die ich genannt habe, nachhaltig darauf, dass alsbald auch der Truppenübungsplatz Wittstock militärisch genutzt wird. Das wird sicher in der Debatte noch gesagt werden. ({2}) Lassen Sie mich auch hier hervorheben, dass im Rahmen der Entscheidung zur zukünftigen Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock als Luft-BodenSchießplatz die unterschiedlichen zivilen und militärischen Belange sorgfältig gegeneinander abgewogen wurden. Dabei kam es natürlich darauf an, der Verpflichtung gegenüber unseren Soldaten gerecht zu werden. ({3}) Andererseits war sicherzustellen, dass die Belastungen der Bevölkerung so gering wie möglich gehalten werden. Im Zuge der Entscheidung wurden auch die möglichen Auswirkungen der Nutzung des Platzes auf den Tourismus und die Naturlandschaft in der Region geprüft. ({4}) Die Abwägung hat ergeben, dass die Beschreibungen im Antrag der Kolleginnen und Kollegen der FDP richtig sind und bei Nutzung gewissermaßen also auch Wirklichkeit werden. ({5}) Ich glaube, dass letztlich mit der Nutzung des Truppenübungsplatzes und der damit einhergehenden Stationierung des Luftwaffenausbildungsbataillons auch ein wichtiger Beitrag zur Integration der Bundeswehr in der Region und zur wirtschaftlichen Förderung der strukturschwachen Umgebung geleistet wird. Die Gesamtverantwortung gebietet diese Entscheidung. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute stehen zwei Anträge zur Debatte, die für die Bundeswehr und die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide von großer Bedeutung sind. Der von Vertretern der Grünen, der SPD und der PDS eingereichte Gruppenantrag richtet sich gegen eine militärische Nutzung des Standortes Wittstock. ({0}) Der Antrag der FDP-Fraktion setzt dagegen auf ein sinnvolles Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr in dieser Region. ({1}) Sämtliche Argumente hinsichtlich des Für und Wider der militärischen Nutzung von Wittstock werden seit Jahren diskutiert, ausgetauscht und abgewogen. Umso erstaunlicher ist, dass die Antragsteller aus den Reihen der Grünen, der SPD und der PDS weiterhin mit fragwürdigen Annahmen operieren. ({2}) Es fehlt dem Gruppenantrag an sicherheitspolitischer Substanz. ({3}) Ihr Kernargument lautet: Das Nutzungskonzept der Bundeswehr habe infolge des zurückgehenden Übungsbedarfs der Luftwaffe seine Grundlage verloren. Wir alle wissen: Die Bundeswehr ist gegenwärtig und künftig vor allem im internationalen Krisenmanagement aktiv. Die Luftwaffe muss daher permanent für vielfältige Szenarien gewappnet sein. Zum einen kann der Übungsbedarf des fliegenden Personals je nach Krisenlage rasch ansteigen. Zum anderen spielt Wittstock für bodengebundene Einheiten eine Schlüsselrolle: Auf dem Platz sind Übungen verschiedener Truppenverbände mit Truppenstärken von bis zu 1 000 Soldaten geplant. Diese Fakten finden sich im Gruppenantrag nicht, weil sie für den hohen militärischen Stellenwert von Wittstock sprechen. Denn er bietet der Bundeswehr wie kaum ein an15328 Anita Schäfer ({4}) derer Übungsplatz die Möglichkeit, Streitkräfte gemeinsame Einsatzverfahren proben zu lassen. Nur so kann die Bundeswehr in internationalen Krisen handlungsfähig bleiben. Meine Damen und Herren, wer so einseitig wie die Antragsteller argumentiert, legt die Axt an der Bündnisfähigkeit unserer Bundeswehr an. ({5}) Dies verdeutlicht auch ein weiterer Eckpunkt Ihres Gruppenantrages: Sie behaupten, künftige Einsätze würden die Fähigkeit zum Tiefflug kaum noch erfordern. ({6}) Die Umrüstung auf Präzisionsabstandswaffen, so die Antragsteller, würde das Nutzungskonzept für Wittstock überflüssig machen. Auch in diesem Punkt, verehrte Antragsteller, liegen Sie falsch. Denn erstens hat die Umrüstung der Luftwaffe auf Präzisionsabstandswaffen noch lange nicht den Stand erreicht, um auf Tiefflüge verzichten zu können, und zweitens ist eine umfassende Ausrüstung der Luftwaffe mit Präzisionsabstandswaffen teuer. Wenn Sie Tiefflugübungen reduziert haben wollen, müssen Sie im Gegenzug die