Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/25/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Der Deutsche Bundestag trauert um sein langjähriges Mitglied, den früheren Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Staatsminister im Bundeskanzleramt, Hans-Jürgen Wischnewski, der gestern Abend nach einem langen, erfüllten Leben im Alter von 82 Jahren verstorben ist. Hans-Jürgen Wischnewski wurde 1922 im ostpreußischen Allenstein als Sohn eines Zollinspektors geboren und wuchs in Berlin auf, wo er 1941 sein Abitur absolvierte. Von 1940 bis 1945 war Wischnewski wie so viele seiner Generation Soldat. Nach dem Krieg kam er nach kurzer Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurück, wo er im Ostteil der Stadt wohnend die gewaltsame Errichtung der kommunistischen Herrschaft durch die sowjetische Besatzungsmacht miterleben musste. Dieses Ereignis prägte seine ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus und führte im Frühjahr 1946 dazu, dass er Berlin verließ und nach Bayern ging, wo er als Metallarbeiter beschäftigt war. Die Erfahrungen in Berlin und sein persönlicher Lebensweg haben seine politische Haltung und sein Handeln wesentlich beeinflusst, sodass er bereits 1946 der SPD und der IG Metall beitrat. Nach einer Ausbildung in Arbeits- und Sozialrecht wurde er als Gewerkschaftssekretär zur Betreuung von Betriebsräten nach Köln entsandt. 1957 wurde er SPD-Vorsitzender des Kreisverbandes Köln. Im selben Jahr wurde er zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt. 33 Jahre - bis 1990 - war er stets direkt gewählter Abgeordneter seines Kölner Wahlkreises. In den Jahren nach 1957 übernahm Hans-Jürgen Wischnewski wichtige Führungspositionen innerhalb seiner Partei, darunter den Bundesvorsitz der Jungsozialisten. Er wurde Mitglied des Parteivorstandes und des Präsidiums, stellvertretender Parteivorsitzender und Schatzmeister der Partei und Bundesgeschäftsführer der SPD. Unter der Großen Koalition wurde er 1966 zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ernannt. In diesem Amt konnte Wischnewski mit seinen Erfahrungen und Perspektiven einer Neugestaltung der Entwicklungshilfe zum Durchbruch verhelfen. In der Zeit der sozialliberalen Regierung war er Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 1976 wechselte er bis zum Ende dieser Koalition im Jahr 1982 als Staatsminister ins Kanzleramt und war in dieser Funktion eine tragende Stütze der Regierung. Aus der Zeit als Bundesvorsitzender der Jungsozialisten stammte sein großes Engagement für die arabische Welt, das erstmals in den 50er-Jahren durch seinen Einsatz für die Unabhängigkeit Algeriens zutage trat. Durch zahlreiche Studienreisen verschaffte er sich in dieser Zeit einen Überblick über die Problemherde im afro-arabischen Raum. Bereits 1970 wirkte Wischnewski, dem wegen seiner vielfältigen internationalen Kontakte zumal zu den islamischen und arabischen Ländern Willy Brandt den Spitznamen „Ben Wisch“ gegeben hatte, in Amman hinter den Kulissen an einer Geiselbefreiung mit. Seine wohl bekannteste und schwierigste Mission führte ihn 1977 als Staatsminister im Kanzleramt nach Mogadischu, wo seine Vermittlung im Zusammenhang mit der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ die Befreiung der Geiseln durch die GSG 9 ermöglichte. Er sagte dann anschließend auf seine unnachahmliche Art: „Die Arbeit ist erledigt.“ Wir trauern um einen großen Politiker und überzeugenden Menschen. „Nur die Politik hat Wert, die Menschen hilft“, das war sein Motto. Danach hat er gehandelt. Hans-Jürgen Wischnewski hat sich um unser Land verdient gemacht. Der Deutsche Bundestag wird dem Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. Ich danke Ihnen. Redetext Präsident Wolfgang Thierse Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung heute mit der zweiten und dritten Beratung des Justizkommunikationsgesetzes zu beginnen. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe also den Tagesordnungspunkt 24 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz ({1}) - Drucksache 15/4067 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 15/4952 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Hans-Christian Ströbele Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! In der letzten Legislaturperiode hat die Bundesregierung die Initiative „Bund-Online 2005“ aufgelegt. Diese Initiative verfolgt das Ziel, bis zum Ende dieses Jahres alle internetfähigen Dienstleistungen, die der Bund anbietet, Bürgerinnen und Bürgern sowie vor allen Dingen der Wirtschaft online bereitzustellen. Mit dem Justizkommunikationsgesetz, das Sie heute verabschieden wollen, leistet der Deutsche Bundestag einen wichtigen Beitrag, um das Ziel der Initiative „Bund-Online 2005“ zu erreichen. Justiz ist ohne Kommunikation nicht vorstellbar. Gerichtliche Verfahren bestehen in allererster Linie aus Kommunikation. Die Verfahrensbeteiligten präsentieren den Streitgegenstand dem Gericht. Das Gericht erörtert mit den Beteiligten den Streitgegenstand und das Ergebnis dieses Kommunikationsprozesses ist die Erledigung des Rechtsstreites, und zwar entweder durch Vergleich oder durch Entscheidung. Mit einer Reihe von Dienstleistungen ist die Justiz bereits mitten auf dem Weg in eine elektronische Kommunikationsgesellschaft. Ihnen allen ist sicherlich das inzwischen vorhandene elektronische Mahnverfahren in Deutschland bekannt. Handwerker und andere Gewerbetreibende haben die Möglichkeit, von zu Hause aus Mahnbescheide zu beantragen. In vielen Gerichten gibt es inzwischen elektronische Postfächer, sodass Anwältinnen und Anwälte ihre Schriftsätze papierlos einreichen können. Der Bundesgerichtshof bietet seit 2002 die Möglichkeit, bei ihm Schriftsätze elektronisch einzureichen oder förmliche Zustellungen elektronisch durchzuführen. Beim Bundesverwaltungsgericht und beim Bundesfinanzhof gibt es inzwischen ein virtuelles Gerichtspostfach. Auch beim Deutschen Patent- und Markenamt - das kennen Sie alle - können Patentanmeldungen seit Oktober 2003 papierfrei eingereicht werden. Hier sind wir sogar so weit, dass es eine Vereinbarung mit dem Europäischen Patentamt, das ebenfalls in München sitzt, gibt. Es ist nur eine Software notwendig, um Patente entweder beim Deutschen Patent- und Markenamt oder beim Europäischen Patentamt zu beantragen. Diese Entwicklung wollen wir weiter beschleunigen. Kommunikation muss zunehmend einfacher, effizienter und schneller werden. Wir müssen dazu die modernen Kommunikationsmittel nutzen. Diese bieten sich gerade in der Justiz sehr stark zur Nutzung an; denn die Verfahren vor Gericht sind stark formalisiert. Wiedervorlagefristen und Ähnliches lassen sich sehr gut abbilden. Wir wollen mithilfe elektronischer Verwaltungsabläufe die Verfahren weiter vereinfachen und die Verfahrensbeteiligten von bürokratischem Aufwand entlasten. Das kommt in erster Linie den Verfahrensbeteiligten, den Anwältinnen und Anwälten sowie den Richtern, zugute. Außerdem können Anwälte auch ohne Papierakte irgendwann - das wird sicherlich noch etwas dauern online Akteneinsicht nehmen. Bisher gab es ein Haupthindernis für die Nutzung der modernen Informationstechnologie. Das war die Datensicherheit. Gerade das Justizverfahren muss besonders sicher sein; darauf müssen wir Wert legen. Dieses Problem haben wir mit der Signaturtechnik gelöst. Es ist mittlerweile möglich, mithilfe der elektronischen Signatur sowohl eine sichere Aufbewahrung von Daten zu garantieren als auch die Absenderauthentizität und -integrität nachzuweisen bzw. zu garantieren. In der Sache bleibt es bei den Anforderungen, die das geltende Recht auch an das schriftliche Verfahren stellt. Dokumente, die nach geltendem Recht zu unterschreiben sind, benötigen eine qualifizierte elektronische Signatur. Bei formlosen Mitteilungen reicht es, wenn man ein unsigniertes Dokument versendet. Auf der Grundlage des geltenden Verfahrensrechts ist ein so genannter Workflow, eine interne elektronische Bearbeitung, noch nicht möglich. Den Schritt hin zu einem vollständigen Kommunikationssystem vollziehen wir mit dem vorliegenden Justizkommunikationsgesetz. Der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Akte werden für den Zivilprozess, für den Arbeitsgerichtsprozess, für die öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten und für die Ordnungswidrigkeiten vorgesehen. Alles wird als Option angeboten. Niemand ist verpflichtet, es zu nehmen. Wir respektieren die Rechte der Länder, indem wir sagen: Der jeweilige Dienstherr entscheidet, ob etwas eingeführt wird; wenn er einführt, tut er dies durch Rechtsverordnung. Das gilt sowohl für den Bund als auch für die Länder. Wir haben in diesem Gesetz auch eine technikoffene Regelung vorgesehen. Gerade weil die Technik in kaum einem Bereich so schnell fortschreitet wie in diesem, können wir keine detaillierten Vorgaben machen, sondern müssen Technikoffenheit bestimmen. Wir müssen nur sehen, dass wir uns mit den Ländern auch über einheitliche Standards verständigen. Das ist natürlich die Voraussetzung dafür, dass die Kommunikation zwischen Bund und Ländern funktioniert. Das hat in der Vergangenheit gut geklappt und ich hoffe, dass es auch in Zukunft so bleibt. Wie ich bereits eben sagte, wird der jeweilige Dienstherr entscheiden, wann die elektronische Kommunikation vollständig eingeführt werden kann. Ich weiß natürlich, dass es dafür in vielen Bereichen nicht genug Geld gibt. Gleichwohl kann ich nur sagen: Ich empfehle, das einmal ordentlich durchzurechnen; denn man kann mit den neuen Mitteln sehr viel Geld sparen. Lassen Sie mich noch etwas zu der Ergänzung sagen, die im Rechtsausschuss vorgenommen wurde. Erst einmal: Vielen Dank! Diese Ergänzung betrifft die Prozesskostenhilfe. Durch Änderungen im Sozialgesetzbuch ist der Kreis derjenigen, die einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, in einer Weise ausgedehnt worden, die nicht vertretbar erscheint. Dieses Versehen können wir jetzt dank Ihrer Unterstützung korrigieren. Wir führen die Prozesskostenhilfe damit auf die frühere Basis zurück. Es wird nichts gekürzt und es wird nichts erhöht; es bleibt alles so, wie es war. Lediglich diese Ungenauigkeit wird bereinigt. Ich danke dafür, dass das möglich war. Ich weiß, dass das Aufsatteln auf Gesetze nicht geschätzt wird. Aber ich meine, dass wir das in diesem Fall gerade wegen des berechtigten Interesses der Bundesländer, jetzt schnell zu einer Änderung zu kommen, rechtfertigen können. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Andrea Voßhoff, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem zunehmenden elektronischen Informations- und Geschäftsverkehr im Alltag von Unternehmen und Bürgern muss auch die Justiz gerecht werden. Deshalb ist es ebenso klar wie notwendig, dass sich die Justiz als Dienstleister für den Rechtsuchenden den Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft, insbesondere im Bereich der modernen Kommunikation, anpassen muss. Eine moderne und vor allem effiziente Justiz ist aber nicht nur für den rechtsuchenden Bürger, sondern insbesondere auch für die Wirtschaft ein wichtiger Standortfaktor. Wenn das Medium Papier im Alltag der Bürgerinnen und Bürger und insbesondere der Wirtschaft zunehmend durch elektronische Dateien ersetzt wird, dann kann sich die aktenschwere Justiz dem nicht verschließen. ({0}) Der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Aktenführung innerhalb der Gerichte und in der Justiz insgesamt sind deshalb auszubauen. Auszubauen ist aber auch die elektronische Kommunikation mit der Außenwelt, also mit Verfahrensbeteiligten, mit Anwälten und anderen. Dazu ist nicht nur erforderlich, die Justiz in Bund und Land weiterhin mit moderner Hard- und Software auszustatten; von grundsätzlicher Bedeutung ist es im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes auch, unsere bestehenden Rechts- und Verfahrensordnungen und damit auch das Bundesrecht anzupassen. Dem ist Rot-Grün bisher aber leider nur schleppend nachgekommen. Es war noch die CDU/CSU-geführte Bundesregierung, die bereits 1997 mit dem Signaturgesetz die rechtlichen Voraussetzungen für die Verwendung der digitalen Signatur in Deutschland als einem der ersten Länder geschaffen hat. Damals war Deutschland noch Vorreiter im Bereich der elektronischen Kommunikation. Aber erst im Jahr 2001 hat dann Rot-Grün unter anderem mit dem Formvorschriftenanpassungsgesetz und dem Zustellungsreformgesetz die ersten kleinen Schritte zur Öffnung der Justiz für den elektronischen Rechtsverkehr unternommen. Es mussten weitere vier Jahre vergehen, bis die rot-grüne Bundesregierung mit dem heute vorliegenden Justizkommunikationsgesetz endlich das Schließen einer rechtlichen Lücke auf dem Weg zum - wie es so schön heißt - elektronischen Workflow bei Gericht veranlasst hat. In Österreich - so der Deutsche EDV-Gerichtstag werden beispielsweise bereits 60 Prozent aller Zivilklagen elektronisch erhoben, und zwar, wie wir in einem Berichterstattergespräch vom BMJ erfahren haben, offenbar auch reibungslos. Vielleicht ist das österreichische Beispiel für die Justizministerin wenigstens ein Ansporn, nun zügig den schon lange angekündigten Gesetzentwurf oder mindestens Referentenentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie SLIM IV zum elektronischen Handelsregister - deren Umsetzung wird bis zum Jahr 2007 gefordert - vorzulegen. Mit dem heute zu verabschiedenden Justizkommunikationsgesetz sollen der Zivil-, der Arbeits-, der Verwaltungs-, der Finanz- und der Sozialgerichtsprozess sowie das Ordnungswidrigkeitenverfahren umfassend für den elektronischen Rechtsverkehr geöffnet werden. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßen dieses Ziel und werden dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Er war nicht nur lange überfällig, sondern er ist auch notwendig. Um was geht es? Die Verfahrensbeteiligten, also Anwälte und Betroffene, sollen in allen Bereichen der Gerichtsbarkeit die Möglichkeit erhalten, elektronische Kommunikation parallel zur herkömmlichen papiergebundenen Schriftform oder mündlichen Form rechtswirksam zu nutzen. Selbstverständlich können rechtsuchende Bürger ihre Schriftstücke nach wie vor in Papierform bei den Gerichten einreichen. Im Bereich des Strafverfahrens wird zunächst lediglich die Möglichkeit geschaffen, elektronisch zu kommunizieren. Eine elektronisch geführte Akte ist vorerst noch nicht vorgesehen. Aber auch da, denke ich, müssen wir, wie es so schön heißt, am Ball bleiben. Das Gesetz regelt unter anderem die Voraussetzungen für die Onlineakteneinsicht der Verfahrensbeteiligten bis hin zur elektronischen Beglaubigung durch Notare. Auch enthält es Regelungen hinsichtlich der Anforderungen an elektronische Dokumente; denn auch das elektronische Dokument - die Klage, das Urteil, der Schriftsatz - muss authentisch sein. Das heißt, es muss sichergestellt sein, dass es auch tatsächlich von dem Verfasser stammt und nicht verändert worden ist, dass also elektronische Dokumente nicht manipuliert werden können. Dazu soll nach dem Justizkommunikationsgesetz die qualifizierte elektronische Signatur in den Verfahrensordnungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Fachgerichte immer dort eingesetzt werden, wo nach bisheriger gesetzlicher Regelung die handschriftliche Unterzeichnung notwendig ist. Die technischen Sicherheitsanforderungen hinsichtlich der Authentizität der qualifizierten elektronischen Signatur sind allerdings außerordentlich komplex. Das Sicherungsverfahren bei der qualifizierten elektronischen Signatur mittels so genannter Hash-Algorithmen in allen Einzelheiten zu verstehen, bedarf fast schon eines Studiums und ist - das gestehe ich freimütig ein - dem einen oder anderen Juristen nicht so ohne weiteres zugänglich. Derzeit ist nach den technischen Erkenntnissen aber wohl von einem ausreichenden Schutz vor Manipulation der mit dieser Signatur versehenen Dokumente auszugehen. Angesichts des technischen Wandels wird es insbesondere für die Archivierung der elektronischen Akte notwendig sein, die dauerhafte Lesbarkeit auch technisch sicherzustellen. Das, denke ich, ist ein Problem bzw. ein Thema, das uns noch das eine oder andere Mal beschäftigen wird. Mit dem Justizkommunikationsgesetz wird auch die Beweiskraft sowohl von originär elektronisch erstellten Urkunden als auch von Urkunden, die aus der Papierform in ein elektronisches Dokument transferiert worden sind, geregelt. Es wird sich in der Anwendung und Praxis zeigen müssen, inwieweit die Beweisregeln elektronischer Dokumente der Rechtssicherheit und dem Rechtsschutz genügen. Ich sage dies insbesondere im Lichte der letzten Änderung des Signaturgesetzes, in dem zur besseren Akzeptanz der elektronischen Unterschrift bei den Bürgerinnen und Bürgern die Barrieren und Hemmnisse sinnvollerweise abgebaut wurden. Ob der medienbruchfreie Erwerb einer Signaturkarte, also die komplette Antragstellung per Internet - das ist ja das Ziel - auch eine zuverlässige Identifizierung des Signaturkartenantragstellers zweifelsfrei sicherstellt, wird zu beobachten sein. Insbesondere im Lichte der im Justizkommunikationsgesetz vorgesehenen Beweiskraftregeln sollten wir dies im Auge behalten. Es bleibt abzuwarten, wann die elektronische Aktenführung an deutschen Gerichten österreichisches Ausmaß angenommen haben wird. Bund und Länder bestimmen nach diesem Gesetz jeweils für ihren Bereich den Zeitpunkt, von dem an die Prozessakten elektronisch geführt werden können. Projekte des elektronischen Rechtsverkehrs - die Ministerin hat es ausgeführt - laufen bereits sowohl am BGH als auch in allen Bundesländern. Das geht vom elektronischen Briefkasten beim Finanzgericht Cottbus in Brandenburg bis hin zum elektronischen Grundbuch und Handelsregister in Bayern. Wir werden die weitere Entwicklung auf dem Weg zur tatsächlich elektronisch geführten Akte aufmerksam verfolgen und begleiten; denn zweifelsohne wird die elektronische Akte neben der schnelleren und besseren Information auch deutliche Entlastungspotenziale für die Justiz bringen. Dabei meine ich nicht in erster Linie den Kostenfaktor, der in diesem Zusammenhang immer diskutiert wird, sondern mehr die höhere Effizienz der Arbeit der Gerichte, zum Beispiel allein schon durch die jederzeitige Verfügbarkeit einer elektronisch geführten Akte für die jeweiligen Sachbearbeiter. Im Interesse des Rechtsuchenden sollten Bund und Länder alle Anstrengungen unternehmen - darüber sind wir alle uns sicherlich einig -, zügige und dienstleistungsorientierte Gerichtsverfahren zu ermöglichen. Was aber nutzt aller Einsatz, um eine Entlastung und effizientere Arbeitsweise der Justiz zu erreichen, wenn - das muss ich an dieser Stelle erwähnen - Rot-Grün durch das anstehende Antidiskriminierungsgesetz künftig für eine wahre Prozesslawine sorgen wird? ({1}) Meine Damen und Herren Rechtspolitiker von SPD und Grünen, es ist ja mehr als bedauerlich und bezeichnend, dass der Rechtsausschuss in dieser Frage nicht federführend ist. Deswegen appelliere ich an Sie, bremsen Sie diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte und Arbeitsgerichte. ({2}) Auch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass wir heute mit dem Justizkommunikationsgesetz auch eine Korrekturregelung zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe beschließen werden. ({3}) - Das war kein Flop. - Im Rahmen der Gesetzgebung zu Hartz IV Ende 2003 hat es Rot-Grün versäumt, mit den Änderungen im Sozialhilferecht die notwendigen Anpassungen im Bereich der Prozesskostenhilfe vorzunehmen. Dadurch ist es faktisch zu einer untragbaren Ausdehnung des Kreises der Berechtigten gekommen, denen bei relativ hohem Einkommen eine PKH-Bewilligung zuzugestehen wäre. Selbstverständlich war daher eine entsprechende Korrekturregelung vorzunehmen. So wird das Parlament zur Reparaturwerkstatt von Rot-Grün. ({4}) Da die Korrekturen inhaltlich im Ergebnis an die bis zum Jahresende 2004 geltende Regelung wieder anknüpfen, diese sogar noch leicht aufgestockt wird, ist die Korrektur sachgerecht. Inakzeptabel bleibt dennoch, dass erst ein Jahr vergehen musste, bis Rot-Grün dieses Versäumnis erkannt und korrigiert hat. ({5}) Abschließend darf ich mich noch für die konstruktiven Berichterstattergespräche im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bei den Kollegen und bei den Mitarbeitern des BMJ ganz herzlich bedanken. