Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich den Kollegen Albrecht Feibel
und Horst Schmidbauer ({0}), die in den vergangenen Tagen jeweils ihren 65. Geburtstag feiern konnten, nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses
aussprechen.
({1})
Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Verhinderung von Gentechnikprojekten
({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Pawelski, Maria
Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Gleichberechtigtes Leben für
Frauen und Mädchen aus Migrantenfamilien in Deutschland
- Drucksache 15/5017 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle
Laurischk, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Frauenpolitik - Gesellschaftlicher
Erfolgsfaktor
- Drucksache 15/5032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs,
Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen
- Drucksache 15/5019 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({6})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Karl
Addicks, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Schwangerschaftsabbruch nach
Pränataldiagnostik - Verantwortungsvolle Regelungen
und Maßnahmen treffen
- Drucksache 15/5034 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu den durch Überschüsse
möglichen Beitragssenkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 160. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss ({8}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem
Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa
- Drucksachen 15/4900, 15/4939 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({10}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Horst Friedrich ({11}), Jürgen
Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Seeschifffahrt und Küstenschutz
in Deutschland stärken
- Drucksache 15/4847 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 e sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker
Beck ({13}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Auf dem Weg in ein geschlechtergerechtes
Deutschland - Gleichstellung geht alle an
- Drucksache 15/5029 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Berg, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Ursula Sowa, Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({15}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Frauen in Wissenschaft und Forschung stärken - Chancengleichheit auch als Wettbewerbsfaktor erhöhen
- Drucksache 15/5030 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({17}), Karin Kortmann, Sabine
Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Volker Beck ({18}), Irmingard Schewe-Gerigk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Geschlechtergerechtigkeit bleibt zentrale
Voraussetzung für Entwicklung - Zehn Jahre
nach der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking
- Drucksache 15/5031 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({19})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berichte für die Europäische Kommission zur
Umsetzung des Europäischen Sozialfonds in
der Bundesrepublik Deutschland - Zeiträume
1994 bis 1999 ({20}) und 2000 bis
2006 hier: Verwirklichung der Chancengleichheit
von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt
- Drucksache 15/2049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({21})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Präsident Wolfgang Thierse
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz,
Irmgard Karwatzki, Dr. Maria Böhmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen Zehn Jahre Novellierung des Art. 3 Abs. 2 des
Grundgesetzes
- Drucksachen 15/4146, 15/5052 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Humme
Irmingard Schewe-Gerigk
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
Pawelski, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Gleichberechtigtes Leben für Frauen und
Mädchen aus Migrantenfamilien in Deutschland
- Drucksache 15/5017 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({23})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor
- Drucksache 15/5032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({24})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Christel Humme, SPD-Fraktion, das Wort.
({25})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Frauen haben Höhenangst“ - unter diesem Titel ging
„Die Zeit“ in der letzten Woche der Frage nach, warum
so wenige Frauen in den Chefetagen der Firmen zu finden sind. 1911, als der erste Internationale Frauentag begangen wurde, forderten die Frauen aus der Arbeiterbewegung ihre Rechte ein. Damals war die weibliche
Hälfte der Bevölkerung völlig rechtlos. Heute, 94 Jahre
später, sind Frauen nach Art. 3 Grundgesetz rechtlich
gleichgestellt. Dennoch hat der Artikel in der „Zeit“
noch einmal deutlich gemacht, dass eine große Lücke
zwischen Anspruch und Realität klafft. Darum ist es
umso erfreulicher, dass heute alle Parteien in den von ihnen vorgelegten Anträgen dokumentieren, dass sie in der
Analyse und in den Zielen einig sind. Wir alle wollen
über alle Parteigrenzen hinweg mehr Frauen in Führungspositionen - das kann man dort nachlesen -, Chancengleichheit für Frauen in der Arbeitswelt und Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Wir alle sind uns offensichtlich einig: Wir wollen
den Frauen die Höhenangst nehmen.
({0})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in den sechs Jahren, in denen Rot-Grün jetzt Regierungsverantwortung
trägt, wurde frauenpolitisch viel erreicht.
({1})
Wir haben die Ziele, die ich gerade genannt habe, konsequent verfolgt und Schritt für Schritt entsprechende
Maßnahmen umgesetzt. Wenn Sie, meine Damen und
Herren von der Union, behaupten, dass nach unserer Regierungsübernahme im Jahre 1998 auf diesem Gebiet
nichts mehr getan worden ist,
({2})
dann kann ich dem nur entgegnen, dass Sie wohl in einer
völlig anderen Welt leben.
({3})
Blicken wir doch einmal kurz zurück: Gender Mainstreaming gilt seit 1999 als durchgängiges Prinzip allen
Regierungshandelns. Das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz für den öffentlichen Dienst des Bundes gilt seit
2002, das Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz für die Bundeswehr seit Ende 2004. Damit schaffen
wir Chancengleichheit. Wir setzen unser Programm
„Frau und Beruf“ von 1999 damit Schritt für Schritt um;
denn wir - das ist entscheidend - haben Konzepte, die
wir konsequent verfolgen. Diese vermisse ich, auch
wenn wir uns in den Zielen einig sind, in Ihren Anträgen
völlig. Das muss ich leider sagen.
({4})
- Doch, ich habe sie gelesen, Frau Lenke. Das ist ja das
Schlimme.
Das Gleiche gilt für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Was haben wir erreicht? Flexibilisierung der
Elternzeit 2001, Anspruch auf Teilzeit 2002, 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm 2003, Ausbau
der Tagesbetreuung für unter Dreijährige 2004.
({5})
Auch hier gilt für uns: konsequente Umsetzung eines guten Konzepts, das ich bei Ihnen wiederum sehr vermisse.
({6})
- Frau Lenke, ein Zwischenruf nach dem Motto „Laut
hilft“ ist kein Argument.
Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt
an Frauen hat die Bundesregierung 1999 erstmals ein
Gesamtkonzept für alle Ebenen der Gewaltbekämpfung
vorgelegt. Auch dieses Konzept setzen wir Schritt für
Schritt um. Mit dem Gesetz zum Schutz vor häuslicher
Gewalt von 2002 stärken wir Frauen und Kinder, die
noch immer typische Opfer von Gewalt in der Familie
werden. Wir gewähren von Menschenhandel betroffenen
Frauen mit einer Änderung des Strafrechts verstärkten
rechtlichen Schutz. Zwangsheirat wird als besonders
schwerer Fall der Nötigung bestraft.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Sie sehen, wir haben die sechs Regierungsjahre konsequent genutzt, um
die Situation der Frauen zu verbessern. Wir haben in dieser Zeit mehr für die Frauen erreicht als Sie von der Opposition in all den Jahren zuvor; das muss man konstatieren.
({7})
Aber zur Ehrlichkeit gehört auch: Wir haben viel geschafft, aber eben noch nicht alles erreicht. Dafür waren
die sechs Jahre im Vergleich zu den 94 Jahren zuvor etwas zu kurz. Wir arbeiten daran, unser Konzept zur
Chancengleichheit und zur Vereinbarkeit von Familie
und Beruf weiterzuentwickeln; darauf können sich die
Frauen in der Bundesrepublik verlassen.
({8})
Denn immer wieder müssen wir erfahren, dass Frauen
besonders häufig von Diskriminierung und Benachteiligung am Arbeitsplatz betroffen sind. Auf sich allein gestellt, scheuen sie häufig, sich zur Wehr zu setzen. Mit unserem Antidiskriminierungsgesetz stärken
wir ihnen den Rücken. Wir möchten damit aber auch
Mentalitäten ändern und für eine andere Unternehmenskultur werben. Deshalb freue ich mich, dass der Deutsche Frauenrat, der Deutsche Juristinnenbund und der
DGB die Ziele des Antidiskriminierungsgesetzes in der
Anhörung am letzten Montag so deutlich unterstützt haben.
({9})
Leider habe ich eine frauenpolitische Position der
CDU/CSU in der Anhörung sehr vermisst.
({10})
Dabei fordern Sie, meine Herren und Damen von der
CDU/CSU, doch von der Bundesregierung - ich zitiere
aus Ihrem Antrag -,
auf die Beseitigung bestehender struktureller Nachteile von Frauen gegenüber Männern hinzuwirken,
insbesondere auf dem Arbeitsmarkt.
Wenn Ihnen an dieser Stelle unsere Antwort, nämlich
das Antidiskriminierungsgesetz, nicht passt,
({11})
wie wollen Sie denn dann strukturelle Benachteiligung
bekämpfen? Sie müssen schon sagen, wie Sie etwas erreichen wollen, sonst sage ich Ihnen: Sie sind nicht regierungsfähig.
({12})
- Das passt Ihnen nicht, das verstehe ich; aber Wahrheit
ist Wahrheit.
Wenn ich all die Anträge, die heute auf dem Tisch liegen, vergleiche, dann fällt mir auf, dass wir mittlerweile,
nach sechs Jahren, doch einiges erreicht haben. Alle Parteien haben nämlich anerkannt, dass Gender Mainstreaming ein wichtiges Ziel ist.
({13})
- Frau Lenke, gerade Sie dürften diesen Zwischenruf
jetzt nicht machen; denn ich erinnere mich: Vor fünf Jahren war das für Sie noch kein Thema.
({14})
- Frau Lenke, ich fahre jetzt erst einmal fort.
({15})
- Wenn Sie eine Frage stellen wollen, können Sie das am
Ende meiner Rede tun; Zwischenrufe helfen nicht weiter.
In den letzten sechs Jahren war das in der Tat nicht
immer so. Mittlerweile aber wollen wir alle, dass jede
Maßnahme daraufhin überprüft wird, welche Wirkung
sie auf Männer und Frauen hat. Sehen wir uns einige
konkrete Maßnahmen an. Meine Damen und Herren von
der Union, Sie bieten uns zurzeit etwas Nettes an, nämlich den Pakt für Deutschland. Lassen Sie uns doch
einmal schauen, wie sich der Pakt für Deutschland gender-mainstreaming-mäßig auswirkt.
({16})
Sie fordern in Ihrem Antrag zum Beispiel - da müssen
Sie sich in Ihrer Fraktion schon einig sein, ob Sie diesen
Antrag unterstützen oder nicht -,
({17})
den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf
5 Prozent zu senken. Das würde für die Bundesagentur
für Arbeit eine Mittelkürzung von 12 Milliarden Euro
bedeuten.
({18})
Sie müssen aber auch ins Kalkül nehmen, was das
gleichzeitig bedeutet: Damit werden nämlich wichtige
arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, von denen auch
Frauen profitieren, deutlich zurückgefahren. Wie passt
das mit Ihrer Forderung, Berufsrückkehrerinnen zu fördern, zusammen?
({19})
Ich sage Ihnen: Ihnen fehlt ein schlüssiges Konzept. Daher bleibe ich dabei: Sie sind nicht regierungsfähig.
Ich bin froh, dass wir an der Regierung sind und dass
wir unsere guten und schlüssigen Konzepte, die die
Frauen brauchen, weiterentwickeln und fortsetzen können.
Schönen Dank.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegin Hannelore Roedel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Zitat der SPDEuropaabgeordneten Lissy Gröner vom 28. Februar dieses Jahres in New York:
In Deutschland ist der gleichstellungspolitische
Fortschritt eine Schnecke.
({0})
Wo die Kollegin Recht hat, hat sie Recht.
Zehn Jahre nach Peking und der Novellierung des
Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes gilt es heute, Bilanz zu
ziehen. Wie steht es um die Frauenpolitik von Rot-Grün?
Tatsache ist: Die Situation von Frauen hat sich seit der
Regierungsübernahme von Rot-Grün nicht verbessert.
({1})
Hierzu nenne ich gerne Zahlen:
Nach wie vor verdienen Frauen bei gleichwertiger
Arbeit durchschnittlich 30 Prozent weniger als Männer.
({2})
Trotz bester Bildungsabschlüsse sind Frauen in Wissenschaft und Forschung weiterhin unterrepräsentiert und
lediglich 13 Prozent der Professuren in weiblicher Hand.
An den außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist
sogar nur jede 20. Führungskraft weiblich. In den wesentlichen Gremien im Einflussbereich des Bundes - Sie
hätten es eigentlich in der Hand, dies zu ändern - liegt
der Frauenanteil bei nur 16 Prozent.
({3})
Bedrückend ist die Situation allein erziehender
Frauen in diesem Lande. Sie verdienen durchschnittlich
nur halb so viel wie Paare mit Kindern. Über ein Drittel
lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Von der Bundesregierung wurden viele wohlklingende Aktionsprogramme mit honorigen Zielen gestartet. Auch haben Sie richtigerweise erkannt, dass Maßnahmen zur Erleichterung von Arbeits- und
Familienleben von entscheidender Bedeutung für die
Realisierung von Chancengleichheit sind. Doch wie
sieht denn die Lebenswirklichkeit von Frauen heute aus?
Ich glaube, Sie sind sich darüber nicht im Klaren.
({4})
Sie leisten zwar mit Programmen eine Anschubfinanzierung für Ganztagsschulen. Aber was ist die Folge? Länder und Kommunen bleiben auf den Folgekosten in voller Höhe sitzen.
({5})
Mit Ihrer Politik haben Sie den Kommunen die finanzielle Grundlage entzogen.
({6})
Ähnliches gilt für das Tagesbetreuungsausbaugesetz.
Auch hier wurde die Finanzierung von Ihnen bis heute
nicht sichergestellt.
({7})
Länder und Kommunen werden angesichts ihrer angespannten Haushaltslage Probleme haben, die Kosten zu
tragen. Die Bundesregierung stiehlt sich auch hier aus
ihrer Verantwortung.
Aber nicht nur in Ihren halbherzigen Programmen,
meine Damen und Herren von der Regierungsbank,
liegen die Ursachen für den Stillstand in der Gleichstellungspolitik sondern vor allem in der seit sechs Jahren von Ihnen betriebenen falschen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik.
({8})
Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen ist es für
Frauen schwerer denn je, überhaupt eine Arbeitsstelle zu
finden. Nichts gefährdet die Realisierung der Gleichberechtigung mehr als die fehlende Perspektive auf einen
Job.
In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist es eine Brüskierung von Arbeitslosen, dass mit laxen Regeln der
Visavergabe die Tore für Zehntausende von Schwarzarbeitern geöffnet wurden. Wie wollen Sie diese Praxis
zum Beispiel vor einer Frau rechtfertigen, die ihren Job
durch den Volmer-Erlass an eine „legal“ eingereiste
Ukrainerin verloren hat?
({9})
Sorgen muss uns insbesondere die Situation von
Frauen mit Migrationshintergrund bereiten. Das höhere
Risiko, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, ist vielfach auf geringere Bildungs- und Ausbildungsbeteiligungen infolge traditioneller Familienstrukturen zurückzuführen. Aber letztendlich liegt die Ursache dafür
ebenfalls in der schlechten Arbeitsmarktsituation, die
Sie verschuldet haben.
Da Sie von Gender Mainstreaming reden: Gerade
auf dem Arbeitsmarkt nutzt die Implementierung von immer neuen Gender-Mainstreaming-Regelungen nichts,
wenn Sie mit immer neuen Maßnahmen und Gesetzen die
Wirkung dieser Regelungen konterkarieren. Es ist eben
ein Irrweg, zu glauben, dass mit einem Übermaß an Bürokratie und Dirigismus auf dem Arbeitsmarkt Positives
für Frauen erreicht werden kann.
Aktuellstes Beispiel ist das Antidiskriminierungsgesetz - ein unausgegorener Gesetzentwurf. Selbstverständlich treten auch wir dafür ein, die europarechtlichen
Vorgaben umzusetzen.
({10})
Aber das, was Sie uns vorgelegt haben, stellt einen Gipfel an Bürokratie dar und wird nicht dazu beitragen, dass
mehr Arbeitsplätze in diesem Land entstehen.
({11})
Um die Lage der Frauen zu verbessern, müssen in der
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik endlich die notwendigen Schritte eingeleitet werden. Von entscheidender Bedeutung hierfür sind Maßnahmen zur Senkung der
Lohnnebenkosten, Steuervereinfachungen und -entlastungen vor allem für den Mittelstand sowie der Abbau
von Überregulierungen auf dem Arbeitsmarkt.
({12})
Wir heben in unserem Antrag hervor, dass Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe in Deutschland auch künftig einen hohen Stellenwert einnehmen muss. Um dem
Wunsch jüngerer Frauen, Familie und Beruf miteinander
zu verbinden, nachzukommen, stellen die Bemühungen
um eine nachhaltige Verbesserung der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf den Kern für eine erfolgreiche Frauenpolitik dar. Gemeinsam mit den Unternehmen in diesem Land wollen auch wir auf eine frauen- und familienfreundliche Ausgestaltung der Arbeitswelt hinwirken.
({13})
In diesem Zusammenhang muss alles dafür getan werden, dass Frauen nach der Phase der Familientätigkeit
Perspektiven für den beruflichen Wiedereinstieg haben.
({14})
Handlungsbedarf besteht auch im Hinblick auf junge
Mädchen, deren Berufsziele vielfach noch die typischen
Frauenberufe sind. Deshalb muss bereits in der Grundschule das Interesse der Mädchen an männertypischen
Berufen in Naturwissenschaft und Technik geweckt werden; denn nur so besteht die Chance, die Spaltung des
Arbeitsmarktes in relativ gut bezahlte Männerberufe und
in die schlechter bezahlte Frauenbranche zu überwinden.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben gestern die
Beteiligung Ihrer Fraktion am Girls’ Day betont und dabei die Frage aufgeworfen, wann die erste Frau die Männerdomäne „Bundeskanzler“ erobert. Dazu kann ich Ihnen sagen: Vergessen Sie all Ihre zeitraubenden und
erfolglosen Programme, die Frauen in Männerberufe
bringen sollen! Wählen Sie die Union und Angela
Merkel und Sie haben 2006 eine Frau in einem typischen
Männerberuf!
({15})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in der heutigen Debatte darf es aber nicht nur um die Gleichstellung
gehen, sondern auch um Frauenrechte als Menschenrechte. Frauenhandel und Zwangsprostitution sind besonders widerwärtige Formen der organisierten Kriminalität. Dazu höre ich von Ihnen leider sehr wenig. Es ist
ein ausgesprochener Skandal, dass die Spitze des Auswärtigen Amtes Menschenhändlern und Zuhältern ihr
schmutziges Geschäft dadurch erleichtert, dass sie Einreisevisa nach dem Motto „in dubio pro libertate“ vergab. Hier wurden falsch verstandene Vorstellungen von
Weltoffenheit de facto höher bewertet als die gerade von
grüner Seite immer wieder beschworenen Menschenrechte.
({16})
Abschließend möchte ich mich kurz einem Problem
zuwenden, das wir gerade heute nicht aus den Augen
verlieren dürfen. Im Hinblick auf die in Deutschland lebenden Muslimas dürfen wir nicht akzeptieren, dass sich
in diesem Land Parallelgesellschaften entwickeln, in
denen patriarchalische Ehr- und Moralvorstellungen
über die im Grundgesetz verankerten Frauen- und Menschenrechte gestellt werden.
({17})
So genannte Ehrenmorde - in Wirklichkeit heimtückische Morde - sind unerträglich.
({18})
Die in Art. 3 des Grundgesetzes verankerte Gleichberechtigung gilt für alle in diesem Lande lebenden Menschen. Daher dürfen wir niemanden unter dem Deckmantel der Toleranz in Parallelgesellschaften mitten
unter uns allein lassen; meine Kollegin Rita Pawelski
wird dies noch ausführen.
Ihre oft von uns eingeforderte Solidarität können Sie
heute ganz einfach unter Beweis stellen: indem Sie unserem Antrag zustimmen.
({19})
Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Guten Morgen, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zehn Jahre Grundgesetzänderung und der Internationale Frauentag haben alle Fraktionen beflügelt,
Forderungen zum Thema Gleichstellung vorzulegen.
Einzig die FDP hat es geschafft, vier Seiten ohne einen
einzigen konkreten Vorschlag zu bedrucken. Aber das
passt irgendwie. Sie begnügen sich mit Klamauk.
({0})
Ich will dazu zwei Beispiele nennen, Kollegin Lenke:
Ihr Kollege Bahr setzt in die Welt, dass die falschen
Frauen Kinder bekommen. Ich frage mich: Wen meint er
denn wohl damit? Meint er vielleicht seine Kollegin
Koch-Mehrin, die ihren nackten Babybauch zum Fotoshooting präsentiert?
({1})
Der Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen rät den alten Menschen, endlich den Löffel abzugeben. Sie sehen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die FDP kann man
getrost vergessen.
({2})
Nun zu den Anträgen der CDU/CSU. Frau Kollegin
Roedel, ich hatte eigentlich eine andere Rede vorbereitet. Aber nach dem, was Sie hier zum Besten gegeben
haben, muss ich mein Manuskript leider zur Seite legen.
Sie haben allen Ernstes behauptet, die großen Erfolge in
der Frauenpolitik habe die CDU/CSU bis 1998 zu verbuchen und seit unserer Regierungsübernahme herrsche
hier Stagnation. Ich denke nicht, dass Sie das wirklich
glauben; Sie lächeln ja auch so.
({3})
Wissen Sie eigentlich nicht, warum Sie 1998 abgewählt
wurden? Wir hatten im Bereich der Frauenpolitik alle
Hände voll zu tun, weil Sie Ihre Hände jahrelang in den
Schoß gelegt hatten.
({4})
Wir haben nicht nur Gesetze aufgelegt und verabschiedet, sondern auch die frauenpolitische Wirklichkeit in Deutschland verändert.
Ich nenne Ihnen einmal die Fakten, Frau Roedel: Seit
der Verabschiedung des Bundesgleichstellungsgesetzes
steigt die Zahl von Frauen in Leitungspositionen. In vielen Ministerien wurden mehr Frauen als Männer befördert. Das Justizministerium zum Beispiel hat zwei
Drittel Frauen und ein Drittel Männer befördert. Im Auswärtigen Amt wurden in den letzten Jahren zu
70 Prozent Frauen eingestellt. Dank unserer Anstrengungen im Wissenschafts- und Forschungsbereich stieg der
Anteil der Frauen bei den Professuren von 1998 bis
heute von 9 auf 13 Prozent. Das ist noch zu wenig. Sie
können aber doch nicht sagen, es sei nichts passiert.
({5})
Durch das Elternzeitgesetz verbesserte sich der Anteil der
Väter, die Elternzeit in Anspruch nahmen, von 1,5 - das
ist eine homöopathische Dosis - auf immerhin
5 Prozent. Ich frage mich, warum Sie das nicht zur
Kenntnis nehmen wollen. Wir werden auf jeden Fall
nicht zulassen, dass Sie solche Schauermärchen verbreiten und die Öffentlichkeit täuschen.
({6})
Ich will nicht verhehlen, dass es noch genug zu tun
gibt, gerade in der Privatwirtschaft. Weibliche Führungskräfte, Nachwuchsförderung, gleicher Lohn - Fehlanzeige. Die Vereinbarung mit den Spitzenverbänden
der deutschen Wirtschaft war ein Flop; das muss man sagen. Aber wie sollte es auch anders sein, wenn noch
nicht einmal die Hälfte aller Betriebe etwas von der
Existenz dieser Vereinbarung weiß? Darum brauchen
wir ein Bündnis für Chancengleichheit, ähnlich dem
von der Ministerin Renate Schmidt initiierten Bündnis
für Familie. Die Frauen wollen nicht darauf warten, aufgrund mangelnden männlichen Nachwuchses in einer alternden Gesellschaft notgedrungen auf die Chefsessel
gelassen zu werden.
Die Union beschäftigt sich nun auch mit der Situation
der Frauen mit Migrationshintergrund. Na endlich,
kann ich da nur sagen. Willkommen in der Gegenwart!
Opposition tut Ihnen offensichtlich gut.
({7})
Während Ihrer Regierungszeit hatten ausländische Ehefrauen, die weniger als zwei Jahre in Deutschland verheiratet waren und aufgrund von Gewalt in ein Frauenhaus flüchteten, zwei Möglichkeiten: Entweder sie
wurden abgeschoben oder sie mussten sich der Prügel
durch ihren Mann weitere zwei Jahre aussetzen, bevor
sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhielten. Wir
haben das geändert, entgegen Ihrem Widerstand.
({8})
Auch von geschlechtsspezifischer Verfolgung als
Asylgrund wollten Sie nichts wissen. Natürlich müssen
wir die Migrantinnen in Deutschland schützen. Das
Thema Zwangsprostitution mit der erleichterten Visapraxis zu verbinden, Frau Roedel, das eignet sich hier
wirklich nicht. Die Zahlen belegen, dass auch nach dem
veränderten Erlass aus der Ukraine nicht mehr Kriminalität und Zwangsprostitution zu verzeichnen sind.
({9})
Nehmen Sie die Zahlen einfach zur Kenntnis!
({10})
- Hören Sie doch einmal zu, anstatt zu schreien!
Im letzten Monat wurde als sechstes Opfer in vier
Monaten in Berlin die Deutschtürkin Hatun Sürücü
- vermutlich durch ihre eigenen Brüder - erschossen. Ihr
„Verbrechen“ war, dass sie sich dagegen wehrte, dass
ihre Familie Kontrolle über ihre Lebensweise, ihren
Körper und die Wahl ihres Ehemannes ausübte. Dafür
musste sie sterben.
({11})
- Stellen Sie doch einmal eine Frage! Das verlängert
meine Redezeit.
({12})
Hier nützen aber keine strafrechtlichen Verschärfungen;
denn Mord ist Mord. Hilfe und Aufklärung sind angesagt.
({13})
- Herr Präsident, so kann ich nicht reden.
Im Falle der Zwangsverheiratung war es allerdings
nötig, das ausdrückliche Verbot in das Strafgesetzbuch
aufzunehmen. Das haben wir getan. Ihre Forderung ist
also unnötig. Viel wichtiger aber ist, dass die aus
Deutschland in das Ausland verbrachten zwangsverheirateten Frauen ein Rückkehrrecht nach Deutschland haben, und das auch später als nach sechs Monaten.
({14})
Da sind Sie gefragt, verehrte Kolleginnen von der
Union. Hier können Sie etwas tun. Denn eines geht nicht
an: Sie können nicht hier im Bundestag Krokodilstränen
über die Situation der Frauen vergießen, aber im Bundesrat alles verhindern, was den betroffenen Frauen hilft,
ein Aufenthaltsrecht zu bekommen.
Wir müssen aber auch die Diskussion mit den
Migrantinnen und Migranten führen. Es kann nicht
sein, dass junge türkische Männer in aller Öffentlichkeit
einen solchen Mord gutheißen. Es kann auch nicht sein,
dass Mädchen von Mitschülern oder Brüdern bedroht
werden, wenn sie kein Kopftuch tragen. Notwendig ist
eine selbstkritische Diskussion in den Migranten-Communities.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines anmerken:
In den Anträgen sind einige Punkte enthalten, die wir
nur gemeinsam durchsetzen können.
({15})
- Ja, die FDP hat doch noch nichts Schriftliches vorgelegt. - Darin haben wir durchaus Erfahrung, zum Beispiel beim § 177 StGB oder den Unisex-Tarifen. Das
wäre sowohl für den Internationalen Frauentag als auch
für das zehnjährige Jubiläum des Staatsziels Gleichstellung im Grundgesetz ein positives Signal.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
({16})
Ich erteile Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, dass das Schauspiel, das wir heute anlässlich der
Debatte des Internationalen Frauentags aufführen, gegen
uns spricht.
({0})
Ich werde keine solche populistische Rede halten, wie
wir sie von den Abgeordneten auf der linken Seite gehört
haben.
Die Frauen erwarten kein Schauspiel. Sie erwarten
vielmehr am Internationalen Frauentag Solidarität mit all
denen, denen wir aus dem Bundestag heraus helfen müssen. Dieses Schauspiel ist des Internationalen Frauentags
unwürdig.
({1})
Wir und andere haben den Internationalen Frauentag
gefeiert. Aber es stellt sich auch die Frage, ob wir mit
dem, was die Frauen in Deutschland erreicht haben, zufrieden sein können. Ist das, was uns Frau Humme und
andere heute vorgetragen haben, wirklich der Maßstab?
Ich denke, wir sollten uns in Sachen Gleichstellung an
den fortschrittlichsten Ländern messen.
Aber auch am Internationalen Frauentag müssen wir
die Länder im Blick haben, in denen die Gleichstellung
noch meilenweit entfernt ist. Wir müssen uns bewusst
sein, dass in einigen Ländern der Erde Mädchen und
Frauen noch nicht einmal elementare Menschenrechte
gewährt werden. Viele leben in patriarchalischer Unterdrückung. Wir haben erlebt, dass auch Türkinnen in
Deutschland davon betroffen sind.
In einigen Ländern der Erde haben Frauen keine politischen Mitspracherechte, keine ausreichende Gesundheitsversorgung und keine Bildungschancen. Es ist die
Pflicht zuallererst der Bundesregierung, aber auch der
Bundestagsfraktionen, sich entschieden für die Durchsetzung der Frauenrechte in allen Teilen dieser Welt einzusetzen.
({2})
Ich will aber an dieser Stelle auf die Situation von
Frauen in Deutschland zurückkommen. Die Fakten
zeigen doch, dass wir Frauen meilenweit von echter
Teilhabe und Chancengleichheit entfernt sind. Dass
Sie alle Maßnahmen im Rahmen der Frauenpolitik vor
1998, die Sie heute aufgezählt haben, diskriminiert haben, zeigt, dass es Ihnen in diesem Bereich um Parteipolitik geht statt um eine gemeinsame Politik, die - auch
im Sinne von Gender Mainstreaming - mehr für die
Frauen erreicht.
({3})
Wir Frauen tragen nämlich sehr viel zu dieser Gesellschaft bei. Wir erwirtschaften große Teile des Bruttosozialprodukts. Wir tragen wesentlich zum Steueraufkommen bei und leisten Erhebliches für unser soziales
Versicherungssystem. Auch all das, was die Frauen in
Familien und für ihre älteren Mitbürger tun und was sie
ehrenamtlich leisten, hätte heute von Ihnen angesprochen werden müssen. Hier gibt es aber nur Streit und das
bedaure ich außerordentlich.
({4})
Das Potenzial von Frauen ist - das wissen wir alle in Bezug auf Erwerbstätigkeit noch längst nicht ausgeschöpft. Aber woran liegt es, dass trotz besserer Bildungsabschlüsse Frauen in der Wirtschaft selten gut
dotierte Positionen einnehmen? Der Frauenanteil an
Managementpositionen in Deutschland ist seit 1998
kaum gestiegen, liebe Kolleginnen von der linken Seite.
Er liegt immer noch bei 28 Prozent.
Auf der höchsten Entscheidungsebene der 50 größten
börsennotierten Unternehmen findet sich in Deutschland
keine einzige Frau als Präsidentin und Vorstandsvorsitzende. Unterhalb dieser Ebene liegt der Frauenanteil in
Deutschland bei 12 Prozent. In Norwegen und Schweden ist er doppelt so hoch.
({5})
20 Prozent der Mitglieder der obersten Gerichtshöfe in
Deutschland sind Frauen. In anderen EU-Staaten ist der
Frauenanteil in diesem Bereich deutlich höher. Wiederum in Norwegen ist er doppelt so hoch wie bei uns.
Bei den Professoren - das hat die Kollegin von der CDU
schon angesprochen - ist der Anteil der Frauen noch beschämender. Er beträgt mehr als 10 Prozent. Damit belegt Deutschland innerhalb der EU den viertletzten Platz.
({6})
Einer der Gründe für diese typisch deutsche Misere
sind die schlechten Rahmenbedingungen für Frauen.
Das ist zwar ein alter Hut, aber ich sage ganz deutlich:
Rot-Grün hat in diesem Bereich bislang keine Erfolge
verzeichnen können. Zu diesen schlechten Rahmenbedingungen gehört vor allem das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit. Hier hat die
Bundesregierung die Situation nicht verbessern können.
({7})
Der Betrag von 1,4 Milliarden Euro, den Sie angesprochen haben, ist ein Wolkenkukkucksheim.
({8})
Mir wurde von Ihnen noch keine Berechnung vorgelegt,
in der Sie nachweisen können, dass den Gemeinden
1,4 Milliarden Euro für die Betreuung von Kindern unter
drei Jahren zur Verfügung stehen.
({9})
In unserem Antrag „Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor“ - Frau Schewe-Gerigk, das sage ich
Ihnen, weil Sie ihn nicht gelesen haben ({10})
fordern wir von der Bundesregierung erstens die Beseitigung bestehender Barrieren und Benachteiligungen, die
der faktischen Gleichberechtigung entgegenstehen. In
diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sprechen; denn
hierbei geht es auch darum, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Väter zu gewährleisten. Nicht nur
Frauen haben das Recht auf ein Leben mit Kindern, sondern auch Väter müssen die Chance haben, ohne Diskriminierung in ihrer Firma und ihrem gesellschaftlichen
Umfeld Kinder zu erziehen.
({11})
Wenn sich ein Vater für einige Zeit der Kindererziehung
widmet, wird er noch immer mit Misstrauen betrachtet,
nicht aber, wie es angebracht wäre, hoch gelobt.
({12})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann nur durch
den Ausbau der Kinderbetreuung, auf den wir warten,
({13})
verbunden mit gesellschaftlicher Akzeptanz und der verbesserten Betreuung unter dreijähriger Kinder gewährleistet werden.
Die FDP fordert von der Bundesregierung zweitens
- das ist der wichtigste Punkt -, die existenzsichernde
Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt voranzutreiben.
({14})
Meine Damen und Herren, das geschieht angesichts von
5 Millionen Arbeitslosen nicht. Was wir brauchen, ist
eine kluge Wirtschaftspolitik und die Beseitigung von
Fehlanreizen in Steuer- und Transfersystemen, zum
Beispiel den Wegfall der Steuerklasse V,
({15})
die Sie Ihren Anträgen zufolge beibehalten wollen. Wir
haben diesen Vorschlag in den Bundestag eingebracht,
Sie aber lehnen ihn ab. Wir wollen also die Beseitigung
von Fehlanreizen in Steuer- und Transfersystemen. Darüber hinaus fordern wir von Ihnen eine bessere Arbeitsmarktpolitik und den Abbau der hohen Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt.
Drittens fordert die FDP die Tarifpartner auf, die
bestehenden Arbeitsbewertungssysteme und ihre Anwendung auf diskriminierende Mechanismen zu untersuchen. Die Beseitigung der Unterbewertung frauendominierter Tätigkeiten und der Überbewertung
männerdominierter Tätigkeiten in Gehaltstarifen ist die
Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgebern, auch
und gerade im öffentlichen Dienst. Das sind einige wichtige Forderungen, die wir in unserem Antrag stellen.
Frau Schewe-Gerigk, als Opposition haben wir die
Regierung kritisch zu begleiten und selbst Vorschläge zu
machen. Wenn Sie sich die Anträge, die die FDP-Fraktion in der letzten und in dieser Legislaturperiode in den
Bundestag eingebracht hat, ansehen, stellen Sie fest,
dass auch wir Frauenpolitik machen - allerdings auf eine
andere Weise als Sie.
({16})
Zum Schluss eine persönliche Anmerkung. Liebe
Kollegen und Kolleginnen, Frauenpolitikerinnen haben in keiner Fraktion einen leichten Stand. Dieser Politikbereich hat nicht die Priorität, die er verdient. Deshalb
ist unser Antrag, in dem die Defizite dieser Regierung
nach sechsjähriger Amtszeit angesprochen werden, so zu
verstehen, dass wir damit die Kräfte in der Koalition
stärken wollen, die sich für Gender Mainstreaming, also
für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern,
einsetzen. Auf meinem Sprechzettel habe ich folgenden
Schlusssatz notiert: Lassen Sie uns heute nicht im Streit
enden,
({17})
sondern das Ziel verfolgen, für Männer und Frauen Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns allen gut tun.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort Kollegin Renate Gradistanac,
SPD-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident, meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Internationale Frauentag 2005
bietet die Möglichkeit für eine gleichstellungspolitische
Halbzeitbilanz - ich beziehe mich nur auf die 15. Legislaturperiode - der Gleichstellungspolitik als Querschnittsaufgabe mit der Strategie des Gender Mainstreaming.
Seit Jahrzehnten fordert die Frauenbewegung mit ihren
Frauenverbänden, dass Frauen sich nicht zwischen Familie und Beruf entscheiden müssen, sondern dass sie
wie Männer Familie und Beruf ganz selbstverständlich
miteinander vereinbaren können.
Was für Frauen in anderen EU-Ländern wie zum Beispiel in Frankreich und in Schweden längst Realität ist,
nämlich eine verlässliche und umfassende Kinderbetreuung, war in Deutschland lange Zeit undenkbar. Durch unser 4-Milliarden-Euro-Ganztagsschulprogramm
({0})
und das Tagesbetreuungsausbaugesetz für unter Dreijährige wurde zu meiner großen Freude in meinem konservativen Schwarzwald ein fruchtbarer Gärungsprozess
ausgelöst, der erste Früchte trägt.
({1})
Wenn man bedenkt, dass Bildung und Betreuung
originäre Aufgaben der Länder und Kommunen sind, ist
es umso erfreulicher, dass es der SPD-geführten Bundesregierung gelungen ist, diesen gesellschaftlichen Wandel
anzustoßen.
({2})
Klar war dabei immer, dass wir auf diesem harten und
steinigen Weg vielfältige und zuverlässige Partner brauchen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Nein. Wir wollten doch in Ruhe weitermachen. - Die
strategische Kooperation zwischen den Beteiligten aus
Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften ist zwingend
notwendig, um die Vereinbarkeit von Familie und Arbeitswelt zu verbessern.
({0})
Bundesministerin Renate Schmidt hat den guten Ansatz
aufgegriffen und das Projekt „Allianz für Familien“
begründet.
({1})
Vor Ort haben sich inzwischen 129 „lokale Bündnisse
für Familien“ entwickelt, denen sich 17 Millionen Menschen angeschlossen haben. Angebote zur flexiblen Kinderbetreuung und zum beruflichen Wiedereinstieg sind
Beispiele für Aktivitäten, mit denen lokale Bündnisse in
Zusammenarbeit mit der Wirtschaft ganz konkret vor
Ort die beruflichen und familiären Möglichkeiten von
Frauen verbessern.
Beim Unternehmenswettbewerb „Erfolgsfaktor Familie 2005“ hat sich aus meiner Heimat die Firma Bauser
für die Endrunde qualifiziert. Ich gehe davon aus, dass
Sie sich alle mit mir darüber freuen, dass diese beispielhafte Unternehmensphilosophie Raum greift.
({2})
Ich wünsche mir sehr, dass es nicht immer heißt,
Wirtschaft zuerst und somit Frauenrechte als Luxus für
bessere Zeiten aufgespart werden, sondern ich schließe
mich hier den Worten von Frau Widmann-Mauz - das
wird sie sicher erschrecken -, der Vorsitzenden der
Gruppe der Frauen in der CDU, ausdrücklich an.
Sie sagte: Heute und in Zukunft werden die Unternehmen in Deutschland, insbesondere angesichts der demographischen Entwicklung, nicht mehr auf die überdurchschnittlich gut ausgebildeten Frauen in Deutschland
verzichten können.
({3})
Meine Damen und Herren, trotz aller positiven Entwicklungen ist Deutschland auch in der Arbeitswelt leider immer noch keine diskriminierungsfreie Zone. Zum
Beispiel sind die Lohnunterschiede - das beklagen wir
alle - noch immer gravierend. Bei Vollzeiterwerbstätigkeit verdienen Frauen noch immer bis zu 30 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
({4})
Mit unserem Antidiskriminierungsgesetz
({5})
haben Frauen in Zukunft eine wirkungsvollere Handhabe
({6})
gegen Benachteiligungen und Diskriminierungen, zum
Beispiel in der Arbeitswelt.
({7})
Die Tarifvertragsparteien - Arbeitgeber, Beschäftigte
und Betriebsräte - sind gefordert, aktiv eine Antidiskriminierungskultur zu entwickeln.
({8})
Daimler-Chrysler geht hier mit einer sehr guten Handreichung beispielhaft voran. Wie wichtig dieses Gesetz
ist, hat die anspruchsvolle Anhörung diese Woche zum
Antidiskriminierungsgesetz gezeigt.
({9})
Die wertvollen Anregungen werden wir zum Teil einarbeiten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Rita Pawelski, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident, meine Damen und
Herren! In Deutschland leben 3,4 Millionen Frauen, die
aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Viele von
ihnen sind in unser Land gekommen, um bei uns in Freiheit zu leben, in Freiheit, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt wurde: Sie wollten leben ohne Angst vor Repressalien des Staates, der Religionsgemeinschaften oder der
Familienclans. Bei uns, in ihrer neuen Heimat, schützt
sie das Grundgesetz: Es sichert ihnen unveräußerliche
Rechte zu wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die
Meinungsfreiheit - und auch die Gleichberechtigung.
Aber von diesen Rechten können trotz Grundgesetz
viele dieser Frauen nur träumen. Wir haben aus falsch
verstandener Toleranz ignoriert, dass viele Migrantinnen in unserem Land in Unfreiheit, in Angst leben.
({0})
Wir haben Themen wie Ehrenmorde oder Zwangsheiraten leichtfertig unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit oder unter „fremde Kulturen“ verschwinden lassen. Wir haben toleriert, dass mitten unter uns die
Rechte von Frauen mit Füßen getreten werden.
({1})
Nun ist so mancher ideologischer Luftballon zerplatzt. Die Schriftstellerin Necla Kelek schrieb sogar:
Der Traum von Multikulti ist verantwortungslos. Die
Anwältin Seyran Ates sieht bei der Regierung - ich zitiere eine unglaubliche Angst, kulturelle Minderheiten
an den Grundrechten zu messen … wo die Grünen
sich immer so hübsch zugute halten, es mit den
Menschenrechten ganz genau zu nehmen.
Das Thema „Gewalt gegen türkische Frauen“ hat in
den letzten Wochen für Schlagzeilen gesorgt. Ich meine
jetzt nicht die Gewalt gegen türkische Frauen, ausgeübt
von türkischen Polizisten in Istanbul. Ich frage mich
schon, wo da die Betroffenheitsmienen einiger Minister
waren, die sich doch sonst ständig äußern. Ich vermisste
da Äußerungen der Regierung.
({2})
Meine Damen und Herren, ich spreche von dem grausamen Mord an einer Türkin im Februar in Berlin, der
die ganze Republik erschütterte. Hatun Sürücü wurde
auf offener Straße regelrecht hingerichtet, mutmaßlich
von ihren eigenen Brüdern. Das Tatmotiv: verletzte
Ehre. Die junge Frau wurde mit 16 mit einem Cousin
verheiratet. Sie war westlich geworden, sie wollte jetzt
frei leben. Sie war innerhalb weniger Monate die sechste
Frau in Berlin, die im Namen der „Ehre“ ermordet
wurde. Auslöser für derartige Menschenrechtsverletzungen sind archaische Familienstrukturen, zum Beispiel
bei den Jeziden, aber auch die strenge, traditionelle Auslegung des Islam: Danach ist die Ehre eines Mannes abhängig von einem ehrbaren Verhalten seiner weiblichen
Familienangehörigen. Verstößt eine Frau dagegen, etwa
indem sie sich verliebt - möglicherweise sogar in einen
Ungläubigen - oder sogar Geschlechtsverkehr vor der
Ehe hat, gilt das als Beschmutzung der Ehre der Familie,
der Ehre des Familienoberhaupts. Das kann nur durch
Verstoßung, Verstümmelung oder - im schlimmsten Fall,
wie es ja ein paar Mal passiert ist - durch Tötung der
„Täterin“ gesühnt werden. Erst dann gilt seine Ehre als
wieder hergestellt. Das wird auch in Deutschland, in unserem Land, praktiziert. Das wollen wir nicht weiter zulassen.
({3})
Eine Studie des Familienministeriums zeigt, dass ein
Viertel der befragten Frauen, die mit einem türkischen
Partner verheiratet sind oder waren, den Ehemann vor
der Hochzeit nie gesehen haben. Das sind für mich
Zwangsheiraten und massive Verletzungen der Menschenrechte.
({4})
Offizielle Daten zu Zwangsehen in Deutschland liegen
leider nicht vor. Das ist für mich völlig unverständlich.
Der Berliner Senat sprach von 230 Fällen im Jahre 2002,
in denen Frauen von Zwangsehen bedroht oder betroffen
waren. In Celle, einer Kleinstadt in Niedersachsen - dort
leben sehr viele Jeziden -, waren es in den letzten Jahren
über 200 Frauen. Jeder dort sagt, dass die Dunkelziffer
sehr viel höher ist.
Diese Frauen leiden. Nach Angaben der Berliner Kriseneinrichtung Papatya sind unter den dortigen Opfern
der Zwangsheirat 68 Prozent minderjährig, 30 Prozent
von ihnen äußerten Suizidabsichten und 80 Prozent wurden vorher misshandelt oder missbraucht. Diese Zahlen
sind nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Tausende
von so genannten Importbräuten - das sind junge Mädchen zum Beispiel aus Anatolien in der Türkei - hierher
geholt werden, die kein Wort Deutsch können und keine
Rechte kennen. Sie müssen hier abgeschirmt von der
Außenwelt leben. In Gesprächen mit Beratungsstellen
wurde mir oft gesagt, dass diese Frauen ihre Wohnungen
oft jahrelang nicht verlassen durften und wenn doch,
dann nur in Begleitung eines männlichen Wesens, sei es
auch nur fünf Jahre alt. Viele wussten nach Jahren nicht
einmal, in welcher Stadt sie eigentlich leben. Das alles
geschieht in Deutschland.
Diese Frauen brauchen Beratung - auch in türkischer
und arabischer Sprache. Gleichzeitig fordern wir als
CDU/CSU-Fraktion,
({5})
dass alle Institutionen und Gruppen, die mit Betroffenen
von Gewalt und Zwangsheirat zu tun haben, so qualifiziert werden, dass sie die Probleme rechtzeitig erkennen
und auf gute Beratungsstellen verweisen können.
({6})
Wir wollen, dass die Straftaten, bei denen die Ehre als
Tatmotiv angegeben wird, in den Statistiken separat ausgewiesen werden müssen. Das geschieht bis heute leider
nicht. Wir fordern, dass die Opfer von Zwangsehen mehr
Rechte erhalten. Die Pflicht zur Einhaltung der einjährigen Frist zur Aufhebung dieser Ehe soll abgeschafft
werden. Wir fordern, dass bei einer Zwangsheirat die
Unterhaltsansprüche nicht mehr davon abhängen, ob die
Betroffene vom Ehegatten bedroht oder getäuscht
wurde; denn sehr oft geht die Drohung auch von der Familie aus. Übrigens werden auch oft junge Männer bedroht; denn diese werden oft genauso zwangsverheiratet.
Sie sind also auch Opfer, um die wir uns kümmern müssen.
({7})
Wir wollen, dass die Zwangsheirat ein eigener Tatbestand im Strafgesetzbuch wird. Der Strafrahmen soll
den aufenthaltsrechtlichen Ausweisungsvorschriften angepasst werden, sodass die Täter letztlich damit rechnen
müssen, ausgewiesen zu werden.
Meine Damen und Herren, ein Ausweg aus der Abhängigkeit ist die Bildung. Aber auch sie bleibt den
Mädchen oft verwehrt. Sie werden von ihren Eltern zunehmend aus dem Sport-, Schwimm- oder Sexualkundeunterricht herausgenommen und dürfen keine
Klassenfahrten mitmachen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Sonntag-Wolgast?
Ich möchte bitte zusammenhängend zu Ende reden.
Nachher gerne. - Dabei haben die muslimischen Mädchen im Durchschnitt bessere Schulabschlüsse als die
muslimischen Jungen.
({0})
Sie haben aber keine Chance, aus diesen guten Schulabschlüssen etwas zu machen. Das wird ihnen verwehrt.
({1})
Wir wollen, dass alle Mädchen an allen Unterrichtsfächern teilnehmen müssen. In Abstimmung mit den
Bundesländern wollen wir bereits im Kindergarten eine
Sprachförderung. Je eher wir damit anfangen, desto
besser.
({2})
- Sie wird von einigen durchgeführt, aber leider nicht
von allen.
Unser Grundgesetz, vor allem Art. 3, gilt auch für
Frauen und Mädchen aus anderen Kulturkreisen. Sie sollen nicht nur unter uns leben, sie sollen gleichberechtigt
mit uns leben.
Ich danke Ihnen.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin
Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrte Frau Kollegin Pawelski, ich stimme Ihnen zu, dass es in der Politik immer wieder einmal passiert, dass wir zu lange brauchen, um zunächst verborgene gesellschaftliche Entwicklungen zu entdecken. Das
gilt für das, was Sie beschrieben haben und was sich
zum Teil in unseren Migranten-Communities abspielt.
({0})
Das hat auch für sexuellen Missbrauch an Kindern und
Vergewaltigung in der Ehe gegolten, wo es in den Parlamenten zunächst Widerstand dagegen gab, sich mit diesen Sachverhalten auseinander zu setzen und darauf gesetzgeberisch zu reagieren.
Nun haben Sie gesagt, wir - mir war nicht ganz klar,
wen Sie mit dem „wir“ meinten; ich hatte das Gefühl,
Sie meinten uns - hätten das Thema „Gewalt gegen
Migrantinnen“ zu lange nicht wahrgenommen. Nun hat
es in der letzten Legislaturperiode eine ganz harte Auseinandersetzung um die Wahrung der Rechte von
Migrantinnen gegeben, nämlich im Rahmen der Novellierung des damaligen § 19 des Ausländergesetzes.
({1})
Dabei stand der Schutz von Migrantinnen im Mittelpunkt der Debatte.
({2})
Noch einmal der Sachverhalt für diejenigen, die ihn
nicht kennen:
(Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Handeln, nicht
debattieren!
Es dauerte bis dahin vier Jahre, bis eine Migrantin, die
hier einen Deutschen oder einen Ausländer geheiratet
hatte, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekam. Das
machte sie zum Erpressungsgegenstand von Männern,
die sie mit der Drohung, wenn sie zur Polizei gehe,
werde sie aus Deutschland abgeschoben, misshandeln,
schlagen und gegen sie Gewalt anwenden konnten.
Wir haben dafür gekämpft, dass die Mindestdauer der
Ehe auf zwei Jahre verkürzt und eine Härtefallregelung
eingeführt wird. Die Union hat sich dieser Regelung
massiv verweigert.
({3})
In Frauenhäusern - ich gehe viel in Frauenhäuser, weil
ich wissen möchte, was da passiert - lernen Sie, dass für
Migrantinnen genau diese Änderung in § 19 Ausländergesetz eine der größten Erleichterungen der letzten Jahre
gewesen ist, weil sie endlich ihren gewalttätigen Mann
verlassen können.
Ein zweiter Bereich betrifft das Strafrecht. Im Februar
dieses Jahres ist auf Initiative der Regierungskoalition
die Strafe für Zwangsverheiratung verschärft worden,
weil wir wussten, dass die Zwangsverheiratung offensichtlich auch in unserem Lande ein Thema ist und ausländische Frauen gegen ihren Willen in unser Land gebracht werden. Deswegen haben wir uns für diese
Strafverschärfung eingesetzt.
({4})
Ich habe von Ihrer Seite kein „mea culpa“ dafür gehört, dass Sie zu lange übersehen haben, was passiert.
Lassen Sie uns über diese Missstände reden. Lassen Sie
uns überlegen: Wie schützen wir die Opfer? Wie bauen
wir Netzwerke auf? Wie machen wir niedrigschwellige
Angebote, die in der Regel Aufgabe von Ländern und
Kommunen sind, um auch das hier einmal zu sagen?
({5})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ihre Intervention bekommt ein Geschmäckle, Frau
Kollegin, wenn Sie so tun, als ob Sie das schon immer
alles gewusst hätten, und meinen, dies nun in einen
Marieluise Beck ({0})
Angriff auf diese Regierung ummünzen zu müssen.
Dann geht ein Stück Ehrlichkeit verloren. So sollten wir
diese Auseinandersetzung nicht führen.
({1})
Kollegin Pawelski, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Frau Staatssekretärin, man muss schon ein verdammt
schlechtes Gewissen haben,
({0})
wenn man eine allgemeine Äußerung wie „Wir haben
toleriert“ auf sich persönlich bezieht. Man zieht immer
die Pfeile an, die man verdient. Anscheinend verdienen
Sie sie.
({1})
Ich finde es schön, dass Sie mir zutrauen, dass ich
schon sehr lange im Bundestag bin. Aber ich bin erst seit
2002 hier. Ich habe jedoch die entsprechenden Unterlagen gelesen. Wir befinden uns im Jahre 2005. Sie hatten also sechs Jahre lang Zeit, etwas zu tun. Sie haben
nicht genug getan.
({2})
Wir als CDU/CSU-Fraktion haben seit 1999 in vielen
Anträgen immer wieder auf dieses Thema hingewiesen.
({3})
Sie haben nicht genug gehandelt.
Sie, verehrte Frau Staatssekretärin, sagen jetzt, dass
der § 240 Strafgesetzbuch geändert wurde. Dazu sage
ich Ihnen: Der Tatbestand der Zwangsheirat steht nur in
einem Nebensatz im Gesetz.
({4})
Wir wollen, dass ein eigener Paragraph geschaffen wird,
damit jeder, der Zwangsehen veranlasst oder unterstützt,
weiß, dass er möglicherweise ausgewiesen werden kann.
Ich glaube, das ist eine Strafänderung, die verstanden
wird.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Wenn die Damen seltener als die Männer
Hervorragendes leisten, dann liegt das nur daran, dass
ihnen keine gute Bildung zuteil wurde.“ Diese Einschätzung äußerte die französische Schriftstellerin Marie le
Jars de Gournay im 17. Jahrhundert. In Deutschland sind
Frauen heutzutage gut gebildet, vielfach sogar besser als
Männer, es machen mehr junge Frauen das Abitur als
Männer - das auch noch mit besseren Noten - und es beginnen mittlerweile genauso viele Frauen wie Männer
ein Studium. Ihren Bildungsrückstand haben die Frauen
aufgeholt.
Trotzdem sind sie vor allem in leitenden Positionen in
Wissenschaft und Forschung leider noch immer deutlich
unterrepräsentiert. Madame le Jars de Gournay hatte also
Unrecht. Es sind offensichtlich andere Faktoren als der
Bildungsstand, die dazu führen, dass die Luft für Frauen
in Wissenschaft und Forschung immer dünner wird, je
weiter sie auf der Qualifikationsleiter nach oben steigen.
Ein Grund dafür ist die unterschiedliche Bewertung von
Leistung und Qualifikation bei Frauen und Männern.
Auswahl und Berufungsverfahren verlaufen nicht geschlechtsneutral. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die
Auswahlgremien immer noch vor allem mit Männern
besetzt sind. Eine 1997 in „Nature“ veröffentlichte Studie zeigt, dass Frauen bei der Vergabe von Forschungsmitteln hinsichtlich wissenschaftlicher Kompetenz, Forschungsvorschlag und Methodologie schlechter bewertet
werden als Männer. Für die gleiche Einstufung mussten
Frauen 2,6-mal mehr Veröffentlichungen in renommierten Fachpublikationen vorweisen als Männer. Oft handelt es sich dabei um unbewusste Ausschlussmechanismen. An ihren destruktiven Auswirkungen auf die
Karrierewege von Frauen ändert dies allerdings nichts.
Die rot-grüne Bundesregierung hat seit 1998 viel getan, um die Karrierechancen von Frauen in Wissenschaft
und Forschung zu erhöhen. Erwähnen möchte ich beispielsweise das HWP-Programm „Chancengleichheit
für Frauen in Forschung und Lehre“, für das jährlich
30 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Damit werden
Frauen gefördert, die sich wissenschaftlich qualifizieren
und auf eine Professur vorbereiten. Es werden Projekte
in der Frauen- und Genderforschung unterstützt.
Schließlich werden Maßnahmen finanziert, um den
Frauenanteil in naturwissenschaftlich-technischen Fächern zu erhöhen.
Dennoch können wir mit dem Erreichten noch nicht
zufrieden sein. Aktuell sind 13 Prozent der Professuren
in Deutschland mit Frauen besetzt. Auch wenn dies eine
deutliche Steigerung gegenüber dem Niveau von 1998
bedeutet - von dem, was davor war, ganz zu schweigen;
damals betrug der Frauenanteil an den Professuren
9,5 Prozent -, geht uns die Erhöhung des Frauenanteils
an den Hochschulen nicht schnell genug. In der industriellen Forschung sind Frauen mit nur knapp 10 Prozent
eklatant in der Minderheit.
In diesem Jahr wird erstmals ein Bericht zum
Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz und damit auch
zur Ausführungsvereinbarung Gleichstellung vorgelegt.
Aus diesem Bericht müssen auch Konsequenzen folgen.
Wir werden sehen, ob die gleichstellungspolitischen
Maßnahmen ausgebaut werden müssen.
Sie, meine Damen von der Opposition,
({0})
haben in Ihrem kürzlich eingebrachten Antrag zu zehn
Jahren Novellierung des Gleichberechtigungsartikels im
Grundgesetz, der bezeichnenderweise kaum von Männern unterstützt wurde - Gleichberechtigung scheint in
der Union nur eine Sache der Frauen zu sein -,
({1})
die Unionsfraktion zur allgemeinen Erheiterung als Vorhut der Gleichberechtigung präsentiert. Ungeachtet dessen haben Sie in Ihren Änderungsanträgen zum BMBFHaushalt 2005 vorgeschlagen, bei den Strategien zur
Durchsetzung von Chancengleichheit für Frauen in Bildung und Forschung um 1,5 Millionen Euro zu kürzen,
und den Ansatz beim Titel „Weiterentwicklung von
Hochschule und Wissenschaft sowie Realisierung der
Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“
wollten Sie gar um 29 Millionen Euro zusammenstreichen. Erklären Sie uns bitte, wie das mit Ihrem Anspruch
als frauenpolitische Avantgarde zusammengeht!
({2})
Mehr Frauen in Wissenschaft und Forschung sind
nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit; mehr
Frauen in Wissenschaft und Forschung bedeuten auch
neue Forschungsfragen und neue Perspektiven. Auf die
sind wir zur Lösung unserer Probleme dringend angewiesen.
Danke schön.
({3})
Ich erteile Kollegin Conny Mayer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Laut einer ganz aktuellen dpa-Meldung werden jede
Woche mehrere Hundert Frauen und Mädchen im Kongo
vergewaltigt. Die jüngsten sind gerade mal vier Jahre alt.
Sie werden häufig Opfer von Massenvergewaltigungen. Bisher wurden nur wenige Fälle - weniger als
ein Dutzend - juristisch aufgearbeitet.
Die CDU/CSU-Fraktion hat im November des vergangenen Jahres einen Antrag mit dem Titel „Frauen in
den Krisenregionen Subsahara-Afrikas stärken“ eingebracht. Wir hätten diesen Antrag gern hier diskutiert.
Schade, dass das in dieser Debatte zum Internationalen
Frauentag nicht möglich war! Die Koalition hat nämlich
mit ihrer Mehrheit verhindert, dass wir diesen Antrag
hier heute debattieren und dass wir damit auch den Blick
auf Frauen richten, die in Armut leben und die in
Kriegsregionen täglich ums Überleben kämpfen.
({0})
Der CDU/CSU-Fraktion ist es ein Anliegen, für und
über Frauen und Mädchen zu sprechen, für die „Gleichstellung“ und „Gender Mainstreaming“ - das sind die
Dinge, über die wir heute Morgen hier debattieren noch Fremdworte sind. Die zentrale Botschaft unseres
Antrags, den wir hier heute leider nicht debattieren können - ich will trotzdem darauf hinweisen -, ist, dass wir
noch stärker als bisher die Belange von Frauen auf unsere außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische
Agenda nehmen müssen. Kofi Annan hat letzte Woche
in New York gesagt: Es gibt kein effizienteres Entwicklungsinstrument als Frauenförderung.
({1})
Die Konferenz, die derzeit in New York stattfindet,
zehn Jahre nach der großen Frauenkonferenz in Peking,
gibt unserem Antrag Recht. Gerade für Frauen in Krisenregionen gab es in den vergangenen zehn Jahren nur
wenige Verbesserungen, in manchen Teilen der Erde wegen neuer Kriege sogar Verschlechterungen. Frauen sind
von Kriegen und damit von Gewalt gleich mehrfach betroffen: als Kindersoldatinnen, die zum Dienst an der
Waffe gezwungen werden, als Leidtragende, die unter
schwierigsten Bedingungen für sich und ihre Familien
sorgen müssen, oder eben als Opfer von sexueller
Gewalt. Denken Sie an die Beispiele aus dem Ostkongo,
die ich eingangs erwähnte!
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat
schon im Jahr 2000 die Resolution 1325 beschlossen.
Darin hat sich die Staatengemeinschaft verpflichtet,
Frauen beim Aufbau nach einem Krieg, beim Friedenserhalt und bei Konfliktlösungen stärker zu beteiligen.
Die Bundesregierung hat als nicht ständiges Mitglied im
Sicherheitsrat zwei Jahre lang die Chance gehabt, Frau
Müller, die Umsetzung der Resolution 1325 voranzutreiben. Diese Chance hat die Bundesregierung verpasst.
({2})
Die Bundesregierung hat bislang auch keinen nationalen
Plan zur Umsetzung der Resolution 1325 erarbeitet. Wie
schon in unserem Antrag fordere ich hiermit nachdrücklich dazu auf.
Die Situation von Frauen in Krisenregionen ist das
eine. Da wir von internationalen Frauenfragen reden,
will ich auf eine weitere zentrale Herausforderung hinweisen: Gesundheitsfragen und HIV/Aids. In Deutschland kommt es glücklicherweise nur sehr selten vor, dass
Mütter oder Säuglinge während oder nach der Geburt
sterben. In anderen Teilen der Erde gehört dieses grausame Schicksal dagegen zum Alltag. Seit der Konferenz
in Peking vor zehn Jahren hat sich in diesem Bereich nur
sehr wenig verbessert. In Westafrika stirbt jede zwölfte
Frau an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt.
Ähnlich hoch sind im Moment die Zahlen in Afghanistan.
Dr. Conny Mayer ({3})
Auch bei HIV/Aids ist die Situation dramatisch. Rund
38 Millionen Menschen weltweit sind mit dem Virus infiziert. Der Anteil der Frauen ist hierbei in den vergangenen Jahren auf über 50 Prozent angestiegen. Das war vor
zehn Jahren noch anders. Das Risiko der Ansteckung ist
für Frauen schon aus physiologischen Gründen viermal
höher. Wirtschaftliche Abhängigkeit und fehlende Kontrolle über das sexuelle Verhalten des Partners tragen zusätzlich zu einer großen Infektionsgefahr bei.
Neben der Herausforderung der Situation von Frauen
in Krisengebieten sowie den Themen „Gesundheit“ und
„HIV/Aids“ möchte ich auf eine weitere zentrale Herausforderung hinweisen. Ich bin dankbar, dass die Kollegin Sowa von den Grünen im nationalen Kontext
schon darauf hingewiesen hat. Bildung ist ein zentraler
Schlüssel für weltweite Entwicklung und insbesondere
für die Durchsetzung von Frauenrechten. Seit der Konferenz in Peking gab es Fortschritte. Mehr Kinder, Mädchen wie Jungen, haben Zugang zu Grundbildung.
Trotzdem sind noch immer zwei Drittel aller Analphabeten weiblich. Frau Schmidt, auch im Koalitionsantrag zu
Peking + 10 wird betont, dass in Subsahara-Afrika und
Südostasien die Bildungschancen für Frauen dramatisch
schlecht sind. Schade ist, dass diese Erkenntnis, die in
der Koalition offensichtlich durchaus vorhanden ist, im
BMZ so wenig Beachtung findet.
({4})
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, fordern die Bundesregierung deshalb auf, die Bildung und insbesondere das
Thema „Bildung von Frauen und Mädchen“ auf der entwicklungspolitischen Agenda weiter oben anzusiedeln.
({5})
Ein letzter Punkt. Kofi Annan hat gerade erst in seiner
Rede in New York auf eine neue Herausforderung hingewiesen, die es vor zehn Jahren in diesem Ausmaß - so
sagt er jedenfalls - noch nicht gab: Frauen- und Kinderhandel. Auch Sie weisen in Ihrem Koalitionsantrag darauf hin, dass jährlich rund 2 Millionen Menschen,
Frauen und Kinder, Mädchen wie Jungen, Opfer von
Menschenhandel werden. Schade, dass die Koalition
nicht mutig genug war, diesem abscheulichen Verbrechen mehr als vier Zeilen in einem siebenseitigen Papier
zu widmen!
({6})
Ich möchte noch einmal auf den Ostkongo zurückkommen. Ich will meine Rede mit einem Zitat von einer
Frau beenden, die von bewaffneten Kämpfern attackiert
und vergewaltigt wurde. Ihr Mann weigert sich seitdem,
mit ihr zusammenzuleben. Diese Frau sagte einer Mitarbeiterin von Amnesty International:
Wir wollen Ihnen berichten, was passiert ist. Bitte
erzählen Sie unsere Geschichten weiter, damit diesem Grauen endlich ein Ende gesetzt wird!
Ich will deshalb an Sie alle, an uns alle appellieren: Lassen Sie uns Debatten wie die heutige auch dazu nutzen,
auf die Situation von Frauen in den Ländern des Südens
aufmerksam zu machen! Lassen Sie uns gemeinsam weiter für diese Frauen eintreten!
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
Abgeordnete der PDS. - Ich habe die Presseerklärung
der fünf Bundesministerinnen zum Internationalen Frauentag gelesen. Was haben die Ministerinnen gemacht?
Sie trafen sich mit Frauen aus Wirtschaft, Wissenschaft
und Medizin und diskutierten über die Karrieremöglichkeiten von Frauen. Das war sicherlich eine schöne
Runde mit Lachshäppchen und Sekt. Ich habe den Eindruck, dass sich die Bundesministerinnen mit aller
Macht auf Frauen konzentrieren, die Karriere machen
wollen, die in die Chefetagen drängen, die endlich eine
C-4-Professur erreichen wollen oder die eine Intendanz
an einem schönen Theater anstreben. Das alles ist auch
legitim und wichtig. Wir alle wissen - das ist in der
heutigen Debatte mehrmals angesprochen worden -, wie
niedrig zum Beispiel die Zahl der Professorinnen ist.
Aber braucht man dafür wirklich die geballte Macht von
fünf Bundesministerinnen? Ich weiß von Millionen
Frauen, die keine Karriere machen können, die einfach
nur einen Job haben wollen. Diese Frauen brauchen
wirklich dringend politische Unterstützung. Sie sind mir
bisher in der heutigen Debatte zu kurz gekommen.
({0})
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben
mit Unterstützung der CDU/CSU in dieser Legislaturperiode Gesetze verabschiedet, die Frauen in einem
bisher ungekannten Maß diskriminieren. Ich meine die
Hartz-Gesetze und die Gesundheitsreform.
({1})
Wir als PDS haben ein Rechtsgutachten zu Hartz IV erstellen lassen, das nachweist, dass Hartz IV gegen das
Gleichstellungsgebot verstößt. Frauen werden durch die
Anrechnung des Partnereinkommens in besondere Abhängigkeit gedrängt, die sie bisher nicht kannten.
Über die Gleichstellungspolitik in der DDR kann
man sicher viel Kritisches sagen. Doch es bleibt die Tatsache: Durch die finanzielle Unabhängigkeit der meisten
Ostfrauen - über 90 Prozent hatten eine Arbeit - hatten
sich diese Frauen eine größere Unabhängigkeit von den
Männern gesichert. Das war eine entscheidende Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben.
({2})
Deshalb trifft Hartz IV die Ostfrauen besonders hart.
Ostfrauen haben oft Jahrzehnte gearbeitet und deshalb
eine vergleichsweise hohe Arbeitslosenhilfe bekommen.
Die Bundesregierung hat mit dem Arbeitslosengeld II,
mit Hartz IV, die Frauen, die ein Jahr gearbeitet haben,
mit den Frauen - und Männern natürlich -, die 30 Jahre
gearbeitet haben, auf eine Stufe gestellt, herabgestuft.
Gerechtigkeit sieht anders aus.
({3})
Meine Damen und Herren, ich war am Freitag vergangener Woche mit einer Gruppe von 50 Frauen aus der
ganzen Republik, aus Ost und West, im Frauenministerium. Wir hatten vorher Bescheid gesagt, dass wir zum
Thema „Hartz IV und Frauen“ diskutieren wollten. Zu
Recht wollten die Frauen wissen, wie das Frauenministerium als Lobbyistin der Frauen bei der Hartz-IV-Gesetzgebung aufgetreten ist. Die Antworten waren mehr
als dürftig. Die Frauen waren enttäuscht, dass sie in diesem Ministerium zu wenig Unterstützung gefunden haben.
Aber auch Frauen, die eine Arbeit oder einen Job haben, brauchen dringend politische Unterstützung. Deshalb schlage ich Ihnen vor: Lassen Sie uns spätestens
zum Frauentag 2006 gemeinsam in eine Lidl-Verkaufsstelle gehen. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Verkäuferinnen über die katastrophalen Arbeitsbedingungen
sprechen. Dieses Gespräch wird sicher nicht ganz so nett
wie das Gespräch mit den Karrierefrauen.
({4})
- Ich sprach von Gemeinsamkeit, meine liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})
Denn die Kassiererinnen müssen während des Gespräches 40 Produkte pro Minute durch den Kassenscanner
schieben.
Verdi hat das Schwarzbuch Lidl herausgebracht. Es
liest sich wie ein Leitfaden zur Ausbildung in der Fremdenlegion. Überwachung, Drill, Hetze stehen auf der Tagesordnung. Frauen erzählen in diesem Buch, dass sie
mindestens neun Stunden täglich gearbeitet haben,
grundsätzlich ohne Pause. Wahrscheinlich haben diese
Frauen nicht unbedingt Lust auf ein solches Gespräch,
müssten sie doch die verloren gegangene Arbeitszeit
nacharbeiten. Trotzdem bin ich dafür, dass wir diesen
Versuch starten und gemeinsam unser Augenmerk auf
die Frauen legen, die unsere Hilfe am dringlichsten brauchen.
({6})
Was die Kollegin Lenke eingangs ihrer Rede gesagt
hat, kann ich nach meinem persönlichen Eindruck nur
unterstützen. Gerade am Anfang dieser Debatte hat es
hier eine Atmosphäre von Zwischenrufen und Gekeife
gegeben, die dem Anliegen der Frauen, Gleichstellung
gemeinsam durchzusetzen, sicher nicht gedient hat. Ich
hoffe, dass wir uns in Zukunft gemeinsam eines Besseren besinnen.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele von Ihnen haben heute Morgen sicher schon ein,
zwei Tassen Kaffee getrunken. Ich wette aber, dass die
wenigsten von Ihnen wissen, wem wir diesen inzwischen ungetrübten Trinkgenuss zu verdanken haben.
({0})
Noch vor 100 Jahren hatte Kaffeetrinken nämlich einen
bitteren Nachgeschmack. Auf dem Boden der Tasse befand sich eine Schicht bitteren schwarzbraunen Schlicks,
bis die Leipzigerin Melitta Bentz auf die Idee kam, den
Kaffee in einen Löschpapierfilter zu füllen. 1908 ließ sie
sich diesen Filter patentieren. Seitdem ist die Kaffeefiltertüte aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken.
({1})
Das ist nur ein klitzekleines Fragment aus der langen
Geschichte von Erfindungen, die Frauen gemacht haben.
Der Scheibenwischer zum Beispiel, der uns beim Autofahren freie Sicht beschert, ist die Erfindung einer Frau.
Ventilationssysteme für Schiffe, Konstruktionen für
Hängebrücken, wärmeisolierende Schwimmwesten und
Spikesüberzieher für Autoreifen - all das haben Frauen
erfunden und konstruiert.
({2})
Stellen Sie sich einmal vor, was uns fehlen würde,
wenn wir das Potenzial von Frauen als Forscherinnen,
Ingenieurinnen und Technikerinnen nicht intensiv nutzen würden.
({3})
Dieses Potenzial ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für unsere Wissensgesellschaft. Die Kompetenz von Frauen
ist ein Pfund, mit dem wir im internationalen Wettbewerb wuchern können und sollten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Scheuer, CDU/CSU-Fraktion?
Gern.
({0})
- Mal sehen, was er zu sagen hat.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin, wir sind uns ja einig, was die vielen Beteiligungen und guten Ideen von jungen Frauen in unserer Gesellschaft angeht. Ich glaube aber, dass es drängendere Fragen gibt. Was sagen Sie denn - ich darf hier
die „Welt“ vom 8. März zitieren - zum steigenden Armutsrisiko für allein erziehende Frauen? Das ist Realität
in Deutschland unter Rot-Grün. Was sagen Sie denn zur
wirtschaftlichen Situation der Frauen in Deutschland unter einer rot-grünen Regierung? Was tun Sie dafür, diese
Situation zu verbessern? Das würde mich interessieren,
nicht die vielen Dinge, die irgendwann in grauer Vorzeit
einmal erfunden wurden. Wir wissen, dass wir gute
Frauen mit guten Ideen haben; sie müssen aber auch eine
Garantie dafür haben, dass sie diese Ideen wirtschaftlich
umsetzen können.
({0})
Herr Kollege Scheuer, Sie werden es mir verzeihen,
dass ich meinen Vortrag jetzt nicht nach Ihren Vorstellungen ausrichte.
({0})
Natürlich sind die Fragen, die Sie angesprochen haben,
wichtig und natürlich beschäftigt sich die Regierung
auch mit diesen Fragen. Selbstverständlich haben wir ein
großes Interesse daran, Frauen auch in wirtschaftlich
schwächeren, in konjunkturschwachen Zeiten massiv zu
unterstützen. Nur, ich beziehe mich im Moment - Sie
werden mir das verzeihen - auf das Thema Frauen in der
Wissenschaft. Das ist mein Part und da mache ich jetzt
auch weiter.
Wenn wir eine Bestandsaufnahme machen und einen
genaueren Blick auf die Beteiligung von Frauen in
Wissenschaft und Forschung werfen, dann stellen wir
ganz eindeutig eines fest: Frauen sind dort immer noch
stark unterrepräsentiert, besonders in Führungspositionen.
Andererseits gibt es aber seit Jahren eine positive Entwicklung, auf der wir aufbauen können. Bei den Studienanfängern und -absolventen haben Frauen mittlerweile mit Männern gleichgezogen. Der Frauenanteil bei
Promotionen ist seit 1998 von 33 auf 36 Prozent gestiegen, bei den Professuren im selben Zeitraum von 9 auf
13 Prozent. Das ist eine beachtliche Steigerung, aber bei
weitem nicht ausreichend. In den USA gibt es etwa doppelt so viele Professorinnen wie bei uns. Einen sehr großen Schritt nach vorn haben wir aber mit der Juniorprofessur gemacht. Da beträgt der Frauenanteil immerhin
30 Prozent.
An den Hochschulen hat sich also schon einiges getan. In den außeruniversitären Forschungseinrichtungen
und in der industriellen Forschung ist die Situation allerdings noch ernüchternd. Frauen in Führungspositionen
sind dort fast allein auf weiter Flur. Grundsätzlich gilt
durchgängig für alle Bereiche des Arbeitsfelds Wissenschaft und Forschung: je höher die Qualifikation, desto
geringer die Zahl der Frauen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung und auch
die Länder auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um
die Beteiligung von Frauen in Wissenschaft und Forschung weiter zu steigern. Dazu gehört zum Beispiel,
dass spezielle Projekte zur Förderung der Chancengleichheit an Hochschulen und Forschungseinrichtungen
weitergeführt werden. Ich finde es daher gut, dass Bund
und Länder das HWP-Programm „Chancengleichheit für
Frauen in Forschung und Lehre“ bis 2006 fortführen
werden. Sehr erfolgreiche Arbeit leistet auch das Kompetenzzentrum CEWS für Frauen in Wissenschaft und
Forschung. Es vernetzt und vermittelt Wissenschaftlerinnen, fördert Pilotprojekte und begleitet gleichstellungspolitische Maßnahmen wissenschaftlich. Diese Arbeit
sollte unbedingt fortgeführt werden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 40 Prozent aller
Akademikerinnen entscheiden sich gegen Kinder, weil
sie Familie und Beruf nicht miteinander vereinbaren
können. Das liegt im Wesentlichen an dem mangelnden
Angebot an Kinderbetreuung. Wir leisten uns also den
Luxus, dass ein großer Teil der gut ausgebildeten Frauen
ihr Wissen und ihre Möglichkeit, Kinder zu fördern, nie
selbst ans Kind bringen können. Das ist für die Wissensgesellschaft fatal. Für sie ist die Initiative der Bundesregierung wichtig, Kinderbetreuungsangebote konsequent
auszubauen, auch bereits für die unter Dreijährigen.
({2})
Verzögerungen in der Ausbildung oder im beruflichen
Werdegang durch Kinderbetreuung dürfen sich nicht
nachteilig etwa bei Stellenbesetzungen oder bei Beförderungen auswirken. Die Familienfreundlichkeit einer
Hochschule sollte bei den einschlägigen Rankings berücksichtigt werden.
Auch die Wirtschaft hat erkannt, dass Familienfreundlichkeit ein wichtiger Standortfaktor ist. Ludwig
Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages, hat kürzlich das „Jahrhundert der
Frau“ ausgerufen; denn - so Braun - lange werde es sich
die Wirtschaft nicht mehr leisten können, das riesige
Potenzial an hoch qualifizierten Frauen nur unzureichend zu nutzen.
({3})
Recht hat er! Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Wissenschaft. Auch beim Wechsel
zwischen Positionen in Wissenschaft und Wirtschaft
dürfen Frauen nicht auf der Strecke bleiben. Ein Beispiel
sind Ausgründungen aus Hochschulen. Hier spielen
Frauen heute nur eine geringe Rolle. Das muss sich ändern. Das gilt nicht nur für Ausgründungen, sondern für
Existenzgründungen insgesamt. Ich finde es daher gut,
dass das BMWA und das BMBF den Aufbau einer bundesweiten Gründerinnenagentur unterstützen, die Förder- und Coachingangebote macht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Freiheit und Wohlstand bauen auf Wissen auf. Das gilt für die Gesellschaft
insgesamt, aber auch für jeden einzelnen Menschen. Darum müssen Frauen und Männer gleichberechtigt Zugang zu Wissen bekommen. Aber das reicht noch nicht
aus. Frauen und Männer müssen gleichberechtigt die
Möglichkeit haben, unsere Gesellschaft zu gestalten und
weiterzuentwickeln. Darum müssen sie gleichermaßen
in Führungspositionen vertreten sein. Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern, dafür zu sorgen.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Grübel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Für die CDU/CSU ist Gleichstellungspolitik ein Politikfeld, das Frauen und Männer gleichermaßen angeht.
({0})
Leider - das ist an der heutigen Rednerliste erkennbar
gewesen ({1})
- Rednerinnenliste, genau - geht bei der SPD und beim
Bündnis 90/Die Grünen Gleichstellungspolitik nur
Frauen an. Die Männer in Ihren Parteien sind stumm geblieben. So viel zu Ihrem Einwand, Frau Sowa.
({2})
Eine gute, eine wirklich moderne Gleichstellungspolitik hat Frauen und Männer im Blick. Wir brauchen eine
neue Partnerschaft zwischen den Geschlechtern. Darum fordern wir in unserem Antrag „Tatsächliche
Gleichberechtigung durchsetzen“ die Bundesregierung
auf,
in der Gleichstellungspolitik stärker als bislang auf
einen Geschlechterkonsens hinzuwirken und darauf
zu achten, dass Gleichstellungspolitik Frauen und
Männer im Blick hat; …
Als ich vor zwei Jahren an gleicher Stelle zur Gleichstellungspolitik geredet habe, hat anschließend die „taz“ geschrieben: Die erste Männerrechtsrede im Deutschen
Bundestag. Es war nämlich so ungewöhnlich, dass nach
50 Jahren auch einmal ein Mann zu Gleichstellungsthemen geredet hat. Dabei geht es mir aber gar nicht einseitig um Männerrechte. Es geht mir darum, dass die
Gleichstellungspolitik aus der feministischen Ecke herauskommt und die Männer auf einen gemeinsamen Weg
mitnimmt.
({3})
Eine moderne Gleichstellungspolitik setzt dort an, wo
ein Mensch aufgrund seines Geschlechts Unterstützung
und Förderung braucht. Das können Frauen sein, aber
auch Männer. Ich gehe durchaus davon aus, dass es in
erster Linie Frauen sind, die gefördert werden müssen aber halt auch Männer.
({4})
Während die Bundesregierung jährlich einen Frauengesundheitsbericht vorlegt, gibt es kein entsprechendes
Gegenstück für Männer.
Während sich viele Bundestagsdrucksachen mit dem
Thema Frauen in Männerberufen befassen, ist das
Thema Männer in Frauenberufen nicht relevant.
Es gibt Girls’ Days für Mädchen, aber keine Boys’
Days für Jungen.
({5})
- Dies betrifft ebenfalls das Thema Männer in Frauenberufen. Grundschullehrer, Erzieher, Krankenpfleger,
Altenpfleger etc., das sind auch Berufe für Männer.
({6})
Der Girls’ Day möchte Mädchen und junge Frauen an
Männerberufe heranführen. Aber wo ist bei Ihnen das
Gegenstück dazu?
Der überwiegende Teil der Schulabbrecher, Schulschwänzer und Frühkriminellen ist männlich und
bräuchte dringend Förderung und Führung.
Jungen weisen die größeren Defizite bei der Lesekompetenz auf als Mädchen.
Nach wie vor sind spezielle Angebote für Männer im
Scheidungsfall Mangelware.
Während es landauf, landab Frauentage, Frauenwochen und Ähnliches gibt, sind Männertage so selten
wie die blaue Mauritius.
Es gibt jetzt eine Ausnahme: einen Männergesundheitstag unter dem Motto „MännerLeben“ in Esslingen.
Die „Stuttgarter Zeitung“ schreibt dazu: „Einzigartig in
Deutschland“.
Es wird immer wieder gesagt, dass Schweden in der
Gleichstellungspolitik weiter sei als Deutschland. Seitdem ich weiß, dass der Gleichstellungsbeauftragte
Schwedens ein Mann ist, glaube ich das auch.
({7})
Nicht nur Gleichstellungspolitik, auch Familienpolitik ist mehr als Frauenpolitik. Das Thema Elternschaft, Kinder und Beruf ist ein Thema für Frauen und
Männer. Auch hier ist eine neue Partnerschaft gefragt:
bei der Aufgabenverteilung im Haushalt, bei der Betreuung der Kinder und bei der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf.
({8})
Dass die Union in der Familienpolitik bei Frauen und
Männern ansetzt, ist ein entscheidender Unterschied zu
den Forderungen von Rot-Grün.
({9})
Lassen Sie mich hier einen kurzen Schlenker zu den
Vaterschaftstests machen. Ich meine das Ansinnen der
Justizministerin, Frau Zypries, dass Männer, die einen
Vaterschaftstest machen lassen, mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu einem Jahr bestraft werden sollen. Dieses Ansinnen macht doch deutlich, dass keine Abwägung zwischen den berechtigten Interessen der Mütter, der Kinder
und der Väter stattgefunden hat.
({10})
Auch Männer haben Rechte.
({11})
Väter bzw. vermeintliche Väter haben ein legitimes Interesse, die Abstammungsverhältnisse zu klären. Daher ist
der Einsatz des Strafrechts zur Regelung heimlicher Vaterschaftstests durch die Väter völlig abwegig. Auch hier
wäre es gut, wenn die rot-grüne Politik aus dem Blickwinkel beider Geschlechter gemacht würde. Nichts anderes will Gender Mainstreaming.
({12})
Die selbst ernannte Frauenpartei, die Grünen, schützt
im Moment nicht wirklich die Frauen. Frau ScheweGerigk hat das gerade wieder deutlich gezeigt. Dank der
leichtfertigen Visapraxis von Rot-Grün ist der Frauenhandel zum risikoärmsten Geschäft der organisierten
Kriminalität geworden.
({13})
Die Aussage Ihrer Kollegin aus Nordrhein-Westfalen,
Bärbel Höhn, dass Zwangsprostituierte sich in einer viel
schlimmeren Situation befänden, wenn sie illegal hier
seien, als wenn sie ein gültiges Visum besäßen, ist eine
Dreistigkeit und nur peinlich.
({14})
Alice Schwarzer nennt die Aussage im „Spiegel“ zu
Recht „blanken Zynismus“. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass Menschenrechte und Frauenrechte dann zurückbleiben, wenn es darum geht, den Kollegen Joschka
Fischer rauszuhauen.
({15})
Frauenhandel und Zwangsprostitution sind aufs
Schärfste zu bekämpfen, und zwar von jeder Fraktion,
unabhängig davon, ob man eigene Kollegen trifft.
Auch Zwangsverheiratung und Ehrenmorde sind
Themen, die Männer und Frauen angehen. Wir haben es
vorhin gehört. Gerade bei türkischstämmigen jungen
Männern müssen wir ansetzen. Nur bei den türkischen
Mädchen anzusetzen greift zu kurz.
({16})
Ein Umfeld und ein Rechtsbewusstsein, die Zwangsverheiratung normal finden, müssen verändert werden. Wir
haben hier eine gute Bundesratsinitiative aus BadenWürttemberg. Frau Staatssekretärin Beck, Sie sollten
diese Initiative unterstützen.
({17})
Kollege Grübel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schewe-Gerigk?
Ja.
Herr Kollege Grübel, ist Ihnen bekannt, dass seit der
erleichterten Visavergabe in der Ukraine die Anzahl der
Frauen, die als Opfer von Zwangsprostitution bekannt
geworden sind, zurückgegangen ist?
({0})
- Das passt Ihnen nicht; aber das Lagebild des Bundeskriminalamtes sollte doch vielleicht auch für Sie eine
Tatsache sein. - Auch die Kriminalität hat nicht zugenommen. Das Herstellen einer Verbindung zwischen
einer erleichterten Visavergabe und der Zunahme von
Zwangsprostitution ist unzulässig.
({1})
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich möchte Ihnen ganz
deutlich sagen, dass ich es für geradezu peinlich halte,
wie Sie das Problem der Zwangsprostitution relativieren
und das Thema beiseite schieben wollen.
({0})
Kümmern Sie sich einmal um dieses Problem!
({1})
- Das ist die Antwort.
({2})
Junge Männer, für die es eine Frage der Ehre ist, ihre
Schwestern zu züchtigen oder gar zu töten, können wir
in Deutschland nicht dulden.
({3})
Für das partnerschaftliche Zusammenleben von Frauen
und Männern in Deutschland gibt es ein Leitbild, das
auch die bei uns lebenden Ausländer beachten müssen.
Frauenpolitik allein wird dieses Problem nicht lösen.
Der vorliegende Antrag von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen „Auf dem Weg in ein geschlechtergerechtes
Deutschland - Gleichstellung geht alle an“ lässt zwar
vermuten, dass es um Männer und Frauen geht. In den
konkreten Ansätzen werden die Männer aber völlig ausgeblendet. Rechts blinken und links abbiegen - das führt
nicht ans Ziel.
Lassen Sie mich zum Schluss meine Aussagen in einem Satz zusammenfassen: Moderne Gleichstellungspolitik und moderne Familienpolitik - genau das ist die Politik der Union in diesem Bereich - setzt bei Frauen und
Männern an.
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Schmidt, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegen
und Kolleginnen! Ich möchte am Anfang meiner Rede
feststellen: Männer sind verletzlich und Frauen sind der
Schlüssel zur Entwicklung.
({0})
Frauen sind der Schlüssel zur Bekämpfung der Armut.
Es kann keine Demokratie geben ohne die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen.
Vor fast genau zehn Jahren fand die Vierte UN-Weltfrauenkonferenz in Peking statt. Die Teilnehmerinnen
haben die volle Gleichberechtigung der Frauen gefordert - weltweit. Sie haben ihre Beteiligung in Entscheidungsprozessen gefordert und sie haben jegliche Gewalt
gegen Frauen verurteilt.
Was hat sich seitdem in den Entwicklungsländern
verändert? Die Bilanz ist zwiespältig. Denn in vielen Regionen der Erde leben die Frauen noch lange nicht auf
der Sonnenseite des Lebens. Weltweit leben 1,3 Milliarden Menschen in extremer Armut. Wie wir wissen, sind
besonders Frauen davon betroffen.
Mit dem Aktionsprogramm 2015 haben wir als eine
der ersten Regierungen eine konkrete Strategie zur Armutsbekämpfung verabschiedet.
({1})
Viele Frauen in den Entwicklungsländern gehören zu
den Verliererinnen der Globalisierung. Das ist bekannt.
Führungspositionen in Wirtschaft und Politik sind in den
Ländern des Südens nicht nur überwiegend, sondern fast
ausschließlich in Männerhand.
Mittlerweile finden wir fast überall Frauen in Regierungen und Parlamenten. Das ist ein Fortschritt. Die
30-Prozent-Marke aber haben, wie von UN-Gremien gefordert, weltweit nur wenige Länder erreicht. Allerdings
brauche ich gar nicht so weit zu schauen; denn ich muss
mich nur an normalen Tagen in diesem Hause umsehen,
um festzustellen, dass die Opposition in dieser Hinsicht
ein Defizit hat.
({2})
Die Zahl der Frauen und Männer, die lesen und
schreiben gelernt haben, hat weltweit zugenommen.
Dennoch haben Mädchen noch immer einen schlechteren Zugang zu elementarer Bildung als Jungen.
Auch Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor weltweit verbreitet. In Wirtschaftskrisen und bei gesellschaftlichen Umbrüchen sind Frauen die Leidtragenden
von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen werden nicht nur in Kriegen zu Opfern von Vergewaltigungen und zu Opfern der so genannten Ehrverbrechen, sondern auch in vielen von uns geliebten Urlaubsländern,
bis hinein in unseren Alltag.
Mädchen werden in einer Vielzahl von afrikanischen
Ländern, aber ebenso in einigen arabischen und asiatischen Ländern noch immer durch Beschneidung gequält
und lebenslang verstümmelt. Die Zahl der Vergewaltigungen und anderer Misshandlungen von Frauen nimmt
weltweit zu.
Es gibt dennoch Fortschritte; denn es gibt einen Aufschrei - weltweit. So ist das Problembewusstsein hinsichtlich der Verletzung der Menschenrechte von Frauen
stärker geworden. 179 der 191 UN-Mitgliedstaaten haben mittlerweile die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert. Das
ist ein Fortschritt, auch wenn diese Konvention ein Vierteljahrhundert alt ist. Durch diese Konvention nehmen
Frauen in der ganzen Welt ihre Rechte wahr. Sie haben
mit der Konvention ein Instrument, ihre Rechte durchzusetzen. Nicht unterzeichnet haben übrigens Iran, Oman,
Sudan und - man staune - die Vereinigten Staaten.
Es gibt weitere Fortschritte. So wird das mutige Engagement von Frauenrechtlerinnen und Aktivistinnen in
den Entwicklungsländern gewürdigt. Ihnen wird der
Rücken gestärkt, ihnen, die sich für Frauen- und Menschenrechte stark gemacht haben. Ich nenne die Iranerin
Shirin Ebadi,
({3})
ich nenne die Kenianerin Wangari Maathai
({4})
und ich nenne die Usbekin Tamara Chikunova,
({5})
der im Herbst für ihren mutigen Einsatz gegen Todesstrafe und Folter der Nürnberger Menschenrechtspreis
verliehen wird.
({6})
Diese starken Frauen machen Mut. Sie sind nicht die
Einzigen. Neben ihnen machen Politikerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen und viele andere auf die
Dagmar Schmidt ({7})
Ungerechtigkeiten in ihren Ländern aufmerksam. Dafür
nehmen sie einiges in Kauf. Sie werden angezeigt, verfolgt und bedroht. Viele machen trotzdem weiter.
Es gibt Fortschritte und es gibt sie in vielen Ländern.
Das Selbstbewusstsein von Frauen im Süden wächst. Sie
dürfen auf das Erreichte stolz sein. Ich nenne das Beispiel Marokko. Dieses Land hat einen großen Sprung
nach vorne gemacht, vor allem wegen der Reform des
Familienrechtes im Jahr 2003. Frauen und Männern werden die gleichen Rechte eingeräumt, wenn auch zunächst per Dekret des Königs. Dennoch ist diese Reform
nicht von oben aufgestülpt. Sie ist im Parlament behandelt worden und ist zu einem umfassenden Gesellschaftsprojekt geworden. Jahrzehntelang hatten Frauenorganisationen dafür gekämpft.