Ausrüstung mit Präzisionsabstandswaffen beschleunigen. Dann erklären Sie uns aber bitte, woher Sie die Mittel dafür kurzfristig nehmen wollen. Das zeigt: Ihr Antrag ist auch in finanzieller Hinsicht fragwürdig. Weiterhin behaupten die Antragsteller, dass die Umweltbelastung für die Bevölkerung unzumutbar sei. Dies wird mit dem Hinweis untermauert, dass Wittstock während des Kalten Krieges schon durch die Sowjets extrem belastet gewesen sei. ({7}) Dabei wissen die Antragsteller ganz genau, dass das neue militärische Nutzungskonzept strikte Auflagen vorsieht. Ein Vergleich mit den Zuständen vor der Wende ist abwegig: Die Sowjets flogen jährlich bis zu 25 000 Einsätze und schossen mit scharfer Munition. Zum Vergleich: Die Planungen der Bundeswehr gehen von bis zu 1 700 Einsätzen jährlich aus, maximal 30 pro Tag und einer pro Nacht - und dies ohne scharfe Munition. Nicht geflogen werden soll an Wochenenden, Feiertagen und in den Sommerferien. In diesem Zusammenhang unterschlagen die Antragsteller außerdem, dass die Bundeswehr eine vollständige Räumung des Übungsplatzes von Munitionsaltlasten vorsieht. ({8}) Es ist irritierend, dass ein maßgeblich von den Grünen initiierter Antrag dieses ökologische Sanierungspotenzial mit keiner Silbe erwähnt. ({9}) Damit komme ich zum letzten Eckpunkt des Gruppenantrags: Es wird behauptet, dass eine militärische Nutzung des Standortes Wittstock die Tourismusbranche in der Region nachhaltig gefährde. ({10}) Dazu kann ich als Mitglied des Verteidigungs- und des Tourismusausschusses nur sagen: Wir brauchen eine vernünftige Balance zwischen einem modernen Tourismuskonzept und einer sinnvollen militärischen Nutzung von Wittstock durch die Bundeswehr, wie es die FDP mit ihrem Antrag fordert. Leider verkennen die Initiatoren des Gruppenantrags die positiven strukturpolitischen Effekte, die von der Bundeswehr ausgehen. ({11}) Durch die Nutzung des Standorts und die Stationierung eines Luftwaffenausbildungsbataillons wird eine erhebliche Kauf- und Wirtschaftskraft in die Region getragen. Der Gruppenantrag zur zivilen Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide steht im Ergebnis auf schwachen Füßen. ({12}) Verehrte Antragsteller von der SPD und von den Grünen, Sie setzen damit ein Signal des Misstrauens gegen Ihren eigenen Verteidigungsminister Dr. Peter Struck. Die Zerstrittenheit in den Reihen der Koalitionsparteien ist evident. Sie können den Menschen in der Kyritz-Ruppiner Heide mit Ihren Vorstellungen keine Zukunftsperspektive bieten. ({13}) - Ich war zweimal zu Podiumsdiskussionen dort. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche zu diesem unserem Gruppenantrag aus einer zweifachen Perspektive: ({0}) Zum einen spreche ich als Obmann im Verteidigungsausschuss und als sicherheitspolitischer Sprecher. Insofern bin ich mitverantwortlich für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. ({1}) Staatssekretär Kolbow und ich haben hier selbstverständlich ein gemeinsames Interesse. Das äußere ich hier genauso. Zum anderen spreche ich hier als Westdeutscher, der seit 1996 des Öfteren in der dortigen Region war und die Menschen und die Landschaft dort kennen und schätzen gelernt hat. ({2}) Ich erlebe einen auffälligen Widerspruch: Auf der einen Seite wachsen die Bewegung für die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide und die Opposition gegen die militärische Nutzung seit Jahren - noch heute hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern den Gruppenantrag offiziell unterstützt -, auf der anderen Seite hält sich in Berlin - das erfahren wir alle; ich erfahre das vor allem im Verteidigungsbereich - die Abwehrhaltung gegen dieses Ansinnen sehr stark. Ich höre hier folgende Haupteinwände: Erstens wird gesagt, ein solcher Platz sei militärisch unverzichtbar - Frau Schäfer, Sie haben gesagt: Wer dagegen ist, der legt die Axt an die ganze Bundeswehr -, zweitens wird gesagt, Bundesinteressen müssten vor Regionalinteressen gehen und drittens wird der Anspruch einer