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Christian Ströbele, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Morgen, Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch Ihnen sage ich: Guten Morgen! Ich habe in den letzten Wochen mühsam gelernt, was das Gesetz bedeutet. ({0}) Als ich vor fast 40 Jahren angefangen habe, als Rechtsanwalt tätig zu werden, da gab es ({1}) zwar schon Bleistifte, aber noch keine Kopiergeräte und auch nicht die kleinen handlichen Diktiergeräte. All das gab es damals nicht. ({2}) Wenn ich Akteneinsicht nehmen wollte, bin ich zum Gericht gefahren, habe mir die Akten vorlegen lassen und habe dann viele Stunden gesessen, um ein Exzerpt anzufertigen. Bei besonders gut ausgestatteten Anwaltskanzleien nahm man einen Mitarbeiter bzw. meistens eine Mitarbeiterin mit, die dann stenografiert und so möglichst viele Teile der Akten übertragen hat. ({3}) Danach kamen die Kopierer. Die Folgen waren nicht nur Arbeitserleichterung und bessere Möglichkeiten, sich auf Verfahren vorzubereiten, sondern auch, dass die Akten immer dicker wurden. ({4}) Man konnte sie bald nicht mehr tragen. In größeren Strafprozessen brauchte man Hilfspersonal, um all seine Akten überhaupt mit zu Gericht nehmen zu können. Technische Neuerungen haben also immer mehrere Seiten. Die Diktiergeräte haben die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter ersetzt, die bzw. der zum Diktat im Büro erschien. Auch da ist viel persönlicher Kontakt auf der Strecke geblieben. Das muss man einfach einmal so feststellen. ({5}) In Zukunft muss ich offenbar gar nicht mehr zum Gericht oder zur Staatsanwaltschaft gehen, um Akten einzusehen, weil es dort ja irgendwann gar keine Akten in Papierform mehr geben wird und - das ist viel wichtiger - weil ich sie zu Hause von meinem Schlafzimmer ({6}) oder vom Büro aus, aus dem Hotelzimmer oder aus dem Zug heraus aufrufen kann. Also immer dann, wenn mir etwas einfällt, wenn ich denke, dass da noch etwas war, was ich vergessen habe, oder wenn ich noch einmal sehen möchte, was in einem bestimmten Dokument steht bzw. was in einem Schriftsatz falsch oder richtig vorgetragen worden ist, ist Akteneinsicht möglich. Das, was uns da bevorsteht, stellt in der Tat eine Revolution bezüglich der Arbeitsweise der Justiz und der Rechtsanwälte dar. Das wird aber, wie ich denke, so schnell nicht kommen; denn das soll jetzt erst einmal angeschoben werden. Es werden zunächst die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die elektronische Aktenführung Realität werden kann. Wir alle werden davon profitieren. Es ist in Zukunft nämlich nicht mehr nötig, seine Schriftsätze erst zu diktieren, sie dann schreiben zu lassen, sie sich dann vorlegen zu lassen, sie dann zu unterschreiben, sie dann eintüten und abschicken zu lassen. Irgendwo passiert bei dieser Kette ja häufig, dass Fristen nicht eingehalten werden. Auch die beliebten abendlichen Treffen der Anwälte am Nachtbriefkasten des Gerichts, wo sie zehn Minuten vor Fristablauf noch einen Schriftsatz einzuwerfen haben, der fristgebunden ist, gehören dann gänzlich der Vergangenheit an. All das wird wegfallen. Man kann bedauern, dass dabei ein Stück Kommunikationskultur verloren geht, es besteht aber überhaupt kein Zweifel, dass es auch eine ganz erhebliche Erleichterung darstellt, wenn das einmal funktioniert. Deshalb sind wir natürlich für dieses Gesetz. Wir haben auch ökologische Gründe, weil in Zukunft wesentlich weniger Papier verbraucht wird und mehr Bäume erhalten bleiben. ({7}) Wir werden alles elektronisch abwickeln, wenn wir es denn können. Für mich war bei diesem Gesetz ganz besonders wichtig, dass - Frau Ministerin hat darauf hingewiesen - es jetzt nicht zwingend eingeführt wird - auch nicht für den Rechtsanwalt Ströbele -, sondern dass ich genügend Zeit habe, alles zu lernen, bis ich es kann. Ich denke, es geht vielen Rechtsanwälten, aber auch Rechtsuchenden so, dass sie die technischen Voraussetzungen erstens nicht zu Hause haben, zweitens nicht beherrschen und dass drittens alles noch so fehleranfällig ist, dass man es nicht von einem Jahr aufs andere einführen kann. Deshalb ist es richtig, dass es für die Anwälte und Rechtsuchenden nach wie vor die Möglichkeit gibt, vor allen Dingen auch in Strafverfahren auf der Papierform zu beharren, dass sie nach wie vor ihr Urteil in Papierform bekommen und dass sie ihren Schriftsatz sowie ihre Beschwerden in Papierform einreichen können. Das bleibt erhalten. Ich habe darüber nachgedacht, ob vielleicht die Richter ungerecht behandelt werden. Denn die Richter müssen diese Aktenführung nutzen, wenn sie über die Landesjustizverwaltung eingeführt wird. Auch da gibt es sicher den einen oder anderen, der schon älter ist und Probleme mit der Technik und mit der Software hat. Aber auch in diesem Fall habe ich mich eines Besseren belehren lassen. Es gibt Übergangsfristen, also die Möglichkeit, zunächst einmal zu lernen, zu studieren und zu schauen. Nach fünf Jahren soll das Ganze evaluiert werden. Dann werden wir uns das Ergebnis ansehen. Ich bin sicher, dass dann das eine oder andere nachgebessert werden muss. Dazu ist dann der Deutsche Bundestag berufen. Aber lassen Sie uns heute dieses Gesetz verabschieden. Soweit ich das sehen kann, ist es einheitlich gewollt, und zwar sowohl von den Vertretern der Rechtsanwälte als auch von den Vertretern der Gerichte. Alle haben es befürwortet. Wir haben das in einem Berichterstattergespräch vorgelegt bekommen. Ich denke, wir sollten diesen Versuch wagen. Den Zug der Zeit können wir nicht einfach sausen lassen, sondern auch ich und wir alle müssen aufspringen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute das Justizkommunikationsgesetz, das der Vereinfachung und der Entbürokratisierung der Justiz dienen soll. Frau Justizministerin hat ja darauf hingewiesen, dass es bereits Beispiele in der höheren Gerichtsbarkeit und beim Bundespatentamt gibt. Erste Erfahrungen konnten also schon gesammelt werden. Im Rechtsausschuss waren wir allerdings skeptisch, ob dieses Ziel wirklich erreichbar ist. Wichtig ist uns natürlich, dass die Transparenz der Justiz erhalten bleibt. Insofern waren die zwei Berichterstattergespräche, die wir durchgeführt haben, sehr sinnvoll, um die vorhandene Skepsis etwas abzubauen. Gerade das österreichische Beispiel lässt die Vermutung zu, dass hier tatsächlich auf lange Sicht - ich muss betonen: allenfalls auf lange Sicht - Einsparungsmöglichkeiten zu erreichen sind. Die Justiz braucht eine Handlungsgrundlage. Wir sind wohl einvernehmlich der Auffassung, dass wir sie schaffen sollten. In Zukunft ist die elektronische Akte mit E-Mail und elektronischer Signatur möglich. Die Anwendersicherheit und damit die Rechtssicherheit scheinen uns gewahrt. Die Länder sind nun gefordert, die Umsetzung zu gewährleisten. Da wird es je nach Finanzausstattung der Länder sicherlich abzuwarten sein, wie die Länder das schaffen. Sehr wichtig ist uns in dieser Debatte, dass es hinsichtlich der elektronischen Anwendung keinen Anschluss- und Benutzungszwang gibt. Also die bisherige Vorgehensweise ist gewahrt und der auf Papier geschriebene Schriftsatz der Anwaltschaft bleibt weiterhin möglich, der ja ohnehin zur Information der Mandantschaft verfasst werden muss. Denn ich glaube kaum, dass sich die Mandantschaft in kürzester Zeit entsprechend umstellt und dann ebenfalls elektronische Akten sozusagen privat führt. Wichtig ist auch, dass der elektronische Anschluss keine Zugangsvoraussetzung für die Anwaltschaft wird. Ich glaube, dass wir hier noch eine ganze Weile zweigleisig fahren werden. Die Erfahrungen mit diesem Gesetz werden wir auf Wunsch der FDP in fünf Jahren im Rahmen einer Evaluation auswerten; denn wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass überprüft werden muss, wie die Umsetzung des Gesetzes funktioniert. Sehr wichtig ist uns auch das Thema Prozesskostenhilfe, das hier ebenfalls mitgeregelt worden ist; die fehlerhafte Handhabung bei der Umsetzung von Hartz IV ist leider erst jetzt entdeckt worden. Darüber, dass die Notwendigkeit einer Regelung besteht, herrscht kein Zweifel. Es ist uns wichtig, dass wir - darauf lege ich großen Wert - im Rahmen der Prozesskostenhilfe den Zugang des bedürftigen Rechtsuchenden zur Justiz weiterhin sichern und nicht sozusagen durch die Hintertür Kürzungen vornehmen, wie es auf Länderebene wohl kurz angedacht war. ({0}) Der Rechtsuchende muss weiterhin einen unkomplizierten Zugang zur Justiz haben, auch wenn er bedürftig ist. Die FDP steht dafür, dass die entsprechenden Möglichkeiten nicht eingeschränkt werden. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Manzewski, SPDFraktion.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe anwesende Freunde der Rechtspolitik! ({0}) Am heutigen Tag debattieren wir hier abschließend über das so genannte Justizkommunikationsgesetz der Bundesregierung. Ziel dieses Gesetzes ist es, künftig die rechtlichen Rahmenbedingungen bei den Gerichten so zu regeln, dass Schriftsätze - das ist schon gesagt worden - in Zukunft statt in Papierform auch elektronisch eingereicht werden können. Es lässt sich leider nicht leugnen, dass der technische Fortschritt auch vor der Justiz nicht Halt machen kann. Die ersten Schritte zu einer Öffnung der Justiz für einen elektronischen Geschäftsverkehr sind ja auch bereits gegangen worden, zum Beispiel mit dem Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften zur Anpassung an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr. Ich erinnere zudem daran, dass es - die Justizministerin hat es schon angesprochen - bereits seit geraumer Zeit möglich ist, zum Beispiel beim Bundesgerichtshof und beim Bundespatentamt Dokumente elektronisch einzureichen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun der zweite Schritt folgen und der Zivilprozess und die Fachgerichtsbarkeiten sowie das Bußgeldverfahren für die gesamte elektronische Aktenbearbeitung geöffnet werden. Es ist dabei sicherlich richtig, dass es sowohl für die Anwaltschaft als auch für die Gerichte selbst Bereiche im Rahmen der Verfahrensabläufe geben kann, für die der elektronische Rechtsverkehr äußerst attraktiv ist. Die Anwaltschaft - auch das ist schon erwähnt worden könnte es leichter haben, selbst fristwahrende Schriftsätze noch kurz vor Beginn der Verhandlung aus dem Büro zum Gericht zu senden. Der mühsame Weg - der Kollege Ströbele hat es angesprochen - zum Gerichtsnachtbriefkasten könnte entfallen, wobei ich sehr interessiert zur Kenntnis genommen habe, dass das für Sie eine Art der Kommunikation darstellt. Ich stelle mir vor, wie das in Berlin aussieht, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen kurz vor Mitternacht ({1}) vor dem Amtsgericht in Charlottenburg treffen und dort diskutieren. Es könnte aber durchaus weiterhin die Möglichkeit bestehen, Kollege Ströbele, das eine oder andere noch vor Ort zu regeln. Die entsprechende Eingangsbestätigung würde umgehend kommen und Akteneinsichtsgesuchen könnte schneller und unproblematischer entsprochen werden. Überhaupt könnte der gesamte Schriftwechsel auf elektronischem Weg sicherlich schneller erfolgen. Für die Gerichte selbst bestünden ebenso Möglichkeiten, hiervon zu profitieren. Abläufe könnten vereinfacht und beschleunigt werden. Die Akte stünde Geschäftsstelle und Richter - das ist wichtig - jederzeit und vor allem gleichzeitig zur Verfügung. Die Protokollierung des Eingangs von Schriftsätzen würde ebenso wie die statistische Erfassung nach Beendigung des Verfahrens automatisch und damit vereinfacht erfolgen. Das wäre sicherlich ein Vorteil. Um dies zu erreichen, muss - das machen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf - das herkömmliche Prozessrecht, das von der Papierform ausgeht, den neuen Techniken angepasst werden. Der Gesetzentwurf enthält dabei nicht nur Regelungen, die sprachlich den neuen Erfordernissen entsprechen. So wird zum Beispiel der Begriff „Vordruck“ durch den Begriff „Formular“ ersetzt oder der Begriff „Schriftstück“ durch den Begriff „Dokument“. Insgesamt werden die Anforderungen an elektronische Dokumente festgeschrieben, da auch bei elektronischen Dokumenten zum Beispiel die Authentizität der Dokumente sichergestellt sein muss. Durch diesen Gesetzentwurf wird der elektronische Rechtsverkehr natürlich nicht vorgeschrieben. Für die Umsetzung dieser Zukunftsvision - auch das ist schon von den Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden - bedarf es noch vieler Schritte. Hierin liegt auch die eigentliche Problematik. Frau Justizministerin, das Ganze macht nach meiner Auffassung nämlich nur dann Sinn, wenn es den Justizbehörden der Länder endlich gelingt, sich auf ein gemeinsames Betriebssystem zu einigen, ({2}) und wenn eine entsprechende flächendeckende Versorgung der Gerichte erfolgt. Ich weiß, dass das nicht Ihre Aufgabe ist, wie fälschlicherweise kolportiert wurde. Das ist vielmehr Aufgabe der Justizbehörden der Länder. Nur wenn dies geschieht, wird sich für die Anwaltschaft die Anschaffung von entsprechender Hard- und Software, insbesondere der teuren Signaturkarte, lohnen. In diesem Zusammenhang ist es nicht angebracht, einen Vergleich mit Österreich zu ziehen. Denn in Österreich gibt es insgesamt nur so viele Anwälte wie allein in Hamburg. Dort ist die Umstellung einfacher zu realisieren gewesen, weil es zwischen den Ländern eine ganz andere Kompetenzaufteilung gibt. Auf diesem Gebiet muss bei uns noch einiges passieren. Die Kosten für Hard- und Software werden der Grund sein, warum meiner Auffassung nach Otto Normalverbraucher auf absehbare Zeit noch nicht am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmen wird. Wie oft haben die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes schon mit dem Gericht zu tun? Für sie werden sich die hierfür notwendigen Anschaffungen einfach nicht rentieren. Das bedeutet natürlich, dass viele Verfahren wie bisher in der bewährten Schriftform geführt werden müssen. Unter dem Aspekt dieser doppelten Aktenführung vermag ich zumindest bei Gerichten der ersten Instanz - jedenfalls auf absehbare Zeit - kein Einsparpotenzial zu erkennen. Lassen Sie mich noch kurz eine weitere Anmerkung machen. Vor meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter bin ich als Richter tätig gewesen. Eines meiner letzten Verfahren betraf eine komplizierte Wiedervereinigungsproblematik im Bereich der Landwirtschaft mit einem Aktenberg von mehreren Hundert Seiten. Wenn ich mir vorstelle, dass ein Richter einen solchen Aktenberg nicht mehr quer lesen und keine Vermerke mehr einfügen, sondern nur noch am Bildschirm bearbeiten kann, dann bin ich nicht sicher, ob die gewünschten Erfolge eintreten. Ich kann mir vorstellen, dass es bei umfangreichen Verfahren für die Richter und natürlich auch für die Anwälte sehr problematisch ist, mit dem elektronischen Rechtsverkehr zu arbeiten. Gleichwohl gilt: Allein aufgrund der zuerst genannten Umstände werden wir nicht umhinkommen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir sollten deshalb positiv an die Sache herangehen. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, uns dies gleichzutun. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Justizkommunikationsgesetzes, Drucksache 15/4067. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4952, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestalten - Ausmaß der Unterbeschäftigung verdeutlichen - Drucksachen 15/3451, 15/4463 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So viel Einmütigkeit, wie wir gerade hatten, wünsche ich mir auch in der Arbeitsmarktpolitik. Aber offensichtlich müssen wir uns mit einer Arbeitsmarktstatistik auseinander setzen, die von der Opposition immer wieder kritisiert wird, die aber schon überholt ist. Anscheinend soll der Eindruck vermittelt werden, dass die Bundesregierung die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen verschleiern würde. Aber weit gefehlt: Das ist nicht der Fall. Gerade die Arbeitsmarktdaten vom Januar zeigen, dass die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger zum ersten Mal in die Statistik aufgenommen worden sind. Daher stieg die Zahl der erfassten Arbeitslosen auf mehr als 5 Millionen an. Wir haben damit eine ehrliche Bilanz vorgelegt. ({0}) Sie haben uns dafür in populistischer Weise beschimpft. Diese Bundesregierung hat Schluss gemacht mit den Tricksereien von vorgestern, die Sie vorgenommen haben. ({1}) - Ja, natürlich. Sie haben unter der Regierungszeit Kohl die ABM und die Schulungsmaßnahmen in der Statistik in der Form bewertet, dass Sie gesagt haben: Das ist nicht unter Arbeitslosigkeit abzubuchen. ({2}) Sie als Opposition versuchen - Sie, Herr Niebel, besonders -, eine unglaubliche Arbeitslosenkampagne zu machen, um die Menschen in unserem Land zu verunsichern. ({3}) Sie behaupten demagogisch, dass mehr Menschen arbeitslos sind als vorher. Das ist falsch. Das wissen auch Sie; aber Sie wiederholen es ständig. Was die Zahl der Arbeitslosen angeht, gibt es natürlich nichts zu beschönigen. Es gibt niemanden in der Regierungskoalition, der das tut. Uns ist das Schicksal der Menschen wichtig. Deshalb kümmern wir uns darum. ({4}) Ich sage Ihnen aber auch: Es ist unseriös, unglaubwürdig und unverantwortlich, wenn Sie den Eindruck vermitteln, es gebe in unserem Land mehr Menschen, Karin Roth ({5}) die jetzt von Arbeitslosigkeit betroffen sind, als vorher. Das stimmt nicht. ({6}) Richtig ist, dass die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger - das sind mehr als 1 Million; das wissen auch Sie -, die bisher keine Chance auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt hatten, seit Januar durch unsere Arbeitsmarktpolitik endlich die Möglichkeit haben, Hilfe zur Arbeit zu erhalten, und zwar systematisch und, gerade was die Jugendlichen angeht, besonders wirkungsvoll. ({7}) Die Langzeitarbeitslosen werden nämlich zum ersten Mal qualifiziert und auch vermittelt. Das ist der entscheidende Punkt. Allein für die Eingliederung - Sie mögen es nicht hören wollen, aber es ist so - stellt der Bund 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das gab es vorher so nicht. ({8}) Die aktivierenden Maßnahmen, mit denen die Menschen gefördert werden und die ihnen eine Lebensperspektive geben sollen, finanziert ausschließlich der Bund. Hinzu kommen die Leistungen für die Hilfe zur Arbeit und für die Kosten der Unterkunft. Auch diese zahlt der Bund. Damit entlasten wir die Kommunen jährlich mit 2,5 Milliarden Euro. Das haben wir getan, um die Finanzkraft der Kommunen zu stärken und um vor allen Dingen im Westen den Ausbau der Kinderbetreuung voranzubringen. Denn der ist bitter nötig, wenn wir die Frauen in Arbeit bringen wollen. Eine fehlende Kinderbetreuung darf kein Hindernis mehr für die Arbeitsaufnahme sein. Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Deshalb ist die Kinderbetreuung dringend notwendig. Dafür setzen wir uns vor Ort ein und dafür soll das Geld ausgegeben werden. ({9}) Im Osten wird jedes Jahr 1 Milliarde Euro mehr für Investitionen zur Verfügung gestellt. Auch das fördert dauerhaft die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir dringend brauchen. ({10}) Wir haben die nötigen Voraussetzungen geschaffen und wir haben vor allen Dingen den Unternehmen neue Anreize geboten, Langzeitarbeitslose einzustellen. Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber, eine erleichterte Existenzgründung, Zusatzjobs und Qualifizierungsangebote, das sind keine überflüssigen Wohltaten für die Betroffenen, sondern manchmal das Einzige, was hilft, um die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. ({11}) Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt vorschlagen, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte zu reduzieren, dann frage ich Sie, Herr Singhammer: Glauben Sie eigentlich an Ihre eigenen Arbeitslosenzahlen oder stimmen sie nicht? ({12}) Denn entweder gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit. Dann gibt es keinen Spielraum, den Betrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken; das wissen auch Sie. ({13}) Oder Sie wollen die Maßnahmen, die für die Langzeitarbeitslosen dringend notwendig sind, schlichtweg streichen und einstellen. ({14}) Oder wollen Sie den Betrag von 11 Milliarden Euro, der uns im Haushalt der Bundesagentur fehlen würde, zum Beispiel durch Schuldenaufnahme ausgleichen? ({15}) Das geht doch wohl auch nicht. Was Sie machen wollen, um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozent zu reduzieren, bleibt Ihr Geheimnis. ({16}) Es ist wahr, Sie haben nichts anzubieten. Was Sie wollen, ist einfach: Sie wollen den Kündigungsschutz und die Maßnahmen für die Eingliederung abschaffen. Zur Förderung wirtschaftlichen Wachstums ist das aber untauglich; auch wenn es Ihnen nicht passt, das zu hören. Wir dagegen haben allein die Unternehmen durch unsere Steuerreform Jahr für Jahr entlastet, und zwar um 18 Milliarden Euro. Jetzt geht es darum, dass die Unternehmen ihre Gewinne wieder investieren und das Kapital nicht schamlos ins Ausland verlagern. Wir haben die Unternehmen entlastet, damit sie hier und nicht anderswo Arbeitsplätze schaffen. ({17}) Es geht auch darum, eine gemeinsame Anstrengung im Bereich Forschung und Entwicklung zu organisieren, damit neue Produkte entstehen können und dadurch wiederum neue Dienstleistungen und Arbeitsplätze. Die Bundesregierung unternimmt diese Anstrengung, indem sie zum Beispiel im Bereich Forschung und Entwicklung 9 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Damit werden Arbeitsplätze geschaffen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({18}) Nicht zufällig ist Deutschland international wettbewerbsfähig. Trotz eines starken Euros sind wir Exportweltmeister. Das belegt auch die steigende Integration Karin Roth ({19}) der deutschen Wirtschaft in den Welthandel. Deutschland ist aufgrund seiner geographischen Lage in der Mitte Europas in einer hervorragenden Position. Deutschland ist die Drehscheibe für zahlreiche Marktpartner. „Made in Germany“ gilt in dieser Welt etwas, und zwar aufgrund der Leistungsfähigkeit des deutschen Mittelstandes. Deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten Sie den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht ständig schlechtreden. So kommen keine Investitionen ins Land. ({20}) Auch Sie haben eine Verantwortung. Lamentieren Sie nicht ständig über fehlendes Wirtschaftswachstum, wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, als den Kündigungsschutz abzuschaffen. Das ist wahrlich ein untaugliches Mittel, um Wirtschaftswachstum zu erreichen. ({21}) Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Lohnstückkosten in Deutschland stabil sind und wir deshalb im internationalen Wettbewerb preislich konkurrenzfähig sind. ({22}) Wirtschaftswachstum entsteht durch Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen. Das ist eine alte volkswirtschaftliche Grundregel. Deshalb genügt der Export alleine nicht, deshalb brauchen wir natürlich auch die Binnennachfrage. Die Binnennachfrage haben wir zum Beispiel durch steuerliche Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger in Höhe von 42 Milliarden Euro gestärkt. Wir unterstützen den Mittelstand, indem wir die Kreditaufnahme für Investitionen erleichtern. Das gilt im Übrigen auch für die Kommunen. In unserer Regierungszeit sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung um 20 Prozent gestiegen. Das sind für uns wichtige Beiträge zur Förderung des Wirtschaftswachstums. Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann müssen Sie auch dafür eintreten, dass wir die Zukunftsaufgaben finanzieren können. Das heißt mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung. Die 3-Prozent-Quote müssen wir erreichen. Das erreichen wir allerdings nur, wenn wir beispielsweise bereit sind, die Eigenheimzulage abzuschaffen. Das tun Sie aber nicht. Dazu sind Sie nicht mutig genug. Sie blockieren. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Sachverständigenrat hat deutlich gemacht, dass gerade die Abschaffung der Eigenheimzulage ein gutes Mittel wäre, um in die Zukunft zu investieren. ({0}) Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie bereit sind, mit uns wirtschaftliches Wachstum zu initiieren, dann tun Sie das. Reden Sie nicht ständig über die Arbeitslosenstatistik! Das hilft den Menschen in diesem Land nicht. Wir brauchen Arbeitsmarktreformen. Die setzen wir um. In Zukunft blockieren Sie die Arbeitsmarktreformen hoffentlich nicht mehr. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer den Überblick über die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland, wer den Überblick über das Ausmaß der Beschäftigungslosigkeit verloren hat, kann die Arbeitslosigkeit in unserem Land natürlich auch nicht zielgenau bekämpfen. ({0}) Nur eine schonungslose Diagnose erlaubt den Einsatz der richtigen Heilmittel. Alle Bemühungen um mehr Klarheit und Wahrheit, Herr Staatssekretär Andres - das sage ich, weil Sie lachen -, ({1}) versucht die Bundesregierung seit Monaten als Polemik und Schlechtreden herabzuwürdigen. Sie selbst sind dafür ein gutes Beispiel. Weil Sie mich gerade reizen, sage ich Ihnen eines: Sie haben in der Sitzung vom 23. September vergangenen Jahres gesagt - ich zitiere -: Die Arbeitslosenzahl wird dann auf 5 Millionen, 6 Millionen oder 7 Millionen aufgeblasen. Wer hat noch mehr zu bieten? Ich habe mich gewundert, dass hier noch niemand 8 Millionen gesagt hat. ({2}) Das haben Sie erklärt. ({3}) Jetzt kommt die schlichte und schlimme Wahrheit ans Licht: Anfang dieses Monats waren 5,037 Millionen Menschen beschäftigungslos; dem stehen nur 268 000 offene Stellen gegenüber. ({4}) Bundeswirtschaftsminister Clement erklärt, ({5}) dass zu diesen ohnehin dramatischen Zahlen noch 1,4 bis 1,5 Millionen hinzukommen. ({6}) Im „Morgenmagazin“ des ZDF hat er am 2. Februar dieses Jahres gesagt: Wir haben 6,5 Millionen Menschen mit teilweise dramatischen Problemen am Arbeitsmarkt; das ist dramatisch hoch und das müssen wir jetzt runterbringen. Jawohl, da hat er Recht. Aber seine Einsicht kommt zu spät. Zuerst hat die Bundesregierung den Flächenbrand Arbeitslosigkeit als eine Ansammlung einiger Lagerfeuer angesehen. Jetzt kommt sie mit ihrer Brandbekämpfungskonzeption nicht voran; denn tatsächlich haben wir den Stand von 8 Millionen Menschen, die ohne Beschäftigung sind und über die Sie sich lustig gemacht haben, bereits erreicht. ({7}) Reiht man 8 Millionen Menschen aneinander, ist das eine 4 000 Kilometer lange Kette. ({8}) Stellt man sich alle Menschen, die arbeitslos sind, in einer Kette aneinandergereiht vor, entspricht das viermal der Entfernung Flensburg-Garmisch. Der Sachverständigenrat bringt die verdeckte Arbeitslosigkeit in allen Einzelheiten ans Licht. Es gibt 1 Million Vorruheständler, darunter bis zu 400 000 über 58-Jährige. 670 000 Menschen befinden sich aufgrund von Arbeitslosigkeit in Altersrente. 136 000 Menschen nehmen an Weiterbildungsmaßnahmen teil. Es gibt 165 000 subventionierte Beschäftigungsverhältnisse, 69 000 Teilnehmer an ABM, 239 000 Ich-AGs und 27 500 staatliche PSAs. ({9}) Hinzu kommen 600 000 1-Euro-Jobs - das wollen Sie angeblich noch in diesem Jahr erreichen - und die stille Reserve, die, eine vorsichtige Betrachtung der Experten zugrunde gelegt, ein Volumen von mindestens 1 Million Menschen hat. Deshalb gibt selbst der gegenwärtige katastrophale Höchststand der Arbeitslosigkeit, der Ende dieses Monats wahrscheinlich erneut um einige Hunderttausend steigen wird, bei weitem nicht das schlimme Bild wieder, das der Realität entsprechen würde. Es ist auch fast egal, ob die Zahl 5 300 000 oder 5 200 000 betragen wird - die Situation ist sehr viel schlimmer. Jetzt sagen Sie, dass diese hohen Zahlen nur durch ein großartiges Reformprojekt, Hartz IV, hervorgerufen worden seien. Den Städten, Gemeinden und Kreisen werfen Sie Unfairness und Täuschung vor. Minister Clement behauptet, er sei darauf hingewiesen worden, dass selbst Koma-, Aids- und Suchtkranke für arbeitsfähig erklärt wurden. ({10}) Ich sage Ihnen: Das ist schäbig und schändlich; denn tatsächlich sind die ausgewiesenen Zahlen viel zu gering. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fehlen noch rund 30 000 bis 40 000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger, welche die optierenden Gemeinden noch gar nicht gemeldet haben; sie müssen also hinzugerechnet werden. Es ist nicht so, dass die Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte ständig neue Höchststände der Arbeitslosigkeit erfinden. Vielmehr ist diese Bundesregierung der Treibsatz dafür, dass sich die Arbeitslosenzahl Tag für Tag um 1 000 erhöht. ({11}) Wenn Sie uns nicht glauben, sollten Sie wenigstens Ihren Genossen in den Kommunen glauben. Beispielhaft nenne ich den Sozialreferenten Graffe, SPD, aus der größten deutschen Kommune, der Landeshauptstadt München. Er sagt: „Einen Verschiebebahnhof kann ich ausschließen.“ Sie sollten einmal mit ihm reden. Für die Fehler, die zu den finanziellen Problemen bei Hartz IV führen, ist der Wirtschaftsminister verantwortlich. Bis zu 6,5 Milliarden Euro mehr als erwartet soll Hartz IV in diesem Jahr kosten. Der einzige und entscheidende Grund sind die falschen Prognosen des Wirtschaftsministeriums. Der Deutsche Städtetag hat bereits im Mai vergangenen Jahres mit 2,4 Millionen Empfängern von Arbeitslosengeld II gerechnet. Sie selbst sind von 2,1 Millionen ausgegangen. 300 000 weniger bedeuten natürlich eine entscheidende Mehrung der Ausgaben. ({12}) Schuld daran sind Ihre frisierten Zahlen gewesen. Sie rechnen immer alles schön und wollen die Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen. Die Ablehnungsquote für Anträge auf Arbeitslosengeld II wurde mit 23 Prozent viel zu hoch angesetzt. Tatsächlich wurden bis jetzt nur etwa 10 Prozent zurückgewiesen. Das wird sich mit Mehrausgaben zu Buche schlagen. Es zieht sich bei Ihnen wie ein roter Faden durch alle Politikbereiche: Zahlensalat produzieren, schönrechnen, ({13}) sich der Realität verweigern und dann den Kommunen die Schuld in die Schuhe schieben - das, Herr Kollege Andres, nenne ich eine Fischerisierung der Wirtschaftspolitik. ({14}) Das Vorzeigeprojekt „Virtueller Arbeitsmarkt“ wird in einem Bericht des Bundesrechnungshofs niederschmetternd beurteilt. Die Einsparprognosen von angeblich 1,1 Milliarden Euro ({15}) werden als eine Luftbuchung bezeichnet. Dafür steigen die Kosten dieses virtuellen Arbeitsmarktes auf fast das Doppelte, auf etwa 100 Millionen Euro. Und wer sich mit diesem neuen Modell eine Vermittlung herbeiklicken will, der klickt mit der Maus ins Leere, weil das System nach wie vor große Mängel hat ({16}) und die Vermittlungsleistung tatsächlich nicht gesteigert werden konnte. Deshalb sage ich an dieser Stelle eindringlich: Stoppen Sie dieses Programm, vor allem was den Bereich der Vermittlung betrifft! Überlegen Sie, wie Sie die Sache in den Griff bekommen können - ob das überhaupt machbar ist -, und prüfen Sie, wie das weitergeht! ({17}) Alles andere wäre ein sorgloser Umgang mit den Beiträgen der Versicherten. Ich sage Ihnen auch: Nehmen Sie unseren Antrag ernst! Wir wollen Klarheit in der Unübersichtlichkeit der Statistiken schaffen und schlagen vor, zunächst ein Zahlenpaar voranzustellen: die positive Zahl, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, und die Zahl derjenigen, die keine Beschäftigung haben. Dieses Zahlenpaar ermöglicht eine präzise Einschätzung des Zustands in Deutschland. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geht zurück; das ist so. Sie liegt zurzeit bei etwa 26 750 000. Daran wird die Krise der sozialen Sicherungssysteme klar. Ein Beispiel: Derzeit erhalten etwa 19,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner eine Altersrente. Die Zahl der Beschäftigungslosen liegt bei annähernd 8 Millionen oder sogar darüber. Wenn Sie das mit der Zahl der überhaupt noch sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Verbindung bringen, sehen Sie, dass mittlerweile ein Beschäftigter - eine Krankenpflegerin oder ein Busfahrer - mit seinen Beiträgen fast für eine beschäftigungslose Person aufkommen muss. Das zeigt die Problematik in ihrer ganzen Schärfe. Ich warne an dieser Stelle vor weiteren Vernebelungsversuchen mit der so genannten ILO-Statistik. Die ILOStatistik, die Sie einführen wollen, um die Vergleichbarkeit mit europäischen Nachbarländern herzustellen, mag durchaus die eine oder andere zusätzliche Erkenntnis bringen. Nun soll diese ILO-Statistik zunächst parallel mit der bisherigen Statistik geführt werden. Wenn das aber dazu führen würde, dass die nach der ILO-Statistik um rund 600 000 Personen niedrigere Zahl der Arbeitslosen irgendwann immer größer würde und die Zahl nach der bisherigen Art der Statistik immer kleiner, dann wäre das eine weitere Unsauberkeit, die keinen Sinn macht. Wie können wir diesem Teufelskreis von ständig mehr Arbeitslosigkeit entfliehen? Der Königsweg ist Wachstum. Wir brauchen mehr Wachstum. Leider ist es so, dass Deutschland, das in der Vergangenheit immer stärker als die Weltwirtschaft gewachsen ist, jetzt deutlich unter dem weltwirtschaftlichen Wachstum bleibt. ({18}) - Da gibt es nichts zu lachen. ({19}) Die Weltwirtschaft ist im vergangenen Jahr um mehr als 5 Prozent gewachsen, die deutsche Wirtschaft um 1,7 Prozent. ({20}) Wir haben nur ein Drittel des Wachstums der Weltwirtschaft erreicht. Damit sich am Arbeitsmarkt etwas ändert, bräuchten wir ein Wachstum von mindestens 1,9 Prozent. ({21}) Nach den Vorhersagen aller Institute werden wir in diesem Jahr leider kein Wachstum von 1,9 Prozent erreichen. Das bedeutet, dass die Zahl der Arbeitslosen leider auch in diesem Jahr zunehmen wird. So bitter und brutal ist die Wahrheit. ({22}) Wachstum kann mit einer anderen Politik und mit klugen politischen Rahmenbedingungen generiert werden. Frau Kollegin Roth, ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Nehmen Sie den Bereich der Energiewirtschaft. Eon hat vor kurzem erklärt, sie würden in den nächsten Monaten damit beginnen, Investitionen in Höhe von 3 Milliarden Euro zu tätigen. Rauch würde aus den Schornsteinen aufsteigen und Arbeitsplätze würden entstehen. Warum tut Eon das doch nicht? - Sie tun es nicht, weil Sie mit dem Energiewirtschaftsgesetz nicht vorankommen und die Bedingungen nicht klar sind. Sie hatten versprochen, dass das Gesetz bis zum 1. Juli letzten Jahres fertig sein sollte. Danach sollte es bis zum 1. Januar dieses Jahres fertig sein. Jetzt sollte es bis Ende Februar fertig sein. Es ist kein Ende in Sicht. Deshalb wird das vorrätige Geld nicht in die Hand genommen. Es passiert nichts. Sie kommen nicht voran und neue Arbeitsplätze werden nicht geschaffen. ({23}) Ich komme zu einem anderen bitteren Kapitel, nämlich den Dienstleistungen. ({24}) Die Dienstleistungsrichtlinie ist das eine, das eigentliche Problem - lassen Sie mich das sagen - ist aber die Dienstleistungsfreiheit, die Grundlage des Ganzen. Warum verlieren plötzlich 10 000 bis 20 000 Schlachter ihren Arbeitsplatz und werden durch Billigarbeiter ersetzt? - Das geschieht, weil Sie die Ausnahmen entgegen unseren Ratschlägen damals nicht richtig gefasst haben. Das ist der entscheidende Grund. ({25}) Ich sage Ihnen an dieser Stelle abschließend: Bevor Sie die illegale Einreise von Arbeitskräften durch eine laxe Visapraxis zulassen, ({26}) sollten Sie sich lieber um die legalen Arbeitsplätze in Deutschland und den Schutz derjenigen, die ein legales Arbeitsplatzverhältnis haben, kümmern. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Thea Dückert, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Singhammer, wir nehmen Ihren Antrag ernst. Das gehört sich so im parlamentarischen Verfahren. Ich nehme aber auch Ihre Rede ernst. Ihre Rede war wirklich ein beredetes Beispiel dafür, wie überflüssig und unsinnig Ihr Antrag ist. ({0}) Am Anfang Ihrer Rede haben Sie zur Beschreibung des Arbeitsmarktes eine Zahl nach der anderen zitiert. Woher haben Sie diese Zahlen genommen, Herr Singhammer? Haben Sie sie selbst geschrieben? - Nein. Sie haben sie aus den beklagten Statistiken genommen. Ich will damit sagen: All die Punkte, die Sie in Ihrem Antrag einfordern - Ausweisung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, der Trainingsmaßnahmen usw. -, sind in den Statistiken enthalten. ({1}) Sie werden dokumentiert und Sie haben die Zahlen genutzt, um die Arbeitsmarktsituation zu beschreiben. Nein, dieser Vorwurf der Verschleierung durch die Bundesregierung, der in Ihrem Antrag enthalten ist, ist schlicht und einfach unverfroren. ({2}) Sie haben ein wirklich merkwürdiges Kurzzeitgedächtnis. Vor sechs Wochen haben wir Hartz IV eingeführt. 