Jetzt aber beginnt die Umsetzung. „Wir haben wunderbare Gesetze; aber es mangelt an der Umsetzung“, so
haben wir das von Frauenrechtlerinnen aller Couleur in
Marokko gehört. Dies ist eine Aufgabe, die Einfühlungsvermögen und Geduld erfordert; denn zwei Drittel der
Marokkanerinnen sind Analphabetinnen. Erst 35 von
400 Richtern sind im neuen Recht ausgebildet. Das
zeigt: Hier wie überall auf der Welt müssen auch die
Köpfe erobert werden. In der Vorstellungswelt der Menschen muss der Grundsatz der Gleichheit zwischen
Frauen und Männern Einzug halten.
({8})
Unsere Aufgabe muss es sein, engagierte Frauen vor Ort,
Frauen in Institutionen und Frauen in Projekten zu unterstützen. Dabei darf das Effizienzargument nicht im Vordergrund stehen. Im Sinne globaler Gerechtigkeit ist es
unsere Pflicht, Frauen und Männer in ihren Anstrengungen zu unterstützen.
In den vergangenen Jahren haben Frauen einiges erreicht. Wir haben die reine Frauenförderung als Querschnittsaufgabe und -strategie zur Geschlechtergerechtigkeit weiterentwickelt.
({9})
Denn eine reine Frauenförderung stößt an ihre Grenzen,
wenn sich Strukturen nicht verändern.
({10})
Die Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen
muss in allen gesellschaftlichen Bereichen angegangen
werden. Frauen und Männer müssen dabei an einem
Strang ziehen. Dennoch möchte ich warnen: Frauen dürfen sich nicht zurücklehnen. Auch die Frauen in den
Ländern des Nordens müssen wach bleiben.
({11})
Manche meinen ja, sie hätten alles erreicht. Sie meinen,
Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte seien abgefrühstückt. Sie irren. Zehn Jahre nach der Konferenz in
Peking muss das Erreichte gegen den neokonservativen
Rückwärtsgang verteidigt werden. Brauchen wir dafür,
nachdem die Ausrufung des Internationalen Jahres der
Frau 30 Jahre zurückliegt, wieder ein Internationales
Jahr der Frau? Die Beschlüsse von Peking dürfen nicht
aufs Abstellgleis.
({12})
In der Entwicklungszusammenarbeit stehen uns verschiedene Instrumente zur Verfügung. Unsere Durchführungsorganisationen verknüpfen die Projekte vor Ort mit
den Interessen der Frau - sei es beim Bau einer Trinkwasseranlage, sei es bei der Elektrifizierung einer Gemeinde. Dies ist also eine Querschnittsaufgabe. Der Zugang zu Land, Kapital und Bildung für Frauen steht im
Fokus unserer Politik. Gerade unsere Stiftungen leisten
im Dialog mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen
Gruppierungen einen wertvollen Beitrag dazu.
({13})
Zugang zu Bildung für Mädchen und berufliche Qualifizierung sowie Zugang zu Gesundheit, sauberem Trinkwasser und moderner Energie sind die Dreh- und
Angelpunkte, an denen wir unsere Entwicklungszusammenarbeit mit den Partnerländern orientieren. Dazu gehören auch das Recht auf Besitz und der Zugang zu Krediten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, gleiche Rechte für Frauen und Männer sowie gleiche Entwicklungschancen sind Menschenrechte. Nur so können
sich Gesellschaften demokratisieren. Nur so kann ein
friedliches Zusammenleben entstehen. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen ist der Schlüssel zu Demokratie und Entwicklung.
Schönen Dank.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Grübel, Sie haben gerade behauptet, die
Justizministerin habe ein Verbot von Vaterschaftstests
ausgesprochen, und gesagt, sie wolle ein Zuwiderhandeln mit einer Strafe von bis zu einem Jahr belegen.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das falsch ist; denn hier
geht es um heimliche Vaterschaftstests. Sie sind doch
ebenso wie wir der Meinung, dass heimliche Vaterschaftstests verboten werden müssen, dass nicht heimlich Genanalysen erstellt werden dürfen. Wo kämen wir
denn hin, wenn wir zuließen, dass sich Versicherungen
heimlich Gentests besorgen, um zu sehen, ob die Personen, die sie versichern wollen, möglicherweise gesundheitlich belastet sind, oder dass Arbeitgeber prüfen können, ob sie auch die richtigen Arbeitnehmer auswählen?
({0})
Sind Sie nicht mit uns der Meinung, dass heimliche Genanalysen verboten sein müssen? Sind Sie nicht mit uns
der Meinung, dass es vielmehr notwendig ist, das
Erheben einer Anfechtungsklage zu erleichtern? Es ist ja
richtig, dass manche Väter gerne Gewissheit haben
möchten. Aber hierfür gibt es Mittel und Wege; wir werden morgen im Rahmen einer Debatte darüber sprechen.
Es gibt einen FDP-Antrag, die Verfahren der Vaterschaftstests zu vereinfachen. Sind Sie nicht mit uns der
Ansicht, dass es verboten sein muss, heimliche Tests machen zu lassen?
({1})
Kollege Grübel, Sie haben die Gelegenheit zur Reaktion.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich vermute, dass Sie
sozusagen eine Mehrheit in diesem Haus herbeireden
möchten, da die CDU/CSU hier für die Diskussion über
Wirtschaftsthemen so stark vertreten ist
({0})
und Rot-Grün, auch auf der Regierungsbank, so schwach
ist. Sie wollen also offensichtlich noch etwas Zeit gewinnen.
Aber zur Sache. Erstens. Das Gendiagnostikgesetz ist
der falsche Ort, um Vaterschaftstests zu regeln; denn hier
geht es nicht um Gentests und DNA-Analysen. Deswegen liegen Sie hier schon einmal völlig falsch.
Zweitens. Die Vaterschaftstests in einen Zusammenhang mit dem Strafrecht zu bringen und darüber nachzudenken, für heimliche Vaterschaftstests eine Strafe von
einem Jahr auszusprechen, halte ich für völlig daneben.
Über das andere können wir in der Sache trefflich
streiten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/5029, 15/5030, 15/5031 und
15/2049 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5029 soll zusätzlich an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 15/5052 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen - Zehn Jahre Novellierung des
Artikels 3 Abs. 2 des Grundgesetzes“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4146 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen?
({0})
Meine beiden Beisitzer sind sich nicht einig.
({1})
Sie wissen, was die Geschäftsordnung in einem solchen Fall vorsieht. Ich wiederhole die Abstimmung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
damit abgelehnt.
({2})
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 2 und 3. Inter-
fraktionell wird Überweisungen der Vorlagen auf den
Drucksachen 15/5017 und 15/5032 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
3 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Ronald Pofalla, Karl-Josef Laumann, Dagmar
Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Pakt für Deutschland
- Drucksachen 15/4831, 15/4986 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thea Dückert
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wider die Vertrauenskrise - Für eine konsistente und konstante Wirtschaftspolitik
- Drucksachen 15/1589, 15/4985 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Fuchs, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen
- Drucksache 15/5019 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Präsident Wolfgang Thierse
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
kennen die Lage in Deutschland. Ich glaube, niemand in
diesem Hause hat einen Zweifel daran, dass sie extrem
ernst ist.
Die Arbeitslosigkeit hat mit 5,2 Millionen eine Rekordzahl erreicht.
({0})
Das ist der höchste Stand seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die Prognosen sagen bestenfalls ein
Wirtschaftswachstum von 1 Prozent voraus und der Stabilitätspakt droht zum vierten Mal gebrochen zu werden.
Die Dinge so zu benennen bedeutet nicht, Deutschland schlechtzureden; die Dinge so zu benennen heißt
vielmehr, der bedrückenden Realität nüchtern in die Augen zu sehen.
({1})
Sie ist bedrückend, weil dahinter Menschen stehen, nämlich junge Menschen mit großen Hoffnungen, die enttäuscht werden, Ältere ohne Perspektive und Familien.
All dies sind Schicksale.
Deshalb haben wir deutlich gemacht: Eine Haltung
des „Weiter so“, die Fortsetzung des üblichen Tagesgeschäftes verbieten sich angesichts dieser Situation.
({2})
Aus diesem Grund haben wir einen Pakt für Deutschland
vorgeschlagen, der zehn Punkte als Sofortmaßnahmen
umfasst. Im Übrigen haben wir in dieser Woche auch ein
Programm für Innovation vorgelegt, das leider von Ihnen abgelehnt und nicht auf die Tagesordnung gesetzt
wurde. Aber das ist Ihr Stil. Sie haben alle Vorschläge
abgelehnt, und zwar in der Ihnen eigenen Sprache, Herr
Müntefering. Das werden Sie sicherlich auch nachher
wieder tun.
Aber ich sage Ihnen: Unsere Forderungen bleiben auf
dem Tisch. Wir wissen, dass wir, um die Probleme
Deutschlands zu lösen, dicke Bretter bohren müssen.
Aber wir werden diese dicken Bretter bohren und sagen,
was zu tun ist.
({3})
Es kennzeichnet den Zustand der Bundesregierung - das
erkennt man auch, wenn man sich die Besetzung der Regierungsbank ansieht -, dass wir als Opposition die Initiative ergreifen müssen,
({4})
damit die Bundesregierung endlich einmal überlegt, ob
sie handeln soll oder nicht.
({5})
Deshalb leisten wir mit unserem Pakt für Deutschland
einen Beitrag dazu, Deutschland aus dem „Weiter so“,
dem Sich-im-Kreis-Drehen und der Starre, in die es immer wieder verfällt, zu lösen. Wir wissen: Stückwerk
reicht nicht. Wir brauchen so etwas wie eine nationale
Kraftanstrengung, um diese Situation zu bewältigen.
Meine Damen und Herren, Politik darf sich nicht von Ereignissen treiben lassen, vielmehr muss Politik führen
und die Initiative ergreifen. Dafür sind wir da.
({6})
Für solch eine nationale Kraftanstrengung müssen zuerst einmal folgende Fragen gestellt werden: Was leitet
uns? Was bewegt uns? Es ist vollkommen klar, dass wir
uns in einer globalisierten Welt einem stärkeren Wettbewerb stellen müssen. Wir müssen uns - stellvertretend
für die Menschen in Deutschland - fragen: Womit wollen wir in Zukunft unser Geld verdienen? Auf welchen
Gebieten können wir besser oder schneller als andere
sein? Wo liegen unsere Qualitäten? Unsere Stärken müssen wir weiterentwickeln. In den Bereichen, in denen wir
Schwächen haben, müssen wir nachholen und uns sputen, um wieder Weltspitze zu werden. Das ist der Anspruch, der uns leitet.
({7})
Meine Damen und Herren, auf diese Fragen haben
wir ganz konkrete Antworten. Ich möchte heute ganz
deutlich sagen:
({8})
Als Erstes wollen wir, dass Bürokratie abgebaut wird.
({9})
Angesichts einer massiven Staatsverschuldung ist es das
Allerbeste, erst einmal solche Maßnahmen zu ergreifen,
die nichts kosten, uns befreien und Initiative ermöglichen. Deshalb sagen wir: Wir brauchen die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Ein ganz einfaches
Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Wir wollten, dass
seine Geltungsdauer für die neuen Bundesländer, bis der
Solidarpakt im Jahre 2019 ausläuft, auf einmal verlängert wird, damit Planungssicherheit besteht und wir uns
nicht Jahr für Jahr mit dieser elenden Bürokratie herumschlagen müssen.
({10})
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, vor allen Dingen wollen wir verhindern, dass in
der Situation, in der sich Deutschland gegenwärtig befindet, zusätzlich neue Bürokratie entsteht. Deshalb sagen wir: Die Diskussion, die wir im Augenblick über
den Entwurf des Antidiskriminierungsgesetzes führen,
ist abenteuerlich.
({11})
Sie sollten damit aufhören, sich in Ihren eigenen Reihen
gegenseitig die wildesten Schuldzuweisungen zu machen. Langsam kommt die Wahrheit doch auf den Tisch.
Was hat denn Frau Künast über Herrn Clement gesagt?
Sie hat gesagt: Das Wirtschaftsministerium hat diesen
Gesetzentwurf erarbeitet. Man fragt sich natürlich: Warum sagt Herr Clement jetzt etwas anderes?
({12})
Das weiß ich auch nicht, sagt sie.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auch ich weiß es nicht;
denn der Herr Wirtschaftsminister, der uns heute leider
nicht die Ehre geben kann, gehört zu denjenigen, die
landauf, landab so tun, als wollten sie die Bürokratie abbauen.
({13})
Wenn es aber hart auf hart kommt, stellt sich heraus,
dass wesentliche Teile dieses Arbeitsplätze vernichtenden Gesetzentwurfes in seinem eigenen Ministerium erarbeitet wurden. Meine Damen und Herren, das ist Doppelzüngigkeit.
({14})
Deshalb erwarten wir vom Bundeskanzler nicht nur,
dass er bei Kabinettsitzungen seine Minister rügt, sondern auch, dass er, wenn er in der nächsten Woche seine
Regierungserklärung abgibt, ankündigt, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und ihn bestenfalls durch eine
Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie zu ersetzen.
Das wäre ein echter Beitrag zu mehr Wachstum in
Deutschland.
({15})
Neben dem Abbau von Bürokratie wollen wir einen
absoluten Schwerpunkt bei Bildung und Innovation
setzen. Schwerpunkt bei Bildung und Innovation heißt,
auf Wettbewerb zu setzen. Wir sind dafür, dass wir die
Besten fördern. Wir sind dafür, dass die besten Fakultäten an deutschen Universitäten gefördert werden, begutachtet von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Unsere Anträge liegen auf dem Tisch. Was wir nicht
wollen, ist eine Pauschalförderung ganzer Universitäten,
weil sie nämlich genau nicht zu Elite, sondern wieder zu
Zentralismus führt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir machen ein konkretes Angebot. Stimmen Sie dem Antrag von Bayern und Baden-Württemberg im Bundesrat zu! Dann haben Sie übermorgen eine
Exzellenzförderung, wie sie im Buche steht und wie
Deutschland sie braucht.
({16})
Wir wollen ein Gentechnikgesetz, das es ermöglicht,
dass Deutschland in diesem Forschungsbereich Spitze
wird. Dazu gab es gestern hier eine Aktuelle Stunde. Wir
sind von diesem Ziel meilenweit entfernt. Bulmahn keilt
sich mit Künast und auf der Strecke bleibt die Forschung. Wir bieten an: Ändern Sie das Gentechnikgesetz! Auch Herr Clement erklärt landauf, landab, das
müsse sein,
({17})
ebenso Herr Schmoldt, der Vorsitzende der IG BCE.
Lassen Sie doch der Vernunft wenigstens eine Schneise!
Lassen Sie die Regierung nächste Woche sagen: Wir ändern das Gesetz. Dann wären wir ein ganzes Stück weiter.
({18})
Meine Damen und Herren, wir könnten Innovation
auch dadurch fördern, dass wir der forschenden pharmazeutischen Industrie für die patentgeschützten Medikamente in Deutschland wieder Planungssicherheit geben.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt und das gilt nicht nur
für die deutschen Unternehmen, sondern es gilt vor allen
Dingen auch für die amerikanischen Investoren, die hier
Planungssicherheit brauchen. Zurzeit gehen sie nach
Frankreich, England und sonst wohin, aber nicht nach
Deutschland.
Herr Müntefering, wir sind gewählt für ein einziges
Ziel. Wir können uns zwar freuen, wenn es anderen Ländern gut geht, aber gewählt sind wir, um dafür zu sorgen,
dass es den Menschen in Deutschland gut geht. Das ist
unser Auftrag.
({19})
Wir sind der Meinung, dass wir Flexibilität im Arbeitsrecht über das bisher Erreichte brauchen. Kleine
Schritte sind gegangen worden,
({20})
aber wir glauben, dass für mittelständische und kleine
Unternehmen zum Beispiel betriebliche Bündnisse für
Arbeit,
({21})
also die Möglichkeit, während der Laufzeit eines Tarifvertrages von dem im Rahmen des Tarifvertrages vereinbarten Lohn und von der vereinbarten Arbeitszeit abzuweichen, ein notwendiges Mittel sind, um Deutschlands
Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu erhalten. Wir wissen von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
dass sie bereit sind, für ihren Arbeitsplatz Opfer und
Einschnitte in Kauf zu nehmen.
({22})
Lassen Sie die Menschen selbst entscheiden, was für sie
gut ist, meine Damen und Herren! Das ist unser Ansatz.
({23})
Wir wollen, nachdem wir wie Sie der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zugestimmt haben, dass jetzt Anreize geschaffen werden, damit Arbeit
auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgenommen wird.
({24})
Die Bundesagentur hat leider bis jetzt überhaupt keine
Kraft, sich um die Vermittlung von Arbeitslosen zu kümmern.
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist das! Jörg Tauss [SPD]: Sie wirken auch nicht kraftvoll! Sie wirken schwächelnd!
Ich gehe davon aus, dass der Bundeskanzler uns nächste
Woche sagen wird, wie genau dieser Punkt verbessert
werden soll; denn Fordern und Fördern gehören zusammen. Ohne Verbesserungen in diesem Bereich wird es zu
keiner Akzeptanz für diese Reform kommen.
({25})
Wir wollen, dass die Zuverdienstmöglichkeiten gerade im unteren Einkommensbereich noch einmal überprüft werden, und wir werden dafür auch sehr konkrete
Vorschläge vorlegen.
({26})
- Sie sollten nicht schreien. Hören Sie doch einmal zu.
({27})
Zurzeit fördern Sie die 1-Euro-Jobs über die Maßen. Mit
den 1-Euro-Jobs sind die Zuverdienstmöglichkeiten auf
dem zweiten Arbeitsmarkt exorbitant besser als auf dem
ersten Arbeitsmarkt.
({28})
Es ist doch ein Gebot der Vernunft - ich bitte Sie -, dass
man das erkennt, dass man daraus die Schlussfolgerung
zieht und nicht monatelang die Menschen in die Falle
laufen lässt.
({29})
Das ist unser Ansatz und deshalb machen wir diese Vorschläge.
({30})
Ganz konkret: Wir wollen, dass die Lohnzusatzkosten
sinken.
Meine Damen und Herren, Sie haben im Zusammenhang mit den Reformen Hartz I, II und III eine irrsinnige
Zahl von Versprechungen gemacht. Alle Versprechungen sind in sich zusammengebrochen: am meisten die
bei den Personal-Service-Agenturen, auch die bei den
Ich-AGs. „Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb
von drei Jahren um 2 Millionen auf 2 Millionen“,
({31})
das war die Aussage von Herrn Hartz im August des
Jahres 2002.
({32})
Wenn Sie Herrn Hartz nicht mehr glauben, wenn das für
Sie nicht mehr wichtig ist, dann müssen Sie uns das sagen. Aber Sie haben beim deutschen Volk damals genau
diese Erwartung geweckt.
({33})
Wir sagen: Lassen Sie diese teuren Instrumente jetzt beiseite und senken Sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung! Denn wir wissen: 1 Prozentpunkt weniger
Lohnzusatzkosten macht 100 000 neue Jobs. Lassen Sie
uns diesen Weg gehen! Ich hoffe darauf, dass die Regierung das aufnimmt.
({34})
Meine Damen und Herren, wir wollen Veränderungen im Steuersystem. Nächste Woche - wir können es
parallel zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers
machen - wird unser Steuerkonzept 21 beraten.
({35})
Darin geht es um eine Vereinfachung des Steuersystems,
({36})
etwas, worauf die Menschen wirklich hoffen.
({37})
Wir sind darüber hinaus angesichts der internationalen
Wettbewerbssituation bereit, gerade für unsere mittelständischen Unternehmen mit einer Unternehmensteuerreform etwas zu tun.
({38})
Ich glaube, wir sollten uns hier wirklich schnell an die
Arbeit machen und nicht wieder monatelang Sachverständige befragen. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch.
({39})
Lassen Sie uns das in Angriff nehmen, dann finden wir
eine Lösung! Es setzt natürlich voraus, dass Sie einsehen, dass die Unternehmensteuerreform etwas Wichtiges
ist für die mittelständischen Unternehmen, gerade im
Wettbewerb mit Unternehmen in Österreich und in
anderen Ländern. Sie können noch so viel schreien - der
Mittelstand braucht das. Und ich gehe davon aus, dass
wir hier etwas machen werden.
({40})
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der Ihnen zwar
wehtut, der aber für den deutschen Mittelstand wichtig
ist: die Erbschaftsteuer.
({41})
Wir müssen überlegen, wie wir die Gewinne, die im Unternehmen bleiben, ein Stück mehr von der Erbschaftsteuer befreien. Dann können Investitionen in Deutschland gehalten werden und Unternehmen werden nicht
gezwungen, über die Grenze zu gehen. Das ist das, was
wir brauchen.
({42})
Wir wollen eine Föderalismusreform,
({43})
weil wir wissen, dass unsere Entscheidungen schneller
gefällt werden müssen. - Ja, so ist das. - Das setzt voraus, dass Sie nicht noch den fünften, sechsten, siebenten,
achten Prozess beim Bundesverfassungsgericht verlieren
wie bei der Juniorprofessur und bei den Studiengebühren,
({44})
sondern dass Sie einsehen, dass es eine Arbeitsteilung
zwischen Bund und Ländern gibt und dass wir in der
Bundesrepublik Deutschland Wettbewerb brauchen.
Wenn wir die Blockade der Bundesregierung
({45})
und der rot-grünen Fraktion bei der Bildungspolitik aufheben,
({46})
bekommen wir eine wunderbare Föderalismusreform.
Wir sind dazu bereit, das endlich zu Ende zu bringen.
({47})
Wir wollen also nicht mehr und nicht weniger als
durchgreifende Strukturreformen auf allen Gebieten.
Was wir mit Sicherheit nicht wollen, sind kurzfristige,
durch Schulden finanzierte Konjunkturprogramme,
die wieder nichts als Strohfeuer sind und die die Menschen enttäuschen.
({48})
Deshalb werden wir genau das ablehnen. Auch das soll
klar sein: Durchgreifende Strukturreformen, das ist es,
was wir brauchen.
({49})
Ich glaube, dass es an der Zeit ist, zu überlegen, was wir
im Sinne einer nationalen Kraftanstrengung hinbekommen. Wir werden offen in die Gespräche gehen.
({50})
Sie wissen, dass wir immer dann, wenn die Vorteile die
Nachteile überwogen haben, den Vorschlägen zugestimmt haben, um Deutschland voranzubringen.
({51})
Ich sage aber auch: Wir brauchen keine Kaffeestunden,
die die Enttäuschung der Menschen zum Schluss immer
weiter erhöhen und ausdehnen; denn es gibt schon so
viel Enttäuschung in diesem Land - und das mit Recht.
({52})
Meine Damen und Herren, wenn ein Bundeskanzler
1998 sagt: „Wenn es mir nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit wesentlich zu senken, dann bin ich es nicht wert,
dass ich wieder gewählt werde“,
({53})
dann hat der Mann vor Beginn seiner Amtszeit noch das
richtige Gefühl gehabt.
({54})
Wenn dieser Bundeskanzler den Menschen im Dezember - wiederum über eine große deutsche Illustrierte aber erklärt, er habe auf dem Gebiet der Arbeitsmarktreform alles getan, was möglich war, mehr sei
nicht drin, dann darf man sich doch nicht darüber wundern, dass sich die Menschen von der Politik abwenden.
Deshalb haben wir immer wieder gesagt: Die Agenda 2010 ist ein erster Schritt in die richtige Richtung,
diese Agenda 2010 reicht aber nicht.
({55})
Ich bin ja froh, dass der Bundeskanzler nach Jahren jetzt
offensichtlich langsam einsieht, dass wir über diese
Agenda 2010 hinausgehen müssen und dass wir weitere
Schritte brauchen. Das dürfen aber nicht irgendwelche
Schritte sein, sondern wir müssen uns überlegen, was
wir bereits geschafft haben und was noch vor uns steht.
({56})
Meine Damen und Herren, der Managerkreis der
SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung hat dieser Tage
wieder gesagt: Die Agenda 2010 ist so, als ob man mit
Esslöffeln gegen Wanderdünen angeht. Das hat man getan. Okay, es ist immer noch besser, mit einem Esslöffel
gegen eine Wanderdüne anzugehen, als gar nichts und
das Falsche zu tun, ich sage aber: Wir brauchen anstatt
eines Klein-Klein einen richtigen Quantensprung, eine
echte Kraftanstrengung. Dazu sind wir bereit.
({57})
Eine solche Kraftanstrengung muss einem Maßstab
folgen und einen roten Faden haben. Das heißt, es muss
in Deutschland schneller gehen und wir müssen flexibler
werden. Damit wir wieder gerechter zu den Menschen
sind, müssen wir mit unseren Entscheidungen direkter
an die Menschen heran. Das heißt, Sie dürfen nicht jeden, der in diesem Land seine Freiheiten nutzen will, unter einen öffentlichen Rechtfertigungszwang setzen.
({58})
Wir müssen endlich ein Klima der Freiheit schaffen und
den Menschen in diesem Lande zeigen, dass wir ihnen
etwas zutrauen. Das muss uns gelingen.
({59})
Wir leben ja nun im Einsteinjahr. Am Kanzleramt
prangt derzeit ein kluger Satz von Albert Einstein, der da
lautet:
({60})
Der Staat ist für die Menschen da und nicht die
Menschen für den Staat.
({61})
Wenn Sie das ein Stück weit berücksichtigen würden
und wenn wir mit dem Geist dieses Satzes von Albert
Einstein in diesem Jahr an die Lösung der Probleme gehen, dann, das sage ich Ihnen voraus, werden wir ein gutes Stück weiterkommen. Unser guter Wille ist da.
({62})
Das, was unserem Land hilft und Vorteile bringt, werden
wir im Sinne und für die Menschen dieses Landes mitmachen. Sie haben es verdient.
Herzlichen Dank.
({63})
Das Wort hat nun der Vorsitzende der SPD-Fraktion,
Franz Müntefering.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die CDU/CSU hat den Antrag auf Drucksache
15/4831 auf eigenen Wunsch hier auf die Tagesordnung
gesetzt. Diesem wollen wir uns jetzt zuwenden. Frau
Merkel hat verständlicherweise relativ wenig dazu gesagt; denn was darin steht, ist enttäuschend.
({0})
Dies ist ein Antrag aus der Abteilung Taktik. Was die
Ansprüche an sich selbst angeht, ist die Opposition sehr
bescheiden geworden.
({1})
Bei dem, was Sie vorgelegt haben, ist nichts von dem
großen Konzept zu erkennen, das kommen sollte.
Frau Merkel hat zu Beginn ihrer Zeit als Vorsitzende
die „neue soziale Marktwirtschaft“, die kommen sollte,
beschrieben. Das hat sich im Kleinkarierten und Vordergründigen verloren. Das einzige Fettauge auf der dünnen
Suppe des Antrags ist der Titel - er ist wirklich gut -:
Pakt für Deutschland. Das können wir gerne miteinander
machen. Aber der Inhalt des Antrags wird dem Titel
nicht gerecht.
({2})
Ob das mit dem Pakt für Deutschland ehrlich gemeint
ist, ist eine andere Frage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich kann es Ihnen nicht ersparen, Sie auf zwei Punkte anzusprechen, die sich aus den Erfahrungen der letzten
Wochen ergeben haben. Der erste Punkt war und ist der
Vorwurf, die SPD sei in hohem Maße für die große Zahl
der Nazis mitverantwortlich, die es in einigen Teilen
Deutschlands wieder gibt.
({3})
- Bleiben Sie ruhig und lassen Sie uns darüber vernünftig sprechen. Diesen Punkt müssen wir miteinander klären.
({4})
- Über das, was Herr Söder und Herr Stoiber dazu gesagt haben, müssen wir im Parlament sprechen. Wir können schließlich nicht nur über Nebensächlichkeiten diskutieren, sondern müssen auch einmal an Kernthemen
heran.
({5})
Die Behauptung ist: Die hohe Zahl der Arbeitslosen sei,
verschuldet durch die SPD, Grund für die hohe Zahl der
Nazis bei uns in einigen Teilen - Gott sei Dank nicht
überall - des Landes.
({6})
Zwei Dinge will ich Ihnen dazu sagen. Erstens. Sie beleidigen damit die Arbeitslosen. Sie sind es heute nicht
und sie waren es auch 1933 nicht, die damals die Braunen an die Macht gebracht haben. Es waren immer Leute
in Anzug und Krawatte, die dafür gesorgt haben, dass
die Braunen nach vorne gekommen sind.
({7})
Zweitens. Die demokratischen Parteien müssen an dieser
Stelle aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig um unsere Möglichkeiten der Zusammenarbeit bringen.
({8})
Ich sage hier vor dem Bundestag ganz klar: Es ist
nicht die Schuld der CDU/CSU, dass es viele neue Nazis
gibt. Es ist aber auch nicht die Schuld der SPD. Wir
müssen darauf achten, dass in diesem Lande eines klar
ist: An dieser Stelle dürfen wir uns nicht gegenseitig etwas unterstellen, was so nicht gerechtfertigt ist. Wer anfängt, hier taktische Spielchen zu machen, der schadet
der Demokratie.
({9})
Der zweite Punkt - auch das muss ich hier ansprechen - ist das, was am Sonntag vor einer Woche in einer
Sonntagszeitung stand: CSU macht Schröder für Verbrechen an Kindern mitverantwortlich. Helfershelfer
von Kinderschändern seien Teil des „Kartells der Schuldigen“.
({10})
- Nein, das stand so in der Zeitung. Da dies in Anführungszeichen gesetzt war, war es legitimiert, dies so zu
schreiben.
({11})
Eine solche Vorgehensweise ist der CDU/CSU und ihrer
Tradition nicht würdig. Das sollten Sie bitte bedenken.
({12})
Frau Merkel, heute wäre eine gute Gelegenheit gewesen,
dazu etwas zu sagen. Dass es einen Herrn Söder gibt, der
so etwas sagt, muss ich wohl respektieren. Dass aber weder Sie noch Herr Stoiber den Mut haben, deutlich zu
machen, dass dies nicht Ihre Meinung ist, ist schade und
bedauerlich.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
nun komme ich zu Ihrem Antrag selbst.
({14}): Ah!)
Der Beginn des Antrags macht ein Ausmaß von Vergesslichkeit deutlich, das stark an Alzheimer erinnert; das
muss ich Ihnen schon sagen.
({15})
Sie schreiben über die 5 Millionen Arbeitslosen so, als
ob Sie vergessen hätten, dass wir miteinander ein Gesetz
beschlossen haben, das notwendigerweise dazu führen
musste, dass einige hunderttausend erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger in die Statistik der Bundesagentur aufgenommen wurden. Das wussten wir alle miteinander,
als das Gesetz beschlossen wurde.
Wir wussten nicht, ob es 300 000, 400 000 oder
500 000 sind. Im Augenblick sind es etwa 350 000 bis
400 000 Erwerbsfähige, die aus der Sackgasse der Sozialhilfe herausgeholt und in die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit überführt wurden und damit wieder
vermittelbar sind und an den Arbeitsmarkt herangeführt
werden. Auch wenn einige von Ihnen jetzt erstaunt gucken, wissen Sie das hoffentlich alle. Als wir damals dieses Gesetz beschlossen haben, war klar: Wenn wir das
machen, wird es so sein. - Diese jungen Menschen, Alleinerziehende und sozial Schwache holen wir aus der
Sackgasse der Sozialhilfe und der Vergessenheit heraus.
Das ist richtig.
({16})
Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Es ist besser, die Arbeitslosenzahl mit 5,2 Millionen anzugeben und die
400 000 einzuschließen, die früher nicht berücksichtigt
worden sind, als die Zahl von 4,8 Millionen zu nennen
und die anderen zu vergessen und in der Sackgasse zu
lassen.
({17})
Die Zahl ist bedrückend. Das ist wohl wahr. Das, was
wir jetzt haben, ist die Lage von 1998 unter Kohl plus
die Statistik von Hartz.
({18})
- Sie müssen ganz einfach die Zahlen zusammenzählen,
dann kommen Sie auf das Ergebnis: Arbeitslosenzahl
von 1998 - zu der Zeit von Helmut Kohl - plus Statistikeffekt durch Hartz. Wenn wir so viele ABM und SAM
gemacht hätten wie Sie, dann läge die Zahl deutlich darunter.
({19})
Das tröstet aber die nicht, die darauf angewiesen sind,
dass ihnen Hilfe zuteil wird.
Was schreiben Sie in Ihrem Antrag? Der Beitrag zur
Arbeitslosenversicherung soll von 6,5 Prozent auf
5,0 Prozent gesenkt werden. Frau Merkel hat gerade versucht, das noch einmal zu begründen. Wer das macht,
der kürzt die Mittel der Bundesagentur für Arbeit um
mindestens 11 Milliarden Euro. Es können auch ein paar
Milliarden mehr sein. Wer das macht, der muss dafür
sorgen, dass entweder das Arbeitslosengeld I gekürzt
wird oder auf Hilfsmaßnahmen für junge Menschen, die
dringend in Ausbildung gebracht werden müssen, verzichtet wird oder die Zahlung von Lohnkostenzuschüssen für Existenzgründer einzustellen ist. Es kann nicht
sein, dass wir 11 Milliarden Euro aus dem Etat der Bundesagentur für Arbeit entnehmen - das wollen Sie -,
gleichzeitig aber die Bundesagentur auffordern, sie solle
mehr vermitteln. Das geht zumindest rechnerisch nicht.
({20})
Sie haben dann ein ganzes Kapitel, in dem Sie sich
mit den Arbeitnehmerrechten auseinander setzen. Die
Tarifautonomie soll geschleift werden, ebenso der Kündigungsschutz, das Betriebsverfassungsgesetz und das
Jugendarbeitsschutzgesetz. Sie fordern, dass es untertarifliche Entlohnung für Langzeitarbeitslose geben soll,
und zwar gesetzlich fixiert. Das gibt es längst in Tarifverträgen - ich weiß nicht, ob Sie sich da genau auskennen -, Sie aber fordern eine gesetzliche Regelung. Das
ist ein Zeichen dafür, dass Sie die Tarifautonomie nicht
mehr ernst nehmen.
({21})
Das ist ein Punkt, über den wir uns nicht verständigen
können. Es muss in Deutschland auch in Zukunft so sein
- damit ist Deutschland gut gefahren -, dass starke Arbeitnehmer und starke Arbeitgeber ihre Interessen vertreten und miteinander Tarifverträge aushandeln können.
Wir als Gesetzgeber werden uns da heraushalten. Die
Tarifparteien sind klug genug, dieses miteinander zu vereinbaren.
({22})
Sie sind übrigens auch klug genug, Wege zu finden,
vernünftige Regelungen zu finden, wenn es darauf ankommt. Sie, Frau Merkel, haben das selbst lobend in Bezug auf das erwähnt, was jetzt bei Opel passiert ist. Zitat:
Es ist gelungen, weil die Menschen vor Ort, die einen
Arbeitsplatz bei Opel haben, bereit waren, etwas für den
Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu tun. - Das ist genau das,
was wir sagen. Was glauben Sie aber, was heute bei Opel
in Bochum und in anderen Städten los wäre, wenn es die
Gewerkschaften und die Betriebsräte nicht gegeben
hätte? Das ist doch die schlichte Wahrheit.
({23})
Tausende Male haben Betriebsräte und Gewerkschaften mitgeholfen, dass Betriebe lebensfähig geblieben
sind. Kluge Unternehmer wissen das ganz genau. Gewerkschaften und Betriebsräte sind keine fünfte Kolonne, die versucht, die Betriebe kaputt zu machen. Sie
helfen vielmehr mit, dass Betriebe bestehen bleiben, so
wie es jetzt auch bei Opel gewesen ist.
({24})
Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist der Weg weg
von der Souveränität der Tarifparteien.
({25})
Es ist ein Stück Demokratie, um das es geht. Das werden
wir uns ganz sicher nicht wegstreichen lassen.
({26})
So viel zu Ihrem Sofortprogramm. In Ihrem Sofortprogramm steht allerdings nichts von den Zuverdienstmöglichkeiten. Das ist eine besonders schicke Sache.
Weshalb haben Sie, Frau Merkel, heute Morgen nicht
einmal den Mut gehabt, zu sagen, dass Sie sich damals
geirrt und darauf bestanden haben, dass die Zuverdienstmöglichkeiten im unteren Bereich nicht so hoch sind,
wie die Sozialdemokraten und die Grünen das wollten?
So war das nämlich im Vermittlungsausschuss: Wir
wollten höhere Zuverdienstmöglichkeiten erlauben.
({27})
Es wäre schon gut, wenn wenigstens einmal gesagt
würde, dass Sie nicht immer die Neunmalklugen sind,
sondern dass Sie sich an der Stelle korrigieren müssen.
Wenn Sie es tun, ist es gut. Darüber können wir miteinander sprechen.
In Ihrem Antrag sind zwei Kapitel - ich weiß nicht,
ob Sie das noch einmal gelesen haben -: Es gibt einmal
das Sofortprogramm, über das ich gerade gesprochen
habe, und zum anderen gibt es ein Kapitel II, in dem es
um Strukturreformen, zum Beispiel in der Steuer- und
Bildungspolitik, geht. Da haben Sie mit der Bildungspolitik natürlich etwas Interessantes angesprochen. Das
Thema Studiengebühren haben Sie aber lieber weggelassen. Es wäre interessant gewesen, heute Morgen einmal Ihre Meinung dazu zu hören, wie es denn so ist mit
den Studiengebühren. Ihre Länderfürsten haben Studiengebühren angekündigt. Im Moment haben alle wieder
ein bisschen Luft abgelassen. Sie haben genau gemerkt,
dass es so schnell und so einfach dann doch nicht geht.
Aber Sie stehen offensichtlich dazu
({28})
und sagen: Studiengebühren, ja. Das nehme ich so zur
Kenntnis. Das ist ein Punkt, über den man irgendwo miteinander zu reden haben wird.
({29})
Dann haben Sie das angesprochen, was in der Föderalismuskommission dazu stattgefunden hat. Meine
Meinung ist unverändert die, dass wir noch einmal einen
Anlauf unternehmen sollten, um in Sachen Föderalismus
in diesem Land voranzukommen. Weil das so ist, verkneife ich mir jetzt jede Antwort auf das, Frau Merkel,
was Sie eben dazu gesagt haben. Wer so verfährt, wie
Sie das getan haben, der macht die Möglichkeiten, an
dieser Stelle zu einer Einvernehmlichkeit zu kommen,
fast schon wieder kaputt. Ich zweifele, ob Sie wirklich
wollen.
({30})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Strukturreformen, auch zur Steuer- und Bildungspolitik, noch in diesem Jahr in konkrete Gesetze gefasst werden sollten.
Darüber kann man sprechen. Das werden Sie in der
nächsten Woche sicherlich auch tun. Die Frage ist: Was
meinen Sie eigentlich damit?
Über die Senkung des Spitzensteuersatzes haben Sie
heute nichts gesagt. Ihrem Papier entnehmen wir: 39 Prozent und eine Linksverschiebung der Progressionsgrenze; bei 45 000 Euro soll der Satz greifen. Das heißt,
die, die unten sind, bezahlen mal wieder mehr; die, die
oben sind, werden entlastet.
Sie sagen in Ihrem Antrag nichts zum Abbau von
Subventionen. Dazu hätte man zwei Dinge sagen können:
Erstens. Eigenheimzulage.
({31})
Wenn wir im Bereich Bildung, Forschung und Technologie etwas machen wollen, dann lassen Sie uns Folgendes
tun: die Eigenheimzulage abschaffen und das Geld für
Forschung und Technologie einsetzen. Da wäre es für
die nächste Zeit dringend nötig.
({32})
Zweitens hätten Sie etwas zum Steuervergünstigungsabbaugesetz sagen sollen. Damit hätten wir eine Menge
Geld für Bund, Länder und Gemeinden realisieren können. Dass Sie das am 16. Mai 2003 abgelehnt haben, hat
die öffentlichen Hände 26,9 Milliarden Euro gekostet.
Es ist die blanke Heuchelei, wenn Sie und einige CDULänder, einige CDU-Bürgermeister oder -Oberbürgermeister darüber klagen, zurzeit kein Geld zu haben. Sie
hätten es haben können. Sich vor Ort beklagen und dann
auf der Bundesebene keinen Mut haben, das zeugt nicht
gerade von politischer Weitsicht.
({33})
Nun haben Sie noch einen Antrag zum Thema Antidiskriminierungsgesetz nachgeschoben. Er hat einen
interessanten Einstieg. Darin beschreiben Sie nämlich
zunächst einmal, wie sinnvoll so etwas eigentlich sein
könnte:
Die Diskriminierung eines Menschen wegen seiner
äußeren Merkmale oder seiner Veranlagung ist
schlicht und ergreifend abzulehnen.
({34})
Dies ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild, welches von der Unverletzbarkeit der Würde
eines jeden Einzelnen ausgeht.
({35})
Es ist daher völlig selbstverständlich, dass sich eine
Gesellschaft Regeln gibt, die deutlich machen, dass
negative Diskriminierung gegen die Würde eines
jeden Menschen geht und geahndet werden muss.
({36})
Obwohl Sie dies geschrieben haben, steht obendrüber: Antidiskriminierungsgesetz verhindern! Das ist eine
komische Logik, der Sie da folgen.
({37})
Im arbeitsrechtlichen Teil des Antidiskriminierungsgesetzes bewegen wir uns akkurat auf der Höhe dessen,
was uns die EU vorschreibt. Im privatrechtlichen Bereich gehen wir darüber hinaus, weil wir Behinderte einbeziehen möchten. Wir möchten nicht, dass Gruppen
von Behinderten in Restaurants rausgeschmissen werden. Wir möchten, dass bei uns in Deutschland geklärt
ist, dass sie dahin kommen können, und zwar gesetzlich
garantiert.
({38})
Wir werden die Ergebnisse der Anhörung auswerten.
Es gibt sicherlich Korrekturmöglichkeiten, was die Verwirkungsfristen, gemischte Bewohnerschaft - das betrifft das Wohnraumförderungsgesetz - oder kirchliche
Interessen anbelangt. Aber das Antidiskriminierungsgesetz wird kommen. Darauf können Sie sich ganz sicher
verlassen.
({39})
Sie haben mit dem Antrag - ich habe mich auf diesen
Teil konzentriert - keinerlei Hilfestellung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gegeben. Das wird aber für
die Debatte in der nächsten Woche ganz wichtig sein.
Heute war auf der Grundlage Ihres Antrags offenbar
nicht mehr zu erwarten. Ich bin sehr gespannt, was Sie in
der Debatte über die Regierungserklärung in der nächsten Woche einbringen werden. Die Frage ist, ob Sie,
Frau Merkel, sprechen werden oder Herr Stoiber. Wie
gesagt, wir sind sehr gespannt darauf, wie das in der
nächsten Woche laufen wird. Vielleicht zeigen Sie dann
ein bisschen mehr Augenmaß und Verantwortung für das
ganze Land. Insgesamt, insbesondere mit Ihrem Antrag,
zeigen Sie es heute jedenfalls nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({40})
Das Wort hat nun Dr. Guido Westerwelle für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Lage in Deutschland ist folgende: Wir haben
die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung der Republik.
Wir haben die marodesten Staatsfinanzen seit Gründung
der Republik. Wir haben noch nie so viele Unternehmenspleiten gehabt. Wir haben ein Wachstum, das entgegen allen optimistischen Prognosen nun nochmals zusammenbricht. Wir haben brüchige Sozialsysteme. Wir
haben ein Bildungssystem, das im Allgemeinen international schlechte Noten bekommt. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass es, während der Deutsche Bundestag an einem Donnerstagvormittag - zur
Kernzeit! - zum Thema Massenarbeitslosigkeit tagt,
gerade einmal vier von 14 Bundesministern für notwendig erachten, anwesend zu sein.
({0})
Das, was Sie hier sehen, ist die heutige Titelseite der
„BZ“, einer großen Berliner Tageszeitung: „Keine Zeit
für Arbeitslose“.
({1})
Das ist in Wahrheit das Gefährlichste, was eine Regierung vermitteln kann. Nicht nur Ihre Wankelmütigkeit,
sondern auch Ihre Ignoranz gegenüber dem, was notwendig ist, das ist das eigentliche Problem.
({2})
Da Ihnen, wie ich gehört habe, diese Zeitung nicht gefällt, greife ich zur nächsten, zur heutigen Ausgabe der
„Süddeutschen Zeitung“, die Ihnen ja näher steht. Dort
heißt es auf der Titelseite: „Kanzler fordert Disziplin,
Minister streiten weiter“. Wie wollen Sie denn das Land
aus der Krise führen, wenn Sie sich noch nicht einmal einig sind? Das kann doch nicht funktionieren.
({3})
„Der Spiegel“ steht Ihnen möglicherweise noch näher.
Auf seiner Titelseite in dieser Woche macht dieses Magazin mit folgendem Zitat von Gerhard Schröder - in bewundernswerter Deutlichkeit - auf:
Wenn wir die Arbeitslosenquote nicht spürbar senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.
Als Sie 1998 die Regierung übernommen haben, gab es
3,947 Millionen Arbeitslose. Nun sind es 5,216 Millionen Arbeitslose. Das ist das Ergebnis rot-grüner Politik
und nicht irgendein Gottesgesetz oder ein Naturvorgang.
({4})
Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es
Alternativen gibt. Denn viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem diejenigen, die mit RotGrün längst abgerechnet und Schluss gemacht haben,
fragen sich besorgt: Gibt es eine Alternative? Kann es
anders gehen? Ist es nicht quasi eine zwangsläufige
Folge der Globalisierung, dass wir in Deutschland in einer solchen maroden Situation sind? Es ist deswegen genauso notwendig wie erforderlich, einen internationalen
Vergleich anzustellen. Wenn man sieht, dass die Politik
in Deutschland eine Arbeitslosenquote von 12 Prozent
zu verantworten hat, während die Arbeitslosenquoten in
Österreich und Großbritannien bei jeweils 4,5 Prozent
und in den USA bei 5,5 Prozent liegen, dann kommt
man zu dem Schluss, dass die anderen Länder etwas besser machen.
({5})
Beim Wachstum ist es doch genau dasselbe. Sie reden es jetzt mit einer Wachstumsprognose von zunächst
1,6 Prozent schön. Darauf ist der ganze Haushalt gebaut,
danach ist er gestrickt. Wir sehen in diesen Tagen, wie er
anhand der korrigierten Wachstumsprognosen abermals
zusammenbricht. Gerade noch 1 Prozent Wirtschaftswachstum sagen die Sachverständigen Deutschland voraus. Zum Vergleich: Die Wachstumsprognose 2005 ist
für Frankreich 2,2 Prozent, für Großbritannien 2,9 Prozent, für die USA 3,4 Prozent. Wenn Deutschland von
allen 25 europäischen Mitgliedstaaten die schlechteste
Wachstumsrate hat, dann ist dies nicht das Ergebnis einer schäbigen Weltwirtschaft, sondern das Ergebnis einer schlechten Regierung. Das ist der feine Unterschied.
({6})
Deswegen wollen wir als Opposition eine wachstumsorientierte Politik. Dass die Grünen damit Schwierigkeiten haben, ist bekannt. Sie haben sich vor 25 Jahren mit
dem Ziel des Nullwachstums gegründet. Jetzt in der Regierungsverantwortung haben sie es fast geschafft - leider, muss man sagen.
({7})
Als sie sich gründeten, wollten sie den Kapitalismus besiegen. In der Regierungsverantwortung ist es ihnen nahezu gelungen. Das ist die Lage in diesem Lande.
({8})
An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Kollege
Müntefering, noch einmal Folgendes vorhalten - ich
halte das für einen entscheidenden Punkt -: Es ist doch
nicht die Opposition, sondern es sind Ihre Genossinnen
und Genossen, die mit dieser Politik längst auch öffentlich abrechnen.
In dieser Woche sagte der Betriebsrat - wohlgemerkt
nicht der Vorstandsvorsitzende -, Herr Gipperich - er ist
SPD-Mitglied -, von Bayer aus Nordrhein-Westfalen
wörtlich:
Wer grün wählt, entscheidet sich gegen Arbeitsplätze.
Er fügt hinzu:
Was Verbraucherministerin Renate Künast mit der
grünen Gentechnik macht, ist eine absolute
Sauerei … Alte Arbeitsplätze werden vernichtet
und neue andernorts geschaffen.
Das ist die Meinung der deutschen Opposition. Wir unterstützen die Betriebsräte in ihrer Kritik an der Bundesregierung.
({9})
Verehrte Anwesende, es ist ein wichtiger Punkt,
hierzu auch die Forschungsseite zu zitieren. Wovon wollen wir denn leben? Wo sollen denn Arbeitsplätze entstehen, wenn nicht in den neuen Schlüsseltechnologien?
Wenn andere billiger sind, müssen wir besser sein. Deswegen wollen wir eine forschungsfreundliche Politik.
Wir wollen eine wirtschafts- und investitionsfreundliche
Politik, die Bio- und Gentechnologie eben nicht außer
Landes treibt, sondern ihnen hier eine Chance gibt. Ich
zitiere dazu den Chef der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der noch zur Jahreswende zum Gentechnikgesetz
gesagt hat:
Die noch in Deutschland durchgeführte Forschung
wird gezwungen sein, sich ins Ausland zu verlagern.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, was die
wesentliche Nachricht des SPD-Vorsitzenden an diesem
Rednerpult gewesen ist. Ich hoffe, dass der deutsche
Bundeskanzler nächste Woche mehr zu bieten hat. Denn
wenn das alles ist, dann geht das aus wie das Hornberger
Schießen: Außer Spesen nichts gewesen.
({10})
Ich sage Ihnen: Das darf nicht passieren. Wenn es solche
Runden gibt, müssen auch strukturelle Ergebnisse möglich werden.
Dazu sollte aus unserer Sicht vor allen Dingen die Beerdigung eines Antidiskriminierungsgesetzes gehören.
Denn das ist der Totengräber für noch mehr Arbeitsplätze.
({11})
In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit hat der Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten eine einzige konkrete
Nachricht: dass das Antidiskriminierungsgesetz kommen wird, und zwar gegen Herrn Clement, gegen Herrn
Steinbrück, gegen zahlreiche Vertreter des Bundesinnenministeriums und auch den Bundesinnenminister selbst
- wir lesen das alles nach -, gegen Betriebsräte und
übrigens auch gegen mancherlei Betroffene. Dieses
Antidiskriminierungsgesetz wird nicht nur Arbeitsplätze
vernichten, sondern auch genau den Minderheiten schaden, die es zu schützen gilt, weil dann nämlich in Wahrheit zu einem Vorstellungsgespräch ebendiese Minderheiten gar nicht mehr eingeladen werden, aus Sorge,
anschließend, wenn man aus fachlichen Gründen ablehnt, einer Klagewelle gegenüberzustehen.
({12})
Deswegen ist es völlig richtig, wie nicht irgendeiner
von der Opposition, sondern wie der Genosse Ude, der
Oberbürgermeister von München, das Antidiskriminierungsgesetz bewertet hat. Er sagt dazu wörtlich:
Da haben sich ein paar Gutmenschen ausgetobt.
Nichts ist schlimmer in Deutschland als Politik von Gutmenschen. Sie sind nämlich fein zu unterscheiden von
den guten Menschen.
({13})
Die guten Menschen geben ihr eigenes Geld, die Gutmenschen - wie sie da sitzen - verteilen das Geld anderer Leute.
({14})
Wir haben einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt.
Wir haben gesagt, wie es geht. Es gibt von uns zu jedem
notwendigen Bereich, den wir hier zu beraten haben,
konkrete Gesetzentwürfe: zum Bürokratieabbau, zu den
Steuern, zur Unternehmensteuerreform. Wir sind dazu
bereit, wir wollen mitwirken. Ich sage Ihnen dazu ganz
klar: Die Zusammensetzung von Runden ist nicht das
Thema, entscheidend ist, was hinten rauskommt. Wie
heißt es so schön im „Faust“ von Johann Wolfgang von
Goethe - etwas abgewandelt -: Der Briefe sind genug
gewechselt, jetzt lasst uns endlich Taten sehen.
Vielen Dank.
({15})
Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von
Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Herr Westerwelle, nachdem ich Ihre Rede heute
hier gehört habe
({0})
und nachdem ich gehört habe, welche neuen Vorschläge
für den Arbeitsmarkt Sie unterbreiten - Sie haben auf einen Antrag verwiesen, den Sie hier nicht vorstellen wollten, weil Sie uns Zitate aus Zeitungen vorhalten wollten -,
sage ich einmal an diejenigen, die nächste Woche zusammensitzen und Probleme lösen wollen: Wie gut, dass
Sie nicht dabei sein werden!
({1})
Frau Merkel, Sie haben heute Morgen gesagt, wie Sie
Deutschland voranbringen wollen und was wir dazu
brauchen, nämlich guten Willen und dass wir schneller
werden. Darauf will ich gerne in drei Punkten eingehen.
Erster Punkt: Föderalismusreform. Es steht nicht in
Ihrem Antrag, dass Sie dazu etwas beitragen wollen.
({2})
Vor allen Dingen haben Sie auch bisher nichts dazu beigetragen. Als die Föderalismuskommission getagt hat
und in eine schwierige Situation geraten ist, weil Ihre
Länderfürsten sich aufgemäntelt haben und nicht mehr
weiterkommen wollten, da sind Sie, Frau Merkel, abgetaucht und haben zu dieser großen und wichtigen Reform des Landes keinen einzigen Beitrag geleistet.
({3})
Dann haben Sie hier über das Thema Zuverdienst geredet. Wir müssen doch einmal ehrlich sein und sehen,
dass es so nicht geht. Frau Merkel, haben Sie die Debatten eigentlich nicht mitbekommen? Wie lange haben wir
hier im Deutschen Bundestag und im Bundesrat über die
Zuverdienstmöglichkeiten geredet? Wie lange haben wir
gesagt, die Zuverdienstmöglichkeiten müssten größer
sein, weil wir gerade für die unteren Einkommensbezieher neue Chancen brauchen? Was haben Sie gemacht?
Sie haben die Zuverdienstmöglichkeiten heruntergesetzt.
Deswegen sind wir jetzt in dem Dilemma, dass wir weniger Arbeitsplätze haben und nicht mehr. Das ist Ihre
eigene Verantwortung, Frau Merkel.
({4})
Vielleicht erinnern Sie sich daran: Herr Koch wollte
noch mehr. Herr Koch wollte sogar, dass diejenigen, die
heute in 1-Euro-Jobs in gemeinnütziger Arbeit beschäftigt sind, überhaupt nichts zusätzlich bekommen. Was
sind das für Vorschläge, an die Sie sich nach ein paar
Monaten nicht einmal mehr erinnern können? Jetzt sagen Sie: Man hätte schneller sein können. Ja, man hätte
schneller sein können. Sie hätten schneller sein können.
Wir wären heute weiter.
({5})
Der dritte Punkt, den Sie angesprochen haben, ist das
Thema Bildung. Auf dieses Thema haben Sie heute nur
einen ganz kurzen Satz verwandt und haben gesagt, da
müsse man doch vorankommen. Heute Morgen habe ich
von Herrn Pofalla gelesen, Sie wollten in der nächsten
Woche ganz ernsthaft verhandeln und Sie wollten auch
eigene Fehler berücksichtigen und noch einmal neu darüber nachdenken. Ich nenne beispielhaft einen Bereich,
wo sie gut Ihre Haltung überdenken könnten. Damit
würden Sie vor allen Dingen Ihren eigenen Ländern helfen und für bessere Bildungsmöglichkeiten in Deutschland sorgen. Wir haben hier über die Eigenheimzulage
gestritten. Wir haben gesagt, diese war einmal ein richtiges Instrument, sie ist jetzt aber nicht mehr notwendig;
da sie am falschen Ende ansetzt, wäre es verkehrt, sie
weiter aufrechtzuerhalten. Wenn Sie unserer Argumentation gefolgt wären, hätten wir schon jetzt 6 Milliarden
Euro in die Bildung investieren können, Frau Merkel.
Diese 6 Milliarden Euro fehlen heute dem Bund und den
Ländern. Dafür tragen Sie Verantwortung. Wir hätten da
schneller handeln können.
({6})
Natürlich widme ich mich auch Ihrem so genannten
Pakt. Ehrlich gesagt halte ich ihn mehr für ein „Päckchen“. Wenn man es nämlich aufmacht, stellt man fest,
dass es viel alte und verbrauchte Luft enthält. In diesem
Rahmen reden Sie von der Senkung der Lohnnebenkosten. Von 1982 bis 1998 - man kann diese Zahl ruhig
noch einmal nennen - sind die Lohnnebenkosten von
34 auf 42 Prozent gestiegen, mit tätiger Mithilfe übrigens der FDP, obwohl sie nach außen immer so tut, als
ob die Senkung von Lohnnebenkosten und Steuern zentrale Punkte ihres Parteiprogramms wären. So viel also
zu Ihrer Glaubwürdigkeit, nachdem Sie uns Grünen vorgeworfen haben, wir wären nicht glaubwürdig. Die Senkung der Lohnnebenkosten ist diese Regierung als Erstes
angegangen. Mithilfe der Ökosteuer sorgen wir dafür,
dass der Rentenbeitrag unter 20 Prozent bleibt. Das dürfen Sie nicht vergessen, Frau Merkel. Die Ökosteuer
nimmt dabei das Geld nicht von denjenigen, die es heute
so dringend brauchen.
Sie dagegen wollen 11 Milliarden Euro bei den
Förderprogrammen einsparen, um die Kosten für die
Arbeitslosenversicherung zu senken. Wissen Sie eigentlich, wie viele Leute heute Arbeitsplätze haben, die in
Förderprogrammen arbeiten? Ahnen Sie das? Sie reden
über 150 000 Arbeitsplätze. Wissen Sie, wie viele Leute
Sie nach Hause schicken müssten, wenn Sie die Förderprogramme einstellen, und wie vielen Sie sagen müssten: Für euch gibt es keine Förderung mehr? Es handelt
sich um 1,3 Millionen Menschen. Um die geht es hier.
Diese wollen Sie nach Hause schicken. Denen wollen
Sie sagen: ab nach Hause, ab auf die Bank, es gibt keine
Förderung durch die Arbeitsagentur mehr. Eine solche
Politik, die bei den kleinen Leuten ansetzt, werden wir,
Frau Merkel, nicht mitmachen.
({7})
Nun zu den betrieblichen Bündnissen für Arbeit: Ich
weiß nicht, ob Sie tatsächlich einmal in Unternehmen
gewesen sind. Ich weiß nicht, ob Sie mitbekommen haben, was im letzten Jahr geschehen ist. 50 Prozent der
Arbeitsverhältnisse in Deutschland sind längst flexibilisiert. Die Regelungen für 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse in Deutschland basieren längst auf betrieblichen
Bündnissen. Hätten Sie denn gewollt, Frau Merkel, dass
in Bochum ein Streik angefangen worden wäre, den man
überhaupt nicht wieder hätte einfangen können? Hätten
Sie gewollt, dass es zu einem Dumpingwettbewerb zwischen Bochum und Rüsselsheim kommt? Wo stehen wir
denn heute? Bei Opel arbeiten die Leute zu Osttarifen.
Zu solchen Ergebnissen führen betriebliche Bündnisse
für Arbeit. Diese wurden unter Mitwirkung der Gewerkschaften vereinbart. Wir können stolz darauf sein, dass
wir in Deutschland Gewerkschaften haben, die in
schwierigen Situationen auch dazu in der Lage sind, entsprechend zu handeln.
({8})
Ich will auch noch etwas zum Thema Bürokratieabbau sagen. Sie haben sich da ja aus dem Fenster gelehnt und deutlich gesagt, wo überall Bürokratieabbau
möglich und notwendig wäre. Ich will in diesem ZusamKatrin Göring-Eckardt
menhang gern auf das Thema Gentechnik eingehen,
weil es offensichtlich sehr viele beschäftigt.
({9})
Wo wir schon über Bürokratieabbau und Gentechnikgesetz reden, will ich Ihnen heute hier einen ganz konkreten Vorschlag machen. Wir können bei der Gentechnik weiterkommen, aber nicht in dem Bereich, in dem
andere Länder längst viel weiter sind als wir - das war
übrigens auch schon zu Ihren Regierungszeiten so -,
nämlich im Bereich der Grünen Gentechnik. Wir müssten hier einen Aufholprozess starten, um im Wettbewerb
bestehen zu können, den wir, wie ich glaube, nicht erfolgreich abschließen können. Es gibt aber auch noch die
Weiße Gentechnik. Da müssten Sie sich, Frau Merkel,
und Ihre Klientel, die Bauern, jedoch bewegen. Sie
müssten sagen: Ja, die Zuckermarktverordnung darf verändert werden; ja, der Zuckerpreis darf um 60 Prozent
sinken;
({10})
ja, wir steigen in Deutschland in die Weiße Gentechnik
ein. Damit würden wir es schaffen, ganz nach vorne zu
kommen. Hierbei handelt es nämlich um einen Zukunftsbereich, in dem viele Arbeitsplätze entstehen können.
({11})
An dieser Stelle will ich natürlich auch noch etwas
zum Antidiskriminierungsgesetz sagen. Ich tue das
gerne, und zwar deswegen, weil ich glaube, dass all diejenigen, die hier gesagt haben, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden, in den nächsten Wochen und
Monaten eines Besseren belehrt werden.
Ich bin sehr dafür, dass wir all das, was in der Anhörung gesagt worden ist, sehr ernst nehmen. Ich bin sehr
dafür, dass wir auf der einen Seite das Ziel im Auge behalten und auf der anderen Seite dort, wo etwas zu bürokratisch geregelt ist, andere Lösungsmöglichkeiten suchen. Ich glaube, dass uns das auch sehr gut gelingen
wird. Ich verstehe, dass es bei Unternehmen Verunsicherung gibt. Deswegen bin ich auch dafür, dass wir eine
transparente Regelung schaffen, die nicht zu Ängsten
und Verunsicherung führt.
Aber ich will Ihnen auch eines sagen: Europäische
Nationen haben sich gemeinsam darauf verständigt,
etwas für Bürgerrechte, Minderheitenrechte und
Menschenrechte in Europa zu tun. Wir haben in
Deutschland gesagt: Ja, das wollen wir, das gehört zu
uns, das gehört zu unserer Kultur und zu unserer Würde.
Das ist kein kleiner grüner „Beikram“, sondern das gehört zu uns in Deutschland und das wollen wir; wir wollen Menschenrechte, Bürgerrechte und Minderheitenrechte schützen.
({12})
Ich glaube, dass niemand der Auffassung ist, dass wir
das heute plötzlich nicht mehr wollen.
Nun etwas zu Ihrem Vorschlag, das auf die EU-Regelungen zu begrenzen. Das würde heißen, dass man zwar
den Ausländer, der in die Disco will, dort hineinlassen
muss, aber den Behinderten sagen kann: Über ein Hotelzimmer für euch hier reden wir gar nicht erst. - Diese
Auseinandersetzung können wir gerne führen. Wir können auch eine Auseinandersetzung darüber führen,
wieso Sie fordern, dass im zivilrechtlichen Teil die Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit oder
die Diskriminierung der Schwulen und Lesben gestrichen wird. Ich finde, gerade in Deutschland ist es richtig,
dass wir unser Augenmerk besonders darauf richten,
dass wir Minderheiten nicht diskriminieren, dass wir in
unserem Land und darüber hinaus für Menschenrechte
eintreten. Es ist richtig für die Würde unseres Landes.
Das werden die Grünen auch weiterhin durchsetzen.
Wir werden durchsetzen, dass wir diese Würde behalten.
Wir werden weiterhin für Menschen- und Minderheitenrechte eintreten. Gleichzeitig werden wir - darauf wird
es in den nächsten Wochen ankommen - dafür sorgen,
dass alle Anstrengungen unternommen werden und
keine ideologischen Pflastersteine ausgelegt werden, damit neue Arbeitsplätze entstehen können,
Frau Kollegin Göring-Eckardt!
- zum Beispiel in Zukunftstechnologien. Wir werden
über „weg vom Öl“, über neue Autos in Deutschland
und über nachwachsende Rohstoffe zu reden haben. All
das werden wir tun; aber dabei werden wir nicht unsere
Würde verlieren und wir werden auch weiterhin dafür
sorgen, dass dieses Land eines ist, wo Menschenrechte
eine große Rolle spielen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Kollege Müntefering, damit es nicht heißt, ich
hätte jemanden diskriminiert: Soll ich Ihre Worte oder
die von Gerhard Schröder zitieren in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und dem Wählen rechtsextremer Parteien? Sie haben die Wahl.
({0})
Herr Kollege Glos, ich beabsichtige aber nicht, darüber einen Hammelsprung herbeizuführen.
({0})
Gut. - Herr Kollege Müntefering, Sie haben im
November 2000 gesagt:
Manche Wähler suchen ein Ventil für Enttäuschung, Wut und Ängste. Arbeitslosigkeit, fehlende
Perspektiven, ein beschleunigter gesellschaftlicher
Wandel infolge von Globalisierung und Individualisierung sowie Herausbildung der Wissens- und Informationsgesellschaft treiben der extremen Rechten Proteststimmen zu.
Der Bundeskanzler hat am 27. Mai 1998 gesagt:
Das Wiedererstarken des Rechtsextremismus liegt
vor allem in der Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und in der mangelnden Fähigkeit, mit
Fremdheit umzugehen.
({0})
Herr Müntefering, ich habe das nur deswegen gesagt
- es geht ja heute um Arbeitslosigkeit -, weil Sie am Beginn Ihrer Rede - heute war nicht Ihr Tag; das hat man
gespürt ({1})
mit Zitaten gekommen sind, von denen Sie geglaubt haben, Sie könnten sie zur Diskriminierung der CSU brauchen. Ich bin überhaupt der Meinung, dass wir heute etwas Historisches erlebt haben, nämlich die erste
Abstimmungsniederlage von Rot-Grün.
({2})
Das muss den Fraktions- und Parteivorsitzenden der
SPD natürlich umtreiben, genauso wie die Tatsache, dass
die Umfragewerte immer schlechter werden und dass
sich inzwischen offener Widerstand in der Koalition
breit macht. Schily, Clement und Steinbrück sind gegen
das von der Koalition beschlossene Antidiskriminierungsgesetz. Herrn Steinbrück können Sie aber nicht ruhig stellen. Er kämpft um die Verlängerung seiner Amtszeit.
Es gab auch einen wochenlangen Schlagabtausch
zwischen Herrn Clement und Herrn Eichel, der vorhin
noch anwesend war.
({3})
- Ich freue mich, dass er noch da ist. Er dreht gerade
dem Plenum den Rücken zu. Das ist symptomatisch für
die SPD.
({4})
Wie ich sehe, verlässt er jetzt den Saal.
({5})
Ich befürchte nur, dass er nicht endgültig geht, sondern
dass er vorher noch mehr Schaden anrichtet.
({6})
Damit komme ich zu Maastricht. Eichel will unsere
Währung ruinieren und kaputtmachen.
({7})
Er will alle Mauern, mit denen die Verschuldung gestoppt werden könnte, niederreißen. In diesem Moment
ist er sicherlich auf dem Weg nach Brüssel, um diesem
unseligen Tun weiter nachzugehen.
({8})
Es ist offenkundig, dass bei Ihnen Ratlosigkeit
herrscht. Wir können jetzt darüber rätseln, welche Hälfte
der Fraktion anwesend war, als Herr Müntefering geredet hat: die Hälfte, die für Herrn Robbe war, oder die
Hälfte, die für seinen Gegenkandidaten war.
({9})
Es ist eine grausame Situation - Herr Müntefering, da
haben Sie mein echtes Mitgefühl -, wenn der Vorsitzende einer Fraktion - ich habe immerhin die drittgrößte
Fraktion im Deutschen Bundestag zu führen - flehentlich darum bitten muss, noch einmal nachzudenken und
einen Tag bis zur Entscheidung zu warten, aber diese
Bitte mit Hinweis auf die Geschäftsordnung abgewiesen
wird. Das wäre eigentlich ein weiterer Grund, Herr
Müntefering, sich zu überlegen, ob Sie beiden Ämtern,
dem Amt des Parteivorsitzenden und dem Amt des Fraktionsvorsitzenden, gewachsen sind.
({10})
Wir haben heute die bedrückende Situation, dass es
offiziell fast 5,3 Millionen Arbeitslose gibt. Wir haben
die bedrückende Situation, dass es in Nordrhein-Westfalen 1,1 Millionen Arbeitslose gibt. Trotzdem ist der
Kanzler hier nicht anwesend, weil er auf der CeBIT in
Hannover anscheinend unabkömmlich ist.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die CeBIT vor
fünf Jahren. Damals hat der Bundeskanzler mit Herrn
Staudt von IBM gesprochen und dann versprochen, dass
er die Greencard einführt, um mithilfe von ausländischen Experten den IT-Fachkräftemangel zu beheben. Es
ist dann manches anders gekommen. Nicht nur die Tatsache, dass die ausländischen Experten längst wieder
weg sind, ist bedrückend, sondern auch die Tatsache,
dass hoch qualifizierte Arbeitsplätze aus diesem Bereich
aus Deutschland verlagert werden.
({11})
Ich könnte in diesem Zusammenhang die „HannoverZeitung“ zitieren.
Für mich ist es doppelt bedrückend, was hier vor sich
geht. Denn IBM will Rechenzentren in Hannover und in
Schweinfurt schließen. In Hannover sind 250 und in
Schweinfurt 330 Mitarbeiter betroffen - und das in einer
Dienstleistungsbranche. Wenn ich mehr Redezeit hätte,
würde ich Ihnen aus den Briefen vorlesen, die ich von
betroffenen jungen Familien, die Angst um ihre Zukunft
haben, bekommen habe.
({12})
Ich hoffe, dass der Herr Bundeskanzler die Zeit auf
der CeBIT in Hannover nutzt, um nicht nur mit Herrn
Staudt und anderen Führern großer amerikanischer
Tochtergesellschaften Champagner zu trinken, sondern
auch um diese bedrückenden Sorgen anzusprechen.
({13})
Wir sprechen immer vom Wandel der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft. Das Bedrückende ist, dass inzwischen nicht nur die industriellen Arbeitsplätze aus Deutschland verschwinden,
sondern dass auch die Dienstleistungsarbeitsplätze in einem atemberaubenden Tempo aus Deutschland verlagert
werden.
({14})
Bei den Punkten, bei denen die Regierung Erfolge
hatte - das waren nicht allzu viele -, haben wir als konstruktive Opposition mitgeholfen. Ich nenne als Stichwort nur die Gesundheitsreform. Dass jetzt die Beiträge gesenkt werden können, ist der Mithilfe von Horst
Seehofer zu verdanken, der Chefberater, und zwar ohne
Honorar, für Frau Schmidt gewesen ist. Auch dass Hartz
in Kraft treten konnte, ist einer konstruktiven Opposition
zu verdanken.
({15})
Wir haben nicht wie Rot-Grün in der Zeit zwischen 1994
und 1998 blockiert; denn wir haben von vornherein gesagt: Wir wollen mithelfen, Deutschland wieder in Ordnung zu bringen. Wir schauen auf die Menschen und auf
die Wähler. Uns hat man gewählt, weil man will, dass es
vorwärts geht.
({16})
Warum man die Grünen gewählt hat, weiß ich nicht. In
diese Vorstellungswelt kann ich mich nur schwer hineinversetzen.
Herr Müntefering, Ihre Zitate, die Sie auf das Angebot von Frau Merkel und des bayerischen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden Stoiber hin angeführt haben, fand ich sehr geschmacklos.
({17})
Es war gut, dass „Gerhard von Arabien“ aus Arabien angerufen und Sie zurückgepfiffen hat.
({18})
- Wie die geschmacklos sein können? Sie sind geschmacklos, weil sie von Herrn Müntefering kommen,
Herr Schmidt; das ist doch ganz klar.
({19})
Sie haben gesagt, es sei menschenverachtend und was
weiß ich alles, dass man sich schriftlich an den Kanzler
wendet, um über die derzeitige Situation zu reden.
({20})
Jetzt lese ich Ihnen das Zitat doch vor:
({21})
Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken …
({22})
- Das haben Sie schon einmal gehört. - Hartz hat gesagt,
die Arbeitslosigkeit werde binnen drei Jahren halbiert.
Das war 2002; jetzt haben wir 2005. Sie aber haben es
als kaltblütig und zynisch bezeichnet, dass wir mit Ihnen
über einen Pakt für Arbeit reden wollen.
({23})
Sie haben gesagt, das sei moralisch verkommen. Das ist
noch schlimmer.
({24})
Ich scheue mich, hier schlimme Worte zu wiederholen,
die andere gesagt haben; denn ich bin dann immer als
derjenige verschrieen, der mit Grobheiten um sich wirft.
({25})
Kollege Westerwelle hat zu Recht darauf hingewiesen, was Betriebsratsvorsitzende geschrieben haben.
Sie haben den Betriebsratsvorsitzenden von Bayer zitiert. Ich könnte, wenn meine Redezeit reichen würde,
den Betriebsratsvorsitzenden von Thyssen-Krupp zitieren. Dort wie in anderen DAX-Konzernen warnen Millionen organisierte Arbeitnehmer über diejenigen, die sie
als Vertrauensleute gewählt haben, vor einer weiteren
Regierungsbeteiligung der Grünen. Sie verlangen, dass
in Nordrhein-Westfalen andere Verhältnisse entstehen.
Sie weisen in diesem Zusammenhang auf die hohen
Energiepreise hin, die bei uns in Deutschland künstlich
verteuert sind; ich brauche die entsprechenden Zahlen
nicht zu nennen. Wir haben nach Italien die zweithöchsten Strompreise in Europa - und das alles in erster Linie
durch staatlich verordnete Nebenkosten. Wir leisten uns
„Subventionsräder“, die nicht nur die Landschaft verschandeln, sondern Strom in das Netz einspeisen können, der zum Dreifachen des Marktpreises vergütet wird.
Das mag sich eine reiche Gesellschaft leisten können,
ein Land, das im Überfluss lebt. Aber wir in Deutschland
können es uns nicht leisten, die höchsten Lohnkosten
durch hohe Lohnzusatzkosten und gleichzeitig die
höchsten Energiekosten zu haben.
({26})
Ich meine, dass man dafür, dass sich eine Opposition
bereit erklärt, darüber zu sprechen, wie wir das alles
überwinden können, im Grunde dankbar sein müsste.
Herr Müntefering, ich will Ihnen zuletzt eines sagen:
Sie haben kein leichtes Amt; das gebe ich zu. Sie müssen
oft den Kopf für den Bundeskanzler hinhalten. Aber
ganz besonders bedrückend ist es, wenn ein Partei- und
Fraktionsvorsitzender aus Nordrhein-Westfalen amtiert,
während Nordrhein-Westfalen nach einer viel zu langen
Phase der SPD-Regierung wieder zu einer CDU-Regierung zurückkehrt. Ich glaube, Sie werden, wenn Sie das
durchhalten und nicht die Nerven verlieren, auch der
SPD-Parteivorsitzende sein, unter dessen Regie RotGrün im Bund abgewählt wird.
Danke schön.
({27})
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
möchte ich mich für die Komplimente seitens der Opposition bedanken und darauf hinweisen, Herr Glos, dass
heute zum wiederholten Male nicht Ihr Tag ist.
({0})
Ich halte es für absolut gerechtfertigt, dass nach den Anwürfen, die es aus Ihren Reihen in Richtung auf die sozialdemokratische Partei, auf Herrn Münterfering und
Herrn Schröder, gegeben hat, bevor mit Gesprächen begonnen wird, hier Worte des Anstandes und des Ausgleiches gefunden werden. Das, so meine ich jedenfalls, gehört zum demokratischen Selbstverständnis.
({1})
Meine Damen und Herren, mir ist aufgefallen, dass
Sie sich hier hinstellen und erklären, Sie hätten alle Erfolge dieser Regierung auf dem Felde der Wirtschaftspolitik im Wesentlichen mitgetragen. Damit meinen Sie
auch Hartz IV. Ich werde Ihnen sagen, was Sie praktizieren.
({2})
Sie haben Hartz IV mit uns gemeinsam im Vermittlungsausschuss und hier, im Bundestag, beschlossen. Sie haben genau gewusst, dass durch diesen Einschnitt und
durch eine andere Bewertung ab dem 1. Januar 2005 die
Zahl der Arbeitslosen in Deutschland statistisch ansteigen wird. Jetzt aber machen Sie sich aus dem Staube und
versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das
ist das Prinzip, mit dem Sie hier aufwarten.
({3})
Das ist alles andere als die Übernahme demokratischer
Verantwortung in der schwierigen wirtschaftlichen
Situation, in der wir uns befinden.
({4})
Ich fände es sehr viel besser, wenn Sie hier sagten
- und auch dabei helfen würden -, dass die Kolleginnen
und Kollegen in den Arbeitsgemeinschaften, in den Sozialämtern und in der Bundesagentur unsere Unterstützung und unsere Solidarität genießen, damit dieses Reformwerk so schnell wie möglich Wirkung zeigt und
damit tatsächlich schnell vermittelt und so Arbeitslosigkeit abgebaut werden kann.
({5})
Ich muss ganz offen gestehen, Frau Merkel, dass Sie
hier sehr allgemein gesprochen haben. Sie haben gesagt:
Wir müssen jetzt dicke Bretter bohren. Wir brauchen
eine große Kraftanstrengung.
({6})
Wir von der CDU/CSU werden sagen, was zu tun ist. Mein Gedächtnis
({7})
ist noch relativ gut intakt. Im letzten Jahr wussten Sie sowohl in Ihrer Partei als auch in Ihrer Fraktion nicht, ob
Sie nach rechts oder links gehen wollen. Wohin wollen
Sie bei der Gesundheitsreform? Wohin wollen Sie bei
den zentralen Fragen, die dieses Land beschäftigen? Mir
wird schwindlig, wenn ich daran denke, dass Sie uns sagen wollen, wohin es gehen soll.
({8})
- Warum das?
({9})
- Ach so. Ich erspare mir, darauf einzugehen.
Ich verweise darauf, dass sich diese Bundesregierung
im Prozess der Modernisierung dieses Landes befindet.
({10})
Sie haben offensichtlich schnell vergessen - das ist ganz
klassisch -, was wir in den letzten zweieinhalb Jahren
auf den Weg gebracht haben. Das betrifft die steuerlichen Aspekte genauso wie unsere Offensive für den Mittelstand. Unsere Förderkulisse lässt sich heute auf europäischer Ebene als erstklassig bezeichnen. Wir haben in
den Bereichen der Existenzgründungen und der Kleinunternehmerförderung sowie bei der Handwerksordnung
ganz erhebliche Erfolge erzielt. Da Sie damals versucht
haben, die Reform der Handwerksordnung zu blockieren, will ich zitieren, was heute als Überschrift auf der
ersten Seite in der „Welt“ steht. Dort heißt es: „Gründerboom im deutschen Handwerk - Anstieg bis zu 37 Prozent unter Lockerung des Meisterzwangs“. Das sind
Nachrichten, die man hier einmal verbreiten muss,
({11})
anstatt der Schwarzrederei, es werde nichts getan. Was
heißt denn „Kein Weiter so!“? Ich sage Ihnen: Wir brauchen weitere Reformschritte in der Kontinuität der ökonomischen Philosophie, die sich diese Bundesregierung
zu Eigen gemacht hat. Dazu gehören - wenn ich das anmerken darf - die Ausbildungsoffensive und der Bürokratieabbau. Wir werden unsere Anstrengungen weiter
verstärken. Es wird eine Jobcard geben. Wir werden uns
auch noch nachhaltiger der weiteren Förderung unserer
Außenwirtschaftsinitiativen widmen. All dies sind Reformbausteine.
An einer Stelle aber sind Sie gefordert, und zwar sollten Sie endlich dafür Sorge tragen, dass durch die Streichung der Eigenheimzulage ein ganz gewichtiger Baustein ermöglicht werden kann, nämlich Forschung,
Entwicklung und Bildung in diesem Lande zeitgemäß finanziell zu unterstützen und damit auch zu realisieren.
Dies ist eine wirkliche Zukunftsaufgabe, der Sie sich
bisher verschlossen haben.
({12})
- Ja, bei Ihnen bestimmt. Das weiß ich.
Zum differenzierten Bild unserer Volkswirtschaft
gehören auch folgende Punkte: Wir haben moderate
Lohnabschlüsse in diesem Land, eine gesteigerte Produktivität und geringe Lohnstückkosten. Im Übrigen
sind - obwohl es unseren Unternehmen ja angeblich so
wahnsinnig schlecht geht - höhere Gewinne und Dividendenausschüttungen der im Dax, M-Dax und Tec-Dax
vertretenen und auch anderer Unternehmen zu verzeichnen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Auch das
ist ein Teil der Realität in unserem Lande, die es zu bewerten gilt.
({13})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. - Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel anführen. Die in ökonomischer Hinsicht sicherlich auf nicht
sehr starken Füßen stehende Stadt Berlin hat eine Bilanz
der IHK veröffentlicht, derzufolge es im Jahre 2004
netto 10 000 Unternehmensneugründungen in Berlin gegeben hat. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, über die
wir zu diskutieren haben.
({0})
Das alles heißt nicht, dass wir nicht weiterarbeiten
müssten und dass wir uns auf dem bis heute erreichten
Stand ausruhen könnten. Wir jedenfalls werden auch
weiterhin alles Mögliche tun, um Arbeitslosigkeit in
diesem Lande abzubauen und dafür Sorge zu tragen,
dass Unternehmen in diesem Lande einen vernünftigen
politischen und gesetzlichen Rahmen vorfinden, innerhalb dessen sie global und international wettbewerbsfähig sind. Dies ist unser Ziel, von dem wir nicht abgehen.
Dabei lassen wir uns schon gar nicht mit ein paar Sprüchen von Ihnen übertreffen.
({1})
Wir werden entsprechende Gespräche führen. Der
Bundeskanzler hat dies angeboten. Ich denke, das ist
auch sinnvoll, und es wäre gut, wenn von Ihrer Seite
konkrete Vorschläge unterbreitet würden. Kollege
Müntefering hat bereits darauf verwiesen, dass vieles
von dem, was Sie für den Pakt für Deutschland zu Papier
gebracht haben, weiß Gott nichts Neues ist.
({2})
Im Übrigen äußere ich ausdrücklich Zweifel daran, dass
die Realisierung dieser Punkte das ganz große wirtschaftliche Heil für unser Land bedeuten würde. Das
halte ich für höchst zweifelhaft.
({3})
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, die Debatte zu
versachlichen und uns mit den tatsächlichen Gegebenheiten in diesem Lande auseinander zu setzen, die
schwierigen Felder, aber auch die ausgesprochenen
Wachstumsfelder gegeneinander zu stellen und eine vernünftige Abwägung der möglichen weiteren Schritte gemeinsam vorzunehmen. Dazu sollte man immer bereit
sein. Das ist eine Frage des kultivierten politischen Dialogs über das wirtschaftliche Szenario in einem Lande.
Dazu fordere ich Sie ausdrücklich auf.
Ich denke, wir werden in diesem Land bei allen
Prognosen, die es gibt, auch in der Zukunft ein Wachstum verzeichnen, das geeignet sein wird, in diesem und
im nächsten Jahr Arbeitslosigkeit abzubauen. Das ist jedenfalls das Ziel, das wir entschlossen verfolgen.
Danke schön.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Ronald Pofalla, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
die höchste Massenarbeitslosigkeit in Deutschland antwortet die Bundesregierung mit einem Parlamentarischen Staatssekretär. Ratloser kann man auf die Lage in
Deutschland überhaupt nicht reagieren.
({0})
Dies ist die dritte Debatte zur wirtschaftlichen Lage in
Deutschland, die wir in diesem Jahr führen. Zum dritten
Mal müssen Sie von Rot und Grün die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung unseres Landes verantworten.
({1})
Zum dritten Mal hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag keinen einzigen Vorschlag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt. Die Bundesregierung ist ideenlos und perspektivlos. Sie kann nicht
einmal mehr Vorschläge in den Deutschen Bundestag
einbringen, wie die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland wirksam bekämpft werden kann.
({2})
Wir haben Ihnen vor fast zwei Monaten eine
konstruktive Zusammenarbeit, einen Pakt für Deutschland, angeboten. Vor über einer Woche haben Angela
Merkel und Edmund Stoiber dieses Angebot wiederholt.
Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass der Bundeskanzler nach dieser langen Zeit endlich den Weg für gemeinsame Gespräche freigemacht hat. Das war überfällig. Gefreut hat mich in diesem Zusammenhang auch,
dass sich der Bundeskanzler damit - entgegen der Auffassung des SPD-Vorsitzenden - für überparteiliche Gespräche ausgesprochen hat. Herr Müntefering hat diese
Gespräche nicht gewollt. Es ist gut, dass sich der Bundeskanzler durchgesetzt hat.
({3})
Klar ist: Im Rahmen dieser Gespräche müssen wir zu
Ergebnissen kommen. Belanglose Kaffeerunden reichen
nicht aus. Deshalb müssen bis zum kommenden Donnerstag auch Vorschläge aus dem Regierungslager vorliegen, wie es weitergehen soll. Ihr destruktives Nein zu
unseren Konzepten reicht nicht aus. Das ist zu wenig.
Ich sage Ihnen voraus: Nächsten Donnerstag werden wir
wieder über einen Großteil der Vorschläge reden, die Sie
im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit abgelehnt haben. Wie wollen Sie den Spagat, dass Sie diese Vorschläge heute ablehnen, dass Sie im Rahmen von überparteilichen Gesprächen in der nächsten Woche aber
doch wieder über sie reden, vermeiden? Das müssen Sie
Ihren Wählerinnen und Wählern erklären.
({4})
- Herr Müntefering, vorhin haben Sie die Senkung der
Lohnnebenkosten angesprochen und die Auffassung vertreten, dass es kein Einsparpotenzial in Höhe von
1,5 Prozentpunkten gebe. Es gibt drei große Bereiche
- das weiß jeder, der sich mit dem Beitrag zur Arbeitslosenversicherung befasst -, über die wir reden können
und in denen ein solches Einsparpotenzial vorhanden ist.
Zunächst zum Aussteuerungsbetrag in Höhe von
6,7 Milliarden Euro. Er wird von all denjenigen aufgebracht, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen.
Diese 6,7 Milliarden Euro werden in diesem Jahr nicht
der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt,
sondern sie werden direkt in den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland gebucht. Über den Aussteuerungsbetrag und seine Höhe kann und muss geredet werden.
({5})
Es gibt eine Reihe gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die die Bundesagentur für Arbeit wahrnimmt, die
bei ihr unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten aber
nichts zu suchen haben,
({6})
zum Beispiel die nachschulische Bildung. Jeder hier im
Hause ist der Auffassung, dass Schülerinnen und Schüler, die beispielsweise keinen Hauptschulabschluss haben, die Möglichkeit erhalten müssen, diesen zu machen. Mit der ureigenen Aufgabe der Bundesagentur für
Arbeit hat das aber überhaupt nichts zu tun. Das ist eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die von den dafür zuständigen Stellen, nicht aber von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern finanziert werden muss.
({7})
Nun zu den Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, die sie durchführt, ist völlig wirkungslos. Wenn schon Frau EngelenKefer - ich hätte nie gedacht, dass ich mich auf sie berufen kann ({8})
die Auffassung vertritt, die Maßnahmen zu den Personal-Service-Agenturen und zu den Ich-AGs seien völlig
wirkungslos, dann kann in diesem Haus mit allen Fraktionen über eine Streichung oder eine erhebliche Reduzierung dieser Maßnahmen gesprochen werden. Das
wäre ein dritter Bereich, über den im Zusammenhang
mit der Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages
gesprochen werden kann.
({9})
Herr Müntefering, wir könnten mit der Senkung des
Arbeitslosenversicherungsbeitrages um 1,5 Prozentpunkte
({10})
150 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Das wären 150 000
Menschen, die wieder Brot und Arbeit haben, 150 000
Menschen, die wieder Steuern zahlen, und übrigens auch
150 000 Menschen, die die Bundesagentur um rund
2 Milliarden Euro entlasten
({11})
und dadurch auch einen Beitrag dazu leisten, dass wir
den Arbeitslosenversicherungsbeitrag jetzt und hier senken können. Helfen Sie uns dabei, 150 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen! Wehren Sie sich nicht dagegen!
({12})
Geben Sie Ihre innere Blockade auf!
({13})
Wir können den Arbeitsmarkt flexibilisieren. Wir
haben Ihnen vorgeschlagen, das Jugendarbeitsschutzgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und das Tarifvertragsgesetz sinnvoll so zu ändern, dass wieder mehr Dynamik im Arbeitsmarkt entsteht, weil der Arbeitsmarkt
völlig überreguliert ist und deshalb dereguliert werden
muss. Diese Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir bieten
Ihnen an, am nächsten Donnerstag über die gesetzliche
Verankerung betrieblicher Bündnisse für Arbeit zu reden, weil wir glauben, dass in einer Situation, in der die
Massenarbeitslosigkeit steigt und die Armut in Deutschland zunimmt, dieses Maßnahmenbündel jetzt umgesetzt
werden muss.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf den
Armutsbericht der Bundesregierung eingehen. Dem
Armutsbericht der Bundesregierung können Sie entnehmen,
({14})
dass während Ihrer Regierungszeit, in den vergangenen
sechs Jahren, bedingt durch steigende Arbeitslosigkeit
die Armut von über 2 Millionen Menschen in Deutschland zugenommen hat. Das müsste ein Ansporn für Sie
bei der Bekämpfung der Armut in Deutschland sein.
({15})
Sie müssten zu Reformprozessen bereit sein, zu denen
Sie bisher nicht bereit waren. Helfen Sie den Menschen,
wieder in Arbeit zu kommen! Bekämpfen Sie wirksam
Arbeitslosigkeit und Armut in Deutschland!
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wegen der Kürze der
Redezeit möchte ich nur einige Anmerkungen machen.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben heute hier einen Antrag vorgelegt, ein Zehnpunkteprogramm, einen „Pakt für Deutschland“. Ich verstehe es
ungeheuer gut, dass Ihre Fraktions- und Parteivorsitzende hier kein einziges Wort über diesen Antrag verloren hat.
({0})
Warum hat sie darüber kein Wort verloren, meine Damen und Herren? Sie hat es nicht getan, weil in diesen
zehn Punkten, die Sie vorschlagen, nichts, aber auch gar
nichts enthalten ist, was tatsächlich die Beschäftigungssituation in Deutschland verbessern würde.
({1})
Es gibt einen einzigen Punkt in Ihrem Vorschlag, über
den zu diskutieren wirklich interessant wäre, nämlich die
Senkung der Lohnnebenkosten. Das ist das richtige
Ziel und die richtige Forderung. Nur ist das, mit Verlaub,
Frau Merkel und Herr Pofalla, ein leeres Versprechen;
denn Sie schlagen eine Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte vor, ohne
einen Vorschlag für die Gegenfinanzierung zu machen.
({2})
Das ist typisch für die Union. Es ist typisch für Sie, sich
nach eigenen Forderungen vor der Verantwortung zu
drücken.
({3})
Denn was bedeutet das, 11 Milliarden? Das ist entweder ein wirklich gigantisches Verschuldungsprogramm
- und dann wagen Sie es, bei einem anderen Tagesordnungspunkt die Einhaltung der Maastricht-Kriterien einzufordern - oder aber eines der größten Programme, das
wir in Deutschland je gesehen haben, mit dem Menschen, die arbeitslos waren und zum Beispiel über Existenzhilfen jetzt Arbeit gefunden haben, oder Menschen,
die arbeitslos sind und heute in Qualifizierungsmaßnahmen sind, Hilfestellungen angeboten werden. Der Vorschlag, diese Maßnahmen zu streichen, ist gigantisch. Es
betrifft Hunderttausende, die heute Hilfestellung bekommen - aus der Arbeitslosenversicherung, in die sie selber
eingezahlt haben. Diese Menschen, Herr Pofalla, haben
ein Recht auf Unterstützung, auf Hilfestellung dabei,
wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Ich finde es angesichts 5,2 Millionen Arbeitsloser zynisch, eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung vorzuschlagen, um angeblich 150 000 Arbeitsplätze zu
sichern bzw. zu schaffen. Denn damit müssten gleichzeitig Hunderttausenden, die am Rande ihrer Existenz außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, die Maßnahmen gestrichen werden.