gerechten Lastenverteilung in solchen Fragen gestellt. Hierzu möchte ich etwas sagen. Zunächst komme ich zur militärischen Notwendigkeit. Es ist bekannt, dass es der neue Auftrag der Bundeswehr ist, zur Kriseneindämmung und Krisenbewältigung im Dienste kollektiver Sicherheit und im Rahmen der Vereinten Nationen beizutragen. Hierbei lautet die Vorgabe der Luftwaffe, bei Luftwaffeneinsätzen immer eine besondere Präzision zu erreichen und Distanz zu wahren. Andere Arten von Kriseneinsätzen sind kaum noch vorstellbar. Das heißt, für das, was in Wittstock geübt würde, nämlich Bombenabwürfe im Tiefflug, wird der Bedarf seitens der Bundeswehr immer geringer. Man muss immerhin auch feststellen, dass die Einsatzfähigkeit der Bundesluftwaffe ohne Wittstock in den ganzen Jahren offensichtlich nicht gefährdet oder beeinträchtigt war. Ich habe niemals etwas anderes gehört. ({3}) Die Region um die Kyritz-Ruppiner Heide hat eine Entwicklungschance, nämlich die des sanften und naturnahen Tourismus. ({4}) Hier sind inzwischen sehr viele Arbeitsplätze entstanden. Bei einer militärischen Nutzung würde hier einiges auf dem Spiel stehen. Ich komme nun zur Forderung einer gerechten Lastenverteilung. Diese ist zunächst einmal plausibel. Dabei wird zweierlei aber völlig vergessen und übergangen: Als ersten Punkt nenne ich den ganz anderen historischen Vorlauf. Ich war des Öfteren in Nordhorn und Siegenburg und weiß, wie die Belastungen dort aussehen. Das ist schmerzhaft für die Bevölkerung; dies dürfen wir nicht verharmlosen. Aber die Belastung zu DDR-Zeiten im Raum Wittstock bei über 20 000 Einsätzen pro Jahr mit scharfer Munition, Bomben und Raketen war eine ganz andere. Als zweiter Punkt ist hier anzuführen: Die Wirtschaftsstrukturen der Region sind sehr unterschiedlich. In der Region um die Kyritz-Ruppiner Heide gibt es wirklich nur eine Entwicklungschance, sonst nichts. Insofern ist die Region mit den anderen Regionen nicht vergleichbar, die auch - das ist unbestreitbar - ihre Last zu tragen haben. ({5}) Die Sache mit der gerechten Lastenverteilung ist zwar auf den ersten Blick richtig, aber auf den zweiten Blick eine unangemessene Anforderung. Die Bewegung für die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide hat in den letzten 13 Jahren eine beispiellose Breite erfahren. Sie ist inzwischen - das muss man feststellen - die breiteste demokratische Bürgerbewegung ganz Deutschlands. ({6}) Beispiellos ist, wie sehr sie inzwischen von Unternehmern und Selbstständigen in der Region, von Bürgermeistern, zwei Landtagen und zwei Landesregierungen unterstützt wird. Deshalb appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, sich noch mehr vor Ort zu informieren, das Gespräch mit der Bevölkerung dort zu suchen und sich wirklich darüber kundig zu machen, was auf dem Spiel steht. Wir Politikerinnen und Politiker dürfen uns über ein so breites, glaubwürdiges und sich seit 13 Jahren entwickelndes demokratisches Votum nicht hinwegsetzen. Die Regionalentwicklung in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern braucht Klarheit. Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist überfällig. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Günther Nolting von der FDP-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Rede des Kollegen Nachtwei kann ich nur festhalten: Es geht ein Riss durch die rot-grüne Koalition. Diese Bundesregierung hat nicht mehr die volle Unterstützung ihrer eigenen Fraktionen. ({0}) Ich sage als FDP-Bundestagsfraktionsmitglied: Übungstätigkeiten von Streitkräften rufen oft einen Zielkonflikt mit dem berechtigten Anspruch der betroffenen Bevölkerung auf Lärm- und Gesundheitsschutz sowie mit Belangen des Umweltschutzes und der Regionalentwicklung hervor. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben dafür Verständnis. Deshalb gilt es, die Belastungen für Bevölkerung und Umwelt so gering wie möglich zu halten. Dieses trifft in besonderem Maße für den LuftBoden-Schießplatz Wittstock zu, da ein naturnaher Tourismus im Raum um die Kyritz-Ruppiner Heide eine wesentliche Entwicklungschance darstellt. Deshalb müssen die Nutzungsbedingungen des Übungsplatzes Wittstock ganz besonderen Restriktionen unterworfen werden. Das haben wir in unserem Antrag berücksichtigt. Der FDP-Antrag ist ein tragfähiger Kompromiss, der hier im Bundestag eine Mehrheit bekommen sollte. Wir haben über dieses Thema schon vor drei Jahren diskutiert. Auch damals hatten die Grünen einen Antrag initiiert. Aber dieser Antrag wurde nie zur Abstimmung gestellt. Das Verfahren ist nur zu offensichtlich: Es wird ein Antrag geschrieben, mit dem Stimmung gemacht wird. Den betroffenen Menschen wird alles Mögliche versprochen. Aber es besteht zu keinem Zeitpunkt die Absicht, diese Versprechen einzulösen. ({1}) Wie anders ist es zu erklären, Frau Kollegin, dass eine Abstimmung über diesen Antrag bewusst vermieden wurde und er nach der ersten Lesung im Papierkorb verschwand? Welche Gründe auch immer für dieses doppelbödige Verhalten verantwortlich gewesen sein mögen: Dieses Spiel spielen wir nicht mehr mit. ({2}) Auf Veranstaltungen in der Kyritz-Ruppiner Heide fordert Herr Nachtwei immer wieder lautstark die Schließung des Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock. In Nordhorn oder Siegenburg fordert er nicht weniger vehement die Schließung der dortigen Übungsplätze. In Beisein der Bundeswehr im Verteidigungsausschuss bekennt er sich hingegen staatstragend zur Notwendigkeit von Übungsmöglichkeiten für die Soldaten. Auch dieses Doppelspiel, Herr Nachtwei, machen wir nicht mehr mit. Ein derartiges Verhalten ist einfach infam. ({3}) Wir haben einen Antrag zu einem sinnvollen Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr eingebracht. Die FDP handelt zum Wohle der Bundeswehr und zum Wohle der Menschen in der betroffenen Region. Ich sage aber schon heute: Wir haben einen zweiten Antrag eingebracht, in dem gefordert wird, die Belastung auch der Bevölkerung in Nordhorn und in Siegenburg deutlich zu reduzieren. Dieser Antrag wird demnächst hier behandelt werden. Ich denke, wir müssen alle drei Übungsplätze im Zusammenhang sehen und nicht losgelöst, wie das in diesem Gruppenantrag geschehen ist. ({4}) Die FDP-Fraktion wird dafür sorgen, dass es einerseits zu keinen unverantwortlichen Belastungen für Tourismus und Bevölkerung in den betroffenen Räumen um Wittstock, Nordhorn und Siegenburg kommt. Wir müssen aber auch der Bundeswehr klare Perspektiven aufzeigen und gewährleisten, dass sie die Möglichkeit zum Üben hat. ({5}) - Herr Kollege Ströbele, wir werden Ihre doppelbödige Politik entlarven. Sie von Rot-Grün schicken die Bundeswehr in alle Regionen dieser Welt. ({6}) Dann müssen Sie auch dafür Sorge tragen, dass die Soldatinnen und Soldaten eine entsprechende Ausbildung bekommen und entsprechende Übungsmöglichkeiten haben. ({7}) Alles andere wäre unverantwortlich. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Kues von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Abgeordneter für die Region Nordhorn, für die Region Emsland. In meinem Wahlkreis liegt der Bombenabwurfplatz NordhornRange. Ich erlebe es nun seit Jahrzehnten und nicht erst seit 13 Jahren, dass sich die Bevölkerung in Nordhorn gegen diesen Bombenabwurfplatz wehrt. Seit drei bis vier Generationen - das betrifft alle meine Vorgänger ist die Unerträglichkeit der Belastungen anerkannt, aber man hat immer gesagt, dass wir Übungsmöglichkeiten für die Bundeswehr bräuchten, dass das verantwortliche Politik sei und man die Bevölkerung deshalb um Verständnis bitten müsse, dass es in Nordhorn nicht anders geht. Das sagen wir dort als direkt gewählte Abgeordnete. Das, was Sie, Herr Kollege Nachtwei, machen, ist etwas anderes. Sie stellen sich hier hin und sagen, Sie seien der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen und hätten natürlich Verständnis dafür, dass die Bundeswehr leistungsfähig sein müsse. Der Parlamentarische Staatssekretär, der für die rot-grüne Bundesregierung spricht, hält den