150 000 bis 200 000 Menschen sind dadurch zu Recht als Arbeitslose in die Statistik aufgenommen worden. Diese Langzeitarbeitslosen waren über Jahrzehnte hinweg in den Statistiken überhaupt nicht zu sehen; ihre Zahl wurde verschleiert. Noch viel schlimmer ist - die Statistiken sind das eine, wie es den Menschen geht, ist das andere -, dass diese Menschen mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik überhaupt nicht in Berührung gekommen sind. ({3}) Wir haben sie in die Statistik und vor allem in die aktive Arbeitsmarktpolitik aufgenommen. Darum geht es. ({4}) Sie leiden unter einem kollektiven Gedächtnisschwund und haben vielleicht sogar selbst den Versuch zur systematischen Manipulierung von Datenmaterial unternommen. Ihr Verhalten hängt immer von der Perspektive ab, die Ihnen gerade recht ist. Perspektive der Regierung Kohl zu Oppositionszeiten: Es wurden mal eben 150 000 Wahlkampf-ABM aufgelegt und Sie wussten sehr wohl - das haben Sie ja selbst bewirkt -, dass die Teilnehmer an diesen Maßnahmen nicht in der Statistik auftauchten. Perspektive Opposition unter Frau Merkel: Sie verlangen von uns, die stille Reserve in die Statistik aufzunehmen. Die Daten bezüglich der stillen Reserve, die Sie gerade genannt haben, waren allerdings ein bisschen nach oben gerechnet, ({5}) aber egal. Die Daten sind dokumentiert, auch wenn das schwierig ist. Heute ist es Ihnen genehm, dies zu fordern. Allerdings stellt sich mir dann, wenn Sie die stille Reserve in die Statistik aufnehmen wollen, die Frage, wo die 5 Millionen Arbeitsplätze zu finden sind, die der Schwarzarbeit zuzuordnen sind. Darüber reden Sie nicht. Sie machen hier eine unseriöse Hin- und Herinterpretiererei. ({6}) Ihre Forderungen sind auch deshalb dreist, weil Sie selber mit Zahlen, Daten und Fakten in einer Weise umgehen, die zum Teil wirklich unappetitlich ist. Ich will Ihnen dafür ein aktuelles Beispiel nennen. Herr Laumann hat sich vor kurzem zur Schwarzarbeit im Zusammenhang mit der Visavergabe geäußert. Was wird behauptet? Es wird verkündet, dass durch die Visaerlasse 600 000 Schwarzarbeiter aus den GUS-Staaten zu uns gekommen seien, ({7}) wodurch pro Jahr ein Schaden von mehreren Milliarden Euro entstanden sei. Dabei beruft sich Herr Laumann auf Untersuchungen von Professor Friedrich Schneider. Die Untersuchungen von Professor Friedrich Schneider besagen Folgendes: Erstens. Wir haben in den letzten Jahren nachhaltig und nachweisbar einen Rückgang der Schwarzarbeit in Deutschland zu verzeichnen. ({8}) Zweitens. Er belegt, dass dieser Rückgang ein Erfolg der Reformpolitik dieser Bundesregierung ist, sowohl im Bereich des Arbeitsmarktes - beispielsweise Minijobs oder Existenzgründungen - als auch bei der Bekämpfung der illegalen Schwarzarbeit durch unsere Gesetze. Wir sind bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit erfolgreich. Drittens. Herr Schneider zeigt auf, dass der größte Teil der Schwarzarbeit von Inländern gemacht wird und dass von den etwa 5 Millionen „Vollzeitstellen“ in der Schwarzarbeit etwa 100 000 von ausländischen Kräften besetzt werden. Laumann behauptet in dieser Woche, dass 600 000 Menschen über die GUS-Staaten eingereist seien. Er behauptet auch, dass dadurch der Volkswirtschaft ein Schaden in Höhe von über 10 Milliarden Euro entstanden sei. Das, was er verbreitet, ist eine unglaubliche Unwahrheit. ({9}) Gleichzeitig entsteht dadurch ein politischer Schaden; denn damit werden die Bürgerinnen und Bürger aus den GUS-Staaten, die zu uns reisen, unter Kollektivverdacht gestellt. ({10}) Zu Recht hat sich Herr Schneider gestern an die Presse gewandt und Herrn Laumann aufgefordert, seine Daten und wissenschaftlichen Untersuchungen nicht mehr für seine politischen Parolen zu missbrauchen. Sie reden hier über eine Neugestaltung der Statistiken, aber Sie sind diejenigen, die Zahlen, Daten und Fakten so auslegen, wie es Ihnen in Ihr politisches Konzept passt. ({11}) Reden wir einmal über Menschen, die nicht als Arbeitslose in der Statistik auftauchen, nämlich Zahlen betreffend die Ich-AGs. Erste Ergebnisse liegen vor: 80 Prozent der Menschen befinden sich auch nach einem Jahr noch in einer Ich-AG. ({12}) Sie behaupten, dass diese Projekte fehlgeschlagen sind. ({13}) Wir wissen heute, dass etwa 10 Prozent der Menschen wieder arbeitslos werden. Wir wollen, dass die Menschen in Deutschland gerade in einer so schwierigen arbeitsmarktpolitischen Situation den Mut haben, den Weg in die Selbstständigkeit anzutreten. Deswegen fördern wir sie durch Ich-AGs und bei Existenzgründungen. Was machen Sie mit Daten, die statistisch nachweisen, dass diese Projekte gut laufen? Sie interpretieren sie um. Ich habe keine Lust, mit Ihnen vor diesem Hintergrund noch einmal über statistische Klarheit und Wahrheit zu reden. ({14}) Was wir machen müssen, ist, die Chance zu nutzen, die uns die Hartz-IV-Reformen bringen; das ist richtig. Wir müssen mithilfe der Arbeitsmarktpolitik verstärkt fördern, beraten und helfen, die Menschen wieder zu integrieren. Ich sage es noch einmal: Die Arbeitsmarktzahlen - sie liegen auf dem Tisch, Herr Singhammer - sind unbefriedigend; das ist völlig klar. Aber - auch das ist wahr - wir haben mit unseren Arbeitsmarktreformen darauf reagiert und wir werden die Chancen, die sich ergeben, nutzen, zum Beispiel mit der Jugendhilfe, die den Jugendlichen vor Ort mit verstärkten Anstrengungen und einer besseren Kooperation Perspektiven eröffnet. Auch die Binnenkonjunktur ist noch schwach. Deswegen ist es wohl an der Zeit, dass wir den Kommunen zum Beispiel über die KfW helfen, Investitionen zu tätigen. Ich bin aber nicht dafür - das betrifft auch die heutige Debatte -, nach sechs Wochen Hartz IV schon über Detailänderungen zu reden. ({15}) Das aber fordern Sie ein und auch die Gewerkschaften zum Beispiel fordern das ein. Ich habe gestern mit Erstaunen gelesen, dass vor Änderungen im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik gewarnt wird. Es wird davor gewarnt, dass wir bei den Zuverdiensten Verbesserungen einführen. Ich halte das für einen völlig falschen Weg der Gewerkschaften. Unsere Arbeitsmarktpolitik ist auf Integration ausgerichtet. Wenn heute Langzeitarbeitslose keinen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden, selber aktiv werden und sich selber einen Zuverdienst suchen, dann ist es nach meiner Ansicht nicht gerecht, dass jemand von einem Zuverdienst von beispielsweise 400 Euro nur 57 Euro behalten kann. ({16}) Ich glaube, dass das nicht weiterhilft. Ich bin übrigens froh, dass Frau Merkel Herrn Koch und Herrn Wulff von der Bremse geholt hat; denn dass das heute so ist, haben Sie von der Union zu verantworten, weil Sie im Vermittlungsausschuss auf der Bremse standen. Wir wollten etwas anderes machen, weil wir auf Integration setzen. Ich komme zum Schluss. Der Zuverdienst ist auch für die Menschen, die keine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, ein wichtiger Baustein. Für meine Begriffe hat das mit Detailänderungen nichts zu tun; das ist vielmehr die Verstärkung dessen, was wir wollen. Wir wollen den Menschen Brücken bauen und ihnen in den ersten Arbeitsmarkt verhelfen. Das wollen wir durch eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik flankieren. Danke schön. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeitslosenstatistik ist über die Jahrzehnte hinweg, übrigens unabhängig davon, wer regiert hat, zum politischen Kampfmittel verkommen. Wofür brauchen wir denn eigentlich eine Arbeitsmarktstatistik? Sie sollte uns doch normalerweise das Ausmaß der Unterbeschäftigung in einem Land aufzeigen, damit wir auf dieser Grundlage die richtigen politischen Entscheidungen treffen können. Sie sollte uns eine Hilfestellung dafür geben, entscheiden zu können, welche politischen Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um Unterbeschäftigung abzubauen und Beschäftigung aufzubauen, um Investitionen und Wachstum zu ermöglichen und dadurch auch die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme zu verbessern. ({0}) Nichts von alledem macht die jetzige Arbeitslosenstatistik. Ich will nicht die Zahlen wiederholen, die der Kollege Singhammer genannt hat. Aber das Ausmaß der Unterbeschäftigung in Deutschland ist höher als die Anzahl der registrierten Arbeitslosen. Das weiß auch jeder. Auch weiß jeder, dass derjenige, der in einer Trainingsmaßnahme ist, zum Beispiel in einem vierzehntägigen Bewerbertrainingsseminar, selbstverständlich immer noch arbeitslos ist. Jeder weiß, dass eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme kein reguläres sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist, selbst wenn der Mensch, der in dieser Maßnahme ist, individuell das Gefühl hat, einen Arbeitsplatz zu haben. Es ist aber kein wirklicher Arbeitsplatz. Es besteht auch während einer derartigen Maßnahme immer noch der Vorrang der Vermittlung, sodass man nach Recht und Gesetz jederzeit eine Maßnahme abbrechen müsste, um einen ungeförderten regulären Arbeitsplatz anzunehmen. Daher machen wir uns mit den Zahlen, die hier regelmäßig vorgelegt werden, schlichtweg etwas vor. Sie bilden keine anständige Entscheidungsgrundlage für politische Weichenstellungen. Deswegen müssen wir sie verändern. Es lohnt sich nicht, sie so zu verändern, wie Sie es vorhaben. Sie wollen die Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit neben die der Internationalen Arbeitsorganisation stellen, die noch dazu einen anderen Monat beleuchtet, sodass der unbedarfte Leser vielleicht gar nicht mehr weiß, worum es geht. Die Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation macht vor allem eines: Sie zählt denjenigen nicht als Arbeitslosen, der eine Stunde in der Woche arbeitet. Nun mag es Regionen in der Welt geben, wo es wichtig ist, eine Stunde in der Woche zu arbeiten, aber in unseren Regionen dient Erwerbsarbeit doch in aller Regel dazu, den Lebensunterhalt zu gewährleisten. Den Stundenlohn hätte ich schon gerne, der das bei einer Stunde Arbeit pro Woche gewährleistet. Das ist vielleicht ein Instrument, das die internationale Vergleichbarkeit herstellt, das aber nicht das Problem löst und uns keine Handlungsanweisung für politische Entscheidungen mitgibt. ({1}) Ich möchte mit den Gerüchten aufräumen, die immer wieder gestreut werden, nämlich dass die Sozialhilfeempfänger neu in die Statistik aufgenommen worden seien. Jeder weiß doch, dass die Sozialämter flächendeckend in der Bundesrepublik ihre Hilfeempfänger zur Agentur für Arbeit bzw. damals noch zum Arbeitsamt geschickt haben mit der Auflage, sich Arbeit suchend zu melden und eigene Bemühungen nachzuweisen. Jeder weiß doch, dass auch Sozialhilfeempfänger durch das Programm „Hilfe zur Arbeit“ gefördert worden sind. Jeder weiß, dass es Verschiebebahnhöfe dergestalt gab, dass Sozialämter jemanden mit Lohnkostenzuschüssen exakt 360 Tage in Arbeit gebracht haben, weil anschließend die Agentur für Arbeit zuständig wurde, aber auch in der Form, dass Sozialhilfeempfänger vom Arbeitsamt nicht für geeignete Arbeitsplätze vorgeschlagen wurden, weil sie vermeintlich günstiger waren; denn sie haben dort keine Leistungen bezogen. Diese Verschiebebahnhöfe wollten wir mit Hartz IV abschaffen. Die Bundesregierung ist schuld, ({2}) dass wir das nicht geschafft haben, weil keine einheitliche Trägerschaft zustande gekommen ist. Diese Regierung hat verhindert, dass die Trägerschaft einheitlich bei den Kommunen liegt und keine Verschiebebahnhöfe mehr entstehen können. Jetzt versteckt sich der Minister hinter Ausflüchten. Im letzten Monat hat er noch darauf hingewiesen, dass die Statistik nun aber wirklich ehrlich sei. Jetzt stellt er fest, dass sich die hohe Zahl von 5 037 142 als arbeitslos registrierten Einzelschicksalen aus Komakranken, Querschnittsgelähmten, Drogensüchtigen und Beinamputierten zusammensetzt. ({3}) Wenn sich der Minister hinter derartigen Ausflüchten vor seiner Verantwortung versteckt, dann ist das ein Skandal! Das ist schäbig! ({4}) Der Minister hat doch selbst die Kriterien für Erwerbsfähigkeit festgelegt. Nach der rentenrechtlichen Regelung ist das derjenige, der drei Stunden am Tag arbeiten kann. Das kann auch der HIV-Infizierte sein, wenn die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist, Kollegin Dückert. Das kann auch ein Mensch sein, dem beide Oberschenkel amputiert wurden, wenn auch nicht als Langstreckenläufer. Auch jemand, der krank ist oder an einer Substitutionstherapie teilnimmt, kann arbeiten. Derartige Therapien sehen Arbeit sogar als Bestandteil der Therapie an. Aber der Minister tut so, als ob die Zahlen, die er zu verantworten hat, durch die Bösartigkeit der Kommunen zustande kämen. Das ist ein Skandal. ({5}) Ein weiterer Skandal besteht darin, dass der Minister immer noch nicht in der Lage ist, die Bundesagentur in den Griff zu bekommen. ({6}) Herr Weise schlägt vor, dass 55-Jährige und Ältere nicht mehr vermittelt werden sollen. Das erinnert mich massiv an das Vermittlungsverfahren Ende 2003, an dem auch Sie beteiligt waren, Frau Roth. Erinnern Sie sich noch, welches Kriterium Herr Gerster hinsichtlich der Frage vorgeschlagen hat, wer erwerbsfähig ist? Er hat das Kriterium der Arbeitsmarktnähe bzw. -ferne vorgeschlagen. Ein älterer, kranker oder schlecht qualifizierter Mensch ist arbeitsmarktferner als ein junger, gesunder oder gut qualifizierter. Dass Herr Weise jetzt dasselbe Kriterium in Bezug auf ältere Menschen in Ostdeutschland vorschlägt, stellt den Versuch dar, die Statistik durch die Hintertür wieder zu entlasten, indem ganze Bevölkerungsgruppen aus den Vermittlungsaktivitäten der öffentlichen Hand ausgegrenzt werden. Das ist unsozial, dreist und nichts anderes als Trickserei. ({7}) Eine solche Trickserei hat auch der Minister betrieben, um seinen Haushalt noch einigermaßen verfassungskonform erscheinen zu lassen, indem er beim ALG II die Zahlen der Ablehnungsquote hochgerechnet und die der Hilfeempfänger heruntergerechnet hat. Denn er wusste schon bei der Aufstellung des Haushalts, dass das Parlament betrogen wurde und dass der Haushalt verfassungswidrig ist. In der gesamten Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung kommt eher Lug und Trug zum Ausdruck als das Bedürfnis, Wachstum, Innovation und Impulse für neue Beschäftigung in diesem Land zu schaffen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres das Wort. ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Niebel, ich empfehle Ihnen dringend, Ihre Begriffswahl und Ausdrucksweise ein bisschen abzurüsten. ({0}) Ich nenne das schäbig, was Sie Minister Clement unterstellt haben. ({1}) Vergangenen Freitag war ich in Heidelberg, wo Sie herkommen. Dort hat mir der AOK-Landesvertreter im Kreishaus eine Liste von Personen überreicht, die inzwischen als arbeitsfähig angesehen werden. Darunter befindet sich beispielsweise der tragische Fall eines beinamputierten Dialysepatienten, der gegenwärtig in einer Klinik liegt. Sie werden doch nicht allen Ernstes behaupten, dass ein solcher Mensch arbeitsfähig ist. ({2}) - Bleiben Sie ganz ruhig! Ich sage Ihnen offen: Es gibt eine ganze Menge solcher Fälle, über die auch in der Presse berichtet wird. Wir werden mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände darüber reden, dass diese Fälle nicht in die Statistik gehören und dass die Betroffenen nicht als erwerbsfähig registriert werden können, weil sie es nun einmal nicht sind. Das hat im Übrigen mit der rentenrechtlichen Definition der Erwerbsfähigkeit, wonach jemand, der drei Stunden arbeiten kann, als erwerbsfähig gilt, zunächst einmal gar nichts zu tun. Damit sind wir beim zweiten Problem. Wir diskutieren zum zweiten Mal über einen Antrag, den man laut Kollegin Dückert ernst nehmen sollte. Aber jeder, der den Antrag liest, wird an der Ernsthaftigkeit relativ schnell zweifeln. Wir haben schon im September vergangenen Jahres lange Zeit damit zugebracht, über dieses wunderbare Schriftstück gemeinsam zu diskutieren. Herr Kollege Singhammer, ich weise Ihre Behauptung entschieden zurück, ich hätte mich über 8 Millionen Arbeitslose lustig gemacht. Lustig mache ich mich über Ihre Ausführungen in den Debatten ({3}) und über manches, was Sie kühn vertreten. Sie haben mich mit den 8 Millionen Arbeitslosen richtig zitiert. Das möchte ich betonen; denn alles andere hilft nichts. Ich möchte Ihnen einmal sagen - das ist während Ihrer Regierungszeit beschlossen und von uns mitgetragen worden; das ist unumstritten -, wen wir gegenwärtig als arbeitslos registrieren. Arbeitslos ist nach SGB III, wer zur sofortigen Arbeitsaufnahme verfügbar ist, sich bei einer Agentur für Arbeit gemeldet hat und gleichzeitig keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder aber weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitet. Derjenige, auf den diese Definition zutrifft, wird als arbeitslos registriert, wenn er denn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Natürlich können Sie nun alle auflisten. Mein Minister hat - um der Debatte den Wind zu nehmen - selbst gesagt: Es ist richtig, dass im letzten Monat 5,037 Millionen Arbeitslose registriert worden sind. Eigentlich muss man noch viele hinzurechnen, die in Maßnahmen stecken. Ein Beispiel: 330 000 Personen sind in der Existenzgründungsförderung. Diese gründen eine Ich-AG oder nehmen Überbrückungsgeld in Anspruch, weil sie sich selbstständig machen. Hätten Sie es gerne, wenn wir diese in der Arbeitslosenstatistik aufführten? Ein weiteres Beispiel: Im Januar dieses Jahres haben 88 000 Menschen, die einer geregelten achtstündigen Arbeit nachgehen, Lohnkostenzuschüsse erhalten. Sollen diese Menschen als arbeitslos registriert werden, obwohl sie beschäftigt sind? Können Sie mir einmal erklären, warum Sie eine solche Unsinnsdebatte heraufbeschwören? Ich habe den Eindruck, dass hier Anträge gestellt werden, nur um irgendwelche Diskussionen vom Zaum zu brechen, die gar nicht hierher gehören. Die in dem Antrag der CDU/CSU aufgeführten Gruppen an Personen, deren Zahl zu der bisherigen Zahl der Arbeitslosen addiert werden soll, sind regelmäßig nicht verfügbar, weil sie entweder verrentet sind, im Vorruhestand oder in Weiterbildungsmaßnahmen sind oder weil sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Auch Menschen, die in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sind, die also regelmäßig jeden Tag zur Arbeit gehen, kann man nicht als arbeitslos registrieren. Was wollen Sie eigentlich? ({4}) Herr Niebel hat behauptet - auch hier empfehle ich mehr Sachlichkeit und Abrüstung -, nun werde nach den statistischen Kriterien der ILO gezählt und danach gelte jeder, der nur eine Stunde arbeite, als nicht arbeitslos. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass viele unserer Nachbarländer das genauso machen ({5}) und dass die Zählung nach ILO-Kriterien völlig richtig ist. Wir haben in der Zwischenzeit die statistischen Voraussetzungen verändert, und zwar - entgegen der Behauptung von Herrn Niebel - mit Zustimmung des Bundesrates. Wir werden künftig die Arbeitslosigkeit nach einem anderen Verfahren messen, wonach 30 000 Menschen befragt werden. Am 1. März dieses Jahres werden zum ersten Mal die mithilfe dieses Verfahrens ermittelte Arbeitslosenquote und Arbeitslosenzahl öffentlich mitgeteilt. Damit sich niemand aufregen muss, werden wir - wir sorgen für Transparenz, damit klar ist, worüber wir reden - die bisher übliche Statistik neben der ILO-Erhebung veröffentlichen. Wir bieten also zwei Parameter an, mit denen man das Problem der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung sowie die Beschäftigung genauer bewerten kann. Ich sage ausdrücklich, dass Herr Niebel mit seinen Einleitungsbemerkungen Recht hat: ({6}) Um das Problem vernünftig lösen zu können, muss man die Tatbestände kennen. Damit komme ich zum dritten Problem. Unsinnigerweise wird von uns gefordert, endlich die Erwerbstätigen in den Mittelpunkt der Statistik zu stellen. Herzlichen Glückwunsch! Das habe ich in der letzten Debatte schon Herrn Fuchs gesagt. Herr Singhammer, Sie entblöden sich nicht, das hier zu wiederholen. Jeder, der die Statistik anschaut, stellt fest, dass sie die Erwerbstätigenzahlen enthält; man kann sie also da nachlesen. Die Bundesregierung sorgt jetzt sogar dafür - das wiederhole ich ausdrücklich -, dass die Erwerbstätigenzahlen früher zur Berechnung der Statistik herangezogen werden. Nach dem bisherigen Verfahren wurden sie immer mit zwei- oder dreimonatiger Verspätung berücksichtigt. Jetzt wird umgestellt: Die jeweils aktuellen Zahlen werden nach einem Monat in der Statistik enthalten sein. In dieser Debatte über die Arbeitsmarktstatistik geht es Ihnen um etwas ganz anderes: Sie haben diesen Antrag eingereicht, damit in der Kernzeit eine Debatte zu einem bestimmten Thema geführt wird. ({7}) Da wird zwar nichts Neues gesagt und auch die Fakten werden nicht zur Kenntnis genommen; aber man kann öffentlich über das diskutieren, was einem gerade so passt. ({8}) Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube, dass Sie die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur Politik mit dieser Vorgehensweise nicht vergrößern; dadurch nimmt sie vielmehr ab. Zu den Zwischenrufen möchte ich sagen: Wir, diese Bundesregierung, haben die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe durchgesetzt. ({9}) Wir zählen jetzt richtig und ordentlich. Sozialhilfeempfänger werden in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen - wir haben das durchgesetzt -: Im letzten Monat waren es über 200 000 Menschen mehr, die in der Arbeitslosenstatistik erscheinen. Aber damit ist - auch das muss klar sein - die Arbeitslosigkeit nicht gestiegen; vielmehr gelten jetzt Menschen in der Statistik als arbeitslos, die schon vorher arbeitslos waren. Was wollen Sie eigentlich? Sie haben die Kraft, das zu machen, doch überhaupt nicht aufgebracht. ({10}) Wir machen das. Wir halten das für richtig und wir stehen auch dazu. Es ist völlig richtig, dass dieser Antrag keine Mehrheit bekommt und abgelehnt wird; denn ihn anzunehmen wäre eine zusätzliche Verhöhnung derjenigen, über die wir hier diskutieren. Das, was wir als Bundesregierung machen, kann sich sehen lassen und wir stehen auch dazu. Schönen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über den Sinn oder Unsinn von Statistiken. Konkret geht es um die registrierten Arbeitslosen. Sie kennen das berühmte Zitat, wonach nur Statistiken zu trauen ist, die man selbst gefälscht hat. Deshalb interessiert mich die Statistikdebatte nur zweitrangig. ({0}) Für die PDS im Bundestag sind das Schicksal und die Zukunft der 5 bis 9 Millionen von Arbeitslosigkeit Betroffenen wichtiger als ihre Erfassung. Allerdings sage ich auch: Die CDU/CSU-Regierung hat das Ausmaß der Arbeitslosigkeit immer verschleiert. Sie wollte nicht wahrhaben und vor allem nicht offenbaren, dass ihre Arbeitsmarktpolitik gescheitert war. ({1}) Ich erinnere mich noch sehr gut an Vorwürfe aus der CDU/CSU, wonach die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern auch deshalb so hoch sei, weil die Frauen im Osten gleichberechtigte Arbeit begehrten, während die Frauen im Westen wohltuend abstinent seien. Das zeigt nur, wie ideologisch mit Statistiken gespielt wird. Die Arbeitslosenstatistik von Rot-Grün ist ehrlicher. Sie kommt der Wahrheit näher, allerdings ohne sie wirklich zu erfassen. In einem der reichsten Länder dieser Welt, in einem der wirtschaftlich stärksten Länder dieser Welt und in einem der ehrgeizigsten Länder dieser Welt nehmen Arbeitslosigkeit und Armut dramatisch zu. Das ist ein Widerspruch. Die Statistik belegt ihn und das ist gut. Aber die Politik befördert diesen Widerspruch und das ist schlecht. ({2}) Im Gegensatz zu Rot-Grün habe ich für die PDS schon im Jahr 2002 gesagt: Die ganze Hartz-Prahlerei wird nicht weniger Arbeitslose bringen, sondern mehr arme Arbeitslose nebst Angehörigen. Die aktuelle Statistik und meine alltägliche Erfahrung geben mir - leider Recht. Deshalb wiederhole ich: Wer den Binnenmarkt schwächt, wer reiche Unternehmen aus der Sozialpflicht entlässt, der handelt sozial ungerecht und wirtschaftlich unsinnig. ({3}) Das sage ich übrigens auch mit Blick auf die CDU/ CSU. Wer unentwegt längere Arbeitszeiten und niedrigere Löhne fordert, der bekämpft die Arbeitslosigkeit nicht, sondern er befördert sie. Wer eine Steuerpolitik fordert, bei der Wohlhabende entlastet und die Kommunen belastet werden, mindert nicht die Arbeitslosigkeit, sondern gibt ihr neue Nahrung. Aus all diesen Gründen lehnt die PDS den vorliegenden Antrag ebenso ab wie die Agenda 2010 nebst Hartz IV. Wir werben stattdessen für eine „Agenda Sozial“. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mir auch diesmal nicht verkneifen, etwas anzumerken, Herr Staatssekretär. Ich möchte übrigens fast sagen „Regierung Andres“; denn Sie sind bei dem wichtigen Thema auf der Regierungsbank richtig allein. Auch angesichts dieses Alleinseins finde ich: Wenn Sie hier reden, geht immer so ein starker Hauch von Arroganz und Besserwisserei durchs Plenum. ({0}) Das ist meines Erachtens dem Thema nicht angemessen. Warum kann man nicht einmal sachlich über ein paar Punkte reden? ({1}) Sie treten hier als Besserwisser auf. Das ist nicht die Art, die die Menschen draußen erwarten. Sie unternehmen den Versuch, alles schönzureden, und sagen: Alles ist in Ordnung; das kann sich sehen lassen. - So haben Sie es gerade wörtlich gesagt. Angesichts dessen frage ich mich, warum Sie die letzten zehn Landtagswahlen nacheinander verloren haben. Die Menschen draußen scheinen das anders zu sehen. Das Thema Arbeitslosigkeit ist das Thema Nummer eins und müsste auch für die Bundesregierung, die hier so voll präsent ist, Thema Nummer eins sein. Vielleicht geben Sie das an das Kabinett weiter, Herr Staatssekretär. ({2}) Wir reden hier über die Arbeitslosenstatistik. Es geht um die Frage, ob wir miteinander über registrierte Arbeitslosigkeit, verdeckte Arbeitslosigkeit, stille Reserve, von mir aus auch Schwarzarbeit reden können. Es geht darum, das einmal zusammen in den Blick zu nehmen, weil es da ja Gemeinsamkeiten gibt. Die Betroffenen sind nicht im richtigen Markt, weil sie Schwarzarbeit machen, oder sie sind nicht im richtigen Markt, weil sie in Maßnahmen sind, oder sie sind nicht im richtigen Markt, weil sie sich nicht trauen, sich zu bewerben, weil sie keine Chancen sehen; das ist die stille Reserve. Ein paar davon, so sage ich einmal - zurzeit sind es 5,037 Millionen -, sind statistisch registriert. Das ist das Einzige, was die Betroffenen unterscheidet. Es ist doch wohl angezeigt, sich einmal darüber zu unterhalten, ob das alles so sinnvoll ist. ({3}) Wir führen hier eine Statistikdiskussion, während die Arbeitslosigkeit, auch die registrierte Arbeitslosigkeit, den Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erreicht hat, Frau Roth. ({4}) Es sind 435 000 mehr als im selben Monat des Vorjahres. Es sind 573 000 mehr als im letzten Jahr. Sie können das alles nicht mit der Umsetzung von Hartz IV erklären. ({5}) - Natürlich nicht! Die Zahlen wären auch so nach oben gegangen. Es sei Ihnen aber zugestanden, dass das hinzukommt. ({6}) Sie haben durch das, was da passiert, auf dem Arbeitsmarkt - den Eindruck habe ich jedenfalls -, ein totales Chaos angerichtet. ({7}) Spätestens an der Stelle muss man den Mut haben, einfach einmal zurückzublicken und zu fragen, wie denn der Bundeskanzler Gerhard Schröder hier angetreten ist. In der Regierungserklärung 1998, zu Beginn der sechs Jahre, die wir jetzt hinter uns haben, hieß es: Wir wollen uns jederzeit daran messen lassen …, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Bei diesem Höchststand habe ich nicht den Eindruck, dass Sie einen großartigen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet haben. ({8}) Dann gab es die Aussage, dass man zum Ende der letzten Legislaturperiode hin bei 3,5 Millionen registrierten Arbeitslosen sein wollte. Auch daran muss man doch zumindest erinnern können. Die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit hat der Bundeskanzler längst abgegeben. Die Sache scheint ihm zu heiß geworden zu sein. Er hat den Mantel der Verantwortung in die Garderobe von Wirtschaftsminister Clement gehängt und ausdrücklich gesagt: Du bist für den Arbeitsmarkt und für Hartz IV zuständig. ({9}) Man muss sich das einmal vorstellen: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht bereit, die Hauptverantwortung dafür zu übernehmen, dass sich auf dem Arbeitsmarkt endlich etwas bewegt. Das müsste für ihn Thema Nummer eins sein. Er müsste bei einer solchen Debatte hier sein. ({10}) Herr Clement hat zu Beginn dieses Jahres zur Umsetzung der Hartz-Reform, also der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, gesagt: Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Die Zeit der Dunkelziffern und Verschiebebahnhöfe ist vorbei. - Es ist drei, vier, fünf Wochen her, dass er das gesagt hat. Ich habe im Moment den Eindruck: Die Dunkelziffer wird wieder etwas größer. ({11}) Angesichts des Streits mit den Kommunen ({12}) und der Diskussion darüber, ob man ältere Langzeitarbeitslose in Ostdeutschland mit etwas anderem bedienen soll, habe ich nicht den Eindruck, dass die Zeit der Verschiebebahnhöfe vorbei ist. Hier ist wieder Verschieberei in großem Maße im Gange. ({13}) Lassen Sie mich auch zum eigentlichen Thema noch einige Sätze sagen. Wir wollen ja hier über die Statistik reden, ({14}) auch wenn wir bisher über alles Mögliche geredet haben, was den Arbeitsmarkt betrifft: Was spricht denn dagegen, dass man sich einmal ernsthaft die Mühe macht - das ist der Kernpunkt unseres Antrages -, die wirkliche Unterbeschäftigung festzustellen? ({15}) Sicherlich findet man viele Zahlen. Ich habe mich in den letzten zwei Tagen immer dann, wenn ich Zeit hatte, mit den Statistiken auseinander gesetzt. Wir haben so viele Zahlen, dass keiner mehr weiß, welche richtig und wichtig sind. ({16}) Ich will damit nicht sagen, dass die nicht alle notwendig sind. Warum bringen wir aber nicht die Kraft auf, einmal wirklich über das Thema Unterbeschäftigung zu reden ({17}) und hierbei nicht nur über die Kategorie registrierter Arbeitsloser, sondern auch über die Menschen in Maßnahmen? Selbst der Sachverständigenrat redet ja davon, dass es sich hierbei um eine Form verdeckter Arbeitslosigkeit handelt. Lassen Sie uns also auch einmal darüber reden, statt in diesem Bereich nur mit Verschiebebahnhöfen zu arbeiten. Gerade im letzten Jahr haben Sie Menschen, die Trainingsmaßnahmen absolvieren, also klassische Maßnahmen, durch die man auf den Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet wird, aus der Statistik herausgenommen. Dabei suchen diese Menschen natürlich Arbeit. Sie bereiten sich ja gerade darauf vor, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Sie aber sagen, weil sie sich in einer Maßnahme befinden, zählen sie nicht. Es muss endlich damit aufgehört werden, mit einer solchen Art von Verschiebebahnhöfen zu arbeiten. Noch einige Stichworte zu den Zahlen. Ich habe mir hier die Frage aufgeschrieben: Haben wir schon eine Unterbeschäftigung in einer Größenordnung von 9 Millionen? ({18}) - Sehen Sie, das habe auch ich mir gedacht. - Sie finden inzwischen aber solche Aussagen, weil wir nicht den Mut haben, einmal alle Zahlen zusammenzuführen. Sie finden in dieser Woche in der „Welt“ unter der Überschrift „Die Statistik trügt“ ein Beispiel. Da wird versucht, alles zusammenzuzählen; dabei kommt der Autor auf 9 Millionen. ({19}) - Auch die „Süddeutsche Zeitung“ schafft das, genauso wie die „Wirtschaftswoche“. ({20}) Ich habe das Gefühl, der Etikettenschwindel besteht darin, dass Sie nicht die Kraft aufbringen, einmal mit uns gemeinsam eine Statistik aufzustellen, in der alle Zahlen zusammengebracht werden. Dann würden wir wissen, wie hoch die Unterbeschäftigung in Deutschland wirklich ist. Sie liegt wesentlich höher als die Zahl, die uns im Zusammenhang mit registrierten Arbeitslosen ständig genannt wird. ({21}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch gleich eine Frage unterbringen, die vorhin eine Rolle gespielt hat. Es geht um die Visaproblematik. In dem Zeitraum, wo Visa sehr locker ausgegeben worden sind, sind immerhin 5,6 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Glauben Sie wirklich, Frau Dückert - Sie haben das Thema ja angesprochen -, dass diese 5,6 Millionen Menschen, die über Kiew, Moskau und andere Stellen eingereist sind, nach Deutschland gekommen sind, um den Kölner Dom zu besichtigen oder im Schwarzwald Urlaub zu machen? ({22}) Wenn Sie das wirklich glauben, zeugt das von sehr viel Naivität. Hierdurch ist auch ein großer Schaden durch Schwarzarbeit entstanden. ({23}) Wir diskutieren das heute vor dem Hintergrund von 5 Millionen registrierten Arbeitslosen. Schauen Sie dabei einmal in den Bereich der Jugendlichen: 635 000 Jugendliche unter 25 sind arbeitslos und 410 000 junge Menschen befinden sich in Maßnahmen der BA. Allein schon das Verhältnis von 635 000 registrierten Jugendlichen zu denjenigen, die nicht registriert werden, weil sie sich in Maßnahmen befinden, ist interessant. Insgesamt kommen wir auf über 1 Million junger Menschen, die nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt angekommen sind. Das ist die Realität in Deutschland. ({24}) Lassen Sie mich eine weitere wichtige Zahl in den Vordergrund rücken. Sie haben es sich in der letzten Zeit angewöhnt, besonders auf die Zahl der Erwerbstätigen hinzuweisen. Ich glaube, die wichtigere Zahl ist die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. ({25}) Hierbei handelt es sich um die Arbeitsverhältnisse, die ich nach wie vor als typisch für Arbeitnehmer ansehe, Frau Dückert. Schauen Sie sich einmal die Entwicklung in diesem Bereich an: Im September 2001 gab es davon 28,2 Millionen, 2002 27,8 Millionen, 2003 27,2 Millionen und 2005, also ganz aktuell, 26,7 Millionen. Das sind 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte weniger und damit auch 1,5 Millionen Arbeitsplätze weniger. Hier sieht man das Problem, das wir haben: Es gibt zu wenig Arbeitsplätze, um die Leute aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen. Das ist das zentrale Thema, dem Sie sich doch endlich einmal widmen sollten. ({26}) Ich will noch einige Sätze zu Hartz sagen, weil das ja der große Wurf sein sollte. ({27}) - Wir haben nicht allen Teilen von Hartz zugestimmt; es gibt ja immerhin Hartz I bis Hartz IV. Da gibt es zum Beispiel die PSA, die PersonalService-Agenturen. In diesem Zusammenhang sind jährlich 350 000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs versprochen worden. ({28}) Realität zum Stand Januar: Es sind 27 500. Bei der Ich-AG, dem großen neuen Instrument - ich würde auch erst einmal abwarten, wie das zweite Jahr der Ich-AGs aussehen wird -, sind jährlich 500 000 Jobs versprochen worden; bis jetzt sind es 240 000 geworden. Das Programm „Kapital für Arbeit“, der so genannte Job-Floater, war so erfolgreich, dass Sie es bereits im Frühjahr letzten Jahres eingestellt haben. ({29}) Es hat viel Geld gekostet und statt der jährlich 120 000 neuen Jobs jährlich 12 800 gebracht. Auch über Hartz, so muss man feststellen, sind die Menschen nicht nur in den ersten Arbeitsmarkt gekommen, sondern auch in Bereiche, die der Sachverständigenrat zu der verdeckten Arbeitslosigkeit rechnet. Das muss an der Stelle einmal gesagt werden. Ich möchte die letzte Minute meiner Redezeit auf die Frage verwenden: Wie gehen wir mit älteren Arbeitslosen um? Wir brauchen diese älteren Menschen auf dem Arbeitsmarkt, weil sie Erfahrung haben, und führen zurzeit eine Diskussion darüber, ob wir die Lebensarbeitszeit verlängern müssten. ({30}) Parallel dazu läuft die Diskussion darüber, wie man mit den älteren Arbeitslosen umgehen soll. Der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit hat diese Frage ja in dieser Woche angesprochen. ({31}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es geht nicht an, dass wir uns überlegen, diese Personen aus der Arbeitsmarktstatistik und den entsprechenden Zahlungen herauszunehmen, sodass mit einem Schlag wieder 181 000 Menschen aus den entsprechenden Leistungen herausfielen und auf der Straße stünden. Mit dem Punkt, den Herr Weise angesprochen hat, ({32}) hat er genau den Finger in die Wunde gelegt. ({33}) Wir können arbeitsmarktpolitische Maßnahmen auflegen und Statistikzählereien machen, wie wir wollen - es bleibt dabei, dass wir uns der Frage stellen müssen, die Karl-Josef Laumann in der letzten Woche aufgeworfen hat: Wir müssen uns ganz verstärkt - das gilt auch noch für die Zeit, die Sie haben, bis Sie abgewählt werden der Frage zuwenden, wie wir Menschen in den ersten Arbeitsmarkt bringen, wie wir Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt generieren können, wie wir alle Politikfelder auf das Ziel orientieren können, das da lautet: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Denn das hilft allen Systemen, das hilft den Menschen und das würde notfalls sogar Ihnen helfen, wiedergewählt zu werden. Wenn Sie sich nicht ändern, werden Sie bei einer der nächsten Wahlen Ihre Mehrheit verlieren. Das kann ich Ihnen garantieren. ({34})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Werner Bertl, SPD-Fraktion.