({4})
Jugendliche verlassen heute die Schule und wollen
auf den Arbeitsmarkt, Jugendliche, die von unseren
Schulen - und das ist Ländersache, darauf möchte ich
hier auch einmal hinweisen - zum größten Teil mit
Schulabschlüssen entlassen werden, die ihnen nicht helfen, sodass sie nachqualifiziert werden müssen. Wir
müssen uns um diese Jugendlichen kümmern. Es hilft
nichts, Herr Hinsken, dass Sie darauf verweisen, das sei
nicht die Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit; das ist
noch kein Finanzierungsvorschlag.
({5})
Wir haben mit Hartz IV den Kommunen und den Arbeitsagenturen vor Ort die Instrumente und die Mittel
zur Verfügung gestellt, sich um diese Jugendlichen zu
kümmern. Wir wollen, dass das gemacht wird, und wir
wehren uns dagegen, Herr Pofalla, dass Sie hier Finanzierungsvorschläge machen, die genau diese Hilfestellung für die Jugendlichen unmöglich machen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen, Frau
Merkel.
Das muss jetzt aber wirklich sehr knapp sein.
Ganz knapp, ich komme zum Schluss. - Natürlich
müssen wir über weitere Maßnahmen reden; das ist völlig klar. Aber dann reden Sie doch bitte schön auch darüber, welche Hilfestellungen Sie verhindert haben. Ich
meine beispielsweise den Zuverdienst. Was Sie dazu im
Vermittlungsausschuss durchgesetzt haben, ist ein Skandal. Und dann machen Sie sich hier einen schlanken Fuß
und sprechen es hier nie an. Natürlich brauchen wir bessere Zuverdienstmöglichkeiten. Ich hoffe, Sie stellen
sich der Realität und zeigen mehr Ehrlichkeit; dann kann
man über Ihre Vorschläge reden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mehr als 5 Millionen Frauen und Männer sind arbeitslos.
Betroffen sind davon noch viel mehr: Kinder wachsen
arm auf, Erwachsene werden entwertet, Ältere abgeschrieben. Das ist Alltag in einem der reichsten Länder
der Welt, erlebbar in Ost und West. Das darf man nicht
länger aussitzen, mahnt die CDU-Vorsitzende, Frau
Merkel. So weit stimmt die PDS im Bundestag mit der
CDU sogar überein: Das darf man wirklich nicht länger
aussitzen. Wir brauchen tief greifende Reformen in der
Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, bei den Sozialsystemen, bei Abgaben und Steuern. Die meisten Bürgerinnen und Bürger sehen das übrigens ebenso. Sie wundern
und ärgern sich nur, dass es ihnen nach jeder dieser Reformen schlechter geht. Damit komme ich zur CDU/
CSU zurück: Ob man sich bewegt, ist das eine - wohin
man sich bewegt, das ist das Entscheidende.
({0})
Da sage ich mit Blick auf Ihren „Pakt für Deutschland“: Die Richtung ist falsch, und wer in die falsche
Richtung rast, der wird zum Geisterfahrer und damit zu
einer Gefahr für die Allgemeinheit.
({1})
Wir brauchen keinen „Pakt für Deutschland“, jedenfalls
keinen, wie ihn CDU und CSU vorschlagen: Alle Elemente, die Sie vorschlagen, wurden bereits getestet und
haben in der Praxis versagt.
Was wir brauchen, ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, ein Gesellschaftsvertrag, der unter neuen Bedingungen trägt: sozial, solidarisch und aktiv. Schauen Sie
sich doch die Belege und Zahlen an: Unser Land ist
nicht arm - es ist sogar reich. Arm sind allerdings wachsende Teile der Bevölkerung, und das ist ein zunehmender Widerspruch. Unser Land ist auch nicht schwach wir sind Exportweltmeister. Schwach ist allerdings der
Binnenmarkt; das ist der zweite Widerspruch. Und unser
Land ist auch nicht krank - es ist agil und dynamisch.
Schwach sind allerdings die Sozialsysteme; das ist der
dritte Widerspruch. Auf all diese tatsächlich vorhandenen Widersprüche geben Sie mit Ihrem „Pakt für
Deutschland“ keine Antworten. Im Gegenteil: Sie verschärfen sie noch.
({2})
Wir, die PDS im Bundestag, wollen etwas anderes.
Wir wollen den Sozialstaat und den Solidargedanken auf
neue Füße stellen, auf Füße, die dem 21. Jahrhundert gemäß sind. Das ist der Sinn eines neuen Gesellschaftsvertrages und deshalb werben wir für eine Agenda Sozial.
Es ist richtig: Jede Zeit birgt Chancen und Risiken.
Das ist ein Allgemeinplatz, der auch heute hier mehrfach
wiederholt wurde. Konkret wird es, wenn wir nach der
Verteilung der Chancen und Risiken in der Gesellschaft
fragen. Da zeigt sich der Unterschied: Sie wollen die
Chancen privatisieren und die Risiken vergesellschaften.
Deshalb verteilen Sie Steuergeschenke an die Wohlhabenden und Soziallasten weiterhin an die Armen. Wir
halten es da viel mehr mit der Bibel als die Christlich
Soziale Union, wir stehen nämlich zu dem Solidargebot,
einer trage des anderen Last.
({3})
Auch deshalb sind wir für einen neuen Gesellschaftsvertrag und gegen einen Pakt für Deutschland.
Der Pakt für Deutschland von CDU/CSU ist ein
Zehnpunkteplan. Wir kennen ihn alle. Wir haben ihn im
Bundestag schon einmal debattiert und aus guten Gründen mehrheitlich abgelehnt. Neu ist lediglich, dass Sie
diesen Pakt für Deutschland öffentlichkeitswirksam als
Werbebrief an das Bundeskanzleramt schicken. Frau
Merkel, ich habe zwei Vermutungen, weshalb Sie das
tun: erstens, weil in Nordrhein-Westfalen gewählt wird
und die CDU dringend Werbung braucht, und zweitens,
weil Sie vielleicht einen Nebenjob bei der Post AG haben.
({4})
Nun haben Bundeskanzler Schröder und später auch
die SPD und die Grünen signalisiert, sie seien gesprächsbereit. In der nächsten Woche wird es ein Gipfeltreffen
geben. Ich finde das gar nicht so widersprüchlich, wie
manche das in der öffentlichen Kommentierung zum
Ausdruck gebracht haben; denn mit dem Pakt für
Deutschland widerspricht die CDU/CSU der Agenda 2010
des Kanzlers nicht. Im Gegenteil: Die Agenda wird
durch den Pakt nur ergänzt.
({5})
Mit der Agenda, insbesondere mit Hartz IV, wurden die
Arbeitslosen zur Kasse gebeten und den Pakt für
Deutschland werden jene bezahlen, die im Moment noch
Arbeit haben. Die Wirkung der beiden Konzepte ist allerdings dieselbe: Die Reichen werden reicher und die
Armen werden ärmer, der Sozialstaat verarmt weiter und
der Binnenmarkt lahmt.
Deshalb wiederhole ich: Das sind keine Reformen,
das sind Teufelskreise. Diese müssen aktiv durchbrochen werden. Dazu brauchen wir ein klares gesellschaftliches Leitbild und verlässliche Vereinbarungen. Deshalb plädiere ich für einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Er ist nicht aus dem Ärmel zu schütteln, wenn sich aber
Vernünftige von Links, der Mitte und anderswo zusammentun, dann wird es sich schon lohnen.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während
der Ölpreiskrise im Jahre 1974 gab es in Deutschland
auch eine Auseinandersetzung um Wirtschaft und Beschäftigung. Franz Josef Strauß hat seinen CSU-Freunden damals den Rat gegeben, sich nicht mit den nüchternen Fragen - all das verursache nicht die
Wahlergebnisse von Morgen -, sondern mit der Emotionalisierung der Bevölkerung, nämlich der Furcht, der
Angst und dem düsteren Zukunftsbild sowohl innen- als
auch außenpolitischer Art, zu befassen.
({0})
Er hat Ihnen dann auch gesagt, dass Sie die Auseinandersetzung nur im Grundsätzlichen führen sollen. Zur
Taktik sagte er, man müsse nur anklagen und warten,
aber man dürfe keine konkreten Rezepte nennen. Das ist
das Sonthofener Programm der Opposition.
({1})
Deshalb hat Michael Glos als alter Straußschüler
({2})
außer Stänkereien nichts von sich gegeben.
({3})
Ihr Wahlprogramm und Ihren Pakt für Deutschland hat
er verschwiegen. Das, was Sie als Drucksache vorgelegt
haben, ist nur ein Aufguss. Sie wissen genau: Wenn die
Menschen erfahren, was Ihr Paket enthält, dann werden
sie die Annahme verweigern.
({4})
Nein, Sie wollen desinformieren und stehen mit der
Wahrhaftigkeit auf Kriegsfuß. Wer sich hier hinstellt und
erklärt, wir hätten heute die höchste Arbeitslosigkeit in
der deutschen Nachkriegsgeschichte, der kennt die Zahlen von 1996, 1997 und 1998 nicht.
({5})
Ich gebe Ihnen die Quelle. Lassen Sie sich vom Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Berechnungen der stillen Reserve geben. Frau Merkel, ich gebe zu,
dass man Ihnen das vielleicht nicht gesagt hat, sodass
Sie mit diesem Eindruck vordergründig arbeiten können.
({6})
Wenn Sie aber jetzt, da Sie die Quelle kennen, trotzdem
weiterhin die Unwahrheit sagen, werde ich Sie der Lüge
bezichtigen.
({7})
Die Wahrheit ist: Wenn wir 1997 und 1998 so gezählt
hätten wie heute, dann hätten die Zahlen weit über denen
von heute gelegen. Ich erinnere auch an die WahlkampfABM von 1998, mit denen bis zum 31. Oktober
- danach war Schluss - über 800 000 Menschen beschäftigt wurden. Wer jetzt nur anklagt, der heuchelt.
({8})
Sie wollen im Trüben fischen. Sie wollen nach Strauß
ein Krisenbewusstsein schaffen. Ich sage Ihnen: Wenn
wir der CDU/CSU gefolgt wären und die Hartz-IV-Reformen erst zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft gesetzt hätten, hätte heute keiner Anlass, die Menschen in Furcht
und Angst zu versetzen. Vielmehr würden wir über saisonale Arbeitslosigkeit reden. Sie sollen den Menschen
nicht Angst, sondern Mut machen, meine Damen und
Herren!
({9})
Kehren Sie zur Wahrhaftigkeit zurück! Wir waren
diejenigen, die zusammen mit Ihnen die Größe der Aufgabe statistisch ans Tageslicht geholt haben. Wir werden
uns jetzt an dieser Aufgabe abarbeiten. Es gibt keinen
Grund, der Bevölkerung den Mut zu nehmen.
({10})
- Die FDP darf nicht einmal mehr mitreden. Herr
Westerwelle, wozu sind Sie eigentlich da?
({11})
Herr Westerwelle, nicht einmal die CDU/CSU nimmt
Sie mit ins Boot. Frau Merkel hat so ihre Probleme mit
den Männern: Seehofer weg, Schäuble weg, Meyer weg
und jetzt auch Westerwelle weg. Auch er darf nicht.
Meine Güte, sagen Sie mir, wo die Männer geblieben
sind!
({12})
- Es ist klar, dass wieder die rheinischen Knaben rufen.
Das hat auch mit Herrn Stoiber zu tun.
({13})
Wir haben uns mit Ihrem so genannten Pakt auseinander zu setzen, den Sie sich kaum vorzutragen trauen. Sie
wollen schließlich nur allgemein Stimmung machen. Wir
weisen darauf hin - ich will nicht alles wiederholen -,
dass Sie zum Beispiel den betrieblichen Gesundheitsschutz schleifen und damit die Kosten der Berufsgenossenschaft für die Gesundheit erhöhen wollen. Ihr Versuch, den betrieblichen Gesundheitsschutz abzuschaffen,
den Jugendarbeitsschutz zu schleifen und die Tagesarbeitszeit bis auf 14 Stunden zu erhöhen, treibt die Lohnnebenkosten in die Höhe, statt sie zu senken.
({14})
Wer wie Sie in diesen Zeiten den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern die Kraft der Betriebsräte und der
Gewerkschaften nehmen will, der macht in Zeiten des
Wandels die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum
Freiwild. Die brauchen starke Gewerkschaften und
starke Betriebsräte, damit sie sich behaupten können.
({15})
Kein Wort von Ihnen zu den DAX-Unternehmen, die
fette Gewinne einstreichen, Investitionen kürzen und
Entlassungen ankündigen. Früher hieß es, die Gewinne
von heute sind die Arbeitsplätze von morgen. Dann
schreiben Sie Herrn Ackermann hinter die Ohren, dass
die Arbeitsplätze von morgen auch geschaffen werden
und nicht eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent auf
Kosten der Menschen als Beute eingesteckt wird.
({16})
Das gilt für alle DAX-Unternehmen. Soziale Marktwirtschaft heißt: Eigentum verpflichtet. Es soll dem
Wohle der Allgemeinheit dienen. Wer glaubt, Unternehmen seien nur Geldvermehrungsmaschinen für die Eigentümer, der versündigt sich an unserer gesellschaftlichen Ordnung. Da wäre Ihr Einsatz gefragt, meine
Damen und Herren von der Opposition.
({17})
Wer wie Herr Ackermann eine Eigenkapitalrendite
von 25 Prozent will, der verabschiedet sich von der Mittelstandsförderung. 1 Million Mittelständler würden
gerne investieren, wenn die Banken nicht mehr Angst als
Vaterlands- und Arbeitsplatzliebe hätten. So schaut die
Realität aus. Wo kämpfen Sie, meine Damen und Herren? Wo bleiben Sie?
({18})
Sie nicken hier höflich. Wer von Ihnen setzt sich mit den
Banken auseinander? Die Mittelständler brauchen Hilfe,
nicht allgemeine Sprüche über Lohnnebenkosten und anderes.
({19})
Zum Stichwort Lohnnebenkosten ist zu sagen, dass
Frau Merkel und auch Herr Pofalla unter die Voodooökonomen gegangen sind.
({20})
Es gibt eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
({21})
Es hat festgestellt, dass Ihre falsche Finanzierung der
deutschen Einheit die Lohnnebenkosten auf diese Höhe
getrieben hat. Das waren Sie von Schwarz und BlauGelb.
({22})
In dem Zusammenhang hat das Institut gesagt,
150 000 Arbeitsplätze seien pro Beitragspunkt verloren
gegangen. Wer glaubt, 1 Prozentpunkt weniger würde zu
einer Beschäftigungsexplosion führen, der muss einen
festen Irrglauben haben.
({23})
Das Gegenteil ist der Fall, Herr Pofalla. Wir brauchen
das Geld für die Bundesagentur für Arbeit,
({24})
damit wir uns um die Jugendlichen kümmern können,
die uns die Kultusminister als nicht Ausbildungsfähige
vor die Tür stellen.
({25})
Den Kultusministern wäre eine Aussteuerungsabgabe
aufzuerlegen. Von den Jugendlichen haben 10 Prozent
eines Jahrgangs keine Ausbildung. Die müssen wir finanzieren. Deshalb braucht die Bundesagentur für Arbeit das Geld. Ihre Forderungen würden den Tod für
viele dieser Maßnahmen bedeuten und den Menschen
den Eintritt in den Arbeitsmarkt verwehren.
({26})
Sie wollen eine Sanierung auf Kosten des Bundeshaushalts. Sie sind entweder abgefeimt oder schizophren.
({27})
Einerseits sagen Sie, der Haushalt sei unsolide und
könne keine Schulden mehr vertragen, auf der anderen
Seite sagen Sie, Eichel solle schlankweg 6 Milliarden
Euro lockermachen. So geht es nicht. Sie müssen sich
schon einigen, wohin Sie wollen. Wenn Sie mit uns etwas erreichen wollen, dann kämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass wir Maßnahmen der Bundesagentur
für Arbeit durchsetzen. Gehen Sie auf die Arbeitsgemeinschaften vor Ort zu! Machen Sie Ihren Kommunalpolitikern Beine!
Die sind jetzt mitverantwortlich. Die müssen endlich
etwas tun, um mit den Milliarden, die wir zur Verfügung
gestellt haben, die beschlossenen Maßnahmen umzusetzen.
({28})
Sie wollten doch die Beteiligung der Kommunen.
Wenn der Mund gespitzt wird, dann muss auch gepfiffen
werden. Es ist ein Skandal, dass 6,5 Milliarden Euro zur
Verfügung stehen und nur ein Bruchteil dessen abgerufen und in Maßnahmen umgesetzt worden ist. Ran an die
Arbeit, statt hier so komische Anträge zu stellen, die die
Arbeitnehmer zum Freiwild machen würden!
({29})
Meine Damen und Herren, wer sich mit Ihren Vorschlägen auseinander setzt, weiß, warum Sie so wenig
konkret werden. Sie wollen nur Schau, Sie wollen nur
anklagen, Sie wollen nur auf einer Wahlkampfwelle reiten und nicht einmal Ihren potenziellen Koalitionspartner lassen Sie mitreiten. Der arme Kerl ist vom Pferd gefallen.
({30})
Frau Merkel, Sie sollten ihm wenigstens den Verbandskasten geben und ein Gespräch ermöglichen, damit er
Ihnen vorher sagen kann, welche Sorgen er denn hat.
Ohne Westerwelle - das muss ich Ihnen schon sagen wäre dieses geplante Gespräch sehr arm.
({31})
Also: Lassen Sie uns die Arbeit tun, die jetzt ansteht,
nämlich das Instrumentarium der Agentur für Arbeit nutzen! Lassen Sie uns dafür kämpfen, dass der Mittelstand
die Kredite für die Finanzierung bekommt! Lassen Sie
uns den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesen Zeiten des Wandels starke Gewerkschaften sowie
starke Betriebsrätinnen und Betriebsräte an die Seite
stellen!
Vielen Dank.
({32})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache
15/4986 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Pakt für Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4831 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die
Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schuss für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache
15/4985 zum Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel
„Wider die Vertrauenskrise - Für eine konsistente und
konstante Wirtschaftspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt,
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
den Antrag auf Drucksache 15/1589 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 4. Es wird interfrak-
tionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache
15/5019 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Ich nehme an, dass Sie damit
einverstanden sind. - Es erhebt sich kein Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f sowie
den Zusatzpunkt 5 auf:
22 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften ({1})
- Drucksache 15/5002 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
4. November 2003 betreffend den Prospekt,
der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu
veröffentlichen ist, und zur Änderung der
Richtlinie 2001/34/EG ({3})
- Drucksache 15/4999 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Daniel Bahr ({5}), Detlef Parr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nachhaltige Entwicklung im demographischen Wandel fördern - Potenziale des Alters
nutzen
- Drucksache 15/3538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Implementierung eines wirksamen TsunamiFrühwarnsystems für den Indischen Ozean
unter Einbeziehung des deutschen Forschungsnetzwerkes
- Drucksache 15/4854 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 15/4115 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Rainer Funke, Ernst Burgbacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein modernes Berufsbeamtentum
- Drucksache 15/4560 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Dr. Karl Addicks, Dr. Heinrich L. Kolb,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik - Verantwortungsvolle Regelungen
und Maßnahmen treffen
- Drucksache 15/5034 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 23 a bis
23 c. Es handelt sich um die Beschlussbefassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Öko-Landbaugesetzes
- Drucksache 15/4735 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12})
- Drucksache 15/4951 Berichterstattung:
Abgeordnete Gustav Herzog
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Marlene Mortler
Friedrich Ostendorff
Dr. Christel Happach-Kasan
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4951, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
- Drucksache 15/4940 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 190 ist mit auskömmlicher Mehrheit beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
- Drucksache 15/4941 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Sammelübersicht 191 ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu den durch
Überschüsse möglichen Beitragssenkungen in
der gesetzlichen Krankenversicherung
Zunächst erteile ich für die Bundesregierung das Wort
der Bundesministerin Ulla Schmidt.
({15})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer lange Zeit Verantwortung im deutschen Gesundheitswesen trägt, der ist einiges gewohnt und wundert
sich daher so schnell nicht mehr. Gestatten Sie mir dennoch, dass ich meiner Verwunderung über das Ausdruck
gebe, was sich in den letzten zwei Wochen im Gesundheitswesen abgespielt hat.
({0})
Ich darf vorab sagen, dass ich mich über das vorläufige Schätzergebnis der Jahresrechnung 2004 gefreut
habe. Die Krankenkassen haben einen Überschuss in
Höhe von 4,022 Milliarden Euro erwirtschaftet. Das ist
ein Grund zur Freude; denn das zeigt, dass es uns mit
den Reformmaßnahmen, die wir gemeinsam auf den
Weg gebracht haben, gelungen ist, das bestehende System zu reformieren und die Krankenkassen wieder auf
gesunde Füße zu stellen.
({1})
Die erwirtschafteten Überschüsse entsprechen mit einem Volumen in Höhe von insgesamt 9 bis 10 Milliarden Euro exakt dem, was von meinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern aufgrund der im letzten Jahr auf den
Weg gebrachten Neuerungen - Einsparungen, Umfinanzierungen und Ausschluss von Leistungen - berechnet
und prognostiziert worden ist. Was uns etwas Wasser in
den Wein gegossen hat, ist die schlechte Einkommensentwicklung. Sie war nicht so, wie sie von den Wirtschaftsinstituten prognostiziert wurde. Deshalb konnten
insgesamt Beitragssatzsenkungen nicht in dem Umfang
vorgenommen werden, wie wir es alle gewünscht hätten
und berechnet hatten.
Wenn ich mir aber anschaue, wie sich die Kassen nun
verhalten, nachdem das Finanzergebnis für das Jahr
2004 vorliegt, komme ich zu dem Schluss, dass hier ein
Umdenkungsprozess stattfinden muss. Seit über einem
Jahr vernehmen wir von den Kassen Monat für Monat,
dass die erwirtschafteten Überschüsse vielleicht doch
nicht so hoch sind, wie sie sein sollten, dass es im nächsten Monat vielleicht nicht mehr so sein wird, wie es im
vergangenen Monat war, und dass die Einsparungen im
nächsten Quartal vielleicht nicht so hoch sein werden
wie im vorangegangenen Quartal. So ging es nicht nur
im ersten und zweiten, sondern auch im dritten und vierten Quartal. Nun liegen die Fakten und der Jahresabschlussbericht 2004 vor. Danach sind über 4 Milliarden
Euro Überschüsse erwirtschaftet worden. Laut Gesetz
sollen die Krankenkassen ein Viertel ihrer Schulden abbauen und den Rest in Form von Beitragssatzsenkungen
an ihre Versicherten weitergeben. Ich glaube, dass es unser gemeinsames Anliegen sein muss, heute deutlich zu
machen, dass wir erwarten, dass die Versicherten entlastet werden.
({2})
Im vergangenen Jahr, das vor allen Dingen der Finanzkonsolidierung der Kassen gedient hat und in dem
das, was wir an Strukturveränderungen beschlossen haben, erst beginnen konnte zu wirken, haben vor allen
Dingen die Versicherten durch höhere Zuzahlungen, die
Praxisgebühr und auch einen Ausschluss von Leistungen
dazu beigetragen, dass dieses Ergebnis erzielt wurde.
({3})
Die Versicherten haben einen Anspruch darauf, dass sie
auf der anderen Seite durch Beitragssatzsenkungen entlastet werden. Wir werden alles tun, um hier unseren
Druck aufrechtzuerhalten.
({4})
Die gesetzlichen Krankenkassen und auch die Selbstverwaltung - Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Mitverantwortung tragen für die Organisation der Krankenkassen, für ihre Aufgaben, aber auch für die Entscheidung,
ob es Beitragssatzsenkungen gibt und wie der Schuldenabbau erfolgt - verkennen, dass sie mit ihrem öffentlichen Handeln seit Monaten den großen Vertrauensvorschuss der Versicherten und das Vertrauen in die
gesetzliche Krankenversicherung verspielen.
Man darf nicht vergessen - das werden viele, die an
den Diskussionen im letzten Jahr beteiligt waren, wissen -,
dass die Menschen die Veränderungen - wenn auch nicht
zu bejubeln, aber doch - zu akzeptieren beginnen, dass
viele einsehen, dass wir Veränderungen brauchten, weil
eine kranke Krankenversicherung keinem kranken Menschen nutzt, der darauf vertrauen muss, dass die Krankenkassen in der Lage sind, seine Behandlung zu finanzieren. Es nützt auch niemandem, wenn sich
Krankenkassen immer weiter verschulden und nachher
immer mehr Beiträge gezahlt werden müssen, damit die
Schulden abgebaut werden können. Die Menschen beginnen dies zu akzeptieren. Wer in dieser Situation nicht
das an die Versicherten zurückgibt, was ihnen zusteht,
der gefährdet den Weg, den wir gehen und auf dem die
Versicherten durch mehr Bewusstsein für ihre Eigenverantwortung im Gesundheitswesen dazu beitragen wollen, dass auf Dauer eine gute und gesunde Gesundheitsversorgung finanziert und organisiert werden kann.
({5})
Hinzu kommen die Veröffentlichungen darüber, dass
man in manchen Krankenkassen bei der Anhebung der
Vorstandsbezüge nicht so zögerlich gewesen ist wie bei
den Beitragssatzsenkungen. Ich habe nichts dagegen,
dass Vorstände von Krankenkassen gut bezahlt werden,
wenn sie gute Arbeit leisten,
({6})
wenn sie die Krankenkassen so organisieren, dass die
Versicherten im Mittelpunkt der Versorgung stehen,
wenn sie mit den Krankenhäusern, mit den Ärzten und
anderen Leistungserbringern gute Verträge aushandeln
und wenn sie dafür sorgen, dass jeder Euro in diesem
System genau dahin kommt, wo er den kranken Menschen nutzt, und alles, was überflüssig oder von schlechter Qualität ist, im Gesundheitswesen auf Dauer vermieden wird. Nur so bleibt es bezahlbar.
({7})
Es geht aber nicht, in Zeiten, in denen auf der einen
Seite eine hohe Verschuldung abzubauen ist und in denen gezögert wird, den Versicherten durch Beitragssatzsenkungen das zurückzugeben, was sie an Eigenleistungen und Zuzahlungen erbracht haben, auf der anderen
Seite die Vorstandsgehälter zu erhöhen, wie es in einzelnen Krankenkassen geschehen ist. Da müssen wir ganz
klar sagen: So etwas geht nicht. Das kann nicht sein.
({8})
Ich halte es auch für wirklich schändlich, wenn man
argumentiert, dass jemand drei Vorstandsgehälter brauche, weil er insgesamt drei Kassen vorstehe, die insgesamt 221 000 Mitglieder betreuen. Wir müssen darüber
reden, was gemacht werden kann. Ich hoffe, die Selbstverwaltung löst diese Probleme, wie es ihre Aufgabe ist.
Wenn das nicht geschieht, müssen wir darüber nachdenken, ob man gesetzlich andere Wege gehen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Beitragssatzsenkungen sind notwendig. Sie müssen jetzt auf den Weg
gebracht werden. Jetzt sind die Krankenkassen in der
Pflicht, die Strukturveränderungen auf den Weg zu bringen, die wir mit der Reform ermöglicht haben.
({9})
Auf der einen Seite die Versicherten mit Zuzahlungen
zu belasten, auf der anderen Seite aber in den Fragen der
Hausarztmodelle, der integrierten Versorgung, der besseren Versorgung über Chronikerprogramme, einer besseren Organisation der Zusammenarbeit und auch einer
besseren Struktur der Arzneimittelversorgung - damit
jeder das bekommt, was er braucht, aber zu wirtschaftlichen Bedingungen - zögerlich zu handeln und immer zu
fordern, da solle der Staat die nächsten Gesetze verabschieden, das geht nicht. Managergehälter erfordern Managerqualitäten. Dann wird auch niemand darüber reden,
was eigentlich verdient wird; vielmehr wird man dann
sagen: Das hat sich so gelohnt.
({10})
Ich sage zum Schluss: Lassen Sie uns gemeinsam daran weiterarbeiten, dass wir hier nach vorne kommen!
Die Reform hat gezeigt, dass wir in der Lage sind, das
bestehende System wieder auf eine gesunde finanzielle
Basis zu stellen. Wir erwarten jetzt aber, dass die Akteure, die vom Gesetzgeber die Möglichkeiten bekommen haben, die Sache in die Hand nehmen und nach
vorne gehen. Ich erwarte, dass die Arbeitgeber nicht länger sagen: Das ist alles zu wenig, wir wollen weniger
Beiträge zahlen.
({11})
Ich erwarte, dass die Arbeitnehmerseite nicht immer
sagt: Wir belasten die Versicherten zu viel, wir wollen
niedrigere Beiträge. Ich erwarte, dass die Beteiligten da,
wo sie entscheiden und wo sie handeln können, dies
auch tun.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich mit zwei Feststellungen beginnen:
Erstens. Die positive Entwicklung der Finanzlage in
der gesetzlichen Krankenversicherung ist erfreulich. Das
heißt, das vorgesehene Einsparvolumen wird durch die
gemeinsame Reform erreicht.
Zweitens. Den entscheidenden Beitrag zu diesem Erfolg haben aber fast ausschließlich die Versicherten, die
Patienten und ganz besonders die Rentner durch die erhöhten Beiträge geleistet.
({0})
Das müssen wir bei aller Diskussion mit bedenken.
Nachdem die Patienten und Versicherten ihren Anteil
beigetragen haben, sind jetzt die Kassen gefordert - wir
fordern sie dazu auch auf -, ihrer Verantwortung endlich
gerecht zu werden und die Beiträge zu senken.
({1})
Die Beiträge müssen schon von Gesetzes wegen gesenkt werden. Jeder, der das Gesetz genau kennt, braucht
nur in § 220 SGB V nachzuschauen. Da heißt es, dass
sich der Großteil der durch das GMG erzielten Entlastungen voll auf die Höhe der Beitragssätze auswirken
muss und nicht für Rücklagen oder für Schuldenabbau
verwendet werden darf. Dabei handelt es sich im Einzelnen um die Leistungseinschränkungen bei Sterilisation,
künstlicher Befruchtung, Sehhilfen, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, ferner um die Entlastungen durch Streichung des Sterbegeldes und des Entbindungsgeldes sowie durch die versicherungsfremden
Leistungen, die steuerfinanziert werden.
Die übrigen Einsparungen, die durch Einnahmeverbesserungen oder durch Ausgabenminderungen erzielt
wurden, müssen - auch dies steht so im Gesetz - mindestens zur Hälfte zur Senkung der Beitragssätze
verwendet werden. In der Begründung heißt es, der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass die Aufsichtsbehörden die Einhaltung dieser Vorschrift besonders sorgfältig überwachen würden. Das ist offenbar nicht der
Fall.
Dass die Beiträge trotz der Überschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht in ausreichendem
Maße gesenkt werden, ist aus meiner Sicht auf ein dreifaches Versagen von Bundesregierung, Aufsichtsbehörden und Krankenkassenvorständen zurückzuführen.
Noch während der Konsensverhandlungen im Sommer 2003 ist uns seitens der Bundesregierung eine Verschuldung der Krankenkassen in Höhe von rund
4 Milliarden Euro mitgeteilt worden. Heute wissen wir,
dass die Verschuldung bei 8 Milliarden Euro oder sogar
noch höher lag.
({2})
Dazu hätte es niemals kommen dürfen. Die Ursachen
liegen zum einen in der, wie ich meine, nach wie vor falschen Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung, gekoppelt mit ständig zu optimistischen Prognosen bei Berechnungen.
({3})
Es handelt sich zum anderen aber auch um ein Versagen vieler Krankenkassenvorstände, die im Wettbewerb
mit günstigen Beitragssätzen glänzen wollten oder eventuell auch vor den Bundestagswahlen keine Beiträge erhöhen wollten und deshalb lieber Schulden angehäuft
haben.
Letztendlich handelt es sich auch um ein Versagen der
zuständigen Aufsichtsbehörden,
({4})
die dieses rechtswidrige Verhalten vieler Krankenkassen
entweder nicht bemerkt oder nicht geahndet haben.
({5})
Dadurch ist ein gewaltiger Schaden für das Ansehen und
die Vertrauenswürdigkeit der Krankenkassen eingetreten.
({6})
Wenn sich jetzt Krankenkassenvorstände für diese so
genannte Meisterleistung eine saftige Gehaltserhöhung
genehmigen, dann ist diese - das sage ich ganz klar - aus
meiner Sicht erstens unverdient, zweitens unverständlich
und drittens sogar auch unmoralisch.
({7})
Ich appelliere deshalb an die Verwaltungsräte der Krankenkassen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten sind - auch diese müssen ihrer Aufsichtspflicht
endlich nachkommen -, und die Aufsichtsbehörden,
diese Maßnahmen noch einmal zu überprüfen. Überlegen Sie sich einmal: Wie will ein Kassenvorstand in Gesprächen mit Leistungserbringern Honorarsteigerungen
so weit wie möglich verhindern und gegenüber den Versicherten Leistungseinschränkungen vertreten, wenn er
sich gleichzeitig sein Gehalt deutlich erhöht? Das passt
einfach nicht zusammen. Das ist ein falsches Signal und
zerstört Vertrauen.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich fordere
die Bundesregierung auf, alles zu tun, damit die gesetzlichen Auflagen und Vorgaben für eine Beitragssatzsenkung beachtet werden. Man sollte auch die Länder an
ihre Aufsichtspflicht erinnern. Auch sie müssen ihrer
Aufsichtspflicht nachkommen. Da die Regierung in letzter Zeit häufig mit den Ländern gemeinsam Gesetzentwürfe gestaltet, sollten beide entsprechende Gesprächsrunden vielleicht auch dazu nutzen, um gemeinsam
dafür zu sorgen, dass sich die Aufsichtsbehörden bewegen.
({9})
Mein letzter Satz: Wenn dies nicht geschieht, steht die
Akzeptanz von Reformmaßnahmen bei den Versicherten
auf dem Spiel. Dies wäre dann auch ein Schaden für den
Standort Deutschland.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe das GKV-Modernisierungsgesetz damals mitverhandelt. Wie schon gesagt
wurde: Wir haben bei dieser Reform den Menschen verdammt viel zugemutet.
({0})
- Das spielt keine Rolle; ich habe da gerne mitgemacht
und lasse mich dafür auch gerne in die Verantwortung
nehmen. - All diese Zumutungen geschahen vor dem
Hintergrund, dass die Lohnnebenkosten nicht steigen
sollten und dass dadurch wieder neue Arbeitsplätze entstehen. Wir haben den Menschen immer gesagt, auch sie
hätten etwas davon, weil von niedrigen Kassenbeiträgen
nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch sie als Arbeitnehmer etwas hätten.
({1})
Den größten Posten bei den Lohnnebenkosten, die in den
letzten Jahren von 30 Prozent auf über 45 Prozent gestiegen sind, machen nämlich die Sozialabgaben aus. Wir
hatten es den Menschen versprochen, dass, wenn wir den
Krankenkassen zu mehr Einnahmen verhelfen, die Beiträge entsprechend sinken können. Jetzt komme ich mir
irgendwie verlogen vor, aber nicht, weil ich etwas Falsches versprochen hätte, auch nicht, weil wir politisch
falsch entschieden hätten; denn das, was wir politisch
zusammen beschlossen haben, außer mit den Kolleginnen und Kollegen von der FDP natürlich, wirkt.
({2})
Die Einnahmen der Krankenkassen sind gestiegen. Bei
den Verhandlungen wussten wir natürlich auch, dass es
Schulden gibt. Wir haben den Krankenkassen deshalb
gesagt, dass wir es akzeptieren, wenn ein Teil der Überschüsse in die Schuldentilgung fließt.
Jetzt ist aber die Arbeitslosigkeit auf einem Niveau,
wie wir es uns niemals gewünscht hätten, und die Einnahmen sind nicht so hoch, wie wir sie uns gewünscht
haben. Wenn ich diese Zusammenhänge den Menschen
erkläre, verstehen sie sie ja auch. Was ich aber gar nicht
verstehe und was mich tierisch wütend macht, ist, dass
sich einige Vorstände der Kassen Lohnsteigerungen bis
zu 20 Prozent genehmigt haben. In Baden-Württemberg
haben sich die Vorstände der dortigen AOK - ich nenne
sie jetzt einfach einmal beim Namen -, die hoch verschuldet ist, sogar eine Gehaltserhöhung von 24 Prozent
genehmigt. Ich finde so etwas unglaublich.
({3})
Doch hierfür haben nicht wir in der Politik die Weichen gestellt - Herr Zöller hat es vollkommen richtig gesagt -, sondern dies haben die Verwaltungsräte der Kassen entschieden.
({4})
In diesen sitzen sowohl Vertreter der Arbeitnehmer als
auch der Arbeitgeber. In einem Flyer zur zehnten Sozialwahl einer Kasse hieß es - ich darf hier zitieren -: Es
gibt nichts Gutes, außer man tut es. Dort wird herausgestellt, dass in ihrem Verwaltungsrat demokratische Mitglieder der Solidargemeinschaft säßen, die Ausdruck unserer Gesellschaft seien und aktiv die Interessen der
Bürgerinnen und Bürger verträten. Es heißt dort weiterhin: Wir haben die neuen Chancen des GKV-Modernisierungsgesetzes unverzüglich genutzt. -: Jetzt frage ich
mich nur: Wo? -: Sie fordern von uns deshalb: So viel
Selbstverwaltung wie möglich, so viel Staat wie nötig.
Ich habe kein Interesse daran, alles immer staatlich zu
regeln,
({5})
und fordere deshalb die Selbstverwaltungspartner, auch
dieser Kasse, auf, endlich das zu tun, was sie mit uns zusammen verhandelt und was sie versprochen haben: Senken Sie die Beiträge für die Bürgerinnen und Bürger!
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Blauer
Himmel über Berlin - ungetrübter Sonnenschein auch
über unserem Gesundheitswesen?
({0})
Und, wenn denn schon, zu welchem Preis? Die fiskalischen Erfolge wurden zum großen Teil auf dem Rücken
der Versicherten erwirtschaftet, ohne diesen annähernd
Entlastungen geboten zu haben. Die Beiträge sinken
nicht in dem Maße, in dem es mit dem GMG leichtfertig
versprochen worden war. Wir sind bei 14,19 Prozent
durchschnittlichem Beitragssatz und sollten eigentlich
bei 13,6 Prozent sein. Das Ziel, die Versicherten zwar
mit höheren Zuzahlungen zu belasten, diese aber durch
niedrigere Beiträge zu kompensieren, ist weit, weit verfehlt. Hinsichtlich der sozialen Balance, die Herr
Seehofer - er steht dort drüben - in den Konsensgesprächen immer wieder eingefordert hat, Fehlanzeige.
({1})
Die Rentner haben ohne jeden Vertrauensschutz seit
Anfang des Jahres 2004 massive Nettorentenkürzungen
durch die volle Verbeitragung der Versorgungsbezüge
und die Zahlung des Pflegeversicherungsbeitrages zu
verkraften. Alle Versicherten haben die erhöhten Zuzahlungen sowie die Praxisgebühr zu schultern. Die fast
völlige Ausgrenzung der OTC-Präparate aus der Erstattung ohne jede soziale Abfederung
({2})
bereitet mir und hoffentlich auch Ihnen, Frau Ministerin,
ernsthafte Bauchschmerzen. Viele chronisch Kranke,
Frau Selg, aber auch einfach ältere Menschen, deren
Nachfrage nach diesen Medikamenten nicht über die
Ausnahmeliste des Bundesausschusses berücksichtigt
wird, leiden täglich darunter.
Schauen wir in die Heime. Unsere Heimbewohner
müssen meist von einem sehr mageren Taschengeld für
die Zuzahlungen bis zur Obergrenze und für ihre bewährten Salben und Mittel zum Teil selbst aufkommen.
Dies zu korrigieren wäre Ihre erste soziale Pflicht, Frau
Ministerin.
({3})
Stattdessen wollen Sie flugs die Gunst der Stunde nutzen, Ihr im Sommer 2003 leichtfertig gegebenes Versprechen, im Gegenzug die Beiträge zu senken, einzulösen. Welch eine Heuchelei!
({4})
Erst zwingen Sie die Kassen aus wahltaktischen Gründen über Jahre zu Beitragssatzstabilität und nehmen augenzwinkernd eine drastisch steigende Verschuldung in
Kauf. 8 Milliarden Euro!
({5})
Jetzt wollen Sie den Schuldenabbau stoppen, nachdem
die Kassen dem Vernehmen nach gerade bei
5 Milliarden Euro gelandet sind. Dabei fehlen für langfristige Beitragssenkungen jegliche Spielräume, vor allem mit Blick auf das, was die Kassen in den nächsten
Monaten noch erwartet:
Nach Auskunft aller Fachleute werden die sicherlich
erfreulichen Einsparungen im Arzneimittelbereich 2005
so nicht anhalten, wie man alleine mit Blick auf den reduzierten Arzneimittelrabatt und die Fehleinschätzungen
im Bereich der Festbeträge feststellen kann.
Die finanziellen Auswirkungen von Hartz IV auf die
Krankenkassen sind nicht kalkulierbar.
Wir müssen zusätzlich befürchten, dass bei dieser Regierungspolitik die Arbeitslosigkeit eher steigt als sinkt.
Auch die Einspareffekte durch die so genannten Qualitätsverbesserungen im Versorgungsbereich - ich nenne
beispielhaft die DMPs, die Disease-Management-Programme, und die integrierten Versorgungsprogramme lassen rein fiskalisch weiter auf sich warten.
In dem größten Kostenbereich, dem der Krankenhausbehandlung, sehen wir eine Steigerung von 1,5 Prozent
für das Jahr 2004. Wir wissen alle, dass medizinischer
Fortschritt unser Gesundheitswesen weiter verteuern
wird.
Zum 1. Juli werden die Versicherten durch den Sonderbeitrag für Krankengeld und Zahnersatz zusätzlich
belastet. Sollte dies durch eine geringfügige Beitragssatzsenkung abgefedert werden können, wäre das schon
ein Erfolg.
Bei diesen Perspektiven ist es nicht verwunderlich,
dass die Kassen zögerlich mit Beitragssatzsenkungen
umgehen. Sie haben kein Vertrauen in die weitere Entwicklung. Ich erinnere daran: Wir als FDP haben im
Sommer 2003 dem Kompromiss zur Gesundheitsreform
nicht zugestimmt.
({6})
Wir waren davon überzeugt, dass das erarbeitete Finanztableau eine geschönte Rechnung war.
({7})
Das zeigt sich heute: Die Gegenfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen durch eine Erhöhung der
Tabaksteuer funktioniert eben nicht.
({8})
Aus unseren Reihen wird zu Recht die Frage gestellt,
wie es mit dem Bundeszuschuss zukünftig aussehen soll.
Hätten wir den Arbeitgeberanteil auf einem vernünftigen Niveau eingefroren, Frau Selg, hätten wir heute
schon Arbeitsmarkteffekte durch die Entlastung der
Lohnnebenkosten.
({9})
Hätten wir den Zahnersatz gänzlich aus der GKV genommen und ihn in die private Absicherung gegeben,
dann hätten wir schon einen ersten Schritt in die Kapitaldecklung getan.
({10})
Hätten wir den Verschiebebahnhof zulasten der GKV
beendet, wäre die Einnahmesituation auch wesentlich
besser. Hätten wir die Budgetierung in allen Bereichen
konsequent abgeschafft, dann wären die Patienten von
Rationierungen verschont geblieben.
({11})
Hätten wir die Bürokratie ab- anstatt aufgebaut, dann
stünde mehr Geld für die medizinische Versorgung oder
für Beitragssatzsenkungen zur Verfügung.
({12})
Hätten wir den Wettbewerb der Krankenkassen durch
Begrenzung des Pflichtleistungskatalogs gestärkt und
damit den Kassen die Möglichkeit gegeben, diese Leistungen fakultativ anzubieten, wäre viel Bewegung in die
Versicherungs- und Versorgungslandschaft gekommen
mit individuell zugeschnittenen Angeboten.
Herr Kollege, würden Sie bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss.
Von alledem ist nichts zu sehen. Stattdessen: Rin in
die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln; mal Zügel an,
mal Zügel los. Deswegen stottert der Reformmotor. Sie
sind dabei, ihn gänzlich abzuwürgen. Geben Sie lieber
mit uns Gas auf der Fahrt in ein unbürokratisches, freiheitliches Gesundheitssystem
({0})
mit echter Eigenverantwortung, mehr Wahlfreiheiten,
fairem Wettbewerb und mehr Transparenz auf einem
beispiellosen Wachstumsfeld.
Danke.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Parr, das Thema, über das wir hier reden, ist
sehr ernst.
({0})
Der Schluss Ihrer Rede hat mich aber mehr an eine Büttenrede erinnert.
({1})
Ich finde es unglaublich, in diesem Zusammenhang
von „Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ zu
reden.
({2})
Wir haben mit den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ein
langfristiges Sanierungskonzept für die gesetzliche
Krankenversicherung erarbeitet.
({3})
Wir haben im Hinterkopf die Situation auf dem Arbeitsmarkt gehabt.
({4})
Wir haben deshalb den Menschen viel zugemutet und
auch deswegen, weil wir die sozialen Sicherungssysteme
erhalten wollen.
({5})
Unsere Erfolgsbilanz weist einen Überschuss in Höhe
von 4 Milliarden Euro aus. Wir haben bestimmte Veränderungen struktureller Art, die die Ministerin schon erwähnt hat, in Angriff genommen. Wir wünschen uns natürlich alle sehr, dass die Selbstverwaltung in dieser
Hinsicht etwas schneller handeln würde und dass sie sich
intensiver mit diesen Veränderungen und weniger intensiv mit der Frage, wie die Einkommen der Krankenkassenvorstände gesteigert werden können, auseinander setzen würde.
({6})
Herr Parr, ich will etwas zu Ihrem Ansatz sagen. Sie
beklagen, dass Heimbewohner mit einem niedrigen Taschengeld Zuzahlungen in Höhe von 3 Euro im Monat
leisten müssen.
({7})
Was bieten Sie den Menschen als Alternative an? Sie
bieten ihnen die private Krankenversicherung an, die
sich die meisten Menschen überhaupt nicht mehr leisten
können.
({8})
Das kann doch kein Angebot sein. Aber Ihnen fällt
nichts anderes ein.
({9})
Auch während der Verhandlungen sprachen Sie immer wieder von Privatisierungen.
({10})
- Darauf komme ich noch zu sprechen. - Der Beitrag für
eine private Zahnersatzversicherung sollte bei 8 bis
9 Euro sowohl für Menschen mit einer Rente in Höhe
von 600 Euro als auch zum Beispiel für Abgeordnete mit
einem Einkommen in Höhe von 7 000 Euro liegen.
({11})
Sie wollen sich letztendlich von Menschen mit niedrigem Einkommen subventionieren lassen.
({12})
Das ist nichts anderes als eine permanente Umverteilung.
({13})
- Das ist keine Unverschämtheit. Es ist so.
({14})
Jemand mit 1 000 Euro Einkommen bezahlt für die private Zahnersatzversicherung genauso 8 Euro wie jemand mit 7 000 Euro Einkommen. Das ist ganz einfach
Mathematik.
({15})
Jetzt ein Wort zu Ihrem Verständnis von Wettbewerb.
Sie haben Schutzzäune um bestimmte Apotheken errichtet. Das haben Sie gerade vorige Woche wieder sehr erfolgreich getan.
({16})
Es soll möglichst keinen Wettbewerb geben. Dies betrifft
eine Gruppe, die vernünftig und gut aus den Verhandlungen herausgekommen ist.
({17})
Sie haben sich letztendlich allen Wettbewerbsmomenten
entzogen und am Ende der Verhandlungen haben Sie
sich sogar der Gesamtverantwortung für das Gesundheitssystem entzogen, indem Sie ganz einfach gegangen
sind.
({18})
Hier sind Sie nicht in der Lage, einen vernünftigen Vorschlag auf den Tisch zu legen.
({19})
Jetzt bin ich mit dem Unsinn, den Sie verzapfen, fertig, und komme zu einem anderen Bereich. Das ist die
Frage: Wie werden wir in Zukunft mit dem umgehen,
was wir haben? Wir haben gute Maßnahmen auf den
Weg gebracht.
({20})
Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass diese Maßnahmen weiterhin funktionieren.
({21})
Wir werden das deshalb unbedingt machen müssen, weil
die Menschen nicht nur hören wollen, dass es der Krankenversicherung besser geht. Sie wollen natürlich auch
hören, dass es Beitragssatzsenkungen gibt.
({22})
Diese müssen wir letztendlich auch einfordern. Für
28 Millionen Versicherte hat es sie bereits gegeben; das
sollten Sie schlicht und einfach nicht unterschätzen.
({23})
Ein weiterer Punkt ist, dass wir Beitragssatzsenkungen dringend benötigen, um die Akzeptanz für unsere
sozialen Sicherungssysteme zu erhalten. Von hieraus
möchte ich sehr deutlich an die Selbstverwaltung appellieren: Wir haben der Selbstverwaltung im Gesetz noch
einmal eine Chance gegeben. Die Selbstverwaltung
sollte diese Chance nutzen.
({24})
Sie sollte sie nicht zur Erhöhung ihrer Einkommen nutzen, sondern für Strukturveränderungen, die notwendig
sind. Sie sollte da alle Kraft hineinlegen; denn das Eigentliche, was wir brauchen, sind Veränderungen in der
Struktur und Maßhalten bei den Einkommen der Vertreter der Selbstverwaltung. Dann wird es weiterhin Akzeptanz für die Sicherungssysteme geben.
Danke schön.
({25})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die positive Botschaft vorweg: Das Jahresergebnis 2004
zeigt, dass die Reform greift. Die Einsparziele sind weitgehend - aber nicht vollständig - erreicht worden. Die
Union steht zu dieser Reform. Wir werden in der nächsten Woche in einer Anhörung eine kritische Überprüfung
nach dem ersten Jahr dieser Reform vornehmen. Aber in
den Grundsätzen sind wesentliche Reformziele erreicht
worden.
Wenn man fragt: „Warum wurde diese Reform gemeinsam durchgeführt?“, sollte man sich einmal veranschaulichen, dass die gesetzliche Krankenversicherung
ohne eine solche Reform gegen die Wand gefahren wäre
und deshalb Ziel der Reform eine finanzielle Konsolidierung für einen Zeitraum bis unmittelbar nach der Bundestagswahl war.
Damit sind wir mit den positiven Botschaften aber
schon am Ende angekommen.
({0})
Denn die Reform hat fast allen Beteiligten eine ganze
Menge abverlangt. Als Gegenleistung dazu sind sinkende Beitragssätze unerlässlich. Sie waren ein Hauptpunkt der Verhandlungen gewesen. Wenn die Beiträge
im Moment nicht oder nur kaum sinken, dann hat das
vor allen Dingen zwei Gründe.
Der eine Grund ist die Verschuldungslage der Krankenkassen.
({1})
Kollege Wolfgang Zöller hat schon darauf hingewiesen,
dass vor einem Jahr zu Beginn der Reform nicht ein Verschuldungsstand von 4 Milliarden, sondern ein Verschuldungsstand von 8 Milliarden Euro zu verzeichnen war
und dass für den Fall, dass die Rücklagen der Kassen
aufgefüllt werden, allein 2,25 Milliarden Euro des Überschusses für den Abbau der Verschuldung und das Auffüllen der Rücklagen verwendet werden. Dann bleibt
aber immer noch ein Betrag übrig.
Nun ist die spannende Frage: Warum wird dieser Betrag nicht endlich an die Versicherten weitergegeben?
Damit sind wir bei dem zweiten Grund, warum die Beiträge nicht gesenkt werden, der in der Debatte bisher
noch kaum eine Rolle gespielt hat. Voraussetzung für
Beitragssenkungen ist natürlich neben den Einsparungen
auf der Ausgabenseite eine stabile Beitragsbasis. Davon
kann im Moment leider keine Rede sein.
({2})
Um Erkenntnisse über den Beitragseingang zu gewinnen, haben wir uns, weil diese schneller ermittelt werden, die Werte der gesetzlichen Rentenversicherung für
die ersten beiden Monate dieses Jahres angesehen. Danach ist die Situation so, Frau Ministerin, dass die kumulierten Pflichtbeiträge für die Monate Januar und Februar
um 1,86 Prozent gesunken und die gesamten Beiträge
bis Ende Februar um 1,27 Prozent zurückgegangen sind.
Statt der erhofften Erhöhung der Beitragsbasis ist die
Beitragsbasis also deutlich rückläufig. Darin spiegelt
sich die dramatische Arbeitsmarktlage wider; denn jeden
Tag fallen mindestens 700 sozialversicherungspflichtige
Vollzeitarbeitsplätze weg. Für die Frage, ob wir zur Jahresmitte auf breiter Front Beitragssenkungen haben werden, ist daher entscheidend, ob es Signale für eine
Trendwende auf dem Arbeitsmarkt gibt. Dafür tragen
Sie, Frau Ministerin, und dafür trägt die rot-grüne Koalition die Hauptverantwortung.
({3})
Wir haben Ihnen angeboten - darüber haben wir in
der vorhergehenden Debatte diskutiert -, gemeinsam alle
Anstrengungen zu unternehmen, um aus der Arbeitsmarktmisere herauszukommen. Aber ohne eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt und ohne eine Trendwende
beim Wachstum - wir müssen alles für mehr Wachstum
und Beschäftigung tun - haben wir nicht den Hauch einer Chance, die Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme zu bewältigen.
Ich sage es noch einmal: Wir stehen zu dieser Reform. Es ist aber deutlich geworden, dass eine solche Reform kaum Sinn macht, wenn die übrigen Politikbereiche so ausgestaltet sind, dass es zu einer Verringerung
der Beitragsbasis der Sozialversicherung kommt. Deshalb meine nachdrückliche Aufforderung an die rotgrüne Koalition: Gehen Sie in sich und ergreifen Sie
endlich die notwendigen Maßnahmen, damit es zu einer
Trendwende auf dem Arbeitsmarkt kommt! Nur dann
haben wir die Chance, dass den Versicherten das zugute
kommt, was ihnen versprochen wurde, nämlich eine
spürbare Absenkung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Thema dieser Aktuellen Stunde schließt sehr gut an
die Debatte vom Vormittag an, bei der wir über die
größte Problematik, die es im Moment zu bewältigen
gibt, gesprochen haben, nämlich die Situation auf dem
Arbeitsmarkt.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Union, wie es auch
in dieser Debatte deutlich wird, zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz steht, das für die Kassen in vielen Bereichen zu einer Entlastung geführt hat. Einen Akzent
aber möchte ich anders setzen, Herr Storm. Ich glaube,
dass die Senkung der Lohnnebenkosten auch Ausgangspunkt sein muss, um die Spirale in Richtung mehr Beschäftigung in Gang zu setzen. Wenn es ein Programm
zur Entlastung der Kassen in Höhe von 9 bis 10 Milliarden Euro gibt, müssen wir auch gemeinsam Druck ausüben, dass diese Spirale, die sich nach unten bewegt,
umgekehrt wird und es zu einer Senkung der Lohnnebenkosten kommt; denn dies führt zu einer Erhöhung der
Beschäftigung. Die Botschaft, die von dieser Aktuellen
Stunde ausgeht, muss sein: Es gibt Raum für die Senkung der Lohnnebenkosten.
({0})
Damit komme ich zu Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP.
({1})
Sie haben in dieser Aktuellen Stunde nur einen Redner
gestellt. Soll es wirklich Botschaft der FDP sein, dass es
Gründe gibt, warum es nicht zu einer Beitragssenkung
kommen kann? Sie sagen zum einen, wie schrecklich es
ist, dass wir die Menschen belastet haben,
({2})
und zum anderen, Herr Parr, dass sich die armen Kassen
gar nicht anders verhalten können. Damit zeichnen Sie
sich wieder als Vertreter der Lobbygruppen in diesem
System aus.
({3})
- Hören Sie einmal zu! - Ich bin wirklich entsetzt, dass
Sie das Verhalten der Kassen entschuldigen
({4})
und die Botschaft senden, dass es überhaupt keinen
Grund für eine Beitragssenkung gibt. Das ist kein Beitrag zu dem zentralen Problem, das wir in Deutschland
haben. Es geht nämlich darum, mehr Beschäftigung zu
schaffen.
({5})
- Ich will das noch etwas weiter ausführen, Herr Parr.
Seien Sie doch einmal ruhig, hören Sie zu und denken
Sie dann auch darüber nach!
Wir haben zum Beispiel entschieden, mithilfe von
Steuermitteln den Bereich Gesundheit zu unterstützen.
Wir haben
({6})
im Hinblick auf die Tabaksteuereinnahmen demnächst
bestimmt keine leichte Situation zu erwarten. Auf die
Forderung der Selbstverwaltung „so viel Selbstverwaltung wie möglich und so viel Staat wie nötig“ - wahrscheinlich vertreten auch Sie diese Forderung ({7})
erwidere ich in aller Deutlichkeit: Mein Vertrauen in die
Selbstverwaltung ist durchaus begrenzt.
({8})
Ihr Kollege Fricke aus der FDP hat sehr wohl und richtigerweise mit uns dafür gestritten. Wenn Steuermittel in
den Bereich der Krankenkassen fließen, dann müssen
wir auch kontrollieren, zum Beispiel mithilfe des Rechnungshofs, ob sie effizient eingesetzt werden. Spätestens
seit den vergangenen Tagen, in denen wir über die Steigerung der Vorstandsgehälter im zweistelligen prozentualen Bereich gesprochen haben, ist auch einigen von Ihnen bewusst, dass wir bei den Kassen mehr Kontrollen
brauchen, ob sie zu Strukturreformen fähig sind und die
Mittel effizient einsetzen. Das werden wir machen.
Sie von der FDP haben keinen Beitrag zu dieser Kritik geleistet. Das war sehr schwach.
({9})
- Sie haben sich heute sehr einseitig geäußert. Hoffentlich werden Sie noch in sich gehen. - Ich sage in aller
Deutlichkeit: Der Staat soll nicht dirigistisch eingreifen,
das ist klar.
({10})
Wir haben aber auch bei der Bundesagentur für Arbeit
erlebt, dass die dort langjährig eingespielten Verbandsvertreter, die in den Aufsichtsorganen sitzen, in den vergangenen Jahren nicht unbedingt ein Beispiel an Reformfreude gegeben haben. Deswegen meine ich, dass
alle Fraktionen in diesem Bundestag die Aufgabe haben,
die Reformfreude auch in dem Bereich anzustoßen, ohne
dass ich in Anspruch nehmen wollte, dass wir das fehlerfrei machten. Aber einen Rückzug nach dem Motto
„Lassen wir die mal machen“ halte ich für völlig falsch.
Ich komme zum Schluss. Wir haben im Gesundheitswesen eine bedeutsame Senkung der Kosten in Höhe
von 7,5 bis 8 Milliarden Euro erreicht.
({11})
Richtig ist auch, dass diese Kostensenkung im Verhältnis
zu der Schuldenbelastung zu sehen ist, die bei den Kassen geherrscht hat.
({12})
Dabei ist es aber auch wichtig, dass der Schuldenabbau in der Weise erfolgen sollte, dass in beide Richtungen positive Effekte erzielt werden: Es geht darum, dass
die Kassen die Schulden abbauen und dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Beides ist möglich. Eine einseitige Verweigerung in einem Bereich ist angesichts der
Arbeitsmarktlage nicht zu verantworten. Dieses Signal
sollte heute gegeben werden und ich bin froh, dass das
auch für drei Fraktionen dieses Hauses gilt.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Gerald Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ministerin Schmidt hat vorhin ausgeführt, dass
die gesetzliche Krankenversicherung wieder auf gesunde
Füße gestellt worden sei. Es wurde eine gewisse Stabilisierung erreicht, an der auch wir mitgewirkt haben. Die
Last haben im Wesentlichen die Versicherten und die Patienten zu schultern gehabt, aber wir wären ohne das
GMG heute unzweifelhaft in einer noch schlechteren Situation. Das ist völlig klar.
Aber wie weit die gesunden Füße, wie Sie es genannt
haben, Frau Schmidt, wirklich tragen können, bleibt abzuwarten. Denn es ist ein dornenvoller Weg, der von den
Kassen zu gehen ist. Er ist mit vielen Risiken belastet.
Gerald Weiß ({0})
Der Kollege Storm hat meines Erachtens richtig herausgearbeitet, dass das wesentliche Risiko darin besteht, dass Sie es nicht schaffen, dieses Land in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nach vorne zu bringen und Arbeitsplätze zu schaffen.
({1})
Im siebten Jahr der Regierung Schröder ist es um
Wachstum und Beschäftigung in Deutschland verheerend bestellt. Deshalb ist es im Jahr sieben seit Schröder
- das hat Kollege Storm ganz eindeutig begründet - auch
um die Sozialversicherungssysteme so schlecht bestellt.
Auf die entsprechenden Zahlen haben Sie selbst hingewiesen. Diese Indizien sprechen eine deutliche Sprache.
Die Beitragsentwicklung verläuft nicht wie gewünscht.
Im Februar dieses Jahres ist das Aufkommen der Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung um 3,05 Prozent gesunken. Kollege Storm hat zu Recht gefragt, was das für die
gesetzliche Krankenversicherung bedeutet.
Bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen kommt es zu einer Erosion. Ihre Anzahl sinkt jeden
Tag um 700 bis 1 000. Die allgemeine Einkommensentwicklung stagniert. Gegenwärtig ist ein Wachstum unserer Volkswirtschaft in diesem Jahr um nur noch 1 Prozent zu erwarten. Aus einem solch niedrigen Wachstum
können weder neue Arbeitsplätze generiert noch Sozialversicherungsbeiträge gewonnen werden. Auf dem Weg,
den die Krankenkassen auf ihren nun angeblich gesunden Füßen gehen sollen, streuen Sie durch Ihre Politik
Dornen. Sie verweigern im Grunde genommen jede vernünftige Antwort, die einen Beitrag zu einer zukunftsträchtigen Entwicklung leisten könnte.
Wir verlieren zu viel Arbeit an das Ausland, gewinnen aber zu wenig Arbeit aus dem Ausland. Wir verlieren zu viel Arbeit an die Schattenwirtschaft. Wir verlieren zu viel Arbeit ans Nichts. Das bedeutet, dass die
Einnahmen und die Ausgaben der Sozialversicherungen
nicht ins Gleichgewicht kommen können. Natürlich sollen die Krankenkassen ihre Beiträge, soweit es ihnen
möglich ist, senken. Frau Hajduk hat völlig Recht, wenn
sie sagt, dass aus der Senkung der Beiträge und damit
der Lohnnebenkosten selbstverständlich mehr Beschäftigung erwachsen kann.
({2})
Das ist der richtige Weg. Aber den Weg, Arbeits- und
Sozialversicherungskosten konsequent zu entkoppeln,
sind Sie nicht gegangen. Wenn es eine Strategie gibt, mit
der wir vorankommen könnten, dann ist es die Entkopplung von Sozialversicherungs- und Arbeitskosten. Wie
ich Ihren Bemerkungen entnehme, nähern Sie sich unserem Modell einer solidarischen Gesundheitsprämie immer mehr an. Meinen Glückwunsch! Das finde ich gut.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Strategie, die im stormschen Sinne bei den Einnahmen unserer
Krankenkassen, also auf der Aufkommensseite, beim
Wachstum unserer Volkswirtschaft und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen ansetzt, besteht in der Tat aus
einem Bündel von Maßnahmen. Dazu gehören zum Beispiel eine Steuerreform im Sinne einer großen Flurbereinigung und eine wirksame Unternehmensteuerreform;
von der Entkopplung der Sozialversicherungs- und Arbeitskosten habe ich bereits gesprochen. Dazu gehört
auch eine umfassende Strategie der Entbürokratisierung
im weitesten Sinne des Wortes. Und dazu gehört, dass
man die Blockaden, die durch die hohen Energiepreise
verursacht werden, zugunsten zukunftsweisender Technologien beseitigt. Auf all diesen Feldern haben vor allem die Grünen gnadenlos blockiert und sich den notwendigen Einsichten bis ins Letzte verweigert. Daher
müssen wir von vorn beginnen, mit einer Strategie, die
bei Wachstum und Beschäftigung ansetzt.
({4})
Dann werden wir die sozialen Sicherungssysteme wieder
in Ordnung bringen können.
Danke.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich frage mich, woran es liegt, dass ich, wenn vonseiten der CDU gesagt wird, wir müssten unser Land
nach vorn bringen, immer wieder Ihre Forderungen nach
dem Abbau des Kündigungsschutzes, der Betriebsverfassungen und der Arbeitnehmerrechte vor Augen habe.
({0})
Hinzu kommt, dass der hessische Ministerpräsident vor
kurzem gefordert hat, ausländischen Managern, die in
unserem Land arbeiten, einen Steuerrabatt zu gewähren.
({1})
Ich sage Ihnen: Diese Forderungen bringen unser Land
nicht nach vorn.
({2})
Nun zur Gesundheitsprämie bzw. - besser gesagt zur Kopfpauschale.
({3})
Ich kann immer noch nicht glauben, Herr Weiß, dass Sie
es für richtig halten, wenn zum Beispiel eine Verkäuferin
den gleichen Krankenversicherungsbeitrag zahlen soll
wie ich.
({4})
Das kann doch nicht richtig sein.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch schön,
dass wir heute einmal über Überschüsse in Höhe von
4 Milliarden Euro bei den Krankenkassen diskutieren
können.
({6})
Im Frühjahr des Jahres 2003 haben wir angesichts der finanziellen Situation der Krankenkassen daran alle nicht
gedacht. Wir haben damals gemeinsam mit der Opposition die Reform auf den Weg gebracht, damit die Beiträge nicht weiter steigen. Die FDP war eine gewisse
Zeit lang daran beteiligt, hat sich dann aber auf die
Flucht begeben.
({7})
Diese Reform war eigentlich nur mit vereinten Kräften
möglich, aber Sie haben die Flucht ergriffen,
({8})
weil Ihren Vorstellungen von Kostenerstattungen niemand gefolgt ist.
({9})
Sie beklagen heute die Belastung der Versicherten und
vergießen dabei Krokodilstränen.
({10})
Mit der von Ihnen geforderten Kostenerstattung wäre die
Belastung der Versicherten noch höher gewesen. Von daher ist das, was Sie sagen, doch sehr unglaubwürdig,
Herr Parr.
({11})
Wir haben vor eineinhalb Jahren diese Reform auf
den Weg gebracht und die Stabilisierung ist gelungen.
Überschüsse bzw. Einsparungen in Höhe von 9 bis
10 Milliarden Euro sind erreicht worden. Allein im Bereich der Arzneimittelausgaben sind die Ausgaben um
2,5 Milliarden Euro gesunken. Zu diesen Überschüssen
hat das Reformgesetz den Kassen verholfen; das muss
man auch noch einmal deutlich machen.
({12})
Wir haben mit Recht festgelegt, was mit den Überschüssen passieren soll, dass nämlich ein Teil der Überschüsse für Beitragssenkungen genutzt werden soll. Herr
Zöller, natürlich hätte die Belastung der Versicherten
hier und da noch etwas anders aussehen können, wenn
Sie dem einen oder anderen Vorschlag von uns gefolgt
wären. Ich bin froh, dass uns eine Einigung gelungen ist
und Sie unserer Forderung zugestimmt haben, die Überforderungsklausel ins Gesetz aufzunehmen, weil sonst
die Belastung für die Versicherten doch sehr viel schlimmer gewesen wäre.
Ein Wort auch noch zur Selbstverwaltung, weil die
Frage der Beitragssenkung in die Verantwortung der
Selbstverwaltung gehört. Ich möchte an dieser Stelle
noch einmal an die Selbstverwaltung appellieren, aber
nicht nur an die Versichertenseite, sondern insbesondere
auch an die Arbeitgeberseite, die nach meiner Meinung
hier ebenfalls gefordert ist. Wenn das ganze Jahr über
lauthals eine Senkung der Lohnnebenkosten gefordert
wird, sollten die Arbeitgebervertreter auch in den Verwaltungsräten der Krankenversicherungen den notwendigen Druck machen.
Ich halte es für den besseren Weg, die Beiträge dort
zu senken, wo es möglich ist, nämlich in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Senkung des Beitrages
zur Arbeitslosenversicherung, wie sie Herr Storm vorgeschlagen hat, würde nicht dazu führen, dass wir bei der
Arbeitsmarktpolitik vorankommen, sondern es würde
die Situation eintreten, dass zahlreiche Arbeitsmarktmaßnahmen, die als Ausgleich für ein Versagen in der
Bildung notwendig sind, nicht mehr möglich wären.
Ich sage noch einmal, Herr Zöller: Sie haben auch
Recht gehabt mit Ihrem Appell an die Länder, die ihrer
Aufsicht nachkommen müssen. Das kann ich nur noch
einmal unterstreichen. Unterstreichen kann ich auch Ihren Appell an die Manager bei den Krankenkassen.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Natürlich wissen wir, dass wir für gute Arbeit auch
gute Manager brauchen. Aber Grundlage für die Erfolge,
die bisher eingefahren worden sind, ist das Gesetz.
({0})
Wir haben damit ausreichende Möglichkeiten für weitere Einsparungen bei den Krankenkassen geschaffen,
die zunächst einmal - ein Schritt nach dem anderen umgesetzt werden sollten.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. - In dieser Debatte fiel der Satz „Die Gesundheitsreform greift“. Ich
bin der Auffassung, dieser Satz ist unvollständig.
Vollständig müsste er heißen: „Die Gesundheitsreform
greift den Patienten in die Tasche“.
({0})
Immer wenn ich die Bundesregierung auf Versäumnisse und schwere Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform hinweise, bekomme ich
zur Antwort, dass es in der Bundesrepublik kein staatlich
gelenktes Gesundheitssystem gibt. Das ist richtig und
das weiß ich. Doch ich finde, das Gegenteil von staatlicher Lenkung können doch nicht Anarchie und gierige
Selbstbedienungsmentalität sein.
({1})
Es ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung und die große Koalition von SPD, CDU/
CSU und Grünen eine Gesundheitsreform verabschieden, an die sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger halten muss, dass einige aber diese Gesundheitsreform offensichtlich als wenig bindende Empfehlung
betrachten und auf ihre Autonomie verweisen, um sich
schamlos zu bereichern.
Kann es denn im Sinne des Gesetzgebers sein, meine
Damen und Herren, dass viele Menschen auf einen Arztbesuch oder auf Medikamente aus finanziellen Gründen
verzichten müssen, obwohl sie jeden Monat brav ihren
Krankenkassenbeitrag zahlen? Gleichzeitig sieht der Gesetzgeber zu, wie sich Vorstände von Krankenkassen das
Geld der Beitragszahler mit vollen Händen in die eigene
Tasche schaufeln, und hebt höchstens einmal den Zeigefinger. Es ist doch nicht in Ordnung, dass zum Beispiel
der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in
Nordrhein-Westfalen 240 000 Euro im Jahr bekommt
und darüber hinaus auch noch die Genehmigung hat, nebenbei in seiner Praxis zu arbeiten.
Die Bundesregierung misst auch bei der Gesundheitspolitik mit zweierlei Maß: Dem Patienten wird die bittere Pille dreimal im Hals umgedreht, bevor er sie schlucken darf, alles wird bis ins letzte Detail kontrolliert und
unerträglich reglementiert. Doch wenn es zum Beispiel
um die sittenwidrigen Gehälter der Vorsitzenden der
Kassenärztlichen Vereinigungen und der Vorstände der
Krankenkassen geht, ist die Bundesregierung großzügig
und hebt, wie gesagt, zwar mal den Zeigefinger, erklärt
sich aber für nicht zuständig. Ich finde, das ist eine absurde Klientelpolitik.
({2})
An diesen wenigen Beispielen zeigt sich das Dilemma dieser Gesundheitsreform: Sie schröpft die Patienten, sie trägt nicht zur Senkung der Lohnnebenkosten
bei und sie hat die pervertierten Strukturen, die die Kosten in die Höhe treiben, eben nicht aufgebrochen. Ich
finde es deshalb unredlich, wenn hier alle im Chor die
Vorstände der Krankenkassen und auch der Kassenärztlichen Vereinigungen beschimpfen. Sie hatten es mit der
Gesundheitsreform in der Hand, die gesetzlichen Regelungen klar zu formulieren. Sie hätten zum Beispiel die
anachronistische Kassenärztliche Vereinigung abschaffen können und Sie hätten gesetzliche Vorkehrungen gegen die Gehaltserhöhungen, die jetzt alle beklagen,
schaffen können. Also, meine Damen und Herren, heben
Sie nicht nur den Zeigefinger, jammern Sie nicht nur,
sondern bessern Sie die Gesetze nach!
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Erika Ober,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Auch ich
möchte mit etwas Positivem anfangen, ich möchte hier
keine Schwarzweißmalerei betreiben wie meine Vorrednerin. Es wurde ja schon betont: In der GKV ist ein
Überschuss in Höhe von 4,022 Milliarden Euro erwirtschaftet worden, vor allem durch eine höhere Eigenbeteiligung der Patientinnen und Patienten. Eine umfangreiche Senkung der Beiträge bleibt aus. Das verstehen
die Patienten nicht.
Die Beitragszahler wollen eine Aufklärung, vor allem
vor dem Hintergrund, dass die Gehälter der Kassenvorstände zum Teil unverhältnismäßig erhöht wurden, was
für Aufregung gesorgt hat. Deshalb ist es unsere Pflicht
und unsere Aufgabe, darüber öffentlich zu diskutieren.
Manche Vorstandsvorsitzenden beziehen zum Teil unverhältnismäßig hohe Gehälter. Für die Öffentlichkeit
sind Gehaltserhöhungen in dieser Größenordnung in der
heutigen Zeit nicht nachzuvollziehen. In eine allgemeine
Verurteilung aller Vorstandsfunktionäre möchte ich mich
nicht einreihen. Ich möchte eine differenzierte Betrachtungsweise; dies sind wir der Öffentlichkeit auch schuldig. Dazu gehört allerdings auch festzustellen, dass in einigen Selbstverwaltungen das gezahlte Gehalt nicht der
geforderten und notwendigen Professionalität entspricht,
und zwar in den Selbstverwaltungsgremien sowohl der
Krankenkassen als auch der Kassenärztlichen Vereinigungen.
Genau aus diesem Grunde wurde im Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Offenlegung der Gehälter der
Vorstände geregelt. Die Transparenz ist in vielen Teilen
vorhanden und für diejenigen, die die Gelder aufbringen
müssen, auch ersichtlich. Die Höhe der Gehälter ist
sicher nicht immer nachvollziehbar.
({0})
Bei Teilen der Krankenkassen fehlt die Transparenz bis
heute. Warum fehlt sie und warum werden die Zahlen
nicht offen gelegt? Ist dort etwas zu verbergen? Dem
müssen wir nachgehen.
({1})
Bei einigen wenigen Krankenkassen - es sind zehn ist zurzeit die Aufsicht eingeschaltet, um möglicherweise überhöhte Vergütungen zu korrigieren. Es ist
sicher nicht die Aufgabe der Politik, die Vorstandsgehälter festzulegen. Meine Vorredner haben es schon gesagt:
Die Selbstverwaltungsorgane haben sich darum zu kümmern.
({2})
Warum es bei den Bruttoeinkommen der Vorstände von
Kassenärztlichen Vereinigungen eine Spanne zwischen
130 000 und 260 000 Euro pro Jahr gibt, warum Dienstwagen teilweise Standard sind und teilweise nicht und
warum Nebentätigkeiten teilweise möglich sind und teilweise nicht, verstehe ich als KV-Mitglied nicht und ist
auch all denjenigen, die das Geld letztlich aufzubringen
haben, nämlich den Beitragszahlern, nicht zu vermitteln.
({3})
In Zeiten leerer Kassen und ausbleibender Beitragssatzsenkungen sind überzogene Gehaltserhöhungen bei einigen Vorständen der Kassen und KVen schlicht ein
falsches Signal. Das zeugt von mangelndem Fingerspitzengefühl.
({4})
Ich möchte aber auch nicht vergessen, diejenigen zu
erwähnen, die ihre Beiträge gesenkt haben. Es gibt Krankenkassen - große Versorgerkassen -, die ihre Beitragssätze gesenkt haben. Das sollten wir auch nicht vergessen.
({5})
Unser Motto lautet weiterhin: Erwirtschaftete Überschüsse in der GKV müssen zum Schuldenabbau und zur
Beitragssatzsenkung genutzt werden. In der heute sicher
schwierigen Zeit erwarte ich von allen einen angemessenen Umgang mit dem Geld der Versicherten durch ein
entsprechendes Abwägen seitens der Vorstände der
Selbstverwaltungen bei ganz klarer Transparenz.
({6})
In der Konsequenz bedeutet das auch einen angemessenen Umgang mit den eigenen Gehältern.
Gestatten Sie mir am Schluss noch ein Wort an die
Opposition.
({7})
Die FDP hat über Jahre hinweg eine stärkere Eigenverantwortung der Patienten gefordert und sie hat die Kostenerstattung in ihr Programm aufgenommen.
({8})
Daneben stellt sie in einem populistischen Antrag die
Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen. Das macht
sie unglaubwürdig.
({9})
Lassen Sie diese populistischen Anträge; denn wer Kostenerstattung und Bürokratieabbau fordert, der will mehr
Belastungen für die Patienten vor Ort.
({10})
Das ist kein Bürokratieabbau, das macht Sie unglaubwürdig. Ich meine, das Thema ist zu ernst, als dass man
darüber in dieser Form debattieren könnte.
({11})
Ich fordere Sie auf, diesen Populismus in Zukunft zu
lassen und in der Sache konstruktiv mit uns zu diskutieren.
Danke.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Georg Faust,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geschätzte Frau Kollegin Ober, Sie haben
gesagt, die gesetzlichen Krankenkassen hätten im vergangenen Jahr einen Überschuss von circa 4 Milliarden
Euro erwirtschaftet. Diese Mehreinnahmen in Höhe von
4 Milliarden Euro haben die Versicherten und die Patienten durch eine erhöhte Zuzahlung und einen Verzicht auf
Leistungen erwirtschaftet.
({0})
Das haben wir den Bürgern im Konsens zugemutet. Wir
haben ihnen dafür eine Stabilisierung des Gesundheitssystems - heute wurde hier sogar von einer langfristigen
Stabilisierung gesprochen - und eine Senkung des Kassenbeitrages angekündigt.
Nach Aussage des AOK-Bundesverbandes werden allein durch die zusätzlichen Einnahmen aus der vollen
Verbeitragung der Betriebsrenten 1,6 Milliarden Euro in
das Kassensystem fließen.
({1})
In den alten Bundesländern sind die Ausgaben für Fahrtkosten um 8,2 Prozent, für Hilfsmittel um 15 Prozent
und für Arzneimittel um 9,4 Prozent zurückgegangen.
Die Ausgaben für das Krankengeld liegen mit minus
8,6 Prozent auf einem historischen Tief. Das hat eben
nichts mit klugem Wirtschaften der Krankenkassen zu
tun, sondern ist schlichtweg Ausdruck der katastrophalen Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit
({2})
und der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes im
Krankheitsfall.
Wir haben den Bürgern viel zugemutet. Die Schulden
- das ist klar - müssen nach Plan über die Jahre abgebaut werden. Wir fordern aber als Signal an die belasteten Versicherten und an die Patienten eine signifikante,
deutlich erkennbare Senkung des Beitragssatzes von
heute 14,19 Prozent.
({3})
Eine weitere Debatte über die Legitimation des GKVModernisierungsgesetzes wäre verheerend.
Gesundheitspolitik muss wieder berechenbar werden.
Das ist angesichts der großen Probleme durch die demographische Entwicklung und den medizinischen Fortschritt unerlässlich. Die Bürger wissen doch, dass es mit
den bisherigen Gesetzen noch immer nicht getan ist. Sie
wissen, dass wir auf der Einnahmeseite die Krankheitskosten von den Arbeitskosten trennen müssen, dass wir
in den Ausgabensektor mehr Markt und mehr Wettbewerb bringen müssen und dass wir auch eine Debatte um
notwendige Leistungen, die von der Krankenversicherung solidarisch finanziert werden, führen müssen.
Deutschland hat sicherlich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Die Leistungen sind von hoher
Qualität. Das System ist objektiv, aber auch nach dem
Empfinden der Bundesbürger ein gerechtes System. Als
Arzt sage ich, dass sich die Leistungen für den normal
gesetzlich versicherten Patienten durchaus in Sichtweite
der Leistungen befinden, die die Spitzenmedizin international anbietet, und die Gewährung dieser Leistungen
eben nicht vom Geld abhängig ist. Ich meine hier nicht
das Einzelzimmer oder die Chefarztbehandlung, sondern
ich freue mich für unsere Bürger darüber, dass wir jedem
Patienten den Facharztstandard gewähren können.
Aber wenn das auch in absehbarer Zeit noch möglich
sein soll, dann dürfen wir uns nicht in irgendwelche unkontrollierten Rationierungsdebatten verlieren, damit
Gesundheitspolitik in den Augen der Bevölkerung ihren
Ernst und ihre Verlässlichkeit behält. Wir müssen sagen,
dass wir mit begrenzten Mitteln keine unbegrenzten
Leistungen finanzieren können und dass die Vorstellung,
dass Prävention schnell Geld spart, eine verhängnisvolle
und falsche Vorstellung ist. Prävention kostet erst einmal
Geld. Wenn sie schon Geld kostet, dann sollen wenigstens diejenigen, die das Geld bezahlen, in den Genuss
der Ergebnisse kommen und die Entscheidung über die
Verwendung der Mittel treffen können. Krankenkassen
sollen ihr Geld dazu verwenden, die Beiträge zu senken.
Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
- das ist auch in der Anhörung deutlich geworden - und
darf nicht fast ausschließlich aus Mitteln der GKV bezahlt werden.
({4})
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Rahmenbedingungen für eine verlässliche Gesundheitspolitik in
Deutschland zu schaffen. Eine ganz entscheidende
Grundlage dafür sind ein Rückgang der Arbeitslosigkeit
und dadurch höhere Beiträge, eine Entkopplung der
Krankenversicherungsbeiträge von den Arbeitskosten
sowie eine zielgerichtete Debatte darüber, was eine gesetzliche solidarische Krankenversicherung in Zukunft
leisten kann und soll. Dafür bieten wir ausdrücklich unsere Hilfe an.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Wodarg, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben gemeinsam das GKV-Modernisierungsgesetz auf den Weg gebracht und dabei vielen vieles zugemutet; das ist schon gesagt worden. Wir haben aber
auch Aufgaben verteilt. Wir erwarten, dass diese Aufgabe von denen, die sie machen können, weil sie nämlich das Geld der Versicherten verwalten, wahrgenommen werden. Hier geht es darum, neue effiziente
Strukturen zu schaffen, die dazu führen, dass die Patienten das erhalten, was sie brauchen, damit sie gesund werden und wir die Kosten senken können, und nicht das,
was man verkaufen kann.
({0})
Es geht auch darum, Fehlversorgungen und Doppeluntersuchungen, die jetzt noch sehr hohe Kosten verursachen, zu vermeiden.
Wir haben im GKV-Modernisierungsgesetz, aber
auch schon in früheren Gesetzen konkrete Werkzeuge
zur Verfügung gestellt. Wir haben beobachtet, dass die
Möglichkeit einer integrierten Versorgung, die es seit
mehr als fünf Jahren gibt, kaum wahrgenommen wurde.
Es wurden kaum integrierte Versorgungsformen geschaffen. Erst jetzt, nachdem der Gesetzgeber finanzielle
Anreize geschaffen hat, versucht man, erste Modelle zu
bilden, und erst jetzt kommen die Kassen in die Puschen
und fangen an mitzudenken.
Dabei möchte ich hervorheben, dass die neuen Ideen,
die es gibt, längst nicht immer von den Funktionären mit
den hohen Gehältern kommen, sondern dass diese ganz
oft an der Basis geboren werden. Es sind diejenigen, die
an der Basis Verantwortung tragen, die direkt in der Versorgung tätig sind - Krankenhausärzte, Pflegedienste,
Allgemeinmediziner -, die etwas verbessern wollen. Sie
haben große Schwierigkeiten, den Kassen ihre Ideen zu
vermitteln. Das bedarf eines genauen Hinsehens. Häufig
tun sich mehrere Leistungserbringer zusammen, die etwas Neues anbieten wollen, und stellen ihr Konzept
dann den Kassen vor. Es gibt aber über 250 Kassen.
Diese Leistungserbringer schließen meistens einen Vertrag mit nur einer Kasse. Sie können die ganze Verhandlungsarbeit mit allen Kassen gar nicht leisten. Häufig
merken sie erst später, dass der Vertrag nur für die Patienten gilt, die bei der einen Kasse versichert sind. Das
ist nur ein Bruchteil der Patienten. Sie würden aber die
neue Versorgungsform gerne für alle Patienten einführen. Das ist aber nicht von vornherein gegeben. Die Kassen suchen sich bestimmte Projekte aus, von denen sie
glauben, dass sie zu ihrem Konzept passen. Sie konzentrieren sich auf ganz bestimmte Arbeitsfelder. Das ist für
diejenigen, die in der Region die Strukturen sicherstellen
wollen, sehr schwierig.
Wir müssen hinschauen, wie sich der Kassenwettbewerb auswirkt, ob er zielführend ist und ob die Kassen
gemeinsam das machen, was für alle notwendig ist. Nur
dann kommen wir weg von einem Flickenteppich von
Innovationen, nur dann kommen wir zu Strukturen, die
effizient sein können, weil Synergieeffekte genutzt werden und weil sie allen Menschen zur Verfügung stehen.
({1})
Wir haben die durch den Hausarzt koordinierte Behandlung eingeführt und sie obligatorisch gemacht. Jeder Versicherte hat das Recht, über einen Hausarzt koordiniert zu werden. Die Krankenkassen haben ein solches
Modell anzubieten. Das wird erfreulicherweise auch zunehmend gemacht. Es gibt konkrete Verträge von vielen
Krankenkassen mit Hausärzteverbänden und sogar Apotheken, um eine bessere Koordination bei der Patientenbehandlung und der Diagnostik zu erreichen, damit Doppeluntersuchungen vermieden werden und nur die
Behandlung erfolgt, die der Patient braucht. Das Ziel
muss dabei sein, dass die Patienten nur so behandelt
werden, wie der Hausarzt auch seine Familie behandeln
würde, und ihnen nicht alles Mögliche verkauft wird;
denn wir wissen, dass es vieles gibt, was unnötig ist.
({2})
Die hausärztliche Versorgung ist ein Bereich, der langsam anläuft.
Wir haben außerdem die medizinischen Versorgungszentren als neues Strukturelement möglich gemacht. Für
die medizinischen Versorgungszentren gibt es mittlerweile 87 Anträge. Diese werden bearbeitet. Auch da entwickelt sich etwas. Es handelt sich dabei erstaunlicherweise häufig um ehemalige Gemeinschaftspraxen oder
Praxisgemeinschaften, die sich von dem Punktedruck
befreien wollen. Es sind Ärzte, die nicht immer nur auf
die Abrechnung mit der KV schauen wollen, sondern
lieber ihr Gehalt haben und sich ganz auf ihre Arbeit mit
den Patienten konzentrieren wollen. Ich finde, das sind
ermutigende Ansätze, die wir unterstützen sollten und
die von den Kassen gefördert werden müssen.
({3})
Ich glaube auch, dass wir mit den Disease-Management-Programmen den richtigen Weg eingeschlagen haben. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen ist ein guter Ansatz. All diese
Dinge müssen aber erst greifen. Die Kassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Manager, die sich jetzt
die hohen Gehälter genehmigt haben, sind in der Pflicht,
den Garten zu pflegen und die richtigen Blumen wachsen zu lassen. Das erwarten wir von ihnen. Wir werden
am Ende des Jahres schauen, ob sie ihre Aufgabe erfüllt
haben. Wenn sie das nicht tun, dann müssen die Gehälter
gekürzt werden.
({4})
Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle sind froh darüber - das ist in der heutigen Debatte deutlich geworden -, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen so ist, wie sie ist, dass
wir also, was die Kostensteigerungen angeht, eine
kleine, vielleicht auch eine etwas längere Atempause haben. Ich glaube nicht, dass es ein langfristiges Konsolidierungskonzept ist.
({0})
Denken Sie an die jetzige innenpolitische Debatte!
Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten den Menschen alles das zugemutet, was wir ihnen bei der Gesundheitsreform zugemutet haben - vielen, die es bezahlt haben, ist
es schwer gefallen; viele, etwa Ältere oder Personen, die
eine Betriebsrente beziehen, sind in ihrer Lebensplanung
schwer getroffen worden -, und die ganze Operation
hätte noch nicht einmal dazu geführt, dass wir eine
Atempause bekommen! Lassen Sie uns also froh darüber
sein, dass das so ist.
Wir brauchen diese Atempause, damit die Schulden
abgebaut werden können, liebe Frau Schmidt, die die
Krankenkassen in Ihrer Regierungszeit aufhäufen mussten.
({1})
Um nichts anderes geht es. Jetzt müssen wir erst einmal
zusehen, dass die Schulden abgebaut und gleichzeitig
die Beiträge gesenkt werden.
Nun zu dem, was in den letzten Monaten passiert ist
- das ist heute schon vielfach angesprochen worden -,
zu dem, was sich die Vorstände reingetan haben; darüber
sind wir uns hier einig. Ich hoffe nur, dass es nicht bei
diesem allgemeinen Geklingel bleibt, dass es nicht nur
ein Sturm im Wasserglas ist und es am Ende bleibt, wie
es ist.
Diese Leute finden Gehälter von 250 000 Euro ganz
normal. Wenn wir das umrechnen, sind das 500 000 DM.
Das sind die gleichen Leute, die die Pflegesatzverhandlungen mit den Einrichtungen führen, zum Beispiel in
Nordrhein-Westfalen. Da gibt es eine Umbruchsituation
in der Krankenhausfinanzierung und dadurch kommt es
dazu, dass Krankenhäuser, um überhaupt noch liquide zu
bleiben, das Weihnachtsgeld der Krankenschwestern
streichen. Das ist die Wahrheit. Ich kann Ihnen zig Krankenhäuser nennen, die nicht in der Lage waren, das
Weihnachtsgeld zu zahlen. Und die Leute, die diese Verhandlungen führen, machen in ihren Vorständen die
schon beschriebene Politik! Damit dürfen sie nicht
durchkommen!
({2})
Dabei wundere ich mich schon sehr über die Selbstverwaltung,
({3})
zumindest soweit die alten RVO-Kassen betroffen sind,
bei denen Arbeitgeber und Gewerkschaften vertreten
sind. Dabei unterhalten wir uns auch über die BKK. Da
ist einiges im Bundesverband passiert. Ich werde noch
heute einen Brief zu dem schreiben, was da passiert ist,
weil ich seit 32 Jahren Mitglied einer BKK bin.
({4})
Da haben doch Arbeitgeberfunktionäre und Gewerkschaftsfunktionäre zugestimmt; denn sonst wäre es ja
nicht gegangen!
({5})
Ich sage auch einmal: Liebe Leute in den Arbeitgeberverbänden, jeden Tag die großen Reden halten, dass
die Lohnnebenkosten zu hoch sind und im Sozialsystem
gespart werden muss, aber dann keinen Mumm in den
Knochen haben, um in einer solchen Angelegenheit einmal mit Nein zu stimmen! Sie sind mir feine Herren!
({6})
Darauf, wie die Gewerkschaftsfunktionäre ihren Leuten erklären wollen, dass sie da zugestimmt haben, bin
ich auch gespannt.
Im Juni/Juli sind die Sozialwahlen bei den Krankenkassen. Wir aus der Politik sollten uns in einer Sache absprechen, nämlich dass es in diesem Jahr bei den Krankenkassen wieder einmal zu echten Wahlen kommt
({7})
und die Kartelle, die da seit Jahren bestehen - vielleicht
geht es für den einen oder anderen Verband mittlerweile
um Versorgungsposten -, endlich aufgebrochen werden
und neue Listen mit frischen Kandidaten zustande kommen, die mit diesem Gebaren in der Selbstverwaltung
aufräumen. Wir müssen dort wieder zu normalen und
vernünftigen Wahlen kommen. Das sollten wir einleiten.
({8})
Ich finde nicht, dass die IG Metall noch das Recht hat,
darin zu sitzen, wenn sie bei einer Kasse diesen Dingen
zugestimmt hat.