Bombenabwurfplatz in Wittstock für notwendig. Sie sagen, dass Sie die Menschen in Wittstock verstehen, und verweisen darauf, dass sich dort eine Bewegung gebildet hat. Für diese Haltung gibt es ein schönes Wort: Das ist Schizophrenie. ({0}) Sie glauben, damit durchzukommen. Das ist Opportunismus pur, weil Sie den Menschen in Wittstock nach dem Munde reden wollen. ({1}) Sie haben nicht die Courage, den Zusammenhang der Dinge aufzuzeigen. Das ist Ihre Politik. ({2}) - Sie haben sich vor drei Jahren schon darüber aufgeregt, aber Ihr Opportunismus hat sich nicht geändert. ({3}) - Das ist keine Unverschämtheit. Es ist eine Unverschämtheit, wie Sie mit den Menschen umgehen. Ihr Interesse gilt nicht den Menschen. Sie wollen sich in der politischen Auseinandersetzung Vorteile verschaffen. ({4}) Sie sind letztlich regierungsunfähig. Sie müssten sich für ein Truppenübungsplatzkonzept einsetzen. Das, was die Regierung tut, tragen Sie im Endeffekt nicht mit. Das muss ich so sagen. Die Menschen in Nordhorn - der eine oder der andere wird das auch mitkriegen; dafür werde ich schon sorgen - werden feststellen, wie opportunistisch die Grünen sind. Das erleben wir bei allen Themen. Sie werden feststellen, dass auch die große Volkspartei SPD im Grunde genommen nicht bereit ist, die Dinge, die für die Bundeswehr notwendig sind, mitzutragen. Das finde ich ganz schlimm. Ich könnte Ihnen an vielen Beispielen deutlich machen, dass alle Argumente, die hier genannt worden sind, in gleicher Weise für Nordhorn zutreffen. Deswegen habe ich immer die Auffassung vertreten, man soll zu einer fairen Lastenverteilung kommen. Das halte ich für gerecht. Der Verteidigungsminister hat - das darf ich Ihnen anvertrauen - mir auch schon gesagt, wie er sich das weitere Schicksal des Antrags vorstellt. Das ist eben angedeutet worden. Da haben Sie aufgeschrieen. Wir werden es ja sehen. Beim letzten Mal ist es so gewesen, dass man den Antrag still und heimlich hat verschwinden lassen. ({5}) Das ist Ihre Politik. Deshalb machen Sie den Leuten etwas vor. Das ist mein Kernpunkt. So wird es mit diesem Antrag auch wieder sein. Wenn es nicht so ist, dann ist nicht nur aus diesem Grunde - es gibt viele andere Gründe - die Regierungszeit von SPD und Grünen offenkundig zu Ende, weil sie in einem zentralen Punkt nicht in der Lage sind, das Konzept der Bundeswehr mitzutragen. ({6}) Ich will nicht verhehlen, dass es mich sehr ärgert - das sage ich als Wahlkreisabgeordneter -, dass man einen Garnisonsstandort in unmittelbarer Nähe des Bombenabwurfplatzes dichtmacht, unter anderem weil die militärische Führung der Bundeswehr, speziell der Luftwaffe, zu wenig politische Sensibilität gezeigt hat. Das ist - das soll die Luftwaffe ruhig hören - ein großes Ärgernis für die Bevölkerung. Das kann ich nicht akzeptieren. Als Abgeordnete haben wir die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, uns Gedanken darüber zu machen, was für das Gemeinwohl und was für den Staat insgesamt richtig ist. Wir müssen die Courage aufbringen - Courage haben Sie nicht -, auch einmal etwas zu sagen, was nicht von vornherein auf tosenden Beifall stößt. ({7}) Das ist verantwortlich. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bürgerinitiative Freie Heide lädt für Ostersonntag zur 94. Protestwanderung für die „FREIE HEIDE“ ein. Das Motto dieser Wanderung lautet: Hier nicht und nirgendwo. Ich finde dieses Motto sehr gut; denn es greift offensiv die Vorwürfe auf, die da lauten: Ihr wollt es nur bei euch schön ruhig haben. Was anderswo passiert, ist euch egal. Das stimmt nicht. Die Mitglieder der Bürgerinitiative und ihre Unterstützer wollen nicht nur in ihrer Umgebung Ruhe und Frieden haben. ({0}) Sie setzen sich für die Begrenzung von Militär und für friedliche Lösungen weltweit ein. Lange haben die Menschen rund um die Kyritz-Ruppiner Heide auf diesen Antrag zur zivilen Nutzung der Heide gewartet. Nun ist es endlich gelungen, dass 58 Mitglieder des Bundestages ihn mit ihrem Namen unterstützen. Beim Ostermarsch