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in meiner schon ziemlich langen politischen Arbeit drei Punkte gelernt, nämlich erstens die Opposition ernst zu nehmen, zweitens mich mit Anregungen und Vorstellungen der Opposition ernsthaft auseinander zu setzen und drittens grundsätzlich der Opposition nicht schlechte Absichten zu unterstellen. Ich fand diese Grundsätze immer gut; auch ich war mal in der Opposition. ({0}) Ich wäre auch gern mit Ihrem Antrag so verfahren. Allerdings ist es zu offensichtlich, dass es Ihnen schon bei Antragstellung, am 29. Juni letzten Jahres - in Kenntnis der Tatsache, dass die Systematik in der Statistik mit Wirkung zum 1. Januar dieses Jahres geändert werden würde -, ausschließlich darum ging, den Eindruck zu vermitteln, dass alle Daten, die in Deutschland über den Arbeitsmarkt erhoben werden, Lug und Trug seien und dass das einzige Ziel einer bundesweiten Sammlung von Daten sei, den Menschen die tatsächliche Situation zu verschleiern. An dieser Stelle wird - das sage ich Ihnen ganz ehrlich, meine Damen und Herren - Opposition für mich fragwürdig. ({1}) Ich sage Ihnen noch etwas: Noch haben nicht alle hier in diesem Land vergessen, wie Sie 1998 die Statistik verbogen und frisiert, 400 000 Menschen in Wahl-ABM geschoben und so die Menschen getäuscht haben. ({2}) Im Gedächtnis ist übrigens auch, dass Arbeitslosengeldbezieher in vorruhestandsähnlichen Maßnahmen - § 428 SGB III - seit 1986, als diese Regelung eingeführt wurde, nicht mehr mitgezählt werden. Es ist nicht falsch, sondern richtig, eine gute Datenlage zu fordern, da nur in Kenntnis der realen Situation Instrumente wirkungsvoll entwickelt und auf dem Arbeitsmarkt eingeführt werden können. Da haben Sie vollkommen Recht; ich glaube, da können wir uns finden. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Bertl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich versuche, hier fertig zu werden. ({0}) Ich wäre einverstanden, meine Damen und Herren, wenn die Opposition die Idee eines Statistiksystems hätte, welches uns mit Erkenntnissen versorgen würde, von denen Sie behaupten, wir hätten sie nicht. Der nächste Vorwurf, den ich Ihnen machen muss. Entweder haben Sie noch nie aufmerksam die ersten vier Seiten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit gelesen ({1}) oder Sie versuchen hier - in der Hoffnung, es merkt keiner, weil sich ja letztendlich nicht sehr viele in diesem Land mit dieser Statistik beschäftigen -, die Situation zu verschleiern. Jeder Bundestagsabgeordnete erhält jeden Monat ein Heft, in dem auf mehr als 60 Seiten eine Datenlage dargestellt wird, die alle von Ihnen in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen bereits umfasst. ({2}) Das heißt, die Transparenz, die Sie sich laut Ihrem Antrag für den Arbeitsmarkt wünschen, wird hier auf mehr als 60 Seiten dargestellt. Im Gegensatz zu Ihrem großen Statistikpfusch von 1998 mit der Verschiebung der 400 000 Arbeitslosen haben wir seit 1. Januar durch die Aufnahme der arbeitsfähigen Empfänger von Sozialhilfe eine Klarheit in das Statistiksystem gebracht, die für die Beurteilung des Arbeitsmarktes meines Erachtens richtig und wichtig ist. ({3}) Politisch war das für uns kein einfacher Schritt. Wir haben davon nicht profitiert, denn wir haben den Menschen deutlich gemacht, dass eine große Gruppe von Menschen in unserem Land überhaupt nicht gezählt wurde. Erst wir haben sie in die Statistik hineingenommen, wie der Staatssekretär gerade gesagt hat. Das heißt, ein großer Unterschied zwischen uns ist: Wir wussten, dass damit die Zahl der Arbeitslosen über 5 Millionen steigt, aber wir wollten diese Wahrheit und Klarheit auf dem Arbeitsmarkt. ({4}) Eigentlich - ich bin ganz froh, dass einige von Ihnen noch hier sind - wäre Ihr Antrag gar nicht nötig gewesen, wenn Sie sich einmal die Mühe gemacht hätten, sich nur vier Seiten dieser Statistik - ich finde das für Bundestagsabgeordnete sehr attraktiv - anzusehen. ({5}) Auf Seite 1 dieser Statistik erhalten Sie - das dauert gar nicht lange; das kann man während einer Sitzung mal eben machen - eine Übersicht über alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigen in unserem Land im Monatsschnitt. Sie sehen den Zugang an Arbeitslosen, und zwar differenziert nach vorheriger Erwerbstätigkeit oder Ausbildung. Sie bekommen Informationen, wie hoch der Anteil der Frauen und der Männer ist, wer jünger ist als 25 Jahre usw. Sie erfahren die Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen, Empfänger des Arbeitslosengeldes II und, seit diesem Jahr, des Sozialgeldes. Gemeldete Stellen werden genannt, Teilnehmer aktiver Arbeitsmarktpolitik. Das heißt: Alles, was Sie reklamieren und von dem Sie behaupten, da werde etwas verdeckt und man habe keinen Überblick mehr, finden Sie hier aufgeführt: berufliche Weiterbildung, Trainingsmaßnahmen, PSA, Arbeitsgelegenheiten, Existenzgründungsschutz, Überbrückungsgeld ({6}) all das steht in dieser Statistik, meine Damen und Herren. Das Ganze wird dann auch noch schön aufbereitet und bezogen auf Westdeutschland und Ostdeutschland dargestellt, das heißt, auch in dieser Hinsicht kann ein Vergleich vorgenommen werden. Außerdem lohnt sich für Sie die Seite 4, denn dort bekommen Sie die Informationen wirklich sehr dezidiert: Wie viele Menschen befinden sich in beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, in Vollzeitmaßnahmen? Wie viele behinderte Menschen befinden sich in Maßnahmen? Wie viele befinden sich in Wiedereingliederungsmaßnahmen? Auch der ganze Bereich der beschäftigungsbegleitenden Systeme ist mit aufgenommen worden. ({7}) - Mein lieber Herr Hinsken, die Zahlen, die Sie in Ihrem Antrag fordern, liefert uns die Bundesagentur für Arbeit auf den ersten vier Seiten ihrer Statistik. Diese Zahlen umfassen sogar den Bereich der Arbeitsteilzeit und der nicht arbeitslosen Leistungsempfänger. Ich muss daher sagen: Sie vermitteln den Menschen den Eindruck, als würde in diesem Land gelogen und betrogen ({8}) und als könnte kein Mensch wissen, wie die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist. ({9}) Die Wahrheit ist aber: Jeden Monat erhält jeder von Ihnen diese Statistik. Sie brauchen nur vier Seiten daraus zu lesen und haben einen umfassenden Überblick über die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt noch etwas Neues, was zumindest für diejenigen interessant ist, die sich ab und zu mit der Statistik der Bundesagentur für Arbeit beschäftigen. Auf den Seiten 60 und folgende findet jeder die entsprechenden Daten für seine Stadt bzw. seinen Kreis. Man muss also deswegen nicht mehr mit dem Leiter der örtlichen Arbeitsagentur sprechen. Auf diesen Seiten gibt es auch die genauen Zahlen zu den Arbeitslosengeld-II-Beziehern. ({10}) Herr Andres hat es eben schon gesagt: Die ILO-Statistik ist kein Ersatz für die BA-Statistik. Wir werden vielmehr beide Statistiksysteme nebeneinander stellen. Die ILO-Statistik hat einen großen Vorteil: Sie wird in 123 Staaten und auch bei der OECD angewandt. ({11}) Unsere BA-Statistik wird von Eurostat und von allen europäischen Staaten anerkannt. Man kann also sagen: Auf der einen Seite gibt es mit der BA-Statistik eine sehr differenzierte Arbeitsmarktstatistik, die uns in den Stand setzt, die richtigen Instrumente zu entwickeln. Auf der anderen Seite haben wir mit der ILO-Statistik ab 1. März dieses Jahres die Möglichkeit, volkswirtschaftliche Vergleiche - genau das ist der Schwerpunkt der ILO-Statistik - zwischen 123 Staaten zu ziehen. Wenn Sie die ernsthafte Absicht hätten, einen höheren Erkenntnisgewinn zu erzielen, um daraus resultierend eine entsprechende Arbeitsmarktpolitik zu gestalten, dann müssten Sie Ihren Antrag zurückziehen. ({12}) Wir können Ihren Antrag nicht umsetzen, weil die Daten, die Sie fordern, Ihnen jeden Monat auf über 60 Seiten zugestellt werden. ({13}) Ich kann Ihnen nur empfehlen: Bitte beschäftigen Sie sich mit dieser Statistik und bitte versuchen Sie nicht, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, indem Sie behaupten, Arbeitsmarktpolitik würde nur noch auf Grundlage falscher Daten betrieben! ({14}) Bevor wir uns über die Fragen streiten, welches Statistiksystem sinnvoller ist und ob alle Daten vorliegen - ich behaupte: sie liegen vor -, empfehle ich Ihnen: Entwickeln Sie mit uns Hartz IV weiter - Sie haben in einigen Bereichen schon mitgemacht und Blockaden aufgehoben -, damit wir die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen können! Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/4463 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestalten - Ausmaß der Unterbeschäftigung verdeutlichen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3451 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Präsident Wolfgang Thierse Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU REACH als Chance für einen Paradigmenwechsel nutzen - Alternativmethoden statt Tierversuche - Drucksache 15/4656 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Maria Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Oktober 2003 legte die EU-Kommission auf Grundlage des im Februar 2001 erarbeiteten Weißbuchs „Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“ einen Verordnungsentwurf namens REACH zur Chemikaliensicherheit vor. Es besteht fraktionsübergreifender Konsens: Wir begrüßen das Ziel der Chemikalienpolitik auf europäischer Ebene, die Sicherheit für Mensch und Umwelt beim Umgang mit Chemikalien zu erhöhen. Auch die Zusammenführung von fast 40 Verordnungen und Gesetzen im Bereich der europäischen Chemikalienpolitik ist zu begrüßen. Doch ob das mit einem Entwurf von mehr als 1 200 Seiten gelungen ist, ist fraglich. Aus deutscher Sicht, aus Sicht eines Standorts, der ein Drittel der europäischen Chemieindustrie mit mehr als 450 000 Arbeitsplätzen vor allem in mittelständischen Unternehmen beheimatet, stelle ich fest: Der Umgang mit Chemikalien - auch mit Altchemikalien, mit solchen also, die vor 1981 auf den Markt gekommen sind - ist bereits in hohem Maße sicher. ({0}) Dafür sorgen das Chemikaliengesetz, die ChemikalienVerbotsverordnung, die Bodenschutz-, Wasserschutzund Immissionsschutzgesetze, das Arbeitsschutzgesetz, die Gefahrstoffverordnung usw. Daher ist der Eindruck, der von der rot-grünen Bundesregierung und von den Regierungsfraktionen erweckt wird, nämlich dass unmittelbare Gefahr im Verzug sei, irreführend. In der Vergangenheit ist bereits mehrfach auf die starke Zunahme der Zahl der Tierversuche hingewiesen worden, die durch die neue europäische Chemikalienpolitik verursacht werden könnte. Diese Gefahr wurde auf der Anhörung im Deutschen Bundestag am 8. November letzten Jahres von Experten erneut bestätigt. Auch wenn der Kommissionsentwurf einige Verbesserungen für den Tierschutz enthält, so ist immer noch mit einer dramatischen Zunahme der Zahl der Tierversuche zu rechnen. ({1}) Die Einschätzungen schwanken, befinden sich aber alle im Bereich von mehr als 10 Millionen zusätzlichen Tierversuchen. Zum Vergleich: Derzeit werden jährlich rund 11 Millionen Versuchstiere auf EU-Ebene „verbraucht“, so der vierte Bericht der EU-Kommission zur Tierversuchsstatistik von Anfang Februar dieses Jahres. REACH in der derzeitigen Form würde demnach nach aller Wahrscheinlichkeit den „Jahresverbrauch“ weit übertreffen. Die Expertenanhörung hatte aber auch das Ergebnis, dass die europäische Chemikalienverordnung, wenn sie richtig ausgestaltet wird, durchaus positive Effekte für den Tierschutz mit sich bringen kann. Professor Lingk vom Bundesinstitut für Risikobewertung sprach insoweit von der Möglichkeit eines Paradigmenwechsels. Derzeit ist bei der Sicherheitsüberprüfung von Chemikalien, Pharmazeutika und Kosmetika der Primat von Tierversuchen vorgesehen. Das heißt, Tierversuche geben den letzten Ausschlag für die Risikobewertung eines Stoffes. Alternativmethoden haben allzu häufig nur begleitenden oder untergeordneten Charakter. Das könnte sich nun im Rahmen eines umstrukturierten REACH ändern. Prüfungen würden nur dort erfolgen, wo sie notwendig sind, also „checklist versus brain“, und Alternativmethoden würden im Vordergrund stehen. Das heißt, Tierversuche hätten ergänzenden Charakter. Zudem sind Tierversuche, die etabliert und hinreichend validiert sind, aussagekräftiger und kostengünstiger. ({2}) Ein Beispiel: Im Rahmen der Prüfung der akuten Phototoxizität kostet ein Tierversuch 2 000 bis 4 000 Euro. Alternativmethoden hingegen kosten nur 650 bis 1 200 Euro. Eine im August letzten Jahres veröffentliche Studie des BfR zeigt, dass sich die Zahl der Versuchstiere beim Einsatz aller heute zur Verfügung stehenden Mittel auf deutlich unter 10 Millionen verringern ließe. Neben dem Einsatz von Alternativmethoden ist auch der Ausbau von quantitativen Structure Activity Relationsships, von SARs, vorgesehen. Die Betrachtung potenzieller Gesundheitsrisiken durch die Analyse von Molekülstrukturen würde so ermöglicht. Damit dieser Paradigmenwechsel tatsächlich gelingt, ist es allerdings notwendig, ausreichend Forschungsmittel zur Verfügung zu stellen. Im Entwurf des Haushaltes 2005 waren Fördermittel von lediglich 2,4 Millionen Euro vorgesehen. Das ist ein historischer Tiefstand. 1987 waren es 6,5 Millionen Euro. ({3}) Nach massiven Protesten auch der Opposition ist der Ansatz auf immerhin 2,8 Millionen Euro erhöht worden. Aber das reicht kaum, um neue Vorhaben zu beginnen, und ist vor dem Hintergrund der REACH-Problematik lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. ({4}) Im Übrigen entspräche eine deutliche Erhöhung des Forschungsetats einer Forderung weiter Teile der Bevölkerung in Deutschland und Europa. Im September letzten Jahres wurde der Europäischen Union eine Petition der „europäischen Koalition zur Beendigung von Tierversuchen“ mit mehr als 500 000 Unterschriften übergeben. Neben dem Ausbau von Alternativmethoden muss die Chemikalienverordnung in Richtung einer möglichst geringen Anzahl vorgeschriebener Tierversuche umstrukturiert werden. Deshalb ist in unserem Antrag, der heute zur Debatte steht, auf Schwachpunkte in dem Kommissionsvorschlag bei der gemeinsamen Nutzung von Prüfdaten hingewiesen worden, die es zu beseitigen gilt. Das entspricht im Übrigen auch einer Forderung des Bundesrates vom Juni letzten Jahres. Von großer Bedeutung ist des Weiteren, die Idee „one substance - one registration“ - OSOR - durchzusetzen. Ein entsprechender britisch-ungarischer Vorschlag hat bereits breite Unterstützung quer durch alle politischen Fraktionen gefunden. Dieser Grundgedanke entspricht § 20 a des deutschen Chemikaliengesetzes, das es übrigens seit 1990 gibt. Er sieht vor, dass jeder chemische Stoff nur einmal registriert wird, und zwar unabhängig davon, wie viele Produzenten es gibt. ({5}) Das muss aber auch so ausgestaltet sein - das ist ganz wichtig -, dass es auch tatsächlich funktioniert und die Geschäftsgeheimnisse der beteiligten Unternehmen gewahrt werden, wie es im deutschen Recht seit langem erfolgreich praktiziert wird. ({6}) Mit genau diesem Modell sollte die Bundesregierung in Europa vorstellig werden. ({7}) Der Verband der Chemischen Industrie, der VCI, hat zusammen mit dem europäischen Chemikalienverband, CEFIC, jüngst einen Vorschlag zur Ausgestaltung des europäischen Chemikalienrechts vorgelegt, in dem OSOR sehr gut integriert ist, da eine frühzeitige Kooperation möglich wird. Er sieht verschiedene Stufen vor. Stufe 1: die Vorregistrierung und die Meldung aller Stoffe über 1 Tonne, danach die Meldung von Kerninformationen zu diesen Stoffen. Stufe 2: risikobezogene Priorisierung anhand von Stoffeigenschaften sowie Verwendungs- und Expositionskategorien. Stufe 3: Registrierung. Das bedeutet die Festlegung von Prüfungsanforderungen anhand von Risiko- und Expositionskategorien inklusive der Berücksichtigung in einem entsprechenden Zeitplan. Vorteile dieses Vorschlags sind ohne Zweifel, dass nach kurzer Zeit ein Überblick über alle gehandhabten Stoffe vorliegt und dass es nach weniger als fünf Jahren bewertungsrelevante Kerninformationen für jeden der über 30 000 Stoffe, die in einer Menge von über 1 Tonne produziert werden, gibt. Der Kommissionsvorschlag würde dafür über elf Jahre brauchen. Es wird keine Datenfriedhöfe geben, da jeder Stoff nur einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt registriert wird. Dadurch wird es auch weniger Tierversuche geben. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass Rezepturen nicht mehrfach verändert werden müssen. Anfang dieser Woche hat der BMU diesen sehr konstruktiven Vorschlag kategorisch zurückgewiesen. ({8}) Zugleich versucht er, kleine und mittlere Unternehmen gegen große Chemiekonzerne auszuspielen. Das ist ein Versuch, der keiner sachlichen Beurteilung des VCI/ CEFIC-Vorschlags standhält. ({9}) Damit ignoriert die Bundesregierung - ich will das in aller Deutlichkeit sagen - die Sorgen des Mittelstandes. Wer wissen möchte, was der derzeitige Kommissionsvorschlag für den Mittelstand bereithält, braucht nur in das Protokoll der Anhörung im Deutschen Bundestag zu schauen. Bleibt der Kommissionsvorschlag unverändert bestehen, könnte das massiv negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf die Arbeitsplätze haben; zu entsprechenden kritischen Einschätzungen kommen auch die Untersuchungen der Bundesländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Dabei ist nicht nur die chemische Industrie betroffen, vielmehr erfassen die Auswirkungen nahezu jede Branche in Deutschland; denn Stoffpolitik bestimmt fast alle Branchen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei einer sorgfältigen Ausgestaltung von REACH lassen sich die Anliegen des Verbraucherschutzes und des Umweltschutzes mit den Interessen der Wirtschaft vereinbaren. Genau das ist Nachhaltigkeit. Wenn die Bundesregierung es mit nachhaltiger Entwicklung wirklich ernst meint, sollte sie sich für diese Forderungen in Europa konsequent einsetzen. Lassen Sie uns die Chance für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Chemikalienpolitik und in der europäischen Tierversuchspolitik nicht verpassen! Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Schmitt von der SPD-Fraktion.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Flachsbarth, herzlichen Dank für die Beschreibung Ihres Antrags. Sie haben erneut Gesprächsbedarf zu REACH angemeldet. Der Tierschutz steht dabei im Vordergrund, wir haben es gehört. Vor gut einem Jahr stand das Thema Tierschutz schon einmal auf unserer Tagesordnung, deshalb freue ich mich, dass wir uns über diesen wichtigen Aspekt von REACH mittlerweile grundsätzlich einig sind. Es gab Zeiten, in denen Ihre Fraktion REACH generell infrage gestellt und als das Ende der Chemikalienpolitik in der Volkswirtschaft unseres Landes bezeichnet hat. Mittlerweile gibt es erfreulicherweise eine Akzeptanz. Wir sind uns einig - wir haben lange dafür gekämpft, dass der Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen wurde -, ({0}) dass der Tierschutz bei uns hohe Priorität genießt. Wir wollen REACH so umsetzen, dass möglichst wenige Tierversuche durchgeführt werden. Ich frage mich allerdings, ob Sie die Argumente, die vor einem Jahr zur Sprache kamen, überhaupt gehört und sie in Ihrem jetzigen Antrag berücksichtigt haben. Mir scheint, dass dies nicht der Fall ist. ({1}) In Ihrem Antrag geistern bezüglich der Anzahl der für Versuche benutzten Tiere immer noch Zahlen aus dem Jahre 2001 herum. Sie führen aus, es handele sich hierbei laut einer britischen Studie um 12 Millionen Tiere. Da das Ergebnis dieser Studie, wie Sie wissen, längst überholt ist, ist die Zahl, die Sie nennen - 12 Millionen -, ganz kalter Kaffee. Wir können Ihrem Antrag allein deshalb, weil er solche falschen Angaben enthält, leider nicht zustimmen. ({2}) Auch andere Punkte werden nicht dadurch richtiger, dass Sie sie ständig wiederholen. Sie sagen zum Beispiel, die Bundesregierung habe die Mittel für Alternativmethoden reduziert; auch das ist falsch. Sie wissen: In diesem Bereich wurden lediglich weniger Mittel abgerufen, als bereitgestellt worden waren. ({3}) Die Statistik spiegelt das nicht wider. Wenn mehr Mittel benötigt werden, werden sie bereitgestellt. Im Übrigen sage ich Ihnen: Die Gewinnsituation in der Chemiebranche ist so gut, dass auch sie Geld bereitstellen kann, mit dem Alternativen zu Tierversuchen entwickelt werden können. Nicht alles muss die öffentliche Hand machen. ({4}) Wir stellen fest, dass die Kommission bereits viele Maßnahmen ergriffen hat, um die Anzahl der für REACH notwendigen Tierversuche zu verringern. ({5}) So gesehen kann als Erfolg gemeldet werden, dass bereits viel getan wurde, um die Forderungen, die sich tatsächlich mit der Vermeidung von Tierversuchen befassen, zu erfüllen. Betrachtet man Ihre Forderungen allerdings im Einzelnen - Sie haben in Ihrem Antrag zehn Forderungen gestellt -, stellt man fest, dass nur einige von ihnen etwas mit dem Thema Tierversuche zu tun haben. Ich habe den Eindruck: In Ihrem Antrag schreiben Sie zwar, dass Sie Tierversuche vermeiden wollen, aber er enthält eine gehörige Portion Verband der Chemischen Industrie. Es geht wieder einmal um die Frage, wie man REACH weitgehend umgehen kann. Dafür gibt es sehr gut klingende Schlagworte wie „Risikoorientierung“ oder, wenn es um die Erhebung von Daten geht, „Expositionskriterien“. Eines möchte ich vorausschicken: Wir wehren uns grundsätzlich nicht gegen intelligente Alternativen zur jetzt vorliegenden Fassung von REACH. Es hat sich auch schon sehr viel verändert. Die verantwortlichen Politiker in unserem Lande haben sich darum bemüht, die Anzahl der Regelungen, durch die die Industrie zu stark belastet würde, zu minimieren. Es ist also schon sehr viel getan worden. Wenn uns sinnvolle Alternativmethoden präsentiert würden, wären wir die Letzten, die sich dagegen sperren. „Praktikabel“ heißt für uns auch, dass man mit diesen Methoden die Ziele des Schutzes der menschlichen Gesundheit, des Arbeits- und Verbraucherschutzes und des Schutzes der Umwelt ohne Wenn und Aber erreicht. ({6}) Wenn Sie also die bereits hinreichend bekannten Vorschläge des VCI wiederholen und vorgeben, dadurch könnten angeblich unnötige Tierversuche vermieden werden, dann müssen wir uns die Situation schon genauer ansehen. Der jetzige Entwurf von REACH basiert auf einer Kombination aus Mengen- und Risikokriterien, aus denen sich relativ einfach Prüf- und Nachweispflichten zur Beurteilung eines Stoffes und seiner Gefährlichkeit ableiten lassen. Es gibt klare Regeln. Ab bestimmten Herstellungs- bzw. Importmengen von Chemikalien werden Tests vorgeschrieben; je höher die Menge, desto höher die Testanforderungen. Bei diesem Verfahren geht man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit eines Kontaktes von Menschen mit der Chemikalie steigt, je mehr davon produziert wird. Mit einigem Recht wird auch darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nur um ein grobes Raster handelt. Deshalb klingt die Initiative der Chemiebranche zunächst einmal charmant, nur noch dann Tests zur Bestimmung der Gefährlichkeit chemischer Stoffe durchzuführen, Heinz Schmitt ({7}) wenn überhaupt ein bestimmter Kontakt mit Mensch und Umwelt, also eine bestimmte Exposition, zu fürchten ist. Des Weiteren wird versucht, je nach Art und Häufigkeit des Kontaktes so genannte Expositionskategorien zu bestimmen, aus denen sich die Notwendigkeit bestimmter Untersuchungen ergibt. Während man dem ersten Gedanken, den ich erwähnt habe, ohne weiteres zustimmen kann, wird es bei den so genannten Expositionskategorien problematisch. Wenn es sich zum Beispiel um einen Stoff mit einer Produktionsmenge von 100 Jahrestonnen handelt, werden schnell 100 oder mehr verschiedene Anwendungsgebiete erreicht, die auf alle möglichen Expositionen überprüft werden müssten. Je mehr Anwender, desto mehr Tests sind nötig, und daher wird das Ziel, das Sie beschrieben haben, nicht erreicht. Vielmehr wird das Verfahren eher komplizierter. Wir sagen: Egal, wie viel Nachfrage nach einem Stoff und wie viele Abnehmer es gibt, gilt er, wenn er einmal getestet ist, als beurteilt. Durch das Aufteilen nach Expositionskategorien wird das Gegenteil erreicht; allein schon dadurch wird die Praktikabilität des Modells der chemischen Industrie infrage gestellt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmitt, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Flachsbarth?

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Flachsbarth.