Wir sollten uns politisch wirklich einmal darum kümmern - das ist mein Appell heute -, dass die Sozialwahlen in Deutschland wieder richtige Wahlen werden, sodass am Ende verantwortungsbewusste Vertreterinnen
und Vertreter im Amt sind; denn darin liegt die einzige
Chance dafür, dass die Selbstverwaltung, die von der
Grundidee her eigentlich etwas Gutes ist, auf Dauer als
ein Ordnungsinstrument in der Sozialversicherung überlebt. Das sollte uns schon sehr am Herzen liegen.
Wir müssen uns auch weiter überlegen, wie die Sozialversicherungen einen Beitrag dazu leisten können,
dass wir wieder zu mehr Beschäftigung in Deutschland
kommen. Das wird nur gelingen, wenn wir einen Teil der
sozialen Sicherung in Deutschland vom Arbeitsverhältnis abkoppeln. Frau Ministerin, Sie nicken. Die Frage
des Ob ist unter Fachleuten eigentlich schon entschieden. In der jetzigen Lage kann die Politik nicht bis 2007,
also bis nach der nächsten Bundestagswahl, damit warten, eine Antwort auf die Frage des Wie zu geben.
Das Ob ist unter Fachleuten bereits entschieden. Geben wir doch jetzt gemeinsam - vor allen Dingen Sie zusammen mit dem Ministerium - eine Antwort auf das
Wie! Ich glaube, dass wir hier einen großen Beitrag für
mehr Beschäftigung leisten können. Wenn wir das aber
in den nächsten anderthalb Jahren nicht angehen und
weiter jeden Tag 700 Jobs verlieren, dann werden wir
uns wundern, wie schwer es sein wird, die Aufholjagd zu
gewinnen und Grund in die Sache zu bekommen.
Schönen Dank.
({9})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Peter Dreßen, SPD-Fraktion.
Kollege Laumann, gut gebrüllt zum Thema neue Listen für die Sozialwahlen! Aber ich glaube, dass Sie nicht
ganz zu Ende gedacht haben.
({0})
- Nein.
({1})
Kollege Laumann, das gab es doch schon. Damals haben
wir erlebt, dass Beschäftigte Interessenlisten aufgestellt
und auf Anhieb 50 Prozent gewonnen haben, obwohl die
Leute, die sie gewählt haben, nicht einmal wussten, was
sie eigentlich vertreten. Hinterher ist herausgekommen,
dass es sich um von Krankenkassen gesteuerte Listen
handelte. Wir sollten uns genau überlegen, wie die Sozialwahlen durchgeführt werden sollen
({2})
- das kostet natürlich wieder Geld; denn solche Wahlen
sind nicht billig -, und wir dürfen dabei nicht vergessen,
was in der Vergangenheit zum Teil passiert ist.
Der Kollege Zöller hat in seinem Eingangsreferat erläutert, allein die Versicherten seien für den Erfolg verantwortlich. Zugegeben, er hat Recht. Aber, Herr Kollege Zöller, wir dürfen nicht vergessen, dass wir
ursprünglich noch mehr wollten. Wir wollten auch die
Leistungserbringer ein bisschen mehr in die Pflicht nehmen. Hier wurden uns allerdings durch die Verhandlungen mit Ihnen Schranken gesetzt. Ich darf außerdem daran erinnern, dass wir die Einführung einer Positivliste
vorgeschlagen hatten, um die Pharmaindustrie etwas
besser in den Griff zu bekommen. Muss denn dieser Industriezweig erst Gewinne in Höhe von 25 Prozent des
Umsatzes machen, bevor es ihm gut geht? Ich habe erst
neulich wieder gelesen, dass eine Pharmaindustrie, die
einen Gewinn in Höhe von 15 Prozent des Umsatzes
macht, sozusagen Halsweh hat, dass es ihr schlecht geht
und dass sie dann Leute entlassen muss. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass die Einführung einer Positivliste nicht schlecht gewesen wäre.
Ich erinnere des Weiteren daran, dass wir einen Korruptionsbeauftragten haben wollten. Aber auch das ist
den Verhandlungen zum Opfer gefallen. Man muss ja
froh sein, dass die AOK Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen und einiges aufgedeckt hat. Einen
Korruptionsbeauftragten bräuchten wir sicherlich auch
in Zukunft. Kollege Zöller, ich könnte mir außerdem
vorstellen, dass die Umsetzung unseres damaligen Vorschlags für mehr Transparenz, wonach die Versicherten
der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur auf Verlangen, sondern obligatorisch eine Rechnung vom Arzt
bekommen sollten, einiges bewirkt hätte.
Als Letztes möchte ich auf das Thema Transparenz
noch genauer eingehen. Wir haben heute über die Gehälter der Vorstandsmitglieder der gesetzlichen Krankenkassen hart diskutiert. Dazu will ich nur sagen: Wenn es
das GMG nicht gäbe, würden wir darüber gar nicht diskutieren.
({3})
In § 35 a Abs. 6 des SGB IV steht jetzt, dass die Gehälter
veröffentlicht werden müssen. Das war früher nicht der
Fall. Gäbe es diese Vorschrift nicht, könnten wir uns nun
gar nicht streiten, weil wir die Höhe der Gehälter gar nicht
erfahren hätten. Insofern glaube ich, dass das GMG insgesamt gut ist. In diesem Zusammenhang denke ich insbesondere - deswegen kann ich Ihrer Aussage, allein die
Versicherten seien für den Erfolg verantwortlich, nicht
ganz zustimmen, Herr Kollege Zöller - an die I-Karte, die
Disease-Management-Programme und die Fallpauschalen, alles Dinge, die die Leistungserbringer zwingen, etwas zu tun.
Herr Parr, auf Sie möchte ich eigentlich gar nicht eingehen. Nur so viel: Wenn ich die Wahlprogramme Ihrer
Partei lese und mir die Äußerungen Ihres Vorsitzenden
vor Augen führe, dann muss ich feststellen, dass Sie nur
von Privatisierung reden. Ihr Motto scheint zu sein: Ab
in die privaten Krankenversicherungen! Haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie hoch allein die Verwaltungskosten der privaten Krankenkassen sind - sie sind
mehr als doppelt so hoch wie die der gesetzlichen Krankenversicherung - und was es für Familien und Rentner
bedeutete, wenn sie die hohen Beiträge zur PKV zahlen
müssten? Das wäre ein Unding hoch drei. Herr Parr, ich
kann nur der Kollegin Selg zustimmen, die vorhin Ihre
Ausführungen als eine interessengeleitete Rede zugunsten der PKV bezeichnet hat. Nichts anderes war Ihre
Rede!
({4})
Ich komme zum Schluss. Ich bin froh, dass wir mit
dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die beiden Solidargedanken - derjenige, der mehr verdient, hilft demjenigen, der weniger hat, und der Gesunde ist für den
Kranken da - erhalten haben und dass wir in Zukunft
den Solidargedanken mit unserem Gesetzesvorhaben zur
Einführung einer Bürgerversicherung noch ausweiten
wollen. Denn es weitet ihn aus, wenn Besserverdienende
in der gesetzlichen Krankenversicherung zum Beispiel
den Hartz-IV-Empfängern helfen und die Beiträge sinken.
({5})
Das ist eine gute Geschichte. Ich kann Sie nur auffordern, Ihre Blockadehaltung in dieser Hinsicht aufzugeben. Wir alle sind froh, wenn die Bürgerversicherung
kommt, wie wir es vorsehen.
({6})
- Das kann ich mir vorstellen.
Vielen Dank.
({7})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
Patientenverfügungen
- Drucksache 15/3700 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
René Röspel, SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wie werde ich sterben? Werde ich unter starken
Schmerzen leiden müssen? Werde ich einsam sterben
müssen? Allein in einem Krankenhauszimmer? An Kabel und Schläuche angeschlossen und einer nicht mehr
loslassen wollenden Medizin auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind Fragen, die für die meisten jüngeren Menschen - das ist
auch gut so - sicher noch kaum eine Rolle spielen. Für
viele sehr kranke oder ältere Menschen, für die der Tod
- oder treffender gesagt: das Sterben - näher kommt,
werden diese Fragen immer wichtiger.
Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages hat in der
letzten Legislaturperiode vor allem Themen bearbeitet,
die den Beginn des menschlichen Lebens betrafen,
Forschung an embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik beispielsweise. In dieser Legislaturperiode befasst sich die Enquete-Kommission nun auch mit
dem Ende des Lebens. Damit arbeiten wir an einem
Thema, das irgendwann in allen Familien besprochen
werden wird. Damit haben wir die Verantwortung angenommen, uns mit den Fragen zu beschäftigen, die ich
eingangs erwähnte.
Ich bin überzeugt, dass wir auf diese Fragen Antworten bieten können. Wir werden das in einem Bericht zu
Palliativmedizin und Hospizbewegung tun, den wir
nächstes Jahr vorstellen werden. Wir werden mit unseren
Antworten vielen Menschen die Angst vor einem
schmerzvollen Tod nehmen können. Wir werden Möglichkeiten aufzeigen, wie die Angst vor dem einsamen
Sterben genommen werden kann.
Dennoch bleibt es die Entscheidung eines jeden einzelnen Menschen, seine individuelle Antwort auf die
eingangs erwähnten Fragen zu finden. Es ist auch sein
unabdingbares Recht, dies zu tun. Jeder einwilligungsfähige Mensch, jeder, der in der Lage ist, die Bedeutung
und Tragweite seiner Entscheidung zu überblicken und
zu beurteilen, kann sein Recht auf Selbstbestimmung
wahrnehmen. Das kann auch bedeuten, dass er zum Beispiel eine medizinische Behandlung ablehnt, sei sie noch
so vernünftig oder sogar lebensrettend. Ein Arzt dürfte
ihn dann nicht behandeln. Genauso gut aber könnte sich
der Patient noch in der letzten Minute für die Therapie
entscheiden, die er noch vor kurzem abgelehnt hat.
Schwierig wird die Suche nach den richtigen Antworten auf diese Fragen, wenn ein Patient nicht mehr einwilligungsfähig ist und Dritte die Entscheidung für ihn treffen müssen. In diesem Zusammenhang sehen viele
Menschen - man schätzt, bis zu 10 Prozent der Bevölkerung - eine Lösung darin, eine Patientenverfügung zu
verfassen. Unter einer Patientenverfügung versteht man
gemeinhin eine Willensäußerung, mit der jemand festlegt, in welcher Weise er medizinisch behandelt oder
eben auch nicht behandelt werden möchte, falls er aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst zustimmungsfähig ist.
Weil dieses Thema bei den Menschen zunehmend Bedeutung erlangt und wir eine Verunsicherung bei der
Auslegung von Rechtsprechung bei Patienten und Ärzteschaft feststellen können, hat die Enquete-Kommission
im Oktober 2003 beschlossen, das Thema Patientenverfügung aus ihrem Aufgabenbereich „Menschenwürdig
leben bis zuletzt“ herauszunehmen und einen Zwischenbericht dazu vorzulegen.
Der Zwischenbericht, den wir heute debattieren, ist
nach fast einjähriger intensiver Beratung auch unter Zuhilfenahme externen Sachverstandes und nach Diskussionen in der Öffentlichkeit und Besuchen von Einrichtungen wie zum Beispiel Hospizen entstanden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal betonen,
für welchen beispielhaften parlamentarischen Glücksfall
ich das Instrument der Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages halte. Die Arbeitsweise und die
Zusammensetzung der Enquete-Kommissionen tun der
parlamentarischen Arbeit gut. Es ist gut, dass sich unser
Parlament diese Freiheit bewahrt.
13 Mitglieder des Bundestages aus allen Fraktionen
arbeiten mit 13 berufenen Sachverständigen gleichberechtigt zusammen. Meinungsbildung und -austausch
finden sehr häufig sehr intensiv und leidenschaftlich
- manchmal auch zum Leidwesen des Vorsitzenden - im
Plenum der Kommission statt. Jedes Mitglied bringt
seine politischen und fachlichen, aber eben auch seine
persönlichen Erfahrungen in die Arbeit mit ein. Wohl
deshalb finden Entscheidungen in der Regel über die
Parteigrenzen hinweg statt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen ganz herzlichen Dank an die Sachverständigen und an alle Mitarbeiter des Sekretariats der Enquete-Kommission richten,
die wirklich hervorragende Arbeit verrichtet haben.
({0})
Auch die Diskussion zum Zwischenbericht „Patientenverfügung“ ist sehr intensiv geführt worden. Die Enquete-Kommission ist der Ansicht, dass der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille eines Menschen
grundsätzlich verbindlich ist, wenn die Verfügung freiwillig und im Zustand der Einwilligungsfähigkeit abgegeben wurde. Arzt, Betreuer und Bevollmächtigter haben dann den Willen des Patienten umzusetzen, wenn es
keine Anhaltspunkte für eine Willensänderung gibt.
Einen Vorbehalt macht allerdings die absolute Mehrheit der Enquete-Kommission - wie ich finde, zu Recht -:
Eine Patientenverfügung kann nicht unabhängig vom
Krankheitsverlauf gesehen werden. Die Schwierigkeit
einer Patientenverfügung ist nämlich, dass sie sich auf
eine Situation in der Zukunft bezieht, auf den Krankheitsfall, in dem man nicht mehr selbst entscheiden
kann. Dieser Fall ist fast nie genau vorherzusagen. Eine
angepasste ärztliche Beratung und Information, die vielleicht unvorhersehbare Möglichkeiten aufzeigt, aber immer auch Voraussetzung für eine selbstbestimmte
Entscheidung ist, kann nicht mehr durchgeführt werden.
Es kann also dazu kommen, dass eine Patientenverfügung, die vor Monaten oder vielleicht vor Jahren von einem Gesunden verfasst worden ist, für eine jetzt eingetretene Krankheitssituation angewandt werden soll. Es
kann sein, dass der ursprünglich geäußerte Wille dem
jetzigen Wohl des Patienten elementar gegenübersteht.
„Wenn ich einmal dement bin, will ich keine medizinische Versorgung mehr!“ - Was soll der Arzt tun, der
diese Patientenverfügung liest, vor sich jedoch eine zwar
demente, aber in ihrer Art fröhliche alte Frau sieht, die
sich freut, wenn ihre Enkelkinder zu Besuch kommen?
Soll er sie an einer Lungenentzündung sterben lassen,
die durch Antibiotikagabe innerhalb weniger Tage wieder kuriert werden könnte? Die Mehrheit der EnqueteKommission sagt Nein und fordert eine gewisse Flexibilität, wenn es um die Entscheidung über Leben und Tod
geht.
({1})
Sie bewegt sich nach meiner Auffassung damit in einer
vermittelnden und abwägenden Position zwischen der
absoluten Selbstbestimmung und Durchsetzung des Willens auf der einen und dem Wohl des Menschen auf der
anderen Seite. Eine Minderheit der Kommission lässt
das Pendel eher zur Seite der vermeintlichen Selbstbestimmung ausschlagen.
Diese Frage, wie man sich bei dem Konflikt zwischen
Wille und Wohl entscheidet, wird sicher auch die nun
beginnende parlamentarische Diskussion bestimmen.
Wir geben die Entscheidung nun in die Hände des Parlamentes und in die Verantwortung eines jeden und einer
jeden einzelnen Abgeordneten. Nutzen Sie zu Ihrer Entscheidung die Grundlage, die wir mit unserem Zwischenbericht anbieten!
Ich bin mir sicher, dass wir - gleich wie wir letztendlich entscheiden werden - bei dieser schwierigen Frage
des Lebens und Sterbens immer Härtefälle haben werden. Deswegen wünsche ich uns allen eine glückliche
Hand und eine gute Entscheidung.
Danke.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Frage, wie man sich das Ende seines
Lebens vorstellt, ist eine sehr persönliche Frage. Die
meisten Menschen werden wohl den Wunsch haben, so
zu sterben, wie es die Bibel über Abraham schreibt: „alt
und lebenssatt“.
Mit der steigenden Lebenserwartung und dem
medizinischen und technischen Fortschritt erlangt das
Thema „Menschenwürdige Sterbebegleitung und Patientenverfügung“ zunehmend an Bedeutung. Der Umgang
mit Sterben und Tod ist ein zentrales Thema gerade
auch für uns Christdemokraten, denn es hat Bezüge zum
eigenen Menschenbild.
Nicht nur Wissenschaft und Politik, sondern auch die
Öffentlichkeit befassen sich mit der ethischen Fragestellung, was medizinisch am Lebensende eines Menschen
wünschenswert, sinnvoll, aber auch problematisch oder
sogar menschenunwürdig sei. Viele Menschen haben
Angst vor einer Situation, in der sie nicht mehr selber
einwilligungsfähig sind. Sie wollen nicht bei einer
schweren Krankheit oder am Lebensende gegen ihren
Willen einer technisierten Medizin ausgeliefert sein.
Uns ist es wichtig, die Menschen ernst zu nehmen.
Das heißt zum einen, die Palliativmedizin sowie die
Hospize auszubauen. Deutschland hängt auf diesem Gebiet der Entwicklung in anderen europäischen Ländern
erheblich hinterher. Die Hospizbewegung vermittelt
durch ihren ehrenamtlichen Einsatz den sterbenden
Menschen das Gefühl, dass sie bis zuletzt geachtet und
geliebt sind. Das heißt zum anderen, Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten zu ermöglichen. Diese stellen eine Möglichkeit für die Menschen dar, konstruktiv
auf solche Besorgnisse und Befürchtungen zu reagieren,
und bieten dem Patienten die Möglichkeit, zu vermeiden, dass in der Situation einer Einwilligungsunfähigkeit
etwas mit ihm passiert, geschieht oder bei ihm unterlassen wird, was er selber nicht möchte.
Für uns Christdemokraten stellen Patientenverfügungen und Palliativmedizin sowie Hospize einen humanen
Gegenentwurf zur aktiven Sterbehilfe dar, wie sie leider in den Niederlanden praktiziert wird. Auch die Kirchen haben dies mit ihrer „Christlichen Patientenverfügung“ zum Ausdruck gebracht.
Grundsätzlich gilt: Die Rechtmäßigkeit eines medizinischen Eingriffs ist von der Zustimmung des Patienten abhängig. Die Frage, mit der wir uns jetzt hier
befassen, ist die, ob dies auch bei einer Festlegung für
die Zukunft, also einer Vorausverfügung im Falle eigener Nichteinwilligungsfähigkeit uneingeschränkt gilt.
Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Bundestages hat sich für eine gesetzliche Verankerung der Patientenverfügung ausgesprochen,
um Rechtsklarheit zu schaffen. Sie hat jedoch eine inhaltliche Begrenzung vorgenommen, die extrem weit
reichende Verfügungen ausschließt. Insbesondere für
Grundleiden, die heilbar sind, wo es also Behandlungsmöglichkeiten gibt, sollte kein Ausschluss lebenserhaltender Maßnahmen im Voraus erfolgen können.
({0})
Bei Patientenverfügungen gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Lebens auf der einen
Seite und dem Recht auf Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Doch was ist das eigentlich: Selbstbestimmung? Für Frau Zypries scheint die Antwort unproblematisch: Sie will die aktuelle Einwilligung in eine
konkret in Aussicht gestellte Behandlung letztlich auf
das gleiche Niveau wie eine vor Jahren getroffene Verfügung stellen. Beides soll im entscheidenden Moment das
gleiche Gewicht haben. Aus dem bürgerlichen Recht
wissen wir aber, dass es schon bei weniger schwer wiegenden Festlegungen Einschränkungen gibt: Anfechtungsgründe, Kündigungsgründe und Möglichkeiten des
Widerrufs, um nur einiges zu nennen. Unser Recht geht
also relativ vorsichtig mit dem um, was Menschen
rechtsverbindlich erklären können. Ich denke, dies muss
erst recht bei Fragen gelten, bei denen es um Leben und
Tod geht.
Meine Damen und Herren, Selbstbestimmung bedeutet zunächst etwas ganz Konkretes: Ich befinde mich in
einer bestimmten Situation und entscheide aufgrund und
in Ansehung dieser Situation, was ich tue und was gegebenenfalls andere Menschen mit mir tun dürfen. Diese
aktuelle Selbstbestimmung erfährt in der Medizin keine
Einschränkung. Eine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Patienten ist nicht vertretbar. Hiervon zu trennen
ist jedoch die Möglichkeit des Menschen, im Voraus,
also für die Zukunft, eine bestimmte Entscheidung zu
treffen. Wir müssen uns klar machen: Menschen ändern
ihre Einstellungen im Laufe der Zeit. Erfahrungen, Lebensumstände, Alter, soziales Umfeld - all dies sind
Faktoren, die unsere Lebenspläne, unsere Wertvorstellungen und das, was wir als erstrebenswert, als erträglich
oder als wünschenswert empfinden, verändern. Es sind
die großen Krisen des Lebens, die unsere eigenen Vorstellungen und Meinungen vom Leben verändern. Das
gilt natürlich erst recht für die Sterbephase.
Es besteht ein Unterschied zwischen einer Entscheidung in der Gegenwart und einer Verfügung für die Zukunft. Wir müssen auch im Auge behalten, dass sich die
Festlegung für die Zukunft womöglich gegen den aktuellen Patientenwillen in einer konkreten Situation richten
kann. Wir müssen also mit Vorausverfügungen vorsichtig umgehen: Je schwerer eine Entscheidung wiegt und
je gravierender die Folgen eines Behandlungsverzichts
sind, desto mehr Vorsicht ist geboten. So stellt es zum
Beispiel einen Unterschied dar, ob ein Patient, der an einem tödlichen Krebsleiden erkrankt ist und in dessen
Gehirn sich Metastasen gebildet haben, für den Fall bald
eintretender Bewusstlosigkeit darum bittet, keine weitere ärztliche Behandlung zu erfahren, oder ob jemand
einmal vor langer Zeit als junger Mensch verfügt hat,
dass er keine Wiederbelebung nach einem Unfall
wünscht, wenn die Gefahr besteht, dass er infolge dieses
Unfalls an einen Rollstuhl gebunden sein wird. Beides
sind doch völlig unterschiedlich gelagerte Fälle.
Die Enquete-Kommission hat in der Mehrheit empfohlen, die Patientenverfügung auf die Fälle zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist und
trotz medizinischer Heilbehandlung aus ärztlicher Sicht
zum Tode führen wird. Eine zeitliche Nähe zum Tod ist
damit nicht erforderlich. Mit dieser inhaltlichen Reichweitenbegrenzung versuchen wir, den Problemen und
Gefahren von Vorausverfügungen Rechnung zu tragen,
ohne das Selbstbestimmungsrecht des Patienten unverhältnismäßig zu beschneiden.
Besonders bedenklich am Referentenentwurf von
Frau Zypries ist die Regelung zum mutmaßlichen Willen. Ist der Patient einwilligungsunfähig und hat keine
Patientenverfügung erstellt, wird dem Betreuer oder Bevollmächtigten eine unbeschränkte Entscheidungsbefugnis eingeräumt. Da keine Vorausverfügung vorliegt, wird
auf allgemeine Äußerungen zurückgegriffen. Die Entscheidung des Bevollmächtigten oder Betreuers wird
also regelmäßig auf Mutmaßungen beruhen. Hier können auch Missverständnisse entstehen.
Der Referentenentwurf sieht hierfür weder eine inhaltliche Begrenzung noch eine wirksame Kontrolle vor.
Dies schafft Missbrauchsgefahren und Rechtsunsicherheiten. Es wird die Möglichkeit eröffnet, dass Dritte
- nicht der Patient - unbegrenzt über das Weiterleben
des Patienten entscheiden. Der Bevollmächtigte kann sogar gegen den Willen des Arztes den Behandlungsverzicht verfügen. Dass ein Bevollmächtigter unter Umständen ein fremdes Interesse am Unterlassen der
lebensnotwendigen Behandlung haben kann, bleibt außer Acht.
Die Enquete-Kommission hat demgegenüber ein beratendes Konsil empfohlen, das eine vorherige Anhörung des Pflegepersonals, der nahen Angehörigen oder
mitbehandelnder Ärzte sicherstellt.
Meine Damen und Herren, das Thema Patientenverfügung ist aber nur ein Teilaspekt der Situation am Lebensende. Wer die Patienten und ihr Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt, muss beachten, was sie sich am
Lebensende wünschen, nämlich nicht allein gelassen zu
werden und nicht unter Schmerzen leiden zu müssen.
Die CDU/CSU fordert deshalb eine Verbesserung der
palliativmedizinischen Versorgung sowie einen Ausbau
der Hospize.
({1})
Unter den zahlreichen Briefen, die mich zu diesem
Thema erreichen, schrieb mir ein Ehemann über das
Sterben seiner Frau folgende Zeilen: Meine Frau hatte
zum Schluss Selbstbestimmung, Biografie und Sprache
verloren, nicht aber ihre Persönlichkeit. So weit reicht
die Reduktion nicht. Anmut und Würde bleiben ihr bis
zum Schluss erhalten. Von außen aber, für die Tüchtigkeitsfanatiker, hätte ihr Leben sicherlich keinen Wert
mehr gehabt.
Ich denke, diese Zeilen müssen uns alle nachdenklich
stimmen. Unsere Gesellschaft sollte sich der Auseinandersetzung mit dem Tod stellen und diesen nicht aus
der Lebenswelt der Menschen verbannen. Nur so können
wir angemessene Wege für ein Sterben in Würde finden.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Alte, gebt den Löffel ab!“, das war der Kommentar des
Jungliberalen Dittrich zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Nein, er habe natürlich mitnichten einen rotzfrechen Appell zum pflegekassen- und
erbenfreundlichen Frühableben beabsichtigt, sondern alles ganz harmlos und anders gemeint. Aber dieser vergiftete Pfeil haftet mit Widerhaken und er verstärkt die
unterschwellige böse Botschaft, der sich Alte, schwer
und chronisch Kranke täglich ausgesetzt fühlen, wenn
sie auf allen Kanälen und Sendern und in Zeitungen mit
immer neuen Meldungen von explodierenden Pflegekosten, der so genannten Vergreisung der Gesellschaft und
Pflegenotständen konfrontiert werden. Sie sehen sich einem aggressiven Jugend- und Vollkommenheitswahn
ausgesetzt, in dem ein gutes Leben im Rollstuhl, als Demenzkranker oder - wie Sie hier sehr eindrucksvoll gesagt haben, Herr Kollege Rachel - als Sterbender völlig
zu Unrecht überhaupt nicht mehr vorstellbar erscheint.
Viele alte Menschen haben dieses gesellschaftlich
vermittelte Zerrbild bereits verinnerlicht. Genau in diesem Sinne haben mir etliche alte Leute geschrieben, dass
ein Leben als schwer Pflegebedürftiger oder Demenzkranker nicht lebenswert sei und viel Geld zur Betreuung
verschlinge, für das die Gesellschaft, ihre eigenen Kinder und Enkelkinder sinnvollere Verwendungsmöglichkeiten hätten. Das zu lesen tut mir ziemlich weh.
Die allermeisten Menschen wünschen sich ein Sterben ohne unnötige Leiden und Schmerzen zu Hause,
pflegerisch und medizinisch gut betreut im Kreise vertrauter und lieber Menschen. Aber ganz im Widerspruch
zu diesem dringlichsten aller Wünsche sterben die meisten in Krankenhäusern oder anderen Einrichtungen. Mit
dem Tod hat die Gesellschaft auch die Sterbenden aus
ihrer Mitte verbannt. Schon der Philosoph Walter
Benjamin hat darauf hingewiesen, dass die bürgerliche
Gesellschaft ihren Mitgliedern die Möglichkeit verschafft hat, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. Er schrieb:
Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht
schon einmal jemand gestorben war. … Heute sind
die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie
werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den
Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.
Das Wissen darum, dass wir alle einmal sterben müssen, steht im schroffen Gegensatz zum weit verbreiteten
Unwissen über Tod und Sterben und macht uns anfällig
für vermeintlich klare und eindeutige Auswege aus diesem Dilemma. Nur vor diesem Hintergrund ist überhaupt zu verstehen, warum viele Menschen eine verbindliche Patientenverfügung, die ohne jede Begrenzung
auch für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bei
nicht tödlich verlaufenden Krankheiten gelten soll, für
den Königsweg zum Sterben in Autonomie und Selbstbestimmung halten. Begriffe wie Selbstbestimmung und
Autonomie suggerieren, dass das eigene Sterben mit einer Mentalität angegangen werden könne, die der Karriereplanung entspricht. Jeder, der jemals mit Kranken,
schwer Pflegebedürftigen, Gehandicapten oder Sterbenden zu tun hatte, weiß, dass das völlig lebensfremd ist.
Frau Ministerin Zypries, Sie wurden in einem Interview mit der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ am
18. November 2004 mit dem Beispiel eines jungen,
sportlichen Menschen konfrontiert, der vorausverfügt,
dass bei ihm nach einem schweren Unfall mit Querschnittslähmung alle lebenserhaltenden Maßnahmen abgebrochen werden müssen, weil er nicht im Rollstuhl sitzen will. Die Frage, ob das umzusetzen sei, bejahten Sie:
Wenn es eine völlig eindeutige Verfügung ist und
die Eltern diese nur nicht akzeptieren wollen, haben
sie keine rechtlichen Möglichkeiten.
Ich frage mich: Wie können Lebenspartner, Kinder
oder Eltern mit solch einem Handeln weiterleben? In
welche Rolle werden Ärzte und Pflegende gedrängt, deren Aufgabe das Helfen, Heilen, Lindern sowie die tägliche Pflege und Versorgung ist? In diesem Beruf erlebt
man tagtäglich, dass Menschen, wenn sie ansprechbar
und bei Bewusstsein sind, auch in schwierigsten Situationen, zum Beispiel einer Querschnittslähmung, zusammen mit ihren Ärzten und Verwandten durchaus Mut
machende neue Lebensperspektiven entwickeln.
({0})
Besonders für Demenzkranke und Wachkomapatienten wird immer wieder die Möglichkeit einer Einstellung der Ernährung eingefordert. Die Kollegen Röspel
und Rachel haben schon darauf hingewiesen. Ich habe
13 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, überwiegend
auf einer internistischen Intensivstation. Wir wissen aus
der Palliativmedizin, dass in der Sterbephase Ernährung
nicht angezeigt ist, weil sie eher Unwohlsein und Unbehagen beim Patienten verursacht. Wir wissen aber nicht,
wie eine Einstellung der künstlichen Ernährung zu einem früheren Zeitpunkt, deutlich vor der Sterbephase,
vom Patienten erlebt wird. Ganz klar sind aber die körperlichen Folgen: Die Einstellung der Ernährung hätte
den Tod des Patienten nach Wochen, wenn sowohl die
Ernährung als auch die Flüssigkeitsgabe eingestellt wird,
oder - bei Fortsetzung der Flüssigkeitsgabe - bis zu Monaten zur Folge. Im Klartext heißt das: Verhungern und
Verdursten.
Ich bin als Krankenschwester nie in eine solche Lage
gekommen. Es ist für mich schlechterdings unvorstellbar, dass eine Patientenverfügung dies in Zukunft möglich machen könnte.
({1})
Wie sollen wir Bundestagsabgeordnete den Schwestern
und Pflegern klar machen, dass es zukünftig zu ihren
Aufgaben gehören soll, Menschen zu pflegen und sie
gleichzeitig über Wochen verhungern zu sehen?
Wer je Wachkomapatienten gepflegt hat - ich habe sie
gepflegt -, erkennt an vielen Zeichen, ob er und sie sich
wohl fühlt oder ob dem Betreffenden etwas fehlt. Was
soll das für ein ärztliches Ethos sein, wenn Ärzte gesetzlich gezwungen würden, so etwas anzuordnen? Was soll
aus einer Gesellschaft werden, die im Namen von vorgeblicher Autonomie und Selbstbestimmung nicht Einwilligungsfähige auf solche Art und Weise dem jämmerlichen Verhungern und Verdursten anheim gibt?
Frau Ministerin Zypries und Herr Kauch, niemand im
Bundestag verwechselt aktive und passive Sterbehilfe.
Ich brauche aber kein Prophet zu sein, um vorherzusagen: Wenn in unseren Heimen und Krankenhäusern
Menschen auf diese Art und Weise verhungern und verdursten, dann wird der Ruf nach aktiver Sterbehilfe sofort laut erschallen. Das ist ganz klar.
({2})
Trotz aller Probleme gehören wir zu den reichsten
Ländern der Erde. Aber da, wo es um Krankheit, Alter
und Sterben geht, haben wir noch beschämend viel zu
tun. Glücklicherweise gibt es seit Jahren eine langsam,
aber stetig wachsende Bürgerbewegung für ein menschenwürdiges Leben bis zum letzten Atemzug, maßgeblich bewegt von den Hospizvereinen. Den Hospizvereinen, denjenigen, die die Menschen pflegen und
einen großen Teil ihrer eigenen Lebensqualität zurückstellen, weil es ihnen wichtig ist, dass Menschen in unserer Gesellschaft in Würde und gut aufgehoben krank sein
und sterben können, schulden wir sehr viel Dank. Ich
glaube, diesen Dank sollten wir alle immer wieder auch
bei unserer Wahlkreisarbeit aussprechen. Das will ich
auch hier tun: Vielen herzlichen Dank!
({3})
Diese beruflich oder ehrenamtlich Tätigen und die
Familienangehörigen sollten wissen: Sie haben im Parlament gute Bündnispartner, die wirklich notwendigen,
überfälligen Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Eine davon - aber nicht die bedeutendste - ist die Verbesserung
der Patientenverfügung als wichtiges Indiz für den Willen der Patienten. Das heißt aber auf gar keinen Fall, die
Patientenverfügung zum Goldenen Kalb der Patientenautonomie aufzublasen und sie zu vergötzen.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
FDP-Bundestagsfraktion und auch die Minderheit in der
Enquete-Kommission, zu der ich gehöre, begrüßen, dass
wir uns endlich auf der Grundlage des vorliegenden
Zwischenberichtes über das zentrale ethische Thema der
Patientenverfügung austauschen können.
Eines möchte ich voranstellen: Frau Nickels hat hier
wieder ein Beispiel dafür gegeben, wie zur Emotionalisierung der Debatte Dinge vermischt werden, die nicht
vermischt gehören.
({0})
Frau Nickels, zu der peinlichen Aufforderung, den Löffel abzugeben, möchte ich nichts sagen; das hat mit der
Diskussion hier nichts zu tun. Aber die Hysterie, die Sie
schüren, ist doch nur dazu geeignet, eine sachliche Auseinandersetzung zu verhindern. Das ist ein gängiges Argumentationsmuster und zeigt, in welcher Art und Weise
die Mehrheit in der Kommission hier agiert.
({1})
Wir reden im Zusammenhang mit der Patientenverfügung eben nicht über aktive Sterbehilfe oder assistierten
Suizid. Wir reden nicht über die gezielte Tötung von
Menschen. Es geht auch nicht um die Verweigerung indizierter und gewünschter Behandlungen. Vielmehr
streiten wir über die Regeln für Patientenverfügungen,
die vorsehen, eine Therapie abzubrechen oder gar nicht
erst aufzunehmen. Es geht nicht um Töten. Es geht um
Sterben-Lassen.
({2})
Es geht darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der
Patient das wünscht.
Bereits im Juni 2004 haben die Liberalen als erste und
einzige Fraktion einen Antrag zur Stärkung der Patientenautonomie und Patientenverfügung in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Leitbild ist dabei unser liberales
Menschenbild, das eines Menschen, der über sein Leben
auch in existenziellen Fragen so weit wie möglich selbst
entscheiden kann, ein Menschenbild, das Selbstbestimmung Vorrang vor Überlegungen Dritter gibt - und
seien sie noch so fürsorglich.
Frau Nickels, der Arzt kann gehen; der Patient kann
es nicht. Wenn sich ein Arzt aus seinen ethischen Grundüberzeugungen heraus nicht in der Lage sieht, eine Willenserklärung eines Patienten umzusetzen, dann muss er
dafür sorgen, dass ein anderer Arzt den Patienten betreut. Wenn sich kein Arzt findet, der es aufgrund seines
ärztlichen Ethos für vertretbar hält, dem Patientenwillen
zu folgen, dann werden wir es wahrscheinlich mit einer
Patientenverfügung zu tun haben, die nicht anwendbar
und umsetzbar ist.
Sie aber drehen die Argumentation um. Der Arzt
muss dies mit seinem Ethos vertreten; das ist Ihre zentrale Argumentation. Nein, Frau Nickels, der Patient ist
der Schwache, der nicht gehen kann und der vom Recht
geschützt werden muss.
({3})
Die eigentliche Trennlinie zwischen den Lagern in
dieser Diskussion liegt zwischen einem fürsorglichen
Paternalismus, der Zwangsbehandlung in Kauf nimmt,
und dem Vertrauen auf die Kraft und Urteilsfähigkeit des
einzelnen Menschen.
({4})
Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstellung
von einem autonomen Individuum. Natürlich ist der
Mensch in Beziehungen eingebettet. Er hat auch innere
Zwänge. Gerade bei der Patientenverfügung kommt
hinzu: Er verfügt etwas für die Zukunft, etwas, was er
nicht abschätzen kann, bei dem es Unsicherheiten gibt.
Der vorausverfügte Wille ist immer schwächer als der
aktuelle Wille. Aber was ist die Alternative? Die Alternative zu diesem schwächeren eigenen, vorausverfügten
Willen ist die Fremdbestimmung durch Dritte. Bei aller
Relativierung des autonom handelnden Menschen kann
ich als Liberaler nur sagen: Wir entscheiden uns - im
Leben wie im Sterben - für die Selbstbestimmung.
({5})
Meine Damen und Herren, die moderne Intensivmedizin hat bedeutende Möglichkeiten geschaffen, Leben
zu retten und zu verlängern. Manche Menschen erleben
dies als Chance, andere als unwürdige Behandlung. Die
Frage, ob lebenserhaltende Maßnahmen ein Geschenk
oder eine Qual sind, kann nur der einzelne Mensch für
sich entscheiden.
Jede medizinische Maßnahme - und eben nicht der
Verzicht darauf - ist durch die Einwilligung des Patienten zu rechtfertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung; dem Arzt drohen strafrechtliche Konsequenzen. Das gilt im Grundsatz auch für den nicht
einwilligungsfähigen Patienten. Die FDP will deshalb
die rechtliche Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
stärken. Die Patienten brauchen Rechtssicherheit, insbesondere dann, wenn sie am schwächsten sind, weil sie
nicht mehr kommunikationsfähig sind und sich deshalb
nicht mehr wehren können.
Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen
Körper gehört zum Kernbestand der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Wir
bedauern daher, dass die Mehrheit der Enquete-Kommission die Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen nicht ablehnt. Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen der Kommissionsmehrheit, mit Ihrem Entwurf setzen Sie die Patientinnen und Patienten gegen ihren erklärten Willen Zwangsbehandlungen aus. Damit
wird das Gegenteil von dem erreicht, was sich die Enquete-Kommission ursprünglich zur Aufgabe gemacht
hat.
({6})
Denn die Rechtsfigur des „irreversibel tödlichen Verlaufs“ macht den Patienten von einer ärztlichen Prognose abhängig; diese ist aber genauso mit Unsicherheiten verbunden wie die Vorausverfügung des Patienten.
({7})
Für den Anwendungsfall des Wachkomas geht die
Kommissionsmehrheit mit Blick auf die Selbstbestimmung noch hinter die Rechtslage zurück. Die Bundesärztekammer sagt, dass es sich nicht um Sterbende handelt - das ist richtig - und sie deshalb auch ernährt
werden müssen. Allerdings sagt sie weiter: unter Beachtung ihres Willens. Diese Einschränkung wischt die Enquete-Kommission einfach weg. Auch gegen den Willen
der Patienten sollen Magensonden gelegt, Sehnen zerschnitten, Antibiotika verabreicht und Reanimationen
durchgeführt werden.
({8})
Das hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun.
Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschränkungen setzen Sie sich locker hinweg. Wenn ein Zeuge
Jehovas sagt, niemals eine Bluttransfusion zu wollen,
auch wenn er deshalb sterben muss, dann halte ich das
für tragisch und falsch, aber ich muss es achten. Durch
eine Zwangsbehandlung würde in diesem Fall nicht nur
die Menschenwürde, sondern auch die Religionsfreiheit
mit Füßen getreten.
({9})
Die FDP möchte, dass Therapiebegrenzungen, Therapiewünsche und Therapieverbote in jeder Krankheitsphase möglich sind. Das gilt ausdrücklich nicht für die
Basispflege; sie muss immer sichergestellt sein, beispielsweise das Waschen und das Befeuchten der Lippen. Voraussetzung ist, dass die Patientenverfügung klar
definiert und anwendbar ist und dass sie - das ist etwas,
dem die FDP große Bedeutung zumisst - dem Patienten
noch personal zurechenbar ist. Hier kommen wir zu dem
Fall der Demenzkranken. Wenn die Patientin, wie beschrieben, offensichtlich glücklich lebt und gar nicht
mehr die Persönlichkeit darstellt, die sie einmal war,
wenn sie auch nicht mehr weiß, dass sie einmal eine Patientenverfügung abgegeben hat, dann muss man dies
natürlich anders bewerten, als wenn jemand, durch einen
Unfall verursacht, im Wachkoma liegt, seinen Willen
also nicht mehr ändern konnte und auch keine Willenserklärung mehr abgeben kann.
({10})
- Die Prüfung und Bewertung der Anwendung haben die
Entscheider vorzunehmen,
({11})
also entweder, wie es Frau Zypries und die FDP wollen,
im Falle des Konsenses der Arzt und der Betreuer bzw.
Angehörige oder eben, wie Sie es wollen, das Vormundschaftsgericht.
Wir von der FDP setzen uns - darin unterscheiden wir
uns von dem anderen Minderheitenvotum - nur für die
Schriftform ein, nicht für Aktualisierungs- und Beratungspflichten. Denn wir denken, dass es an der Lebenswirklichkeit vor allem älterer Menschen vorbeigeht,
wenn bestimmte Willenserklärungen nur deshalb unwirksam werden, weil der Stichtag vergessen wurde, an
dem eine weitere Unterschrift fällig war.
Kurz vor unserer Debatte hat Frau Zypries ihren Gesetzentwurf überraschend zurückgezogen. Wir waren
nicht in allen Punkten mit ihm einverstanden, aber wir
haben in der Richtung übereingestimmt. Sie sind leider
mit Ihrem Gesetzentwurf an den paternalistischen Hardlinern von Rot-Grün gescheitert.
({12})
Aus Sicht der FDP ist diese Entscheidung eine Bankrotterklärung. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der
Politik zu Recht eine Entscheidung in dieser Frage, die
die Bundesregierung aber nicht herbeigeführt hat.
Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von
Patientenverfügungen müssen noch in diesem Jahr neu
geregelt werden. Wir können die Neuregelung nicht wieder auf die nächste Legislaturperiode verschieben. Die
Menschen erwarten eine Antwort. Das Parlament muss
jetzt handeln.
Wir haben als einzige Fraktion einen Antrag zur Patientenverfügung in den Bundestag eingebracht. Wir werden auf dieser Grundlage gemeinsam mit denjenigen im
Parlament, die ähnlich denken wie wir, einen Gesetzentwurf erarbeiten, um diesen als Gruppengesetzentwurf in
den Deutschen Bundestag einzubringen und eine Entscheidung herbeizuführen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Streit, den wir heute erleben, und die Art und
Weise, in der er geführt wird, stimmen mich sehr nachdenklich. Der Ton, den Herr Kauch eben angeschlagen
hat, als er von Rechtsfiguren und Zwangsbehandlung gesprochen hat, verrät ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Strukturen, auf die wir angewiesen sind, wenn wir
krank sind. Das spricht aus dem, was von Herrn Kauch
eben dargestellt worden ist und was wir heute diskutieren.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach
Alternativen. Das Pflegepersonal und das ärztliche Personal in den Krankenhäusern beklagen sich sehr über
eine Verrechtlichung der Medizin. Sie sind an Qualitätsnormen gebunden, die sich am BGB orientieren. Sie
haben Behandlungsauflagen und Wirtschaftlichkeitsauflagen zu erfüllen, was sie auch tun. Das ist vermutlich
auch notwendig, aber es steht zum Teil im Widerspruch
zu dem, was sie aus Sorge und Fürsorge gegenüber den
Patienten für richtig halten.
Ich wünsche mir, dass wir Regelungen schaffen, die
das wertvolle Gut der Empathie des Pflegepersonals
und der Ärzte auch in Zukunft aufrechterhalten und die
nicht dazu führen, dass Menschen gegen ihr Gewissen
handeln müssen. Sie argumentieren, dass man sich
schließlich einen anderen Arzt suchen könne. Das ist
aber im Krankenhaus nicht so einfach. Im Krankenhaus
gibt es Regeln und Hierarchien. Die Regeln müssen auch
verlässlich sein, weil mit ihnen Haftungsfragen und
rechtliche Konsequenzen verbunden sind.
Wenn an die Stelle medizinischer Regeln und des Sorgeauftrags etwas Formales tritt, was allein kraft seiner
schriftlichen Form Gültigkeit hat und nicht aus Empathie
und Sorge entstanden ist, dann bedeutet dies einen Verlust, den wir nicht ersetzen können.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel anführen, um zu versuchen, das Dilemma ein wenig deutlicher zu machen. Ein
Ehemann hat eine Patientenverfügung verfasst, in der
festgeschrieben wird, dass in dem Fall, dass er in ein
Koma fallen sollte, nach sechs Wochen alle Apparate
und Maschinen ausgeschaltet und alle weiteren ärztlichen Maßnahmen eingestellt werden müssen. Aufgrund
eines Unfalls kommt er in genau die von ihm unmissverständlich beschriebene Situation. Als sechs Wochen vergangen sind, müssten nach dem Wortlaut der Verfügung
alle lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden.
Seine Frau, die als Betreuerin eingesetzt ist, berät sich in
dieser Situation mit den behandelnden Ärzten. Die Ärzte
erläutern ihr, dass noch eine gut begründete Hoffnung
besteht, dass ihr Mann wieder zu Bewusstsein kommen
könnte. Daraufhin entscheidet sie sich gegen die Patientenverfügung und für die Weiterbehandlung ihres Mannes. Nach einer gewissen Zeit gelingt es den Ärzten, ihren Mann aus dem Koma zu holen. Heute ist er am
Leben und auf dem Wege der Besserung. Wäre dagegen
seine Patientenverfügung angewandt worden, wie es in
dem inzwischen zurückgezogenen Gesetzentwurf des
BMJ zwingend vorgeschrieben werden sollte, dann wäre
dieser Mensch heute tot.
Oft wird einem, wenn man einen solchen Fall schildert, entgegengehalten, eine Patientenverfügung müsse
natürlich interpretiert werden, Patientenverfügungen
würden nur in den seltensten Fällen auf die tatsächlich
eingetretene Situation wirklich passen und Ähnliches.
Daher sei es auch nicht zwingend, eine problematische
Verfügung um jeden Preis umzusetzen.
Das mag zwar in vielen Fällen so sein. Aber in dem
gerade geschilderten Fall war es nicht so. Die Verfügung
war absolut unzweifelhaft und eindeutig. Außerdem war
genau die Situation eingetreten, die der Patient in seiner
Verfügung beschrieben hatte. Daran gibt es nicht das Geringste zu deuteln. Die Ärzte und Angehörigen haben die
Verfügung nicht interpretiert, sondern sie haben sich klar
und bewusst gegen die Verfügung entschieden. Dafür
hatten sie mehr als gute Gründe; denn sie konnten sicher
sein, dass der Patient, wenn er in der konkreten Situation
unter Kenntnis aller Umstände zu entscheiden gehabt
hätte, eine andere Entscheidung getroffen hätte als die,
die er vielleicht Jahre zuvor, als er seine Patientenverfügung verfasst hatte, niedergelegt hatte.
Auch muss man sich einmal vorstellen, was es für
Ärzte, Pflegepersonal und Betreuer bedeutet hätte, wenn
per Gesetz festgelegt worden wäre, dass eine Patientenverfügung eine rechtsverbindliche Willenserklärung
im Sinne des BGB darstellt. Dann hätten sie sich nämlich der Körperverletzung strafbar gemacht.
Kein Arzt würde einen Patienten, der über das, was
medizinisch möglich ist, genau aufgeklärt ist, gegen seinen erklärten und stabilen Willen behandeln; darüber
sind wir uns alle einig. Wer nicht behandelt werden will,
der darf auch nicht behandelt werden; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber dieser Grundsatz lässt sich
nicht eins zu eins auf das Thema Patientenverfügung
übertragen. Ein Patient, der im Koma liegt oder dement
ist, hat nicht die Chance, die aktuelle Situation zu beurteilen und auf dieser Grundlage seine Entscheidung zu
treffen. Er hat seine Entscheidung lange Zeit zuvor auf
der Grundlage seines damaligen Wissensstandes und seiner damaligen Haltung getroffen.
Vielleicht gibt es aber inzwischen neue therapeutische
Möglichkeiten. Vielleicht haben sich seine Einstellungen
inzwischen gewandelt. Vielleicht kann er trotz einer Demenz noch Freude am Leben haben, was diejenigen, die
den Patienten kennen, bemerken. Entsprechende Beispiele haben wir gehört. Deshalb darf eine Patientenverfügung nicht als fortwirkende rechtsverbindliche Willenserklärung im Sinne des BGB angesehen werden,
sondern sie ist die Äußerung eines Wunsches, die immer
im Licht der eingetretenen Situation bewertet und ausgelegt werden muss.
Das erfordert eingehende Beratung, die nicht von nur
einem Arzt oder einer Pflegekraft geleistet werden soll.
Vielmehr fordert die Enquete-Kommission - das halte ich
für den wichtigsten Vorschlag, den sie erarbeitet hat -,
dass es ein Konsil geben muss: Alle Personen, die dem
Patienten gegenüber Verantwortung tragen - die Ärzte,
das Pflegepersonal, die Angehörigen oder Betreuer sowie
die Bevollmächtigten - sollten zusammenkommen und
gemeinsam überlegen, was der Patient vor dem Hintergrund der vorliegenden schriftlichen und mündlichen
Willenserklärungen in seiner gegenwärtigen Situation
wollen würde.
({0})
In einem solchen Fall ist die Interpretation dieser Personen die beste Grundlage für eine Entscheidung.
Ich bin der Meinung, dass es nicht schadet, sondern
nützlich ist, wenn das Vormundschaftsgericht davon in
Kenntnis gesetzt wird. Ich möchte nicht, dass das Vormundschaftsgericht entscheidet. Allerdings möchte ich,
dass solch schwerwiegende Entscheidungen - die viel
schwerwiegender sind als Haushaltsauflösungen, die
dem Vormundschaftsgericht selbstverständlich vorgelegt
werden müssen - zumindest erfasst werden. Nur so können wir gewährleisten, dass wir in Deutschland - anders
als in der Schweiz, wo private Organisationen gegen
Geld Suizidhilfe betreiben - überhaupt wissen, was passiert. Das Beispiel aus der Schweiz, das genannt wurde,
zeigt, dass fast alle Menschen, die einen solchen Service
in Anspruch genommen haben, gestorben sind.
Herr Kollege!
Aber in den Fällen, in denen die Patienten genug Zeit
hatten, um sich ihre Entscheidung zu überlegen, und in
denen sie das tödliche Mittel nach Hause mitnehmen
durften, wie es in Oregon der Fall ist, sind nur
40 Prozent so gestorben, wie sie es einmal geplant hatten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Hier ist ein Wandel eingetreten. Deshalb denke ich,
dass wir eine falsche Patientenautonomie fordern, wenn
wir das Ganze verrechtlichen. Wir haben noch genug
Zeit, hier über dieses Thema zu diskutieren. Derzeit besteht kein Zeitdruck. Daher sollten wir nicht vorschnell
Änderungen der rechtlichen Regelungen beschließen.
Ich freue mich auf die Debatte.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller,
CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der Entwicklung der Spitzenmedizin ist
eine Dimension der persönlichen Betroffenheit und damit auch der persönlichen Verantwortung erreicht, die es
im Zusammenhang mit medizinischen Möglichkeiten
vorher so nicht gegeben hat. Deshalb ist es selbstverständlich, dass die Menschen in solchen Situationen verlässliche Orientierung brauchen. Sie müssen sich darauf
verlassen können, dass Mediziner, Juristen und Politiker
mit den wachsenden Möglichkeiten der Medizin verantwortlich umgehen.
Aber trotz aller Fortschritte, trotz vieler Erfolge,
Krankheiten auch im hohen Alter noch wirksam zu bekämpfen, gibt es selbstverständlich Grenzen. Sterben ist
in der Regel nicht die Folge des Scheiterns ärztlichen
Bemühens. Das muss man gerade vor dem Hintergrund
der hohen Erwartungshaltung an die Medizin immer
wieder neu betonen. Sterben lassen - das ist auch ein
Stück Respekt vor der Würde von Menschen, die nicht
mehr behandelbar sind und denen ein qualvoller Tod erspart werden sollte.
Aber wann sind diese Grenzen der Therapie und des
ärztlichen Heilauftrages erreicht? Gibt es Grenzen der
Zumutbarkeit für die Patienten? Wann kann ein Mediziner es überhaupt verantworten, den letzten Schritt, den
Therapieverzicht, zu gehen? Ist das mit seinem Berufsethos vereinbar? Wann hat das Selbstbestimmungsrecht
des Patienten Vorrang vor der Garantenpflicht des Arztes?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind Fragen, die gerade bei der Behandlung älterer und schwerstkranker Menschen für Ärzte und Angehörige nicht nur
schwer zu beantworten, sondern oft auch schwer erträglich sind.
Die Grenzen der Behandlung kann auch der Gesetzgeber nicht Punkt für Punkt definieren. Man kann nicht
in Richtlinien festhalten, wann im Einzelfall eine Therapie an ihre Grenzen stößt. Das ist angesichts der Komplexität von Krankheiten im Alter weder möglich noch
wünschenswert. Damit würde sich nämlich der Staat
sehr schnell zum Zensor ärztlichen Handelns machen.
Das ärztliche Berufsethos steht und fällt damit, dass
der Arzt keine andere Aufgabe übernimmt als den Dienst
am Leben. Er ist damit ein Anwalt des Schutzes menschlichen Lebens und der Menschenwürde verpflichtet.
Aber ebenso selbstverständlich ist es, dass es auch nicht
human sein kann, jeden Menschen, dessen Organismus
definitiv versagt und dessen Leben zu Ende geht, mit allen Mitteln der Technik am Leben zu erhalten.
Schutz menschlichen Lebens - das kann für einen
Todkranken auch heißen, ihm jede erdenkliche Hilfe in
der letzten Lebensphase im Sinne einer Hilfe im Sterben zu gewähren. Menschen haben ein Recht darauf,
dass man sie menschenwürdig sterben lässt, wobei allerdings auch gilt: Nicht alles, was ein Patient will, zum
Beispiel seine Tötung, kann der Patient erzwingen. Hier
hat die Selbstbestimmung eine klare Grenze.
Aber nichts, was er nicht möchte, muss er sich gefallen lassen, zum Beispiel eine Operation zur Verlängerung des Sterbeprozesses. Denn nicht die Effizienz der
Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und
der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung bestimmt die Grenzen der Behandlungspflicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sterbebegleitung - das heißt, Hilfe
im Sterben - ist etwas ganz anderes als Hilfe zum Sterben. Die absichtliche Tötung, die gewaltsame Beendigung des Lebens, also die so genannte aktive Sterbehilfe
und damit auch Tötung auf Verlangen, rühren an die
Grundlagen der Menschlichkeit in unserer Kultur.
Die Enquete-Kommission hat die Patientenverfügung zu Recht eingebettet in das große Ganze der Bemühungen um ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt.
Wenn wir uns dem Thema „Tod und Sterben“ allerdings
von der Seite der Patientenverfügung her nähern, zäumen wir das Pferd quasi von hinten auf. Die Patientenverfügung und der berechtigte Wunsch nach Selbstbestimmung dürfen eben nicht abgekoppelt werden von
den Bemühungen um eine Stärkung der Hospizarbeit
und der Palliativmedizin.
({0})
Neben der medizinischen Behandlung und Pflege umfasst die Sterbebegleitung aber auch eine ganz persönliche Betreuung. Es geht um den Aufbau einer Beziehung, in der sich der Patient angenommen und mit
seinen Sorgen und auch mit seinen Ängsten nicht allein
gelassen fühlt. So darf gerade Zeit am Sterbebett kein
knapp kalkuliertes Gut sein. Zuwendung, insbesondere
Gespräche mit Sterbenden über Belastendes, sind, wie
ich meine, unverzichtbarer Bestandteil einer angemessenen, würdigen Begleitung im Sterbeprozess.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Auseinandersetzung darf die Gesellschaft aber nicht allein den so genannten Profis wie Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern überlassen bzw. aufbürden. Die Bereitschaft in
unserer Gesellschaft muss wachsen, hier in der Familie,
im Freundes- und Bekanntenkreis wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Es scheint modern zu sein, in
Beziehungen möglichst unverbindlich zu sein. Aber was
macht Partnerschaft und Familie noch aus, wenn die Beziehungen nicht die Tiefe haben, dass sie Fürsorge und
Begleitung bis zuletzt umfassen?
({2})
Deshalb muss die Betreuung Sterbender insgesamt darauf ausgerichtet sein, so viel Lebensqualität wie möglich zu erhalten. Dazu gehört auch jede schmerzlindernde Therapie und ganz besonders menschliche
Zuwendung. Wenn wir in diesem Geist gemeinsam das
Ziel erreichen, hätte der Bundestag eine sehr menschliche Aufgabe positiv erledigt.
Vielen Dank.
({3})
Kollege Zöller, als ich hier vor zwei Stunden vom
Vorsitz der Sitzung abgelöst wurde, haben Sie geredet.
Jetzt komme ich wieder, und Sie reden noch immer.
({0})
Das bringt meine Vorstellungen über die von den Fraktionen gewährten Redezeiten endgültig zum Einsturz.
Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Selbstbestimmungsrecht gehört zum Kernbereich
der grundgesetzlich geschützten Würde und Freiheit des
Menschen. Es wird durch die Willensäußerung des entscheidungsfähigen Menschen ausgeübt. Relevante Festlegungen können auch in die Zukunft wirken. Das deutsche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des
Menschen über seinen Körper höher als die Schutzpflichten anderer für sein Leben.
({0})
Das ist auch der Grund dafür, dass alle ärztlichen Eingriffe nur nach einer Einwilligung zulässig und ohne
Einwilligung strafbar sind.
Wie steht es aber um die Selbstbestimmung und
Menschenwürde der 70 Prozent aller Menschen, die in
Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen sterben? Zwei
Drittel der im Krankenhaus Beschäftigten sagen dazu,
dass ein würdevolles Sterben im Krankenhaus nicht
möglich sei. Die meisten Mediziner sind sich einig: Der
Zeitpunkt und die Art des Sterbens werden zunehmend
von medizinischen Entscheidungen bestimmt. So sind
heute, wie es der Berliner Palliativmediziner Professor
Christof Müller-Busch sagt, Sterben und Tod zu einer
medizinischen Aufgabe geworden, da es immer weniger
von den Krankheiten selbst abhängt, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärztlichen Maßnahmen.
Er führt weiter aus, dass Sterben innerhalb medizinischer Institutionen letztlich immer nur dann ermöglicht
wird, wenn auf Maßnahmen verzichtet wird, die zu
einer, wenn auch begrenzten, Lebensverlängerung beitragen könnten.
Aber gerade mit dieser Verzichtsentscheidung entstehen viele ethische Probleme und sie stellt in der Tat hohe
Anforderungen an alle Beteiligten. Da ist es gut, zu wissen, wie die Person selbst entschieden hätte. In solchen
Situationen sind Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten, wie sie 20 Prozent aller im Hospiz Behandelten haben, wichtige Hilfen, um Entscheidungen zu
treffen, die dem Willen der Patientin und des Patienten
entsprechen. Hier stellt sich die zentrale Frage: Muss der
in einer Verfügung festgelegte Wille unabhängig vom
Krankheitsstadium befolgt werden - zumal wenn er
genau die Situation beschreibt - oder darf man den Willen missachten, weil der Patient ihn nicht mehr bestätigen kann und ein Dritter für ihn bzw. gegen ihn entscheidet? Ich sage dazu: Nein. Ich finde, das wäre eine falsch
verstandene Fürsorge.
Nach einer Umfrage glauben 50 Prozent der befragten
Ärzte, es sei aktive Sterbehilfe, wenn sie aufgrund des
geäußerten Willens des Patienten die Atemgeräte abstellen. Das macht nicht nur fehlendes juristisches Wissen
deutlich, sondern das ist auch ein Indiz dafür, dass es zur
Nichtverwirklichung der Patientenautonomie kommt.
({1})
Durch das BGH-Urteil vom 17. März 2003 wurde
zwar die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung bestätigt, trotzdem herrscht in der Bevölkerung auch aufgrund
der unterschiedlichen Rechtsprechung eine große Unsicherheit. Darum unterstütze ich das Bestreben der Bundesjustizministerin, das Selbstbestimmungsrecht durch
gesetzliche Regelungen auch am Lebensende zu stärken
und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Das bedeutet
nicht den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in
der Vergangenheit vielfach behauptet wurde.
({2})
Nur durch vier Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung überhaupt wirksam:
Erstens. Die in der Verfügung beschriebene Situation
stimmt mit der konkreten Situation überein.
Zweitens. Der Wille ist noch aktuell; es gibt keine
Anzeichen einer Willensänderung.
Drittens. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor,
dass die Verfügung durch äußeren Druck entstanden ist.
Viertens. Es wird keine aktive Sterbehilfe verlangt.
Ich habe den Eindruck, insoweit sind wir uns in diesem Hause einig. Die in den letzten Monaten mit großer
Heftigkeit geführte Auseinandersetzung drehte sich aber
darum, ob eine solche Patientenverfügung nur für den
Fall Gültigkeit haben darf, dass das Leiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf haben wird.
Ich sage dazu: Nein. Wenn ein aktuell einwilligungsfähiger Mensch lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille auch geachtet werden, wenn
er im Voraus für eine bestimmte Situation geäußert
wurde, in der keine Äußerungsfähigkeit mehr gegeben
ist. Achtet man den Willen nämlich nur im Falle eines
tödlichen Verlaufs des Leidens, dann bedeutet das im
Umkehrschluss eine Zwangsbehandlung, die nicht erlaubt ist. Wir alle kennen doch die Situation, in der der
Einsatz in der Intensivmedizin dazu führt, dass Menschen jahrelang am Sterben gehindert werden.
Ich bin aber auch der Meinung, dass in den nicht sterbenahen Situationen besondere Anforderungen an die
Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu stellen
sind, durch die einerseits das Recht auf Selbstbestimmung geschützt und andererseits der Schutz schwerstbehinderter Menschen ermöglicht und Missbrauch vermieden wird. Darüber sollten wir in den nächsten Monaten
in aller Ruhe diskutieren.
Ich muss aber sagen: Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, nur einem Teil der 180 verschiedenen
Verfügungsmuster Respekt und Anerkennung zu zollen
und das Selbstbestimmungsrecht, das in anderen Verfügungen zum Ausdruck kommt, zu missachten. Wenn es
hierüber in diesem Hause keine Verständigung geben
sollte, dann sollten wir überhaupt keine gesetzliche Regelung treffen, sondern alles so lassen, wie es ist.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun die Bundesministerin Brigitte
Zypries.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Enquete-Kommission hatte sich
mit allen Themen an der Schnittstelle von Ethik und
Recht zu befassen. Das sind immer Themen, die ganz
besonders emotional bestimmt sind und deren rechtliche
Bedeutung ganz besonders schwierig zu definieren ist.
Das zeigt sich auch wieder an der Debatte um den Geltungsbereich der Patientenverfügung.
Es stellt sich die Frage, wie diese Gesellschaft mit
dem Tod umgeht. Sie steht immer im Hintergrund und
wurde von den Vorrednerinnen und Vorrednern schon
diskutiert. Jeder Einzelne hat aufgrund familiärer Ereignisse oder aufgrund von Sterbefällen im Freundeskreis
einen eigenen Erfahrungshintergrund und meint, in gewisser Weise mitreden zu können, wenn ich das so sagen
darf. Eine andere Frage ist, welche rechtliche Verbindlichkeit Entscheidungen in diesem Rahmen haben können.
Ich finde es schön, dass die Debatte wieder einen gewissen Grad an Sachlichkeit erreicht hat. Insbesondere
danke ich meiner Vorrednerin dafür;
({0})
denn das ist mir wichtig. Ich möchte auch gerne, dass
Sie hier zur Kenntnis nehmen, dass ich das Recht des
Parlaments sehr wohl achte. Es kann deshalb keine Rede
davon sein, dass ich einen Gesetzentwurf zurückgezogen
habe. Der entsprechende Entwurf war noch gar nicht
eingebracht, weil er über das Stadium eines Referentenentwurfs überhaupt nicht hinausgekommen ist.
({1})
Anlass dafür, dass wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu beschäftigen, war die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs. Dass ein Bedarf besteht, sich mit
der Frage „Wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit
Patientenverfügungen um?“ auseinander zu setzen, erhellt doch nicht zuletzt die Tatsache, dass es in Deutschland bereits 7 Millionen Patientenverfügungen gibt.
({2})
Trotzdem besteht große Rechtsunsicherheit darüber,
welchen Geltungsbereich sie haben. Sie alle haben dazu
viel Post bekommen. Bei uns im Ministerium ist bisher
zu keinem anderen Thema so viel Post wie zu dieser
Frage eingegangen. Die Mehrzahl der Menschen treibt
die Frage um: Wie kann ich mich darauf verlassen, dass
das, was ich will, tatsächlich gemacht wird? Dieses Problem bewegt die Menschen. Ich meine, dass sich der
Bundestag damit auseinander setzen muss.
({3})
Der Gesetzentwurf wurde also nicht zurückgezogen.
Vielmehr wird der Entwurf von Joachim Stünker, dem
rechtspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und anderen Rechtspolitikern übernommen.
({4})
Dieser Gesetzentwurf ist nicht allein in unserem Hause
entstanden, sondern er beruht auf der langen Arbeit einer
Arbeitsgruppe, in der Ärzte, Juristen, Vertreter der Hospizbewegung, Wohlfahrtsverbände, Patienten- und Verbraucherschutzverbände sowie die beiden großen Kirchen mitgewirkt haben. Es ist also nicht so, dass an
diesem Entwurf zwei Beamte gearbeitet und vorgegeben
haben, wie er aussehen soll, sondern all diejenigen, die
sich auch jetzt an diesem gesellschaftlichen Diskussionsprozess beteiligen, waren auch damals dabei.
Ausgangspunkt der Überlegungen dieser Arbeitsgruppe, die ich mir zu Eigen gemacht habe, war in der
Tat die Feststellung, dass jeder Mensch das Recht hat, in
jeder Phase seines Lebens für sich zu entscheiden, ob
und welche medizinischen Maßnahmen für ihn ergriffen
werden. Ich sage immer: Der Arzt empfiehlt die Therapie und der Patient muss entscheiden, ob er sie macht.
Das ist der normale Gang der Dinge.
({5})
Umgekehrt ist schön, dass auch klargestellt wurde, dass
wir nicht über aktive Sterbehilfe reden. Niemand darf
- das ist ganz klar - einen anderen Menschen aktiv töten.
Tötung auf Verlangen ist und bleibt strafbar. Darüber reden wir in diesem Zusammenhang gar nicht.
Wir stellen uns die Frage: Wie kann der Wille der
Menschen, die sich nicht mehr artikulieren können,
transportiert werden? Das kann sich zum einen auf die
Frage beziehen - das möchte ich gerne noch einmal
deutlich machen -, was alles nicht gemacht werden soll;
dieser Aspekt ist schon mehrfach beleuchtet worden.
Das kann sich zum anderen auch darauf beziehen, dass
jemand in seiner Patientenverfügung festlegt, dass für
ihn alles medizinisch Mögliche getan wird, damit er so
lange wie möglich lebt. Ich möchte herzlich darum bitten, dies bei der ganzen Debatte nicht zu vergessen. Es
geht nicht um die Frage: Wie sterbe ich schneller? Vielmehr geht es darum: Wie transportiere ich meinen Willen? Natürlich kann der Wille auch darauf gerichtet sein
- das sagte ich eben -, dass alles medizinisch Mögliche
unternommen wird. Diesen Punkt sollten wir nicht vergessen.
({6})
Ich möchte gerne noch drei Punkte ansprechen. Es
muss klargestellt werden, dass eine Patientenverfügung
so lange gilt, wie keine Anhaltspunkte dafür vorliegen,
dass sie widerrufen wurde. Das heißt, man muss von einer bestimmten Aktualität ausgehen. Ihre Beispiele von
mehrere Jahre alten Verfügungen lassen natürlich den
Patientenwillen fragwürdig erscheinen, weil man nicht
weiß, was sich in der Zwischenzeit verändert hat. Unsere
Arbeitsgruppe hat empfohlen - das hat mir eingeleuchtet -, an das Ende eine Gesamtschau des Lebens zu stellen und die Lebenssituation des Patienten zu beschreiben, damit sich Arzt oder Ärztin ein Bild über die Person
machen können.
Die Patientenverfügung muss in jedem Krankheitsstadium gelten. Die Einschränkung der Reichweite, die hier
auch schon behandelt wurde, halte ich für nicht vertretbar. Ich möchte Sie bitten, dass bei der sicherlich stattfindenden Anhörung dazu auch Verfassungsrechtler gehört werden.
({7})
Mir scheint es in der Tat auch ein verfassungsrechtliches
Problem zu sein, inwieweit der Staat legitimiert ist, das
Selbstbestimmungsrecht der Menschen für einen bestimmten Zeitraum ihres Lebens einzuschränken.
({8})
Solange jemand reden kann, ist das unbestritten. Wenn
die Krankheit einen irreversiblen tödlichen Verlauf
genommen hat, ist es auch unbestritten. Die Frage ist:
Woraus ergibt sich die staatliche Legitimation, in
einem bestimmten Stadium festzulegen, dass nun der
Mensch nicht mehr selber entscheiden darf? Das müssen
wir, der Gesetzgeber, legitimieren; denn sonst darf er
nicht in die Grundrechte eingreifen. Das ist das kleine
Einmaleins der Grundrechte.
Natürlich müssen Patientenverfügungen immer in irgendeiner Form ausgelegt werden. Es wird selten sein
- das wurde schon gesagt -, dass der Fall hundertprozentig eintritt. Insofern kann ich Ihr Beispiel, Herr
Wodarg, nicht ganz nachvollziehen. Selbstverständlich
steht dahinter die Einschätzung, dass nach einer bestimmten Zeit im Koma ein bestimmter Prozess eingetreten ist. Wenn Ärzte aber bescheinigen können, dass
dieser Prozess eben nicht eingetreten ist, sondern es nur
eine Woche länger dauert als üblicherweise,
({9})
dann ist die Auslegung der Patientenverfügung, dass
er es so nicht gemeint hat, nur natürlich.
({10})
- Wir werden das alles diskutieren. Meine Redezeit läuft
mir leider weg.
Ich komme zur Frage der zwingenden Formvorschriften. Wir hatten ursprünglich gesagt, dass die Patientenverfügung nicht schriftlich vorliegen muss. Wir haben jetzt mit Herrn Stünker darüber gesprochen und sind
zu der Überzeugung gekommen, dass es doch sinnvoll
sein kann, der Schriftform wenigstens eine stärkere Verbindlichkeit zu geben. Das werden wir noch diskutieren.
Wie das ausformuliert wird, muss Herr Stünker mit seiner Gruppe entscheiden. Es kann in der Tat so sein, dass
der schriftlich geäußerte Wille gegenüber dem mündlichen besonders hervorgehoben werden soll. Mir wäre
wichtig, dass klar ist, dass erstens der mündliche Wille
gilt und dass zweitens die schriftliche Verfügung auch
mündlich widerrufen werden kann.
({11})
Wir wollen hinterher am Krankenbett nicht einen Streit
über Formalitäten austragen. Das würde niemand wollen.
Ein Aspekt ist mir noch wichtig: Die generelle Einschaltung des Vormundschaftsgerichts, die Sie und die
Mehrheit der Enquete vorsehen, und auch die vorgeschaltete Einbindung eines Konsils scheint mir in dieser
Generalität nicht praktikabel.
({12})
Wir müssen auch darauf achten, was vernünftig ist.
Wenn weder beim Arzt noch beim Betreuer Zweifel über
den Patientenwillen bestehen, dann kann ich nicht erkennen, warum ein Gericht angerufen werden soll. Ich
würde herzlich bitten, darüber noch einmal zu diskutieren. Das Gericht sieht die Sache völlig von außen und
kennt weder den Patienten noch den Arzt oder den
Krankheitsverlauf. Darüber hinaus hat es keinen medizinischen Sachverstand. Das scheint mir nicht vernünftig.
Ich freue mich auf eine sachliche und intensive Diskussion mit Ihnen in der nächsten Zeit.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns vor wenigen Wochen erst im Rahmen der
zweiten Änderung des Betreuungsrechts mit der Stärkung der Vorsorgevollmacht befasst und dabei dort und
auch in anderen reformbedürftigen Punkten großes Einvernehmen in diesem Haus erzielt. Es bleibt zu hoffen,
dass uns das jetzt mit den anstehenden Beratungen zur
dritten Änderung des Betreuungsrechts ebenso gelingt.
Es geht um die Patientenverfügung.
Wir wissen, dass die Thematik ungleich schwieriger
ist als bei der Vorsorgevollmacht. Das kann man schon
feststellen, wenn man sich mit dem Zwischenbericht der
Enquete-Kommission befasst, aber auch wenn man die
vielen Eingaben liest, die von Verbänden und Bürgern
kommen. Ich nenne stellvertretend für viele die Deutsche Hospiz-Stiftung und die beiden Kirchen.
Die Erwartungen, aber auch die Ängste der Menschen
in unserem Land müssen in den anstehenden Beratungen
aufgenommen werden. Im Spannungsfeld zwischen dem
grundrechtlich verankerten Schutz des Lebens und dem
ebenso im Grundgesetz verankerten Recht auf Selbstbestimmung müssen auf breiter Basis tragbare Regelungen
gefunden werden.
Dabei geht es auch um die Frage nach dem wertgebundenen Maßstab von Politik, um die Frage nach dem
Menschenbild. Unser europäisches Menschenbild, das
auch unserer Verfassung zugrunde liegt, hat antike, jüdische und vor allem christliche Quellen. Dieses Menschenbild bestimmt sich über den Begriff der Würde, die
absolut ist. Wer diesen Absolutheitsanspruch versagt,
muss wissen, dass er damit Dritten eine Verfügungsvollmacht zubilligt, die das Ende der Selbstbestimmung eines Menschen bedeutet.
({0})
Die Würde des Menschen ist vor jeder Einschränkung
zu schützen, und zwar unabhängig von seiner augenblicklichen Verfassung. Die Würde ist unantastbar und
damit sind auch der eigenen Gestaltungsmacht Grenzen
gesetzt. Der Natur ihr Recht zu belassen, verlangt den
Verzicht auf sterbebeschleunigende Maßnahmen und gebietet umgekehrt nicht den Einsatz einer lebensverlängernden Maßnahme um jeden Preis.
Die Schlussfolgerung hieraus ist - bei einem christlichen Menschenbild - ein unmissverständliches Verbot
der aktiven Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe hingegen,
die auf ein menschenwürdiges Sterben-Lassen hinzielt,
ist erlaubt, vielleicht sogar in einer größeren Zahl von
Fällen geboten.
Wenn nun die Frage gestellt wird: „Wer entscheidet,
was zu tun oder zu lassen ist?“, dann steht sicherlich der
Wille des Patienten - bei Begleitung durch den Arzt im Vordergrund. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben hierbei einen Rahmen zu setzen, in dem eine Entscheidung zu treffen ist. Letztlich fließen zahllose Einzelgesichtspunkte in die Entscheidung ein, die ein kluges
und bedachtes Urteil erfordern.
Eine komplette Verrechtlichung dort vorzunehmen,
wo der Mensch dem Gang der Natur folgend die Grenze
zwischen Leben und Tod überschreitet, bringt uns keiner
Lösung näher; denn dann schlägt nicht die Stunde des
Juristen oder des Philosophen; dann geht es allein darum, dass der Mensch dem Menschen als Mensch begegnet.
Die Erfahrungen in der Palliativmedizin und der Hospizbewegung sind in dieser Situation identisch. Kein
Schwerkranker will sterben, wenn seine Schmerzen und
andere Symptome kontrolliert sind und er als Mensch
angenommen ist. Dieser elementare Lebenswunsch des
Schwerkranken muss Wegweiser für uns und insbesondere für die flächendeckende Ausweitung der Palliativmedizin und der Hospizbewegung sowie auch für die
qualifizierte Aus- und Weiterbildung der dort tätigen
Menschen sein.
({1})
Wenn der Wille des Patienten wesentlicher Maßstab
des Handelns sein soll, dann findet er in der Patientenverfügung den richtigen Niederschlag und als Ausdruck
der Selbstbestimmung seine Rechtfertigung in der Verfassung. Bislang ist die Patientenverfügung gesetzlich
nicht geregelt, aber viel diskutiert. Fragen bestehen in
vielerlei Hinsicht, etwa bezüglich der Wirksamkeitsvoraussetzungen, der Umsetzung oder der Beteiligung des
Vormundschaftsgerichts.
Der BGH hat bereits vor zwei Jahren die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung für die Fälle bestätigt, in
denen ein Patient einwilligungsunfähig ist und die
Krankheit einen irreversiblen Verlauf genommen hat.
Soweit ein solcher erklärter Wille nicht festgestellt werden kann, so der BGH, beurteilt sich die Zulässigkeit etwaiger Maßnahmen nach dem mutmaßlichen Willen,
wobei in Betreuungsfällen bei Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts erforderlich ist.
Wenn nun der Gesetzgeber mit Blick auf die Rechtsprechung gefragt ist, ein Stück weit Rechtssicherheit zu
schaffen, führt schon die Frage der Gültigkeit zu einer
großen Diskussion. Wir sind bereits in der EnqueteKommission unterschiedlicher Auffassung. 7 Millionen
Patientenverfügungen - wir haben es gerade gehört zeigen den dringenden Regelungsbedarf auf. Im Konsens darüber, dass die Basisversorgung, das heißt Ernährung und Körperpflege, nicht zur Disposition stehen
darf, scheint der von der Deutschen Hospiz-Stiftung aufgezeigte Weg vorzugswürdig zu sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Ja.
Bitte, Frau Nickels.
Frau Kollegin, die Zahl von 7 Millionen Patientenverfügungen in Deutschland geistert durch alle Blätter. Ich
habe mich intensiv darum bemüht, zu erfahren, nach
welchen statistischen Erhebungen diese Zahl zustande
gekommen ist. Ich habe nur eine einzige Quelle gefunden: eine Emnid-Umfrage von Juni 1999. Das war eine
Stichprobe. 1 000 Menschen sind generell zu Willenserklärungen befragt worden. Daraus hat man auf alle
80 Millionen Menschen - einschließlich Kinder, noch
nicht Volljährige, nicht Einwilligungsfähige - die Zahl
der Patientenverfügungen hochgerechnet. Ich habe auch
mit Fachleuten darüber gesprochen. Sie haben mir gesagt, diese Zahl sei nicht valide.
Meine Frage ist: Haben Sie außer dieser Emnid-Umfrage von 1999, bei der 1 000 Personen befragt worden
sind, eine aktuelle oder überhaupt eine andere Quelle?
Das würde mich sehr interessieren. Ich kenne keine.
Auch ich habe nur diese Zahl. Es ist aber nicht so
wichtig, denke ich, ob es nun 7 Millionen oder
5 Millionen oder 4 Millionen sind. Solange nicht festgelegt ist, wie eine Patientenverfügung definiert ist - es
gibt keinen festgelegten Rahmen, es gibt keinen festgelegten Inhalt -, ist es schwer, festzustellen: Ist das eine
Patientenverfügung, wie wir sie meinen, oder ist es die
Niederlegung eines Willens dazu, wie am Lebensende zu
verfahren ist?
Auch wenn es nur 2 Millionen Patientenverfügungen
wären: Das zeigt, dass die Menschen eine Möglichkeit
erhalten sollten, für sich in Sicherheit festzulegen, wie in
einer Situation zum Lebensende, wenn nicht mehr die
Möglichkeit besteht, frei zu entscheiden, verfahren werden soll. Angesichts dessen ist es unsere Aufgabe, hierfür einen Rechtsrahmen zu schaffen. Das ist Grundlage
unseres Gesprächs.
({0})
Zurück zu dem, worüber in diesem Haus Konsens besteht. Die Grundversorgung, das heißt Ernährung und
Körperpflege, sollte nicht zur Disposition stehen. Meiner
Meinung nach ist der Weg, den die Deutsche HospizStiftung aufzeigt, vorzugswürdig. Danach soll die Verbindlichkeit der Patientenverfügung zwar in ihrem Kern
nicht beschränkt, wohl aber festgeschrieben werden und
ihre Grenze im geltenden Recht finden. Unsere Verfassung hatte ich schon vorhin angesprochen.
Möglichen Missbrauchsgefahren kann durch erhöhte
Qualitätskriterien begegnet werden: Schriftform der
Patientenverfügung, umfassende Beratungs- und Informationspflichten sowie entsprechende Verfahrensvorschriften, grundsätzliche Beteiligung des Vormundschaftsgerichts und - ganz wichtig - das Konsil. Es ist
erfreulich, dass bezüglich des Schriftformerfordernisses
der Patientenverfügung mittlerweile keine Diskussion
mehr besteht und dass auch das Bundesjustizministerium
dessen Notwendigkeit erkannt hat. Wünschenswert wäre
außerdem, eine vorgeschaltete, umfassende Beratungspflicht und eine regelmäßige Aktualisierung als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Patientenverfügung festzuschreiben. Ein Konsil ist meines Erachtens
in allen Fällen verbindlich festzuschreiben.
Bei der Frage, ob in jedem Fall bei Verzicht oder Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme das Vormundschaftsgericht eingebunden werden muss, sollte ebenfalls im Sinne der Empfehlung der Deutschen HospizStiftung differenziert werden. Eine vormundschaftsgerichtliche Entscheidung sollte nur dann erforderlich sein,
wenn eine verbindliche Patientenverfügung nicht vorliegt und Einvernehmen im Konsil nicht erzielt werden
kann. Diese Differenzierung ist gerechtfertigt, wenn man
für die Patientenverfügung einen hohen Qualitätsstandard fordert. Das wäre sehr zu begrüßen.
Es ist unsere Aufgabe - ebenso wie bei der Vorsorgevollmacht -, bei den Menschen im Land dafür zu werben, dass sie sich für eine qualifizierte Patientenverfügung entscheiden und damit selbst bestimmen, wie sie
für sich die Phase ihres Lebensendes gestalten wollen.
Hoffen wir, dass dieses Haus bald in einem breiten Konsens die Rechtsgrundlage hierfür schafft.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph Strässer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Tatsache, dass und wie wir diskutieren,
zeigt schon, dass es hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt. Ich bin froh, dass wir mit der heutigen Debatte in die Diskussion einsteigen und ihr - hoffentlich einen vernünftigen sowie der Schwere und der Ernsthaftigkeit des Problems angemessenen Rahmen geben. Ich
bin dezidiert der Auffassung, dass es - ich glaube, das ist
gesellschaftlich feststellbar - einen sehr großen und
dringenden Bedarf gibt, die Fragen, über die wir heute
reden, gesetzgeberisch zu regeln.
({0})
Dabei ist es mir gleichgültig, ob es sich um mehr oder weniger als 7 Millionen Patientenverfügungen in Deutschland - diese Zahl habe ich ebenfalls in meinem Manuskript stehen - handelt.
Ich glaube, dass man die Veränderung der Einstellung
zu diesem Thema in der Gesellschaft sehen kann. Mittlerweile machen sich nicht nur ältere Menschen Gedanken darüber, wie sie mit ihrem Leben am Lebensende
umgehen wollen, sondern auch zunehmend jüngere. Ich
finde, dass das eine Auseinandersetzung mit der Zukunft
ist, die wir als Gesetzgeber ernst nehmen müssen. Ich
sage an dieser Stelle an die Adresse von Wolfgang
Wodarg und anderen: Wenn wir hier, wo es Handlungsund Entscheidungsbedarf gibt, über das Problem ausschließlich unter dem Aspekt der Verrechtlichung diskutieren, dann sind wir auf einem völlig falschen Trip.
Aber wer, bitte schön, soll letztendlich darüber entscheiden und die Regeln festlegen können, wie eine Patientenverfügung auszusehen hat und welche Voraussetzungen an ihre Wirksamkeit zu stellen sind, wenn nicht das
geltende Recht, die Rechtsordnung in diesem Staat? Das
ist die Grenze, über die wir reden und die wir letztendlich bestimmen müssen. Das ist genau der Punkt, um den
es geht.
({1})
Das Urteil des BGH ist bereits angesprochen worden.
Ich glaube, schon hier ist deutlich geworden, dass zwar
bestimmte, nicht aber alle Fälle geklärt worden sind und
dass weiterhin ein großer Klärungsbedarf besteht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Wir, die SPD-Fraktion, insbesondere die Arbeitsgruppe „Recht“, sind dezidiert der Auffassung, dass
wir dieses Problem lösen müssen, und zwar im Rahmen
des Betreuungsrechts. Das werden wir auf den Weg bringen. An dieser Stelle wollen wir mehr Rechtssicherheit
und Rechtsklarheit. Ich denke, dass ist das, was die Betroffenen von uns, dem Gesetzgeber, erwarten. Das sollten wir ihnen auch geben.
({2})
Ich bin zwar sehr froh, dass die Enquete-Kommission
nun einen umfassenden Zwischenbericht vorgelegt hat.
Aber wir sollten, wie ich bereits eingangs gesagt habe,
mit dem notwendigen Ernst und Respekt vor der Auffassung Andersdenkender diskutieren. Herr Kollege Kauch,
ich finde es daher nicht hilfreich, wenn Sie hier behaupten, dass rot-grüne paternalistische Hardliner das Gesetz
vom Tisch gefegt hätten. Das hilft uns nicht. Ich sage
vielmehr: Es hat einen Gesetzentwurf im Hause des
Bundesjustizministeriums gegeben. Wenn eine Entscheidung nicht an Fraktionsgrenzen festzumachen ist und ein
Regierungsentwurf nicht weiterverfolgt wird, dann finde
ich das einen richtigen und guten Weg, der nicht Häme,
sondern Unterstützung und Beifall verdient.
({3})
Genauso wenig sollten sich diejenigen, die der Mehrheitsmeinung der Enquete-Kommission folgen, dazu
hinreißen lassen, denjenigen, die eine rechtssichere Formulierung wollen, den Einstieg in die aktive Sterbehilfe
vorzuwerfen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Ansatz lassen wir uns in dieser
Diskussion nicht aufzwingen. Wer der Auffassung ist,
dass es eine verbindliche, eine wirksame Patientenverfügung auch für den Fall von nicht irreversiblen Krankheiten geben muss, spricht sich nicht für aktive Sterbehilfe
aus. Wir sind weit davon entfernt. Ich bitte auch diejenigen, die das anders sehen, dies zu respektieren, damit
wir eine sachliche, vernünftige Grundlage für die weitere Debatte haben.
({4})
Ich möchte die Dinge ansprechen, die aus meiner
Sicht geregelt werden müssen; ich glaube, dass das die
Punkte sind, über die wir bei den verschiedenen Gesetzentwürfen zu reden haben werden.
Zunächst einmal ist für mich - dabei bin ich sehr nahe
an dem nicht mehr existenten
({5})
Gesetzentwurf aus dem Hause des BMJ - die Schriftform einer Patientenverfügung verbindlich. Das ist für
mich die einzige Wirksamkeitsvoraussetzung, die es geben muss. Wir müssen doch den Betroffenen Hilfestellung geben. Wir müssen Rechtsklarheit haben. Das ist
mit der Schriftform einfacher. Sie sollten wir auf jeden
Fall gewährleisten. Deswegen sollten wir an dieser
Stelle keine weiteren Streitigkeiten austragen.
Leider gehen meine fünf Minuten schon zu Ende. Ich
glaube, dass wir nicht den Schritt tun sollten, die Reichweite der Patientenverfügung zu beschränken. Ich gehe
davon aus, dass Selbstbestimmung - ich sage ausdrücklich „Selbstbestimmung“ und nicht wie andere hier „vermeintliche Selbstbestimmung“ - auch den Fall noch
nicht irreversibler Krankheiten umfassen muss und dass
man dieses Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch
in Richtung ihres möglichen Todes respektieren muss.
Deshalb sollte man eine solche Beschränkung nicht ins
Gesetz aufnehmen. Die Patientenverfügung muss gelten,
wenn sie schriftlich abgefasst und nicht unter Druck erzeugt worden ist. Das sollten wir als Gesetzgeber unter
der Wirksamkeit des Grundgesetzes - Art. 2 - respektieren.
Danke schön.
({6})
Nun hat das Wort der Kollege Hubert Hüppe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben
in einer Zeit, in der Sterberituale verkümmern. Angehörige haben keine Zeit oder fühlen sich überfordert. Immer mehr Menschen sterben heute, ohne dass sie selbst
jemals einen Sterbenden gesehen haben. Der Tod wird
uns immer fremder. Das ist unnatürlich und fördert die
Angst vor dem Tod. Wo Sterben nicht mehr als das Teil
des Lebens verstanden wird, geht die Kultur des Sterbens verloren.
Die meisten Menschen wünschen, dass das medizinisch Notwendige und Sinnvolle getan wird. Kein
Mensch möchte unter unerträglichen Schmerzen leiden.
Niemand möchte in seinen letzten Stunden abgeschoben
werden und einsam sterben. Deswegen - das sage ich
hier noch einmal ganz deutlich - fände ich es richtiger,
wir würden uns im Deutschen Bundestag erst einmal damit beschäftigen, wie wir eine flächendeckende Palliativversorgung gewährleisten, bevor wir über die Patientenverfügung sprechen, die dann vielleicht gar nicht
mehr notwendig wäre.
({0})
Die Frage ist: Wie können wir erreichen, dass Menschen zu Hause sterben können und nicht, wie jetzt, zu
70 Prozent in Einrichtungen? Wie können wir ambulante
Hilfen aufbauen und die Angehörigen dabei unterstützen, diese Menschen zu begleiten? Wie können wir eine
vernünftige Schmerzbehandlung gewährleisten? Alle,
die Kutzer-Kommission, die Justizministerin und die
Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, haben immer
betont, dass hier in Deutschland noch viel Nachholbedarf besteht.
Doch statt diese Hilfen für Menschen zu regeln, sollen jetzt zunächst die Patientenverfügungen geregelt
werden. Unter diesem Druck ist auch der Zwischenbericht der Enquete-Kommission entstanden.
Immer wieder wird gesagt, durch Patientenverfügungen solle die Selbstbestimmung abgesichert werden.
Aber ist das wirklich so? Einem Patienten wird vor einem ärztlichen Eingriff eine Diagnose erklärt. Der Arzt
berät ihn über die verschiedenen medizinischen Möglichkeiten, die Risiken und Heilungschancen. Dann
stimmt der Patient zu oder er lehnt die Maßnahme ab.
Von der Patientenverfügung allerdings wird erwartet,
dass diese Einwilligung oder Nichteinwilligung im Voraus festgelegt wird - selbst dann, wenn man gar nicht
weiß, welche Krankheit später einmal eintritt.
Kann ich heute eine Entscheidung für alle denkbaren
Erkrankungen treffen? Kann ich wirklich wissen, ob ich
in ein, zwei oder gar zehn Jahren noch genauso denke?
Würde nicht jemand, der heute eine lebensverlängernde
Operation ablehnt, später vielleicht in seiner konkreten
Situation ganz anders denken - wenn er zum Beispiel
wüsste, dass er dann noch die Chance hätte, seinen Enkel, dessen Geburt gerade bevorsteht, einmal vor seinem
Tod zu sehen?
({1})
Das ist natürlich nur ein Einzelfall. Das zeigt aber, wie
schwierig so etwas im Vorhinein zu beurteilen ist. Das
ist für mich der viel wichtigere Punkt. Wer weiß schon,
wie er empfinden würde, wenn er sich im Wachkoma befindet oder altersverwirrt ist?