wird sicher die Frage gestellt werden, welche Aussicht der Antrag hat und bis wann über ihn entschieden sein wird. Die Frage ist berechtigt. Darum bitte ich alle Antragsteller, ihre Fraktionskollegen von der Richtigkeit dieses Antrages zu überzeugen. Falls ich es richtig überblicke, liegt bisher nur von der PDS die hundertprozentige Zustimmung vor. Erinnern wir uns: Die deutsch-deutsche Vereinigung bedeutete auch das Ende des Kalten Krieges. Für viele Menschen schienen Abrüstung, weniger Geld für Rüstung und weniger Truppenübungsplätze eine logische Folge der Beendigung des Kalten Krieges zu sein. Darum waren sie erst verwundert und dann empört, als der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe die militärische Nutzung der Heide plante. Am 15. August 1992 fand die erste Demonstration gegen die weitere militärische Nutzung der Heide statt. Mit phantasievollen Aktionen machten die Menschen die Öffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam. Im Jahre 1994 erklärte der damalige SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Rudolf Scharping vor 500 Demonstranten, im Falle eines Wahlsieges der SPD werde dieser Truppenübungsplatz verschwinden. Inzwischen hat die SPD zwei Bundestagswahlen gewonnen. Es ist also höchste Zeit, das damals gegebene Versprechen einzulösen. ({1}) Ein Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide ist kein lokales Problem. Darum finde ich es gut, dass Abgeordnete, die weit entfernt von dieser Heide ihre Wahlkreise haben, diesen Antrag unterstützen. ({2}) Ich möchte noch einmal unterstreichen: Die Heide verdient eine friedliche Nutzung. Die Menschen in dieser Region haben nach dem Ende des Kalten Krieges immer wieder ihren Wunsch bekräftigt, endlich eine freie, offene und friedliche Heide haben zu wollen. Ich finde, wir sollten diesen Wunsch respektieren. Geben wir den Menschen Sicherheit. Sie haben hier touristische Angebote und damit nicht nur Erholungsmöglichkeiten für uns Großstädter, sondern auch Arbeitsplätze geschaffen. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass wir spätestens Ostern 2006 sagen können: Die Heide ist frei! Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der SPD-Fraktion. ({0})

Ernst Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002620, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Lötzsch, aus Ihrem parlamentarischen Verständnis kann man ableiten, was Sie gesagt haben. Dass man aber innerhalb einer Koalition in einer Sachfrage unterschiedlicher Meinung sein kann, die sich mitunter in einer parlamentarischen Diskussion zum Ausdruck bringt, ist, denke ich, und eine ganz natürliche Sache. Trotz unseres Antrags stehen wir zur Regierungspolitik. Das sage ich auch an die Adresse der FDP und der CDU/CSU. Wir haben überhaupt nicht die Absicht, die Koalition mit einem Riss zu versehen. Wir vertreten in der Verteidigungspolitik die Auffassung, dass die Bundeswehr - so sehr wir ihre durch den Verteidigungsminister bestimmte Aufgabenstellung begrüßen - den Übungsplatz in Wittstock nicht braucht. Das ist unsere zentrale Aussage. Diese haben wir sehr sachlich und fundiert begründet. Frau Schäfer, Ihre Aussagen treffen dagegen nicht zu. Sie sollten sich unseren Gruppenantrag ruhig noch einmal vornehmen. Ein so sachlich und präzise begründeter Antrag wie in diesem Fall ist selten ({0}) eingebracht worden. Herr Nolting, die FDP-Fraktion sollte ihren Antrag zurückziehen, weil er keinen Sinn macht. ({1}) Er sieht nur eingeschränkte Übungsmöglichkeiten für die Bundeswehr vor. Wenn es tatsächlich so ist, wie Sie behaupten, und der Übungsplatz tatsächlich gebraucht wird, muss er sowieso eingerichtet werden und Kosten werden entstehen. Die Frage ist dann nicht mehr, wie viele Übungsmöglichkeiten vorhanden sind. Wenn Sie Ihren Antrag zurückziehen und unseren Gruppenantrag unterstützen, dann werden wir ein Stückchen weiterkommen. ({2}) - Der Staatssekretär vertritt die Regierungsposition und wir vertreten die Position, dass die Bundeswehr diesen