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmitt, wir streiten uns immer wieder über Zahlen. Letztendlich geht es doch darum, ob es tatsächlich notwendig ist, immer mehr Tiere zu verbrauchen, um Daten zu gewinnen, die eigentlich schon vorliegen. Würden Sie mir zustimmen, dass eine Studie des BfR aus dem August letzten Jahres ein Worst-Case-Szenario enthalten hat - auch wenn das wohl nicht eintreten wird -, dass bis zu 45 Millionen Tierversuche notwendig sein werden? Dabei würde - als untere Grenze - eine Zahl von unter 10 Millionen Tierversuchen reichen, allerdings nur, wenn genug Mittel für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zur Verfügung stünden. Würden Sie mir deshalb zustimmen, dass der Ansatz von 2,8 Millionen Euro für die Förderung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden wesentlich zu gering ist? Würden Sie mir weiter zustimmen, dass es zwar Bemühungen der Europäischen Kommission gibt, Tierversuche zu verhindern, dass wirksame Instrumente aber nicht in dem erforderlichen Umfang existieren? Firmen werden dazu aufgefordert, sich zusammenzuschließen und bezüglich der vorliegenden Daten zu kommunizieren. Wenn sie das aber nicht tun, haben wir letztlich keine rechtliche Handhabe. Würden Sie mir von daher zustimmen, Kollege Schmitt, dass die Gefahr, dass die Anzahl der Tierversuche exponentiell zunimmt, immer noch nicht gebannt ist? ({0})

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Flachsbarth, würden Sie mir zustimmen, dass bei einem Jahresumsatz der chemischen Industrie in Deutschland von über 200 Milliarden Euro 2 oder 3 Millionen Euro relativ wenig sind und eigene Anstrengungen durchaus begründet sein können? ({0}) Es kann doch nicht angehen, dass auf der einen Seite gute Erlöse - berechtigte Erlöse - eingefahren werden, die öffentliche Hand aber wieder einmal die Risiken tragen soll. ({1}) - Ja, das könnte man sagen. - Da muss man schon genau hinschauen und die Zahlen vergleichen. Ich denke, wenn pro Anwendungsgebiet ein eigener Versuch gemacht werden muss, wird der Aufwand eher höher und das Ziel, das Sie und wir alle erreichen wollen - weniger Tiere zu verbrauchen -, nicht erreicht. ({2}) - Ich habe mich dafür eingesetzt, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Aber bevor Stoffe, die nicht geprüft sind, mit Menschen in Verbindung kommen, müssen eben - leider - Tierversuche stattfinden. Da können wir noch so hehre Ziele haben; in diesem Fall hat der Menschenschutz vor dem Tierschutz ganz klar Priorität. ({3}) Wenn wir Ihren Antrag - der sich zunächst gut anhört - einer realistischen Belastungsprobe unterziehen, müssen wir also feststellen: Er hält den Anforderungen nicht stand, zumindest dann nicht, wenn die Schutzziele von REACH bzw. die, die von der Industrie selbst gesteckt werden - weniger Bürokratie und mehr Mittelstandsfreundlichkeit zu erreichen -, ernst genommen werden sollen. Schon daher kann man nicht davon ausgehen, dass ein expositionsorientierter Ansatz die Zahl der notwendigen Tierversuche verringern würde, was unser aller Ziel ist; ich habe es ja gesagt. Das Gegenteil ist aus heutiger Sicht der Fall. Wir sollten uns gemeinsam anstrengen, Lösungen zu finden, wie wir die Zahl der Tierversuche minimieren können. Leider geht es Heinz Schmitt ({4}) beim vorliegenden Ansatz mehr um die Umgehung von REACH-Vorgaben als um Tierschutz. ({5}) - Das kann man aus Ihren zehn Forderungen eindeutig ableiten. Wir sind uns in der Zielrichtung durchaus einig: Wir wollen in Europa beim Umgang mit Chemikalien einen besseren Schutz für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt - und dies mit möglichst wenigen Tierversuchen. Aber Ihr Antrag enthält zu viele inhaltliche Fehler, als dass wir ihm zustimmen könnten. Deswegen müssen wir ihn heute leider ablehnen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben über das in Europa diskutierte REACH-System, bei dem es um die Registrierung, Evaluierung und Genehmigung von Chemikalien und die Frage geht, wie das innerhalb Europas organisiert werden soll, schon mehrfach ausgiebig gesprochen, auch hier im Plenum. In der Begründung der EU-Kommission steht, dass es darum geht, mehrere Ziele gleichzeitig zu verwirklichen, nämlich zum Ersten den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, zum Zweiten die Wahrung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie in der EU und zum Dritten die Förderung von Testmethoden ohne Verwendung von Tieren. Im 34. Erwägungsgrund sagt die EU-Kommission ganz eindeutig, mit diesem REACH-System solle auch die Zahl der Tierversuche reduziert werden. Ich möchte hier ganz klar betonen: Die FDP unterstreicht all diese Ziele. Das Problem ist nur, dass die EU-Kommission ihrem eigenen Entwurf und ihrer eigenen Zielsetzung in keinem einzigen Punkt gerecht wird. ({0}) Das gilt auch für die im Moment vorliegende überarbeitete Fassung. Herr Schmitt, ich kann nur sagen: Ich wundere mich ein wenig über das, was Sie hier gesagt haben. Ich habe mir noch einmal die Beschlussempfehlung zu dem letzten Antrag mit dem Titel „Tierversuche in der europäischen Chemikaliengesetzgebung auf ein Minimum begrenzen“ herausgesucht. Dabei ging es bereits um das, was jetzt in dem Antrag der CDU/CSU steht. In diesen Antrag der CDU/CSU sind ein paar neue Untersuchungsergebnisse aufgenommen worden. An sich ist das Anliegen aber exakt das gleiche. Insofern muss ich sagen, dass Sie sich wenigstens weiterentwickelt haben; denn ausweislich der Beschlussempfehlung, die Sie selbst abgesegnet haben, haben Sie damals noch gesagt, dass das Anliegen, das mit dem Antrag verfolgt wird - also die Berücksichtigung des Tierschutzes -, durch diesen Verordnungsentwurf bereits grundlegend berücksichtigt sei; der Antrag sei inhaltlich überholt und werde daher abgelehnt. Zu diesem Punkt komme ich jetzt. Wir alle in diesem Hause haben uns fraktionsübergreifend für eine Staatszielbestimmung „Tierschutz“ im Grundgesetz stark gemacht. Bei REACH bekommen wir das nicht hin. Ich verstehe, dass wir hier keine Einigkeit in allen Punkten haben. Bei den Tierversuchen aber müsste es doch möglich sein, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen und einen gemeinsamen Antrag zu stellen. ({1}) Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: REACH führt zu mehr Tierversuchen und zu mehr Bürokratie, ohne dass dem ein höheres Maß an Umwelt- und Gesundheitsschutz gegenübersteht. Das ist unsere Kritik. ({2}) Deswegen sage ich ganz klar: Wir sollten schauen, dass wir hier eine einheitliche Meinung finden, die wir gemeinsam vertreten können. Das sind wir dem Anliegen des Tierschutzes schuldig. ({3}) Nun stellt sich die Frage, wie man unnötigen Tierversuchen bei REACH entgegenwirken kann. Erster Punkt. Für die Sicherheit der menschlichen Gesundheit und der Umwelt beim Umgang mit Chemikalien sind die Risiken bei der Herstellung, der Verarbeitung und der Anwendung maßgeblich. Ich komme zu einem ganz einfachen praktischen Beispiel: Ein Toilettenreiniger ist nicht zum Trinken geeignet. Das wird auch niemand tun; denn jeder weiß das. Es geht also um die Anwendung einer Chemikalie, nicht um die Herstellung oder Verarbeitung einer Chemikalie. ({4}) Genau das ist das Problem des europäischen Ansatzes. Dort wird von einer Produktionsmengenschwelle in Höhe von einer Jahrestonne geredet und nichts über die Gefährlichkeit und Beherrschbarkeit eines Stoffes ausgesagt. Deswegen sage ich Ihnen: Wir brauchen eine grundsätzliche Umstellung des Verordnungsansatzes, damit sich die Informations- und die Prüfanforderungen auf die Exposition und das Risiko, aber nicht auf die Menge eines Stoffes richten. Dadurch würden wir einerseits ein hohes Schutzniveau und andererseits eine Reduzierung der Anzahl der Tierversuche erreichen. ({5}) Zweiter Punkt. Darüber hinaus müssen wir die vorhandenen Daten besser nutzen. Wir haben eine ganze Reihe von Daten über verschiedene Stoffe in den unterschiedlichsten Bereichen. Wir verfügen über SicherBirgit Homburger heitsdatenblätter und arbeitsmedizinische Datenblätter für bestimmte Stoffe. Es gibt eine ganze Reihe von toxikologischen und pharmakologischen Erkenntnissen und Untersuchungen. Die Verwertung der Erkenntnisse aus diesen Altstudien, die im deutschen Chemikaliengesetz vorgesehen ist, muss unbedingt dafür genutzt werden, die Anzahl der Tierversuche, die bei REACH durchgeführt werden soll, zu verringern. ({6}) Diesen Ansatz sollte man dringend auch auf europäischer Ebene einbringen. Das hat die Bundesregierung bisher verschlafen. ({7}) Den Ansatz von Großbritannien und Ungarn - eine Substanz, eine Registrierung - finde ich diskussionswürdig. Aber ich sage auch - das kommt in Ihrem Antrag zum Ausdruck -, dass man sehr gut aufpassen muss, zu gewährleisten, dass die berechtigten wirtschaftlichen Interessen eines Unternehmens gewahrt werden und die Erkenntnisse, die man durch eigene Untersuchungen gewinnt, der Firma zur Verfügung stehen. Die Forschung nach Ersatz- und Ergänzungsmethoden muss intensiviert und verstärkt werden. Vor allen Dingen müssen alle bestehenden Methoden in REACH zugelassen werden. Auch das ist noch nicht der Fall. Es gibt eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten. Das, was Sie heute für die SPD-Fraktion gesagt haben, Herr Schmitt, ist eine Bewegung in die richtige Richtung. Ich hoffe deshalb, dass wir es im Rahmen der Ausschussberatungen schaffen, in diesem zentralen und wichtigen Punkt zu einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen des Deutschen Bundestages zu kommen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vogel-Sperl vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vogel-Sperl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003651, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Eingangsbemerkung. Am Mittwoch dieser Woche haben wir im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages den Nachhaltigkeitsbericht erörtert. An dieser Stelle möchte ich ganz klar betonen, dass die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung von allen Fraktionen unterstrichen und anerkannt wurde. Meine Damen und Herren von der Opposition, die heutige Debatte zeigt dennoch einmal mehr, dass bei Ihnen Reden und Handeln leider sehr weit auseinander gehen. ({0}) Anstatt REACH als das zu begreifen, was es ist, nämlich als die Chance für eine nachhaltige Entwicklung der chemischen Industrie einschließlich der nachgeschalteten Industrie, versuchen Sie weiter, den Verordnungsentwurf, insbesondere den mengen- und risikobezogenen Ansatz, grundsätzlich infrage zu stellen, indem Sie die immer gleichen und längst widerlegten Argumente ins Feld führen. ({1}) Darüber haben wir in diesem Haus und in den Ausschüssen bereits ausführlich beraten. Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle auf einige aus unserer Sicht wichtige Punkte beschränken und auf diese kurz eingehen. Erstens. Das Thema Tierschutz ist gerade für uns Grüne auch im Zusammenhang mit der europäischen Chemikalienverordnung von ganz besonderer Bedeutung. ({2}) Wir sehen und begreifen REACH als die Chance, tierversuchsfreie Testmethoden international zu etablieren. ({3}) Ich verweise hier nur auf unseren Antrag zur europäischen Chemiepolitik vom März 2004, ({4}) den wir im vergangenen Jahr beschlossen haben. Ich empfehle Ihnen dringend, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ihn einmal zu lesen. ({5}) Er ist allerdings etwas umfangreicher als Ihrer. ({6}) Aber das ist angesichts der immensen Bedeutung von REACH mehr als angemessen. ({7}) In diesem Antrag heißt es ganz klar und unmissverständlich - ich zitiere -: Zur Verhinderung unnötiger Wirbeltierversuche müssen verbindliche Regelungen für Prüfverfahren getroffen werden. Das Ziel muss sein, doppelte Wirbeltierversuche zu verhindern, eine gemeinsame Nutzung von Daten seitens der Unternehmen vorzuschreiben und die Anwendung alternativer tierversuchsfreier Testmethoden verbindlich zu etablieren. ({8}) Weiter heißt es: Die Forschungsmittel für die Entwicklung und Validierung alternativer Testmethoden müssen sowohl auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene gesichert werden. ({9}) - Dazu komme ich noch. - Die Bundesregierung ist bei den Verhandlungen im Rat in der Arbeitsgruppe längst aktiv geworden und hat die notwendigen Vorschläge eingebracht. Das sollte auch Ihnen eigentlich bekannt sein. ({10}) Meine Damen und Herren von der Opposition, ich komme nun auf den entscheidenden Punkt Ihres Antrags zu sprechen und will an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen - da kann ich Herrn Kollegen Schmitt nur ausdrücklich unterstützen -: Sie geben vor, sich für den Tierschutz einzusetzen. Tatsächlich aber benutzen Sie das Tierschutzargument, um den grundsätzlichen Ansatz des Verordnungsentwurfes aufzuweichen und infrage zu stellen. ({11}) Der grundsätzliche Ansatz lautet: Risikobeurteilung nur auf einer fundierten Datenbasis für eine Erkennung von Risiken für Umwelt und Gesundheit bereits im Vorfeld. ({12}) Ich möchte auf meinen zweiten Punkt eingehen, die expositionsabhängigen Registrierungsanforderungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie bemühen sich, hier den Eindruck zu erwecken, als sei der vorliegende Entwurf starr und unflexibel. Bei genauer Lektüre des Kommissionsentwurfs dürfte aber auch Ihnen nicht entgehen, dass die Prüfanforderungen bereits jetzt eine Kombination aus mengen- und risikobezogenen Elementen vorsehen. ({13}) Das heißt, es wird sichergestellt, dass einerseits zur Ermittlung des jeweils notwendigen Prüfbedarfs fundierte Informationen vorliegen und andererseits zugleich eine Überbelastung der Hersteller kleiner Stoffmengen vermieden wird. ({14}) Ihr Vorschlag eines ausschließlich expositionsbezogenen Ansatzes führt tatsächlich hingegen nicht zu einer Entlastung von Unternehmen, sondern in Wahrheit nur dazu, dass die großen, für die Sie sich hier stark machen, ({15}) auf Kosten der kleinen und mittelständischen Unternehmen entlastet werden. Das muss man in diesem Hause doch auch einmal sagen. ({16}) Denn die konkreten Verwendungen und Expositionen kennt der Hersteller in der Regel nicht. Er kann daher Expositionsbedingungen und Abschneidekriterien vorgeben, die ihn von Stoffprüfungen entlasten, für deren Einhaltung vor Ort aber die Downstream-User verantwortlich sind. ({17}) Das bedeutet unter dem Strich: Vom Hersteller eingesparte Tests müssen nachgeholt werden, einschließlich der Tierversuche. Der bürokratische Aufwand ist wesentlich höher. Das heißt, die Lasten liegen beim Downstream-User und nicht beim Stoffhersteller der chemischen Industrie. Meine Damen und Herren von der Opposition, im Gegensatz zu Ihnen meinen wir es tatsächlich ernst, wenn es darum geht, den Mittelstand in unserem Land zu stärken. Auch dass sich mittlerweile die Union in ihrem Antrag unserer Argumentation „ein Stoff - ein Dossier“ - so unser Antrag - angeschlossen hat, dazu kann man nur sagen: besser spät als nie. Daraus wird aber auch deutlich, wer sich mit welcher Intensität tatsächlich um die kleinen und mittelständischen Unternehmen kümmert. Das Thema REACH ist bei uns wirklich in den besten Händen. ({18}) Nun komme ich zum dritten Bereich, zu Innovation und Arbeitsplätzen. Voraussetzung für eine zukunftsfähige wirtschaftliche Entwicklung ist Innovation. Das bestehende Chemikalienrecht ist - ich denke, da sind wir uns einig - äußerst innovationshemmend, indem es die Neuentwicklung von Stoffen gegenüber der Verwendung der vorhandenen Altstoffe behindert. Das hat dazu geführt, dass in den vergangenen 20 Jahren kaum neue Stoffe entwickelt wurden. REACH schafft sowohl mit der Harmonisierung als auch mit der Zulassungspflicht für gefährliche Stoffe endlich Anreize, neue, ungefährliche Stoffe zu entwickeln. ({19}) - Das gefällt Ihnen jetzt nicht, aber manchmal ist das so mit der Wahrheit. ({20}) Darauf haben wir immer wieder hingewiesen und darauf werden wir immer wieder hinweisen. Für uns ist klar: Ökologie und Ökonomie gehören zusammen. Das heißt, wer den Erhalt und die Entstehung neuer, zukunftsfähiger Arbeitsplätze will, der muss auch REACH wollen. Wir sind der festen Überzeugung, REACH wird nicht zuletzt auch global neue Standards setzen; denn Europa ist der weltgrößte Markt für Chemikalien. ({21}) Wer auf diesem Markt in Zukunft noch präsent sein will, der muss sich den Anforderungen dieses Marktes anpassen. Vor diesem Anpassungsdruck steht dann auch die Weltwirtschaft, auch die amerikanische Industrie. Das ist der Grund, warum die USA so intensiv versuchen, REACH zu verhindern. Zum letzten Punkt: Umwelt und Gesundheit. Innovation im Bereich der Entwicklung neuer Stoffe ist gerade auch vor dem Hintergrund des Umwelt- und Gesundheitsschutzes dringend notwendig. Um ein aktuelles Beispiel anzuführen: Perfluortenside, klassische Altstoffe. Das sind oberflächenaktive Substanzen, die weltweit in Textilien, in Teppichen, in Farben, in Reinigungsmitteln usw. vorkommen. Verbraucher sind von Produkten, die Perfluortenside enthalten, alltäglich umgeben. Weltweit wurden im Jahr 2000 circa 3 665 Tonnen dieser Stoffe produziert, obwohl Bioakkumulation und toxische Eigenschaften nachgewiesen wurden. Hier haben wir ein schönes Beispiel, warum wir REACH brauchen. Festzuhalten ist auch: Heute leiden in Europa dreimal so viele Kinder an Asthma wie vor 30 Jahren. Stoffe, die den Hormonhaushalt verändern, finden sich in der Muttermilch. Stoffe werden fernab ihres Anwendungsbereichs in der Arktis wiedergefunden. Das sind persistente Stoffe. ({22}) Und damit will ich abschließend sagen: Wenn wir nicht ernsthaft versuchen, diese Probleme anzugehen, dann haben wir in der Politik nichts verloren. Vielen Dank. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Vogel-Sperl, Sie haben hier einen bemerkenswerten Auftritt hingelegt und Dinge behauptet, die einer Überprüfung in keiner Weise standhalten. Sie aber haben erklärt, das sei die Wahrheit, wir hingegen hätten völlig daneben gelegen. ({0}) Die Anhörung, die wir durchgeführt haben, hat das, was wir vorgetragen haben - das gilt auch für Zahlen, die Frau Kollegin Flachsbarth genannt hat -, absolut bestätigt. Offensichtlich werden alle angehörten Sachverständigen und diejenigen, die dieselbe Auffassung vertreten, für Idioten gehalten; ({1}) nur Sie haben die Wahrheit mit Löffeln gefressen. ({2}) Das geht doch wohl nicht an. ({3}) Was den effektiven Schutz für Mensch und Umwelt angeht, sind uns allen die Gefahren bekannt, die Sie am Ende Ihrer Rede zu Recht beschrieben haben. Wir wollen ein hohes Schutzniveau. Im Übrigen gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bereits ein hohes Schutzniveau. In dieser Frage kommt es aber nicht auf die produzierten Jahresmengen an; es geht vielmehr um die Risiken, die mit dem jeweiligen Stoff verbunden sind. Deswegen wollen wir eine entsprechende Umstellung. ({4}) Wenn Sie feststellen, es bestehe kein Änderungsbedarf, es seien schon wesentliche Schritte unternommen und die Bedenken seien aufgenommen worden, dann frage ich Sie, warum sich Kommissar Verheugen für eine Überarbeitung der Chemikalienverordnung einsetzt, um die Regelungen zu entbürokratisieren. ({5}) Er wird sich schließlich etwas bei diesem Vorschlag gedacht haben. ({6}) Was Ihre Bemerkung angeht, Deutschland sei der weltgrößte Markt für Chemikalien und wer auf diesem Markt vertreten sein wolle, müsse sich entsprechend anpassen, kann ich Sie nur auffordern: Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie hier tun! Die Anpassung könnte darin bestehen, dass Chemikalien produzierende Betriebe in andere Länder abwandern, in denen der Umwelt- und Gesundheitsschutz um Längen schlechter ist als bei uns. ({7}) Das kann nicht in unserem Interesse liegen, weder aus Sicherheits- und Umweltschutzgründen noch aus gesundheitlichen Gründen. Deshalb schlagen wir vor: Lassen Sie uns auf eine vernünftige Regelung auf europäischer Ebene hinarbeiten, statt durch unsinnige Regelungen die Abwanderung von Betrieben in andere Länder herbeizuführen. Ich komme zum letzten Punkt. Bei der Kostenbelastung geht es besonders um die kleinen und mittleren Betriebe, die mit wenigen Chemikalien arbeiten. Es geht weniger um die Großbetriebe, die wahrscheinlich vielen der vorgeschriebenen Regelungen gerecht werden können. Das gilt für die kleinen und mittleren Betriebe aber nicht. Wenn Sie diese kaputtmachen, dann zerstören Sie Arbeitsplätze und sorgen dafür, dass es in Deutschland weiter bergab geht. Das wollen wir nicht. Wir setzen uns für eine Einheit aus Umwelt- und Gesundheitsschutz und der Wirtschaft ein. Das erwarten wir auch von der Bundesregierung, zumal sie diese Zielsetzung wie eine Monstranz vor sich herträgt. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung Frau Vogel-Sperl.