Sicher, es gibt immer wieder Situationen, in denen
eine Patientenverfügung sinnvoll sein kann. Das hat
auch keiner hier im Hause bezweifelt. Ich meine auch, es
sollten nicht immer alle Dinge getan werden, die die
Hochleistungsmedizin ermöglicht. Inzwischen sagen mir
die Praktiker aber, dass das nicht mehr die große Gefahr
ist. Ich weiß auch nicht, ob die Ängste, die im Zusammenhang mit der Hochleistungsmedizin geschürt werden
- das klang heute manchmal mit -, einen Bezug zur Realität haben. Ich habe vielmehr aufgrund der Ressourcendiskussion für die Zukunft Angst, dass wir nicht mehr
alle Mittel haben werden, den Menschen die Hilfen
- auch die medizinischen Hilfen - zukommen zu lassen,
die sie eigentlich brauchten. Ich habe nicht die Angst
- ich war in vielen Einrichtungen -, dass es zu viel Zeit
für die Pflege gibt. Ich habe eher die Angst, dass es zu
wenig Zeit für die Pflege gibt. Man muss einmal deutlich
machen, dass das die eigentliche Problematik ist.
({2})
Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, dass
man immer dann, wenn Selbstbestimmung Geld kostet,
nicht mehr selbst bestimmen darf; denn dann kann man
nicht die Therapie durch eine Verfügung einfordern.
({3})
Die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass die Patientenverfügungen längst nicht das halten, was sich hier
viele davon versprechen. So ist in den USA die Patientenverfügung seit 14 Jahren gesetzlich verankert. Es gab
und gibt dort massive Werbung für die Verfügungen.
Ärzte und Kliniken sind verpflichtet, den Patienten auf
das Verfassen einer Verfügung hinzuweisen. Trotzdem
haben nur 18 Prozent der Amerikaner eine solche Verfügung. Die Metastudien, die es jetzt gibt, besagen, dass in
der Praxis so gut wie keine Verfügung im konkreten Fall
angewendet werden kann. Grund dafür ist immer wieder
der mutmaßliche Wille.
Wir sollten also keine zu großen Erwartungen an die
Patientenverfügungen knüpfen. Es ist - das ist mir wichtig - eben nicht nur eine juristische Frage, sondern auch
eine soziale Frage. Wir sollten darauf achten, dass nicht
gerade Alte, Kranke oder Behinderte einem sozialen
Druck ausgesetzt werden, eine Verfügung auszufüllen,
weil sie meinen, der Gesellschaft, den Angehörigen oder
dem Pflegepersonal zur Last zu fallen.
In der Tat, die Justizministerin hat ihren Gesetzentwurf, den es angeblich gar nicht gab, der jetzt aber wieder von Herrn Stünker eingebracht wird, zurückgezogen.
Das war auch gut so. Ich halte nämlich den Inhalt dieses
Entwurfs für extrem gefährlich. So sollte dieser Gesetzentwurf es ermöglichen, Menschen im Wachkoma durch
Nahrungsentzug sterben zu lassen, so heißt es. Dies
sollte sogar ohne Patientenverfügung - das muss man
einmal beachten - möglich sein, nämlich auch dann,
wenn allein der Arzt und der Betreuer sich einig wären,
dass dies dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen würde. Es müssen sich also nur Arzt und Betreuer einig sein, das reicht aus - ohne Vormundschaftsgericht, ohne Pflegende, ohne Angehörige.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stöckel?
Ja.
Werter Kollege Hüppe, Sie haben gerade den Gesetzentwurf, der nicht eingebracht worden ist und deswegen
auch nicht zurückgezogen werden musste, im Zusammenhang mit Wachkomapatienten als extrem gefährlich
bezeichnet. Sie wurden vor einigen Tagen anlässlich des
Besuchs einer Einrichtung für Wachkomapatienten zusammen mit der Kollegin Merkel etwas direkter. Sie haben da gesagt: Wenn der Entwurf der Justizministerin
Zypries Wirklichkeit wird, müssen Wachkomapatienten
um ihre Sicherheit bzw. um ihr Leben fürchten. Können
Sie dem Hohen Haus einmal erläutern, wie Sie das meinten?
Ich nenne dazu ein Beispiel, Herr Kollege Stöckel.
Nehmen wir einmal an, jemand macht eine Verfügung,
in der steht: Wenn ich mehr als ein halbes Jahr im Wachkoma liege, möchte ich keine künstliche Beatmung oder
keine künstliche Ernährung mehr. Künstliche Ernährung
brauchen Wachkomapatienten in vielen Fällen deswegen, weil bei ihnen ab und zu der Schluckreflex nicht
funktioniert. Im Haus Königsborn, das Sie angesprochen
haben - Sie kennen es so gut wie ich -, haben viele der
dortigen Patienten diesen Zustand schon überwunden;
sie können schon wieder empfinden, hören auf Musik
oder machen sogar selber Musik. Eine solche Verfügung
würde aber bedeuten, dass, wenn der Gesetzentwurf so
eingebracht und beschlossen wird, wie er einmal vorgesehen war, nach diesem halben Jahr die vielleicht noch
erforderliche künstliche Ernährung, egal welcher therapeutische Fortschritt schon erzielt worden ist, eingestellt
werden müsste. Das, meine Damen und Herren, wäre,
wie ich gesagt habe, gefährlich für die betroffenen Patienten.
({0})
Ich füge noch etwas an: Überlegen Sie sich einmal,
was Sie dem Pflegepersonal in diesem Falle zumuten!
Bei den Pflegenden handelt es sich um Menschen, die
sich oft viel mehr um die Patienten kümmern und mehr
Zeit mit ihnen verbringen als der Arzt - das geht auch
gar nicht anders - und manchmal auch mehr als die Betreuer. Hauptberufliche Betreuer werden nach dem, was
wir gerade beschlossen haben, nur noch für zweieinhalb
Stunden im Monat bezahlt. Gerade die Pfleger sollen jedoch nicht mitentscheiden. Sie müssen dann aber mit ansehen, wie ein Mensch, den sie gestreichelt haben, mit
dem sie gesprochen haben und den sie sauber gemacht
haben, verhungert. Sie wollen diesen Menschen also zumuten, mit ansehen zu müssen, wie ihre Patienten über
Tage oder Wochen oder gar, wie Frau Nickels sagte, über
Monate verhungern. Meine Damen und Herren, ich
möchte nicht, dass so etwas in Deutschland geschieht.
Das möchte ich den Pflegerinnen und Pflegern nicht zumuten.
({1})
Wachkomapatienten sind eben, um das noch einmal
zu sagen, keine Hirntoten, keine Sterbenden und auch
keine lebenden Toten, wie manchmal gesagt wird, sondern es handelt sich einfach um Menschen mit einer Behinderung auf einer anderen Bewusstseinsebene.
Aufgrund Ihrer Frage kann ich meinen Redetext verkürzen; dieser Punkt wäre jetzt vorgesehen gewesen. Ich
bin dankbar, dass ich jetzt noch auf etwas anderes eingehen kann.
({2})
Meine Damen und Herren, das Gleiche, was ich gerade zu Wachkomapatienten gesagt habe, gilt auch für
Altersdemente. Deswegen hat die Enquete-Kommission vorgeschlagen, für die Ermittlung des Patientenwillens ein Konsilium einzurichten, in dem die Pflegenden
und die Angehörigen vertreten sind. Wir sind auch der
Meinung, dass weder Wachkoma noch Demenz alleine
Grund sein können, lebenserhaltende Maßnahmen zu
unterlassen. In der Tat verschwimmt hier - es tut mir
Leid, das sagen zu müssen - doch etwas die Grenze zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Es ist völlig vollkommen richtig, dass es juristisch nicht das Gleiche ist,
aber das Ergebnis ist dasselbe. Das muss man einfach
einmal zur Kenntnis nehmen. Ich weiß, dass viele dies
nicht einsehen wollen. Nachdem ich aber gestern im
Ticker gelesen habe, dass Sie, Herr Kollege Stöckel, das
Schweizer Modell, also die Einführung eines ärztlich assistierten Selbstmordes, in Betracht ziehen und dass Sie,
Herr Kauch, sich gerne anschauen würden, wie in Oregon verfahren wird, wo Ärzte tödlich wirkende Mittel
für Patienten verschreiben dürfen, kann ich mich des
Eindrucks nicht erwehren, dass die oben angesprochene
Grenze verschwimmt. Ich muss hier Frau Nickels Recht
geben, die sagt, das eine ist eigentlich die logische Konsequenz des anderen.
Der Entwurf der Justizministerin wurde zwar zurückgezogen, aber sein Gedankengut lebt weiter. Einige Kollegen der SPD und der FDP wollen diesen Entwurf mit
einigen Änderungen einbringen. Wahrscheinlich werden
sich dem auch Kolleginnen und Kollegen aus meiner
Fraktion anschließen. Wir haben da kein Kollektivgewissen, wie es bei der FDP der Fall ist.
({3})
Aber man muss das zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte zum Schluss noch ein Erlebnis vom gestrigen Parlamentarischen Abend der Lebenshilfe - einige
von Ihnen waren dabei - erzählen. Dort hat die Mutter
eines geistig behinderten Kindes Folgendes gefragt - ich
zitiere -: Was bedeutet es für mein Kind, wenn sich eine
Sichtweise breit macht, dass abhängig zu sein, nicht einwilligungsfähig zu sein so schlimm ist, dass man schon
vorher bestimmen kann, nicht mehr ernährt zu werden,
weil es besser ist, zu sterben, als zu leben?
Ich denke, das ist eine Frage in Bezug auf diese Menschen, die wir ebenfalls beachten und in die Überlegung
einfließen lassen müssen, ob wir tatsächlich zu der Einstellung kommen können, dass es Lebenszustände gibt,
die es nicht wert sind, gelebt zu werden.
Meine Damen und Herren, es ist gut, wenn wir uns
mit den Grenzen der modernen Medizin auseinander setzen. Aber wir müssen darauf achten, dass sich der
Wunsch nach einem würdigen Sterben nicht gegen die
Menschlichkeit richtet.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola
Reimann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
rasante medizinische Entwicklung, die technischen und
medikamentösen Möglichkeiten der letzten Jahrzehnte
haben dazu geführt, dass Leben in wesentlich größerem
Ausmaß als früher gerettet, aber eben auch verlängert
werden kann. Wie so häufig besitzt diese im Grunde sehr
erfreuliche Entwicklung auch eine Kehrseite. Viele
Menschen haben Angst vor zusätzlichen Schmerzen und
Leiden durch intensivmedizinische Maßnahmen am Lebensende. Die Vorstellung, nicht mehr äußerungsfähig
zu sein und somit nicht mehr selbst über medizinische
Maßnahmen entscheiden zu können, ist für viele beängstigend.
An diesem Punkt setzt das Instrument der Patientenverfügung an. Wir reden hier über Patientenverfügungen, nicht über Sterbehilfe und andere Dinge. Ich bitte,
das im Sinne einer differenzierten Diskussion zu trennen.
({0})
Die Patientenverfügung soll die Patientenautonomie
stärken und eine selbstbestimmte Entscheidung am Lebensende ermöglichen. Deshalb unterstütze ich, wie die
Kollegen, die Empfehlung der Enquete-Kommission,
dies gesetzlich zu regeln.
Im Gegensatz zu den Empfehlungen im Zwischenbericht vertrete ich jedoch ein Konzept, das eine stärkere
Verbindlichkeit bei gleichzeitig größerer Reichweite von
Patientenverfügungen und somit eine deutlichere Stärkung der Patientenautonomie vorsieht. Zusammen mit
den Kollegen Volkmer, Mayer und der Sachverständigen
Professor Albers bin ich der Auffassung, dass die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen nicht auf
Konstellationen beschränkt sein sollte, in denen das
Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führt.
Denn die Beurteilung, ob es sich in der Tat um ein irreversibles, zum Tode führendes Grundleiden handelt,
ist auch für Ärzte in vielen Fällen kaum möglich.
Gleichzeitig drohen den Ärzten bei einer Fehleinschätzung rechtliche Sanktionen. Vor diesem Hintergrund besteht immer die Gefahr, dass Ärzte behandlungsablehnende Patientenverfügungen - über die reden wir im
Wesentlichen - nicht oder nicht vollständig beachten
und der in der Verfügung enthaltene Wille des Patienten
dann doch unberücksichtigt bleibt. Letztlich führt das zu
keiner Verbesserung der bisherigen Situation.
Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass durch die
Einschränkung der Reichweite und der Verbindlichkeit
von Patientenverfügungen, wie sie die Empfehlungen
des Zwischenberichts vorsehen, das Recht jedes Einzelnen auf Selbstbestimmung zu stark beschnitten wird. Bei
aller notwendigen Fürsorge des Staates darf der Gesetzgeber die Freiheit des Einzelnen, der eine informierte
Entscheidung für sich persönlich trifft, nicht in diesem
Ausmaß begrenzen.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, aus diesem Grunde bin
ich der Ansicht, dass es keine Einschränkung bei der
Verbindlichkeit und der Reichweite von Patientenverfügungen geben sollte, wenn - das ist der entscheidende
Punkt - bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. Dazu zählen die Schriftlichkeit der Patientenverfügung, die ärztliche Aufklärung und Information vor
der Verfassung der Patientenverfügung und eine regelmäßige Aktualisierung der Patientenverfügung.
Die ärztliche Aufklärung dient dazu, über Krankheiten und denkbare Verläufe, medizinische Möglichkeiten
und Behandlungsalternativen zu informieren. Denn natürlich sind Patientenverfügungen - das ist schon angeklungen - Vorausverfügungen mit all den Unzulänglichkeiten, die Extrapolationen nun einmal haben. Das muss
jedem Einzelnen klar sein. In einem solchen Gespräch
können auch mögliche Fehlvorstellungen angesprochen
und Ängste ausgeräumt werden sowie die Folgen eines
Behandlungsverzichts sehr deutlich gemacht werden.
Auch die Aktualisierung der Patientenverfügung
sollte mit einer erneuten Beratung einhergehen, damit
der Verfasser einer solchen Verfügung auf diese Weise
regelmäßig über medizinisch-technische Fortschritte,
über neue Behandlungsmöglichkeiten und auch über
Entwicklungen der Palliativmedizin informiert werden
kann.
Durch die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen
ist meiner Ansicht nach sichergestellt, dass der Einzelne
gut informiert ist und eine reflektierte Entscheidung
trifft. Denn eine Patientenverfügung zu verfassen ist etwas anderes, als sich einfach nur ein Formular aus dem
Internet herunterzuladen und zu unterschreiben. Unter
diesen Voraussetzungen sind eine uneingeschränkte Verbindlichkeit und eine uneingeschränkte Reichweite von
Patientenverfügungen meiner Ansicht nach verantwortbar.
Kolleginnen und Kollegen, Ziel muss es sein, ein
menschenwürdiges und bis zuletzt selbstbestimmtes Leben auf der Basis einer ausreichenden Information und
einer reflektierten Entscheidung zu ermöglichen. Die
Kopplung der Reichweite und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen an die genannten - ich finde: sehr
strengen - Wirksamkeitsvoraussetzungen halte ich für
den besten Weg, dieses Ziel zu erreichen und die Patientenautonomie auch am Lebensende zu stärken.
Herzlichen Dank.
({2})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält das
Wort die Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leben und Sterben eines jeden Menschen sind immer einmalig. Was Menschen für sich ablehnen und als unzumutbare Belastung oder vielleicht sogar als würdelos
empfinden, ist ganz unterschiedlich und hängt ganz entscheidend von religiösen und weltanschaulichen Einstellungen ab. Dieses Selbstverständnis der Betroffenen haben wir zu respektieren; denn es geht um ihr Leben und
um ihr Sterben. In den Fällen, in denen ein Patient nicht
mehr mit dem Arzt kommunizieren kann, ist der mutmaßliche Wille des Patienten maßgeblich.
Patientenverfügungen sind ein Instrument, um diesen
mutmaßlichen Willen zu ermitteln. Menschen schließen
eine Patientenverfügung ab, weil sie nicht wollen, dass
sie zum Objekt medizinischer Eingriffe gemacht werden,
wenn sie entscheidungs- und äußerungsunfähig sind. Es
handelt sich häufig um Eingriffe, die zwar gut gemeint
sind, die aber mit den Wünschen und Vorstellungen der
Betroffenen häufig nichts zu tun haben.
({0})
Das sind zum Teil Eingriffe, die den Charakter einer
Zwangsbehandlung haben.
Patientinnen und Patienten müssen Gewissheit haben,
dass ihre Auseinandersetzung mit dem Sterben ernst genommen wird. Auch Angehörigen muss die Ohnmacht
genommen werden, mit der sie zusehen müssen, wie ihre
Mutter oder ihr Vater gegen den erklärten Willen weiterbehandelt wird. Ärzte müssen Rechtssicherheit haben,
wenn sie lebenserhaltende Maßnahmen nicht anwenden.
Deshalb sollte die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder einen Behandlungsverzicht vorsehen, nicht davon abhängen, dass
das Grundleiden irreversibel ist und trotz Behandlung
zum Tode führen wird.
Aus einer ethischen Perspektive, die die Selbstbestimmung und die Menschenwürde achtet, ist die Verbindlichkeit solcher Verfügungen, die den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen fordern, genauso schützenswert
wie Verfügungen, die vorab die Einwilligung in sämtliche lebenserhaltende Maßnahmen erklären. Das ist ein
ganz wesentlicher Unterschied zur Mehrheitsmeinung
der Enquete-Kommission.
Patientenverfügungen sind schwer wiegende Entscheidungen über eine Situation in der Zukunft, die
schwer vorauszusehen ist und die keine Kommunikation
mit der Verfasserin oder mit dem Verfasser zulässt.
Die Entscheidung ist nur dann selbstbestimmt, wenn
sie im Bewusstsein ihrer Tragweite und der Konsequenzen gefällt wird. Deswegen bedürfen solche Verfügungen mit uneingeschränkter Reichweite der Schriftform
und der Beratung - ich plädiere für die ärztliche Beratung vor der Abfassung - sowie einer Aktualisierung,
weil sich die Lebensumstände und auch die medizinischen Möglichkeiten ändern.
Wir alle haben Angst vor dem Sterben, insbesondere
vor Schmerzen und Einsamkeit. Die Patientenverfügung
kann uns vor unnötigen Behandlungen, die wir ablehnen,
bewahren. Aber das Sterben humaner zu gestalten wird
uns nicht allein durch die Verbindlichkeit der Patientenverfügung gelingen. Ein ethisch verantwortlicher Umgang mit dem Sterben und dem Tod braucht Zuwendung
zum Menschen. Das nimmt uns keine Patientenverfügung ab.
({1})
Zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer
Geschäftsordnung hat nun der Kollege Rolf Stöckel das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich dazu äußern, dass Herr Hüppe im Zusammenhang mit der Gefährdung von Altersdementen
und Wachkomapatienten behauptet hat, dass ich die
Schweizer Freitodregelung, das heißt den assistierten
Suizid, befürworten würde. Ich möchte hierzu eindeutig
erklären, dass wir hier über Patientenverfügungen und
Selbstbestimmungsrechte diskutieren und nicht über
weitergehende mögliche Änderungen des Strafgesetzbuches, wozu jeder eine persönliche Meinung haben
kann. Ich weise von mir, gesagt zu haben, ich sei für die
Übernahme der Schweizer Freitodregelung.
Er bezieht sich, wie ich jedenfalls vermute, auf einen
Artikel im „Rheinischen Merkur“ vom heutigen Tage,
der zufällig den gleichen Anfang hat wie die Rede der
Kollegin Nickels, nämlich: „Alte, gebt den Löffel ab!“.
({0})
Es geht um ein Zitat, das der betreffende Journalist im
Übrigen richtig wiedergegeben hat. Damit alle informiert sind, lese ich es hier vor:
„Ich halte die Schweizer Rechtslage für sinnvoll.
Ich nehme einfach zur Kenntnis, dass auch sehr
viele schwer erkrankte Patienten aus Deutschland
diese Regelung nutzen“, sagt SPD-Mann Rolf
Stöckel. „In Deutschland müsste es dazu eine breite
Debatte geben.“
Dass die hier nicht stattfindet, haben alle festgestellt.
Dass sie vielleicht in Zukunft stattfinden wird, weil pro
Jahr 500 schwer erkrankte Patienten Gründe dafür haben
müssen, die Schweizer Regelung zu nutzen, ist ein Hinweis darauf, dass wir vielleicht doch das eine oder andere regeln sollten, wenn wir ein solches Vorgehen in
Deutschland verhindern wollen.
Wir sollten aber aufhören - die Debatte war qualitativ
hochwertig; auf unterschiedliche Meinungen und ethische Vorstellungen wurde Rücksicht genommen; einige
klare rechtliche Hinweise wurden gegeben -, ständig
durch irgendwelche Unterstellungen demjenigen, der anders denkt oder eine andere Einstellung hat, aber vielleicht auch Ahnung von dem Thema hat, etwas an die
Backe zu kleben. Das möchte ich hier deutlich erklären.
({1})
Nein, es besteht keine Möglichkeit der Erwiderung,
weil es sich hier nicht um eine Kurzintervention handelt,
sondern um eine persönliche Erklärung zur Aussprache.
Die ist auch formgerecht erfolgt und insofern nicht zu
beanstanden.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3700 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht so
aus. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d auf:
5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlTheodor Freiherr von und zu Guttenberg,
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Für ein stärkeres Engagement der Europäischen Union auf dem westlichen Balkan
- Drucksache 15/4722 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Europäische Zukunft für Bosnien und Herzegowina - „Bonn Powers“ des Hohen Repräsentanten abschaffen
- Drucksache 15/4406 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel
Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Status des Kosovos als EU-Treuhandgebiet
- Drucksachen 15/2860, 15/4799 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Ludger Volmer
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse ihrer Bemühungen um die Weiterentwicklung der politischen und ökonomischen
Gesamtstrategie für die Balkanstaaten und
ganz Südosteuropa für das Jahr 2004
- Drucksache 15/4813 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen,
wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben am 8. Februar den Bericht der Bundesregierung
zur Gesamtstrategie für die Balkanstaaten vorgelegt bekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ich bedauere, dass Sie keine Möglichkeit
hatten, diesen Bericht vor der Abfassung Ihres Antrages
zu lesen. In diesem Bericht sind nämlich die Fortschritte,
die Defizite, die Probleme der Region sowie die Anstrengungen, die die Bundesregierung im Rahmen der
EU und der internationalen Staatengemeinschaft unternommen hat, um die Regionen zu stabilisieren und in die
europäischen Strukturen zu integrieren, sehr exakt beschrieben.
Die Behauptung in Ihrem Antrag, die Bundesregierung betreibe eine „Politik des mutlosen Verharrens im
Status quo“ und zementiere - das ist im Übrigen sehr unelegant formuliert - „entwicklungspolitische und militärische Kosten“, ist einfach eine Frechheit.
({0})
- Nein. - Das impliziert, dass die Bundesregierung die
Integration und die Annäherung an die Europäische
Union behindere. Dies ist nun wahrlich eine Verleumdung. Etwas anderes kann man dazu nicht sagen.
({1})
Die Bundesregierung war und ist die treibende Kraft
bei der Stabilisierung der Region, bei der Unterstützung
der Demokratisierung, der Menschenrechte und des Aufbaus von Rechtsstaatlichkeit und der Integration in die
euroatlantischen Strukturen. Die Bundesregierung - auch
das haben Sie wohl wieder vergessen - war die treibende
Kraft beim Zustandekommen des Stabilitätspaktes. Sie
wirkt in der Kosovokontaktgruppe sehr intensiv und sehr
konstruktiv bei der Entwicklung von Lösungsstrategien
mit. Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass die entsprechenden Lösungen so einfach zu haben sind. Fast
alle Forderungen in Ihrem Antrag werden von der Bundesregierung längst eingelöst oder werden von ihr mit
Engagement verfolgt. Deshalb ist Ihr Antrag im Grunde
genommen nichts als heiße Luft und Gemeinplätze.
Die europäische Perspektive bleibt der positive Ankerpunkt für die südosteuropäischen Staaten; aber es ist
eine langfristige Perspektive. Diese Perspektive - ich
weiß, wir alle sind uns darüber einig - darf nicht genommen werden. Diese Länder müssen aber auch das Ihrige
tun, um die europäischen Standards umzusetzen. Auch
wenn der Stabilitätspaktkoordinator sagt, die Demokratisierung auf dem Balkan sei in seinen Augen unumkehrbar, sind die Probleme der Region bei weitem noch nicht
gelöst. Ich glaube, wir tun ganz gut daran, wenn wir uns
einmal einen realistischen Problemaufriss vor Augen
führen.
Diese Debatte ist aktuell sehr angemessen, weil wir
gerade Dinge erleben, die mit dieser Region zu tun haben und die diese Region auch wieder in Schwierigkeiten stürzen können. Was ist denn passiert? Vor zehn Jahren wurde das Abkommen von Dayton unterzeichnet.
Wir alle wissen, dass die damit verbundenen Dinge verändert werden müssen. Es ist aber schwer, das in die Tat
umzusetzen, weil alles immer im Konsens gemacht werden muss.
Seit fünf Jahren gibt es den Stabilitätspakt. Wir können sagen, er ist ein Erfolg. Was Sie jedoch für den Stabilitätspakt in Zukunft fordern, wurde doch längst umgesetzt. In den letzten paar Jahren hat er sich genau auf die
Gebiete konzentriert, deren Behandlung Sie hier einfordern.
Es wird in 2005 - deshalb wird es immer als ein
Schicksalsjahr für diese Region bezeichnet - den Beginn
von Statusgesprächen im Kosovo geben. Vor einem Jahr
gab es Unruhen im Kosovo. Erinnern Sie sich? Letztes
Jahr im März waren wir hier tief besorgt.
({2})
Gestern ist Haradinaj nach Den Haag abgereist. Bosnien-Herzegowina hat ein Kriegsverbrechertribunal eingerichtet. Serbien hat mehrere Generäle überstellt. Der
Beginn der Verhandlungen mit Kroatien über einen EUBeitritt ist wegen mangelnder Kooperation mit dem
Kriegsverbrechertribunal infrage gestellt worden. Sie sehen also, es ergibt sich ein gemischtes Bild von der
Lage. Kroatien war sozusagen das wunderbare Zugpferd; die gelungene Annäherung, aus der sich die
Chance ergibt, der EU beizutreten, stellte ein Vorzeigeprojekt dar.
In Mazedonien finden demnächst Kommunalwahlen statt, die ersten nach der Dezentralisierungsgesetzgebung. Die Wahl wird ein Test auf Umsetzung
des Abkommens von Ohrid sein. Wir werden sehr gespannt hinschauen, wie die Parteien in diesem Kommunalwahlkampf agieren.
Lassen Sie mich auf einige Länder zu sprechen kommen. Ich werde mich wohl nicht mehr zu allen äußern
können, aber das für mich Wichtigste wird der Kosovo
sein. Mein Kollege Dzembritzki wird dann das Thema
Bosnien-Herzegowina vertiefen.
Die Situation im Kosovo ist paradox. Unter Haradinaj
und Jessen-Petersen, dem UNMIK-Repräsentanten, ist
die Reform der Standarderfüllung wesentlich vorangetrieben worden. Jessen-Petersen ergeht sich in Lobeshymnen für Haradinaj, der aber nach seiner Anklage
freiwillig nach Den Haag gegangen ist. Trotzdem ist es
im Kosovo bisher ruhig geblieben. Wir können uns aber
weiß Gott nicht darauf verlassen, dass das so bleibt.
Die Überprüfung der Standards, die Sie auch einfordern, läuft schon längst. Wir alle wissen, dass es keine
Rückkehr zum Status quo geben kann. Aber wir alle wissen auch, dass die Frage nicht lösbar ist, ohne Serbien
mit einzubeziehen. Es ist nicht möglich, über Serbien
hinweg eine Lösung in Bezug auf die Unabhängigkeit zu
finden. Deshalb wird es sehr wichtig sein, dass wir immer wieder darauf hinwirken, dass Belgrad eine tragfähige Lösung angeboten wird, von der auch Belgrad etwas hat.
Gleichzeitig sind die Serben aber - auch das ist paradox - im Kosovo selber nicht an der Zukunftsentwicklung des Landes beteiligt. Die Gründe dafür sind uns bekannt. Ich denke, diese Probleme müssen in diesem Jahr
trotz der kurzen Zeit, die zur Verfügung steht, gelöst
werden.
Die EU hat im Übrigen angekündigt, dass sie sich
- auch in finanzieller Hinsicht - noch stärker im Kosovo
engagieren will. Sie leistet schon heute sehr viel im vierten Pfeiler, der Wirtschaft. Aber so leichtfertig, wie Sie
es in Ihrem Antrag formulieren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lassen sich die rechtlichen Hürden, die der Privatisierung der so genannten volkseigenen Betriebe im
Weg stehen, nicht beseitigen. Denn in dieser Frage
müsste sich Belgrad bewegen oder es müsste die Sicherheitsresolution 1244 geändert werden. Das wird nicht so
einfach sein. Wie Sie wissen, haben sich die internationale Staatengemeinschaft und diejenigen, die - beginnend mit Steiner - damit beschäftigt waren, bis heute die
Zähne daran ausgebissen.
Ich glaube, dass wir den Blick auch auf Serbien richten müssen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Unterstützung der demokratischen Kräfte in Serbien. Was tut
denn die Bundesregierung - und zwar nicht erst seit
Milosevics Abgang - anderes, als die demokratischen
Kräfte dort zu unterstützen? Aber Sie müssen doch zur
Kenntnis nehmen, dass die Wahlen in Serbien zu einem
Rechtsruck geführt haben und dass Tadic, der reformorientierte Präsident, geradezu einen Drahtseilakt vollführen muss. Es ist nicht so einfach, wie Sie es sich vorstellen.
Wir müssen die gesamte Region im Blick behalten.
Die wirtschaftliche Entwicklung ist zwar ein entscheidendes Element, aber in allen Ländern sind der Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen und die Schaffung stabiler
Rahmenbedingungen, die eine Voraussetzung für Investitionen sind, noch mangelhaft, ganz zu schweigen vom
Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität.
An der Lösung dieser Aufgabe wird zwar gearbeitet,
aber es wird noch eine Weile dauern. Eine Lösung im
Hauruckverfahren nach dem Motto „EU rein - Probleme
raus“ gibt es nicht.
({3})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich bin fast fertig. - Die internationale Staatengemeinschaft wird möglichst schnell eine adäquate Lösung
suchen müssen, aber bitte nicht im Hauruckverfahren.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor drei Tagen ist im Kosovo Regierungschef
Haradinaj zurückgetreten, weil er vom Haager Kriegsverbrechertribunal angeklagt wird. Wir begrüßen, dass
Haradinaj zur freiwilligen Zusammenarbeit mit dem
Kriegsverbrechertribunal bereit ist.
Für die Vertrauensbildung und Befriedung der Region
des westlichen Balkans ist es wichtig, dass die schwarzen Kapitel der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Die
uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal ist dafür unverzichtbar.
Die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit Den Haag
ist eine wesentliche Bedingung, um die Standards zu erfüllen, die Mitte dieses Jahres überprüft werden sollen.
({0})
Wir anerkennen, dass Haradinaj engagiert für die Umsetzung dieser Standards geworben hat. Wir fordern die
Nachfolgerregierung auf, den Prozess der Implementierung unverzüglich und mit Nachdruck fortzusetzen.
({1})
Wenn bei der Überprüfung erhebliche Verzögerungen
festgestellt werden, ist der Beginn der Statusgespräche
im Oktober dieses Jahres gefährdet. Damit droht die
Gewalt erneut zu eskalieren. Was für das Kosovo gilt,
gilt auch für die anderen Länder der gesamten Region.
Deshalb begrüßen wir, dass sich vom Haager Tribunal
Angeklagte in jüngster Zeit sowohl in Serbien als auch
in Bosnien und Herzegowina freiwillig gestellt haben.
Das sind nur erste Schritte, die bei weitem nicht ausreichen. Deswegen sagen wir ganz unmissverständlich:
Den Ländern, die nicht überzeugend mit dem Haager
Kriegsverbrechertribunal zusammenarbeiten, wird der
Weg in Richtung EU und NATO verbaut bleiben, ob es
dabei um die Teilnahme an dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“, den Abschluss von Assoziierungsabkommen oder den Beginn von Beitrittsverhandlungen geht.
Frau Kollegin Zapf, da Sie Kroatien angesprochen
haben, sage ich Ihnen: Wir hoffen sehr, dass die Beitrittsverhandlungen wie geplant in der nächsten Woche
beginnen können. Dafür setzen wir uns ein. Das heißt
aber auch, dass die Regierung in Zagreb nicht den Eindruck erwecken darf, sie würde das Haager Tribunal bei
der Auffindung des ehemaligen Generals Gotovina behindern; denn beides gehört zusammen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Rücktritt
Haradinajs und die damit zusammenhängende erhöhte
Alarmbereitschaft der Stabilisierungskräfte im Kosovo,
die fortgesetzte Notwendigkeit der Truppenpräsenz in
Bosnien und Herzegowina und die Vorwürfe des Haager
Tribunals gegen die Regierung in Zagreb zeigen: Trotz
aller Fortschritte, die wir in den vergangenen Jahren auf
dem Balkan erreicht haben - Frau Kollegin Zapf, es sind
nicht wenige Fortschritte und wir leugnen sie auch nicht -,
sind wir von einer stabilen Situation in der Region weit
entfernt.
In einzelnen Ländern wird eine weitere politische und
wirtschaftliche Stabilisierung erheblich erschwert: durch
ungelöste Fragen des politischen Status, ethnische Konfliktpotenziale, mangelnde Rechtssicherheit, organisierte
Kriminalität, Menschenhandel und Korruption. Diese
Konfliktpotenziale stellen für Frieden und Stabilität in
der gesamten Region große Risiken dar. Europa - das
wissen wir alle - wäre von einem Wiederaufflammen der
Konflikte direkt betroffen. Wenn sich auf dem Balkan
eine dauerhafte Instabilität entwickelt und er zu einer
Drehscheibe der Kriminalität wird, werden wir die Konsequenzen unmittelbar spüren.
Darüber hinaus stellt Europa den größten Anteil der
Stabilisierungskräfte in der Region. Deshalb liegt es im
europäischen Sicherheitsinteresse, dass diese Herausforderungen möglichst bald bewältigt werden und somit
auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass
die Anzahl unserer Soldaten und Polizeikräfte weiter reduziert werden kann.
Verehrte Frau Kollegin, Sie haben sich an einer Formulierung unseres Antrags gerieben: dass die Bundesregierung „eine Politik des mutlosen Verharrens im Status
quo“ betreibe. Liebe Frau Kollegin, das ist nichts anderes als eine Umschreibung dafür, dass die Bundesregierung schlichtweg nichts tut.
({3})
- Liebe Frau Kollegin, zuerst haben Sie geredet; aber
jetzt rede ich.
({4})
Wir unterhalten uns in diesem Hause regelmäßig über
die Verlängerung des Mandats.
({5})
- Derjenige, der hier heute fehlt, hat es nicht so mit der
Wahrheit.
({6})
Lieber Herr Kuhn, Sie sollten aufhören, von Wahrheit zu
sprechen; denn Sie haben Ihre Unschuld verloren.
({7})
Ich könnte nämlich auch über eine andere Region sprechen.
Wenn jemand in aller Kürze sagt, es sei unschön,
wenn zehntausendfach Zwangsprostitution erfolgt,
({8})
und sich in einem anderen Halbsatz erdreistet, zu sagen,
dass man Kroatien deshalb aber nicht kriminalisieren
dürfe,
({9})
muss ich Ihnen verdammt noch mal sagen: Diese arrogante Hybris werden Sie noch zu spüren bekommen.
({10})
Kommen wir zurück zum Thema.
({11})
- Wir nehmen die Emotionen zurück, aber hören Sie bei
diesem Minister, der nach allem, was er sich geleistet
hat, an seinem Amt klebt, mit Zwischenrufen zur Wahrheit auf.
({12})
- Es ist extrem arrogant, lieber Wilhelm Schmidt. Dass
ihr euch dafür hergebt, ist euer Problem.
Jetzt kommen wir zum Thema zurück.
({13})
Es hat auch etwas mit Wahrheit zu tun. Wir reden jedes
Jahr über die Verlängerung des Mandats. Was sagen
wir eigentlich den Bundeswehrsoldaten, die zum Teil
zum dritten, vierten und fünften Mal in ihren Turnus in
das Kosovo nach Pristina oder nach Bosnien-Herzegowina geschickt werden, ohne dass sich dort politisch
irgendetwas verändert hat? Gehen sie wirklich dorthin in
dem Bewusstsein, einen politischen Prozess zu unterstützen? Oder gehen sie dorthin, weil uns nichts mehr
einfällt?
Entschuldigung, es ist nicht hinnehmbar, dass wir
hohe entwicklungspolitische und militärische Kosten
einfach fortschreiben, dass es sogar Profiteure von anhaltender Instabilität gibt, dass die politische Eigenverantwortung der Menschen und Staaten in der Region gehemmt wird.
Deshalb muss die Bundesregierung zusammen mit
unseren EU-Partnern darauf bestehen, dass im Herbst
die Gespräche über den künftigen Status des Kosovos
geführt werden.
({14})
Voraussetzung dafür ist, dass im Sommer überprüft wird,
ob substanzielle Fortschritte bei der Erfüllung der Standards wie Sicherheit, Minderheitenschutz, Flüchtlingsrückkehr, Dezentralisierung und Bewegungsfreiheit erzielt wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Standards und Status bedingen einander. Die Erfüllung von Standards
schafft Status und eine Änderung im Status des Kosovos
muss die Stabilität der gesamten Region und insbesondere auch von Serbien und Montenegro berücksichtigen.
Eine Rückkehr zu einem Status von vor 1999 ist genauso
auszuschließen wie eine sofortige Unabhängigkeit des
Kosovos.
Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Strategie
vorzulegen, um UNMIK-Verantwortlichkeiten Zug um
Zug auf die provisorische Selbstverwaltung des Kosovos
und auf regionale Organisationen zu übertragen.
({15})
Den Kosovaren sollten entsprechend der Erfüllung der
Standards schrittweise alle Rechte und Pflichten übertragen werden mit Ausnahme der Zuständigkeit für die
Außen- und Verteidigungspolitik.
Nur durch ein verstärktes zielgerichtetes europäisches
Engagement können diese schrittweise Übernahme von
Eigenverantwortung erreicht und eine neue weitere Spaltung der Region vermieden werden. Europa muss politisch und militärisch stärker Verantwortung übernehmen.
Die Europäische Union muss deshalb die zentrale Rolle
im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit mit den
Ländern des Balkans übernehmen.
Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort erhält nun die Kollegin Marianne Tritz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
15 Jahren brach aufgrund lang anhaltender ethnischer
Konflikte auf dem Balkan ein Krieg aus, der begleitet
wurde von Vertreibung und von Massakern an ethnischen Volksgruppen. Der Flächenbrand des Krieges erreichte innerhalb kürzester Zeit die einzelnen Länder des
Balkans. Die internationale Gemeinschaft hat damals
militärisch interveniert und anschließend mit verschiedenen Mitteln und Instrumenten versucht, Frieden in die
Region zu bringen. Die internationale Gemeinschaft
hatte sich damals zum Ziel gesetzt, der Gewalt Einhalt
zu gebieten, wirtschaftliche Entwicklungsprobleme zu
lösen, ethnische Differenzen beizulegen und Minderheitenrechte zu garantieren.
Neben einer andauernden Militärpräsenz wurden die
Verträge von Dayton und Rambouillet geschlossen,
Hohe Beauftragte oder spezielle Repräsentanten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen ernannt, der Polizeiapparat aufgebaut und das Justizwesen zum Teil
reformiert. Das Ziel war es, unter der Leitung der Vereinten Nationen den Aufbau demokratischer Staaten voranzutreiben. Das ist zu einem großen Teil gelungen.
Herr Kollege, Sie haben vorhin gefragt, was denn bisher auf den Weg gebracht worden ist. Was hat die internationale Gemeinschaft erreicht? Die Sicherheitslage im
Kosovo hat sich - abgesehen von den Unruhen im März
2004 - weiter stark verbessert. Auch die Menschenrechtssituation in Südosteuropa hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Freie und faire Wahlen
wurden durchgeführt. Die Perspektive einer EU-Annäherung könnte in den Ländern des westlichen Balkans
die entscheidende Grundlage für die Festigung der politischen Stabilität und der wirtschaftlichen Entwicklung
sein. Das ist eine ganze Menge.
Aber selbstverständlich müssen wir nach all den Jahren einmal Bilanz ziehen und auch die Defizite benennen, die nach wie vor bestehen - selbstverständlich gibt
es noch Defizite -: Nach wie vor herrscht ein großes
Misstrauen der ethnischen Gruppen untereinander, das
tief sitzt. Der Aufbau geht zum Teil schleppend voran;
das stimmt. Zum Teil sind Doppelstrukturen in den Verwaltungen und Rechtssystemen entstanden, die sich
heute gegenseitig behindern. Die Arbeitslosigkeit ist
hoch, es gibt kaum Wirtschaftswachstum, dafür organisierte Kriminalität und ein großes Misstrauen gegenüber
den Vereinten Nationen.
Schauen wir uns einmal die Situation in Kosovo an:
Das Durchschnittsalter liegt bei 22 Jahren, das Durchschnittseinkommen bei 200 Euro und die Arbeitslosigkeit zwischen 55 und 60 Prozent. Das sind natürlich
schlechte Grundlagen für die Stabilität eines Landes.
Sechs Jahre nach Kriegsende erwarten die Menschen in
Kosovo, dass es mit dem Aufbau ihres Landes vorangeht. Sie erwarten zu Recht, dass der Status ihres Landes
geklärt wird, damit sie Investoren in das Land holen
können, damit sie endlich wissen, wo ihr Platz innerhalb
Europas ist. Um diesen Status zu klären, hat ihnen die internationale Gemeinschaft auferlegt, so genannte Standards zu erfüllen, das heißt, den Schutz von Minderheiten, den Schutz von Flüchtlingen und Bewegungsfreiheit
zu gewährleisten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
herzustellen und die wirtschaftliche Entwicklung auf den
Weg zu bringen.
Premierminister Haradinaj hat in Kosovo ein atemberaubendes Tempo vorgelegt, diese Standards zu implementieren. Seine Entscheidung, sein Amt niederzulegen
und nach Den Haag zu reisen, weil der Internationale
Strafgerichtshof Anklage gegen ihn erhoben hat, verdient unseren höchsten Respekt und sollte ein Vorbild
für die anderen Länder des Balkans sein, die sich mit der
Auslieferung ihrer Angeklagten und Kriegsverbrecher
zum Teil nach wie vor sehr schwer tun und sich selbst
dabei auf dem Weg nach Europa behindern.
({0})
Haradinaj hat seine Anhänger zur Ruhe gemahnt. Die
Kosovaren haben nämlich begriffen, dass die weiteren
Entscheidungen in der Statusfrage, dass ihre Unabhängigkeit von ihrem rechtsstaatlichen Verhalten abhängen.
Ich bin der Meinung, dass die Implementierung der
Standards und die Klärung des Status paralleler laufen
müssen, damit der Teufelskreis endlich durchbrochen
wird, an dem es immer wieder hakt: dass einerseits Wirtschaftswachstum zu einer der Voraussetzungen für die
Klärung der Statusfrage gemacht wird, Investitionen in
die Wirtschaft andererseits aber ohne die Klärung des
Status nicht möglich sind. Kein seriöses Unternehmen
investiert in politisch unklare Verhältnisse.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Europa
kann, wie ich finde, noch einiges dazu beitragen, Ländern wie dem Kosovo auf diesem Weg unter die Arme
zu greifen. Dazu gehört zum Beispiel, dass Europa sich
einmal überlegt, inwieweit es mehr in das Kosovo investiert, anstatt nur zu warten, bis bestimmte Standards erfüllt sind. Es sollte von sich aus die Initiative ergreifen,
damit so etwas wie eine Basisversorgung in diesem Land
endlich gewährleistet wird.
Wir waren erst in der letzten Woche dort und haben
uns die Verhältnisse angeschaut. Die Menschen sind natürlich nicht guten Mutes, wenn sie ohne Strom und
ohne Wasser leben müssen, wenn sich in ihren Straßen
der Müll häuft, wenn die Basisversorgung nicht gewährleistet ist, wenn ganz einfache Grundbedürfnisse nicht
befriedigt werden, die das Leben angenehmer machen
und auf denen man die Alltäglichkeiten des Lebens aufbauen kann. Da ist Europa tatsächlich gefordert, die
Hände zu reichen und etwas zu machen.
Ebenso sollte man meiner Meinung nach überlegen,
die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge aus den anderen Ländern in das Kosovo noch einmal zu thematisieren. Nach wie vor werden Leute mehr oder weniger unfreiwillig abgeschoben und zurückgeführt. Das ist ein
Problem: Damit tragen wir natürlich zur Instabilität der
Region bei; das muss uns klar sein. Wir entlassen die
Menschen in ein Leben in einer Region, wo es keine Arbeitsplätze gibt, keine Grundversorgung. Sie wissen
nicht, wie und wovon sie leben sollen, und das, nachdem
sie hier mit ihren Kindern und Familien zum Teil seit
über zehn Jahren voll integriert sind. Ich finde, das geht
nicht. Ich möchte, dass wir darüber noch einmal reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa muss anerkennen, dass der Balkan ein Teil von ihm ist. Umgekehrt
müssen die Länder des Balkans anerkennen, dass die
Europäische Union eine Wertegemeinschaft ist und ihnen bestimmte Bedingungen auferlegt, wenn sie ein Teil
dieser Wertegemeinschaft werden wollen. Dazu gehört
auf alle Fälle - ich glaube, das ist die breite Meinung in
diesem Haus -, dass Kriegsverbrecher nicht gedeckt
werden, sondern dass man voll kooperiert, um ihrer habhaft zu werden, wie zum Beispiel gerade im Fall von
Kroatien. Haradinaj ist mit gutem Beispiel vorangegangen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich mir die Reden der beiden Vertreterinnen der Koalitionsfraktionen angehört habe, frage ich
mich wie die Amerikaner: Where is the beef? Was ist
dort los?
Frau Zapf, Sie haben uns erzählt, was alles nicht geht,
und Frau Tritz, Sie haben uns erzählt, was dort alles
noch an Defiziten ist. So, wie die Bürger in diesem
Lande auch, erwarten wir, dass die Bundesregierung, solange sie noch am Ruder ist, etwas Konkretes tut und uns
Entsprechendes vorlegt - nicht, was ist und welche Probleme es noch gibt, sondern, was sie im Jahre 2005 ganz
konkret tun will.
({0})
Wir sitzen hier nicht in einem politischen Seminar; wir
sind hier, damit wir etwas tun. Sie können jetzt noch etwas tun und ich fordere Sie dazu auf.
({1})
Frau Tritz, meine Fraktion, die FDP, hat im Gegensatz
zu Ihrer Fraktion zwei ganz konkrete Anträge gestellt.
Unser Antrag „Status des Kosovos als EU-Treuhandgebiet“ ist ein Jahr alt. Auch nach dem Weggang von
Haradinaj nach Den Haag ist der Antrag noch so taufrisch wie am ersten Tag.
Frau Zapf, Sie haben heute nicht genau gesagt, was
Sie eigentlich wollen. Sie werden in der Presse zitiert,
dass Sie für die Unabhängigkeit des Kosovos sind. Das
will das Pentagon auch. Trotzdem sage ich: In dieser
Form ist das falsch.
Die Europäische Union muss sich in dieser Region
stärker engagieren. Liebe Freunde, wir können doch
nicht verlangen, dass sich die Afrikanische Union um
Darfur und die arabische Welt mehr um den Nahen Osten kümmert, wenn wir als Europäische Union nicht bereit sind, auf dem Balkan konkret tätig zu werden. Deshalb haben wir unseren Antrag auch so konkret gestellt.
Herr Schmidt, der Antrag geht nicht in die Breite, sondern er wurde spitz, auf einen Problemkreis bezogen und
ganz konkret gestellt.
({2})
Herr Schmidt, wir alle - Sie hoffentlich auch - wissen, dass die drei Möglichkeiten, nämlich erstens die
Rückkehr zu Serbien, zweitens die Teilung des Landes
und drittens die unmittelbare Unabhängigkeit, im Augenblick wirklich keine politischen Optionen auf dem
Balkan sind. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur
Kenntnis! Deshalb müssen wir gemeinsam nach neuen
Wegen suchen.
Die Europäische Union hat der Region in Thessaloniki eine ganz konkrete europäische Perspektive gegeben. Unser Vorschlag eines europäischen Treuhandgebietes, wie wir es bezogen auf das Kosovo genannt
haben, ist eine komplementäre Strategie für diese Region hin zu Europa. Wir dürfen auch nicht vergessen,
dass dies für Belgrad die einzig verdaubare politische
Option für diese Region ist. Alles andere wird mit Belgrad nicht zu machen sein.
({3})
Von daher glaube ich, dass wir das hier auch berücksichtigen sollten.
Wir Deutsche sind besonders gefordert, hier einen
ganz konkreten und nicht allgemeinen politischen Beitrag zu einer politischen Perspektive zu leisten. Wir dürfen nicht nur sagen, was alles noch nicht funktioniert,
sondern wir müssen hier und heute ganz konkret sagen,
was wir wollen. Das sind wir auch unseren Soldaten dort
schuldig,
({4})
die bereit sind, einen schwierigen Dienst zu tun. Diese
Soldaten erwarten von uns zu Recht, dass wir politische
Lösungswege aufzeigen und dass sie nicht als Ersatz für
politische Lösungen herhalten müssen. Politische Lösungswege aufzuzeigen, das ist unsere Aufgabe hier im
Deutschen Bundestag.
({5})
Das Gleiche gilt natürlich auch für Bosnien und
Herzegowina. Zehn Jahre nach Dayton müssen wir endlich den Weg zu einer politischen Lösung finden, freimachen und organisieren. Auch dazu haben wir einen konkreten Vorschlag gemacht, über den wir hier noch
diskutieren können.
Vergleichen wir die Zeithorizonte von Afghanistan
und Irak auf der einen Seite und Bosnien-Herzegowina
auf der anderen Seite: Im Ergebnis müssen wir feststellen, Herr Dzembritzki, dass irgendetwas falsch gelaufen
ist, weil wir noch nach zehn Jahren herumeiern und dem
Volk nicht die Möglichkeit geben, die Dinge selbst in die
Hand zu nehmen. Deshalb sagen wir: Zehn Jahre nach
dem Dayton-Abkommen muss den Organen in BosnienHerzegowina die volle Kompetenz übertragen werden.
Die „Bonn Powers“ verhindern Eigenverantwortung
und die - um es mit einem neudeutschen Wort zu sagen Ownership der Politiker in diesem Lande. Diese müssen
dringend abgeschafft werden. Zehn Jahre nach dem Dayton-Abkommen fordern wir, dass der Hohe Repräsentant
einen großen europäischen Hut trägt und die europäische
Rolle verstärkt zur Geltung bringt.
Bosnien-Herzegowina will in die Europäische Union.
Wir Europäer haben dafür - das ist selbstverständlich klare Bedingungen gestellt. Wir sind bereit, dieses Land
dabei zu unterstützen. Wir müssen die Menschen aber
auch ermächtigen, diesen Weg selber zu gehen. Deshalb
ist unser Antrag so wichtig; es muss eine Veränderung
der politischen Situation herbeigeführt werden.
Wir wissen, dass unsere Anträge von der noch herrschenden Koalition abgelehnt werden. Die, wie wir sagen, „same procedure“ kennen wir schon.
({6})
Aber ich gehe mit Ihnen eine Wette ein: Die „Bonn Powers“ in Bosnien-Herzegowina werden, so wie wir es
fordern, abgeschafft werden. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich wette mit Ihnen, dass noch in diesem Jahr
die europäische Rolle im Kosovo deutlich verstärkt
wird.
({7})
- Die Kontaktgruppe, Frau Zapf, wird dafür sorgen. Sie
haben die Chance, unserem Antrag zuzustimmen. Ich
bedanke mich für Ihre Zustimmung. Ich finde es gut,
dass Sie zur Vernunft gekommen sind.
Das wäre ein gutes Schlusswort gewesen, Herr Kollege.
Die Kontaktgruppe wird das so bestimmen.
Wir werden heute - das ist mein letzter Satz, Herr
Präsident; ich bedanke mich für Ihr Verständnis - für unseren Antrag keine Zustimmung bekommen; das wissen
wir. Wir wissen aber, dass uns die Realität Recht geben
wird. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist uns - ich
hoffe, Sie haben dafür Verständnis - noch wichtiger.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Stinner, ich bitte um Nachsicht, dass ich
an meiner Vermutung festhalte, dass die Aufforderung
zur Zustimmung noch wirkungsvoller war als die resignative Bemerkung, dass es wohl keine Zustimmung geben werde.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Detlef Dzembritzki für
die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über die Entwicklung und die Perspektiven Südosteuropas in unserem Haus ist richtig. Ich denke, dass
wir uns angesichts der Gesamtverantwortung, die wir als
Parlament und Bundesregierung übernommen haben,
dieser Diskussion regelmäßig zu stellen haben.
Ich plädiere aber in diesem Zusammenhang dafür,
nicht nur auf die zweifellos vorhandenen Probleme abzuheben, sondern sich auch durchaus der Fortschritte bewusst zu werden, die eindeutig zu erkennen sind, weil
sonst, lieber Herr Kollege Dr. Stinner, diejenigen, die
vor Ort tätig sind, völlig verzweifeln müssten. Deswegen
hilft es bei solchen Debatten nicht, Herr Kollege
Schockenhoff, mit Emotionen zu operieren und zu unterstellen, dass in dieser Region noch auf Jahrzehnte hin
eine riesige Militärpräsenz notwendig sein wird.
({0})
Vergleichen Sie einmal die Militärpräsenz am Anfang
mit der heutigen. Sie werden dann erhebliche Unterschiede und Fortschritte erkennen, weil Zehntausende
von Soldaten abgezogen wurden. Ich denke, man muss
einmal deutlich machen, welche Veränderungen sich
dort ergeben haben.
({1})
Wir müssen uns auch die historische Perspektive vor
Augen führen, in welch unglaublich kurzer Zeit Demokratisierungsprozesse in Osteuropa stattgefunden haben
und was der Wandel bewirkt hat. Wir haben gestern dem
ukrainischen Präsidenten Juschtschenko ob der Leistung
der orangenen Opposition in der Ukraine Standing Ovations gezollt. Wir können doch nicht einfach beiseite wischen, wie schwierig solche Prozesse sind. Angesichts
der Entwicklung in den ehemaligen jugoslawischen Republiken auf dem Balkan kann die Erfahrung dieses
furchtbaren Bürgerkrieges nicht einfach weggewischt
werden. Sie ist eine Last, die in dieser Region zu spüren
ist. Wenn es der internationalen Staatengemeinschaft damals gelungen wäre, diese zu verhindern, dann wäre
heute manches einfacher. Es ist aber so, wie es ist, und
wir haben uns dieser Situation zu stellen.
Weil wir die Verantwortung mit übernommen haben
- das Parlament, die internationale Gemeinschaft und
die Bundesregierung -, müssen wir bereit sein, zu erkennen, dass das Licht, das im ehemaligen Jugoslawien zu
sehen ist, die schrecklichen Schattenseiten inzwischen
ein bisschen überstrahlt. Wenn ich mir den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion anschaue, dann sehe ich, dass das
im Wesentlichen bestätigt wird. Darüber hinaus - das
muss ich leider feststellen - finde ich wenig Substanzielles in diesem Antrag.
({2})
Deswegen wird es Sie nicht überraschen, dass wir ihm
nicht zustimmen werden.
Wir haben bei der politischen und wirtschaftlichen
Stabilisierung, beim Aufbau staatlicher Strukturen, im
Justizwesen und bei der Rückführung von Flüchtlingen
beachtliche Fortschritte erzielt. Das gilt auch für Bosnien-Herzegowina, das mir besonders am Herzen liegt.
Herr Kollege Dr. Stinner, selbstverständlich wird der
zehnte Jahrestag des Dayton-Abkommens Anlass sein,
darüber nachzudenken, wie dieser Prozess weiterentwickelt werden kann.
({3})
Wir beide sind gemeinsam bemüht gewesen, Anstöße zu
geben.
Es geht einmal um die Revision des Friedensvertrages
und es geht zum anderen - das ist offensichtlich Ihr
Schwerpunkt in Ihrem Antrag - um die Abschaffung der
so genannten „Bonn Powers“. Das ist vom Grundsatz
her eine völlig richtige Weichenstellung.
({4})
Ich denke, dass die Diskussion, die darüber geführt wird,
deutlich macht, dass erkennbare Fortschritte in BosnienHerzegowina gemacht worden sind. Ich weiß auch, dass
Sie, Herr Kollege Dr. Stinner, ein Kenner von BosnienHerzegowina sind. Deswegen meine ich, dass wir uns etwas Zeit nehmen müssen und nicht so vehement unsere
Forderungen einbringen sollten. Wir sollten den Prozess
vielmehr differenzierter sehen.
Nehmen wir einmal die „Bonn Powers“, die Paddy
Ashdown im Dezember eingesetzt hat. Es ging damals
nicht um Querelen der ethnischen Gruppen untereinander bzw. darüber, dass man sich nicht über Nummernschilder von Autos oder die Mehrwertsteuerreform einigen konnte. Es ging vielmehr darum, dass ein Teil dieser
ethnischen Gruppen - sprich: die Republik Srpska und
ihre Regierungsverantwortlichen - nicht bereit waren,
mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil: Man musste den Eindruck haben,
dass Kriegsverbrecher geschützt wurden.
So bedauerlich es ist, ohne die „Bonn Powers“ wäre
überhaupt nichts passiert. Dass der Prozess der Demokratisierung und der Staatenbildung noch nicht so weit
ist, dass die Kräfte vor Ort in der Lage sind, diese Leistung zu vollbringen, signalisiert - ob wir es wollen oder
nicht -, dass Korrektive in der Gestalt, die die „Bonn Powers“ möglich machen, noch notwendig sind.
Ich meine, dass es unsere Aufgabe ist, zu helfen, soweit wir helfen können. Wir haben darin Erfahrung. Ich
erinnere an die Erfolge im wirtschaftlichen oder im institutionellen Bereich. Ich denke dabei an manche gesamtstaatlichen Initiativen, die verwirklicht wurden, zum
Beispiel die Reform der Mehrwertsteuer oder die Verteidigungsreform. Das sollte eigentlich die Verantwortungsträger in den unterschiedlichen ethnischen Gruppen
ermutigen - ob in Mostar, in Banja Luka oder in Sarajevo -, sich stärker aufeinander zuzubewegen und die
Blockademöglichkeiten, die sie aufgrund des DaytonAbkommens haben, selber abzubauen. Je mehr das gelingt und je mehr Verantwortungsbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen in Bosnien-Herzegowina erkennbar ist, umso eher wird es möglich sein, das Instrument
der „Bonn Powers“, das ein Vehikel ist, das überhaupt
nicht ins demokratische Europa passt, rückgängig zu
machen.
({5})
Das geht aber nicht auf Knopfdruck. Sosehr ich Ihre
Ungeduld verstehen kann, muss ich an mich selbst, aber
auch an uns alle appellieren, die notwendige Geduld aufzubringen. Denn wir müssen auch über die Konsequenzen diskutieren. Wenn wir Eigenverantwortung wollen
- zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina -, dann können
wir nicht sagen: Ihr habt das so und so zu machen. Wenn
wir die Menschen nicht auf den Weg der Demokratisierung mitnehmen, dann sind unsere Worte verhältnismäßig hohl.
Deswegen hört es sich gut an, von der Regierung zu
fordern, mehr zu tun. Man muss aber akzeptieren, dass
es sich hier - frei nach Max Weber - um das Bohren sehr
dicker Bretter handelt. Ich bin der Bundesregierung
dankbar, dass sie hervorragend am Bohren dieser dicken
Bretter arbeitet. Wir sollten aufzeigen, dass diese Region
und insbesondere Bosnien-Herzegowina nicht nur die
Chance haben, die „Bonn Powers“ loszuwerden, wenn
sie bereit sind, die aufgezeigten Defizite abzubauen, sondern auch die Chance, einen Weg in die Europäische
Union zu finden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich stimme mit meinem Vorredner darin überein, dass in den zehn Jahren seit dem Daytoner Friedensabkommen viele Entwicklungen auf dem Balkan gut und
richtig gelaufen sind und dass es auch hoffnungsvolle
Ansätze auf dem Balkan gibt. Wir alle wissen, dass der
Friedens- und Demokratisierungsprozess auf dem Balkan noch längst nicht abgeschlossen ist und dass wir dort
noch einen langen Atem brauchen. Bei mir allerdings
wächst die Sorge, dass gerade das Jahr 2005 für den Balkan zu einem Jahr vieler Rückschläge werden kann und
mindestens von den Balkanländern als ein schwarzes
Jahr empfunden werden kann.
Ich will zu dieser komplexen Thematik nur einige
Problemfelder kurz ansprechen. Zunächst zu Kroatien.
Seit Mitte der 90er-Jahre hat es Kroatien Schritt für
Schritt, manchmal auch Schrittchen für Schrittchen, geschafft, Erfolge bei der politischen und wirtschaftlichen
Stabilisierung zu erzielen. Im letzten Jahr gab es wie in
einem normalen demokratischen Land einen friedlichen
Regierungswechsel. Er hat die demokratische Reife des
Landes deutlich bestätigt. Die Erfolge Kroatiens in den
letzten Jahren waren so überzeugend, dass die Europäische Union beschlossen hat, im März dieses Jahres Beitrittsverhandlungen mit Kroatien zu beginnen.
Diese positive Entwicklung insgesamt ist plötzlich infrage gestellt, und zwar durch einen mindestens für Außenstehende völlig undurchsichtigen Vorgang. Es geht
darum, dass Kroatien vom Internationalen StrafgerichtsMichael Stübgen
hof der Vorwurf gemacht wird, bei der Festsetzung des
mutmaßlichen Kriegsverbrechers Gotovina nicht intensiv genug zu kooperieren. Die kroatische Regierung bestreitet diesen Vorwurf vehement und verweist richtigerweise darauf, dass Herr Gotovina einen französischen
Pass habe, insofern in der ganzen Europäischen Union,
nahezu weltweit frei herumreisen könne, weshalb sie
nicht verantwortlich gemacht werden könne, wenn sie
ihn in ihrem Land nicht festsetzen könne.
Ich kann diese Vorwürfe an die kroatische Regierung
und die Verteidigung der kroatischen Regierung nicht
zweifelsfrei bewerten. Aber ich weiß eines: Wenn es in
der nächsten Woche dazu kommen sollte, dass der geplante Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien verschoben wird, auf unabsehbare Zeit auf die lange
Bank geschoben wird, dann wird dieser Vorgang in Kroatien als unverhältnismäßig und ungerecht empfunden
werden können.
({0})
Es wird sich der fade Beigeschmack ausbreiten, dass
Kroatien härter behandelt wird als andere Aspiranten
wie die Türkei.
({1})
Solche psychologischen Effekte sind gerade auf dem
Balkan gefährlich.
Nach meiner Überzeugung ist das Krisenmanagement
der Europäischen Union bisher unzureichend. Wenn es
denn dazu kommt, dass in der nächsten Woche der Beschluss zum Beginn der Beitrittsverhandlungen nicht
umgesetzt wird - es sieht danach aus; es steht heute auch
schon in der Zeitung -, dann halte ich persönlich zwei
Dinge für existenziell: Erstens. Der Europäische Rat
muss einen neuen Termin, am besten noch in diesem
Jahr, festsetzen. Er darf nicht einfach erklären: Irgendwann, wenn Kroatien irgendetwas umsetzt, was nicht
einmal genau definiert ist, fangen wir mit den Verhandlungen an.
Zweitens. Ich erwarte, dass die Europäische Union die
Handlungsanforderungen an Kroatien klar definiert. Es
reicht eben nicht aus, allgemeine Anschuldigungen vorzubringen und auf irgendwelche Geheimdiensterkenntnisse zu verweisen, die auch nirgendwo richtig begründet
werden. Falls Kroatien wirklich nicht ausreichend kooperiert, gibt gerade das Kroatien die Möglichkeit, mit
Ausreden immer wieder auszuweichen.
Es muss also klar werden: Was muss Kroatien zu welchem Zeitpunkt tun? Dann können wir alle, auch die
Balkanländer, bewerten, ob Kroatien mit offenen Karten
spielt oder ob es, wie der Vorwurf im Moment ist, abzutauchen versucht.
Ich denke, die in der nächsten Woche zu treffende
Entscheidung der Europäischen Union und insbesondere
ihre Umsetzung werden für die Zukunft der gesamten
Balkanregion sehr wichtig sein; denn wenn die Entscheidung nicht ordentlich umgesetzt wird, besteht langfristig
die Gefahr, dass die Destabilisierung voranschreitet und
dass der fortschrittliche Prozess in Kroatien aufhört und
sich ins Gegenteil verkehrt. Das wäre in jedem Fall das
Schädlichste und eine schlechte Basis. Ich erwarte in
dieser Angelegenheit mehr und offeneres Engagement
der Bundesregierung als bisher.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Zum Schluss der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt spricht der Kollege Siegfried Helias, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir, die CDU/CSU-Fraktion, uns für ein
stärkeres Engagement der EU auf dem westlichen Balkan aussprechen, dann liegt das nicht nur an dem scheinbar mutlosen Beharren der Bundesregierung auf dem
Status quo, sondern auch an den fehlenden Zukunftsstrategien für diese Region insgesamt. Frau Zapf, Anstrengung und guter Wille alleine genügen nicht. Sie haben
gesagt, dass die Bundesrepublik hier die treibende Kraft
sei. Dazu kann ich nur anmerken: Allenfalls ein Bummelzug hat sich in Bewegung gesetzt.
({0})
Nehmen wir als Beispiel das Kosovo. Dort sieht auch
sechs Jahre nach Kriegsende die Gesamtbilanz düster
aus, und zwar nicht zuletzt aufgrund des ebenso kostspieligen wie missglückten Managements der internationalen Gemeinschaft. Wir müssen feststellen, dass die internationale Staatengemeinschaft mit ihren bisherigen
Konzepten für das Kosovo schlichtweg gescheitert ist.
({1})
Allein im Rahmen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurden rund 2 Milliarden Euro investiert oder - besser gesagt - verpulvert.
Schauen wir auf die wirtschaftliche Entwicklung!
Frau Zapf, Sie haben Recht: Das ist ein entscheidendes
Element. Die Kollegin Tritz hat bereits auf die katastrophalen wirtschaftlichen Zustände hingewiesen. Schauen
wir noch ein bisschen genauer hin! Im Kosovo hat sich
allenfalls eine labile Dienstleistungswirtschaft entwickelt, die ohne die hohe internationale Personalpräsenz
gar nicht lebensfähig wäre. Produzierendes Gewerbe
gibt es kaum. Das belegt auch das Missverhältnis von
Einfuhr und Ausfuhr. So exportierte das Kosovo in einem Wirtschaftsjahr Waren im Wert von 27 Millionen
Euro und importierte im selben Zeitraum ein Pendant
von rund 1 Milliarde. Das muss man sich einmal vorstellen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass wir in einigen Gegenden des Kosovos eine Arbeitslosenquote von
rund 60 Prozent zu beklagen haben. Wie fast überall auf
dem westlichen Balkan sehen die Menschen im Kosovo
keine Perspektive. Qualifizierte Nachwuchskräfte wandern ins Ausland ab. Die Kosovaren wollen aber nicht
nur Empfänger von Hilfsleistungen, sondern gleichberechtigter Partner in der Entwicklungszusammenarbeit
sein.
({2})
Eine grundlegende Verbesserung der ökonomischen
Situation wird durch die unklaren politischen Vorgaben
behindert. Dafür nenne ich drei Beispiele, bei denen
dringender Handlungsbedarf besteht. Ausländische Investoren machen sich rar, solange sie ein staatliches Provisorium vor Augen haben. Frau Zapf, die Privatisierung
der so genannten volkseigenen Betriebe ist natürlich
schwer, aber nicht unmöglich. Sie kann allerdings nicht
anlaufen, solange eine rechtliche Regelung der Ersatzansprüche von Alteigentümern aussteht. Erschwerend
kommt hinzu, dass Investoren für die Altschulden haften
müssen. Diese Zustände können wir nicht länger hinnehmen. Ich weiß zwar um die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man etwas verändern will. Wenn wir aber
eine Regelung als schlecht und ungenügend ansehen,
dann müssen wir auch die Kraft haben, sie zu ändern.
Ohne Eigenstaatlichkeit kann das Kosovo außerdem
keine Kredite aufnehmen, um Infrastrukturvorhaben zu
verwirklichen.
Keine Frage, ohne internationale Unterstützung wird
sich in Zukunft in Kosovo nichts bewegen. Das sagen
auch die Experten der renommierten International Crisis
Group, deren Vorschläge durchaus einer näheren Betrachtung wert sind. Demnach soll die Region spätestens
2006 unabhängig werden, und zwar unter der Bedingung, dass eine Strategie zum Minderheitenschutz erarbeitet wird. Ein UN-Vermittler soll den Einigungsentwurf vorbereiten, der noch 2005 unter Einbeziehung der
Konfliktparteien auf einer internationalen Konferenz beraten wird. Die Kosovaren würden dann im Jahre 2006
im Rahmen eines Referendums darüber abstimmen.
Nun kann man über diesen Vorschlag streiten. An einem Punkt kommen wir jedoch nicht vorbei: Für die EU
ist in diesen Plänen keine Rolle vorgesehen. Das darf
nicht weiter verwundern; denn Europa hat offensichtlich
keine einheitliche Strategie für das Kosovo und für den
gesamten Balkan vorzuweisen.
Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept zu entwickeln, wie die Aufgaben des Stabilitätspaktes schrittweise in die Verantwortung der Region übertragen werden können,
({3})
nicht nur zum Wohle des westlichen Balkans, sondern
zum Wohle ganz Europas. Solange ein solches Konzept
nicht vorliegt, ist die Koalition gut beraten, die konkreten Vorschläge der Opposition - sowohl von der CDU/
CSU als auch von der FDP - unvoreingenommen und
gründlich zu prüfen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4722 und 15/4406 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Besteht dazu Einverständnis? - Das ist der Fall. Dann ist
es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 5 c. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 15/4799 zum Antrag der FDP-Fraktion mit
dem Titel „Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet“.
Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag auf
Drucksache 15/2860 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
einer breiten Mehrheit angenommen.
({0})
- Herr Kollege Pflüger, offenkundig ist das Beobachtungsvermögen im Präsidium ausgeprägter als in den
ersten Reihen der Opposition.
({1})
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 5 d. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4813 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist einvernehmlich. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“
- Drucksache 15/4998 ({2}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Fraktionen haben sich auf eine Redezeit von
30 Minuten verständigt. Möchte jemand weiter gehende
Anträge zur Redezeit stellen? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält zunächst der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Bundeskabinett hat am 15. Dezember
letzten Jahres den Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf zur
Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ beschlossen. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die
Wertschätzung von und die Nachfrage nach hochwertigen Planungs- und Bauleistungen zu sichern und auf
Dauer zu steigern, in Deutschland ebenso wie gegenüber
dem Ausland. Dazu bedarf es für das deutsche Planungsund Bauwesen neuer Formen der Kommunikation und
der Mobilisierung, die es in ähnlicher Form in anderen
Nationen oder in anderen Bereichen bereits gibt. Ich
denke an verschiedene Stiftungen in den Bereichen Kultur, Denkmalschutz und Umweltschutz.
Mit der „Bundesstiftung Baukultur“ will die Bundesregierung diese bundesweite Kommunikations- und Aktionsplattform schaffen. Die Stiftung soll das Bewusstsein für Baukultur bei Bauschaffenden und in der
Öffentlichkeit stärken und das Leistungsniveau deutscher Planer national wie international besser herausstellen. Wir glauben, dass es wirklich einiges gibt, was man
ins Schaufenster stellen kann. Ich glaube auch, dass wir
in diesem Bereich international Nachholbedarf haben.
({0})
Das Stiftungsprojekt stellt nicht nur ein wichtiges
Vorhaben der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode dar. Wir tragen damit auch dem Deutschen Bundestag Rechnung, der das Anliegen in seinem Beschluss
zur Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen im
Oktober 2003 fraktionsübergreifend unterstützt und die
Bundesregierung aufgefordert hat, einen entsprechenden
Gesetzentwurf einzubringen.
({1})
Die Idee einer Bundesstiftung, mit der der mit der
Bundesinitiative „Architektur und Baukultur“ angestoßene Dialog fortgeführt wird, ist im breiten Konsens mit
allen Beteiligten und von Anfang an auch im engen Dialog mit den Ländern entwickelt worden. Deshalb überrascht es, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme
zwar die Notwendigkeit, die Baukultur in Deutschland
zu fördern, ausdrücklich bekräftigt, zugleich aber dem
Bund unter Hinweis auf die Kulturhoheit der Länder
eine Regelungskompetenz abspricht.
Die Bundesregierung hat dies in ihrer Gegenäußerung
zurückgewiesen; denn der Bundesrat geht in seiner Stellungnahme nicht von dem Begriff der Baukultur aus, der
dem Gesetzentwurf zugrunde liegt. Dieser Begriff, wie
wir ihn verstehen und auch im Gesetz definieren, umfasst nicht allein die ästhetische Dimension und auch
nicht allein den Ausdruck künstlerischen Schaffens. Er
beinhaltet vielmehr das, was alle Fachleute unter Baukultur verstehen: die technischen und funktionalen
Aspekte, Planung und Planungsverfahren, Bauen und Instandhalten. Baukultur kann man nur ganzheitlich verstehen. Sie ergibt sich unteilbar aus dem Zusammenspiel
aller Disziplinen.
Im Ergebnis lässt sich daher nicht sagen: Einfaches
Bauen ist Baupolitik, anspruchsvolles Bauen ist Kulturpolitik. Wir alle, das heißt Länder, Bund, Gemeinden
und Private, sind - natürlich jeder in seinem Verantwortungsbereich - einer Kultur des Bauens verpflichtet. Der
Bund hat hierbei als Bauherr mit Vorbildfunktion und als
Verantwortlicher für wichtige Rahmenbedingungen im
Bauwesen, im Planungsrecht und im Städtebau Vorschlags-, Beschluss- und Gesetzesrecht. Er hat im Hinblick auf die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der
Baukultur als nationaler Standortfaktor und Imageträger
die Pflicht, dies voranzustellen. Wir haben also die
Kompetenz, den öffentlichen Qualitätsdialog um die
Maßstäbe guter Planung und guten Bauens zu organisieren. Auch die Baupolitik des Bundes muss dieser Bedeutung des Bauens Rechnung tragen.
Ich möchte deshalb nochmals betonen: Es geht bei der
geplanten „Bundesstiftung Baukultur“ nicht um die Förderung kultureller Projekte und nicht um Kulturpolitik.
Die Bundesstiftung konzentriert sich auf Kommunikationsinstrumente mit überregionaler und internationaler
Ausstrahlung und ist im gesamtstaatlichen Zusammenhang ein ganz wichtiger Baustein für die sehr bedeutenden Bereiche des Planens und des Bauens.
Der Namensbestandteil „Kultur“ im Namen „Bundesstiftung Baukultur“ sollte also nicht zu Missverständnissen Anlass geben oder gar für durchsichtige politische
Manöver missbraucht werden,
({2})
zumal über die Notwendigkeit, das Bewusstsein für Baukultur zu stärken, breitestes Einvernehmen besteht. Alles
andere wäre eine herbe Abfuhr für die Berufsgruppen
der Architekten und der Ingenieure, für die Berufsgruppen der Städtebauer und der Landschaftsplaner sowie für
viele andere, die mit hohem Einsatz für die Errichtung
einer bundesweiten Stiftung gekämpft haben.
({3})
Ich erinnere noch einmal an das, was ich schon im
Bundesrat gesagt habe: Bei den Bauministerkonferenzen
haben die Länder auf dem Weg zur Bundesstiftung immer mitgestimmt. In der Bauministerkonferenz saßen
auch Kolleginnen und Kollegen, die Verfassungsressorts
betreuen,
({4})
mit denen wir in jedem Detail besprochen haben, dass
wir natürlich eine bundesgesetzliche Möglichkeit haben,
uns aber auf das beschränken, was der Bund machen
kann.
Wir erwarten, dass - über die Anschubfinanzierung
des Bundes hinaus - langfristig der Finanzbedarf der
Stiftung wesentlich von privaten Dritten mitgetragen
wird. Eine erfolgreiche Werbung von privaten Spendern
und Sponsoren setzt aber voraus, dass die Stiftung ihre
Arbeit aufnimmt, nach außen in Erscheinung tritt und als
kompetente Stimme der Baukultur in der Öffentlichkeit
wahrgenommen wird. Wir möchten daher die Bundesstiftung möglichst zügig noch in diesem Jahr errichten.
Ich bin überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass die Stiftung - in enger Kooperation mit den vielfältigen Institutionen und Akteuren auf Länder- und Gemeindeebene - zu einer positiven Auseinandersetzung
der Bürger mit ihrem Umfeld beiträgt, die Wahrnehmung für die baukulturellen Aktivitäten in unserem
Land verbessert und die Architekten und Ingenieure auf
internationaler Ebene in eine viel bessere Position
bringt. Deshalb bitte ich Sie herzlich, das Gesetzgebungsverfahren positiv zu begleiten und die Errichtung
der „Bundesstiftung Baukultur“ zu unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Renate Blank für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir waren
uns doch parteiübergreifend im Ausschuss und im Plenum des Bundestages einig, dass sich das Thema Baukultur keinesfalls für einen parteipolitischen Streit auf
Bundesebene eignet.
({0})
Das Thema Baukultur ist nämlich eine Daueraufgabe
und dient auch dazu, um die gute Leistung von deutschen Architekten und Ingenieuren weltweit bekannt zu
machen. Deshalb haben wir dem Antrag der Koalitionsfraktionen „Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und
Bauen voranbringen“ zugestimmt. Dieser Antrag fand
sogar einhellige Zustimmung. Alle zehn im Antrag enthaltenen Punkte haben nach wie vor Gültigkeit.
({1})
Von uns allen gemeinsam wurde die Bundesregierung
aufgefordert, den Klärungsprozess so weit voranzutreiben, dass die „Stiftung Baukultur“ konkrete Gestalt annehmen und über ein Stiftungsgesetz beraten werden
könne, und in Zusammenarbeit mit den zuständigen
Fachverbänden, Hochschulen, Institutionen und Persönlichkeiten ein Konzept für den Aufbau einer „Stiftung
Baukultur“ zu erarbeiten.
Das Anliegen ist richtig. Allerdings ist der Zeitablauf
nicht gerade günstig gewählt worden. Die Bundesregierung hat nämlich den Gesetzentwurf zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt in die politische Arena geworfen.
({2})
Den Gesetzentwurf jetzt dem Bundesrat zur Stellungnahme zu übermitteln, war nicht hilfreich. Es war doch
erkennbar, dass der Bundesrat zum gleichen Zeitpunkt
die künftige Finanzierung der Akademie der Künste in
Berlin zum Anlass für Grundsatzdebatten über die Kompetenz des Bundes in Kulturfragen nimmt. Die Bundesregierung hat damit den Bundesrat geradezu genötigt,
den Gesetzentwurf zur „Bundesstiftung Baukultur“ jetzt
grundsätzlich abzulehnen,
({3})
auch wenn die Fachausschüsse zustimmend votierten.
Am 15. Dezember wurde im Bundeskabinett der Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ beschlossen. Minister Stolpe führte damals anlässlich der Befragung der Bundesregierung
unter anderem aus, dass wir in Deutschland allen Grund
hätten, die Leistungen der deutschen Planer, Ingenieure
und Architekten stärker zu beachten und dafür Sorge zu
tragen, dass sie Unterstützung erfahren und auch im
Ausland wahrgenommen werden. Man habe gelegentlich
den Eindruck, dass diese Leistungen weithin unterschätzt würden, wir uns aber durchaus mit anderen messen könnten. Nach Ansicht der Bundesregierung brauche
die Baukultur wie die Bereiche Kultur, Denkmal- und
Umweltschutz neue Formen der Motivierung und Mobilisierung. - So weit sinngemäß der Minister.
({4})
Meine Damen und Herren, gerade bei dem Thema
Kultur ist der Bundesrat sehr sensibel; denn seit dem
Scheitern der Föderalismuskommission achten die Bundesländer noch stärker auf die Wahrung ihrer Verfassungsrechte. Das hätte die Bundesregierung beachten
müssen. Wenn der Bundesrat der Auffassung ist, dass
der Bund für die Errichtung einer „Bundesstiftung
Baukultur“ - wir sprachen ja vorher immer von einer
„Stiftung Baukultur“ - in Deutschland keine verfassungsrechtliche Kompetenz habe, dann ist diese nachvollziehbar; denn der Gesetzentwurf geht nach Ansicht
des Bundesrates
vor allem in seinen Bestimmungen über den Konvent der Baukultur davon aus, dass Baukultur ein
Teilbereich der Kultur ist.
({5})
Baukultur ist jener Bereich, der über die bloße Bautechnik, Baustatik, Materialanalyse und -verwendung sowie über die bloße Funktionalität von Bauwerken hinausweist und Ausdruck künstlerischen
Schaffens ist. Dementsprechend wird zu Recht auch
in der Gesetzesbegründung ausgeführt, dass die gebaute Umwelt in besonderer Weise Selbstverständnis und Werthaltungen unserer Gesellschaft, ihre
Modernisierungsbereitschaft und ihre Leistungsfähigkeit widerspiegele und Baukultur einen Beitrag
für attraktive Städte und Gemeinden leisten müsse,
„in denen die Bürger sich wohl fühlen“ … Dies
sind aber kulturpolitische Zielsetzungen, deren Förderung, Entwicklung und Repräsentation allein in
die Verantwortung der Länder fällt.
So die Aussage der Mehrheit des Bundesrates, die nachvollziehbar und verständlich ist.
Weiter führt der Bundesrat aus:
Die Kulturhoheit liegt grundsätzlich bei den Ländern. Sie ist ihr verfassungsrechtlicher Auftrag und
Kernstück ihrer Eigenstaatlichkeit. Ungeschriebene Kompetenzen des Bundes bedürfen mit Blick
auf die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder als
Ausnahme daher einer besonderen Rechtfertigung.
Die Gesetzesbegründung enthält jedoch keinerlei
Hinweis darauf, welche Kompetenzgrundlage die
Bundesregierung für die Errichtung dieser neuen
rechtsfähigen Stiftung des öffentlichen Rechts heranzieht.
Nach Auffassung des Bundesrates ist die Förderung
der Baukultur als staatliche Aufgabe der Bundesgesetzgebung entzogen.
In seiner Stellungnahme vom 18. Februar hat der
Bundesrat insbesondere die Frage nach der dem Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ zugrunde liegenden Gesetzgebungskompetenz des
Bundes gestellt. Nach Ansicht des Bundesrates hat die
Bundesregierung diese Frage in ihrer Gegenäußerung
nur unzureichend beantwortet. Ausdrücklich bekräftigt
der Bundesrat jedoch die Notwendigkeit, die Baukultur
in Deutschland zu fördern und das Bewusstsein für ihre
Bedeutung in der Öffentlichkeit und bei den Bauherren
zu stärken.
({6})
Nur müssen diese Zielsetzungen in verfassungsrechtlich gebotener Weise realisiert und unter Wahrung der
verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit durchgeführt werden. Am 15. Dezember 2004 jedoch habe ich in
der Regierungsbefragung auf meine Frage, wie sich die
Länder zu einer Bundeskulturstiftung verhalten, als Antwort erhalten, dass sich die Bundesregierung „von Anfang an sehr intensiv zu dem Vorhaben mit den Ländern
ausgetauscht“ habe,
({7})
weil auch der Bundesregierung klar sei,
dass die Länder in diesem Bereich ganz klar definierte Kompetenzen haben. Für uns kommt als Aufgabenstellung all das infrage, was länderübergreifend oder von internationaler Bedeutung ist. Das
kann natürlich nur in Übereinstimmung mit den
Ländern gestaltet werden.
So die Aussage von Minister Stolpe.
({8})
Diese damaligen Aussagen des Ministers lassen nach
der ablehnenden Haltung des Bundesrates nur den eindeutigen Schluss zu, dass Minister Stolpe oder Staatssekretär Großmann mit den Ländern nicht richtig verhandelt hat.
({9})
Zugegebenermaßen hat sich der Bundesrat mit seinem
sehr kurzfristig eingebrachten Antrag nicht gerade kooperationsfreudig gezeigt. Die Bundesregierung muss
aber dafür Sorge tragen, dass der Start der „Bundesstiftung Baukultur“ nicht von einem handfesten Verfassungsstreit begleitet wird. Wir sind bereit, die parlamentarische Beratung im Zeitablauf so zu gestalten, dass die
Bundesregierung im Gespräch mit den Ländern nach Lösungen suchen kann, bevor der Konflikt im Bundesrat
weiter eskaliert.
({10})
Dem gemeinsamen Anliegen ist nicht geholfen, wenn
die Koalition den Gesetzentwurf gegen den Willen des
Bundesrates mit ihrer Mehrheit durch den Bundestag
peitscht und am Ende der Stiftungsstart im Schatten einer Verfassungsklage steht. Das sollten Sie bitte einmal
bedenken, meine Damen und Herren.
Das Thema Baukultur und eine „Stiftung Baukultur“
wurden in den vergangenen Jahren viel diskutiert. Es
war die Rede davon, dass die Stiftung von privatem Kapital getragen werden solle. Es sollten sich zum Beispiel
Architekten, Ingenieure und Weitere beteiligen. Das ist
nun gründlich schief gegangen. Denn es hat sich gezeigt,
dass die finanzielle Beteiligung der betroffenen Berufsstände nicht eingetroffen ist. Man ging davon aus, dass
jede der 125 000 betroffenen Personen 100 Euro zahlt,
was 12,5 Millionen Euro ergeben hätte, bei fünf Jahren
also 2,5 Millionen Euro pro Jahr. Aber die Berufsstände
haben sich nicht beteiligt. Dass dieser Betrag allein von
der Bundesregierung aufgebracht wird, war in den Vorgesprächen nicht vorgesehen.
Eine Anmerkung zum Deutschen Kulturrat kann ich
mir allerdings nicht verkneifen. Der Deutsche Kulturrat
führt aus, dass das vom Bund vorgeschlagene Stiftungskapital von 250 000 Euro in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem vom Bund geschätzten Finanzbedarf der
Stiftung von jährlich bis zu 2,5 Millionen Euro stehe.
({11})
Aber der Deutsche Kulturrat muss sich natürlich schon
einmal fragen lassen, ob er der Meinung ist, dass unendlich viel Geld zur Verfügung steht. Er befürchtet wohl
eher, nicht beteiligt zu werden, weshalb er auch bezweifelt, dass der Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und der Finanzminister zuständig seien. - Ja, wer
denn eigentlich sonst?
({12})
Der Bauminister ist eben zuständig für das Bauen.
Zurück zur Baukultur. Man sollte auch beachten, dass
die betroffenen Berufsstände in vielen Bundesländern
- da könnte ich Ihnen genügend Beispiele nennen: Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, NordrheinWestfalen - bereits ein Umfeld vorfinden, in dem sie
ihre Vorstellungen von Baukultur durchaus verwirklichen können.
Die Aufgaben einer „Stiftung Baukultur“, unter anderem die Sicherstellung der Qualität von gebauter Umwelt, wie sie sich in Gebäuden und Infrastrukturanlagen
sowie in deren Einordnung ins Landschafts- und Siedlungsbild und im öffentlichen Raum zeigt, werden in
vielen Bundesländern bereits seit vielen Jahren realisiert.
Qualitätsvolles Bauen und Planen bestätigt diejenigen
Bundesländer und Kommunen, die auf diesem Gebiet
seit langem traditionell erfolgreich handeln.
Baukultur kann nicht von oben verordnet werden.
({13})
- Herr Kollege Beckmeyer, in Bayern hat qualitätsvolles
Bauen eine sehr lange Tradition.
({14})
Ich wollte das in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnen, weil ich die Situation für die gesamte
Bundesrepublik darstellen wollte. Ihr Land kann sich ein
Beispiel an Bayern nehmen.
({15})
Wie gesagt: Baukultur kann nicht von oben verordnet
werden. Sie muss als konstruktiver und kreativer Dialogprozess in den Städten und Gemeinden unter Einbeziehung aller Verantwortlichen entwickelt werden. Bauen
ist nicht nur eine Angelegenheit von Bauherren und Architekten. Immer liegt auch ein öffentliches Interesse
vor. Baukultur bewegt sich immer im Spannungsfeld
zwischen individueller Nützlichkeit und sozialer
Brauchbarkeit. Baukultur ist daher keine Nebensache
und schon gar nicht gefällige Verpackung.
Nachdem die grundsätzlichen Aufgaben der „Stiftung
Baukultur“ - nämlich kontinuierlich eine Standortbestimmung zur Baukultur in Deutschland vorzunehmen,
den öffentlichen Dialog über Baukultur in vielfältiger
Weise anzuregen und zu fördern, ein Kommunikationsnetzwerk der Akteure im Bereich der Baukultur aufzubauen und die Leistungen deutscher Architekten, Ingenieure und anderer am Planen und Bauen Beteiligter
vor allem international darzustellen und bekannt zu machen - Übereinstimmung finden, fordern wir die Bundesregierung auf, mit den Ländern unverzüglich in Gespräche über die Lösung des Problems einzutreten.
Nach der heutigen ersten Lesung könnte bei gutem
Willen bis zur endgültigen Verabschiedung des Gesetzentwurfs mit den Ländern noch nachverhandelt werden.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska
Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schade, Frau Kollegin Blank, dass auch Sie inzwischen der Kirchturmspolitik der schwarzen Mehrheit im
Bundesrat auf den Leim gehen, obwohl Sie doch immer
sehr konstruktiv über Kunst und Kultur sowie über bauliche und städtebauliche Qualität diskutieren.
Aus meiner Sicht geht es in erster Linie nicht darum,
deutsche Leistungen zu vermarkten - das kann an bestimmten Stellen sinnvoll und nötig sein -, sondern darum, in Deutschland den Diskurs über Schönheit und
Qualität von Bau und Planung im Hinblick auf Baumaterialien, Maßstabstreue, Farben und Formen sowie
städtebauliche und konstruktive Ordnung zu führen.
Diese Diskussionskultur im eigenen Lande zu etablieren
ist dringend erforderlich.
({0})
Wenn uns das gelingt, dann können wir - noch sehr viel
besser als jetzt - diese Qualität auch auf internationaler
Ebene darstellen und sie mit den verschiedenen Gruppen
von Bauschaffenden, die es bei uns gibt, teilweise realisieren.
({1})
Obwohl unser Land in seiner Geschichte sehr viel
Baukultur erfahren hat, mit der wir uns in hohem Maße
identifizieren - ich nenne als Beispiel die Moderne der
20er-Jahre, die für uns im Hinblick auf die Qualität
Maßstäbe setzt -, müssen wir sagen, dass sich in unseren
Städten sehr missglückte Entwicklungen zeigen.
({2})
Es besteht eine Tendenz zu gewaltigen Solitärbauten.
Nahezu in jeder Stadt steht ein eitles oder auch missglücktes Projekt neben dem anderen.
({3})
Auf Baumessen wie der bautec wird mir angesichts
des Kitsches und der Scheußlichkeiten, die ich dort sehe,
regelrecht schlecht. Ich denke, auch über die Alltagsbaukultur muss intensiver diskutiert werden.
({4})
Von daher glaube ich, dass es für uns alle eine sehr
wichtige Aufgabe ist, daran ein Stück weiterzuarbeiten.
Das geht tatsächlich am besten in einem Diskurs, der auf
allen drei Stufen, auf der Ebene des Bundes und damit
der Gesamtnation, auf der Ebene der Länder und auf der
Ebene der einzelnen Kommunen, jeweils am eigenen Ort
geführt wird.
({5})
Ich komme jetzt zu einem weiteren Punkt. Ich verstehe überhaupt nicht, warum der Bundesrat meint, sich
dagegen sträuben zu müssen. Als Erstes muss ich ganz
schlicht sagen: Wir haben einen Bauminister, also haben
wir doch die Zuständigkeit für das Bauen. Als Zweites
ist zu sagen: Wer meint, dass die Kultur eine Art föderales Monopol der Länder ist, weiß nicht, dass unser
ganzes Leben, jede Aktion, all das, was wir gesellschaftlich und materiell gestalten, Kultur ist. Zu sagen: „Weil
es eine Hoheit der Länder für Kulturpolitik gibt, darf der
Bund keine ,Stiftung für Baukultur‘, gründen und diesen
Diskurs initiieren“, halte ich für eine absolut kleinkarierte Kirchturmpolitik.