Übungsplatz nicht braucht. Die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland stellen wir jedenfalls nicht infrage. Wir sind der Meinung, dass Übungsmöglichkeiten für die Bundeswehr gegeben sind, und zwar ohne dass man zusätzlich Geld ausgeben und zusätzliche Belastungen für Menschen in anderen Regionen schaffen muss. Ernst Bahr ({3}) Zur Lastenverteilung: Wer wie Sie sagt, die Lasten zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland seien nun gleichmäßig verteilt, der weiß nicht, was zu Zeiten der sowjetischen Übungen stattgefunden hat. Es war nicht allein die Zahl der Übungen. Vielmehr gab es auch Luftwaffenübungen, beispielsweise mit Hubschraubern, sowie Kanonen- und Panzerübungen mit scharfer Munition. Solche unvorstellbaren Belastungen über 40 Jahre musste keine bundesdeutsche Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg erleben. Insofern kann von einer gleichmäßigen Lastenverteilung keine Rede sein. ({4}) Zu den Präzisionswaffen: Frau Schäfer, Sie haben gesagt, hier könne man Einsparungen vornehmen. Das ist in Wahrheit nicht möglich. Präzisionswaffen werden beschafft und es wird mit ihnen geübt, weil sie für zukünftige Einsätze benötigt werden. Deswegen kann nach unserer Meinung auf den Abwurf von Bomben, wie er in der Kyritz-Ruppiner Heide geübt wird, verzichtet werden. Des Weiteren haben Sie behauptet, dass wir die Entsorgung unterschlagen würden. Das stimmt nicht. Wir wissen, dass auf dem Übungsplatz Wittstock eine Entsorgung durchgeführt werden muss. Das wird auch geschehen, selbst wenn die Bundeswehr diesen Übungsplatz nicht nutzen sollte. Das Ziel unseres Gruppenantrags ist die Unterstützung derjenigen Menschen, die eine nicht militärische Entwicklung dieser Region verlangen. Dazu gehört im Wesentlichen die Tourismuswirtschaft, die große Bedeutung hat und die sich sehr gut entwickelt hat. Die Bundeswehr braucht nach meiner Meinung diesen Übungsplatz nicht und daher sollte dieser Platz der friedlichzivilen Nutzung zugeführt werden. Wir brauchen Klarheit, und zwar möglichst schnell, damit die getätigten Investitionen nicht umsonst waren und damit die beabsichtigten Investitionen umgesetzt werden können. Wir fordern, dass möglichst schnell eine Entscheidung getroffen wird, damit Sicherheit für die Region und ihre Entwicklung gegeben ist. Die 13 Jahre gerichtliche Auseinandersetzung, in denen Kommunen und Privatpersonen Geld investieren mussten, waren aus meiner Sicht nicht notwendig. Ich freue mich und begrüße es, dass Bundesverteidigungsminister Struck nun zumindest dazu übergegangen ist, die rechtlichen Probleme, soweit sie Eigentumsfragen betreffen, von sich aus zu klären, und dass er nicht wie die Vorgängerregierung die Gemeinden darauf verweist, dass sie klagen können, wenn sie etwas haben wollen. ({5}) Wir haben eine Situation, die einer Lösung zugeführt werden muss. Ich möchte an dieser Stelle den Bürgerinitiativen herzlich dafür danken, dass sie mit ihrem Engagement dafür gesorgt haben, dass dieses Thema bundesweit ins Gedächtnis gerufen wurde und dass es weiter verfolgt wird. Ich darf all denjenigen danken, die das organisiert und initiiert haben. Wir haben unseren Gruppenantrag auf der Grundlage dieser Initiativen gestellt. In der vergangenen Wahlperiode sind wir mit den Beratungen über einen entsprechenden Antrag leider nicht zu Ende gekommen. Das ist nicht bewusst niedergelegt worden ({6}) - Herr Kues, Sie wissen doch, wie es war -, sondern der Diskontinuität zum Opfer gefallen. ({7}) Wir haben das damals zu spät eingebracht. Diesmal haben wir es zur rechten Zeit eingebracht in der Hoffnung, dass die Ausschussberatungen, die wir sehr intensiv begleiten werden, ein Ergebnis zeitigen werden, sodass viele Kolleginnen und Kollegen unserem Antrag im Bundestag zustimmen können. Die Bundeswehr muss zwar aufgabengerecht ausbilden. Aber sie kann auf den Übungsplatz in Wittstock verzichten, weil sie ihn nicht benötigt. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn von der CDU/ CSU-Fraktion.

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der Kyritz-Ruppiner Heide und in der Müritz-Region befindet sich in einer ganz schwierigen Situation. Für mein Dafürhalten haben wir einen Zielkonflikt. Das ist das große Problem. Die Tourismusbranche ist die einzige Wachstumsbranche in dieser strukturschwachen Region. Parallel dazu gibt es eine militärische Nutzung des Gebiets, verbunden mit den entsprechenden Belastungen. Dazu gehören Tiefflüge; Kollege Kues hat eindrucksvoll geschildert, wie das in seiner Region in den letzten Jahren vonstatten gegangen ist. Deshalb muss man überlegen, was von höherem volkswirtschaftliche Nutzen ist. Ich unterstütze das Anliegen des Antrages aus den Reihen von Rot-Grün. ({0}) Aber dann müssen Sie doch auch einmal an die Regierung herangehen. Der Verteidigungsminister und der Wirtschaftsminister müssen an einen Tisch und diesen Sachverhalt klären. Sie haben das letztendlich in der Hand. Aber über 14 Jahre hinweg haben wir hier über15334 Werner Kuhn ({1}) haupt keine Aktivitäten erlebt, die zielführend gewesen wären. In unterschiedlichen Bürgerinitiativen haben Sie mit Ihren Matadoren vonseiten der SPD - das wurde hier dokumentiert - den Leuten immer wieder Hoffnungen gemacht: Wenn Sie uns wählen, wird es diesen Schießplatz nicht geben. Das Gegenteil haben Sie gemacht. Das halte ich für einen Wortbruch. So kann man mit den Bürgerinnen und Bürgern in der Müritz-Region und in der KyritzRuppiner Heide nicht umgehen. ({2}) Denken Sie an Rheinsberg! Denken Sie an die Müritz! Bedenken Sie, welche Investitionsmöglichkeiten bei einer Arbeitslosigkeit von 23,5 Prozent überhaupt noch bestehen! Wenn ein Hotelunternehmer, der Zuwächse an Übernachtungen verzeichnen kann, in einen Anbau investieren will, braucht er neben dem Eigenkapital eben auch Fremdkapital. Da die Entscheidung, ob die Kyritz-Ruppiner Heide militärisch genutzt wird, immer noch aussteht, besteht Unsicherheit und diese Unsicherheit belastet. Wir brauchen endlich Klarheit. Für diese Klarheit muss die Regierung sorgen. Bei der Anhörung im Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag, der damals vorlag - warum er nicht zur Vollendung gekommen ist, kann ich nicht nachvollziehen -, haben wir gemerkt, dass man sich in dieser Region mit Bürgermeistern, die der Union angehören, mit Landräten, die der Union angehören, und mit Vertretern auf der Seite der Nordbrandenburger, die der SPD angehören, darüber einig war, dass -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, ich muss Sie unterbrechen, weil Sie reden, ohne Luft zu holen. ({0}) Der Kollege Manzewski würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Manzewski ist wie ich für diese Region zuständig. Wir haben letztendlich in unseren Überzeugungen -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Manzewski?

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kuhn, zur Richtigstellung: Ich bin für die Region zuständig, weil ich direkt gewählter Abgeordneter bin. ({0}) Aber ich erkenne an, dass auch Sie sich um diese Region bemühen. Ich habe zwei Fragen, weil ich aus Ihrem Vortrag nicht schlau werde. Erstens. Könnten Sie mir sagen, ob Sie nun für den Antrag sind oder nicht? Zweitens. Sie kritisieren hier die Bundesregierung. Sie kritisieren leider nicht Ihre eigene Fraktion. Geben Sie mir Recht, dass, wenn die CDU/CSU diesen Antrag gemeinsam mit den Unterzeichnern unterstützen würde, dieser Antrag durchginge? ({1})

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens. Ich unterstütze diesen Antrag. ({0}) Zweitens. Sie haben die Regierungsverantwortung. Herr Kollege Manzewski. Zudem kommt dieser Antrag aus Ihren Reihen. Sie haben also die Verantwortung, dass die Zielstellung erreicht wird. Wir sind in der Opposition. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir die Rollen beim nächsten Mal wechselten und Sie nicht mehr als Vertreter einer die Regierung tragenden Fraktion redeten. Es wird höchste Zeit, dass sich da etwas ändert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang bitte ich ganz inständig darum, dass sich die Verantwortlichen in der Exekutive, die verantwortlichen Minister, des Problems annehmen und eine fachliche und sachliche Beurteilung hinsichtlich der Entwicklung der Region, auch was den Tourismus betrifft, erarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass die Entwicklungsziele, die hier vorgegeben worden sind, nur im Bereich des Tourismus liegen können. ({1}) Wir wissen genau, dass diese Branche weltweit operiert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kuhn, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden so Nachteile erleiden. Das können wir nicht kampflos hinnehmen. Das ist auch die Überzeugung unserer Unternehmerschaft. ({0}) - Ja. Werner Kuhn ({1}) ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4792 und 15/4956 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. März 2005, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.