({6})
Dürfen jetzt über die Gehry-Architektur in Düsseldorf
nur noch die Nordrhein-Westfalen diskutieren? Dürfen
über die eben gelobte bayerische Architektur nur noch
die Bayern diskutieren
({7})
und dürfen wir anderen nicht hören, nicht sehen, nicht
schmecken?
({8})
Dürfen, weil das Kanzleramt zufällig in Berlin steht, nur
die Berliner sagen: „Das ist die Kanzlerwaschmaschine“, und darf kein anderer dazu ein entsprechend
qualifiziertes Urteil abgeben? Liebe Frau Blank, das ist
schlicht unter Niveau.
({9})
- Doch, darüber diskutieren wir jetzt.
({10})
Insofern ganz schlicht mein Fazit: Formal ist es regelrecht absurd, was der Bundesrat mit seiner Mehrheit beschlossen hat. Liebe Kollegin, es ist wirklich unter Ihrem
Level, dass Sie dies zumindest erst einmal unterstützt
haben, auch wenn Sie versuchen, einen Verfahrensausweg zu finden. Ich halte ihn für überhaupt nicht nötig.
Ich finde, wir sollten den Bundesrat mit unseren Mehrheiten überstimmen.
Dies ist eigentlich auch unter dem Niveau des Bundesrats. Zu sagen, die Akademie der Künste sei der Anlass, ist eine eigene Diskussion wert. Es ist zu prüfen, ob
es nicht notwendig ist, dass der Bund auch in diesen Bereichen seine eigene kulturpolitische Definition für unsere gesamte Nation ein Stück weit vorantreibt. Wir haben anlässlich der Nacht der Schiller-Lesungen erlebt,
dass es sehr wichtig ist, auch auf nationaler Ebene unser
kulturelles Selbstverständnis zu definieren, darzustellen und nach außen zu tragen.
In diesem Sinne wünsche ich, dass die „Bundesstiftung Baukultur“ auf den Weg gebracht wird. Ich wünsche mir auch - da sind wir uns einig -, dass sich die gesellschaftlichen Akteure mit großer Entschiedenheit
daran beteiligen. Dafür sollten wir alle werben.
({11})
Die Architekten, Ingenieure und auch die Bauwirtschaft
sowie die Immobilienwirtschaft sollten mit ins Boot; das
halte ich für dringend notwendig. Aber ich lehne diesen
kleinkarierten Streit ab, in dem es darum geht, dass der
Bundesrat wieder einmal meint, er sei mit seinen Kirchtürmen für alles zuständig und wir könnten die Nation
kulturlos vertreten.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Otto.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, meine Redezeit
verbietet es mir leider, mich an dem hehren Diskurs über
Schönheit und Ästhetik zu beteiligen.
({0})
Ich will nur feststellen: In der Sache haben Sie sicherlich
Recht. Wenn man durch deutsche Länder fährt - ich
meine alle deutschen Länder, nicht nur Bayern -, dann
hat man den Eindruck, dass der Bauästhetik durch einen
Bewusstseinswandel ein bisschen auf die Beine geholfen
werden sollte. Deswegen ist die Idee einer Stiftung sicherlich gut.
Aber ich möchte, um die Diskussion in den Ausschüssen ein bisschen zu befruchten, jenseits der Frage der
Zuständigkeit auf zwei problematische Punkte hinweisen.
Der erste Punkt. Lieber Herr Staatssekretär
Großmann, wenn Sie darauf setzen, dass in großem Umfang privates Kapital in diese Stiftung fließt, verstehe ich
überhaupt nicht, dass diese Stiftung eine Stiftung öffentlichen Rechts sein soll. Es spräche alles dafür, eine privatrechtliche Stiftung zu errichten,
({1})
zumal wir auch die Kulturstiftung des Bundes als Stiftung bürgerlichen Rechts ausgestaltet haben. Das ist, offen gesagt, ein sehr diskussionsbedürftiger Aspekt. Wir
werden das in den Ausschüssen noch erörtern.
Frau Kollegin Blank, ich bin übrigens der Auffassung, wir könnten, wenn wir eine Stiftung privaten
Rechts errichteten, wahrscheinlich diesen ganzen Verfassungskonflikt mit den Ländern vermeiden und sagen:
Beteiligt euch doch!
({2})
Wenn die Länder meinen, sie seien hier zuständig, dann
sollen sie sich auch finanziell beteiligen.
Die finanzielle Beteiligung ist der zweite Punkt, den
ich ansprechen möchte. Ich teile schon die Auffassung,
die der Deutsche Kulturrat und andere geäußert haben:
Angesichts des Umfangs der Aufgaben ist ein finanzieller Grundstock - ein Stiftungskapital - von 250 000 Euro
unterirdisch niedrig. Ich denke, wenn wir von vornherein
wissen, es wird jährlich Ausgaben in Höhe von circa
2,5 Millionen Euro geben, dann kann doch das Stiftungskapital nicht nur ein Zehntel davon betragen. Lieber Herr
Großmann, das ist ein Etikettenschwindel, das ist keine
Stiftung mehr. Eine Stiftung braucht einen Kapitalstock,
der einem bestimmten Zweck gewidmet ist. Wenn Sie
nur so wenig hineingeben wollen, dann müssen wir es
sein lassen.
({3})
Hans-Joachim Otto ({4})
Mein Vorschlag ist: Lassen Sie uns wirklich in den
Ausschüssen noch einmal darüber reden, dass wir eine
Stiftung privaten Rechts errichten. Sie haben vorhin eine
interessante Rechnung aufgestellt und dabei die Beteiligung aller Architekten und Ingenieure vorausgesetzt.
Warum sollten sie sich nicht beteiligen, Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig? Mit einer Stiftung privaten Rechts
werden wir möglicherweise auch diesen Verfassungskonflikt vermeiden. Eines ist mir nämlich wichtig: Ich
halte es für abwegig und für schädlich, wenn eine gute
Sache dadurch belastet wird, dass wir im Bundesrat unerquickliche Diskussionen über die Zuständigkeit führen.
({5})
Mir liegt schon daran, dass wir hier eine Lösung finden.
Da wir eigentlich alle der Auffassung sind, dass hier eine
Zuständigkeit von allen - von Bund, Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft - gegeben ist, spricht doch
alles dafür, hier eine Stiftung privaten Rechts einzurichten und bei der Kapitalausstattung etwas draufzulegen.
Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion in den
Ausschüssen und kann Ihnen zusichern, dass auch die
FDP-Fraktion dem Anliegen im Grundsatz positiv gegenübersteht.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Weis.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Blank,
ich war schon sehr gespannt, wie Sie heute sozusagen
Ihren Kopf aus der argumentativen Schlinge ziehen,
welche die Mehrheit des Bundesrates Ihnen bereitet hat.
Ich muss gestehen: Mich haben Ihre Äußerungen nicht
überzeugt. Ich werde gleich noch einmal kurz darauf zurückkommen.
({0})
- Ja, das ist vielleicht mein Problem. Ich glaube aber, es
ist ein Stück weit auch unser gemeinsames Problem.
Wir diskutieren ein Gesetzesvorhaben, von dem wir
eigentlich mit Fug und Recht sagen könnten, dass es in
den letzten fünf Jahren mit einer außerordentlichen Zielstrebigkeit vorangetrieben worden ist. Ich würde sogar
so weit gehen, zu sagen, die Zielstrebigkeit ist fast vorbildlich gewesen, jedenfalls bis vor ein paar Tagen, als
wir die Stellungnahme des Bundesrates zur Kenntnis
nehmen mussten.
({1})
Dieses Lob will ich nicht nur auf die Bundesregierung
- in Person auf den Kollegen Großmann - beziehen,
sondern ausnahmsweise auch auf uns selbst; denn ich
denke, es ist uns bislang gelungen, in einer ziemlich großen Einmütigkeit ein Projekt weiterzuentwickeln, das
bereits jetzt seine Wirkung entfaltet und das weit über
unsere eigene Zeit hinausweist.
({2})
Wir haben relativ kurzfristig in einer konzertierten
und zugleich konzentrierten Aktion eine, wie ich glaube,
in sich schlüssige Konzeption erarbeitet, die sich als
tragfähiges Fundament eignet, um die Baukultur als eine
übergreifende Aufgabe zur Verbesserung der Qualität
von Bauen und Planen zu begreifen. Die Qualität dieses
Diskussions- und Entscheidungsprozesses ist neben dem
allgemeinen Problemdruck natürlich auch durch die Einsicht und das Interesse der Beteiligten, eine vorausschauende und gleichzeitig nachhaltige Politik zu betreiben, geprägt.
Neben ihrer originären Funktion fügt sich die „Bundesstiftung Baukultur“, wie sie jetzt konzipiert ist, in den
integrativen Ansatz unserer Stadtentwicklungs- und
Städtebauförderungspolitik ein. Wenn wir über den
Stadtumbau Ost und West, über die Weiterentwicklung
des Programms „Soziale Stadt“, über den städtebaulichen Denkmalschutz oder über vieles andere mehr reden, dann reden wir immer auch über baukulturelle Aufgabenstellungen und Ziele.
Die Baukultur wird in den kommenden Jahren und
Jahrzehnten große Auswirkungen auf die Weiterentwicklung unserer Städte haben. Wir werden sicherlich in
ein paar Wochen aus Anlass der Vorlage des Berichts
zum Städtebau darüber intensiver diskutieren können.
Jetzt nur so viel: Der Erfolg der Attraktivierung unserer
Innenstädte, die Bereitschaft und der Wunsch von Menschen, in Städten wohnen zu bleiben oder wieder in
Städte zu ziehen und das erfolgreiche Annehmen der Herausforderungen, die mit einer gleichzeitig alternden und
schrumpfenden Gesellschaft verbunden sind, werden
auch davon abhängen, ob es uns gelingt, den baukulturellen Bedürfnissen und Ansprüchen in einem ganzheitlichen Sinne nachzukommen.
Auch insofern ist und bleibt das Thema Baukultur
- darin sind wir uns durchaus einig, Frau Kollegin
Blank - eine Daueraufgabe, die auf die Kompetenz und
den guten Willen aller Beteiligten angewiesen ist, die
sich wiederum nicht nur an ihren eigenen Interessen
orientieren können, sondern auch ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein müssen.
Dass der Bund die finanziellen Verpflichtungen, die
mit der Gründung der Stiftung verbunden sind, tatsächlich eingeht, ist eine Prioritätensetzung, die diesem zweifellos ambitionierten Projekt entspricht. Die Baukultur ist
- das habe ich schon in der letzten Debatte angemerkt kein Luxusgut für konjunkturelle Schönwetterzeiten;
gleichwohl muss sie sich den finanzpolitischen Gegebenheiten anpassen. Das bedeutet auch - Herr Großmann hat
darauf hingewiesen -, dass es im Zuge der weiteren
Entwicklung möglich sein muss, den Finanzbedarf langfristig durch Dritte tragen zu lassen. Damit waren zunächst einmal nicht die Länder gemeint, Herr Otto.
Der Bund kann und soll einen Rahmen vorgeben und
da, wo er selbst Bauherr ist, mit gutem Beispiel vorangehen. Er soll auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene für den baukulturellen Standort Deutschland
werben, wann und wo immer es ihm möglich ist. Das
schließt ausdrücklich ein, die deutschen Planerinnen und
Planer auf dem internationalen Parkett so gut wie möglich zu positionieren, obwohl ich Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig Recht geben muss: Der Ansatz geht
weit darüber hinaus. Aber ich glaube, dass wir auch diesen Aspekt noch einmal betonen sollten.
Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass der Bundesrat mehrheitlich der Auffassung ist, dass wir uns mit
einer „Bundesstiftung Baukultur“ verfassungsrechtlich
überheben. Das überrascht mich, nachdem wir schon einige Jahre der Diskussion hinter uns haben,
({3})
und es ärgert mich, ehrlich gesagt, auch. Denn die Argumentation, dass es sich bei der jetzt vorgestellten Konzeption der Stiftung um einen Eingriff in die Kulturhoheit der Länder handelt, ist für mich und sicherlich
auch für meine Kolleginnen und Kollegen schlichtweg
nicht nachvollziehbar.
({4})
Weder geht der deutsche Föderalismus an der Baukultur zugrunde, noch wird er an ihr genesen. Ich denke,
darüber sind wir uns einig.
({5})
Nach meiner und unserer festen Überzeugung kann das
gemeinsame Anliegen, die Baukultur in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Wirksamkeit zu stärken,
kein Störfeuer gebrauchen. Insofern halte ich Ihre Argumentation für ein reines Ablenkungsmanöver, Frau Kollegin Blank.
Einen mehrjährigen, ausgesprochen engagierten Prozess aller Beteiligten auf diese Art und Weise nahezu zu
torpedieren erscheint mir als bloße politische Taktik
durchschaubar. Deswegen hoffe ich sehr, dass Sie Ihren
Einfluss geltend machen und dass wir in der Tat in den
weiteren Beratungen konstruktiv diskutieren können, damit wir das Projekt als solches nicht gefährden.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4998 ({0}) an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit sowie an den Ausschuss für Tourismus vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Otto
Bernhardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vereinheitlichung der Umsatzgrenze bei der Berechnung der Steuer nach
vereinnahmten Entgelten
- Drucksache 15/3193 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 15/4814 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Kerstin Andreae
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig
Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Reform der Umsatzsteuer - Durch Umstellung
von der Soll- auf die Istbesteuerung Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen und unnötige Liquiditätsbelastungen der Wirtschaft
vermeiden
- Drucksachen 15/2977, 15/4814 Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Kerstin Andreae
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Peter Rzepka.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Zielsetzung der Gesetzesinitiative der
Unionsfraktionen, die wir heute in zweiter und dritter
Beratung diskutieren, ist es, gezielt die kleinen Unternehmen zu stärken, um einen Beitrag für dringend notwendige Wachstums- und Beschäftigungsimpulse zu leisten.
({0})
Ausgangspunkt unseres Gesetzentwurfes ist die
Beobachtung, dass sich die Zahlungsmoral im Umfeld
einer anhaltend schwachen Konjunktur zunehmend verschlechtert. Insbesondere für mittelständische Unternehmen kann es aufgrund schleppender Zahlungseingänge
zu ernsten, existenzbedrohenden Liquiditätsengpässen
kommen. Die Versteuerung nach vereinbarten Entgelten,
die so genannte Sollbesteuerung, verschärft diese Problematik, da die Unternehmen die Umsatzsteuer unabhängig davon an das Finanzamt abführen müssen, ob sie
das Entgelt vereinnahmt haben oder nicht. Durch die
Sollbesteuerung wirken sich verzögerte Zahlungseingänge doppelt negativ auf die Liquiditätslage der Unternehmen aus, was in einer bereits angespannten wirtschaftlichen Situation zu mehr Insolvenzen führt und
damit zahlreiche Arbeitsplätze kostet.
Daher fordern wir, die Regelung einzuführen, dass
Unternehmen, die weniger als eine halbe Million Euro
Umsatz machen, die Umsatzsteuer zeitlich unbefristet
erst dann an das Finanzamt abführen müssen, wenn ihr
Auftraggeber die Rechnung beglichen hat. Da sich der
Grundsatz der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten
auf kleine Unternehmen in den neuen und alten Bundesländern gleichermaßen nachteilig auswirkt, soll diese
Regelung nach unserem Vorschlag bundesweit einheitlich gelten.
({1})
Die bisherige Istversteuerungsgrenze von
125 000 Euro in den alten Bundesländern soll ebenso
wie die zeitliche Befristung für die bereits bestehende
Umsatzgrenze von 500 000 Euro in den neuen Bundesländern aufgehoben werden. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die Umsatzgrenze von 250 000 DM
bzw. jetzt 125 000 Euro in den alten Bundesländern im
Wesentlichen unverändert seit 1968 gilt, sodass schon
aus diesem Grund eine Erhöhung gerechtfertigt erscheint.
({2})
Die Unionsfraktion leistet damit nicht nur einen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung in Deutschland, sondern sie reagiert damit vor allen Dingen auf die verheerenden Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Angesichts von
5,2 Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen, angesichts von fast 40 000 Unternehmensinsolvenzen im
Jahre 2004, vor allem im Bereich kleiner und mittlerer
Unternehmen, und angesichts der wiederum nach unten
korrigierten Wachstumsprognosen ist es unerträglich, die
Untätigkeit der Bundesregierung im Kampf gegen die
Arbeitslosigkeit zu beobachten.
({3})
Indem Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, können
Sie ein Zeichen setzen, auf das zum Beispiel das deutsche Handwerk seit langem wartet, und ihren Worten
endlich Taten folgen lassen.
({4})
Der Standort Deutschland lässt sich allein durch Ablenkungsmanöver und Ankündigungen nicht mehr
schönreden. Keinem ist geholfen, wenn zwar Wirtschaftsminister Clement unsere Ansicht teilt,
({5})
dass der Wirtschaftsstandort Deutschland noch vor einem Regierungswechsel 2006 attraktiver gemacht werden muss, der zuständige Finanzminister Eichel aber alle
Reformvorschläge blockiert.
In ihrer Ausgabe vom 23. Februar 2005 hat die „Berliner Zeitung“ berichtet, Herr Clement wolle einen alten
Plan aufgreifen und dafür sorgen, dass kleine Firmen
erst dann Umsatzsteuer zahlen müssen, wenn ihre Kunden ihre Rechnungen bezahlt haben. Dafür muss Herr
Clement nicht erst einen alten Plan aufgreifen.
({6})
Dafür müssen Sie nur dem vorliegenden Gesetzentwurf
zustimmen und damit signalisieren, dass Sie sich nicht
mit dem wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands abfinden.
({7})
Die Fortdauer des Theaters, das die Bundesregierung
derzeit aufführt, und die Fortdauer der steuerpolitischen
Stagnation kann sich Deutschland im Wettbewerb der
Standorte um Investitionen und Arbeitsplätze nicht mehr
erlauben.
Es gehört nicht gerade zu den am besten gehüteten
Geheimnissen, dass es die kleinen und mittleren
Unternehmen sind, die in Deutschland Arbeitsplätze
schaffen.
({8})
- Und Ausbildungsplätze; sehr richtig. - Deshalb muss
insbesondere bei den kleinen und mittleren Unternehmen angesetzt werden, will man im Kampf gegen die
Arbeitslosigkeit erfolgreich sein. Das Argument der
Bundesregierung, durch die Senkung der Einkommensteuersätze bereits genug für diese Unternehmen getan
zu haben, da Einzelunternehmen und Personengesellschaften von der Tarifentlastung profitieren würden,
trifft nicht zu.
Sieht man genau hin - das Karl-Bräuer-Institut des
Steuerzahlerbundes hat das getan -, dann zeigt sich, dass
Bezieher mittlerer Einkommen unter dem Strich nicht
nur nicht entlastet, sondern sogar zusätzlich belastet
wurden. Den Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts
zufolge reicht die tarifliche Entlastung zwischen 1990
und 2005 für einen Durchschnittsverdiener gerade einmal aus, um den zwischenzeitlich eingeführten Solidaritätszuschlag und die aus einer inflationsbedingten Tarifprogression resultierenden Belastungen auszugleichen.
Wer 1990 80 000 DM verdiente und 2005 bei zwischenzeitlichen Gehaltssteigerungen in Höhe der jeweiligen
Inflationsrate 59 310 Euro verdient, dessen Belastung ist
in den vergangenen 15 Jahren sogar um 2,7 Prozentpunkte angestiegen. Bedenkt man, dass zwischenzeitlich
Vergünstigungen gestrichen und damit SteuererhöhunPeter Rzepka
gen vorgenommen wurden, so ist endgültig das Vorurteil
entkräftet, bei der steuerlichen Belastung der kleinen
und mittleren Unternehmen bestehe in den nächsten Jahren kein Entlastungs- und Handlungsbedarf.
Lassen Sie mich ergänzend feststellen, dass sich die
von uns vorgeschlagene Änderung des Umsatzsteuergesetzes auch im Einklang mit der maßgebenden 6. EGRichtlinie befindet.
({9})
Auch die Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte sind unseres Erachtens vertretbar; denn die Steuermindereinnahmen sind nur temporärer Natur. Es sind nur
Steuerverschiebungen und sie dürften moderat ausfallen.
Jedenfalls sind sie im Interesse der kleinen Unternehmen
und ihrer Liquidität gerechtfertigt.
({10})
Wenn es uns gelingt, die Insolvenzwelle im Mittelstand durch diese und weitere Maßnahmen zu stoppen,
kann dies sogar zu Steuermehreinnahmen führen. Wenn
wir uns eine Entlastung der Unternehmen nicht mehr
leisten können, können wir uns bald gar nichts mehr leisten. Die Behauptungen aus der Regierungskoalition in
den Ausschussberatungen, die Heraufsetzung der Umsatzgrenzen für die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten sei übereilt, treffen unseres Erachtens jedenfalls
nicht zu.
({11})
Der Union geht es mit dieser Initiative nicht in erster
Linie um die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges.
Auf die Ergebnisse des Planspiels und der Machbarkeitsstudie zu diesem Thema zu warten, ist, was unsere Gesetzesinitiative angeht, jedenfalls nicht erforderlich. Im
Gegenteil, die wirtschaftliche Situation lässt fortdauernde Tatenlosigkeit nicht zu.
({12})
Steuerpolitische Maßnahmen zur Entlastung des Mittelstandes sind vor diesem Hintergrund nicht übereilt, sondern überfällig.
Anders stellt sich die Situation bei der von der Fraktion der FDP vorgesehenen generellen Umstellung auf
die Istbesteuerung dar. Zwar habe ich bereits in meiner
Rede am 26. September 2003 - nach meinen Informationen als Erster in diesem Hause - angeregt,
({13})
zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges über die
Ausweitung der Istbesteuerung nachzudenken; allerdings ist es vor dem Hintergrund der immer noch laufenden Machbarkeitsstudie und des nach wie vor bestehenden Beratungsbedarfs im Zusammenhang mit dem
Umsatzsteuerbetrug zu früh, die Praktikabilität einer generellen Umstellung auf die Istbesteuerung zu beurteilen. Sie wissen ja auch, dass weitere Vorschläge in der
Diskussion sind und ebenfalls im Rahmen von Machbarkeitsstudien geprüft werden. Ich erinnere an das Reverse-Charge-Modell.
Auch eine Istbesteuerung verlangt nach effektiver
Kontrolle, unter anderem der tatsächlichen Rechnungsbegleichung. Wie eine solche Kontrolle ohne erheblichen bürokratischen Mehraufwand für Finanzverwaltung und Unternehmen praktisch auszugestalten ist,
wurde von der FDP-Fraktion immer noch nicht dargelegt. Dessen ungeachtet hat diese Initiative ihre Berechtigung und wir freuen uns darüber, dass unsere Anregung sowohl von der FDP-Fraktion als auch vom
Bundesfinanzministerium aufgegriffen worden ist und
zu der bereits erwähnten Machbarkeitsstudie geführt hat.
Besonders hinweisen möchte ich auch auf die Notwendigkeit, unsere Vorgehensweise mit der EU-Kommission abzustimmen, ohne deren Zustimmung eine
Systemumstellung nicht möglich ist. Unserer Vorstellung entspricht es, zunächst auf nationaler und europäischer Ebene Überlegungen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges auf Grundlage des geltenden Rechts
voranzutreiben. Da ist nach meiner Auffassung noch
längst nicht alles getan, was möglich wäre.
({14})
So unterstützen wir die von der Europäischen Kommission zuletzt in ihrem 5. Bericht vom 17. Januar
dieses Jahres geforderte Schaffung von auf Informationserhebung, Informationsanalyse und Informationsweitergabe spezialisierten Stellen. Wir bieten bei der
Umsetzung eines bundeseinheitlichen EDV-gestützten
Risikomanagements - wie bei allen Maßnahmen, die zur
effektiven Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges geeignet sind - ausdrücklich unsere Hilfe an. Einen Systemwechsel sollten wir aber erst dann gemeinsam in Angriff nehmen, wenn alle damit zusammenhängenden
Fragen und Probleme hinreichend geklärt worden sind.
Die Union wird sich aus diesen Gründen zum Antrag der
FDP-Fraktion der Stimme enthalten.
Ungeachtet dessen hoffen wir, dass unser Gesetzentwurf im Interesse der kleinen Unternehmen, die in besonderer Weise unter der von dieser Regierung zu verantwortenden Wachstums- und Beschäftigungskrise
leiden, eine Mehrheit in diesem Hause finden wird.
Lassen Sie mich zum Schluss meines Beitrages darauf hinweisen, dass der von uns vorgelegte Gesetzentwurf nur ein kleiner Baustein auf dem Wege zu einer
umfassenden Unternehmensteuerreform sein kann. Entschlossenes Handeln auf dem Gebiet der Unternehmensteuern duldet nach Auffassung der Unionsfraktion keinen Aufschub mehr.
({15})
Ein weiteres Zögern bedeutet nicht nur Stillstand, sondern ein weiteres Zurückfallen im internationalen Wettbewerb, der auch auf dem Gebiete der Steuern ausgetragen wird.
Die Konzepte der Opposition zu den Unternehmensteuern liegen auf dem Tisch. Wir fordern die Bundesregierung auf, zu handeln und endlich beratungsfähige
Gesetzentwürfe vorzulegen. Die Zeit drängt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Lydia Westrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schön, dass wir wieder einmal über die Umsatzsteuer reden.
({0})
- Herr Seiffert, ich bin schon sehr gespannt auf das neue
Konzept, das uns heute wieder einmal angekündigt
wurde. Bei Ihrem letzten Steuerkonzept haben Sie die
Unternehmensteuern ja ganz vergessen gehabt.
({1})
Wir werden sehen, was nächste Woche oder wann auch
immer von Ihnen auf den Tisch gelegt wird. Vielleicht
ein Bierdeckel für die Unternehmensteuer? Wir werden
sehen.
({2})
Die Umsatzsteuer ist eine unserer wichtigsten Einnahmequellen, die wir gemeinsam immerfort hegen und
pflegen. Unser Finanzminister Gernot Mittler aus Rheinland-Pfalz hat gesagt, die Umsatzsteuer werde zur Achillesferse der öffentlichen Haushalte in ganz Europa werden. Er hat die vom Ifo-Institut angegebenen
Fehlbeträge, die von kriminellem Missbrauch der Umsatzsteuer herrühren, hochgerechnet. Schon in der früheren EU der 15 gab es Steuerausfälle von jährlich
60 Milliarden Euro. Das sind 60 Prozent des EU-Haushaltes eines Jahres! Bei der jetzigen EU können wir noch
einiges mehr dazuzählen. Wir reden also von großen
Summen und einem Missstand, den wir nicht hinnehmen
können.
({3})
Ich denke, darin sind wir uns alle einig; Sie haben das ja
im September noch einmal sehr ausführlich erläutert.
({4})
Wir haben in den letzten Jahren mit wichtigen gesetzgeberischen Maßnahmen die Bekämpfung des Umsatzsteuermissbrauchs sehr offensiv vorangetrieben.
({5})
Die Steuerverwaltung hat Instrumente an die Hand bekommen, die zwischenzeitlich mit gutem Erfolg angewendet werden, Herr Seiffert.
({6})
Das waren gemeinsame Anstrengungen der Bundesregierung, der Koalitionsfraktionen und der Länder, aber
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, waren nicht dabei. Wo bleibt Ihre Verantwortung für die
Lösung dieses gemeinsam beklagten Missstandes? Das
muss ich schon einmal deutlich fragen.
({7})
Ich denke nur an die Diskussion, die wir damals über die
unangekündigte Nachschau geführt haben. Heute sagen
uns in der Anhörung sogar die Vertreter von Wirtschaftsverbänden, dass wir damit ein hilfreiches Instrument für
die Finanzverwaltungen eingeführt haben.
({8})
Sie hatten damals nicht den Mut, dazu Ja zu sagen.
({9})
Wir alle wissen, dass die Umsatzsteuerhinterziehung
nicht nur den Staat und die Steuerzahler, sondern natürlich auch die Wirtschaft in sehr hohem Maße schädigt.
Deswegen arbeitet die Wirtschaft mit daran, den Missbrauch einzudämmen. Steuerehrliche Unternehmen können mit steuerunehrlichen Unternehmen nicht konkurrieren, sie werden vom Markt verdrängt. Wirtschaftskraft
und Arbeitsplätze gehen verloren. Natürlich können wir
dabei nicht zusehen.
Da wir heute über Ihren Antrag bzw. Ihren Gesetzentwurf reden, ist klar, dass Sie sich dieses Problems,
dieses großen Missstandes sehr wohl bewusst sind, auch
wenn Sie nicht mutig genug sind, dabei mitzumachen,
die Verwaltung in ihrem Kampf gegen die kriminellen
Elemente wirksam zu unterstützen.
Sicher gibt es immer verschiedene Wege, bestimmte
Ziele zu erreichen. Der Antrag der FDP auf sofortige
Umstellung der Umsatzsteuererhebung von der Soll- auf
die Istbesteuerung, um den Umsatzsteuerbetrug wirksam zu bekämpfen und gleichzeitig für mehr Liquidität
in den Unternehmen zu sorgen, ist aber leider nur als
kaum ernst zu nehmender Schnellschuss zu bezeichnen.
Das hat Herr Rzepka schon ausgeführt.
({10})
Sie wissen genau: Auch, wenn wir wollten, können
wir das gar nicht so schnell realisieren. Die EU hat dabei
nämlich noch ein Wort mitzureden. Wir sind an die
6. EG-Richtlinie gebunden und die Signale aus Brüssel
in dieser Richtung sind nicht allzu ermutigend. Daneben
wissen Sie genau, dass wir Planspiele in Gang gesetzt
haben, durch die die Möglichkeiten eines anderen Mehrwertsteuersystems ausgelotet werden.
({11})
Ich nenne das Reverse-Charge-Modell und die Istbesteuerung verbunden mit einem Cross-Check. Warten Sie
doch wenigstens diese Ergebnisse ab. Dann können wir
auch mit handfesten Argumenten in Brüssel auftreten,
sodass wir uns nicht mehr mit neuen, unausgegorenen
Vorschlägen gleich ins Hintertreffen bringen.
Wir sind uns einig, dass wir mit unseren gesetzgeberischen, technischen und organisatorischen Mitteln bei der
Bekämpfung des Umsatzsteuermissbrauchs nicht mehr
viel weiter kommen. Die Länder können bei der Steuerfahndung und bei der Intensität ihrer Prüfungstätigkeit
sicher noch einiges mehr tun. Das können sie ruhig noch
höher fahren. Wir hier sind gefordert, zu überlegen, wie
wir das Mehrwertsteuersystem so verändern können,
dass es sich nicht mehr zum Bedienungsfeld krimineller
Elemente eignet. Dies muss seriös und mit Hand und
Fuß geschehen. Schnellschüsse, bei denen wir nicht einschätzen können, welche neuen betrügerischen Möglichkeiten damit verbunden sind, können wir uns nicht mehr
leisten.
({12})
Herr Solms, ob die Steuerberater damit einverstanden
sind, die Haftung und Verantwortung für ein solch ungeprüftes Feld zu übernehmen, wage ich zudem zu bezweifeln. Wir müssen Ihren Antrag zum jetzigen Zeitpunkt
also ablehnen.
({13})
Wir haben an Sie aber die Bitte, dass Sie fundiert weiter
mit uns diskutieren, wenn die Erkenntnisse aus den Planspielen vorliegen.
({14})
Die CDU/CSU verfolgt mit ihrem Gesetzentwurf eine
andere Intention, das ist klar. Sie wollen Liquiditätsengpässen von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenwirken.
({15})
Leider ist der Gesetzentwurf ebenfalls untauglich.
({16})
Erstens würden weit mehr Kosten als die von Ihnen veranschlagten 700 Millionen Euro anfallen, wobei auch
diese natürlich schon kein Pappenstiel sind, zumal Sie
selbst ständig Sparsamkeit anmahnen. Laut den Daten
des Statistischen Bundesamtes würden dort leicht über
2 Milliarden Euro zusammenkommen. Sie sagen, das
könne man einfach mal locker ausgeben, es seien Einmaleffekte. Trotzdem ist das nicht zu finanzieren.
Der zweite, noch wichtigere Ablehnungsgrund ist,
dass wir damit bundesweit ein System einrichten würden, das hoch betrugsanfällig ist; das wissen Sie auch
selbst. Soll- und Istbesteuerung würden dabei nämlich
nebeneinander herlaufen und es würde noch erheblich
größere Betrugspotenziale zulasten unseres Haushaltes
geben als vorher. Die generelle Umstellung, die die FDP
fordert, wäre Ihrem Gesetzentwurf vorzuziehen, da es
dann wenigstens nur ein System gäbe, das wir zu realisieren hätten. Außerdem haben wir für die kleinen Unternehmen aus den neuen Ländern die Istbesteuerung mit
der höheren Umsatzgrenze nur nach einem größeren Abwägungsprozess zugelassen. Eine bundesweite Ausdehnung auf höhere Umsatzgrenzen kommt derzeit nicht infrage.
Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, Sie
müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen. Wollen
Sie eine Umsatzsteuer, die als wichtige Einnahmequelle
weiterhin den Interessen der ehrlichen Bürgerinnen und
Bürger dient, oder wollen Sie ein Durcheinander von
Systemen, bei denen den kriminellen Elementen das
Herz lacht?
({17})
Kleinunternehmen hilft dieses Durcheinander nicht weiter. Sie täten besser daran, diese kriminellen Machenschaften mit uns wirksam zu bekämpfen
({18})
und mit uns ein Mehrwertsteuersystem zu erarbeiten, das
nicht mehr in diesem Maße betrugsanfällig ist.
({19})
Ehrlich gesagt, würden Sie in Ihren Ländern - das wissen Sie selbst ganz genau - weder für den Antrag noch
für den Gesetzentwurf eine Mehrheit finden.
({20})
Warum legen Sie uns Gesetzentwürfe vor, von denen Sie
wissen, dass sie im Bundesrat auf jeden Fall scheitern
werden? Es tut mir sehr Leid, dass wir den Gesetzentwurf und den Antrag ablehnen müssen.
Vielen Dank.
({21})
Jetzt hat das Wort der verehrte Herr Kollege Hermann
Otto Solms.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man genau zugehört hat,
stellt man fest, dass wir uns in der Diagnose parteiübergreifend einig sind. Die Umsatzsteuer hat im Erhebungsverfahren erhebliche Nachteile. Sie belastet die Liquidität von kleinen und mittleren Unternehmen und
Handwerksbetrieben. Sie ist zudem international besonders betrugsanfällig. Es ist gut, dass wir uns in dieser
Diagnose einig sind. Ich freue mich auch, zu hören, dass
man im Finanzministerium große Anstrengungen unternimmt, die richtigen Korrekturverfahren zu ermitteln,
um dann die entsprechenden Vorschläge zu machen.
Die CDU/CSU hat den Vorschlag gemacht, die Istbesteuerung in Ost- wie in Westdeutschland auf Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 500 000 Euro auszudehnen. Der Vorschlag geht nach unserer Meinung in die
richtige Richtung, weil er gerade bei kleineren Unternehmen eine Liquiditätsentlastung bewirkt. Deswegen
können wir diesem Vorschlag ohne weiteres zustimmen.
Wir haben vorgeschlagen, generell auf die Istbesteuerung überzugehen. Ich bin auch nach längerer Lektüre
der entsprechenden Fragen der Meinung, dass dies wahrscheinlich der richtige Weg sein wird. Ich bin allerdings
auch der Meinung, dass die Kombination mit einem aufwendigen Cross-Check-Verfahren in die Irre führt.
Großbritannien hat es uns vorgemacht. Dort wird mit einer Bagatellgrenze von meinetwegen 5 000 oder
10 000 Euro Umsatz gearbeitet. Diese geringen Umsätze
brauchen dann nicht mehr speziell geprüft zu werden.
Ansonsten wird mit Stichproben gearbeitet. In der heutigen Computerwelt ist es nicht schwer, auffällige größere
Umsätze durch Stichproben besonders zu prüfen. Ich
denke, dass der Weg dahin führen wird.
Jedenfalls scheint mir die Umstellung von der Sollauf die Istbesteuerung auch europarechtlich der einfachere und gangbarere Weg zu sein. Wie ich höre, ist das
Finanzministerium der gleichen Meinung. Allerdings
wollen wir gerne die Machbarkeitsstudie genauso wie
das Planspiel beim Reverse-Charge-Verfahren abwarten,
welches dann allerdings europarechtlich auf größere
Schwierigkeiten stoßen dürfte und eine Vereinbarung in
Europa über die Länder hinweg zur Voraussetzung hätte.
Diese dürfte sehr schwer zu erreichen sein.
Entscheidend ist, dass jetzt gehandelt wird. Wir haben
unseren Antrag vor einem Jahr eingebracht. Ich hatte
vorher schon in einem Artikel der „FAZ“ die Richtung,
in die wir denken, angedeutet. Wir müssen handeln, weil
durch Groß- wie durch Kleinbetrug zweistellige Milliardenbeträge verloren gehen, wie das Ifo-Institut ermittelt
hat. Das können sich weder die Finanzminister der Länder noch der Finanzminister des Bundes leisten. Im Übrigen sind auch die Kommunen an der Umsatzsteuer beteiligt.
({0})
Deswegen hoffe und erwarte ich, dass die Bundesregierung nach der Überprüfung der Verfahren möglichst
noch in diesem Jahr einen Vorschlag macht, dem wir
hoffentlich alle zustimmen können; denn diese Sache ist
zwischen den Parteien nicht umstritten. In diesem Sinne
sehe ich unseren Antrag als Antrieb für eine solche Entscheidung. Auch wenn er heute keine Mehrheit findet,
glauben wir, dass wir das richtige Signal gesetzt haben.
Wir hoffen, noch in diesem Jahr gemeinsam zu einer Lösung zu kommen. Das würde für die Haushalte von
Bund und Ländern eine entscheidende Entlastung bedeuten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta Krüger-Jacob.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Um es vorwegzunehmen: Die Grünen werden gemäß der
Beschlussempfehlung des federführenden Finanzausschusses den Gesetzentwurf der Union sowie den Antrag
der FDP ablehnen.
({0})
Da der Antrag und der Gesetzentwurf aber aus unserer
Sicht ein eminent wichtiges Thema betreffen und deren
inhaltliche Richtigkeit nicht pauschal infrage gestellt
werden soll, ist uns an einer sachlichen Auseinandersetzung gelegen.
Die aktuelle Debatte darüber, kleinen Unternehmen
die Möglichkeit einzuräumen, bei der Umsatzsteuer statt
der Soll- die Istbesteuerung anwenden zu dürfen, hat
zwei Stoßrichtungen: Zum einen handelt es sich um ein
Mittel zur Betrugsbekämpfung, zum anderen um eine
wirtschaftspolitische Maßnahme. Diese beiden Ziele
sollten wir unbedingt auseinander halten.
Der Umsatzsteuerbetrug verursacht jährlich einen
Steuerausfall in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro. Hätten wir diese Einnahmen, dann läge das Haushaltsdefizit
unter 3 Prozent, wäre damit Maastricht-konform und wir
hätten weniger sonstige Debatten. Allein diese Größe
zeigt, dass wir keinerlei Alternative zur wirksamen Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges haben. Zurzeit gibt
es durchschnittlich nur alle 50 Jahre eine Prüfung pro
Unternehmen in Bezug auf die Umsatzsteuer. Der Grund
hierfür ist zu wenig Personal. Das Problem liegt dabei in
der Aufdeckung der Betrugsfälle. Hingegen ist die Bearbeitung der bekannt gewordenen Fälle einfacher.
Als großes Hindernis stellt sich dabei die Tatsache
dar, dass wir keine Bundessteuerverwaltung haben.
Eine zentrale Verwaltung mit allen Daten in einer Hand
würde einen schnelleren länderübergreifenden Abgleich
ermöglichen.
({1})
Dadurch würde die Aufdeckung von Betrugsfällen gerade bei der Umsatzsteuer erheblich vereinfacht. Da zur
Betrugsbekämpfung ein Mehr an Prüfung notwendig ist,
prüft das BMF zurzeit das so genannte Cross-CheckVerfahren. Wesentliche Voraussetzung hierfür ist eine
flächendeckende elektronische Umsatzsteuerbearbeitung.
({2})
Um einen Abgleich von Umsatzsteuer und Vorsteuer zu
ermöglichen, muss jeder Unternehmer elektronisch im
Rahmen einer monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung
die einzelnen Rechnungsbeträge und die darauf entfallende Umsatzsteuer anmelden, und zwar bei einer noch
einzurichtenden Zentralbehörde. Diese gleicht dann den
Ausgangsumsatz bei Unternehmer A mit dem entsprechenden Eingangsumsatz bei Unternehmer B ab. Auf
diese Weise kann festgestellt werden, ob die Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs für den Leistungsempfänger vorliegen. Bagatellumsätze bis 500 Euro sind von
diesem Verfahren ausgenommen.
Die hierzu laufende Machbarkeitsstudie wird bis
Mitte dieses Jahres abgeschlossen sein. Wir sollten die
Studie abwarten und bei Reformbemühungen deren Ergebnisse berücksichtigen. Nordrhein-Westfalen wird übrigens als erstes Bundesland zur Koordinierung aller
Maßnahmen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges
ein Zentralfinanzamt einrichten und damit einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen.
({3})
Der FDP-Antrag befasst sich leider nicht mit der Betrugsbekämpfung, sondern ist im Kern ein Vorschlag für
eine Umsatzsteuerreform. Jedoch kann alleine mit dem
Übergang von der Soll- zur Istbesteuerung der Umsatzsteuerbetrug nicht bekämpft werden, denn bei beiden Alternativen muss vom Finanzamt gleichermaßen geprüft
werden. Dies im Übrigen auch deshalb, weil ein Kontoauszug ebenso leicht gefälscht werden kann wie eine
Rechnung. Insbesondere bei Onlinebanken, wo man die
Kontoauszüge zu Hause ausdrucken kann, ist der Rechnungseingang ebenso betrugsanfällig, wenn kriminelle
Energie vorhanden ist.
Auch wenn die Einführung der Istbesteuerung, in
welchen Grenzen auch immer, ohne Cross-Check und
ohne Ausweitung der Prüfmöglichkeiten keine Betrugsbekämpfung darstellt, könnte sie eine Maßnahme sinnvoller Wirtschaftspolitik sein. Eines jedenfalls ist offensichtlich: Die Istbesteuerung verschafft eine höhere
Liquidität, was gerade für kleine und mittlere Unternehmen wichtig ist. Es ist auch sinnvoll und den Betroffenen darüber hinaus viel besser zu vermitteln, dass Steuern erst bei Eingang des Rechnungsbetrages gezahlt
werden müssen.
({4})
Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen auch weiterhin stärken
müssen;
({5})
denn sie sind unverzichtbarer Kern unserer Volkswirtschaft.
({6})
Wenn aber diese Stärkungsmaßnahmen zu enormen
Steuerausfällen führen, müssen wir offen über Kosten
und Gegenfinanzierungen sprechen.
({7})
Nach den Berechnungen des BMF würde es einen einmaligen Steuerausfall in Höhe von 4,2 Milliarden Euro
verursachen, wenn gemäß dem FDP-Antrag alle Unternehmen, deren Umsatz unter 2,5 Millionen Euro liegt,
die Möglichkeit der Istbesteuerung erhalten würden.
Dies stellt für unseren Haushalt zumindest zurzeit ein
echtes Problem dar.
({8})
Die Union hat die Umsatzgrenze mit 500 000 Euro zwar
bescheidener angesetzt, aber auch hier entsteht ein Steuerausfall in Höhe von 2,8 Milliarden Euro.
({9})
Solange wir keine Möglichkeit haben, diese - und seien
es nur vorübergehende - Steuerausfälle gegenzufinanzieren, können wir diese Anträge nicht umsetzen und
müssen sie ablehnen. Im Hinblick auf die wesentliche
Bedeutung des Themas muss es jedoch in unser aller Interesse sein, die Umsatzsteuer immer wieder zu unserem
Gesprächsthema zu machen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/3193 zur Vereinheitlichung der Umsatzgrenze bei der
Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4814, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt
damit die weitere Beratung.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4814 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/2977 mit dem Titel „Reform der
Umsatzsteuer - Durch Umstellung von der Soll- auf die
Istbesteuerung Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen
und unnötige Liquiditätsbelastungen der Wirtschaft vermeiden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der FDP und eine Stimme aus der CDU/
CSU bei sonstiger Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stabilitätspolitik im Kaukasus und die Zukunft Tschetscheniens
- Drucksache 15/4855 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Markus Meckel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass Tschetschenien heute wieder Thema unserer Debatte ist. Wir alle wissen, dass - nicht bei uns im
Bundestag, aber in der öffentlich stattfindenden politischen Debatte - über Tschetschenien und den dort vorherrschenden Krieg und Terror allzu oft und allzu lange
geschwiegen wird.
Es ist gewiss richtig - das betrifft nicht nur uns Deutsche, sondern den Westen überhaupt -, dass wir Russland als Partner brauchen. Das wird auch künftig so sein.
Doch das darf nicht dazu führen, dass wir diesen Konflikt, der bis zum heutigen Tag viele zivile Opfer fordert,
ausblenden. Schreckliche Terroranschläge, wie zuletzt in
Beslan, rütteln uns auf. Vor wenigen Monaten haben wir
hier der vielen Kinder, der russischen und inguschetischen Opfer gedacht. Doch dann gehen wir allzu schnell
wieder zur Tagesordnung über.
Die Tschetschenen sind seit Jahrhunderten ein schwer
geprüftes Volk. Nach der Unterwerfung im Zarenreich
nutzte Stalin den Zweiten Weltkrieg, um große Teile des
Volkes unter dem Vorwand, sie würden mit HitlerDeutschland zusammenarbeiten, zu deportieren. Von den
550 000 Deportierten kam mehr als die Hälfte um. Die
anderen durften erst nach Chrustschows Geheimrede, ab
1956, wieder zurückkommen. Nach dem Zerfall der
Sowjetunion hatten die Tschetschenen das Pech, keine
Unionsrepublik zu sein, sondern nur eine autonome Republik innerhalb Russlands. So blieben sie gegen ihren
Willen Teil Russlands. Da wir nun wiederum kein Interesse am Zerfall Russlands haben, fanden sie und ihr
Unabhängigkeitsstreben keine internationale Unterstützung.
Stattdessen begann Jelzin Ende 1994 den ersten
Tschetschenienkrieg, über den wir vor ziemlich genau
zehn Jahren im Deutschen Bundestag, damals in Bonn,
diskutierten. Wir riefen Moskau zur Mäßigung der
Gewalt auf. Schon damals wurde Tschetschenien fast
vollständig zerstört. Nach dem Friedensschluss von
1997 versagte dann der fast selbstständige Staat, und
zwar sowohl aufgrund innerer Widersprüche und Gewalt
als auch aufgrund fehlender russischer und internationaler Hilfe. Der islamische Fundamentalismus und Terrorismus, der dort eigentlich keine Heimstatt hatte, gewann
zunehmend Einfluss.
Putin begann 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg
und wurde mit ihm Präsident. Mit überbordender Gewalt
wird seitdem das kleine Volk der Tschetschenen in eine
ausweglose Lage gebracht. Massive Verletzungen fundamentaler Menschenrechte gehören seitdem zum Alltag
der tschetschenischen Bevölkerung. Nach Schätzungen
internationaler Menschenrechtsorganisationen wurden
seit 1994 180 000 Tschetschenen getötet, und das bei einer Bevölkerungszahl von nicht einmal 1 Million. Hinzu
kommt die Zahl der Verletzten, der Entwurzelten und der
Stigmatisierten.
Die tschetschenische Gesellschaft ist vielfach zerstört. Eigene Traditionen wie die Blutrache und die fehlenden Rechte der Frauen erschweren das Überleben des
Volkes zusätzlich. Der Befreiungskampf wurde immer
mehr zu Terrorismus. Wir sehen die Terrorakte und können sie nur ablehnen; denn sie führen lediglich zu mehr
Gewalt. Wie überall bietet Terror auch hier keine Möglichkeit, Konflikte zu lösen. Diese Terrorakte schaden
nicht nur den russischen und den tschetschenischen Opfern sowie ihren Familien, sondern auch dem tschetschenischen Volk insgesamt. Dennoch müssen wir unterscheiden. Während es bei dem internationalen
Terrorismus der al-Qaida keinen Dialog und keine Gespräche geben kann, weil diese Organisation nur unsere
Zivilisation zerstören will, handelt es sich hier um einen
Terrorismus, der sich aus einem Regionalkonflikt entwickelt hat. Dieser Konflikt ist nicht mit Gewalt und Terror, sondern nur mit Gesprächen und Verhandlungen zu
lösen. Nur so verliert dieser Terrorismus seinen Boden.
Die bis heute täglich stattfindende Gewalt heizt ihn jedoch immer wieder an.
Die Versuche der russischen Regierung, eine militärische Lösung zu ihren Gunsten herbeizuführen, sind seit
Jahren fehlgeschlagen. Aber auch die Strategie der
Tschetschenisierung in den letzten Jahren mit der Übertragung der Macht an Kreml-treue Tschetschenen hat
keine Befriedung der Region gebracht, genauso wenig
wie die so genannten Wahlen und die durch Referendum
geltende Verfassung. Wir alle wissen, dass diese Wahlen
noch weniger frei waren als der erste und zweite Wahlgang in der Ukraine. Dies waren keine Wahlen. Aus ihnen sprach nicht der Wille des Volkes.
Wir müssen sehen, dass unter dem Vorwand der Suche nach Terroristen die ganze Bevölkerung täglich aufs
Neue terrorisiert wird, und zwar nicht nur durch das russische Militär, sondern auch durch Truppen des FSB, des
Innenministeriums und der Milizen von Ramsan
Kadyrow, der nach dem Mord an seinem Vater zum stellvertretenden Ministerpräsidenten gemacht wurde. Nur
eine politische Lösung wird auf Dauer für Sicherheit und
Stabilität in der Region des Kaukasus sorgen können.
Dabei ist es gewiss eine schwer zu beantwortende Frage,
wie dies erreicht werden kann. Sicher ist aber eines: Wer
eine politische Lösung will, braucht Partner. Ich persönlich glaube, dass der 1997 gewählte tschetschenische
Präsident Maschadow ein Partner war. Ihn hat man - das
haben wir gehört - vor zwei Tagen getötet. Ich bin überzeugt, dass man damit keinen Sieg errungen hat. Die
Chancen für eine Lösung sind so weiter gesunken. Ich
glaube, im Endeffekt müssten auch seine Gegner um ihn
trauern. Denn die Gefahr ist groß, dass die Spirale der
Gewalt sich nun nur noch schneller dreht, dass das Leid
dieses Volkes sich ins Ausweglose steigert und dass der
tschetschenische Terror auch immer mehr russische
Opfer fordert.
Es braucht heute vertrauensbildende Maßnahmen
aufseiten Russlands und die Bereitschaft, sich von der
internationalen Gemeinschaft helfen zu lassen. Die
Äußerungen Putins im Dezember in Hamburg gaben Anlass zur Hoffnung. Dort hatte Präsident Putin erstmals
eingeräumt, dass die Destabilisierung der Region ein
Problem für die internationale Gemeinschaft darstellt. Er
hat sich dabei offen für internationale Unterstützung bei
der Stabilisierung der Lage und beim Wiederaufbau gezeigt. Inzwischen wächst die Sorge, dass man doch wieder hauptsächlich oder gar allein auf militärische und andere Lösungen alten Stils setzt. Dies aber würde die
Katastrophe fortsetzen und vergrößern.
Wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben und
Russland überzeugen, dass politische Lösungen unter
Einbeziehung aller - auch derer, die für Unabhängigkeit
kämpfen - notwendig sind. Dieser Krieg ist keine innere
Angelegenheit Russlands, weil Menschenrechtsverletzungen im 21. Jahrhundert nie mehr und nirgendwo innere Angelegenheit sein können und werden.
Zu danken ist dem Europarat und hier insbesondere
dem Berichterstatter, unserem Kollegen Rudolf Bindig,
der sich mit großem Engagement und Sachlichkeit diesem Konflikt gewidmet hat.
({0})
Noch im März soll es in Straßburg einen runden Tisch zu
den Fragen Tschetscheniens mit verschiedenen Partnern
geben.
Wichtig ist aber auch die Initiative der russischen
Soldatenmütter, die vor zwei Wochen mithilfe von
Europaparlamentariern einen Gesprächsprozess mit
Achmed Sakajew, dem bisherigen Beauftragten von
Maschadow, begonnen haben, vergleichbar etwa der
Genfer Initiative im Nahostkonflikt.
Diese und andere Bemühungen müssen weitergehen
und auf andere politische Ebenen übertragen werden.
Eine politische Lösung gibt es nur, wenn alle Seiten in
das Gespräch einbezogen werden. Wir wissen, dass nach
der Tötung Maschadows am 8. März Bemühungen um
einen Dialog wahrhaftig unter einem noch schlechteren
Stern stehen als vorher. Angesichts der drohenden Eskalation sind aber gerade diese Bemühungen umso dringlicher.
Diese Woche hielt sich der Vorsitzende der neu geschaffenen Kommission für die Koordination der
Aktivitäten im Nordkaukasus, Dmitrij Kosak, zu Konsultationen in Berlin auf. Ich hoffe, dass dabei Fortschritte in der Frage erzielt werden konnten, welchen
Beitrag die internationale Gemeinschaft leisten kann und
soll.
Wir sind bereit, als Deutsche und im Rahmen der EU
oder eben auch des Europarates alles zu tun, was dem
russischen und dem tschetschenischen Volk bei der Lösung dieses Konfliktes hilft. Wir wollen, dass diese
offene Wunde am Rande Europas heilt. Dies dient der
Sicherheit und der Stabilität der Russischen Föderation
und Europas.
Ein Letztes: Wir sollten darauf achten, dass die Emigranten und Flüchtlinge, die in Europa sind, selbst ein
Potenzial für die politische Lösung sind. Daher ist es
wichtig, dass sie Gespräche führen und reisen können.
Ich möchte deshalb von dieser Stelle aus Frankreich bitten, die Aufnahme von Achmed Sakajew in die Schengen-Liste rückgängig zu machen. Dieses Potenzial für
eine politische Lösung muss auch in Zukunft genutzt
werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Nolte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Es ist wichtig, dass wir ein wiederholtes Mal eine Debatte über Tschetschenien führen, einen Schauplatz von
Kriegen, Vertreibung, Terrorismus und massenhaften
Menschenrechtsverletzungen; denn die Dramatik nimmt
weiter zu.
Allerdings legen Sie von der Koalition uns heute einen Antrag vor, bei dem man förmlich spürt, dass Sie
sich gedrängt fühlten, irgendetwas vorzulegen. Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen setzen sich für eine politische Lösung im Tschetschenienkonflikt und gegen die
Menschenrechtsverletzungen dort ein; ich nehme Ihnen
Ihr Engagement auch ab. Zu Ihrem Antrag kann man
aber nur sagen: Es wäre besser gewesen, Sie wären bei
dem Beschluss der Grünen von ihrem Bundesparteitag
im letzten Jahr geblieben.
({0})
Dieser Beschluss ist dadurch, dass ihn die FDP in ihrem
hier eingebrachten Antrag inhaltlich aufgreift, nicht
schlechter geworden; wir können uns dem Antrag der
FDP gut anschließen.
Ihr Antrag liefert eigentlich nur eine zusätzliche
Rechtfertigung unserer Kritik an der Bundesregierung,
die sich einfach nicht traut, gegenüber dem russischen
Präsidenten einen ganz klaren Kurswechsel in der
Tschetschenienpolitik einzufordern.
({1})
Ihr Antrag macht die Diskrepanz zwischen dem, was Sie
für richtig halten, und dem, was Sie opportun finden, erst
richtig deutlich. Meinen die Grünen, sie wären mit dem
jetzt vorliegenden Antrag auf ihrem Parteitag durchgekommen? Das, was Sie hier machen, grenzt schon an
Selbstverleugnung.
({2})
Herr Erler, Sie hatten in der letzten Debatte zu diesem
Thema im Dezember in einem Zwischenruf gefragt, ob
man sich nicht vorstellen könne, eigene parlamentarische Initiativen zu ergreifen. Auch wenn das keine
Rechtfertigung für das Nichtstun der Bundesregierung
ist, sage ich Ihnen: Natürlich, Sie haben Recht. Aber wo
sind denn diese Initiativen? Bringen Sie doch einen entsprechenden klaren Antrag ein. Sie hätten die Chance
dazu gehabt.
Ihr Antrag enthält kaum ein kritisches Wort zu
Tschetschenien. In Ihrem Parteitagsbeschluss haben Sie
die Wahl in Tschetschenien noch klar als Farce bezeichnet. Warum ist kein Wort dazu in Ihrem Antrag zu
finden? Dabei ist diese Wahl doch symptomatische für
den Tschetschenienkonflikt, nämlich für die Frage, wie
sich Russland einbringt, wie es durch Härte die Gewaltspirale immer wieder selber anheizt, und dafür, dass es
Gelegenheiten zu Dialog und politischen Lösungen nicht
wahrnimmt.
Das nimmt auch kein Ende. Mit der Tötung von
Maschadow wird die Gewaltspirale wieder verschärft
werden. Man hat sich im Kreml erneut die Chance genommen, Wege eines Dialogs zu beschreiten, und das,
obwohl Maschadow über Rückhalt bei den Tschetschenen verfügte und damit ein verhandlungsfähiger Dialogpartner gewesen wäre.
Im April 1995 schrieben einige SPD-Kollegen - Sie
waren dabei, Herr Erler und Herr Meckel - an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl sinngemäß, er möge
gegenüber dem Präsidenten Jelzin wie auch öffentlich in
aller Klarheit die Position des Deutschen Bundestages
darstellen und den Krieg und die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verurteilen.
Die demokratischen Kräfte Russlands brauchen die
Unterstützung des Westens, der Deutschen und ihres Bundeskanzlers.
So schrieben Sie.
({3})
Zehn Jahre später sind Sie nicht einmal mehr bereit,
dazu beizutragen, dass der Bundestag eine so klare Positionierung vorbringen kann. Aber auch zehn Jahre nach
diesem Brief gilt: Die demokratischen Kräfte Russlands
brauchen die Unterstützung des Westens, der Deutschen und ihres Bundeskanzlers. Sie haben in Ihrem Antrag demgegenüber nicht einmal das Wort Demokratie
verwendet. Sie können doch nicht über Stabilität im
Kaukasus reden, ohne auch über Demokratie zu reden.
({4})
Die georgische Parlamentspräsidentin hat vergangene
Woche in einem Vortrag in Berlin gesagt, die beste Rahmenbedingung für die Weiterentwicklung Georgiens
wäre es, wenn Russland auf dem demokratischen Weg
bleibt. Ich denke, man kann das noch weiter fassen: Stabilität im Kaukasus ist nur durch das glaubhafte
Bekenntnis Russlands zur Demokratie zu erreichen;
denn Demokratie in Russland ist Bedingung für eine demokratische Politik Russlands. Wenn man die russische
Armee, die Polizei und die Geheimdienste zur Achtung
der Menschenrechte bewegen will, dann braucht man
eine demokratische Kontrolle. Wenn man eine politische
Lösung im Tschetschenienkonflikt möchte, bedarf es
dort demokratischer Strukturen und Wahlen. Wenn man
Stabilität im Kaukasus möchte, bedarf es dort demokratischer Staaten in Selbstbestimmung. Für all diese
Punkte ist ein demokratisches Russland der zentrale Faktor.
Vor einigen Wochen hatte die deutsch-russische Parlamentariergruppe ein Gespräch mit Vertretern der Menschenrechtsorganisation Memorial. Auf die Frage, in
welcher Weise Deutschland Unterstützung bieten könne,
sagten sie sinngemäß: Es würde schon helfen, wenn Sie
manchmal schwiegen. Die Umarmung unseres Präsidenten diskreditiert zum Teil unsere Arbeit.
({5})
Man bezog das nicht zuletzt auf die Äußerung des Bundeskanzlers, dass er bei den Wahlen in Tschetschenien
keine empfindlichen Störungen feststellen konnte. Dieser Kommentar war eben nicht nur nicht nötig, er war
sogar schädlich.
({6})
Gerade wenn es um einen so wichtigen Partner wie
Russland geht, darf man ganz fundamentale Grundwerte
wie Demokratie und Wahrung der Menschenrechte bei
Gesprächen nicht hinten herunterfallen lassen.
Sie haben ja für Ihren Antrag den Titel gewählt: „Stabilitätspolitik im Kaukasus und die Zukunft Tschetscheniens“. Diese Passage ist die anspruchsvollste im ganzen
Antrag. Allzu viel Zukunftsweisendes zu Tschetschenien
findet man nicht. Das ist zugegebenermaßen auch
schwierig. Da steht im Beschluss der Grünen - wir sind
ja dankbar, dass die FDP ihn in die parlamentarische Debatte eingebracht hat - mehr drin.
({7})
- Das reicht uns. Wir können uns dem anschließen; das
ist ganz einfach.
({8})
Zum Kaukasus finden Sie die vage Formulierung,
man möge die Möglichkeiten einer umfassenden Strategie der Stabilisierung und Vertrauensbildung ausloten.
Eigentlich gäbe es ja ein Instrument dafür, eine Organisation, die ausdrücklich diese Aufgabe hat: die OSZE.
Es ist nur eben ein Dilemma, dass die OSZE kaum handlungsfähig ist, weil sie sich in einer tiefen Krise befindet.
Das hat etwas mit dem Vertrauen der Mitgliedstaaten der
OSZE untereinander zu tun. Wir wissen, auch bei der
Lösung dieser Frage kommt Russland eine ganz wichtige Schlüsselstellung zu. Deswegen ist auch das ein
Thema, das der Bundeskanzler mit dem russischen Präsidenten Putin besprechen muss. Ich kann es nur noch
einmal deutlich unterstreichen: Das besonders gute Verhältnis zwischen dem Bundeskanzler und dem russischen Präsidenten bringt eben auch eine besondere Verantwortung unseres Bundeskanzlers in dieser Frage mit
sich.
({9})
Es gibt einen Punkt in Ihrem Antrag, den ich ausdrücklich unterstreichen möchte, nämlich dass jede politische Lösung des Tschetschenienkonflikts bei einer
Untersuchung und Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ansetzen muss. Die Menschen in Tschetschenien brauchen eine Perspektive. Erst dann kann es eine
Befriedung geben. Was wird aus den Kindern, die heute
in Tschetschenien aufwachsen, in einem Klima der
Gewalt und Zerstörung? Es besteht die Gefahr, dass sie
die Terroristen der Zukunft sein werden. Wir müssen
also alle Anstrengungen unternehmen, um dies zu verhindern.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Fritz Kuhn.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Eskalation in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus insbesondere seit 1999 ist der Nährboden für weitere Gewalt, für Verzweiflung und
insbesondere für weiteren Terrorismus und das Anwachsen des Einflusses islamistischer Fundamentalisten. Darüber müssen wir nicht streiten. Wir müssen hier auch
nicht, Frau Nolte, in einen Wettbewerb eintreten bezüglich der Frage, wessen Formulierungen diese Sachverhalte drastischer beschreiben.
({0})
Wir sind der Überzeugung, dass es zu Lösungen via
Verhandlungen und Gesprächen, also zu politischen Lösungen, keine Alternative gibt. Weder Krieg noch die
Logik von Schlag und Gegenschlag bieten hier eine Alternative. Ich glaube, an dieser Stelle unterscheiden wir
uns nicht.
({1})
Dies gilt auch für die so genannte Tschetschenisierung;
dabei handelt es sich ja um nichts anderes als um eine
andere gewaltsame Methode von Schlag und Gegenschlag. Deswegen geht es uns um politische Lösungen.
Die Tötung Maschadows ist wahrscheinlich ein
Rückschlag, weil damit letzten Endes Perspektiven für
Verhandlungen und Gespräche zunichte gemacht worden
sind.
({2})
Wer die Differenzierung zwischen Leuten, die in Tschetschenien aus separatistisch-nationalistischen Gründen
agieren und kämpfen, und solchen, die aus islamistischfundamentalistischen Gründen agieren und kämpfen, beseitigt, kann am Schluss nur noch einen Weg gehen,
nämlich die totale Vernichtung aller, die in Tschetschenien gegen die Russen aufgestellt sind. Die totale Vernichtung aller Gegner führt dazu, dass die Chance, zu einer Verhandlungslösung zu kommen - das wäre ja
möglich; eine solche Lösung muss immer möglich
sein -, zunichte gemacht wird. Deswegen waren die Ereignisse in dieser Woche mit Blick auf den Frieden, auf
die Möglichkeit eines Wegs zum Frieden sehr negativ.
Zu dem Antrag, Frau Nolte. Ich kann nicht verstehen,
dass Sie hier so über die Antragslage reden, wenn Sie
selber gar keinen Antrag einbringen.
({3})
Selbstverständlich macht es einen Unterschied aus, ob
wir - darüber müssen wir ganz offen reden - auf einem
Parteitag eine Resolution bzw. einen Antrag verabschieden oder ob unsere beiden Fraktionen, die die Koalition
bilden
({4})
- jetzt hören Sie einmal zu, Sie kommen ja nachher dran -,
daraus einen Bundestagsantrag machen, der die Regierung zu einem bestimmten Handeln auffordern und verpflichten will.
({5})
Wir haben in unserer Parteitagsresolution unsere Grundsätze und unsere Einschätzung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien dargelegt. Daraus ist in dem
Antrag von Rot und Grün, der heute hier vorliegt,
({6})
das geworden, was wir jetzt von der Bundesregierung in
ihrem Agieren kurzfristig umzusetzen verlangen.
Wissen Sie, Frau Nolte, es geht in der Politik und
auch im Dialog, in den Gesprächen mit der russischen
Regierung um den feinen Unterschied zwischen Recht
haben und Recht bekommen.
({7})
Wenn der Bundeskanzler und der Außenminister in den
Gesprächen mit der russischen Regierung fordern sollen
- wie Sie es vorgeschlagen haben -, zuerst einmal im eigenen Land eine Demokratie zu schaffen, bevor die Lösung der Probleme angegangen werde,
({8})
dann kann ich Ihnen voraussagen, dass wir da nichts erreichen werden.
({9})
Ich weiß aus meiner Teilnahme an den Gesprächen mit
Putin oder anderen Vertretern der russischen Regierung,
dass immer gefragt wird, wie die Schritte zur Stabilisierung im nördlichen Kaukasus, insbesondere in Tschetschenien, aussehen, und dass auf diesem Thema eindringlich beharrt wird.
Ich kann verstehen, dass Sie in der Opposition die
Frage der konkreten Umsetzung, wie wir tatsächlich etwas für die Menschen schaffen, nicht so arg interessieren
muss. Aber uns muss sie interessieren. Darin liegt die
Differenz der beiden Anträge, über die wir hier reden.
Dass Sie, Frau Nolte, unseren Antrag banalisiert haben, finde ich nicht gut; denn er enthält zentrale Elemente dessen, was jetzt helfen würde und notwendig
wäre. Er enthält einen klaren Appell, wie ihn der Europarat formuliert hat, zur Beachtung der Menschenrechte. Er plädiert dafür, dass wir Lösungen finden, wie
Journalisten und Hilfsorganisationen in Tschetschenien
ihre Arbeit aufnehmen können. Das ist, wie wir wissen,
ein ganz entscheidender Punkt, damit sich überhaupt
etwas verändern kann. Denn in dieses Land kommt - abgesehen von einigen Mitgliedern des Europarates, die
vorsichtige Reisen unternehmen - praktisch überhaupt
niemand mehr hinein.
Wir haben klar gesagt, wie wir uns künftig demokratische Wahlen vorstellen. Es gibt den eindringlichen Appell, an dem Thema Stabilitätspakt für den Kaukasus unter Federführung der EU weiterzuarbeiten. Außerdem
gibt es viele weitere Punkte, die in dem Antrag genannt
sind.
Wer es mit der zarten Pflanze der Hoffnung wirklich
ernst meint und hier nicht nur deklamatorisch darüber redet, der muss diesen Antrag unterstützen. Ich kann ja
verstehen, dass Sie weiter gehen wollen. Es ehrt die FDP
auch, dass sie unseren Beschluss in ihrem Antrag aufgegriffen hat. Darüber will ich mich nicht lustig machen;
dass wir uns da nicht falsch verstehen. Aber wenn das,
was in dem Antrag steht, in den Gesprächen vorangetrieben wird, dann entsteht ein Stück weit Hoffnung, dass
wir etwas verändern können. So ist die konkrete Lage.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Tagen ist Aslan Maschadow gestorben,
wahrscheinlich ermordet worden. Die Umstände sind
noch nicht ganz klar; vielleicht werden wir es nie genau
wissen. Es ist zu befürchten, dass der Kampf weiter geht
und eskaliert, dass blutige Rache geübt wird.
Maschadow hatte sich von den verabscheuungswürdigen
Anschlägen durch tschetschenische Terroristen immer
distanziert. Es mag sein, dass sein mäßigender Einfluss
noch vermisst werden wird.
Präsident Putin hatte bei seinem Deutschlandbesuch
im Dezember noch verkündet, der Tschetschenienkrieg
sei seit drei Jahren beendet. Die Realitäten, auch der
letzten Tage, sprechen leider eine ganz andere Sprache.
Immer wieder berichten Nichtregierungsorganisationen,
aber auch Fachleute, nicht zuletzt Vertreter des Deutschen Bundestages im Europarat, wie der Kollege
Bindig, von Menschenrechtsverletzungen durch russische Sicherheitskräfte. Die Literatur, die in den letzten
Tagen dazugekommen ist - nicht zuletzt das beeindruckende Buch von Anna Politkovskaja über Putins
Russland -, unterstreicht die Dringlichkeit, dass wir uns
mit diesem Thema erneut befassen müssen. Es ist ein
höchst aktuelles Thema und es ist sehr wichtig, dass wir
uns von der Befassung mit diesem Thema durch die Beschwichtigungsbemühungen aus Moskau nicht abbringen lassen.
Rot-Grün hat einen Antrag zur Lage in Tschetschenien eingebracht. In diesem Antrag wird die Bereitschaft
der russischen Regierung, nach einer politischen Lösung
in Tschetschenien zu suchen, ausdrücklich gelobt.
({0})
Ich muss aber sagen, dass ich diese Bereitschaft nicht erkennen kann. Ich würde mich einer solchen Bewertung
gerne anschließen, aber ich kann sie mir nicht zu Eigen
machen. Ich wundere mich nicht darüber, dass Sie über
diesen Antrag am liebsten schon heute abgestimmt hätten, damit das Thema vom Tisch kommt und im Ausschuss nicht beraten werden muss. Dieser Antrag kann
nach meiner Auffassung die kritische Prüfung im Rahmen einer Ausschussberatung nicht bestehen.
({1})
Es ist interessant - dafür habe ich volles Verständnis -,
dass der Kollege Markus Meckel über diesen Antrag
vorsichtshalber nichts gesagt hat,
({2})
sondern nur über die sehr bedrückende Situation in
Tschetschenien selbst. Es ist außerdem sehr erhellend,
dass heute die Bundesregierung, obwohl durch Staatsminister Bury vertreten, zu dieser Thematik hier keine
Stellung nehmen will. Die Menschenrechtsverletzungen
in Tschetschenien werden in dem Antrag nur stark verklausuliert angesprochen. Das reicht nicht. Der Bundestag muss diese Menschenrechtsverletzungen klar beim
Namen nennen.
({3})
Die Grünen hatten auf ihrem Parteitag einen sehr viel
weiter gehenden, einen sehr viel mutigeren Antrag verabschiedet. Wir haben diesen richtigen und wichtigen
Antrag wortgleich im Bundestag eingebracht. Wir waren
allerdings nicht bereit, ihn im Rahmen dieser Debatte sozusagen zu konsumieren. Wir werden Ihnen aber noch
Gelegenheit geben, ausführlich dazu Stellung zu nehmen. In einer namentlichen Abstimmung können Sie
sich dazu bekennen oder auch nicht.
Wir werden noch vor der Sommerpause auf dieses
Thema zurückkommen. Wir sollten aber abwarten, wie
die Entwicklung in den nächsten Wochen verläuft, ob die
Befürchtung, dass es in den nächsten Wochen zu einer
Verschärfung des Konfliktes kommt, eintritt, was wir
alle nicht hoffen, oder ob die in jüngster Zeit durchaus
erkennbar gewordenen Anknüpfungspunkte für eine
politische Lösung aufgegriffen werden.
Das Memorandum, das Vertreter Tschetscheniens und
der russischen Soldatenmütter - Markus Meckel hatte
das bereits erwähnt - unter Vermittlung und Beteiligung
von Parlamentariern des Europäischen Parlaments und
des Europarats für das Treffen am 24. Februar in London
vorgelegt haben, bietet Präsident Putin und der russischen Regierung die Chance, ihren Friedenswillen doch
noch unter Beweis zu stellen. Wir werden diese Entwicklung abwarten und dann zu einer endgültigen Bewertung kommen. Die Grünen werden aber nicht daran
vorbeikommen, zu ihrem eigenen Antrag Ja oder Nein
zu sagen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Melanie Oßwald.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ist es
wirklich nötig, dass wir heute bereits zum zweiten Mal
innerhalb von drei Monaten über die Zukunft Tschetscheniens debattieren? Allein am Tag unserer letzten
Debatte sind fünf Familienmitglieder des früheren
tschetschenischen Präsidenten Maschadow verschleppt
worden. Dutzende weiterer Menschen folgten. Täglich
werden Leichen mit Folterspuren gefunden. Dass der
Kanzler dazu schweigt, ist blanker Hohn für die Opfer.
({0})
Ich warne: Untätiges Zuschauen kommt einer Komplizenschaft mit den Mördern gleich. Bei unserer letzten
Debatte hat die FDP die Bundesregierung aufgefordert,
in ihrem Dialog mit der Regierung von Wladimir Putin
weiterhin darauf zu drängen, dass erstens bei der Bekämpfung des Terrorismus die Grundlagen des Völkerrechts und die Menschenrechte nicht weiter verletzt werden und zweitens sorgfältig zwischen potenziell
verhandlungsbereiten Separatisten einerseits und Terroristen andererseits unterschieden wird und alle Möglichkeiten des Dialoges mit politischen Gruppen genutzt
werden.
({1})
Was ist bis dato geschehen? Nichts! Überhaupt nichts
ist geschehen. Herr Bury, da Sie auf der Regierungsbank
sitzen, möchte ich Sie gerne fragen, warum der Kanzler
dazu schweigt. Wo ist hier der kritische Dialog? Wo ist
seine Besorgnis über Russlands Umgang mit den fundamentalen Bestandteilen der Demokratie, mit der Rechtsstaatlichkeit, mit dem Minderheitenschutz, mit der Meinungs- und Pressefreiheit und seine Besorgnis über den
Umgang mit der Opposition?
Ist der Bundeskanzler wirklich derart realitätsfremd?
Präsident Bush hat doch gezeigt, wie es geht.
({2})
Er hat bei seinem Treffen mit Putin all diese Punkte offen angesprochen und die beiden verstehen sich trotzdem blendend. Das wäre ein tolles Vorbild für den Kanzler.
({3})
Ich frage mich, wovor er Angst hat, dass er nicht die leiseste Kritik an der russischen Autokratie anzubringen
wagt.
({4})
Der Bundeskanzler begnügt sich auch nicht damit,
selbst zu schweigen. Erst verpasst er seinem Koalitionspartner einen Maulkorb und heute lässt er nicht einmal
den Tschetschenienexperten aus seinen eigenen Reihen
sprechen.
({5})
- Es hätte Ihnen, glaube ich, sehr gut getan, wenn er gesprochen hätte.
Es ist beschämend, dass aus dem an sich unterstützenswerten - das möchte ich betonen - Beschluss des
Parteitags der Grünen ein armseliges, inhaltsleeres Anträglein geworden ist.
({6})
Wo steht in Ihrem Antrag, dass alle russischen Staatsorgane, insbesondere Armee und Geheimdienste, auf die
strikte Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden müssen? Wo steht, dass Verbrechen, die von Vertretern staatlicher Organe begangen werden, in öffentlichen
Verfahren aufgeklärt und Schuldige verurteilt werden
müssen?
Sie trauen sich nicht, Menschenrechtsverletzungen
mit eigenen Worten zu beschreiben. Lediglich auf die
Feststellungen des Europarates verweisen Sie. Das ist
wirklich der Gipfel der Feigheit!
({7})
Immerhin wollen Sie sich Ihrem Antrag zufolge dafür
einsetzen,
dass künftige Wahlen in Tschetschenien nach internationalen Standards vorbereitet und durchgeführt
sowie internationale Wahlbeobachtung ermöglicht
werden …
Ich frage mich, warum. Die letzte Wahl war doch nach
des Kanzlers Worten durchaus akzeptabel. Wir bräuchten doch diese Debatte heute gar nicht.
Das ist Wahrheitsbeugung, die an Realitätsverleugnung grenzt. Aber da befindet sich der Bundeskanzler in
allerbester Gesellschaft. Schließlich behauptete sein
Freund Putin, in Tschetschenien gebe es - wir haben es
bereits gehört - seit drei Jahren keinen Krieg mehr. Ich
sage: Das ist wirklich beschämend.
Richtig ist, dass der Tschetschenienkonflikt in den
letzten Jahren islamisiert wurde. Genauso richtig ist,
dass dieser Konflikt
durch das unterschiedslos brutale Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte … selbst zu einer Brutstätte immer neuer Gewalthandlungen geworden
ist.
({8})
Das ist ein unglaubliches Zitat aus Ihren eigenen Reihen.
Demnach hatten Sie die Wahrheit schon einmal erkannt.
Ich frage Sie, wo Ihre Einsicht jetzt bei diesem neuen
Antrag bleibt. Übrig geblieben ist dieses Pamphlet, in
dem Sie geradewegs bedauernd feststellen, dass - ich
zitiere sich der enge Zusammenhang der … Terrorakte mit
dem ungelösten Tschetschenienkonflikt nicht leugnen
lässt.
Der Mord an Präsident Maschadow zeigt aber, dass
Putins Machtverständnis nichts mit den elementarsten
Regeln der Demokratie zu tun hat. Der Terrorismus wird
dadurch nicht bekämpft, sondern eher gefördert. Es geht
nicht darum, Putin in irgendeine Ecke zu stellen, sondern
darum, dass er endlich internationale Hilfe annimmt, um
den Konflikt zu lösen.
({9})
Denken Sie über folgende Worte des toten Maschadows
nach: Es gibt keine militärische Lösung für diesen Konflikt. Es gibt keinen Sieger. Wer das nicht verstanden
hat, ist weit von der Realität entfernt.
Von einem Bundeskanzler erwarte ich mehr Realitätsnähe und vor allem mehr Verantwortung in der Außenpolitik. Dazu braucht es klare und offene Worte
gegenüber dem russischen Präsidenten. Aber der Bundeskanzler redet sich stattdessen Putins gelenkte Demokratie lupenrein, wie überall zu lesen war. Schröders demokratischer Persilschein macht aus Putin damit noch
lange keinen weißen Riesen.
Ich jedenfalls gedenke Maschadows und der anderen
Opfer des Tschetschenienkrieges. Er stand für eine mögliche Verhandlungslösung und für Frieden in einem
Land, dessen Volk wie jedes andere auch das Recht hat,
in Würde zu leben. Putin sagt ja, es gebe in Tschetschenien noch viel zu tun. Ich hoffe, Sie werden ihm da folgen und es endlich anpacken.
({10})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/4855 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ernst Burgbacher, Marita Sehn, Dr. Christel
Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Probleme des Tourismus in Deutschland trotz
des weltweiten Aufschwungs dieser Zukunfts-
branche
- Drucksachen 15/2033, 15/3287 -
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus Haupt, weiteren
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Jugendarbeitsschutzgesetzes
- Drucksache 15/2664 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss fürBildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Helga Daub, Daniel Bahr ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sommerferienregelung verbraucherfreundli-
cher gestalten - Gesamtferienzeitraum auf
90 Tage ausdehnen
- Drucksachen 15/3102, 15/4121 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brähmig
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Marketing für die Hauptstadt Berlin
- Drucksachen 15/3491, 15/5014 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die FDP soll fünf
Minuten erhalten. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Morgen beginnt in Berlin die weltgrößte Tourismusmesse, die ITB. Dass die FDP die heutige Debatte beantragt hat, zeigt, welchen Stellenwert wir dem Tourismus
einräumen. Angesichts dieser großen Messe ist es wichtig, dass sich auch der Deutsche Bundestag mit dem
Thema Tourismus beschäftigt.
({0})
Wir alle kennen die Zahlen: 2,8 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen am Tourismus. Der Tourismus trägt rund 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Über 100 000 junge Leute werden in der Tourismusbranche ausgebildet. Das sind Zahlen, die sich sehen lassen
können. Es sind Arbeitsplätze, die zum großen Teil
standortgebunden sind und nicht einfach irgendwohin
verlagert werden können. Es gibt ein Potenzial an zusätzlichen Arbeitsplätzen. Deswegen muss uns dieser
Bereich so sehr beschäftigen.
Eine Prognos-Studie kommt zum Ergebnis, dass in
Europa für 2004/2005 mit einem Wachstum beim Tourismus von 5 Prozent zu rechnen ist. Nachdenklich muss
allerdings die folgende Einschätzung von Prognos machen - ich zitiere -:
Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland wird
dabei von „hausgemachten“ wirtschaftlichen
Hemmnissen stärker tangiert als die Entwicklung in
den meisten anderen europäischen Staaten, die bereits wieder auf Wachstum eingeschwenkt sind.
({1})
Das war der Grund dafür, dass wir die Große Anfrage
gestellt haben. Die Antwort hat uns bestätigt, dass es
eine Menge hausgemachter Probleme gibt. Wenn diese
Regierung sie endlich anpackte und löste, dann könnten
wir Zigtausende von zusätzlichen Arbeitsplätzen in
Deutschland schaffen.
({2})
Bei einer Zahl von über 5 Millionen Arbeitslosen ist es
unverständlich, dass es nicht getan wird.
Ich will in der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung
steht, nur ein paar Punkte nennen:
Liberalisierung der Sperrzeiten. Man stelle sich vor,
bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 kommt es zum
Endspiel Deutschland gegen Brasilien. In der Halbzeit
würden bei uns die Bürgersteige hochgeklappt, weil Außengastronomie nur bis 22 Uhr möglich ist. Wenn wir
den Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ glaubhaft
machen wollen, müssen wir das ändern, und zwar
schnell.
({3})
Thema Jugendarbeitslosigkeit. Wir legen Ihnen
heute einen Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vor. Es ist völlig realitätsfern, wenn
man heute einem 16- oder 17-Jährigen, der in der Hotelund Gastronomiebranche ausgebildet wird, sagt: Du
musst um 22 Uhr aufhören. - Das ist weltfremd, realitätsfern und führt dazu, dass junge Menschen - Hauptschüler, Realschüler - keine Chance auf einen Ausbildungsplatz mehr haben. Deshalb sage ich: Endlich weg
mit dieser unsinnigen Regelung! Es sind keine kleinen
17-jährigen Kinder; sie können sehr wohl bis 23 Uhr
oder bis Mitternacht arbeiten und haben damit auch eine
Chance, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
({4})
Thema Sommerferienregelung. Auch hierzu liegt
heute ein Antrag der FDP-Fraktion vor. Wir müssen dahin kommen, dass die Sommerferienzeit wieder ausgedehnt wird. Es ist der größte Unsinn und schädlich für
den Deutschlandtourismus, die Sommerferien auf solch
einen kurzen Zeitraum zu reduzieren. Das führt dazu,
dass im Juli die Betten leer sind und dass im August alles überfüllt und damit teurer ist. Im Sinne einer familienfreundlichen Politik muss man es schaffen, dass der
Ferienzeitraum wieder auf 90 Tage ausgedehnt wird.
({5})
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Thema Bürokratieabbau. Wir werden das Thema noch
an anderer Stelle diskutieren. Er ist eine der angesagtesten Maßnahmen.
Etwas ganz Aktuelles: Thema Kerosinbesteuerung.
Es gibt dazu Meldungen. Der Deutsche Bundestag hat
sich für Kerosinbesteuerung ausgesprochen, aber sie soll
in ganz Europa gelten. Alles andere würde nur dazu führen, dass die Flughäfen und die Luftverkehrsgesellschaften bei uns vom Markt verdrängt werden. Es wäre ein
Beschäftigungsprogramm für das Ausland. Hören Sie
mit dieser Gespensterdiskussion auf! Machen Sie es europaweit oder gar nicht!
({6})
Schließlich ein Thema, das uns jetzt immer wieder
beschäftigt: das Antidiskriminierungsgesetz. Was Sie
mit diesem Horrorszenario vorhaben, ist unglaublich.
Damit wird eine enorme Bürokratie geschaffen. Sie
schränken die Vertragsfreiheit in unerträglicher Weise
ein. Wenn Sie dieses Horrorwerk eines Antidiskriminierungsgesetzes durchpeitschen, dann werden Sie gerade
auch im Tourismus Zigtausende von Arbeitsplätzen aufs
Spiel setzen. Deshalb wird die FDP alles tun, dass das
Antidiskriminierungsgesetz in der von Ihnen vorgelegten Fassung nicht beschlossen wird.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss den Präsidenten des Internationalen Bustouristikverbandes, Richard Eberhardt,
zitieren, der heute in einem Zeitungsartikel festgestellt
hat:
Was die Menschen hierzulande wirklich brauchen,
um entspannt eine Reise zu buchen, ist private Planungssicherheit. In besonderem Maße ist dabei
Politik gefordert. Renten müssen berechenbar sein,
Sozialabgaben und Gesundheitsfürsorge auch. Insgesamt brauchen wir ein Klima, das von Optimismus getragen sein muss und nicht von fast täglichen
Negativmeldungen.
Wir wollen mit unseren Initiativen zum Optimismus
beitragen.
Herr Kollege, bitte.
Lassen Sie uns seitens der Politik die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass der Tourismus in diesem
Land zu dem Erfolg wird, der möglich ist!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Faße.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute vier Vorlagen zu debattieren, mit
denen die Opposition versucht, in der Öffentlichkeit
Stimmung zu machen. Der Kollege Burgbacher hat das
eben noch um einige Dauerthemen ergänzt, die wir immer wieder diskutieren, von der Kerosinbesteuerung bis
zu den Sperrzeiten; hinzu kommt das Antidiskriminierungsgesetz.
({0})
Man kann in diese Debatte eigentlich alles hineinpacken. Ich möchte mich aber auf die Punkte konzentrieren, die auf der Tagesordnung stehen, damit wir nicht
dauernd alles wiederholen. Denn wir sind bereits in der
Situation, dass wir alte Themen wiederholen.
({1})
Von der FDP werden keine neuen Forderungen erhoben.
Die vorliegenden Anträge sind reine Showanträge.
Ich will das an zwei Beispielen belegen. In dem Antrag
mit der Überschrift „Marketing für die Hauptstadt Berlin“ machen Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, die Regierung für vieles verantwortlich. Zu
unserer Verantwortung soll es jetzt auch gehören - dazu
werden wir aufgefordert -, uns für eine weltweite Bewusstseinsänderung bei den Besuchern Berlins einzusetzen.
Ich wiederhole: Wir sollen mit einem Marketing für
die Stadt Berlin erreichen, dass alle Bürger dieser Welt
mit dem Begriff „Hauptstadt der Deutschen“ inhaltlich
besser umgehen. Ich frage mich, wie Sie zu der Behauptung kommen, dass sich die Besucher Berlins nicht darüber klar sind, dass sie sich in der Hauptstadt Deutschlands, einer bunten, vielfältigen Stadt mit einer großen
Geschichte und Kultur, befinden. Ihrem Antrag fehlt
völlig die Basis.
({2})
Der Antrag greift zudem in die Hoheit der Länder ein.
Ich habe heute Diskussionen geführt, in denen die Bedeutung der Länder hervorgehoben wurde; Stichwort:
Föderalismus. Sie hingegen fordern eine verstärkte Förderung der Hauptstadt Berlin auf Bundesebene.
Sie haben die Föderalismuskommission wegen der
Zuständigkeiten im Kulturbereich scheitern lassen. Aber
jetzt fordern Sie Geld von uns. Berlin boomt. Sie fordern
Geld von der Regierung für das Marketing einer Stadt,
die im vergangenen Jahr die meistbesuchte Stadt in
Deutschland war.
({3})
Sie fordern Geld für das Marketing einer Stadt, die im
vergangenen Jahr die Rekordzahl von 13 Millionen Besuchern erreicht hat. Sie fordern Geld für das Marketing
einer Stadt, die ein Wachstum der Gästezahl von traumhaften 16,1 Prozent zu verzeichnen hatte. Ich frage Sie
in diesem Zusammenhang, ob Sie nicht an Realitätsverlust leiden.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Grundannahme entbehrt jeglicher gesicherter und nachvollziehbarer Basis. Unsinnige Forderungen können wir nicht
unterstützen. Dafür sind uns die Steuergelder zu schade.
Ich habe mich gefreut, dass die FDP im Ausschuss unsere Meinung geteilt hat.
({4})
Nun zum Werk der FDP. Ich greife einen Punkt heraus: die Sommerferienregelung, über die wir schon
hundertmal diskutiert haben. Wir haben hier das gleiche
Ziel und haben auf den verschiedensten Ebenen sehr
viele Gespräche geführt.
({5})
In dem Antrag, den Sie heute vorlegen, heißt es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Kultusministerkonferenz … auf, die Sommerferienregelung so
zu entzerren, dass sich ein Gesamtferienzeitraum
von 90 Tagen ergibt.
({6})
Das Ziel ist zwar richtig, aber der Weg - meine Herren,
das wissen Sie ganz genau - ist falsch;
({7})
denn der Bundestag wird sich nicht in die Angelegenheiten der Länder einmischen.
({8})
Sie wissen ganz genau, wie sensibel dieses Thema ist.
({9})
Wir haben mithilfe von DTV und BTW und gemeinsam
mit den Ministerpräsidenten und Kultusministern versucht, den Schaden vom Tourismus abzuwenden. Wir
haben immerhin erreicht, dass die Kultusministerkonferenz die Zeitspanne von ursprünglich 75 Tagen auf
83 Tage erhöht hat.
({10})
Das ist zwar keine optimale Lösung, aber ein Teilerfolg.
({11})
Sie wissen, dass wir nicht par ordre du mufti handeln
können.
({12})
Wenn Sie meinen, dass diese Regelung für unsere
Tourismuswirtschaft nicht ausreicht - hier unterstütze
ich Sie -, dann muss ich Ihnen, meine Herren Hinsken
und Burgbacher, sagen: Sehen Sie sich die Situation in
Bayern und Baden-Württemberg an; denn diese Länder
haben sich in Bezug auf die Sommerferienregelung am
sperrigsten angestellt.
({13})
So war es. Daher muss ich sagen: Wenn wir Einfluss
nehmen wollen, dann sollten wir mit diesen Ländern anfangen. Die Bundesregierung kann das allerdings nicht
anordnen und erst recht kein entsprechendes Gesetz auf
den Weg bringen. Darum sage ich ganz klar: Ihr Antrag
ist für mich in höchstem Maße unseriös.
({14})
Nun noch ein paar Worte zur Großen Anfrage der
FDP, über die ich sagen muss: Ihr negativer Titel passt
zur FDP und auch zur CDU/CSU.
({15})
In ihrer Überschrift heißt es „Probleme des Tourismus“.
Dann folgen 108 Fragen. Wenn Sie 108 Fragen stellen
müssen, frage ich mich, was Sie über den Tourismus in
Deutschland wissen.
({16})
Viele der Fragen, die Sie stellen, sind nicht etwa nach
vorne gerichtet, sondern rückwärtsgewandt. In der Überschrift Ihrer Großen Anfrage sprechen Sie von großen
Problemen, anstatt deutlich zu machen, dass wir es mit
einem boomenden Markt zu tun haben.
({17})
Bei Übernachtungen ausländischer Gäste ist ein Plus
von 9 Prozent, bei inländischen Ankünften ein Plus von
2,1 Prozent zu verzeichnen. Die Gesamtzahl der Übernachtungen zeigt einen geringen Zuwachs in Höhe von
0,2 Prozent. Die Fachpresse spricht von einer Konsolidierung auf hohem Niveau.
({18})
Die Hotellerie verzeichnet ein Plus von 3 Prozent, die
Zimmerauslastung ist um 4,2 Prozent gestiegen.
({19})
Die Anzahl der Fluggäste stieg im Vergleich zu 2003 um
15,1 Millionen; das ist ein Plus von 9,3 Prozent. Die
Reiseveranstalter rechnen mit einem Plus von 5 Prozent.
Reisebüros verzeichnen positive Bilanzen. Bei den Ausbildungsplätzen im Tourismus gibt es einen Boom. In
der Gastronomie ist das nicht so; das räume ich ein. Aber
auch hier sind die Probleme rückläufig.
Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich Ihnen: Wenn man eine Branche schlechtreden will, dann
fängt man mit einer solchen Überschrift an. Herr Kollege Burgbacher, das haben Sie leider wieder einmal geschafft. Aber Sie sollten einmal die positiven Zahlen in
den Mittelpunkt rücken und nennen.
({20})
Dann würde man sehen, dass Sie auch positive Bilanzen
akzeptieren; denn mit dem Tourismus in Deutschland
geht es in Richtung Wachstum.
Danke, meine Damen und Herren.
({21})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Am Vorabend der Internationalen Tourismusbörse 2005 diskutiert der Deutsche Bundestag über die
Situation der Tourismuswirtschaft. So werden in den
kommenden Tagen in den Hallen unter dem Funkturm
nicht nur die neuesten Trends und Reiseziele durch die
Branche präsentiert. Vielmehr sind wir als Tourismuspolitiker dazu aufgefordert, hier im Parlament neben den
Stärken auch die Probleme des Wirtschaftssektors Tourismus am Standort Deutschland zu thematisieren.
Fest steht jedenfalls: Deutschland besitzt als Reiseziel
für Gäste aus nah und fern eine hohe Attraktivität und
die deutsche Bevölkerung ist als Kunde im eigenen Land
und weltweit ein gern gesehener Gast.
Betrachtet man den Tourismusstandort Deutschland,
so kann man aber wahrlich nicht behaupten, den deutschen Unternehmen der Branche gehe es blendend. Gerade der Dienstleistungssektor ist aufs Engste mit der
Binnenwirtschaft und der Stimmungslage der Konsumenten verbunden. Diese gleicht aber zurzeit eher dem
Zustand einer Depression, ohne dass sich ein Silberstreif
am Horizont abzeichnen würde.
({0})
Die rot-grüne Bundesregierung hat die Bevölkerung
unseres Landes nach nur sechseinhalb Jahren Amtszeit
zutiefst verunsichert. Kein einziges ihrer Reformvorhaben ist bislang geglückt. Bei einigen ihrer Politikansätze
konnte allerdings dank einer wachsamen Opposition
Schlimmeres verhindert werden.
({1})
Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit
wirkt weiterhin äußerst dämpfend auf den Binnenkonsum und legt sich wie Mehltau über unser Land.
({2})
Für unser Land sind die hohen Arbeitslosenzahlen und
die dahinter steckenden Einzelschicksale schlichtweg
eine Katastrophe. So wollen wir zum Beispiel mit dem
„Pakt für Deutschland“ erreichen, die rot-grünen Orgien
an zusätzlicher Bürokratie mit ihren enormen Belastungen für den deutschen Mittelstand, soweit es geht, abzuschwächen.
({3})
Dass das geplante Antidiskriminierungsgesetz ein Jobkiller ersten Ranges wird, bezweifelt inzwischen doch
nur noch die grüne Bundestagsfraktion.
({4})
Selbst große Teile der SPD wünschen sich heute, man
hätte sich nur auf die Eins-zu-eins-Umsetzung der Vorgaben der Europäischen Union beschränkt.
Meine Damen und Herren, wenn wir in die USA
schauen und sehen, wie sich der dortige Tourismussektor
als Jobmotor mit einer enormen binnenwirtschaftlichen
Bedeutung entwickelt, kann man hierzulande geradezu
neidisch werden. So rechnet beispielsweise die amerikanische Gastronomie im kommenden Jahr mit einem Umsatzwachstum von 4,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
({5})
In den letzten Jahren wurden jährlich durchschnittlich
270 000 neue Stellen geschaffen und in den kommenden
zehn Jahren sollen weitere 1,8 Millionen neue Jobs entstehen. Die SPD interessiert das allerdings offensichtlich
nicht. Selbst wenn man die unterschiedliche Größe der
Länder in Rechnung stellt, ist der Unterschied zu
Deutschland eklatant.
Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt kurzund mittelfristig etwas Positives bewirken wollen, wird
dies nur durch den Dienstleistungssektor und hier insbesondere durch den Tourismus und das Handwerk gelingen.
({6})
Dabei muss unser Hauptaugenmerk der Sicherung der
bestehenden Unternehmen gelten. Diese sichern die Arbeitsplätze in Deutschland und würden bei besserer Umsatzsituation und besseren Rahmenbedingungen mehr
neue Arbeitsplätze schaffen.
Die Union hat die Regierung immer wieder eindringlich darauf hingewiesen, dass es die tief greifenden
strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes und des
Wachstums sind, die unseren Arbeitsmarkt und damit
unser Land vor riesige Probleme stellen. Auch hier ist
der Tourismussektor als arbeitsintensive Branche mit
nicht exportierbaren Arbeitsplätzen in besonderem Maße
betroffen.
Natürlich möchte ich auch auf Positives hinweisen,
damit man der Union nicht vorwerfen kann, sie würde
alles in unserem Land nur schwarz malen. Der Anteil der
ausländischen Gäste, die im vergangenen Jahr
Deutschland besucht haben, war so groß wie nie zuvor in
der Geschichte. Dies ist für unser weltoffenes und tolerantes Land ein großer Erfolg. Unsere Deutsche Zentrale für Tourismus hat hieran einen sehr großen Anteil.
Jedoch muss immer wieder betont werden, dass
Deutschland noch immer ein Defizit in der touristischen
Außenhandelsbilanz von fast 40 Milliarden Euro hat.
58 Milliarden Euro gaben die Deutschen im Jahr 2004
während ihrer Reisen im Ausland aus; nur rund
21 Milliarden Euro wurden von ausländischen Gästen
bei uns im Land eingenommen.
Wie gelingt uns der Ausgleich? Erstens durch eine
Stärkung des Binnentourismus, zweitens durch eine Erhöhung des Anteils ausländischer und kaufkraftstarker
Gäste, die unser Land besuchen, und drittens durch die
Ausstattung der DZT mit einem höheren Budget.
({7})
Meine Damen und Herren, die Union hat hier immer
wieder Anträge auf Erhöhung des Budgets gestellt, die
leider im Fachausschuss abgebügelt wurden. Bei Besuchen und Gesprächen in Auslandsvertretungen der DZT
haben wir wiederholt festgestellt, dass deren Einsparpotenzial beinahe ausgeschöpft ist. Mit einem zusätzlichen Marketingbudget von bis zu 5 Millionen Euro
könnte im Ausland eine große Werbewirkung erzielt
werden.
({8})
Die Bundesregierung investiert aber lieber in kostspielige Kampagnen des Bundespresseamtes, die in der Bevölkerung schon lange keine Resonanz mehr hervorrufen.
({9})
Meine Damen und Herren, zur Budgeterhöhung gibt es
keine Alternative: Denn wir müssen die traditionellen
Märkte pflegen und die Erschließung neuer Märkte vorantreiben; ich denke hier vor allem an die Vereinigten
Arabischen Emirate, an Indien, an China, an Osteuropa
und natürlich an Russland. Das Gebot der Stunde ist, bei
Inlandswerbung und Auslandswerbung die Kräfte zu
bündeln. Unser Nachbar Schweiz geht hier mit gutem
Beispiel und großem Erfolg voran.
({10})
Lassen Sie mich zum Abschluss auf einen einzigen
Punkt des vorliegenden Berlin-Antrags eingehen, liebe
Kollegin Faße, nämlich den Wiederaufbau des
Berliner Stadtschlosses. Warum soll in der Hauptstadt
nicht etwas gelingen, was in Dresden mit der Frauenkirchen-Bürgerinitiative um Professor Ludwig Güttler so
erfolgreich gelungen ist? Für die Attraktivität der Hauptstadt als Tourismusdestination wäre ein wieder errichtetes Stadtschloss im Herzen Berlins ein großes Plus.
({11})
Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen,
dass das Know-how vom Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden keine weitere Anwendung findet.
Nein, die Baustelle, die im Herbst in Dresden erfolgreich
abgeschlossen wird, muss spätestens im Frühjahr 2006
auf dem Berliner Schlossplatz ihre Neuauflage finden.
Sie sehen: Für die Sicherung des Tourismusstandorts
Deutschland gibt es noch viel zu tun. Lassen Sie uns gemeinsam und zügig darangehen, die richtigen Rahmenbedingungen für die Branche zu schaffen!
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Rängen! Wir reden
heute hier, wie das schon mehrfach gesagt worden ist,
über vier Punkte: erstens über eine Große Anfrage der
FDP mit dem in meinen Augen schon etwas sonderbaren
Titel „Probleme des Tourismus in Deutschland trotz des
weltweiten Aufschwungs dieser Zukunftsbranche“.
Dann fehlt irgendwie ein Wort: „benennen“, „zusammenstellen“, „ändern“? Zweitens reden wir über einen
Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, auch von der FDP-Fraktion; drittens über einen
Antrag zur Sommerferienregelung, wiederum von der
FDP-Fraktion, und viertens über einen Antrag der
Union, die der Meinung ist, dass die Bundesregierung
das Marketing für die Hauptstadt Berlin in die Hand nehmen sollte.
Das alles soll Ihrer Meinung nach dem Tourismus
helfen. Ob das so ist, darüber kann man ganz sicher streiten. Auf jeden Fall gibt es uns die Gelegenheit, über den
wichtigen Wirtschaftsfaktor Tourismus und über die
Bedeutung der Tourismuswirtschaft für die Arbeitsplätze
in Deutschland zu reden. Das kann man gar nicht oft genug machen, finde ich. Das ist das Gute an Ihren Anträgen: Wir führen wieder einmal eine Debatte über die Bedeutung der Tourismuspolitik. Damit hört es aber auch
schon fast auf.
({0})
Denn ich frage mich: Hilft es der Tourismuswirtschaft
wirklich, wenn wir über Öffnungszeiten von Biergärten
reden?
({1})
Undine Kurth ({2})
Wir wissen doch genau: Das wird vor Ort entschieden.
({3})
Hilft es der Tourismuswirtschaft, wenn wir über Veränderungen im Jugendarbeitsschutzgesetz reden, Veränderungen, über die letztendlich die Tarifpartner entscheiden? Ich denke, meine Kollegin Renate Gradistanac
wird noch etwas dazu sagen. Hilft es der Tourismuswirtschaft, wenn Sie verminderte Mehrwertsteuersätze einfordern, obwohl uns eine ganz sicher nicht rot-grüne
Europäische Kommission als Ergebnis eines Experimentes dargelegt hat, dass dadurch weder mehr Arbeitsplätze
entstehen, noch Schwarzarbeit zurückgedrängt wird?
Wozu immer wieder diesen Popanz bemühen? Und was
den Antrag zur Sommerferienregelung angeht, da sind
wir doch alle einer Meinung, Herr Burgbacher; das wissen wir doch. Aber es ist nicht unsere Sache - die KMK
entscheidet.
({4})
- Sicher, wir können der KMK zum x-ten Male sagen,
dass sie das ändern soll, und werden das auch tun.
Ich glaube, wir können die heutige Debatte zumindest
als eine Art Zwischenbilanz rot-grüner Tourismuspolitik
begreifen. Ich finde es gut, dass wir darüber noch einmal
reden können. Dann sollten wir aber auch über positive
Dinge reden, zum Beispiel über die Entwicklung in
Ostdeutschland. Herr Brähmig, dazu hätten Sie doch
auch etwas sagen können - wir beide kommen aus
Ostdeutschland -: Dort hat der Tourismus unglaublich
viel Positives geleistet.
({5})
Sorgenkind, was die Arbeitslosigkeit angeht, ist der Osten oft. Aber Ostdeutschland konnte zum Beispiel im
Zeitraum von 1992 bis 2003 seinen Anteil an der Gesamtzahl der Übernachtungen in Deutschland von
10,1 auf 20,2 Prozent verdoppeln; das ist eine gute
Bilanz. Von den rund 2,5 Millionen Gästebetten in
Deutschland entfallen inzwischen 22 Prozent auf Ostdeutschland. Auch das ist keine schlechte Bilanz.
({6})
In Sachsen-Anhalt werden heute 45 000 Arbeitsplätze
durch die Tourismuswirtschaft gesichert.
({7})
1992 waren es noch 32 000. In Mecklenburg-Vorpommern ist jeder sechste Arbeitsplatz durch die Tourismuswirtschaft gesichert.
({8})
Ich denke, Sie könnten auch mal sagen, dass die Förderpolitik etwas Positives für den Tourismus bewirkt.
({9})
Die „Mitteldeutsche Zeitung“ - ich weiß nicht, wer
von Ihnen sie kennt; sie ist mit Sicherheit keine Zeitung,
der man eine ganz besondere Nähe zu Rot-Grün unterstellen muss - hat vor wenigen Tagen, am 22. Februar
2005, getitelt: „Sachsen-Anhalt legt die beste Tourismusbilanz seit 1990 vor“.
({10})
Man sieht also: Die in den Tourismus investierten Fördergelder rechnen sich. Ich denke, das ist ein Grund, darüber zu reden.
Ich komme nun zu einem zweiten Punkt, den ich
gerne noch ansprechen möchte, nämlich zur Barrierefreiheit. Wir alle reden immer wieder darüber, dass wir
sie zum Qualitätsmerkmal des Deutschlandtourismus
machen wollen.
({11})
Wir sagen, die Barrierefreiheit ist ein ganz wichtiger Aspekt. Meine Herren auf der rechten Seite des Hauses - es
haben ja nur Herren geredet -: Wie steht Ihre Aussage
zum Antidiskriminierungsgesetz dazu? Gerade wir, die
wir uns mit dem Tourismus beschäftigen, wissen doch,
wie viel Diskriminierung es noch gibt und wie wichtig
geeignete Maßnahmen wären.
({12})
- Genau, es gibt leider immer noch Gastronomen, die sagen: Sie dürfen nicht mit dem Rollstuhl hinein, Sie dürfen nicht mit Ihrem Blindenhund hinein und eine Gruppe
von Behinderten wollen wir hier schon gar nicht haben.
({13})
Genau das ist doch mit ein Grund, für ein Antidiskriminierungsgesetz zu stimmen, wenn man es mit dem
barrierefreien Tourismus ernst meint.
({14})
Da meine Redezeit zu Ende ist
({15})
und ich natürlich nicht überziehen möchte, Herr Präsident, möchte ich zum Schluss nur noch sagen: Es gibt
ganz gewiss eine Menge zu tun; das wissen wir.
({16})
Wir wollen das auch tun. Ich glaube aber, dass es klüger
ist, wirklich darüber nachzudenken, womit wir dem Tourismus erstens in der öffentlichen Wahrnehmung und
zweitens in der politischen Diskussion helfen können,
anstatt sich an der Wein- oder Biersteuer und Ähnlichem
festzubeißen.
Undine Kurth ({17})
({18})
Es ist eine Menge Gutes passiert, aber natürlich müssen
wir weitermachen und weiter dafür werben. Niemand ist
wirklich jemals fertig, aber man muss die Dinge tun, die
auch wirklich nützlich sind.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken von der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute Abend schon mehrmals gesagt worden, dass
morgen die Internationale Tourismus-Börse beginnt.
10 000 Aussteller aus 180 Ländern auf der einen Seite
und viele Tausend Besucher auf der anderen Seite werden erwartet. Das Schönste ist: Deutschland ist der Ausrichter der diesjährigen Internationalen TourismusBörse.
({0})
Wir haben die Möglichkeit, unser Land als weltoffenes,
gastfreundliches und interessantes Land besonders herauszustellen. Diese Chance wird sicherlich genutzt werden.
({1})
So weit zur schönen Seite, dem Beginn der Internationalen Tourismus-Börse. Wir sind heute aber hier im
Plenum versammelt, um die Tourismuspolitik unter die
Lupe zu nehmen. Dort liegt vieles im Argen. Meine Vorredner, Kollegen Brähmig und Burgbacher, haben bereits darauf verwiesen. Verehrte Frau Kollegin Faße, es
darf uns einfach nicht entgehen, dass die Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland stagniert.
({2})
Im Jahre 2002 hatten wir in Deutschland 338,2 Millionen Übernachtungen, ein Jahr später waren es
338,5 Millionen und wieder ein Jahr später waren es
338,8 Millionen.
({3})
Diese Zahlen sind in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Quote der Ausländer, die zu uns gekommen
sind, um Urlaub zu machen, Gott sei Dank um 9 Prozent
gestiegen ist. Währenddessen ist es für den Inländer
überhaupt nicht mehr möglich, so oft in den Urlaub zu
fahren, wie er gerne möchte bzw. wie er es früher getan
hat. Warum? Das liegt daran, dass die Wirtschaft stagniert und die Leute Angst um ihren Arbeitsplatz haben.
Sie haben nicht mehr das Geld, das sie brauchen, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
({4})
Sie sagen sich: Wer weiß, was den Rot-Grünen noch alles einfällt, ich muss das Geld sparen. - Die Sparquote
liegt bei uns bei 10,7 Prozent, in den USA liegt sie zum
Beispiel bei nur 1,5 Prozent. Warum? Die Leute haben
Angst vor den Schreckgespenstern, die von Ihnen noch
kommen können.
({5})
Der Vorschlag der FDP, das Jugendarbeitsschutzgesetz zu ändern, findet, lieber Kollege Burgbacher, unsere volle Unterstützung.
({6})
Warum? Weil er in die richtige Richtung geht. Es ist
doch ein Ding der Unmöglichkeit, zu sagen, einem über
16-Jährigen sei es nicht zuzumuten, bis 23 Uhr zu arbeiten, noch dazu, wenn er einen Tag vor dem Berufsschultag spätestens um 21 Uhr nach Hause gehen darf.
({7})
Meine Damen und Herren, haben Sie denn übersehen,
dass gerade Hotellerie und Gastronomie diejenigen waren, die im letzten Jahr 6 Prozent mehr Arbeits- und
Ausbildungsplätze geschaffen haben? Das ist doch eine
großartige Sache.
({8})
- Sie würden noch viel mehr Ausbildungsplätze schaffen, wenn sie nicht diesen bürokratischen Hemmnissen
unterworfen wären.
({9})
Das spricht eine eindeutige Sprache. Angesichts dieser
Zuwachsraten und angesichts der Tatsache, dass in Hotellerie und Gastronomie schon 94 000 Auszubildende
beschäftigt sind, will ich all denjenigen Danke sagen, die
bereit sind, unserer Forderung nach mehr Ausbildungsplätzen nachzukommen.
({10})
Eine Möglichkeit, für weitere Zuwachsraten zu sorgen, wäre, die Sommerferienregelung zu ändern. Jeder
zusätzliche Tag würde 1 Million mehr Übernachtungen
bringen. Jede Übernachtung bringt im Schnitt 70 Euro
ein. Rechnen Sie sich einmal aus, was sich hier der Staat
durch die Lappen gehen lässt, nur weil wir nicht in der
Lage sind, in dieser Hinsicht eine vernünftige Regelung
zu finden!
({11})
Da sind nicht nur die Kultusminister der Länder, sondern
auch wir als Tourismuspolitiker gefordert, neben der Bildungspolitik vor allen Dingen die Tourismuspolitik im
Auge zu behalten und dabei nicht nur durch die bildungspolitische, sondern auch durch die ökonomische
Brille zu sehen.
({12})
Ich meine, dass Hotellerie und Gastronomie vor allen
Dingen durch die enorme Bürokratie belastet werden.
In den letzten Jahren wurden zwar 700 Verordnungen
abgeschafft, aber mehr als 1 700 neue Verordnungen erlassen. Damit ist niemandem geholfen; das passt doch
nicht zusammen.
({13})
Sie haben zum Beispiel den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit per Gesetz durchgesetzt. Was ist das Ergebnis?
Ein Minus von 250 000 Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland! Jetzt kommen Sie mit den verheerenden Änderungen bei der Umsetzung des Antidiskriminierungsgesetzes, das überhaupt niemand mehr
versteht. Reden Sie einmal mit den betroffenen Unternehmern vor Ort! Sie haben einen Horror vor dem, was
ihnen tagtäglich an Neuem geboten wird.
({14})
Das ist nicht die Politik, die die Bundesrepublik
Deutschland und vor allen Dingen die Tourismusbranche
braucht. Deutschland ist wahrlich ein schönes Land.
Deutschland ist ein kulturell reiches Land. Deutschland
verdient es, dass viele Touristen zu Besuch kommen.
Wir waren letzte Woche bei unserer verehrten Kollegin
Frau Falk in Xanten und haben dort festgestellt, dass
Deutschland nicht nur in Bayern und im Osten, sondern
zum Beispiel auch im Westen schön und durchaus bereisenswert ist.
({15})
Ich meine, dieses Erlebnis sollte allen gegönnt werden. Wir sind aufgefordert, hier tätig zu werden und vor
allen Dingen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit es
unserer Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik
Deutschland wieder besser geht. Ihr Versagen muss angeprangert und abgestellt werden. Dafür werden wir sorgen.
({16})
Das dauert zwar noch ein bisschen, aber spätestens im
nächsten Jahr sitzen wir auf der Regierungsbank und
werden die notwendigen Weichenstellungen vornehmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Gradistanac
von der SPD-Fraktion.
Guten Abend, Herr Präsident, meine sehr verehrten
Damen und Herren! Am 2. April 2003 haben Sie, Herr
Burgbacher, mit Ihrer FDP-Fraktion einen Antrag auf
Liberalisierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes gestellt.
({0})
Damals haben Sie gefordert, dass jugendliche Auszubildende über 16 Jahre bis 24 Uhr arbeiten dürfen. In dem
heute zu beratenden Antrag vom 10. März 2004, also
etwa ein Jahr später, fordern Sie erneut eine Anhebung
der Arbeitszeit, dieses Mal bis 23 Uhr.
({1})
Ich nehme zur Kenntnis, werte Kolleginnen und Kollegen, dass Sie ein wenig dazugelernt haben.
({2})
Gemeinsam mit dem DEHOGA bewegen Sie sich in die
richtige Richtung, nämlich in die Richtung des bestehenden guten Jugendarbeitsschutzes.
({3})
Wenn Sie schon meinen, Ihre bereits abgelehnten Anträge noch einmal in den Deutschen Bundestag einbringen zu müssen, dann habe ich eine große Bitte: Schreiben Sie doch nicht Ihre alten Anträge einfach ab. Lassen
Sie sich neue und vor allem gute Argumente einfallen.
({4})
Kalter Kaffee wird nicht dadurch besser, dass man ihn
immer wieder aufwärmt. Damals wie heute behaupten
Sie, es gehe Ihnen darum,
({5})
die Aussichten der meist unter 18-jährigen Haupt- und
Realschüler auf eine Ausbildung im Gaststättengewerbe zu verbessern. Sie sehen damals wie heute eine
Bevorzugung der Abiturientinnen und Abiturienten bei
der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, da diese in
der Regel über 18 Jahre sind. Dieses Argument ist
schlichtweg falsch. Die Antwort der Bundesregierung
vom 14. Juni 2004 auf Ihre Große Anfrage zeigt dies
eindrücklich anhand der amtlichen Statistik.
({6})
Der Anteil der Auszubildenden mit Hochschulreife - Sie
haben das sicher gelesen - im Gastgewerbe ist gesunken.
Absolut gestiegen - das haben wir schon lobend bemerkt - ist allerdings die Zahl der jugendlichen Auszubildenden.
({7})
In der Realität ist das Gastgewerbe nach wie vor also die
Branche, in der gerade jugendliche Haupt- und Realschüler gute Ausbildungsperspektiven haben.
({8})
Meine Damen und Herren von der Opposition, mein
Anliegen ist: Übernehmen Sie doch nicht immer unreflektiert die Forderungen der Wirtschaft, in diesem Fall
des DEHOGA.
({9})
Tatsache ist, dass das Jugendarbeitsschutzgesetz bereits heute den Anforderungen des Gastgewerbes nachkommt. Normalerweise dürfen Jugendliche bis 20 Uhr
arbeiten, im Gastgewerbe ist dies für Auszubildende ab
16 Jahren bis 22 Uhr möglich, wenn ein Schichtbetrieb
vorhanden ist, bis 23 Uhr. Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist für uns jedenfalls ein Schutzgesetz. Entsprechend
ihrem Entwicklungsstand schützt es junge Menschen vor
Überforderung,
({10})
Überbeanspruchung und Gefahren am Arbeitsplatz. Hören Sie endlich auf, von Bürokratieabbau zu reden, wenn
Sie eigentlich den Abbau von Schutzbestimmungen und
Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
meinen.
({11})
- Du brauchst dich gar nicht aufzustellen, ich sage eh
Nein.
({12})
Meine SPD-Fraktion und ich halten es mit Harry
Belafonte, der sagt: Rühre nie an einer Grundidee, wenn
sie Qualität besitzt.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2664 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 15/4121 zu dem
Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Sommerferienregelung verbraucherfreundlicher gestalten - Gesamtferienzeitraum auf 90 Tage ausdehnen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3102 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der
FDP-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus
auf Drucksache 15/5014 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Marketing für die Hauptstadt
Berlin“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3491 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Statistikregistergesetzes
und sonstiger Statistikgesetze
- Drucksache 15/4696 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1})
- Drucksache 15/4955 Berichterstattung:
Abgeordneter Alexander Dobrindt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Das heute zur Verabschiedung stehende Gesetz zur Änderung des Statistikregistergesetzes steht in einer Reihe von Gesetzen und Maßnahmen
({0})
zur Verbesserung der amtlichen Statistik in Deutschland.
Ich weiß, Statistik ist kein besonders beliebtes Thema.
Sie steht eher in dem Ruf, eine Belästigung der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen darzustellen. Leider wird das auch von Verantwortlichen, insbesondere
von der Opposition, noch unterstützt.
({1})
Dabei ist nicht nur unter den Herstellern, sondern
auch unter den Nutzern amtlicher Statistiken und Daten
unbestritten, dass sie ein Schlüsselelement in Wirtschaft
und Gesellschaft darstellen. Diejenigen, die diese Daten
nutzen, wissen ihren Wert einzuschätzen. Die Nachfragen nach Daten der amtlichen Statistik, so der Präsident
des Statistischen Bundesamtes, Professor Hahlen, hat lawinenartig zugenommen.
Deswegen sage ich allen Vorurteilen zum Trotz: Eine
zuverlässige Datenbasis und die Fülle der von ihr zu erhaltenden Informationen sind für die Beurteilung des
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels wichtig.
({2})
Nur mit ihrer Hilfe können Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftler in Unternehmen, Wissenschaft
und Verwaltung Analysen ausarbeiten, die für rationale
Entscheidungen unentbehrlich sind. Das weiß übrigens
niemand besser als die Unternehmen, die Konsumgüter
herstellen; aber auch Banken und Versicherungen kennen die Vorteile. Sie alle legen Wert auf diese Statistiken.
Auf dem viel zitierten Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft sind aussagekräftige und verlässliche Daten ohnehin ein wesentliches strategisches Element: Sie sind der Rohstoff, ohne den ihr das Fundament
entzogen wäre. Fehlen nämlich zuverlässige Daten und
Informationen, kommt es zu einer erheblichen Unsicherheit. Das kann für alle, die Entscheidungen fällen, sehr
teuer, ja katastrophal werden. Wenn Sie sich über den
Wert von Daten und Informationen informieren wollen,
empfehle ich Ihnen eine berühmte Schrift aus dem vergangenen Jahrhundert: Clausewitz hat auf den Wert von
Informationen für strategische Entscheidungen deutlich
hingewiesen.
Wir sollten nie vergessen, dass nicht nur Wirtschaft
und Staat ein Interesse an amtlicher Statistik haben. In
einem demokratischen Staat ist eine allgemein zugängliche Informationsquelle ein öffentliches Gut: Sie ist zuverlässig und vertrauenswürdig, die Nutzung ist grundsätzlich kostenlos für jeden Bürger, jedes Unternehmen,
die Gewerkschaften, die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft.
Die Erhebung der Daten ist natürlich nicht kostenlos,
weder für die befragten Bürger und Unternehmen noch
für den erhebenden Staat. Deswegen müssen Statistiken
möglichst effizient und unbürokratisch ermittelt und die
Befragten so wenig wie möglich belastet werden. Die
Erhebung der Daten muss sich auch an den Bedürfnissen
der Nutzer orientieren, das heißt, sie muss aktuell und
zuverlässig sein und sich hinsichtlich Umfang und Fragestellungen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Veränderungen kontinuierlich anpassen.
Fast zwei Jahrzehnte lang hat man diese Zusammenhänge in der deutschen Politik gröblich vernachlässigt.
Die deutsche Statistik war, was die Aktualität betrifft,
weit hinter die USA und viele europäischen Länder zurückgefallen. Seit dem Europäischen Aktionsplan, der
am 29. September 2000 beschlossen wurde, wird das
nun erfreulicherweise, kräftig unterstützt von der Bundesregierung, systematisch nachgeholt. So wurde im
Jahre 2003 zum Beispiel ein wichtiger Schritt hin zu einer effektiveren Nutzung vorhandenen Datenmaterials
getan. Primärerhebungen können so vermieden und Unternehmen entlastet werden.
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz wird die
statistikinterne Verknüpfung von Daten wesentlich vereinfacht, wird der Kommunalstatistik als Ersatz für die
entfallende Arbeitsstättenzählung Zugang zu ausgewählten Daten des Statistikregisters gewährt, werden Daten
aus dem Unternehmensregister und Verwaltungsdaten
- das ist für das Handwerk besonders wichtig; damit
kommen wir einem besonderen Wunsch des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks nach; wo ist denn der
Herr Kollege Hinsken? - nun auch wieder für das zulassungsfreie Handwerk statistisch ausgewertet, wird eine
bessere Zusammenarbeit der statistischen Ämter ermöglicht und wird vor allem die Arbeit der Forschungsdatenzentren gerade aus Sicht der Datenschützer besser rechtlich abgesichert. Schließlich wird die Aufstockung des
Stichprobenumfangs auf 20 000 Einheiten zur unentbehrlichen Verbesserung der freiwilligen Erhebungen ermöglicht. Auch die Änderung der Zusammensetzung des
Statistischen Beirats ist angemessen und im Grunde
überfällig; denn Eurostat, die Umweltverbände und ein
weiterer Vertreter der Wissenschaft können die Qualitätssicherung und die Fortentwicklung der amtlichen Informationsbasis nur günstig beeinflussen.
Zusammengenommen ist der Gesetzentwurf gemeinsam mit den Ergänzungen durch die Koalitionsfraktionen und - das möchte ich betonen - unter weitgehender
Berücksichtigung der Empfehlungen des Bundesrates
ein weiterer Schritt in die richtige Richtung innerhalb
des oft schwierigen föderalistischen Systems in Deutschland.
({3})
- Ich kann es ebenfalls nicht verstehen; denn die meisten
Vorschläge des Bundesrates sind ja aufgenommen worden, außer einigen Petitessen.
Wer in Statistik - das sage ich Ihnen nachdrücklich nur Erbsenzählerei auf Kosten des Steuerzahlers sowie
eine Belastung für Bürger und Unternehmen sieht, dem
sei zugerufen: Wissen und Information sind in einer modernen Produktions- und Dienstleistungsgesellschaft, die
im internationalen Wettbewerb steht, keine Belästigung,
sondern ein strategisches Gut, ein Produktionsfaktor,
dessen Nutzen für unser Land seine Kosten bei weitem
übertrifft.
({4})
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über den Entwurf eines Statistikgesetzes, das laut Drucksache zur
Vermeidung neuer statistischer Erhebungen durch eine
effizientere Nutzung bereits vorhandener Daten beitragen soll. Es handelt sich also eigentlich um ein BürokraAlexander Dobrindt
tieabbaugesetz. Aber leider steht das so nicht drin. Es ist
vielmehr ein klassisches Mehr-Bürokratie-Gesetz, das
im Ergebnis dazu beiträgt, dass mehr Lasten auf den
Mittelstand verteilt werden, dass mehr Kosten vom Mittelstand zu tragen sind und dass wieder weniger Freiheit
anstatt mehr Freiheit bei den Unternehmen ankommt.
Wie kann man das sonst verstehen? Mit der Novellierung der Handwerksordnung, Ihrem Frontalangriff auf
das deutsche Handwerk 2003, wollten Sie die Zahl der in
der Anlage A aufgeführten zulassungspflichtigen Gewerbe von 94 auf 29 verringern. Wir haben durch unser
massives Dagegenhalten dafür gesorgt, dass 90 Prozent
aller Betriebe das Meisterprivileg erhalten. Nun stellen
Sie fest, dass die nicht mehr in der Anlage A befindlichen Betriebe im Statistikregistergesetz nicht mehr erfasst sind. Sofort stellen Sie die Forderung auf, dass eine
statistische Erfassung sein muss. Dazu wird der Versuch
unternommen, ein Bürokratieabbaugesetz zur Einführung zusätzlicher Statistikpflichten zu missbrauchen. Sie
haben zwar den Unternehmen die Privilegien genommen, wollen aber bei den Pflichten immer wieder draufsatteln. Da machen wir nicht mit. Wir wollen die Mittelständler von bürokratischen Gängeleien entlasten. Dazu
gehört, dass wir weniger Statistiken von den Unternehmen einfordern.
({0})
Herr Kollege Dobrindt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?
Gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass die von Ihnen
beklagte Belastung der Unternehmen, diese statistische
Ergänzung, ausgerechnet vom Zentralverband des Deutschen Handwerks ausdrücklich gewünscht wurde?
Liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, genau das ist
vielleicht Ihr Problem. Sie können sich in den Champagneretagen mit den Kollegen aus dem ZDH und
sonstwo unterhalten.
({0})
Gehen Sie doch bitte einmal in Ihren Wahlkreis! Reden
Sie mit den Handwerkern vor Ort und fragen Sie die, wie
sie zu den statistischen Erfassungen stehen! Dann werden Sie sehen, wie die Menschen das wirklich sehen.
({1})
- Das ist zitierfähig.
({2})
- Das dürfen Sie gerne zitieren.
Es wäre auf jeden Fall sinnvoller, die zulassungspflichtigen wie auch die zulassungsfreien Gewerbe von
der kompletten Statistik zu befreien. Wenn Sie schon
statistische Aufgaben verlangen, dann sollten Sie die
Auskunft begehrende Stelle auch entsprechend bezahlen
lassen. Offensichtlich kann man den Drang nach Erhebungen nicht anders eindämmen.
Frau Skarpelis-Sperk, weil Sie nicht wahrhaben wollen, dass Ihr Gesetz zu zusätzlichen Belastungen und
mehr Bürokratie führt, lese ich gerne aus der Begründung zu Nr. 03 der Beschlussempfehlung zu dem Gesetz
vor:
… ein Stichprobenumfang von 10 000 Einheiten
({3}) häufig nicht aus …, um im Falle eines kurzfristig auftretenden Datenbedarfs oder zur Klärung
wissenschaftlich-methodischer Fragestellungen hinreichend gesicherte statistische Aussagen zu gewinnen. Eine Aufstockung der Obergrenze auf
20 000 schafft mehr Flexibilität …
Meine Damen und Herren, für wen schafft das mehr Flexibilität? Für die Unternehmen? Für die Betriebe? Für
die Betroffenen? Sicher nicht. Sie verdoppeln mit diesem Gesetz die Stichprobengröße von 10 000 auf
20 000 und reden dabei von Bürokratieabbau. Sie wollen
doppelt so viele Mittelständler wie bisher mit Statistiken
und Kosten belasten und reden von Bürokratieabbau. Da
machen wir schlichtweg nicht mit.
({4})
Ihnen fällt nicht nur nichts ein, wie man die Wirtschaft entlasten könnte; Sie legen immer noch eine
Schaufel drauf. Masterplan Bürokratieabbau? Bis heute
nicht vorhanden. Was ist mit der Ankündigung des Bundeskanzlers, die Verwaltung schlanker und effizienter zu
machen und hemmende Bürokratie rasch zu beseitigen?
Das Gegenteil ist passiert.
Bürokratieabbau bedeutet mehr Eigenverantwortung,
mehr Freiheit, weniger Staat, mehr Mut zum Risiko. Die
Hälfte der Unternehmer in Deutschland sagen, dass die
Bürokratie nach Steuer- und Abgabenlast das größte
Hindernis für den betrieblichen Erfolg sei. 3 500 Euro
muss heute ein Mittelständler pro Arbeitsplatz an Bürokratiekosten ausgeben. International ist Deutschland unter den Industrienationen Spitzenreiter, was die bürokratische Regelungsdichte betrifft.
Anstatt diese Erkenntnisse zum Anlass zu nehmen,
darüber nachzudenken, wie man die stetig anwachsende
Bürokratie in den Griff bekommt, fehlt Rot-Grün inzwischen sogar der Mut, sich gegen restlos unsinnige Regelungen aus Brüssel zur Wehr zu setzen.
Ich erzähle Ihnen hier gern ein interessantes Beispiel.
Letzte Woche haben wir im Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit die so genannte europäische Richtlinie zur
optischen Strahlung beraten. In dieser Richtlinie wird
eine Dokumentationspflicht für all diejenigen Betriebe
verordnet, deren Mitarbeiter dem Sonnenlicht ausgesetzt
sind, grob gesagt also all diejenigen, die auf dem Bau arbeiten, im Gartenbau, im Pflasterbau.
({5})
Diese Unternehmen sollen künftig Aufzeichnungen darüber machen, welche Mitarbeiter sich einer erhöhten
Gefährdung durch Sonnenlicht aussetzen, auch noch gestaffelt nach Risikogruppen.
({6})
Selbst die Berufsgenossenschaften warnen vor einer
solchen Regelung. Sie sagen vernünftigerweise, dass das
Sonnenlicht während der Arbeit kaum ein anderes als
während der Freizeit ist und deswegen die Gefährdung
oder Nichtgefährdung während der Freizeit genauso
groß oder klein wie während der Arbeitszeit ist. Es ist
vollkommen sinnlos, Aufzeichnungen zu verlangen, um
vielleicht nach 20 Jahren festzustellen, wie viel Sonne
jemand während der Arbeitszeit theoretisch ausgesetzt
war.
Wir haben einen Antrag dazu vorgelegt, damit die
Bundesregierung in Brüssel darüber verhandelt. Sie haben ihn abgelehnt, mit der üblichen Begründung - diesmal von Staatssekretär Schlauch -, die Bundesregierung
glaube nicht, dass hier zusätzliche Belastungen für den
deutschen Mittelstand entstünden.
Meine Damen und Herren, 45 Prozent aller Betriebe
werden auf eine konsequente Entbürokratisierung mit
mehr Investitionen und mit mehr Personaleinstellungen
reagieren. Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen in
diesem Land sollte das Grund genug sein, endlich mit
dem Bürokratieabbau anzufangen.
Danke schön.
({7})
Die Rede des Kollegen Werner Schulz vom Bündnis
90/Die Grünen soll zu Protokoll genommen werden.1)
Ich denke, Sie sind damit einverstanden.
Dann kommen wir jetzt zur Rede des Kollegen
Dr. Karl Addicks von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetz-
entwurf, den wir hier heute abschließend beraten, wird
von uns, der FDP-Fraktion, im Grundsatz begrüßt. Den-
noch werden wir uns wahrscheinlich - wie schon im
Ausschuss - der Stimme enthalten.
Warum? Wir wollen mit dieser Enthaltung dokumen-
tieren, dass wir den Entwurf zwar für einen Schritt in die
1) Anlage 2
richtige Richtung halten, er uns aber nicht weit genug
geht; denn wir wollen einen viel umfassenderen Bürokratieabbau in diesem Lande.
({0})
Sicher, das Gesetz ist für die Bereiche, auf die es abzielt, eine Erleichterung. Schließlich hilft es, wahre Datenschätze aus verschiedenen Bereichen der Statistik zu
heben und zusammenzuführen. Wir hoffen allerdings,
dass daraus keine neuen Kosten für den Bundeshaushalt
entstehen; in den Anlagen zu diesem Entwurf bleibt das
leider weitgehend im Dunkeln.
Die Bürokratie liegt wie Mehltau über diesem Land
und über der Wirtschaft, das ist uns allen klar. Sie aber
sind in der Regierungsverantwortung. Befreien Sie endlich die Wirtschaft von diesem Joch
({1})
und seien Sie dabei ein bisschen energischer! Die Arbeitsmärkte würden wirklich aufatmen.
Was erleben wir stattdessen? Lange Ankündigungen
ohne tatkräftige Folgen. Herr Staatssekretär Staffelt, was
ist denn mit dem Masterplan Bürokratieabbau?
({2})
Was ist denn mit den Modellregionen? Das alles sind
Fata Morganas, die sich verflüchtigen, wenn man ihnen
folgt. Land und Leute verdursten dabei, um in diesem
Bild zu bleiben.
Das Gesetz macht durchaus Sinn: Statt gänzlich neue
Daten zu erheben und damit den Auskunftspflichtigen
auf die Nerven zu fallen, werden vorhandene Statistiken
zusammengeführt, was zu neuen Möglichkeiten in der
Nutzung dieser Daten führt. Allerdings geht es hier nur
um eine redaktionelle Anpassung an die reformierte
Handwerksordnung und um eine Koordinierung der verschiedenen Statistikdienste auf Bundes-, Landes- und
Kommunalebene. Wir begrüßen diese geplante Vernetzung der einzelnen Datenpools. Nur, warum geht das eigentlich alles so langsam?
({3})
Die Bundesregierung ist immer noch in ruhigem Schneckentempo unterwegs, obwohl es an allen Ecken und
Enden brennt.
({4})
Wachen Sie auf und tun Sie endlich etwas! Wenn Sie
wollen, können Sie doch mit Schnellschüssen kommen,
siehe Versammlungsgesetz.
Dieser Entwurf ermöglicht die Datenverknüpfung, so
weit, so gut. Jedoch bleibt es bei unser Kritik: Warum
dehnen Sie den Bürokratieabbau nicht endlich auf alle
Bereiche der Wirtschaft aus? Warum hat Herr Clement
nicht die Kraft, unserer Wirtschaft die Statistikfrondienste endlich zu erlassen?
({5})
Das Institut für Mittelstandsforschung hat die Kosten
der aufgeblasenen Bürokratie auf rund 50 Milliarden
Euro berechnet - was für ein Wettbewerbsnachteil für
dieses Land und seine Unternehmen!
({6})
Wie soll man als Global Player dabei eigentlich konkurrenzfähig sein?
Im Zusammenhang mit den so genannten Innovationsregionen haben Sie viele schöne Vorschläge gemacht. Passiert ist so gut wie gar nichts. Herr Clement
lamentiert wegen des Kraken Bürokratie, aber die Leute
wollen ein bisschen mehr als Lippenbekenntnisse.
Wenn Sie also Ernst machen wollen, dann bleiben Sie
nicht bei diesem ersten Schritt stehen, sondern schreiten
Sie mutig voran und bringen Sie uns allen endlich die
lange überfälligen Erleichterungen! Das Land lechzt ja
geradezu danach.
({7})
Aber kommen Sie uns bitte nicht mit neuen Belastungen! Insbesondere braucht dieses Land keine Ausbildungsplatzabgabe und kein Antidiskriminierungsgesetz,
zumindest nicht in der vorliegenden Fassung.
({8})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Um zu signalisieren, dass die Bundesregierung weiter in
der Pflicht ist, stimmen wir heute diesem Gesetz nicht
zu. Wir enthalten uns oder stimmen dagegen;
({9})
das hängt von den Mehrheitsverhältnissen ab, die wir
gleich testen werden.
({10})
Vielleicht wirkt das ja als kleiner Stimulus für Ihren weiteren Bürokratieabbau.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Herr Kollege Addicks, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Herr Kollege Addicks, beim nächsten Mal werde ich allerdings etwas strenger auf die Redezeit achten.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angela Schmid von
der CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir alle kennen die Klagen der Wirtschaft über zu hohe
Bürokratiekosten und zeitraubende Auskunftspflichten
für statistische Erhebungen. Wir alle sind uns einig, dass
das bestehende System der Wirtschaftsstatistiken einer
eingehenden Überprüfung bedarf.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung nun die bei den statistischen Ämtern vorhandenen Daten effizienter nutzen und so neue statistische Erhebungen vermeiden. Zweifellos ein zu
begrüßendes Ziel, zumal die Bundesregierung auch noch
ausdrücklich ausführt, dass durch die Gesetzesänderung
den Unternehmen kein zusätzlicher Aufwand entstehen
wird, sondern eher sogar das Gegenteil eintreten wird.
Schaut man aber genauer hin, sieht die Lage anders aus.
Denn neben der Zusammenführung von Daten sollen
auch die jetzt zulassungsfreien Handwerke in die Auswertung des Statistikregisters einbezogen werden,
({0})
um so eine Gleichbehandlung mit den zulassungspflichtigen Handwerken zu erreichen. Auch dieses Ziel mag
auf den ersten Blick noch vertretbar erscheinen; denn die
Verpflichtung zu statistischen Angaben nur den zulassungspflichtigen Gewerbebetrieben aufzuerlegen, wäre
zweifellos willkürlich und ungerecht.
Enttäuschend ist nur, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, dass Ihnen zur Schließung
dieser Gesetzeslücke nur eine Idee gekommen ist: die
zulassungsfreien Gewerbe gleichermaßen wie die zulassungspflichtigen Gewerbe mit Auskunftspflichten über
statistische Angaben zu belasten. Andere Wege und
Möglichkeiten kamen für Sie natürlich nicht in Betracht.
Dabei haben Sie doch im letzten Sommer in Ihrem eigenen Gesetzentwurf noch selbst festgestellt, dass weitere
Maßnahmen zum Abbau von Statistiken notwendig
seien, um die Berichtspflichtigen und die statistischen
Ämter zu entlasten.
Fest steht auch, dass im Rahmen der parlamentarischen Selbstkontrolle und der Gesetzesfolgenabschätzung bei jedem neuen Gesetzentwurf geprüft werden
sollte, welcher Aufwand und welche Kosten für Bürger
und Unternehmen mit dem neuen Gesetz verbunden sein
werden. Es verwundert daher schon sehr, dass Sie gerade
bei dem nun vorliegenden Entwurf nicht auch die Frage
geprüft haben, inwieweit auf statistische Angaben sowohl von zulassungsfreien als auch von zulassungspflichtigen Gewerben verzichtet werden kann. Sie wissen selbst: Statistische Erhebungen bringen besonders
für mittelständische Unternehmen eine enorme Zeit- und
Kostenbelastung mit sich.
({1})
Die Bürokratiekosten betragen derzeit beispielsweise in
kleineren Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten
4 400 Euro pro Arbeitsplatz. Entsprechend groß ist der
zeitliche Aufwand: Bis zu 64 Stunden im Jahr gehen pro
Mitarbeiter dafür drauf. Die CDU/CSU-Fraktion fordert
daher seit langem eine deutliche Reduzierung der
statistischen Auskunftspflichten und damit eine erhebliche Bürokratieerleichterung für Unternehmen.
({2})
Für alle Statistikpflichten sollte die Regel gelten: Wer
eine Statistik bestellt, muss sie auch bezahlen.
({3})
Im Bereich der Statistik ist dieser Gedanke im Prinzip
der Ressortdeckung umgesetzt worden, wie es in Bayern
seit vergangenem Jahr erprobt wird: Alle Ausweitungen
von Statistikanforderungen gehen danach zu Lasten des
fachlich federführenden Ressorts, das die dadurch entstehenden Kosten bei der Haushaltsaufstellung decken
muss. Damit soll das Kostenbewusstsein der Fachseite
gestärkt werden. Mit Durchsetzung des Ressortdeckungsprinzips wird die Arbeit der statistischen Ämter
als Datenlieferant für Entscheidungsträger in allen Bereichen des täglichen Lebens auf einem tragbaren Niveau gehalten.
({4})
Zudem besteht dadurch die Chance, Betrieben und Unternehmen keine weiteren Lasten durch die Erstellung
von Statistiken aufzubürden. Derzeit kostet die staatlich
verordnete Bürokratie die deutschen Unternehmen 46 Milliarden Euro im Jahr.
({5})
Daran wird sich auch mit diesem Gesetzentwurf
nichts ändern.
({6})
Der von Bundesminister Clement propagierte Abbau
von Bürokratiekosten kommt einfach nicht voran. Angesichts dessen ist es kaum zu glauben: Nach offiziellen
Bekundungen des Bundeswirtschaftsministeriums soll
der Bürokratieabbau Chefsache sein.
Der vorliegende Entwurf setzt ein völlig falsches Signal. Bei all Ihren Bemühungen, Gerechtigkeit zu schaffen
und zulassungspflichtige und zulassungsfreie Gewerbe im
Hinblick auf ihre statistischen Auskunftspflichten gleich
zu behandeln, übersehen Sie wieder einmal mögliche gesetzgeberische Alternativen.
Obwohl das Problem der Bürokratiebelastung durch
statistische Auskunftspflichten für die Unternehmen erkannt ist und ein weiter gehender Abbau von Wirtschaftsstatistiken versprochen wurde, werden hier neue
Wege, wie beispielsweise von unserer Fraktion vorgeschlagen, schlicht und einfach ignoriert - ein erneuter
Beweis für mangelnden Sachverstand und fehlenden politischen Weitblick.
Danke schön.
({7})
Frau Kollegin Schmid, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Statistikregistergesetzes und sonstiger Statistikgesetze, Drucksache 15/4696. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4955, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten CarlLudwig Thiele, Stephan Hilsberg, Franziska
Eichstädt-Bohlig, Werner Kuhn ({1}), Ulrich
Adam und weiterer Abgeordneter
Gelände um das Brandenburger Tor als Ort
des Erinnerns an die Berliner Mauer, des Gedenkens an ihre Opfer und der Freude über
die Überwindung der deutschen Teilung
- Drucksache 15/4795 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache vorgesehen, dass vier Abgeordnete aus der
Gruppe der Antragsteller jeweils fünf Minuten Redezeit
erhalten. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele von der FDPFraktion das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Präsident - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie viele andere in diesem Haus
bin ich politisch geprägt - ich bin Jahrgang 1953 - von
der Teilung Deutschlands 1961 bis 1989 durch die
Mauer, wobei die Mauer ja nicht nur eine Mauer war,
sondern sich in einem Todesstreifen befand. Dieser Todesstreifen teilte Berlin, teilte Deutschland, teilte die
ganze Welt.
Als ich 1990 die Ehre hatte, Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages zu werden, habe ich mich
sehr gefreut, dass der damalige Alterspräsident Willy
Brandt war, der ebenso für die Überwindung der deutschen Teilung stand wie Hans-Dietrich Genscher,
Helmut Kohl und andere Politiker Deutschlands, über
die Parteigrenzen hinweg.
Wenn ich heute meinen Kindern - mein ältester Sohn
wird in diesem Jahr 17 Jahre alt - erklären soll, wie die
deutsche Teilung war und wie die Überwindung der
Teilung abgelaufen ist, dann bin ich dazu überhaupt
nicht in der Lage. Die Menschen und insbesondere die Jugend der Welt kommen an das Brandenburger Tor - kein
anderer Ort in Deutschland steht so sehr für die Teilung und wollen erfahren, wie es war, als das Land geteilt war,
und wie es war, als diese Teilung überwunden wurde.
Aber ihnen wird an dieser zentralen Stelle kein Hinweis
darauf gegeben.
Deshalb war es gut - dieses Thema hat mich länger
umgetrieben -, dass ich im Herbst 2003 darüber mit dem
Kollegen Hilsberg gesprochen habe, der heute bedauerlicherweise erkrankt ist und dem ich von dieser Stelle aus
gute Besserung wünsche.
({0})
Es hat sich das Gefühl entwickelt, dass wir etwas unternehmen müssen. Wir haben einen Antrag vorbereitet und
Kontakt mit der Kollegin Eichstädt-Bohlig und dem
Kollegen Kuhn aufgenommen. Sie, Frau EichstädtBohlig, hatten ebenfalls festgestellt, dass etwas fehle.
Wir vier Initiatoren - zwei Initiatoren kommen aus dem
Westen und zwei aus dem Osten - stehen für die Generation Deutschlands zu Zeiten der Teilung. Die Mauer
wurde nicht nur vom Westen, sondern noch viel stärker
vom Osten als trennendes Element empfunden.
Ich erinnere mich daran, dass es auch bei den Jungen
Liberalen seinerzeit eine Diskussion um die Zweistaatlichkeit gab. Man sprach darüber, ob man nicht irgendwann einmal die Realität anerkennen sollte, dass
Deutschland geteilt sei. Auf einem Bundeskongress der
Jungen Liberalen, den ich geleitet habe, wurde eine entsprechende Frage an Hans-Dietrich Genscher gerichtet.
Darauf antwortete er: Dieser Punkt mag für den einen
oder anderen im Westen nicht von großer Bedeutung
sein. Aber für die Bürger im Osten ist er von zentraler
Bedeutung. Man darf den Menschen nie die Hoffnung
nehmen. - Daraufhin wurde die Anerkennung der Zweistaatlichkeit auch von den Jungen Liberalen abgelehnt.
Die Hoffnung, die deutsche Teilung zu überwinden, hat
uns weiter getragen, auch wenn wir nicht alle jederzeit
daran geglaubt haben.
Es ist richtig, dass wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht haben. Ich möchte mich auch dafür bedanken,
dass inzwischen ein Drittel der Abgeordneten des
Deutschen Bundestages diesen Antrag als Initiatoren unterstützt. Es besteht ein Vakuum. Aber allein die Diskussion darüber hat dazu beigetragen, dass Lösungsvorschläge erarbeitet werden und dass das Thema in den
Vordergrund gerückt ist.
Wir hatten uns als Datum der ersten öffentlichen Präsentation dieses Antrags den 9. November des letzten
Jahres ausgesucht, weil sich an diesem Tag die Überwindung der Teilung Deutschlands zum 15. Mal jährte. Aber
auch durch die Kreuze von Frau Hildebrandt am Checkpoint Charlie und durch die Mauergedenkstätte an der
Bernauer Straße wird auf die Teilung hingewiesen.
Die Bevölkerung hat ein Bedürfnis nach Information. In unserem Antrag fordern wir, dass das Dokumentationszentrum an der Bernauer Straße aufgewertet werden soll. Wir wollen, dass die deutsche Teilung
dokumentiert wird. Wir wollen allerdings auch, dass die
Überwindung der Teilung dokumentiert wird. Wie, das
werden wir im zuständigen Ausschuss und in der nachfolgenden Diskussion erörtern. Wir sind der Auffassung,
dass hier ein Vakuum besteht und dass es unsere gesamtdeutsche Pflicht ist, über die Parteigrenzen hinweg hier
tätig zu werden.
({1})
Ich bin froh darüber, dass es auch in Zeiten der innenpolitischen Konfrontation gelungen ist, dieses Thema
über die Parteigrenzen hinweg zu behandeln. Wir versuchen, für unser Anliegen eine Mehrheit zu finden. Ich
wäre froh, wenn dieses Thema über alle Parteigrenzen
hinweg weiterhin auf der Tagesordnung bliebe. Wir wollen alles dafür tun, dass dies so bleibt.
({2})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Geschichte
muss erfahrbar sein. Gestern haben wir von Präsident
Juschtschenko gehört, dass die Freiheit erlebbar ist. Sie
ist insbesondere dann erlebbar, wenn man weiß, was Unfreiheit tatsächlich bedeutet. Wenn wir nichts mehr über
die Unfreiheit wissen, dann haben wir auch nicht mehr
die Möglichkeit, die Freiheit als besonderes Gut zu empfinden. Deshalb muss die Geschichte an diesem zentralen Ort erfahrbar werden, damit sich diese Geschichte
nicht wiederholt und damit nie wieder Willkür und Ideologie über Menschenrechte und Menschenwürde gestellt
werden.
Ich bedanke mich im Vorhinein für die Mitarbeit und
hoffe auf konstruktive Beratungen, damit dieser Antrag
im gesamtdeutschen Interesse und im Interesse der Menschen, die wir hier im Bundestag repräsentieren, tatsächlich zu dem Ergebnis führt, dass dieser zentrale Ort aufgewertet wird - in welcher Form, darüber werden wir
diskutieren - und dieser zentrale Ort, wie wir es im Antrag formuliert haben, für die Teilung Deutschlands, Berlins und der Welt, aber auch für die Überwindung der
Teilung und für die Freiheit steht.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Meckel von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier für Stephan Hilsberg, der, wie eben
schon erwähnt worden ist, heute aus Krankheitsgründen
nicht anwesend sein kann.
Ich kann deshalb mit umso größerer Unbefangenheit
den Initiatoren dafür danken, dass sie diese Initiative ergriffen haben. Denn ich muss klar sagen: Hier ist ein Defizit aufgegriffen worden, das endlich zur Sprache kommen muss und dem man sich widmen muss. Dass dies in
dieser parteiübergreifenden Weise geschehen ist, verdient unser aller Dank.
({0})
Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht verstanden, warum
wir die Mauer in Berlin an allen grundlegenden Stellen
weggerissen haben. Dass wir sie 1989 als politische
Grenze niedergerissen haben, war überhaupt keine
Frage; das war die Voraussetzung für die deutsche Einheit. Aber es ist richtig: An diese Teilung, an diese unsere gemeinsame nationale Geschichte - denn die Teilung war unsere gemeinsame Geschichte in Ost und
West, wenn auch für uns im Osten natürlich noch viel
schmerzlicher und schwieriger - muss gemeinsam erinnert werden.
Wo, wenn nicht hier in Berlin? Ich muss auch sagen:
Wo, wenn nicht hier am Brandenburger Tor? Denn das
Brandenburger Tor war - die Geschichte dieser Jahrzehnte macht es deutlich - das Symbol der deutschen
und europäischen Teilung und es wurde das Symbol der
deutschen und europäischen Einigung. Das heißt, es
wurde zum Signal, dass der Kalte Krieg zu Ende ist und
dass Europa wieder zusammenwächst.
Heute kommen aus aller Welt Millionen nach Berlin.
Sie haben Berlin als die Stadt im Kopf, die für die Teilung Europas und die Teilung Deutschlands, ja für die
Teilung dieser Welt stand. Viele suchen Orte, wo man
sich dessen erinnern kann, und finden keine bis auf ein
paar kleine Zeichen für Fachleute - so muss man fast sagen -, wie etwa den Kopfsteinpflasterstreifen oder die
wahrhaftig gut gemeinte Gedenkstätte an der Bernauer Straße, die übrigens von der Kirchengemeinde
dort mit großem Engagement gepflegt wird. Dort wurde
mit großem Einsatz ein Museum, das leider ein privates
Museum ist, errichtet. Man hat eine Versöhnungskapelle
eingerichtet. Auch das war ein ganz wichtiger Akt.
Aber man muss feststellen: Sowohl der Bund als auch
die Stadt Berlin haben die Aufgabe, eine Gedenkstätte
zu gestalten, bis heute nicht in angemessener Weise aufgegriffen. Dass dies jetzt in dieser Weise passiert, ist ein
wichtiges Zeichen. Es ist gut, dass die Zahl der Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die die
Erfüllung dieser Aufgabe parteiübergreifend gemeinsam fordern, zunimmt. Dass die zuständige Staatsministerin sagt: „Ja, wir wollen uns dieses Defizites annehmen
und es gemeinsam bearbeiten“, ist wahrhaftig ein wichtiges und gutes Zeichen.
({1})
Ich stimme meinem Vorredner zu, dass viele Köche
({2})
dabei mitgespielt haben, auf dieses Defizit aufmerksam
zu machen. Auch ich finde übrigens, dass man Frau
Hildebrandt dafür danken muss, dass sie mit den Kreuzen nicht nur auf die grundsätzliche Frage der deutschen Teilung aufmerksam gemacht hat, sondern ganz
gezielt an die Opfer erinnert und versucht hat, die Namen der Opfer ins Gedächtnis zu rufen. Damit hat man
den Menschen und auch ihren Familien einen Ort gegeben. Dass das wahrscheinlich nicht so bleiben kann, ist
die eine Sache; aber es ist ein ganz wesentlicher Punkt,
dass wir dies als einen Aufruf nehmen, auch diese
Dimension in die künftige Gestaltung der Erinnerung an
die deutsche Teilung aufzunehmen.
Ich erinnere an die Mauergalerie in der Nähe des
Ostbahnhofes, die bis heute leidet; die Gemälde gehen
kaputt. Ich denke auch: Das Geld für die Pflege muss da
sein!
({3})
Da haben 1990 Künstler aus aller Welt die Mauer von
der Ostseite bemalt - das war wahrhaftig etwas Besonderes -, als Zeichen dafür, dass sie niedergerissen ist.
Deshalb muss dieses Mauerstück erhalten und entsprechend gestaltet werden.
({4})
Ich glaube, dass der Antrag die richtigen Akzente
setzt. Ich bin froh, dass es eine parteiübergreifende Gemeinsamkeit dabei gibt, dies zu gestalten. Ich persönlich
möchte sogar ein Stück weiter gehen. Ich glaube, dass
wir in Bezug auf die Geschichte der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts im Endeffekt ein Museum der deutschen und europäischen Teilung brauchen, das daran erinnert. Wir werden sehen, ob das Deutsche Historische
Museum, das hoffentlich demnächst eröffnet wird, einer
solchen Aufgabe gerecht wird. Es wäre meines Erachtens der richtige Ort dafür. Man wird es sehen. Die langfristige Perspektive sollte man vielleicht nicht aus dem
Blick verlieren.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich kann mich dem nur anschließen, was der Kollege Thiele und der Kollege Meckel eben schon berichtet
haben. Es ist tatsächlich so: Bis auf die amerikanische
Botschaft ist der Pariser Platz, die gute Stube Berlins, inFranziska Eichstädt-Bohlig
zwischen perfekt fertig gestellt, mit Kugelbäumen, Lampen und edlem Pflaster zum Flanieren. Es erinnert aber
nichts mehr daran, dass all dies von 1961 bis 1989 Teil
eines unüberwindlichen Todesstreifens war.
Ich selbst weiß nicht mehr, obwohl ich sehr oft zwischen West und Ost gependelt bin, wo eigentlich die
Hinterlandmauer war. Die auf der Westseite gelegene
Mauer finden wir im Asphalt. Man muss aber schon sehr
genau hinschauen und ziemlich gut Bescheid wissen, damit man das überhaupt entdeckt. Wir sehen auch an den
weißen Kreuzen - wir alle wissen, es sind die Kreuze,
die unten an der Spree hinter dem jetzigen Paul-LöbeHaus waren - und an den Blumen, die dort hingelegt
werden, wie groß das Bedürfnis ist, auch an dieser Stelle
der Toten, die bei dem Versuch, die Grenze zu überwinden, getötet worden sind, zu gedenken.
Bis vor kurzem kam niemand auf die Idee, dass an
diesem Ort tatsächlich die Erinnerung an die Zeit der
deutschen Teilung gesucht wird und dass gerade das
Brandenburger Tor der Ort ist, wo nicht nur die Berliner, nicht nur die Deutschen, sondern die Menschen
weltweit die Geschichte der deutschen Teilung, des Eisernen Vorhangs und des Kalten Krieges suchen. Ich
glaube schon, dass man sich wirklich darüber im Klaren
sein muss, dass gerade auch Touristen hier ihre eigene
Geschichte suchen oder junge Menschen die Geschichte
ihrer Eltern an diesem Ort suchen.
Mir wurde vorgehalten, das sei ja nur für den Tourismus. Ich muss deswegen mit Entschiedenheit sagen: Das
ist doch überhaupt kein Argument. Wenn ich nach Hiroshima komme, dann erwarte ich, dass die Stadt mir die
Geschichte von Hiroshima in eindringlicher Weise deutlich macht. Wenn die Menschen am Brandenburger Tor
die Erinnerung suchen, dann muss dort auch in eindrücklicher Weise auf die Geschichte der deutschen Teilung
und der Teilung der Welt hingewiesen werden.
({0})
Es ist auch gesagt worden, es sei eine Konkurrenz
zum Holocaust-Mahnmal. Ich glaube nicht, dass es das
ist. Wir haben sehr deutlich gesagt: Die deutsche Geschichte hat sich die Nähe zwischen diesen unterschiedlichen Phasen - es geht nicht darum, sie in einen Topf zu
werfen - gesucht, nicht wir, die gesagt haben: Das muss
ein Ort des Gedenkens werden.
Von daher meine ich, dass das Holocaust-Mahnmal
und die Erinnerung an die Roma und Sinti - ich hoffe,
dass bald auch ein solches Mahnmal geschaffen wird und die ermordeten Homosexuellen zusammengehören.
Das alles sind Mahnmale unserer eigenen Geschichte.
Wenn sie so dicht beieinander liegen, dann sollten wir
das nicht beklagen; wir sollten sie vielmehr als Mahnmale in dem Sinne nehmen, dass sie uns an das erinnern,
was sowohl im Faschismus als auch in Zeiten des sozialistischen Regimes in Deutschland und Berlin passiert
ist.
Insofern möchte ich dafür werben, dass all diejenigen,
die zumindest in den letzten Wochen sehr skeptisch waren, diese Skepsis überwinden und das Thema mutig angehen. Es geht nicht darum, einen abgegrenzten Ort zu
schaffen, den niemand berühren kann und an dem man
in Ehrfurcht erstarren muss. Es geht vielmehr darum, ein
künstlerisches Zeichen zu setzen und die Menschen in
einer würdigen Form darüber zu informieren, was der
Todesstreifen am Brandenburger Tor konkret bedeutet
hat, aber auch darüber, dass von hier aus Wege zu anderen Gedenkstätten, zum Beispiel zur Bernauer Straße,
führen. Aus meiner Sicht sollte dieser Ort die zentrale
Gedenkstätte sein und es sollten dort die Namen der tausend an der Mauer und der deutschen Grenze Getöteten
aufgezeichnet werden. Das Brandenburger Tor sollte
also nicht mit Gedenken überfrachtet werden. Aber das
Erinnern - auch bildnerisches Erinnern - und die wichtigen Informationen gehören eindeutig an diesen Ort. Das
wünsche ich mir.
Ich glaube, wir sind inzwischen auch so weit, dass die
vielen Vorbehalte - ich muss gestehen, dass ich ein wenig erstaunt darüber bin, wie zahlreich sie waren - allmählich abflauen, dass die Menschen das Brandenburger
Tor anders wahrnehmen und sich daran gewöhnen, dass
auch dieser Ort ein Erinnerungszeichen braucht. Das
schließt die Erinnerungszeichen an den anderen Orten in
keiner Weise aus. Wir wollen sie nicht entfernen und
auch nicht kleinreden.
Aber leider ist nun einmal das Brandenburger Tor das
Zentrum des Eisernen Vorhangs gewesen. Vielleicht bekommt man dafür auch noch ein eigenes Zeichen, das
das Überwinden der Mauer darstellt. Das Bild vom
Brandenburger Tor mit den Menschen, die obendrauf gesessen haben, war nur an diesem Ort möglich, an dem
die Panzersperren so breit waren, dass man darauf stehen, sitzen und tanzen konnte. Ich suche nach Künstlern,
die das darstellen können, auch wenn ich nicht weiß, ob
das miteinander zu vereinbaren ist. Vielleicht braucht
man unterschiedliche Zeichen für beide Bilder. Darüber
sollen diejenigen nachdenken, die dazu besser berufen
sind als wir. Aber auch das gehört mit zu unserer Geschichte.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Ehre für mich, heute den Gruppenantrag
für die CDU/CSU-Fraktion mit über 100 Unterstützern
im Deutschen Bundestag einbringen zu können. Ich
hätte in meinen kühnsten Träumen nie daran gedacht,
dass ich eines Tages im Reichstag einen solchen Antrag
für meine Fraktion einbringen kann. Ich glaube, dass
diese Debatte gerade für uns Ostdeutsche, die in der
DDR groß geworden sind, mit sehr starken Emotionen
verbunden ist. Ich habe das auch bei den Kollegen
Meckel und Hilsberg gespürt.
Werner Kuhn ({0})
Wenn man als Nordlicht gefragt wird, was einen an
diesem Antrag berührt oder was einen dazu bewegt, eine
solche Initiative in Angriff zu nehmen, die bewundernswerterweise vom Kollegen Thiele initiiert worden ist,
dann antworte ich: Auch wir an der Ostseeküste haben
letztendlich die Teilung schrecklich erfahren müssen.
Dort durfte man sich nach Sonnenuntergang nicht mehr
am Ostseestrand aufhalten. Das Meer wurde mit großen
Lampen nach denjenigen abgeleuchtet, die den Weg in
die Freiheit suchten. Wenn wir das eine oder andere Mal
mit unserem Trabbi nach Berlin gekommen sind, dann
war die Wilhelmstraße Endstation. Wir haben das Brandenburger Tor, das mit Sichtblenden versperrt war, in der
Ferne sehen können. Dann hat man sich schon gefragt,
ob dieses Tor wohl eines Tages in die Freiheit geöffnet
wird. Viele haben dazu beigetragen, dass das passiert ist.
Wichtig waren auch der Mut, die Besonnenheit und der
unbändige Wille zu Freiheit und Demokratie der Bürgerbewegung in der DDR.
({1})
Viele von uns haben dabei mitgeholfen und etwas gewagt. Auch mit den Friedensgebeten, die wir gemeinsam
gestaltet und durchgeführt haben, als die Mauer noch
stand, war ein gewisses Risiko verbunden. Niemand
wusste genau, wie das ausgeht.
Wir müssen uns nun gemeinsam Gedanken darüber
machen, wie wir auf der einen Seite derer gedenken können, die um der Freiheit willen ihr Leben gelassen haben, und wie wir auf der anderen Seite unsere Freude
darüber zum Ausdruck bringen können, dass diese widerliche Vernichtungsmauer am 9. November 1989 niedergerissen werden konnte. Dazu haben wir gemeinsam
Ideen entwickelt, von denen Frau Eichstädt-Bohlig einige angerissen hat. Ich denke, es ist wichtig und notwendig, dass wir diejenigen, die dort umgekommen
sind, verlässlich bei ihren Namen nennen können, wie es
auch in der Bibel steht.
Frau Kulturstaatsministerin Weiss - ich finde es angemessen, dass auch Sie an dieser Debatte teilnehmen; es
ist sehr gut, dass Sie uns unterstützen wollen -, in diesem Zusammenhang sollten wir einen Auftrag zur wissenschaftlichen Fundierung der Aufarbeitung der Geschichte erteilen.
({2})
Wir müssen darüber nachdenken, wo wir unserer Toten
bzw. derjenigen, die an der Mauer Menschen verloren
haben, letztendlich am besten gedenken können. Ich
könnte mir vorstellen, dass die Möglichkeit besteht, in
unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor eine Tafel
zu errichten. Dort gibt es bereits den „Raum der Stille“.
Die Freude darüber, dass die Mauer niedergerissen
wurde, wird durch die Bilder, die um die Welt gegangen
sind, dokumentiert, auf denen Menschen zu sehen waren, die auf den Mauerresten und Panzersperren tanzten.
Damit werden wir identifiziert. Auch Ministerpräsident
Juschtschenko, der die orangene Revolution vorantrieb,
sagte: Da haben wir gesehen: Wir sind das Volk bzw. wir
sind ein Volk. Die gleichen Probleme, die wir in der
Ukraine haben, habt auch ihr in Angriff genommen und
bewältigt. - Es macht einen stolz und froh, dass diese
Bürgerbewegung ganz Europa erfasst hat, dass es den
Eisernen Vorhang und die sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke nicht mehr gibt und dass wir gemeinsam
in Freiheit und Demokratie leben können.
Ich glaube, ein anderer interessanter Ort für eine Dokumentation wäre die U-Bahn-Station, die sich gerade
im Bau befindet. Dort bestünden Möglichkeiten, um zu
dokumentieren, wie diese menschenverachtende Anlage,
die Berliner Mauer, konzipiert war. Wenn wir die Rahmenbedingungen für eine Ausschreibung herausgeben,
würde sicherlich ein gutes Ergebnis erzielt werden. Wir
sollten schon in unserer Gruppe die eine oder andere
Idee formulieren, damit wir im Nachhinein über das Ergebnis einer künstlerischen Bearbeitung nicht unnötig
enttäuscht sind.
Ich denke, das können wir im Rahmen des gesamten
Gedenkstättenkonzeptes in Angriff nehmen. Wir müssen unsere eigenen Ideen dazu entwickeln, wie wir sowohl das Gedenken an die Opfer, die es an der Berliner
Mauer gab, als auch die Freude darüber, dass die Mauer
niedergerissen wurde - ich erinnere noch einmal an die
Bilder von den tanzenden Menschen, die um die Welt
gingen -, am besten zum Ausdruck bringen können.
Ich freue mich sehr, dass wir so viele Unterstützer gewonnen haben, und ich glaube, dass wir gemeinsam mit
dem Berliner Abgeordnetenhaus und dem Senat eine
gute Lösung finden werden. Die Unterstützung der Kulturstaatsministerin ist uns gewiss. Daher bin ich sehr
froh und optimistisch gestimmt.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4795 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({0}), Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD, der Abgeordneten Christa
Reichard ({1}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Undine Kurth ({2}), Thilo Hoppe,
Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Biologische Vielfalt schützen und zur Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklung
nutzen
- Drucksache 15/4661 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht zur deutschen bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit im Waldsektor
- Drucksache 15/4600 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({5})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dagmar Schmidt von der
SPD-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Weltgemeinschaft steht vor der Herausforderung des
21. Jahrhunderts: Armutsbekämpfung und Umweltschutz - so der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderung“ in seinem Jahresgutachten 2004.
Die Entwicklung der armen Länder setzt eine wirksame Umweltpolitik voraus. Diese grundlegende Erkenntnis wird sicherlich von allen Anwesenden geteilt.
Was aber bedeutet dies für unsere zukünftige Politik?
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag folgen wir dieser Erkenntnis. Wir
machen deutlich: Der Schutz der biologischen Vielfalt
ist nicht nur ein globales Umweltproblem; er ist eben
auch ein globales Entwicklungsproblem. Wir machen
damit deutlich: Armutsbekämpfung ist nur dann möglich, wenn auch beim Erhalt der biologischen Vielfalt ein
Durchbruch erzielt wird. Unser Ziel ist klar: In Johannesburg vor drei Jahren hat die Weltgemeinschaft vereinbart, die Verlustrate an biologischer Vielfalt bis zum
Jahr 2010 signifikant zu reduzieren.
Was tun wir für die Zukunft unseres Planeten? Die
Bundesrepublik leistet international einen überproportional hohen Anteil. Unsere Entwicklungszusammenarbeit genießt deshalb im Bereich des Umwelt- und
Ressourcenschutzes seit vielen Jahren international ein
hohes Ansehen. Das finanzielle Volumen hat bei der rotgrünen Regierung in drei Jahren eine Steigerung von
rund 27 Prozent auf insgesamt 710 Millionen Euro erfahren. Noch gewaltiger ist die Steigerungsrate des deutschen Anteils bei den multilateralen Gebern.
Dennoch belegen die aktuellen Daten, dass sich trotz
aller Anstrengungen die Zerstörung von Ökosystemen
und der Verlust an Arten in alarmierender Weise beschleunigen. Was heißt das konkret? Die Welternährungsorganisation FAO geht davon aus, dass jährlich
15 Millionen Hektar Wald vernichtet werden. Diese
Verluste sind regional sehr unterschiedlich und konzentrieren sich insbesondere auf die Tropenwälder. Während in Europa die Waldfläche in den letzten zehn Jahren
sogar leicht zugenommen hat, verzeichnen Afrika und
Südamerika unverändert die höchsten Verluste an Naturwald.
Auch der Verlust an Arten und damit an genetischen
Ressourcen schreitet ungebremst voran. Täglich sterben
150 Arten aus und gehen damit unwiederbringlich verloren. Die Folgen der Zerstörung ganzer Ökosysteme sind
gravierend. Klimawandel, eine Störung des Wasserhaushaltes, Wüstenbildung, Armut sowie die langfristig daraus resultierenden Migrationsströme und Ressourcenkonflikte treffen uns alle. Auf dem Spiel steht nicht
weniger als die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder.
Mit jedem Hektar Wald, der vernichtet wird, mit jeder
Pflanzenart und mit jeder Tierart, die von unserem Planeten verschwindet, wird ein Stück Zukunft verbaut.
Vor diesem bedrückenden Hintergrund möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Union, für die
konstruktive Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der
Anhörung und des vorliegenden Antrages danken. Ehrlich gesagt, war ich eine ganze Zeit lang skeptisch, ob
wir in der Frage der biologischen Vielfalt auf einen gemeinsamen Nenner kommen würden. Zunächst lagen
unsere Konzepte über die Rolle der Biodiversität in der
Entwicklungszusammenarbeit zu weit auseinander. Auf
der einen Seite stand Ihr am klassischen Naturschutzgedanken der 80er-Jahre orientierter Ansatz. Sie konzentrierten sich damit vor allem auf den Erhalt von Flora
und Fauna in den Entwicklungsländern. Die Belastungen
der Menschen in den Partnerländern und deren Nutzungsinteressen spielten für Sie dabei eher eine untergeordnete Rolle. Uns dagegen geht es um die Verbindung
von Umweltschutz, Armutsbekämpfung und nachhaltiger Entwicklung durch die konsequente Verwirklichung
der drei UN-Konventionsziele: erstens Schutz der biologischen Vielfalt, zweitens ihre nachhaltige Nutzung und
drittens gerechter und ausgewogener Vorteilsausgleich
zwischen Nord und Süd.
Für uns heißt das konkret: Die biologische Vielfalt ist
das Kapital der Armen. Der biologische, das heißt der
genetische Reichtum unseres Planeten ist nicht gleichmäßig verteilt. Die Zentren der Biodiversität liegen fast
immer in den Entwicklungsländern. Die nachhaltige
Nutzung dieser Vielfalt bietet für unsere Partnerländer
wichtige ökonomische Grundlagen. Lassen Sie mich
dies anhand einiger weniger Zahlen verdeutlichen: Vom
weltweiten Umsatz auf dem Pharmamarkt von rund
400 Milliarden US-Dollar werden knapp ein Drittel mit
Naturstoffen oder deren Derivaten erzielt. Der Welthandel mit Heilpflanzen wird auf 800 Millionen US-Dollar
im Jahr geschätzt. 42 Prozent der 25 weltweit erfolgreichsten Medikamente sind Naturstoffe oder von Naturstoffen abgeleitet. Darüber hinaus stellen natürliche
Dagmar Schmidt ({0})
Ökosysteme mit ihrer biologischen Vielfalt für arme
ländliche Lebensgemeinschaften und indigene Völker
sowohl Supermarkt als auch Apotheke dar. Eine intakte
Umwelt ist für sie existenziell. Eine fatale Armutsspirale
wird in Gang gesetzt, wenn das ökologische Gleichgewicht durch erhöhten Nutzungsdruck und den Verlust
von Lebensräumen erst beeinträchtigt ist.
Die Entwicklungsländer haben den Wert ihres biologischen Reichtums erkannt. Das kaufmännische und
technologische Wissen für die industrielle Nutzung und
die Vermarktung der biologischen Vielfalt sind jedoch in
den Industrieländern konzentriert.
Meine Damen und Herren, die UN-Konvention über
die biologische Vielfalt bietet die völkerrechtlich
verbindliche Grundlage für die Schaffung eines internationalen Regimes für den Vorteilsausgleich und die Verhinderung von Biopiraterie. Wir begrüßen daher ausdrücklich die Beschlüsse des Weltgipfels von
Johannesburg und der 7. Vertragsstaatenkonferenz der
UN-Konvention über die biologische Vielfalt in Kuala
Lumpur. Damit stehen die Fragen des Zugangs zu den
genetischen Ressourcen und des gerechten Vorteilsausgleichs ganz oben auf der internationalen Agenda.
Ich möchte noch zwei grundsätzliche Forderungen
unseres Antrags ansprechen. Wir fordern zum einen den
effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel und eine
Steigerung der Synergien bei internationalen Vereinbarungen. Die Konzentration und Vernetzung im globalen
Umweltschutz ist auch im Sinne der Entwicklungsländer: Ihnen fehlen häufig die Ressourcen, um im globalen
Konferenzmarathon mitzuhalten und ihre Interessen
wirksam einzubringen.
Zum anderen möchte ich den folgenden grundsätzlichen Punkt ansprechen: Wir fordern in unserem Antrag
die Bundesregierung auf, weitere Staaten zu ermuntern,
der UN-Konvention über die biologische Vielfalt beizutreten. Warum? Eigentlich ist dies eine banale Forderung
angesichts der Tatsache, dass weltweit nur noch sechs
Staaten fehlen, darunter Andorra und der Vatikan. Aber
der sechste Staat, der die UN-Konvention über die biologische Vielfalt noch nicht unterzeichnet hat, sind die
USA. Ebenso wie beim Klimaschutz steht Amerika beim
globalen Schutz der biologischen Vielfalt im Abseits.
Bei seiner Rede in Brüssel hat US-Präsident Bush unlängst die europäisch-amerikanische Allianz als Grundpfeiler für Frieden und Wohlstand in der Welt betont.
Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung, globaler
Schutz des Weltklimas und der Umwelt - das waren
neue, hoffnungsvoll stimmende Töne. Mögen diesen
Worten bald Taten folgen.
Denn wir brauchen eine weltweite Allianz für den
Erhalt der Umwelt und zur Bekämpfung der Armut, eine
Allianz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern,
eine Allianz zwischen den lokalen, nationalen und internationalen Institutionen und Initiativen und eine Allianz
zwischen Privatwirtschaft und Politik. Denn die finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hände alleine reichen nicht aus. Hier ist die Verantwortung der Unternehmen für eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte
Ausgestaltung der Globalisierung gefordert. Für uns gilt:
Umwelt- und Entwicklungsfragen sind Zukunftsfragen
der Menschheit. Sie müssen daher den gleichen Stellenwert erhalten wie Wirtschafts- und Sicherheitsaspekte.
({1})
Unter Rot-Grün hat die Bundesrepublik weltweit eine
Vorreiterrolle in der Entwicklungs- und Umweltschutzpolitik eingenommen. Vor ziemlich genau einem Jahr
hat Papst Johannes Paul II. dieses dem Bundespräsidenten gegenüber betont. Deutschland genießt international
also ein hohes Ansehen. Unser ganzer Einsatz wird auch
in Zukunft darauf gerichtet sein, diesem Lob gerecht zu
bleiben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Entschuldigen Sie, dass ich die Themen so durchgehechelt bin
und Ihnen kaum Gelegenheit gegeben habe, zu applaudieren.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Christa Reichard von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen
Menschen ist es überhaupt nicht klar: Die biologische
Vielfalt, die Variabilität des Lebens in all seinen Formen,
ist in vielerlei Hinsicht die Grundlage für nachhaltige
Entwicklung. Die Beseitigung der Armut, die Ernährungssicherheit, die Versorgung mit Trinkwasser, der
Schutz der Böden und die Gesundheitsversorgung sind
allesamt unmittelbar auf die Erhaltung und Nutzung der
biologischen Vielfalt der Welt angewiesen. Sie garantiert
die Bereitstellung von Produkten und Leistungen, die
das Wohlergehen von Mensch und Natur ermöglichen
und erhalten helfen.
In besonderer Weise ist die biologische Vielfalt auch
für die Menschen von Bedeutung, deren Existenzgrundlage direkt von den an ihrem Wohnort verfügbaren
Ressourcen abhängig ist. Das ist uns sehr wohl bewusst
und uns nicht erst nach der Debatte über diesen Antrag
klar geworden. Doch der Verlust von Arten und die Zerstörung von Ökosystemen beschleunigen sich in besorgniserregender Weise und bedrohen somit die natürliche
Lebensgrundlage der Menschen vor allem in den Entwicklungsländern. Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist, dass sie ziemlich lautlos abläuft und ohne unmittelbar sichtbare Folgen bleibt.
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Von den
ursprünglichen Urwäldern der Erde existieren heute nur
noch 20 Prozent. Jährlich gehen weltweit rund
15 Millionen Hektar Wald verloren. Das ist in etwa so
viel wie die Flächen der Bundesländer Bayern, Hessen
und Niedersachsen zusammengenommen. Diese Entwicklung ist nicht folgenlos geblieben. Mit dem Verlust
dieser Flächen versiegen Flüsse und Bäche, der GrundChrista Reichard ({0})
wasserspiegel sinkt, wertvolle Naturressourcen gehen
verloren, die Bodenerosion nimmt zu und der Klimawandel verstärkt sich.
Das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten vollzieht
sich heute, wie bereits gesagt, hundert- bis tausendmal
schneller als in der Vergangenheit. Das hat also auch etwas mit unserem Agieren zu tun. Manche Experten gehen davon aus, dass pro Tag etwa 150 Arten aussterben.
Ich weiß allerdings nicht, mit welcher Methode das gezählt wird. Ur- und Regenwälder beherbergen über zwei
Drittel aller auf dem Land lebenden Arten, womit gerade
ihnen eine besondere Bedeutung für den Arterhalt zukommt. Selbst das Aussterben einer einzelnen Tierart
kann die Fähigkeit eines Ökosystems schwächen, sich
wechselnden Umweltbedingungen anzupassen.
Auf einen Aspekt möchte ich ganz besonders hinweisen: Für Säugetierarten auf dem Festland stellen der
Verlust oder die Zerstörung von Lebensraum und nicht,
wie das oft gesagt wird, ihre Nutzung durch den Menschen die größte Bedrohung dar. Im Gegenteil: In vielen
Fällen kann gerade durch eine kontrollierte nachhaltige
Nutzung wild lebender Arten deren Ausrottung verhindert werden.
Alarmierend ist auch der Zustand der Weltmeere und
Binnenseen. Hier ist in der Tat die Übernutzung durch
den Menschen in Form der kommerziellen Fischerei für
den Artenschwund und den Rückgang der Fischbestände
verantwortlich. Zudem führt die zunehmende Meeresverschmutzung zu einer großflächigen Gefährdung und
Zerstörung von wertvollen Küsten-Ökosystemen.
Natürlich liegt es auch in unserer gesellschaftlichen
Verantwortung, die Vielfalt der Schöpfung und die ökologische Integrität wichtiger Ökosysteme für zukünftige
Generationen zu bewahren. Sie werden mir sicher zustimmen: Leider haben Appelle dieser Art in der Vergangenheit selten etwas bewirken können, vor allem in Entwicklungsländern nicht, in denen die Politiker auch
andere dringende Probleme zu lösen haben.
Ich möchte daher eine Lanze für die Umweltökonomie und für ihre Methoden zur monetären Bewertung
der Kosten der Umweltzerstörung brechen. Dank der
Umweltökonomie wissen wir heute, dass die Naturzerstörung auch ein handfestes ökonomisches Problem
darstellt. Es ist ganz einfach so: Die Naturzerstörung
ausgedrückt in volkswirtschaftlichen Kosten bleibt viel
eher in den Köpfen der Entscheidungsträger hängen als
ökologische Appelle allein.
({1})
Die ökonomische Bewertung der Biodiversität und der
damit verbundenen Produkte und Leistungen hat in vielen Fällen schon geholfen, die Vernichtung bedeutender
Nationalparks und Ökosysteme zu verhindern.
Ich denke in diesem Zusammenhang aber auch an das
große Potenzial der Regenwälder oder anderer Wildnisgebiete für Forschung, Wissenschaft und Medizin, welches uns zunehmend verloren geht.
Gleiches gilt für den ökonomischen Wert von biologischen Ressourcen und Ökosystemleistungen.
Ein prominentes Beispiel sind die durch Tropenwaldvernichtung verursachten Kosten bei der Klimaerwärmung. In Südostasien werden jährlich rund 5,8 Millionen
Hektar Tropenwald vernichtet, ein Gebiet so groß wie die
Schweiz. Allein die 1997 durch Walddegradierung provozierten Torfbrände im indonesischen Teil der Insel
Borneo haben eine Kohlendioxidmenge freigesetzt, die
mehr als dem Zehnfachen dessen entspricht, was in
Deutschland in den letzten zehn Jahren im Rahmen der
Kioto-Vereinbarung mit Milliarden von Kosten eingespart wurde. Rein finanziell betrachtet, wäre es für
Deutschland also wesentlich günstiger gewesen, sich im
Tropenwaldschutz in Südostasien zu engagieren, als
Treibhausemissionen in Deutschland einzusparen.
Ich möchte damit nicht nur sagen, dass wir ein ureigenes Interesse haben, in den Schutz der Natur zu investieren, sondern auch, dass wir uns viel intensiver mit den
volkswirtschaftlichen Kosten der Natur- und Umweltzerstörung befassen müssen.
({2})
Angesichts der ohne Übertreibung als dramatisch zu bezeichnenden Bedrohung der globalen Biodiversität stehen nationale Regierungen und die internationale Entwicklungspolitik vor einer Herausforderung, der wir uns
besser heute als morgen stellen. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstören.
Die Arbeit der Entwicklungsministerin in diesem
Sektor lässt aber leider zu wünschen übrig. Dass der Erhalt der Umwelt nicht ihr Lieblingsthema ist, ist international bekannt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen.
Auf dem World Parks Congress in Südafrika 2003 - ein
Kongress, der nur alle zehn Jahre stattfindet - kamen
Experten der Welt zusammen, um über ein globales
Netzwerk von Schutzgebieten zu beraten. Deutschland
gehörte zu den wenigen Industrieländern, die keinen
Vertreter des Entwicklungsministeriums entsendet haben. Das halte ich für peinlich.
({3})
Der schleichende Bedeutungsverlust des Sektors Natur- und Ressourcenschutz in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit muss umgehend ein Ende haben.
Ich weiß gar nicht, meine Damen und Herren von der
grünen Partei, was Sie eigentlich Ihren Wählern erzählen.
({4})
Unter der Unionsregierung wurde im BMZ die Tropenwaldreserve und unter dem Dach der GTZ das „Begleitprogramm Tropenökologie“ ins Leben gerufen. Die rotgrüne Regierung hat Letzteres zum Entsetzen der Experten abgeschafft und das deutsche Engagement im Tropenwaldsektor zurückgefahren. Um dieser Entwicklung
entgegenzusteuern, wurde auf Initiative der CDU/CSUFraktion letztes Jahr eine Expertenanhörung durchgeführt. Ich möchte die Äußerung eines der namhaften Experten zitieren: Gemessen an den globalen Trends ist
auch der Beitrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit als viel zu gering und ineffizient beim Biodiversitätserhalt zu bewerten.
Frau Kollegin Reichard, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eid?
Bitte.
Bitte schön, Frau Eid.
Frau Reichard, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung und speziell die Kreditanstalt für Wiederaufbau, der größte Geldgeber der Friedensparks sind?
Gerade heute war eine Delegation aus Südafrika - ein
Mitglied dieser Delegation ist für diese Friedensparks
zuständig - zu Besuch. In einem Gespräch mit der Entwicklungsministerin wurde noch einmal zugesagt,
({0})
dass wir die Erweiterung und Ausdehnung dieser Parks
über die Grenzen hinweg nach Mosambik in einem weiteren Schritt unterstützen werden.
Allein die Tatsache, dass die Ministerin oder die Parlamentarische Staatssekretärin auf einer Konferenz nicht
anwesend ist, kann doch - ich bitte Sie, mir darin zuzustimmen - nicht als Beweis dafür gelten, dass wir nichts
tun. Die Fakten sprechen eine andere Sprache.
({1})
Frau Abgeordnete Eid, natürlich nehme ich das gerne
zur Kenntnis. Trotzdem ist das Projekt der Friedensparks
nur ein Ausschnitt dieses weltweiten Netzes. Ich begrüße es ausdrücklich, wenn wir uns daran beteiligen.
Ich halte es aber nicht für ausreichend, was durch die
Bundesregierung in diesem Rahmen geleistet wird.
({0})
Ich bin froh, dass wir uns auf einen interfraktionellen
Antrag einigen konnten, in dem wir gemeinsam die Bundesregierung auffordern, das deutsche Engagement zum
Schutz der globalen Biodiversität wieder auszuweiten.
Mein besonderer Dank gilt in diesem Fall auch den Kollegen von Rot-Grün im Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, die uns der Sache
wegen bei diesem Antrag unterstützt haben und bei dem
wir eine gemeinsame Linie finden konnten.
Ich möchte auf einige Forderungen des gemeinsamen
Antrags eingehen, die der CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig sind. Wir fordern zum Beispiel die Bundesregierung auf, unseren biodiversitäts- und tropenwaldreichen Partnerländern folgendes Angebot zu machen:
Wir sollten ihnen anbieten, sie zusätzlich zu den in Regierungsverhandlungen vereinbarten Kooperationssektoren im Bereich Schutz und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen zu unterstützen. Des Weiteren erwarten
wir von der Bundesregierung, dass sie endlich die entsprechenden Maßnahmen ergreift, um den Import von illegal eingeschlagenem Tropenholz nach Deutschland zu
unterbinden.
Zum Schutz und zur langfristigen Sicherung von Naturschutzgebieten in Entwicklungsländern sind innovative Instrumente gefragt. Deshalb fordern wir die Einrichtung und Unterstützung von Stiftungen zur Finanzierung
von Schutzgebieten sowie die Beratung von Entwicklungsländern zur Förderung von kommunalen und privaten Schutzstrategien.
({1})
Wir erwarten auch, dass die Bundesregierung die Ergebnisse der 7. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über biologische Vielfalt zu Schutzgebieten umsetzt. Uns allen sollte jedoch klar sein, dass der größte
Anteil der Biodiversität außerhalb von Schutzgebieten
existiert. Deshalb sollten wir uns zusätzlich auf Konzepte orientieren, die geeignet sind, biologische Vielfalt
auch außerhalb von Schutzgebieten zu erhalten. Schutz
durch nachhaltige Nutzung, ganz im Sinne der Konvention über biologische Vielfalt, ist hier oft der erfolgreichste Ansatz.
Meine Damen und Herren, bitte verstehen Sie uns
nicht falsch. In vielen Fällen ist es nicht unbedingt nötig,
mehr Geld in die Hand zu nehmen. Vieles kann durch
mehr Engagement erreicht werden. Wir erwarten zum
Beispiel von der Bundesregierung, dass sie die Weltbank
und die regionalen Entwicklungsbanken ermutigt, in ihren Projektplanungen den Schutz und die nachhaltige
Nutzung der biologischen Vielfalt stärker zu berücksichtigen. Auch wünschen wir uns, dass der Schutz global
wichtiger Naturressourcen von allen beteiligten Bundesministerien, wie zum Beispiel dem BMZ, dem Umweltministerium, dem Bildungs- und Forschungsministerium
und dem Auswärtigen Amt, gleichermaßen unterstützt
wird. Das ist bisher leider nicht immer der Fall.
Abschließend möchte ich sagen, dass CDU und CSU
in dem Antrag eine Chance sehen, den etwas in Vergessenheit geratenen Sektor Schutz der Biodiversität wieder
zu beleben. Wir reichen der Regierung die Hand und bieten unsere konstruktive Unterstützung an. Es geht nicht
nur um die Lebensgrundlagen künftiger Generationen,
sondern auch um die Vermeidung von Krisen und Konflikten. Bereits nächste Woche treffen sich die Umweltund Entwicklungsminister der G-8-Staaten in England
zu Beratungen über den globalen Umweltschutz. Das
wäre ein geeigneter Anlass für die Bundesregierung,
neue Akzente zu setzen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst sagen: Auch ich finde es gut, dass es
nach einigen Mühen gelungen ist, hier einen schwarzrot-grünen Antrag einzubringen. Das entspricht der
Größe der globalen Herausforderung.
Nun kann man sich über die Bewertung dessen, was
in der Vergangenheit geschehen ist, streiten. Ich will zurückweisen, dass dieses Thema in Vergessenheit geraten
ist oder vernachlässigt wurde. Aber richten wir den
Blick nach vorne! Uns eint die Überzeugung, dass in
diesem Bereich noch mehr getan werden kann und dass
größere Investitionen in den Schutz der biologischen
Vielfalt notwendig sind.
Auf dem Weltgipfel von Johannisburg hat sich die
Weltgemeinschaft zum Ziel gesetzt, die Verluste an biologischer Vielfalt bis zum Jahr 2010 stark zu reduzieren.
Doch die Wahrheit sieht ganz anders aus. Das wurde
schon von den Vorrednerinnen deutlich gemacht; das
muss ich hier jetzt nicht wiederholen. Die Zerstörung der
Ökosysteme und der Verlust von Arten gehen in einer
alarmierenden Weise weiter voran. Dieser Prozess beschleunigt sich sogar noch. Was das für unsere Erde bedeutet, kann in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht
ermessen werden. Alles greift ineinander. Erst jüngst hat
die Tsunamikatastrophe gezeigt, dass die Zerstörung der
Mangrovenwälder und Korallenriffe die Katastrophe in
einigen Bereichen noch weiter verschärft hat.
Dort, wo die Mangrovenwälder und Korallenriffe intakt
waren, waren die Auswirkungen der Flutkatastrophe weitaus geringer.
In den Entwicklungsländern ist die Anzahl der Umweltflüchtlinge schon heute höher als die Anzahl der
Menschen, die infolge von Kriegen und Bürgerkriegen
ihre Heimat verlassen müssen.
Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist eine globale
öffentliche Aufgabe. Die biologische Vielfalt ist ein
Weltnaturerbe. Das aufs Spiel zu setzen ist auch aus
wirtschaftlichen Gründen absurd. Dass die Abholzung
des tropischen Regenwaldes ein Schnitt in die grüne
Lunge unseres Planeten ist, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Jedes Schulkind weiß das. Doch die aus
dieser Erkenntnis gezogenen Konsequenzen lassen noch
zu wünschen übrig.
Der Erhalt des Regenwaldes wird sich nur dann erreichen lassen, wenn den tropenwaldreichen Ländern
durch den Schutz der ökologischen Vielfalt langfristig
mehr Einnahmen entstehen und dadurch ihre kurzfristigen Interessen - schnelles Geld aufgrund von schnellen
Abholzungen - in den Hintergrund treten. Dazu können
wir beitragen. Wir tun das auch: durch bilaterale Projekte im Bereich des Umwelt- und Ressourcenschutzes
und durch Projekte zur Sicherung der Agrobiodiversität.
Ich denke zum Beispiel an Projekte der GTZ in Indien,
bei denen es darum geht, pflanzengenetische Ressourcen
und die Vielfalt von Reis- bzw. Getreidesorten durch
verschiedene Maßnahmen - vom Aufbau von Forstverwaltungen über die Unterstützung nationaler Schutzgebietefonds bis hin zum angepassten Tourismus - zu erhalten.
Nationalparkmanagement - daran erinnert uns immer der Kollege Ruck, der uns durch die Nationalparks
führt - muss so angepackt werden, dass die örtliche Bevölkerung nicht als störend angesehen und ausgesperrt
wird. Sie muss einbezogen werden und vom Erhalt der
ökologischen Vielfalt auch einen ökonomischen Nutzen
haben. Als beispielhaft empfinde ich einen Projektansatz, der uns in Bolivien vorgestellt wurde. Dort wird der
indigenen einheimischen Bevölkerung die Möglichkeit
gegeben, durch das Sammeln von wilden Kakaobohnen
in einem Nationalpark Einkommen zu generieren. Aus
diesen wilden Kakaobohnen wird eine ganz exquisite
Schokoladensorte, eine neue Schokoladenspezialität hergestellt, die über die Fair-Trade-Schiene vermarktet
wird, auch in Deutschland. Das ist ein Projekt, das im
wahrsten Sinne des Wortes mehr als eine Schokoladenseite hat.
Was die deutsche bilaterale Entwicklungszusammenarbeit betrifft, sind wir auf einem guten Weg. Die Zusagen Deutschlands im bilateralen Bereich - Stichworte FZ
und TZ - wurden von circa 558 Millionen Euro im Jahr
2000 auf circa 710 Millionen Euro im Jahr 2003 gesteigert. Allen, auch negativen Aussagen zum Trotz ist
Deutschland einer der größten Geber im Bereich des
Tropenwaldschutzes. Angesichts der großen Herausforderung ist aber mehr nötig. Wir Grünen erwarten, dass
die Mittel für diesen Bereich gesteigert werden.
Sie haben die Möglichkeit angesprochen, den
Schwerpunkt- und Partnerländern zusätzlich zu den bereits vereinbarten Sektoren weitere Kooperationsangebote im Bereich des Tropenwaldschutzes, im Bereich
des Erhaltes der Biodiversität zu machen. Das tragen wir
ausdrücklich mit. Dafür braucht man nicht nur mehr Engagement, sondern tatsächlich auch mehr Geld. Wir
Grünen werden uns dafür stark machen, dass die Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit deutlich angehoben werden. Bei uns gibt es - das ist besonders wichtig einen Schulterschluss mit unseren Haushältern. Vorgestern Abend hat unsere Fraktion einstimmig, unter Beteiligung aller Grünen, beschlossen, dass es einen festen
Fahrplan geben soll: 0,7 Prozent bis 2014. Mit dieser
Vorgabe gehen wir in die Gespräche mit dem Koalitionspartner.
Parallel dazu erwarten wir, dass auch andere bilaterale
Entwicklungsinstitutionen wie die Weltbank und die regionalen Entwicklungsbanken zum Erhalt der biologischen Vielfalt mehr beitragen.
Herr Kollege Hoppe, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme jetzt schnell zum Schluss. Ich muss mir
einige Dinge schenken, die andere Kolleginnen und Kollegen schon gesagt haben.
Einen entscheidenden Faktor möchte ich noch ansprechen. Bei der Weltbank wollen einige Akteure - das
scheint ein Trend zu sein - biologische Standards aufweichen. Ich finde es sehr schön, dass wir diesem Trend
gemeinsam widerstehen wollen. Die biologischen Standards der Weltbank müssen nicht aufgeweicht, sondern
verschärft werden. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Heinrich, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur deutschen
bilateralen Entwicklungszusammenarbeit im Waldsektor ist eine sehr gute Grundlage für zukünftige Entwicklungspolitik und rückt den Wald in seiner großen
Bedeutung in das richtige Licht und in den Vordergrund.
Trotz allen politischen Streits im Bundestag ist mit Genugtuung zu registrieren, dass unsere Beamten einen lesenswerten Bericht geschrieben haben, den ich allen Interessierten zur Lektüre nur wärmstens empfehlen kann.
Trotz aller Gemeinsamkeiten gibt es aber einiges, was
uns trennt. Ich möchte einige Punkte aufführen, die begründen, warum wir den gemeinsamen Antrag von SPD,
CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen noch nicht unterstützen.
Lassen Sie mich zuerst aber einige grundsätzliche
Dinge nennen. Neben den geläufigen Funktionen des
Waldes, die wir alle kennen und jeden Tag mehr oder
weniger herunterbeten, wird häufig vergessen, die Funktion der CO2-Senke anzusprechen. Diese Funktion versetzt die Entwicklungsländer in eine gute Position, durch
den Handel mit Emissionszertifikaten die einheimische
Wirtschaft zu stärken und gleichzeitig interessante zusätzliche Aufforstungsprojekte auf den Weg zu bringen.
Zu überlegen wäre ebenfalls, ob aus diesen Gründen die
KfW nicht eine verstärkte Förderung von Neuaufforstungen ins Auge fassen sollte,
({0})
und dies nicht nur aufgrund des Handels mit Zertifikaten, sondern auch, um in kritischen Regionen einer weiteren Versteppung und Verkarstung entgegenzuwirken.
Dass der Wald nur durch eine nachhaltige Bewirtschaftung, und zwar im Sinne der Agenda 21, seine
volle Funktion erfüllen kann, ist unbestritten. Die
Agenda enthält drei Säulen, die im Hinblick auf die
Nachhaltigkeit gleichberechtigt nebeneinander stehen:
die wirtschaftlichen Ziele, die sozialen Ziele und die
ökologischen Ziele. Dem widerspricht allerdings die
dritte Forderung des Antrags auf Drucksache 15/4661
eindeutig. Hier wird gefordert, dass die bestehenden
Zielkonflikte zwischen internationalen Handelsvereinbarungen und Umweltkonventionen zulasten Ersterer gelöst werden sollen. Das ist eine einseitige Bevorzugung
der ökologischen Seite. Hier müssen wir eine Korrektur
anbringen.
({1})
Dies widerspricht auch den Interessen der Entwicklungsländer und damit dem partizipatorischen Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit.
({2})
Die Forderungen 11 und 12 des Antrages widersprechen diesem Ansatz ebenfalls. Wir können und wollen
den HIPC-Ländern nicht vorschreiben, die durch Entschuldung frei werdenden Mittel zum Schutz und zur
nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen einzusetzen. Den Ländern muss es selbst überlassen bleiben, wie
sie ihre Armutsstrategien gestalten.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Forderung 22,
in der nur von FSC als Zertifizierungssystem die Rede
ist. Ich rufe in Erinnerung: Es gibt acht unabhängige
Systeme und die FAO fordert zu Recht, alle acht zu berücksichtigen. Die Politik täte gut daran, sich aus den
marktwirtschaftlichen Entscheidungen der Entwicklungsländer herauszuhalten. Es muss den Entwicklungsländern überlassen bleiben, die ihnen am sinnvollsten erscheinenden Zertifizierungssysteme einzusetzen. Die
FDP jedenfalls lehnt jede einseitige Bevorzugung eines
Zertifizierungssystems rundweg ab.
({3})
Herr Kollege Heinrich, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Das ist der letzte Satz.
Wir beraten heute erstmals über den vorliegenden Antrag. Wenn wir die von mir angesprochenen Punkte noch
ändern können, dann gibt es eine gute Chance, einen gemeinsamen Antrag mit der FDP auf den Weg zu bringen.
Wir wollen jedenfalls eine sehr breit angelegte Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4661 und 15/4600 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahre 2003 ({0})
- Drucksache 15/4400 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Ditmar
Staffelt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte Ihnen den Rüstungsexportbericht
vorstellen, den die Bundesregierung nunmehr zum fünften Mal vorlegt. Seit dem ersten Bericht 1999 ist das Berichtsformat ständig weiterentwickelt worden. Ich
glaube, man kann mit Recht sagen, dass es auf breite Zustimmung gestoßen ist und sich auch dem internationalen Vergleich sehr wohl stellen kann.
Auch für 2003 haben wir eine weitere Verbesserung
der Berichtspraxis erreicht. Der Bericht ist nunmehr
noch transparenter, als er in der Vergangenheit war. Im
Abschnitt über die erteilten Ausfuhrgenehmigungen für
Rüstungsgüter wurde erstmals der Anteil der Genehmigungen, die sich auf Kriegswaffen beziehen, offen
gelegt. Vorbild war hier der schwedische Rüstungsexportbericht. Dem Vorschlag einer Nichtregierungsorganisation folgend, wurde der Abschnitt über die tatsächlichen Ausfuhren von Kriegswaffen ergänzt. Dort
wird nunmehr über alle Empfängerländer statt wie bisher
nur über die 20 wichtigsten berichtet.
Dem eigentlichen Bericht vorangestellt wurde auch
diesmal eine ausführliche Schilderung der deutschen
Exportkontrolle für Rüstungsgüter und der wichtigsten
Entscheidungsgrundlagen. Auch für zukünftige Berichte werden wir weiterhin Anregungen zur Weiterentwicklung prüfen. Wir unterstützen im Übrigen die Bestrebungen zu einer Harmonisierung des Berichtswesens
innerhalb der Europäischen Union.
Den Kern des Berichts bildet die Darstellung der
rechtlichen und politischen Entscheidungsgrundlagen
für die Rüstungsexportpolitik. Diese Darstellung wird
durch umfangreiches Zahlenmaterial insbesondere in der
Anlage 5 vervollständigt, die lückenlos über alle erteilten Ausfuhrgenehmigungen Auskunft gibt.
Ein besonderer Schwerpunkt der Berichterstattung
lag wiederum in den Genehmigungen für die Ausfuhr
von Kleinwaffen. Das hierfür gewählte Berichtsformat
- die Auflistung aller Drittländer, für die Genehmigungen für Kleinwaffen und Munition erteilt wurden, samt
Stückzahl, Wert und Waffenart - wurde erstmals im Vorjahr praktiziert und fand ebenfalls ausdrückliche internationale Anerkennung.
({0})
Meine Damen und Herren, diese Schwerpunktsetzung
spiegelt die besondere Aufmerksamkeit wider, die die
Bundesregierung dieser Waffenkategorie beimisst.
Deutschland setzt sich zusammen mit den europäischen
Partnern für eine strikte Kontrolle von Kleinwaffenausfuhren ein. Es gilt, einer unkontrollierten Verbreitung
derartiger Waffen Einhalt zu gebieten.
({1})
Der Anteil der Rüstungsexporte an den deutschen
Gesamtausfuhren ist nach wie vor sehr gering. Bei
Kriegswaffen liegen statistische Daten über die tatsächlich erfolgten Ausfuhren vor. Sie machten im Jahre 2003
rund 0,2 Prozent der deutschen Gesamtausfuhren aus.
Der Gesamtwert aller ausgeführten Kriegswaffen lag bei
1,3 Milliarden Euro. Gegenüber dem sehr geringen Vorjahreswert bedeutet dies allerdings einen Anstieg. Die
Gründe hierfür sind aber sehr plausibel zu erläutern.
Im Jahre 2003 wurden Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von 4,9 Milliarden Euro erteilt. Das sind
1,6 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Mehr als zwei
Drittel gingen allerdings in EU-, NATO- und NATOgleichgestellte Länder. Nur 33 Prozent entfallen auf so
genannte andere Länder, also Drittländer. Für die Kategorie der Kleinwaffen ist der Gesamtwert im Jahre 2003
deutlich auf 53 Millionen Euro zurückgegangen. Hiervon entfallen rund 84 Prozent auf EU-, NATO- und
NATO-gleichgestellte Länder.
Die Steigerungen bei den Genehmigungswerten für
alle Rüstungsgüter sind durch einige Einzelentscheidungen zu erklären. Hier sind zum einen insbesondere die
Korvetten für Südafrika und Malaysia hervorzuheben,
für deren Auslieferung es einen außerordentlich guten
Grund gab, nämlich die internationale Sicherung der
Wasserwege der durch Piraterie bedrohten Gewässer in
diesen Regionen, und zum anderen auch die - ich denke,
von diesem Hause sehr wohl unterstützte - leihweise
Überlassung von zwei Flugabwehrraketensystemen an
Israel.
Ungeachtet dieser wertmäßig herausragenden Entscheidungen für Drittländer entfallen mehr als zwei Drittel des Gesamtwerts der erteilten Ausfuhrgenehmigungen auf EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder.
Diese Zahlen und die dahinter stehenden Fälle zeigen
aus meiner Sicht, dass die Bundesregierung gegenüber
Drittländern eine verantwortungsbewusste Politik mit
Augenmaß betreibt. Genehmigungen werden auf der
Grundlage der politischen Grundsätze der Bundesregierung für Rüstungsgüterexporte erteilt. Dabei werden alle
Umstände des Falles, insbesondere auch die innere Lage
im Empfängerland einschließlich der dortigen Menschenrechtssituation, berücksichtigt. Bei Kriegswaffen
muss vor einer Genehmigungserteilung darüber hinaus
festgestellt werden, dass die Ausfuhr unseren außen- und
sicherheitspolitischen Interessen entspricht.
Meine Damen und Herren, ich darf an dieser Stelle
wohl sagen, dass wir Rüstungsexportpolitik seitens dieser Bundesregierung mit Zurückhaltung und Augenmaß
betreiben.
({2})
Dies wird auch weiterhin Gegenstand unseres politischen Handelns sein. In diesem Rahmen haben wir auch
gegenüber anderen Bundesregierungen ganz erfolgreich
und ganz herausragend eine neue Transparenz und
Nachvollziehbarkeit unserer Politik realisiert.
Danke.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Erich Fritz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe verbliebene Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung glänzt gern mit deutschen Erfolgen in der Exportpolitik. Im Jahreswirtschaftsbericht rühmt sie sich ihrer Exporterfolge, die
Deutschland 2003 den Titel des Exportweltmeisters eingebracht haben und es voraussichtlich 2004 wieder tun
werden. Auch Panzer und Gewehre sind deutsche
Exportschlager.
Die deutschen Kriegswaffenausfuhren haben 2003
mit 1,3 Milliarden Euro - viermal so viel wie 2002 - einen neuen Höchststand erreicht. Auch die Genehmigungen für Rüstungsexporte schnellten in die Höhe. Während 2002 Genehmigungen für Rüstungsexporte in Höhe
von rund 3,3 Milliarden Euro erteilt wurden, waren es
2003 mit 4,9 Milliarden Euro fast 50 Prozent mehr als
im Vorjahr. So viel zu der restriktiven Politik, die der
Staatssekretär gerade vorgestellt hat.
({0})
Diese Entwicklung steht in deutlichem Widerspruch
zu dem, Herr Staffelt, was Ihr Kollege Gerd Andres letztes Jahr in dieser Debatte, die etwa um die gleiche Zeit
stattfand, gesagt hat. Er sagte:
Auch in Zukunft wird die Bundesregierung ihre mit
Zurückhaltung und Augenmaß betriebene Rüstungsexportpolitik fortsetzen.
Deutsche Waffen - Panzer, Hubschrauber, Schiffe waren 2003 bestimmt für die USA, Griechenland,
Malaysia, die Türkei und Südafrika. Nach dem Stockholmer SIPRI ist Deutschland von Rang 5 auf Platz 4 der
Hitliste der Rüstungsexporteure geklettert. Ein beeindruckender Erfolg rot-grüner Politik, meine Damen und
Herren!
Bemerkenswert sind die in 2003 erneut gestiegenen
Lieferungen in Entwicklungsländer. Etwa ein Viertel
des Gesamtwertes bei den genehmigten Rüstungsausfuhren entfällt auf Staaten, die der Entwicklungshilfeausschuss der OECD als Empfänger offizieller Entwicklungshilfe erfasst. Die Bundesregierung spricht dagegen
von einem Ausfuhranteil in Entwicklungsländer von nur
12 Prozent und unterläuft - das ist zumindest die berechtigte Kritik der Kirchen in Deutschland - international
vereinbarte Kriterien über die Definition von klassischen
Entwicklungsländern. Das Schönen der Statistik gehört
nun auch in diesem Politikbereich zum Handwerkszeug
der Bundesregierung.
Ausfuhren erfolgten auch 2003 wieder in Spannungsgebiete wie Afghanistan, Irak und Nigeria. Besonders
deutlich ist der Anstieg der Lieferungen an Indonesien.
Dabei gibt es weder Frieden in Aceh noch Versöhnung.
Darüber müsste man doch diskutieren.
Besorgniserregend ist auch der gestiegene Export von
Kleinwaffen und Munition. Ich weiß gar nicht, wie Sie
zu der Aussage kommen, er sei geringer geworden, Herr
Staffelt. Selbst Mitglieder der Koalitionsfraktionen, die
Kollegen Erler und Nachtwei, haben das kritisiert. Um
Kritik aus den eigenen Reihen scheinen sich aber die
Mitglieder des Bundessicherheitsrates nicht ernsthaft zu
scheren. Ich denke beispielsweise an die Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Saudi-Arabien, deren
Wert trotz Kritik aus den Reihen der Grünen 2003 fast
doppelt so hoch wie im Jahr davor lag, oder an die Rüstungsexporte an die Vereinigten Arabischen Emirate.
Ihr Wert betrug im Jahr 2003 49,2 Millionen Euro. Das
geht auch künftig munter so weiter. Schließlich hat der
Bundeskanzler gerade die Lieferung von 32 Fuchs-Spürpanzern zugesagt. Grüne Kritik an der Lieferung, auch
hier vom Kollegen Nachtwei, angesichts der Nichtratifizierung wichtiger Rüstungskontrollverträge durch die
Vereinigten Arabischen Emirate - immerhin ein Maßstab, den man berechtigterweise heranziehen kann; ich
denke an das Ottawa-Übereinkommen oder das Biowaffenübereinkommen - schert die Regierung nicht.
({1})
- Sie kommen gleich dran.
Der Berichtszeitraum, für den Herr Staffelt gerade die
Veränderung der Rüstungsexporte dargestellt hat, liegt
wiederum zwölf Monate zurück. Das ist wirklich nicht
europäischer Standard, Herr Staffelt. In Großbritannien
wird vierteljährlich jeweils im Nachhinein berichtet. Es
geht also noch besser. Mangelnde Zeitnähe, lückenhafte
Angaben über Art, Stückzahlen und vor allen Dingen
Endempfänger zeichnen den Bericht aus. Das kritisiert
übrigens auch die Parteivorsitzende der Grünen, Frau
Roth.
({2})
Meine Damen und Herren, Rot-Grün praktizieren politisch das - das ist das Ergebnis des Studiums dieses Berichts -, was sie bis 1998 aufs Heftigste kritisiert haben.
({3})
Ja, Sie sind sogar, wenn man sich die Zahlen anschaut,
„besser“ als von der Union und der FDP geführte Regierungen. Die Einzelausfuhrgenehmigungen erreichen
einen Wert, der zuletzt 1996 erzielt wurde, als die ganzen NVA-Bestände verramscht wurden und SIPRI diese
alle mit Neupreisen ansetzte. Wie schnell sich die Zeiten
ändern und wie schnell Realpolitik und Pragmatismus
rot-grüne Maximen verdrängen, ist doch erstaunlich. In
der „Financial Times Deutschland“ vom 27. Mai letzten
Jahres wird der Kollege Weigel zitiert. Eine weniger
restriktive Politik gegenüber etwa der Türkei oder Ägypten könne womöglich mehr erreichen.
„Außenpolitisch schafft Rüstungszusammenarbeit
Bindungen und Einflussnahme …“
Man hat Rüstungsexportpolitik jetzt als Teil der Außenpolitik erkannt.
Gernot Erler wird in einem „Spiegel“-Artikel vom
Oktober 2004 mit den Worten zitiert, de facto würde sich
niemand um die Endverbleibsklauseln scheren, eine systematische Kontrolle gebe es nicht. Herr Kollege Erler,
ich gebe Ihnen Recht. Aber schon damals, als Sie das
festgestellt haben, haben wir gesagt, das sei im Binnenmarkt ein schwieriges Unterfangen und erfordere einen
Aufwand, den vermutlich keine Regierung leisten kann.
Es muss also in jedem Einzelfall abgewogen werden.
Anders geht es nicht. Interessen müssen beim Namen
genannt werden, Grundsätze muss man ernst nehmen.
Was hier vorgetragen worden ist, ist schon ein wenig
scheinheilig.
Blickt man nach vorne und sieht man sich die neuen
Pläne der rot-grünen Bundesregierung für Rüstungsgeschäfte an, stellt man fest, dass es eine Reihe von Zusagen gibt. Kernnormen deutscher Rüstungsexportpolitik
geraten damit auch in Zukunft regelmäßig in Konflikt.
Das ist abzusehen. Denken Sie an die weitere Lieferung
von Atom-U-Booten der Dolphin-Klasse an Israel. Es
geht offensichtlich überhaupt nicht mehr um die Frage,
ob umgerüstet wird.
({4})
- Natürlich haben Sie Recht, Herr Kollege. Ich meine
die Lieferung von U-Booten;
({5})
ich habe den Begriff Atom schon im Kopf gehabt. - Dabei wird doch von Israel gar nicht mehr bestritten, dass
die Abschussvorrichtungen eben für atomwaffenfähige
Trägersysteme umgerüstet wurden. Die israelische Zeitung „Ma’ariv“ schreibt, die Bundesregierung habe ihren
Widerstand gegen eine mögliche Umrüstung der Boote
aufgegeben
({6})
- sie schreibt es; ich zitiere nur -, weil sie plane, künftig
eine aggressivere Rüstungsexportpolitik zu verfolgen.
Das ist, finde ich, eine klare Erkenntnis. Der Bundeskanzler belegt ziemlich regelmäßig, dass es in diese
Richtung geht.
Es gibt die Genehmigung der Schützenpanzer für den
Irak. Darüber kann man in anderem Zusammenhang
durchaus sprechen. Aber es muss auch erwähnt werden,
dass es möglicherweise Lieferungen von Leo-II-Panzern
an die Türkei gibt. Dass die Unterstützung der Annährung der Türkei an die EU durch Rot-Grün ausgerechnet bei der Modernisierung der Streitkräfte anfängt, verwundert mich schon sehr. Wenn ich daran denke, wie
dort in den vergangenen Tagen Demonstranten niedergeprügelt wurden, und mir vorstelle, es könnte zu ernsthaften Auseinandersetzungen in der Türkei kommen, dann
komme ich zu dem Schluss, dass die Frage des Umgangs
mit Rüstungsexporten in dieses Land heute nicht anders
als vor zehn Jahren beantwortet werden kann.
({7})
Meine Damen und Herren, die Entscheidungen und
Diskussionen der letzten Monate zeigen ganz deutlich:
Stringenz und Logik sind in der rot-grünen Rüstungsexportpolitik nicht zu Hause. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das, was Herr Schlauch sich vor nicht
allzu langer Zeit geleistet hat, indem er Auskünfte einfach mit dem Hinweis verweigerte, er sei schließlich
nicht im Bundessicherheitsrat. Das ist ziemlich prinzipienlos.
Das gilt auch für die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China. Der Bundeskanzler ignoriert das
Votum des Bundestages völlig; es ist ihm schnurzpiepe.
({8})
Das Europäische Parlament hat sich demgegenüber gerade für die Beibehaltung des Waffenembargos ausgesprochen. In diesen Tagen ist in China über das Antisezessionsgesetz beraten worden. Der Bundeskanzler
ignoriert auch, dass Taiwan jetzt offen mit Krieg gedroht
wird für den Fall, dass es sich nicht wohl verhält. Selbst
grüne Kollegen haben kürzlich darauf hingewiesen, dass
Waffenlieferungen an China die Sicherheitsinteressen
der USA als Schutzmacht Taiwans direkt betreffen.
({9})
Das alles scheint den Bundeskanzler aber nicht groß zu
berühren.
Das Argument der Bundesregierung, ein gemeinsamer EU-Verhaltenskodex für Waffenexporte könne
das Waffenembargo sozusagen ersetzen, halte ich für
eine abenteuerliche Behauptung.
({10})
- Moment! Aus Ihren Reihen ist behauptet worden, man
könne das Embargo ruhig aufheben, man habe ja den europäischen Kodex.
({11})
Sie wissen aber, dass überhaupt nicht entschieden ist, ob
dieser Verhaltenskodex nun den Charakter einer rechtsunverbindlichen Richtschnur für die nationale Politik behalten wird, den er jetzt hat, oder ob er tatsächlich eine
verbindliche EU-Richtlinie wird. Wenn Sie sich die Äußerungen in Frankreich und Großbritannien ansehen,
stellen Sie fest, dass überhaupt nichts darauf hinweist,
dass es in kurzer Zeit gelingen kann, aus dem Kodex
eine solche verbindliche Richtlinie zu machen. Dafür
sind auch die Interessen viel zu unterschiedlich. Sie wissen genau, dass die Franzosen ihre Fühler schon nach
China ausgestreckt haben und dass sie die Ersten sein
werden, die bei einer Aufhebung des Embargos bereit
sein werden, in großem Umfang zu liefern. Das kann
eigentlich nicht in unserem Sinne sein. Gerade wenn wir
die Zusammenarbeit mit China intensivieren wollen,
dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass sich
die Menschenrechtssituation dort nicht verbessert hat
und dass das Verhältnis zu Taiwan eher schwieriger werden dürfte.
Setzen Sie sich also für eine echte Harmonisierung
ein! Die gegenwärtige Bearbeitung des Kodex bietet
vielleicht Chancen dazu. Ich hoffe, dass es solche Chancen gibt. Verlässlichkeit auf europäischer Ebene ist gefragt, damit Rüstungsexportpolitik als Teil einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll gestaltet
werden kann, und zwar im europäischen Interesse und
weniger von den Interessen geleitet, die jetzt vorherrschen, zum Beispiel aufgrund von Exportdruck durch
Überkapazitäten, die es nach wie vor in einigen Ländern
gibt.
Wir hoffen, dass es auf EU-Ebene zu einer baldigen
Einigung kommen wird. Sollte der Verhaltenskodex
Rechtsverbindlichkeit erlangen, wäre das durchaus ein
wichtiger Schritt. Dann allerdings bräuchten wir auch
keine nationalen Sonderwege mehr zu gehen, die ja, wie
sich nicht nur am Beispiel der Endverbleibsregelung
zeigt, nicht immer sinnvoll sind. Vor allen Dingen aber
sind solche Reservatrechte in Zukunft dann nicht mehr
sinnvoll, wenn es tatsächlich gelingen sollte, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu
betreiben. Dann muss auch dieser Bereich deutlich einheitlich geregelt sein.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Fritz, Sie haben einige Beispiele genannt, die
zeigen, warum Rüstungsexporte immer wieder besonders heiße Eisen sind. Gestatten Sie mir aber zunächst
zwei Klarstellungen.
Erste Klarstellung. Solange es Streitkräfte gibt, wird
Ausrüstung benötigt. Aber Ausrüstung gibt es nicht ohne
Rüstungsproduktion. Da sich kein Land eine autarke
Rüstungsproduktion leisten kann, gibt es grundsätzlich
einen Handel mit Rüstungsgütern. Zugleich aber sind
Waffen und Rüstungsgüter keine Waren wie andere. Sie
haben erhebliche sicherheitspolitische und friedenspolitische Bedeutung und Brisanz. Deswegen gibt es Rüstungsexportgesetze und die Rüstungsexportrichtlinie.
Zweite Klarstellung. Die Entscheidungsbefugnis
über Rüstungsexporte liegt in Deutschland allein in der
Hand der Exekutive. Diese Entscheidungen unterliegen
einer sehr großen Geheimhaltung. Das Parlament kann
die Rüstungsexporte nur im Nachhinein bewerten. Darin
liegt ein Unterschied zu etlichen Verbündeten, in deren
Ländern im Vorhinein eine gewisse Mitkontrolle stattfindet.
Der Exportbericht 2003 zeigt: Im Jahr 2003 nahm der
Umfang der deutschen Rüstungsexporte erheblich zu.
Das Genehmigungsvolumen wuchs um 50 Prozent auf
4,9 Milliarden Euro. Der Wert der tatsächlichen Ausfuhren von Kriegswaffen stieg von 318 Millionen auf
1,3 Milliarden Euro.
({0})
- Richtig.
Solche pauschalen Zahlen sind aber nur begrenzt aussagefähig. Entscheidend ist vor allem die Aussage, in
welche Länder welche Rüstungsgüter und Waffen exportiert wurden. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass
der Anstieg im Jahre 2003 zu 85 Prozent durch drei Sonderfaktoren verursacht wurde: Es wurden jeweils zwei
Korvetten an Malaysia - die Gründe für diese Lieferung
wurden schon genannt - und an Südafrika geliefert und
es wurde ferner Bundeswehrmaterial an Verbündete abgegeben. Man kann feststellen: Insgesamt gab es eine
Zurückhaltung bei deutschen Kriegswaffenexporten
in Drittländer. Es ist ausdrücklich festzustellen, dass es
im Jahr 2003 keine Kriegswaffenexporte aus der Bundesrepublik in arme Entwicklungsländer gegeben hat.
Neben den Kriegswaffen gibt es noch den Bereich der
sonstigen Rüstungsgüter, zum Beispiel Ersatzteile für
Munitionsfabriken, die in den 80er-Jahren geliefert wurden. Hier greift das Außenwirtschaftsgesetz, das erheblich weniger restriktiv ist und in dem nur schwer zu beschränkende Genehmigungsansprüche enthalten sind.
Ein solches Entgegenkommen gegenüber Produzenten
von so genannten sonstigen Rüstungsgütern gibt es in
Europa übrigens nur noch in Österreich. Wegen der Sensibilität vieler sonstiger Rüstungsgüter sind die Abschaffung des grundsätzlichen Genehmigungsanspruchs und
die Anpassung an die europäische Regel angesagt.
({1})
Kritisch bewerten wir etliche Rüstungsexporte in einige Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Asiens.
Hier ist längst nicht immer erkennbar, dass ein Missbrauch hinsichtlich systematischer Menschenrechtsverletzung und Förderung von Spannungen ausgeschlossen
werden kann. Es ist auch längst nicht immer erkennbar,
worin das in den Rüstungsexportrichtlinien geforderte
besondere außen- und sicherheitspolitische Interesse
Deutschlands besteht.
({2})
Wenn die Lieferung an Drittländer begründet werden
müsste, wäre das ein großer Fortschritt hinsichtlich
Transparenz und Kontrolle. Die Begründungspflicht
für Rüstungsexporte wird zum Beispiel von den Kirchen
ausdrücklich gefordert.
Bei Kleinwaffen ist die Differenzierung nach Stückzahl und Waffenart in dem vorliegenden Bericht ein großer Fortschritt hinsichtlich der Transparenz. Die reale
Entwicklung ist beunruhigend. Kleinwaffen werden
nicht selten an Staaten geliefert, bei denen ich erhebliche
Zweifel an einem sicheren Endverbleib habe. Hier beWinfried Nachtwei
steht die akute Gefahr, dass die restriktiven Exportkriterien unter dem Anspruch „Bekämpfung des internationalen Terrorismus“ aufgeweicht werden. Hier ist ein
Gegensteuern notwendig.
({3})
Im Jahr 2003 führte die Bundesregierung beim Export
von Kleinwaffen den wichtigen Grundsatz „Neu für alt“
ein, um dem besonderen Risiko von Überschusswaffen
entgegenzuwirken. Hierbei hat sich herausgestellt, dass
dieser Grundsatz nicht auf freiwilliger Grundlage umgesetzt wird. In diesem Bereich sollten wir offensichtlich
zu einer verbindlichen Regelung kommen.
Eine restriktive Rüstungsexportpolitik ist ein Eckpfeiler einer vorbeugenden, kollektiven und damit realistischen Sicherheitspolitik. Eine solche Rüstungsexportpolitik erfordert eine wirksamere parlamentarische
Kontrolle. Sie benötigt ein systematisches Lernen von
den Erfahrungen anderer Verbündeter. Sie braucht nicht
zuletzt die kritische Begleitung der Zivilgesellschaft.
Auch wenn die Bundesregierung und Rot-Grün über
die alljährliche Stellungnahme der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung zum Rüstungsexportbericht nicht erfreut sein können
Denken Sie bitte an die Zeit!
- ich komme sofort zum Schluss -, hilfreich ist diese
zivilgesellschaftliche Kontrolle dennoch. Dafür danken
wir den Autoren dieser Stellungnahme.
Guten Abend.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung
macht eines deutlich: Deutsche Hightechrüstung entwickelt sich unter Rot-Grün zu einem Exportschlager. In
der Tat, deutsche Rüstungsgüter sind überall in der Welt
hoch angesehen und begehrt. Dennoch ist und bleibt die
entscheidende Frage der Rüstungsexportpolitik: Wohin,
also an wen und in welche Länder, werden Rüstungsgüter geliefert?
Es ist schon erstaunlich, welche Tendenzen sich unter
Rot-Grün beim Verkauf deutscher Waffen zeigen. Wir
erinnern uns: Die rot-grüne Bundesregierung trat 1998
damit an, Rüstungsexporte grundsätzlich zu beschränken. Die Wahrheit ist eine andere.
({0})
Ohne mit der Wimper zu zucken, werden deutsche
Kleinwaffen auch an problematische Staaten geliefert.
Ich denke zum Beispiel an Ägypten, Saudi-Arabien,
Malaysia, Thailand und Mexiko. Menschenrechtsverletzungen im Empfängerland scheinen für Rot-Grün kein
Hinderungsgrund zu sein.
Nehmen wir China. Der Bundeskanzler möchte das
EU-Waffenembargo gegenüber China aufheben.
({1})
Die Bundesregierung behauptet zwar, hierbei gehe es gar
nicht um Rüstungslieferungen nach China, sondern lediglich um ein Signal des Goodwills gegenüber Peking.
Ich frage mich aber, was man der chinesischen Führung
überhaupt signalisieren will. Will man ihr allen Ernstes
ein Gütesiegel für ihre Menschenrechts-, ihre Tibet- und
ihre Taiwanpolitik ausstellen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, heute
auf den Tag genau vor 46 Jahren haben chinesische Soldaten einen Aufstand der Tibeter blutig niedergeschlagen und bis heute findet dort Unterdrückung statt. Ich
sage Ihnen hier und heute klipp und klar: Eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China wird es
mit der FDP nicht geben.
Die französische Verteidigungsministerin begründet
die Aufhebung des Embargos übrigens etwas unverblümter als Herr Schröder. Sie sagt: Besser wir Europäer
liefern den Chinesen die erwünschten Rüstungsgüter, als
dass sie diese in diesem sensiblen Hightechbereich selbst
entwickeln. - Liebe Freunde von Rot-Grün, wer garantiert denn, dass die Chinesen im Falle der Aufhebung des
Waffenembargos die in Deutschland gekauften Hightechwaffen nicht in kürzester Zeit kopieren und dann selber produzieren?
Der Bundeskanzler hat zahlreiche Rüstungsaufträge
von seiner Reise in die Golfstaaten mitgebracht. Dabei
sollte er sich fragen, wozu die Golfstaaten diese Rüstungsgüter überhaupt brauchen. Wir alle wissen, dass die
Regime am Golf zu den letzten Bastionen des Absolutismus gehören und Demokratie dort unbekannt ist. Wir
hoffen, dass die arabische Welt vor einem Modernisierungsschub steht, der sich dann allerdings ganz sicher
auch gegen die absolutistischen Regime richten wird.
({2})
Ist es in dieser Situation klug und richtig, ausgerechnet
diese Regime, die von außen überhaupt keine Bedrohung haben, mit modernen Rüstungsgütern auszustatten? Mir scheint, dem Bundeskanzler ist derzeit nur noch
wichtig, dass der Rubel rollt. Jedoch kann eine solch unsensible Waffenexportpolitik schnell zu einem russischen Roulette werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über einen Bericht der Bundesregierung, der den Grünen eigentlich richtig wehtun müsste.
Es geht um deutsche Rüstungsexporte. Die Bilanz ist ernüchternd. Das Geschäft mit dem Tod boomt.
({0})
Friedens- und Menschenrechtsorganisationen haben
erneut hochgerechnet, mit dem Ergebnis: Die deutschen
Rüstungsexporte nehmen Jahr für Jahr zu. Die PDS im
Bundestag hält das für grundfalsch und auch für gefährlich.
({1})
Übrigens: Selbst in Krisengebiete - darüber haben
die Kollegen schon gesprochen - werden Waffen und
Kriegsgüter geliefert, was SPD und Grüne früher ausdrücklich verhindern wollten. Aber auch diese Grundsätze sind offensichtlich passé. Ich habe sehr wohl vernommen, welche geschäftigen Botschaften von
Bundeskanzler Schröder bei seiner jüngsten Reise durch
den arabischen Raum ausgegangen sind: Die Rüstungsexporte sollen weiter zunehmen. Damit verliert auch der
jährliche Bericht über die Rüstungsexporte seinen ursprünglichen politischen Sinn; denn ursprünglich sollten
Rüstungsgeschäfte transparenter werden, um sie einzuschränken. Daraus ist aber nichts geworden.
Worum es dabei vorrangig geht, verrät übrigens ein
Zitat. Es stammt nicht etwa aus einem altlinken Lehrbuch, sondern vom Vorsitzenden der Diehl-Stiftung, einem Konzerngeflecht im weltweiten Rüstungsgeschäft.
Dr. Diehl sagte schon im Jahre 2000:
Die Regierung muss im Blick behalten, dass Unternehmen Rendite erzielen müssen, und dies geht bei
Rüstungsgütern nur selten, wenn man sich allein
auf die Belieferung der nationalen Streitkräfte beschränkt. … Deutschland hat ein großes Interesse
an … dem Ausbau einer gemeinsamen europäischen Hochtechnologie- und rüstungsindustriellen
Basis.
Dafür müsse sich Deutschland mit Gewicht einbringen,
so Diehl. Die Bundesregierung hat diesen Appell offenbar sehr wohl vernommen. Man könnte auch sagen: Sie
beugt sich dem Druck der Rüstungslobby.
({2})
Im Interesse Deutschlands, wie Dr. Diehl behauptet,
ist das natürlich überhaupt nicht. Es geht, wie er selbst
einräumt, schlicht um Rendite und Profit. Sie können
das für wichtig halten. Die PDS tut das nicht. Sie sollten
dann allerdings auch so ehrlich sein und die eigene Rüstungspolitik nicht auch noch mit friedensbewegten oder
menschenrechtlichen Floskeln verhüllen. Das wird Ihnen ohnehin immer weniger abgenommen.
({3})
Jetzt hat der Kollege Christian Müller von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht und seine fortentwickelten Bestandteile
wurden ausführlich beleuchtet. Besonders zu begrüßen
ist, dass auch zur Information der Öffentlichkeit das
Exportkontrollsystem für Rüstungsgüter ausführlich
dargestellt wird. Auf die anderen Dinge muss ich nicht
mehr hinweisen.
Die Zahlen wurden hier in den vergangenen Beiträgen
in alle denkbaren Richtungen gedeutet. Trotzdem ist
klar: Nach wie vor und auch künftig unterliegt die Ausfuhr von Rüstungsgütern einem umfassenden Genehmigungsvorbehalt nach den geltenden Bestimmungen.
Nach wie vor wird vor allen Dingen wegen der Rüstungsgüter, die an Drittländer geliefert werden, eine restriktive, politisch zu bewertende, einzelfallorientierte
Genehmigungspolitik verfolgt, was speziell für den hier
heute Abend schon mehrfach aufgetauchten Fall der
Korvetten beschrieben und nachgewiesen werden kann.
Eine restriktive Rüstungsexportpolitik zielt bekanntlich nicht auf immer weiter sinkende Exportquoten, die
irgendwann bei Null anlangen müssten; sie hat vielmehr
den konkreten Einzelfall im Visier, um die Zulassung
kritischer Exporte zu verhindern, die im Widerspruch zu
den politischen Grundsätzen stünden.
Wir haben mehrfach betont, dass das erstrangige Ziel
auch dieser Bundesregierung darin besteht, bei der Friedenssicherung zu helfen, Konflikten möglichst im Ansatz vorzubeugen und zu verhindern, dass aus Deutschland stammende Waffen im Zusammenhang mit
Menschenrechtsverletzungen zum Einsatz kommen. Den
Anstieg der Exporte, der hier moniert wurde - dabei
ging es um die Korvetten für Südafrika und Malaysia -,
ist erklärbar. Insofern ist es etwas merkwürdig, Herr
Kollege Fritz - an dieser Stelle muss ich, auf Sie gerichtet, von Scheinheiligkeit sprechen -, wenn in den Presseerklärungen Ihrer Fraktion vordergründig ein Unterschied zwischen Moral und politischer Praxis der
Bundesregierung konstruiert und von „Exportschlagern“
gesprochen wird. Das halte ich für ein wenig scheinheilig, zumal es bekannterweise einen nachgewiesenen
Experten für Moral gibt. Pfahls ist der Name, wenn ich
mich richtig entsinne. Es ist ein schwieriges Feld; zumindest das möchte ich an dieser Stelle anmerken.
Steigende oder sinkende Zahlen sind insgesamt kein
Beleg für eine großzügigere oder strengere Kontrollpolitik. Es ist auch sinnvoll, die Mittelwerte über mehrere
Jahre hinweg zu betrachten. Dabei ist festzustellen, dass
Rüstungsgüterexporte gemessen an den Gesamtexporten
der Bundesrepublik Deutschland eine sehr kleine Rolle
spielen. Die Kriegswaffenexporte beispielsweise machen meines Wissens nur 0,2 Prozent der deutschen Gesamtexporte aus.
Kollege Nachtwei hat dankenswerterweise auf den
Zusammenhang von Waffen, Rüstungsgütern, Frieden
Christian Müller ({0})
und Produktion hingewiesen. Wir müssen zur Kenntnis
nehmen, dass die Herstellung von Waffen und Rüstungsgütern und leider auch deren Verwendung eine bedauerliche Begleiterscheinung der Zivilisation ist. Wir haben, glaube ich, den Nachweis für dauerhafte
Friedfertigkeit noch nicht erbracht. Insofern kommt es
durchaus auf die Verwendung dieser Güter an.
Die Bundeswehr hat einen klaren, auf Friedenserhalt
gerichteten grundgesetzlichen Auftrag und wesentliche
Bündnisverpflichtungen. Sie muss - das hat Kollege
Nachtwei schon hervorgehoben - entsprechend ausgerüstet werden. Das bedingt eine wehrtechnische Industrie, die sich wiederum im Wettbewerb behaupten muss.
In diesem Spannungsverhältnis müssen wir uns in den
Debatten zu diesem Thema bewegen.
Das alles ist uns sehr bewusst, wenn wir über Rüstungsexporte und das unverzichtbare restriktive Kontrollsystem sprechen. Deshalb haben wir das inzwischen
schon mehrfach bekundete Interesse und Ziel, dass auch
der EU-Verhaltenskodex - darin stimme ich mit Ihnen
überein - zu einem vergleichbar restriktiven Maßstab für
Rüstungsexporte entwickelt wird. Wir hatten deshalb bereits im Oktober die Bundesregierung aufgefordert, für
dessen Fortentwicklung einzutreten. Ich freue mich, dass
wir darin einer Meinung sind.
Wir haben in unserem Antrag seinerzeit auch gefordert, die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber
China an diese Fortschritte zu knüpfen. Auch das
möchte ich heute noch einmal unterstreichen. Das gilt
insbesondere auch dann, wenn wir die jüngere Entwicklung im Verhältnis der Volksrepublik China und Taiwan
betrachten, die auch ich persönlich für sehr bedenklich
halte. Insofern ist festzuhalten: Eine Entwicklung, wie
sie sich derzeit abzeichnet, ist nicht die geeignete Grundlage für eine Aufhebung des EU-Waffenembargos; es sei
denn, wir verfolgten einen Weg, der ein verbindliches
System an seine Stelle setzte.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur
Änderung des Wohngeldgesetzes
- Drucksache 15/4977 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion, Gero
Storjohann, CDU/CSU-Fraktion, Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen, Joachim Günther
({1}), FDP, und der Parlamentarischen Staatssekretä-
rin Iris Gleicke.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/4977 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta
Connemann, Dr. Peter Jahr, Peter H. Carstensen
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Projekt des Umweltbundesamtes zur so ge-
nannten unangekündigten Feldbeobachtung
endgültig stoppen
- Drucksache 15/4935 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Dr. Volker Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verdeckte und unangekündigte Feldbeobachtung durch Umweltbundesamt ({3}) stoppen
- Drucksache 15/5033 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten sol-
len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden der Kollegen Gabriele Lösekrug-Möller von
der SPD-Fraktion, Gitta Connemann und Arthur Auern-
hammer von der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich
Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Christel
Happach-Kasan von der FDP-Fraktion.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/4935 und 15/5033 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Aus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung vorgeschlagen, wobei die Federführung
jeweils beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Ernst Bahr ({4}), Götz-Peter
1) Anlage 3
2) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Lohmann, Ingrid Arndt-Brauer, Cornelia Behm
und weiterer Abgeordneter
Die Regionalentwicklung in Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern braucht Klarheit - Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide ist überfällig
- Drucksache 15/4792 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sinnvolles Nebeneinander von Tourismus und
Bundeswehr
- Drucksache 15/4956 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({6})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter
Kolbow das Wort.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundeswehr verfolgt in der Tat seit Übernahme des
Truppenübungsplatzes Wittstock die Absicht, das Gelände als Luft-Boden-Schießplatz für die Luftwaffe
und für die Ausbildung von Bodentruppen zu nutzen,
um ihre Aufgaben umfassend erfüllen zu können. Es
liegt in der politischen Verantwortung aller an der Entscheidung zum Einsatz von Streitkräften beteiligten
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, also des Deutschen Bundestages, die Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen, dass die Soldatinnen und Soldaten auf ihre mit
Gefahr für Leib und Leben verbundenen Aufgaben bestmöglich vorbereitet werden können.
({0})
Somit obliegt dem Dienstherrn und der Politik die
Verpflichtung, bestmögliche Vorsorge dafür zu treffen,
dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit der
Luftfahrzeugbesatzungen sowie Dritter keinen Schaden
nehmen. All dies macht die Bereitstellung ausreichender
Übungsmöglichkeiten unabdingbar. Das Parlament muss
sein Parlamentsheer bestmöglich schützen.
Unter qualitativer Betrachtung ist gerade der Truppenübungsplatz Wittstock für den Übungsbetrieb der
Bundeswehr in diesem Gesamtzusammenhang unverzichtbar. Der Einsatz von Flugzeugen im gesamten Einsatzspektrum ist unter militärischen Gesichtspunkten
nach wie vor erforderlich.
({1})
Es besteht also auch zukünftig militärischer Bedarf für
den Betrieb von Luft- und Bodenschießplätzen und von
Tiefflugübungen in Deutschland. Das regelmäßige Üben
von Waffeneinsatzverfahren auf Luft-Boden-Schießplätzen ist ein wesentlicher Bestandteil einer wirksamen
und am Auftrag orientierten Ausbildung von fliegenden
Besatzungen in Kampfflugzeugen. Dies trifft auch noch
bei dem Einsatz von Abstands- und Präzisionswaffen
durch unsere Luftwaffe zu.
Der Übungsplatz Wittstock bietet für die fliegenden
Waffensysteme der Luftwaffe, auch aufgrund der räumlichen Ausdehnung, als einziger Übungsplatz in
Deutschland die Möglichkeit, Einsatzverfahren streitkräftegemeinsam und im Rahmen der vernetzten Operationsführung realistisch zu üben. Dabei wird ausschließlich nicht detonierende Übungsmunition verwendet.
Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, den Truppenübungsplatz neben der fliegerischen Nutzung auch
für die Ausbildung von Bodentruppen gemeinsam zu
nutzen. Auf dem Platz sind Übungen von Flugabwehrraketenverbänden, elektronischen Kampfführungs-, Objektschutz-, Radarführungs- und Einsatzführungskräften
mit Truppenstärken bis zu 1 000 Soldaten an 80 bis
100 Tagen im Jahr geplant.
Die Stationierung eines Luftausbildungsbataillons
- circa 800 Soldaten und 150 Zivilbedienstete - in Wittstock war von Anfang an Teil der Gesamtüberlegungen.
Das wurde mit dem Stationierungskonzept der Bundeswehr auch bestätigt.
Im Zuge der Nutzung des Truppenübungsplatzes
Wittstock werden auch schnellstmöglich die von den
sowjetischen Truppen hinterlassenen Altlasten beseitigt
und die stark munitionsbelasteten Flächen des gesamten
Platzes entmunitioniert. Der Umfang der festgestellten
Altlasten wird zurzeit ermittelt. Man geht davon aus,
dass die Beseitigung zehn bis 15 Jahre dauern wird und
Kosten in Höhe von mehr als 200 Millionen Euro zu veranschlagen sind. Im Rahmen der Munitionsräumung
und Altlastenbeseitigung werden temporär durchschnittlich 400 Arbeitskräfte aus der Region bei zivilen
Räum- und Entsorgungsfirmen beschäftigt werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, dass bereits seit
vielen Jahren etwa 75 Prozent der jährlichen Schießübungen der deutschen Luftwaffe im Ausland durchgeführt werden. Eine weitere Reduzierung der Übungen in
Deutschland ist nicht geplant und wäre auch unseren
Luftwaffenverbänden nicht vermittelbar.
Eine gerechte und solidarische Verteilung der mit
dem Übungsbetrieb der Bundeswehr hier in Deutschland
verbundenen Lasten muss selbstverständlich sein. Die
parlamentarischen Diskussionen über das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr in den Jahren 1992
und 1993 reflektieren, dass die Gesamtbelastungen
durch den Übungsbetrieb der Bundeswehr zukünftig
möglichst ausgewogen, auch unter Einbeziehung der
neuen Bundesländer, zu verteilen seien. Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages hat daraufhin mehrheitlich festgestellt, dass er die Aufteilung des
noch in Deutschland verbleibenden Anteils der LuftBoden-Schießausbildung auf die drei Übungsplätze
Nordhorn in Niedersachsen, Siegenburg in Bayern und
das heute in Rede stehende Wittstock erwarte.
Das Bundesministerium der Verteidigung hält an diesem Grundsatz und an einer Beschränkung des Übungsumfanges auf das unabdingbare Mindestmaß fest und
bittet den Deutschen Bundestag, dabei zu folgen.
Meine Damen und Herren, ohne die Aufteilung auf
alle drei Luft-Boden-Schießplätze sind jedoch die zur
Entlastung der Bevölkerung im Umland von Siegenburg
und Nordhorn dringend erforderlichen weiteren Reduzierungen der Einsätze und eine ausgewogene regionale
Verteilung nicht möglich. Durch die Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock wird ein maßgeblicher Beitrag zu dieser Lastenverteilung erreicht. Deswegen drängen auch die Anliegergemeinden, die ich genannt habe,
nachhaltig darauf, dass alsbald auch der Truppenübungsplatz Wittstock militärisch genutzt wird. Das wird sicher
in der Debatte noch gesagt werden.
({2})
Lassen Sie mich auch hier hervorheben, dass im Rahmen der Entscheidung zur zukünftigen Nutzung des
Truppenübungsplatzes Wittstock als Luft-BodenSchießplatz die unterschiedlichen zivilen und militärischen Belange sorgfältig gegeneinander abgewogen
wurden. Dabei kam es natürlich darauf an, der Verpflichtung gegenüber unseren Soldaten gerecht zu werden.
({3})
Andererseits war sicherzustellen, dass die Belastungen
der Bevölkerung so gering wie möglich gehalten werden. Im Zuge der Entscheidung wurden auch die möglichen Auswirkungen der Nutzung des Platzes auf den
Tourismus und die Naturlandschaft in der Region geprüft.
({4})
Die Abwägung hat ergeben, dass die Beschreibungen im
Antrag der Kolleginnen und Kollegen der FDP richtig
sind und bei Nutzung gewissermaßen also auch Wirklichkeit werden.
({5})
Ich glaube, dass letztlich mit der Nutzung des Truppenübungsplatzes und der damit einhergehenden Stationierung des Luftwaffenausbildungsbataillons auch ein
wichtiger Beitrag zur Integration der Bundeswehr in der
Region und zur wirtschaftlichen Förderung der strukturschwachen Umgebung geleistet wird. Die Gesamtverantwortung gebietet diese Entscheidung.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Anita Schäfer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute stehen zwei Anträge zur Debatte, die für die Bundeswehr
und die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide von großer
Bedeutung sind. Der von Vertretern der Grünen, der SPD
und der PDS eingereichte Gruppenantrag richtet sich gegen eine militärische Nutzung des Standortes Wittstock.
({0})
Der Antrag der FDP-Fraktion setzt dagegen auf ein sinnvolles Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr
in dieser Region.
({1})
Sämtliche Argumente hinsichtlich des Für und Wider
der militärischen Nutzung von Wittstock werden seit
Jahren diskutiert, ausgetauscht und abgewogen. Umso
erstaunlicher ist, dass die Antragsteller aus den Reihen
der Grünen, der SPD und der PDS weiterhin mit fragwürdigen Annahmen operieren.
({2})
Es fehlt dem Gruppenantrag an sicherheitspolitischer
Substanz.
({3})
Ihr Kernargument lautet: Das Nutzungskonzept der Bundeswehr habe infolge des zurückgehenden Übungsbedarfs der Luftwaffe seine Grundlage verloren. Wir
alle wissen: Die Bundeswehr ist gegenwärtig und künftig vor allem im internationalen Krisenmanagement aktiv. Die Luftwaffe muss daher permanent für vielfältige
Szenarien gewappnet sein. Zum einen kann der Übungsbedarf des fliegenden Personals je nach Krisenlage rasch
ansteigen. Zum anderen spielt Wittstock für bodengebundene Einheiten eine Schlüsselrolle: Auf dem Platz
sind Übungen verschiedener Truppenverbände mit Truppenstärken von bis zu 1 000 Soldaten geplant. Diese
Fakten finden sich im Gruppenantrag nicht, weil sie für
den hohen militärischen Stellenwert von Wittstock sprechen. Denn er bietet der Bundeswehr wie kaum ein an15328
Anita Schäfer ({4})
derer Übungsplatz die Möglichkeit, Streitkräfte gemeinsame Einsatzverfahren proben zu lassen. Nur so kann die
Bundeswehr in internationalen Krisen handlungsfähig
bleiben.
Meine Damen und Herren, wer so einseitig wie die
Antragsteller argumentiert, legt die Axt an der Bündnisfähigkeit unserer Bundeswehr an.
({5})
Dies verdeutlicht auch ein weiterer Eckpunkt Ihres
Gruppenantrages: Sie behaupten, künftige Einsätze würden die Fähigkeit zum Tiefflug kaum noch erfordern.
({6})
Die Umrüstung auf Präzisionsabstandswaffen, so die
Antragsteller, würde das Nutzungskonzept für Wittstock
überflüssig machen. Auch in diesem Punkt, verehrte Antragsteller, liegen Sie falsch. Denn erstens hat die Umrüstung der Luftwaffe auf Präzisionsabstandswaffen
noch lange nicht den Stand erreicht, um auf Tiefflüge
verzichten zu können, und zweitens ist eine umfassende
Ausrüstung der Luftwaffe mit Präzisionsabstandswaffen
teuer. Wenn Sie Tiefflugübungen reduziert haben wollen, müssen Sie im Gegenzug die Ausrüstung mit Präzisionsabstandswaffen beschleunigen. Dann erklären Sie
uns aber bitte, woher Sie die Mittel dafür kurzfristig nehmen wollen. Das zeigt: Ihr Antrag ist auch in finanzieller
Hinsicht fragwürdig.
Weiterhin behaupten die Antragsteller, dass die
Umweltbelastung für die Bevölkerung unzumutbar sei.
Dies wird mit dem Hinweis untermauert, dass Wittstock
während des Kalten Krieges schon durch die Sowjets
extrem belastet gewesen sei.
({7})
Dabei wissen die Antragsteller ganz genau, dass das
neue militärische Nutzungskonzept strikte Auflagen vorsieht. Ein Vergleich mit den Zuständen vor der Wende ist
abwegig: Die Sowjets flogen jährlich bis zu
25 000 Einsätze und schossen mit scharfer Munition.
Zum Vergleich: Die Planungen der Bundeswehr gehen
von bis zu 1 700 Einsätzen jährlich aus, maximal 30 pro
Tag und einer pro Nacht - und dies ohne scharfe Munition. Nicht geflogen werden soll an Wochenenden,
Feiertagen und in den Sommerferien. In diesem Zusammenhang unterschlagen die Antragsteller außerdem,
dass die Bundeswehr eine vollständige Räumung des
Übungsplatzes von Munitionsaltlasten vorsieht.
({8})
Es ist irritierend, dass ein maßgeblich von den Grünen
initiierter Antrag dieses ökologische Sanierungspotenzial mit keiner Silbe erwähnt.
({9})
Damit komme ich zum letzten Eckpunkt des Gruppenantrags: Es wird behauptet, dass eine militärische
Nutzung des Standortes Wittstock die Tourismusbranche in der Region nachhaltig gefährde.
({10})
Dazu kann ich als Mitglied des Verteidigungs- und des
Tourismusausschusses nur sagen: Wir brauchen eine vernünftige Balance zwischen einem modernen Tourismuskonzept und einer sinnvollen militärischen Nutzung von
Wittstock durch die Bundeswehr, wie es die FDP mit ihrem Antrag fordert. Leider verkennen die Initiatoren des
Gruppenantrags die positiven strukturpolitischen
Effekte, die von der Bundeswehr ausgehen.
({11})
Durch die Nutzung des Standorts und die Stationierung
eines Luftwaffenausbildungsbataillons wird eine erhebliche Kauf- und Wirtschaftskraft in die Region getragen.
Der Gruppenantrag zur zivilen Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide steht im Ergebnis auf schwachen Füßen.
({12})
Verehrte Antragsteller von der SPD und von den Grünen, Sie setzen damit ein Signal des Misstrauens gegen
Ihren eigenen Verteidigungsminister Dr. Peter Struck.
Die Zerstrittenheit in den Reihen der Koalitionsparteien
ist evident. Sie können den Menschen in der Kyritz-Ruppiner Heide mit Ihren Vorstellungen keine Zukunftsperspektive bieten.
({13})
- Ich war zweimal zu Podiumsdiskussionen dort.
({14})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
spreche zu diesem unserem Gruppenantrag aus einer
zweifachen Perspektive:
({0})
Zum einen spreche ich als Obmann im Verteidigungsausschuss und als sicherheitspolitischer Sprecher. Insofern bin ich mitverantwortlich für die Einsatzfähigkeit
der Bundeswehr.
({1})
Staatssekretär Kolbow und ich haben hier selbstverständlich ein gemeinsames Interesse. Das äußere ich hier
genauso. Zum anderen spreche ich hier als Westdeutscher, der seit 1996 des Öfteren in der dortigen Region
war und die Menschen und die Landschaft dort kennen
und schätzen gelernt hat.
({2})
Ich erlebe einen auffälligen Widerspruch: Auf der einen Seite wachsen die Bewegung für die zivile Nutzung
der Kyritz-Ruppiner Heide und die Opposition gegen die
militärische Nutzung seit Jahren - noch heute hat die
Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern den
Gruppenantrag offiziell unterstützt -, auf der anderen
Seite hält sich in Berlin - das erfahren wir alle; ich erfahre das vor allem im Verteidigungsbereich - die Abwehrhaltung gegen dieses Ansinnen sehr stark.
Ich höre hier folgende Haupteinwände: Erstens wird
gesagt, ein solcher Platz sei militärisch unverzichtbar
- Frau Schäfer, Sie haben gesagt: Wer dagegen ist, der
legt die Axt an die ganze Bundeswehr -, zweitens wird
gesagt, Bundesinteressen müssten vor Regionalinteressen gehen und drittens wird der Anspruch einer gerechten Lastenverteilung in solchen Fragen gestellt. Hierzu
möchte ich etwas sagen.
Zunächst komme ich zur militärischen Notwendigkeit. Es ist bekannt, dass es der neue Auftrag der Bundeswehr ist, zur Kriseneindämmung und Krisenbewältigung im Dienste kollektiver Sicherheit und im Rahmen
der Vereinten Nationen beizutragen. Hierbei lautet die
Vorgabe der Luftwaffe, bei Luftwaffeneinsätzen immer
eine besondere Präzision zu erreichen und Distanz zu
wahren. Andere Arten von Kriseneinsätzen sind kaum
noch vorstellbar. Das heißt, für das, was in Wittstock geübt würde, nämlich Bombenabwürfe im Tiefflug, wird
der Bedarf seitens der Bundeswehr immer geringer. Man
muss immerhin auch feststellen, dass die Einsatzfähigkeit der Bundesluftwaffe ohne Wittstock in den ganzen
Jahren offensichtlich nicht gefährdet oder beeinträchtigt
war. Ich habe niemals etwas anderes gehört.
({3})
Die Region um die Kyritz-Ruppiner Heide hat eine
Entwicklungschance, nämlich die des sanften und naturnahen Tourismus.
({4})
Hier sind inzwischen sehr viele Arbeitsplätze entstanden. Bei einer militärischen Nutzung würde hier einiges
auf dem Spiel stehen.
Ich komme nun zur Forderung einer gerechten
Lastenverteilung. Diese ist zunächst einmal plausibel.
Dabei wird zweierlei aber völlig vergessen und übergangen: Als ersten Punkt nenne ich den ganz anderen historischen Vorlauf. Ich war des Öfteren in Nordhorn und
Siegenburg und weiß, wie die Belastungen dort aussehen. Das ist schmerzhaft für die Bevölkerung; dies dürfen wir nicht verharmlosen. Aber die Belastung zu
DDR-Zeiten im Raum Wittstock bei über 20 000 Einsätzen pro Jahr mit scharfer Munition, Bomben und Raketen war eine ganz andere.
Als zweiter Punkt ist hier anzuführen: Die Wirtschaftsstrukturen der Region sind sehr unterschiedlich.
In der Region um die Kyritz-Ruppiner Heide gibt es
wirklich nur eine Entwicklungschance, sonst nichts. Insofern ist die Region mit den anderen Regionen nicht
vergleichbar, die auch - das ist unbestreitbar - ihre Last
zu tragen haben.
({5})
Die Sache mit der gerechten Lastenverteilung ist zwar
auf den ersten Blick richtig, aber auf den zweiten Blick
eine unangemessene Anforderung.
Die Bewegung für die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide hat in den letzten 13 Jahren eine beispiellose
Breite erfahren. Sie ist inzwischen - das muss man feststellen - die breiteste demokratische Bürgerbewegung
ganz Deutschlands.
({6})
Beispiellos ist, wie sehr sie inzwischen von Unternehmern und Selbstständigen in der Region, von Bürgermeistern, zwei Landtagen und zwei Landesregierungen
unterstützt wird. Deshalb appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, sich noch mehr vor
Ort zu informieren, das Gespräch mit der Bevölkerung
dort zu suchen und sich wirklich darüber kundig zu machen, was auf dem Spiel steht. Wir Politikerinnen und
Politiker dürfen uns über ein so breites, glaubwürdiges
und sich seit 13 Jahren entwickelndes demokratisches
Votum nicht hinwegsetzen. Die Regionalentwicklung in
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern braucht
Klarheit. Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide
ist überfällig.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Günther Nolting von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der
Rede des Kollegen Nachtwei kann ich nur festhalten: Es
geht ein Riss durch die rot-grüne Koalition. Diese Bundesregierung hat nicht mehr die volle Unterstützung ihrer eigenen Fraktionen.
({0})
Ich sage als FDP-Bundestagsfraktionsmitglied: Übungstätigkeiten von Streitkräften rufen oft einen Zielkonflikt
mit dem berechtigten Anspruch der betroffenen Bevölkerung auf Lärm- und Gesundheitsschutz sowie mit Belangen des Umweltschutzes und der Regionalentwicklung hervor. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben
dafür Verständnis. Deshalb gilt es, die Belastungen für
Bevölkerung und Umwelt so gering wie möglich zu halten. Dieses trifft in besonderem Maße für den LuftBoden-Schießplatz Wittstock zu, da ein naturnaher
Tourismus im Raum um die Kyritz-Ruppiner Heide
eine wesentliche Entwicklungschance darstellt. Deshalb
müssen die Nutzungsbedingungen des Übungsplatzes
Wittstock ganz besonderen Restriktionen unterworfen
werden. Das haben wir in unserem Antrag berücksichtigt. Der FDP-Antrag ist ein tragfähiger Kompromiss,
der hier im Bundestag eine Mehrheit bekommen sollte.
Wir haben über dieses Thema schon vor drei Jahren
diskutiert. Auch damals hatten die Grünen einen Antrag
initiiert. Aber dieser Antrag wurde nie zur Abstimmung
gestellt. Das Verfahren ist nur zu offensichtlich: Es wird
ein Antrag geschrieben, mit dem Stimmung gemacht
wird. Den betroffenen Menschen wird alles Mögliche
versprochen. Aber es besteht zu keinem Zeitpunkt die
Absicht, diese Versprechen einzulösen.
({1})
Wie anders ist es zu erklären, Frau Kollegin, dass eine
Abstimmung über diesen Antrag bewusst vermieden
wurde und er nach der ersten Lesung im Papierkorb verschwand? Welche Gründe auch immer für dieses doppelbödige Verhalten verantwortlich gewesen sein mögen:
Dieses Spiel spielen wir nicht mehr mit.
({2})
Auf Veranstaltungen in der Kyritz-Ruppiner Heide
fordert Herr Nachtwei immer wieder lautstark die
Schließung des Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock. In
Nordhorn oder Siegenburg fordert er nicht weniger vehement die Schließung der dortigen Übungsplätze. In
Beisein der Bundeswehr im Verteidigungsausschuss bekennt er sich hingegen staatstragend zur Notwendigkeit
von Übungsmöglichkeiten für die Soldaten. Auch dieses
Doppelspiel, Herr Nachtwei, machen wir nicht mehr mit.
Ein derartiges Verhalten ist einfach infam.
({3})
Wir haben einen Antrag zu einem sinnvollen Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr eingebracht. Die FDP handelt zum Wohle der Bundeswehr
und zum Wohle der Menschen in der betroffenen Region. Ich sage aber schon heute: Wir haben einen zweiten Antrag eingebracht, in dem gefordert wird, die Belastung auch der Bevölkerung in Nordhorn und in
Siegenburg deutlich zu reduzieren. Dieser Antrag wird
demnächst hier behandelt werden. Ich denke, wir müssen alle drei Übungsplätze im Zusammenhang sehen und
nicht losgelöst, wie das in diesem Gruppenantrag geschehen ist.
({4})
Die FDP-Fraktion wird dafür sorgen, dass es einerseits zu keinen unverantwortlichen Belastungen für Tourismus und Bevölkerung in den betroffenen Räumen um
Wittstock, Nordhorn und Siegenburg kommt. Wir müssen aber auch der Bundeswehr klare Perspektiven aufzeigen und gewährleisten, dass sie die Möglichkeit zum
Üben hat.
({5})
- Herr Kollege Ströbele, wir werden Ihre doppelbödige
Politik entlarven. Sie von Rot-Grün schicken die Bundeswehr in alle Regionen dieser Welt.
({6})
Dann müssen Sie auch dafür Sorge tragen, dass die Soldatinnen und Soldaten eine entsprechende Ausbildung
bekommen und entsprechende Übungsmöglichkeiten haben.
({7})
Alles andere wäre unverantwortlich.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Kues von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Abgeordneter für die
Region Nordhorn, für die Region Emsland. In meinem
Wahlkreis liegt der Bombenabwurfplatz NordhornRange. Ich erlebe es nun seit Jahrzehnten und nicht erst
seit 13 Jahren, dass sich die Bevölkerung in Nordhorn
gegen diesen Bombenabwurfplatz wehrt. Seit drei bis
vier Generationen - das betrifft alle meine Vorgänger ist die Unerträglichkeit der Belastungen anerkannt, aber
man hat immer gesagt, dass wir Übungsmöglichkeiten
für die Bundeswehr bräuchten, dass das verantwortliche
Politik sei und man die Bevölkerung deshalb um Verständnis bitten müsse, dass es in Nordhorn nicht anders
geht. Das sagen wir dort als direkt gewählte Abgeordnete.
Das, was Sie, Herr Kollege Nachtwei, machen, ist etwas anderes. Sie stellen sich hier hin und sagen, Sie
seien der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen
und hätten natürlich Verständnis dafür, dass die Bundeswehr leistungsfähig sein müsse. Der Parlamentarische
Staatssekretär, der für die rot-grüne Bundesregierung
spricht, hält den Bombenabwurfplatz in Wittstock für
notwendig. Sie sagen, dass Sie die Menschen in Wittstock verstehen, und verweisen darauf, dass sich dort
eine Bewegung gebildet hat. Für diese Haltung gibt es
ein schönes Wort: Das ist Schizophrenie.
({0})
Sie glauben, damit durchzukommen. Das ist Opportunismus pur, weil Sie den Menschen in Wittstock nach dem
Munde reden wollen.
({1})
Sie haben nicht die Courage, den Zusammenhang der
Dinge aufzuzeigen. Das ist Ihre Politik.
({2})
- Sie haben sich vor drei Jahren schon darüber aufgeregt, aber Ihr Opportunismus hat sich nicht geändert.
({3})
- Das ist keine Unverschämtheit. Es ist eine Unverschämtheit, wie Sie mit den Menschen umgehen. Ihr Interesse gilt nicht den Menschen. Sie wollen sich in der
politischen Auseinandersetzung Vorteile verschaffen.
({4})
Sie sind letztlich regierungsunfähig. Sie müssten sich
für ein Truppenübungsplatzkonzept einsetzen. Das,
was die Regierung tut, tragen Sie im Endeffekt nicht mit.
Das muss ich so sagen. Die Menschen in Nordhorn - der
eine oder der andere wird das auch mitkriegen; dafür
werde ich schon sorgen - werden feststellen, wie opportunistisch die Grünen sind. Das erleben wir bei allen
Themen. Sie werden feststellen, dass auch die große
Volkspartei SPD im Grunde genommen nicht bereit ist,
die Dinge, die für die Bundeswehr notwendig sind, mitzutragen. Das finde ich ganz schlimm.
Ich könnte Ihnen an vielen Beispielen deutlich machen, dass alle Argumente, die hier genannt worden
sind, in gleicher Weise für Nordhorn zutreffen. Deswegen habe ich immer die Auffassung vertreten, man soll
zu einer fairen Lastenverteilung kommen. Das halte ich
für gerecht. Der Verteidigungsminister hat - das darf ich
Ihnen anvertrauen - mir auch schon gesagt, wie er sich
das weitere Schicksal des Antrags vorstellt. Das ist eben
angedeutet worden. Da haben Sie aufgeschrieen. Wir
werden es ja sehen. Beim letzten Mal ist es so gewesen,
dass man den Antrag still und heimlich hat verschwinden lassen.
({5})
Das ist Ihre Politik. Deshalb machen Sie den Leuten etwas vor. Das ist mein Kernpunkt.
So wird es mit diesem Antrag auch wieder sein. Wenn
es nicht so ist, dann ist nicht nur aus diesem Grunde - es
gibt viele andere Gründe - die Regierungszeit von SPD
und Grünen offenkundig zu Ende, weil sie in einem zentralen Punkt nicht in der Lage sind, das Konzept der
Bundeswehr mitzutragen.
({6})
Ich will nicht verhehlen, dass es mich sehr ärgert
- das sage ich als Wahlkreisabgeordneter -, dass man einen Garnisonsstandort in unmittelbarer Nähe des Bombenabwurfplatzes dichtmacht, unter anderem weil die
militärische Führung der Bundeswehr, speziell der Luftwaffe, zu wenig politische Sensibilität gezeigt hat. Das
ist - das soll die Luftwaffe ruhig hören - ein großes Ärgernis für die Bevölkerung. Das kann ich nicht akzeptieren.
Als Abgeordnete haben wir die verdammte Pflicht
und Schuldigkeit, uns Gedanken darüber zu machen,
was für das Gemeinwohl und was für den Staat insgesamt richtig ist. Wir müssen die Courage aufbringen
- Courage haben Sie nicht -, auch einmal etwas zu sagen, was nicht von vornherein auf tosenden Beifall stößt.
({7})
Das ist verantwortlich.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bürgerinitiative Freie Heide lädt für Ostersonntag zur 94. Protestwanderung für die „FREIE HEIDE“
ein. Das Motto dieser Wanderung lautet: Hier nicht und
nirgendwo. Ich finde dieses Motto sehr gut; denn es
greift offensiv die Vorwürfe auf, die da lauten: Ihr wollt
es nur bei euch schön ruhig haben. Was anderswo passiert, ist euch egal. Das stimmt nicht. Die Mitglieder der
Bürgerinitiative und ihre Unterstützer wollen nicht nur
in ihrer Umgebung Ruhe und Frieden haben.
({0})
Sie setzen sich für die Begrenzung von Militär und für
friedliche Lösungen weltweit ein.
Lange haben die Menschen rund um die Kyritz-Ruppiner Heide auf diesen Antrag zur zivilen Nutzung der
Heide gewartet. Nun ist es endlich gelungen, dass
58 Mitglieder des Bundestages ihn mit ihrem Namen unterstützen. Beim Ostermarsch wird sicher die Frage gestellt werden, welche Aussicht der Antrag hat und bis
wann über ihn entschieden sein wird. Die Frage ist berechtigt. Darum bitte ich alle Antragsteller, ihre Fraktionskollegen von der Richtigkeit dieses Antrages zu
überzeugen. Falls ich es richtig überblicke, liegt bisher
nur von der PDS die hundertprozentige Zustimmung vor.
Erinnern wir uns: Die deutsch-deutsche Vereinigung
bedeutete auch das Ende des Kalten Krieges. Für viele
Menschen schienen Abrüstung, weniger Geld für Rüstung und weniger Truppenübungsplätze eine logische
Folge der Beendigung des Kalten Krieges zu sein. Darum waren sie erst verwundert und dann empört, als der
damalige Verteidigungsminister Volker Rühe die militärische Nutzung der Heide plante.
Am 15. August 1992 fand die erste Demonstration
gegen die weitere militärische Nutzung der Heide
statt. Mit phantasievollen Aktionen machten die Menschen die Öffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam.
Im Jahre 1994 erklärte der damalige SPD-Vorsitzende
und Kanzlerkandidat Rudolf Scharping vor 500 Demonstranten, im Falle eines Wahlsieges der SPD werde
dieser Truppenübungsplatz verschwinden. Inzwischen
hat die SPD zwei Bundestagswahlen gewonnen. Es ist
also höchste Zeit, das damals gegebene Versprechen einzulösen.
({1})
Ein Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide ist
kein lokales Problem. Darum finde ich es gut, dass Abgeordnete, die weit entfernt von dieser Heide ihre Wahlkreise haben, diesen Antrag unterstützen.
({2})
Ich möchte noch einmal unterstreichen: Die Heide
verdient eine friedliche Nutzung. Die Menschen in dieser Region haben nach dem Ende des Kalten Krieges immer wieder ihren Wunsch bekräftigt, endlich eine freie,
offene und friedliche Heide haben zu wollen. Ich finde,
wir sollten diesen Wunsch respektieren. Geben wir den
Menschen Sicherheit. Sie haben hier touristische Angebote und damit nicht nur Erholungsmöglichkeiten für
uns Großstädter, sondern auch Arbeitsplätze geschaffen.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass wir spätestens Ostern
2006 sagen können: Die Heide ist frei!
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Lötzsch, aus Ihrem parlamentarischen Verständnis kann man ableiten, was Sie gesagt
haben. Dass man aber innerhalb einer Koalition in einer
Sachfrage unterschiedlicher Meinung sein kann, die sich
mitunter in einer parlamentarischen Diskussion zum
Ausdruck bringt, ist, denke ich, und eine ganz natürliche
Sache. Trotz unseres Antrags stehen wir zur Regierungspolitik. Das sage ich auch an die Adresse der FDP und
der CDU/CSU. Wir haben überhaupt nicht die Absicht,
die Koalition mit einem Riss zu versehen.
Wir vertreten in der Verteidigungspolitik die Auffassung, dass die Bundeswehr - so sehr wir ihre durch den
Verteidigungsminister bestimmte Aufgabenstellung begrüßen - den Übungsplatz in Wittstock nicht braucht.
Das ist unsere zentrale Aussage. Diese haben wir sehr
sachlich und fundiert begründet. Frau Schäfer, Ihre Aussagen treffen dagegen nicht zu. Sie sollten sich unseren
Gruppenantrag ruhig noch einmal vornehmen. Ein so
sachlich und präzise begründeter Antrag wie in diesem
Fall ist selten
({0})
eingebracht worden.
Herr Nolting, die FDP-Fraktion sollte ihren Antrag
zurückziehen, weil er keinen Sinn macht.
({1})
Er sieht nur eingeschränkte Übungsmöglichkeiten für
die Bundeswehr vor. Wenn es tatsächlich so ist, wie Sie
behaupten, und der Übungsplatz tatsächlich gebraucht
wird, muss er sowieso eingerichtet werden und Kosten
werden entstehen. Die Frage ist dann nicht mehr, wie
viele Übungsmöglichkeiten vorhanden sind. Wenn Sie
Ihren Antrag zurückziehen und unseren Gruppenantrag
unterstützen, dann werden wir ein Stückchen weiterkommen.
({2})
- Der Staatssekretär vertritt die Regierungsposition und
wir vertreten die Position, dass die Bundeswehr diesen
Übungsplatz nicht braucht.
Die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland stellen wir jedenfalls nicht infrage. Wir sind der
Meinung, dass Übungsmöglichkeiten für die Bundeswehr gegeben sind, und zwar ohne dass man zusätzlich
Geld ausgeben und zusätzliche Belastungen für Menschen in anderen Regionen schaffen muss.
Ernst Bahr ({3})
Zur Lastenverteilung: Wer wie Sie sagt, die Lasten
zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland seien
nun gleichmäßig verteilt, der weiß nicht, was zu Zeiten
der sowjetischen Übungen stattgefunden hat. Es war
nicht allein die Zahl der Übungen. Vielmehr gab es auch
Luftwaffenübungen, beispielsweise mit Hubschraubern,
sowie Kanonen- und Panzerübungen mit scharfer Munition. Solche unvorstellbaren Belastungen über 40 Jahre
musste keine bundesdeutsche Gemeinde nach dem
Zweiten Weltkrieg erleben. Insofern kann von einer
gleichmäßigen Lastenverteilung keine Rede sein.
({4})
Zu den Präzisionswaffen: Frau Schäfer, Sie haben
gesagt, hier könne man Einsparungen vornehmen. Das
ist in Wahrheit nicht möglich. Präzisionswaffen werden
beschafft und es wird mit ihnen geübt, weil sie für zukünftige Einsätze benötigt werden. Deswegen kann nach
unserer Meinung auf den Abwurf von Bomben, wie er in
der Kyritz-Ruppiner Heide geübt wird, verzichtet werden. Des Weiteren haben Sie behauptet, dass wir die Entsorgung unterschlagen würden. Das stimmt nicht. Wir
wissen, dass auf dem Übungsplatz Wittstock eine Entsorgung durchgeführt werden muss. Das wird auch geschehen, selbst wenn die Bundeswehr diesen Übungsplatz nicht nutzen sollte.
Das Ziel unseres Gruppenantrags ist die Unterstützung derjenigen Menschen, die eine nicht militärische
Entwicklung dieser Region verlangen. Dazu gehört im
Wesentlichen die Tourismuswirtschaft, die große Bedeutung hat und die sich sehr gut entwickelt hat. Die Bundeswehr braucht nach meiner Meinung diesen Übungsplatz nicht und daher sollte dieser Platz der friedlichzivilen Nutzung zugeführt werden. Wir brauchen Klarheit, und zwar möglichst schnell, damit die getätigten Investitionen nicht umsonst waren und damit die beabsichtigten Investitionen umgesetzt werden können. Wir
fordern, dass möglichst schnell eine Entscheidung getroffen wird, damit Sicherheit für die Region und ihre
Entwicklung gegeben ist. Die 13 Jahre gerichtliche Auseinandersetzung, in denen Kommunen und Privatpersonen Geld investieren mussten, waren aus meiner Sicht
nicht notwendig. Ich freue mich und begrüße es, dass
Bundesverteidigungsminister Struck nun zumindest
dazu übergegangen ist, die rechtlichen Probleme, soweit
sie Eigentumsfragen betreffen, von sich aus zu klären,
und dass er nicht wie die Vorgängerregierung die Gemeinden darauf verweist, dass sie klagen können, wenn
sie etwas haben wollen.
({5})
Wir haben eine Situation, die einer Lösung zugeführt
werden muss. Ich möchte an dieser Stelle den Bürgerinitiativen herzlich dafür danken, dass sie mit ihrem Engagement dafür gesorgt haben, dass dieses Thema bundesweit ins Gedächtnis gerufen wurde und dass es weiter
verfolgt wird. Ich darf all denjenigen danken, die das organisiert und initiiert haben. Wir haben unseren Gruppenantrag auf der Grundlage dieser Initiativen gestellt.
In der vergangenen Wahlperiode sind wir mit den Beratungen über einen entsprechenden Antrag leider nicht
zu Ende gekommen. Das ist nicht bewusst niedergelegt
worden
({6})
- Herr Kues, Sie wissen doch, wie es war -, sondern der
Diskontinuität zum Opfer gefallen.
({7})
Wir haben das damals zu spät eingebracht. Diesmal haben wir es zur rechten Zeit eingebracht in der Hoffnung,
dass die Ausschussberatungen, die wir sehr intensiv begleiten werden, ein Ergebnis zeitigen werden, sodass
viele Kolleginnen und Kollegen unserem Antrag im
Bundestag zustimmen können. Die Bundeswehr muss
zwar aufgabengerecht ausbilden. Aber sie kann auf den
Übungsplatz in Wittstock verzichten, weil sie ihn nicht
benötigt.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der Kyritz-Ruppiner Heide und in der Müritz-Region befindet sich in einer ganz schwierigen Situation.
Für mein Dafürhalten haben wir einen Zielkonflikt. Das
ist das große Problem.
Die Tourismusbranche ist die einzige Wachstumsbranche in dieser strukturschwachen Region. Parallel
dazu gibt es eine militärische Nutzung des Gebiets, verbunden mit den entsprechenden Belastungen. Dazu gehören Tiefflüge; Kollege Kues hat eindrucksvoll geschildert, wie das in seiner Region in den letzten Jahren
vonstatten gegangen ist. Deshalb muss man überlegen,
was von höherem volkswirtschaftliche Nutzen ist.
Ich unterstütze das Anliegen des Antrages aus den
Reihen von Rot-Grün.
({0})
Aber dann müssen Sie doch auch einmal an die Regierung herangehen. Der Verteidigungsminister und der
Wirtschaftsminister müssen an einen Tisch und diesen
Sachverhalt klären. Sie haben das letztendlich in der
Hand. Aber über 14 Jahre hinweg haben wir hier über15334
Werner Kuhn ({1})
haupt keine Aktivitäten erlebt, die zielführend gewesen
wären.
In unterschiedlichen Bürgerinitiativen haben Sie mit
Ihren Matadoren vonseiten der SPD - das wurde hier dokumentiert - den Leuten immer wieder Hoffnungen gemacht: Wenn Sie uns wählen, wird es diesen Schießplatz
nicht geben. Das Gegenteil haben Sie gemacht. Das halte
ich für einen Wortbruch. So kann man mit den Bürgerinnen und Bürgern in der Müritz-Region und in der KyritzRuppiner Heide nicht umgehen.
({2})
Denken Sie an Rheinsberg! Denken Sie an die Müritz! Bedenken Sie, welche Investitionsmöglichkeiten
bei einer Arbeitslosigkeit von 23,5 Prozent überhaupt
noch bestehen! Wenn ein Hotelunternehmer, der Zuwächse an Übernachtungen verzeichnen kann, in einen
Anbau investieren will, braucht er neben dem Eigenkapital eben auch Fremdkapital. Da die Entscheidung,
ob die Kyritz-Ruppiner Heide militärisch genutzt wird,
immer noch aussteht, besteht Unsicherheit und diese Unsicherheit belastet. Wir brauchen endlich Klarheit. Für
diese Klarheit muss die Regierung sorgen.
Bei der Anhörung im Ausschuss für Angelegenheiten
der neuen Länder zu dem Antrag, der damals vorlag
- warum er nicht zur Vollendung gekommen ist, kann
ich nicht nachvollziehen -, haben wir gemerkt, dass man
sich in dieser Region mit Bürgermeistern, die der Union
angehören, mit Landräten, die der Union angehören, und
mit Vertretern auf der Seite der Nordbrandenburger, die
der SPD angehören, darüber einig war, dass -
Herr Kollege, ich muss Sie unterbrechen, weil Sie reden, ohne Luft zu holen.
({0})
Der Kollege Manzewski würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Kollege Manzewski ist wie ich für diese Region zuständig. Wir haben letztendlich in unseren Überzeugungen -
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Manzewski?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Kuhn, zur Richtigstellung: Ich bin für
die Region zuständig, weil ich direkt gewählter Abgeordneter bin.
({0})
Aber ich erkenne an, dass auch Sie sich um diese Region
bemühen.
Ich habe zwei Fragen, weil ich aus Ihrem Vortrag
nicht schlau werde.
Erstens. Könnten Sie mir sagen, ob Sie nun für den
Antrag sind oder nicht?
Zweitens. Sie kritisieren hier die Bundesregierung.
Sie kritisieren leider nicht Ihre eigene Fraktion. Geben
Sie mir Recht, dass, wenn die CDU/CSU diesen Antrag
gemeinsam mit den Unterzeichnern unterstützen würde,
dieser Antrag durchginge?
({1})
Erstens. Ich unterstütze diesen Antrag.
({0})
Zweitens. Sie haben die Regierungsverantwortung.
Herr Kollege Manzewski. Zudem kommt dieser Antrag
aus Ihren Reihen. Sie haben also die Verantwortung,
dass die Zielstellung erreicht wird. Wir sind in der Opposition. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir die Rollen
beim nächsten Mal wechselten und Sie nicht mehr als
Vertreter einer die Regierung tragenden Fraktion redeten. Es wird höchste Zeit, dass sich da etwas ändert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem
Zusammenhang bitte ich ganz inständig darum, dass sich
die Verantwortlichen in der Exekutive, die verantwortlichen Minister, des Problems annehmen und eine fachliche und sachliche Beurteilung hinsichtlich der Entwicklung der Region, auch was den Tourismus betrifft,
erarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass die Entwicklungsziele, die hier vorgegeben worden sind, nur im Bereich des Tourismus liegen können.
({1})
Wir wissen genau, dass diese Branche weltweit operiert.
Herr Kollege Kuhn, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wir werden so Nachteile erleiden. Das können wir
nicht kampflos hinnehmen. Das ist auch die Überzeugung unserer Unternehmerschaft.
({0})
- Ja.
Werner Kuhn ({1})
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4792 und 15/4956 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. März 2005, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.