Dr. Antje Vogel-Sperl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003651, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Homburger, ich möchte kurz auf die Prüfanforderungen eingehen. Würden Sie mir zustimmen, dass die Wirkung von Chemikalien mithilfe solcher Vergröberungen wie dem Vorschlag von VCI und CEFIC, dass die Prüfanforderungen grundsätzlich nur expositionsbezogen sein sollten, äußerst schwer zu ermitteln ist und dass auch bestimmte Mindestdaten, die hinsichtlich der akuten Wirkung erhoben werden müssen, nur schwer zu ermitteln sind? Stimmen Sie mir auch zu, dass belastbare Einschätzungen der Spätfolgen einer Chemikalienexposition wie eine Krebs erregende Wirkung, die Veränderung des Erbguts, die Verursachung von Missbildungen im Mutterleib sowie die schädigende Wirkung der Organe wie Leber und Niere aufgrund der Mindestdaten nicht möglich sind? Damit will ich noch einmal deutlich machen, worum es geht und was künftig notwendig ist, damit REACH entlang der Kette auch zu den Ergebnissen führt, die mit seiner Konzeption angestrebt wurden. Diesen Punkt halte ich für sehr wichtig. Was die Anhörung im Umweltausschuss betrifft, haben Sie die Ergebnisse einseitig dargestellt. Die Kostenbelastung hat Herr Schmitt bereits in seinen Ausführungen erläutert. Deswegen möchte ich nicht mehr ausführlich darauf eingehen. Aber lassen Sie mich eines anmerken: Wir alle wollen keine unnötige Bürokratie, aber wir wollen auch nicht das ursprüngliche Ziel von REACH gefährden. Wir brauchen keinen Datenfriedhof. Wir brauchen vielmehr belastbare und aussagefähige Daten. Sonst können wir uns das ganze Unternehmen sparen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Bleser von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Schlimmste, was man Tieren antun kann, ist, wenn man ihnen in Versuchsanlagen unter Umständen schwerste gesundheitliche Schäden zufügt oder sie sogar tötet. ({0}) Eine ethische, moralische und rechtliche Rechtfertigung kann es dafür nur dann geben, wenn Tierversuche dem Schutz von Menschen dienen. ({1}) Wir alle haben das in der Diskussion über die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz so gesehen und eine entsprechende Grundgesetzänderung beschlossen. Unvermeidbar sind Tierversuche aber nur, wenn alle anderen Möglichkeiten bei Testverfahren für Chemikalien ausgeschöpft sind, um damit Gefahren für Leib und Leben von Menschen auszuschließen. Vor diesem Hintergrund ist die Absicht der Europäischen Kommission zu sehen, alle vor 1981 im Umlauf befindlichen Stoffe und - in der Regel - Chemikalien einem Anmeldeverfahren, einer Bewertung und eventuell einem erneuten Zulassungsverfahren zu unterziehen. Circa 100 000 Altstoffe, die sich schon seit über einem Vierteljahrhundert im Umlauf befinden, sollen nach dem Verordnungsentwurf mit dem Namen REACH einem neuen Prüfverfahren unterzogen werden. In der Praxis bedeutet das nichts anderes, als dass zum Beispiel Geschirrspülmittel, Shampoos oder andere Dinge, die wir schon seit vielen Jahrzehnten verwenden, noch einmal in Tierversuchen getestet werden müssen. Die Feststellung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit bedeutet in vielen Fällen letztlich die Durchführung von Tierversuchen. Das britische Umweltministerium hat in einer Studie aufgezeigt, dass dafür circa 12 Millionen Tierversuche notwendig sein werden. So hat sich die Welt verändert: Seit den 80er-Jahren haben sich die Grünen als Befreier von Tieren aus Versuchsanlagen präsentiert. Heute brüstet sich der grüne Umweltminister Trittin mit der Notwendigkeit, seit Jahrzehnten im Umlauf befindliche Chemikalien mit millionenfachen Tierversuchen neu zu testen. Damit hat die Bundesregierung auch in Fragen des Tierschutzes ihre Glaubwürdigkeit verloren. ({2}) Viele Experten halten die Überprüfung von maximal 6 000 Altchemikalien für vollkommen ausreichend. Diese Linie vertritt auch die Europäische Volkspartei im Europaparlament. Wenn man diesen Ansatz wählte, könnte die Zahl der von der Bundesregierung als notwendig erachteten Tierversuche um 80 Prozent reduziert werden. Man benötigte dann 9,6 Millionen Versuchstiere weniger. Ich fordere deshalb die grünen Heiligenscheinträger in Fragen des Tierschutzes, Künast und Trittin, auf, ({3}) sich endlich in Brüssel für den Tierschutz einzusetzen. Die Zahl der dann noch eventuell notwendigen 2,4 Millionen Tierversuche ließe sich durch die Anwendung von Alternativmethoden weiter reduzieren. Ich weise auf Folgendes hin - Frau Kollegin Flachsbarth hat das bereits erwähnt -: 1987 hatten wir 6,7 Millionen Euro zur Förderung der Entwicklung von Alternativmethoden bei der Überprüfung von Chemikalien in den Haushalt eingestellt. Im Haushaltsjahr 2005 sind es aber nur noch 2,8 Millionen Euro. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was wir schon vor mehr als 15 Jahren in diesem Bereich eingesetzt haben. Diesen Vorwurf müssen Sie sich an Ihre Revers heften lassen, meine Damen und Herren von der Koalition. ({4}) Damit zeigt sich deutlich, wie bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit divergieren. ({5}) Als tierschutzpolitischer Sprecher meiner Fraktion muss ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Ein völliger Verzicht auf Tierversuche ist aus heutiger Kenntnis leider nicht möglich. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogel-Sperl?

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte meine Ausführungen zu Ende bringen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Keine Zwischenfrage.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde Ihnen alles im Laufe meines Vortrages erklären. Ein völliger Verzicht auf Tierversuche ist - ich sage es noch einmal - nicht möglich. Wir tragen die Verantwortung, ihre Anzahl auf ein Minimum zu reduzieren. Wir haben uns für die verstärkte Förderung von Alternativmethoden ausgesprochen. Unsere Fraktion stellt folgende vier Forderungen. ({0}) Erstens. Die Tierversuche in Bezug auf schon vor 1981 in Umlauf befindliche so genannte Altstoffe sind in den meisten Fällen unnötig. Sie sind besonders grausam, weil sie sinnlos sind. In der Regel liegen in der Praxis ausreichende Erkenntnisse über die Wirkung dieser Stoffe vor. Zweitens. Sollten dennoch Zweifel an der Unbedenklichkeit einer Altchemikalie bestehen, müssen, bevor Tierversuche gemacht werden, alle vorhandenen Daten aus dem Humanbereich - ich denke dabei zum Beispiel an den Arbeitsschutz, aber auch an die Hersteller und die Anwender - herangezogen werden. Diese liegen den Unternehmen in der Regel auch aus Gründen des Eigenschutzes und der Produkthaftung ohnehin vor. In den meisten Fällen müsste damit, so meine ich, eine Bewertung von Stoffen auch ohne Tierversuche möglich sein. Inwieweit die Nutzung dieser Daten Eigentumsrechte tangiert und damit natürlich ausgeglichen werden müsste, kann ich letztlich nicht abschätzen. Ich halte diese Frage aber für lösbar und sie muss auch aus Gründen des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen beantwortet werden. ({1}) Drittens. Die Forschung mit dem Ziel, zuverlässige methodische Alternativen zu Tierversuchen zu entwickeln, muss intensiviert werden, um die Anzahl der Tierversuche wie zu unserer Regierungszeit in den 90er-Jahren zurückzuführen. Unter Ihrer Verantwortung ist diese Anzahl nämlich gestiegen. ({2}) Viertens. In einer gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, des Verbandes der Chemischen Industrie und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie zur Chemikalienpolitik der Europäischen Union vom August 2003 kommt das Wort „Tierschutz“ kein einziges Mal vor. ({3}) - Ja, jetzt kommen Sie so langsam dahin. Aber wie lange hat es denn gedauert, bis diese Bundesregierung das überhaupt erkannt hat? ({4}) Damit wird deutlich, wie die Bundesregierung die Bedeutung des Tierschutzes im Rahmen dieser EU-Chemikalienverordnung einschätzt. Wir fordern die Bundesregierung, insbesondere die dafür zuständige Ministerin Künast, auf, die Tierschutzfragen im Zusammenhang mit der europäischen Chemikalienpolitik in der Kommission aufzugreifen und ein „Massenmassaker“ von Tieren zu vermeiden. ({5}) Ich appelliere deshalb an Ihr Gewissen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann wäre ein erster Schritt für mehr Tierschutz in der Europäischen Union gemacht. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier von der SPD-Fraktion.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Peter Bleser, ich habe die ganze Zeit versucht, bei dir einen Heiligenschein zu entdecken; aber bei Scheinheiligen ist das offensichtlich nicht möglich. ({0}) Ich kann von dieser Stelle aus natürlich nicht nachvollziehen, in welcher Art und Weise die berechtigten Anliegen des Tierschutzes und auch die berechtigten Anliegen all derer, die sich für den Tierschutz aktiv einsetzen, in dieser Debatte missachtet werden. Man sollte normalerweise nicht so argumentieren, wie Sie es heute Morgen hier tun. ({1}) Ich glaube, im Grundsatz sind wir uns alle in diesem Hause über den Stellenwert des Tierschutzes einig. ({2}) Ich möchte diese Debatte jetzt nicht dadurch beleben, dass ich an Ihr Verhalten erinnere, als wir den Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert haben. Ihr Anliegen ist natürlich berechtigt. Ich teile Ihre Einschätzung, dass die Ansätze in diesem Haushalt zu gering sind, gerade wenn man berücksichtigt, dass die Evaluation von Ersatz für aktuelle Tierversuche natürlich einer gewissen Zeit bedarf. ({3}) Das Entwickeln von Alternativen dauert im Regelfall vier bis fünf Jahre. Bis zur Evaluation dauert es vielleicht noch länger, bis zu acht Jahre. ({4}) Das wissen auch Sie, Frau Kollegin Flachsbarth. Sie sind als Fachkollegin sehr in der Materie. ({5}) Es ist letztlich das Verdienst der ZEBET - sie ist beim BfR angesiedelt -, ({6}) dass wir in Deutschland in dem Bereich führend sind und auch in Europa einen wesentlichen Beitrag leisten, wodurch schon viele Tierversuche überflüssig geworden sind. ({7}) - Das ist auch unbenommen. Das ist eine grundsätzliche Ausrichtung, die man nur unterstützen kann. Sie haben sie gegründet. Wir führen das Ganze erfolgreich fort ({8}) und stellen auch die entsprechenden Haushaltsmittel zur Verfügung, damit dort weiter zielgerichtet Forschung betrieben werden kann. Unbestritten ist auch, dass die Ansätze, die zum Tragen kommen, und die Größenordnungen, die hier vorgetragen worden sind, was die Zahl der Tierversuche angeht, zumindest in dem Bereich, der hier interessant ist, nämlich dem Bereich der Toxikologie, zunächst einmal zu relativieren sind. Im Jahr 2002 waren es 2,2 Millionen Tiere, die in Versuchen eingesetzt worden sind. Im Jahr 2003 waren es 2,1 Millionen. Davon sind für den Bereich der Toxikologie - da ist die gesamte Arzneimitteltoxikologie eingeschlossen - im Rahmen von Zulassungsverfahren 178 000 Versuchstiere eingesetzt worden. Für die Toxikologie ist es natürlich in besonderer Weise interessant, auch aus Gründen der Kostenersparnis, neue Modelle zu entwickeln. ({9}) In vielen Bereichen gibt es bereits neue Modelle. Der LD-50-Test - das ist Ihnen ja ein Begriff - wird heute nicht mehr angewandt. Die OECD erkennt da bestimmte Ergebnisse nicht mehr an. Damit ist dieser Test überflüssig geworden. Der Draize-Test - Sie kennen ihn; auch ich kenne ihn noch aus meiner Praxis im Bereich der Pharmakologie - ist ebenfalls überflüssig geworden. ({10}) In der ZEBET sind bahnbrechende Entwicklungen im Bereich des Tierversuchsersatzes geleistet worden. ({11}) Das muss man hier auch einmal würdigen. Für die Leistung, die dort erbracht worden ist, muss man den Forschern und der Spitze der ZEBET Dank sagen. ({12}) Die Strategie des Tierversuchsersatzes ist zielgerichtet fortzuführen. Gerade was den Tierschutz angeht - da liegt Ihr Antrag gar nicht einmal so weit daneben -, ist ein unter Umständen bahnbrechender Ansatz der, mit mathematisch-statistischen Verfahren Strukturanalysen oder entsprechende Wirkungs- bzw. Risikoanalysen nachzuvollziehen, die zunächst einmal in der Lage sind, den einen Bereich der Chemikalien von dem anderen zu trennen, nämlich dem Bereich der Chemikalien, die nicht so umweltrelevant und toxikologisch nicht so relevant sind, ({13}) und letztlich nur die Substanzen einer ausführlichen toxikologischen Prüfung, auch mittels Tierversuch, zu unterziehen, die wirklich umweltrelevant und wirklich toxikologisch relevant sind. Dass Sie sich hier aber zum Vertreter der Interessen der chemischen Industrie machen ({14}) und das mit dem Anliegen des Tierschutzes verknüpfen, halte ich nicht für richtig. ({15}) Wir brauchen für jede Substanz, die produziert wird, auch in Abhängigkeit von ihrem Produktionsvolumen, einen Grunddatensatz. Auf der Grundlage dieses Grunddatensatzes ist dann zu entscheiden, wie man weiter verfährt, ob in dieser Substanz ein Risiko steckt, das weiter geprüft werden muss. Wenn ich das nur expositionsbezogen tue, dann muss ich zunächst einmal erfassen - das ist heute Morgen schon vielfach dargestellt worden -: Wer ist überhaupt exponiert? Wenn man diesen Ansatz fährt, der unter Umständen nicht ganz so irrelevant ist, wenn es um Einzelsubstanzen geht, vor allem um Substanzen, die in geringeren Mengen produziert werden als die, die nach den bisherigen Kriterien zu prüfen sind, vor allem wenn sie unter Verbraucherschutzaspekten relevant sind, ist darauf hinzuweisen, dass es in diesem Bereich meiner Einschätzung nach bei den bisherigen Vorgaben von REACH unter Umständen noch die eine oder andere Lücke gibt. ({16}) Das werden auch Sie natürlich aus den Stellungnahmen des BfR zur Kenntnis genommen haben. In der Studie, die das BfR vorgelegt hat, geht es um Größenordnungen von maximal 45 Millionen und minimal 7,5 Millionen. Das ist die Aussage. ({17}) - Das ist die Aussage des BfR, was die Zahlen und Größenordnungen angeht. Andere Studien kommen zu anderen Ergebnissen. Insgesamt kann man sagen, dass die Studie, was die Aussagekraft bezüglich der Versuchstiere angeht, bis zu einem gewissen Grade, aber nicht in Gänze belastbar ist. Niemand ist heutzutage in der Lage, aufgrund der Vorgaben eine konkrete Angabe darüber zu machen, wie viele Versuchstiere letztendlich erforderlich sein werden, um den Zweck von REACH zu erfüllen. ({18}) Dass REACH von Ihnen nicht mehr infrage gestellt wird, ist eine Entwicklung, die wir hier in diesem Hause von unserer Seite in besonderer Weise begrüßen. Ich warne davor, den Tierschutz in diesem Zusammenhang zu missbrauchen. ({19}) Führen Sie also bitte hier keine Stellvertreterdebatte im Interesse der chemischen Industrie. ({20}) Ich glaube, wir brauchen zielgerichtete Ansätze. Alle Alternativmethoden sparen nämlich Kosten in erheblichem Umfang. Da ist es angezeigt, im Zusammenwirken mit der chemischen Industrie und mit den vorhandenen wissenschaftlichen Instituten, dem BfR und der ZEBET, eine gemeinsame Strategie zu verfolgen und durch Unterstützung entsprechender Modelle die Forschung voranzubringen. Das spart zum einen beiden Seiten Kosten. Zum anderen erspart es den Versuchstieren viel Leid. Das ist ein konkreter Ansatz, den auch Sie unterstützen sollten. Vielen Dank. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4656 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Dr. Andreas Pinkwart, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Anpassungsgeld für Arbeitnehmer des Steinkohlenbergbaus an die vergleichbaren Regelungen der Arbeitnehmer anderer Branchen angleichen - Drucksache 15/3722 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Gudrun Kopp von der FDPFraktion. ({1})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Wir sprechen heute wieder einmal über das Thema der mit den Steinkohlensubventionen verbundenen Auswirkungen. Wir wissen ja alle - die FDP-Bundestagsfraktion hat das hier schon wiederholt bemängelt -, dass die rotgrüne Bundesregierung eine Anschlussregelung für die weitere Subventionierung eines Industriezweiges aus der Vergangenheit, der auch in Zukunft nicht wettbewerbsfähig sein wird, nämlich die Förderung der deutschen Steinkohle, vereinbart hat. Von 2005 bis 2012 sollen weitere 16 Milliarden Euro an Subventionen gezahlt werden, und das vor dem Hintergrund der Haushaltslage, der allgemeinen Wirtschaftslage und der dringend nötigen Investitionen in Bildung und Innovationen. Das finden wir in der Tat unmöglich. ({0}) Es kommt aber noch schlimmer. Im Rahmen der im Zuge von Hartz IV beschlossenen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, der wir im Grundsatz zugestimmt haben, gibt es eine weitere Privilegierung eines Berufszweiges, nämlich des Berufszweiges der Bergleute. Während Hunderttausenden von Menschen Einschnitte nach Hartz IV zugemutet werden, ist vorgesehen, eine Gruppe auszunehmen. Hier wird also ganz klar Klientelpolitik gemacht. Auf der einen Seite hat die Bundesregierung im Rahmen der Anpassungsmaßnahmen im Zuge von Hartz IV die so genannte 58er-Regelung aufgekündigt. Diese Vorruhestandsregelung sah vor, dass Menschen jenseits der 58, die bereit waren, gegenüber der BA zu erklären, dass sie auf eine weitere Jobvermittlung verzichten, garantiert wurde, dass sie Arbeitslosenhilfe bis zum Rentenbeginn bekommen. Dieser Personengruppe von ungefähr 400 000 Menschen zum Beispiel werden nun schmerzliche Einschnitte zugemutet. Auf der anderen Seite wird den von mir eben genannten Bergleuten weiterhin aus staatlichen Kassen ein Anpassungsgeld gezahlt: Zwei Drittel davon trägt der Bund und ein Drittel davon tragen die Kohleländer Saarland und NRW. Das stellt eine klare Ungleichbehandlung dar. Allein für das Jahr 2004 ist im Haushalt von Minister Clement hierfür ein Sollansatz von 120 Millionen Euro vorgesehen. Hinzu kommen noch einmal Bundeszuschüsse an die Knappschaft, sodass es, bezogen auf das Jahr 2003, einen Gesamtzuschuss des Bundes zulasten der Steuerzahler in Höhe von 316 Millionen Euro gegeben hat. ({1}) Das, meine sehr geehrten Herren und Damen, nennen wir als FDP weder gerechtfertigt noch gerecht. ({2}) Hier stellen wir fest, dass eine weitere Subventionierung, eine Ungleichbehandlung, stattfindet, die wir angepasst wissen wollen. Wir möchten nicht, dass die Privilegierung dieses Berufszweigs weiterhin Bestand hat, und fordern Rot-Grün auf - Sie nehmen ja sonst auch immer die Lufthoheit hinsichtlich moralischer Werte für sich in Anspruch -, dass Sie diese Regelung fallen lassen und darauf verzichten, diese Art von Subventionierung und Ungleichbehandlung fortzuführen. Ich sage Ihnen noch einmal ganz deutlich: Wenn wir im Jahr 2006 in die Regierungsverantwortung kommen sollten - das hoffen wir sehr und darauf arbeiten wir hin -, werden wir diese Steinkohlensubventionen mit ihren ungleichen Anpassungsregelungen abschaffen und zwar zu dem Zeitpunkt, der rechtlich am frühesten möglich ist, im Jahre 2008. Ferner sage ich Ihnen: Die Anschlussregelung, die bis 2012 gelten soll, wird ohnehin nicht greifen; denn EU-Kommissar Piebalgs hat mir gegenüber erklärt, es werde keine Anschlussregelung jenseits des Jahres 2010 geben. Nun mag es sein, dass Sie einen neuen Deal erfinden. Der letzte Deal von Ihnen ging zulasten des deutschen Speditionsgewerbes; wir müssen sehen, wer unter einem eventuellen neuen Deal zu leiden hat. Ich hoffe aber, dass unserem Land diese Ungleichbehandlung und Subventionierung erspart bleiben werden, nämlich dadurch, dass Ihre Regierungszeit dann längst zu Ende sein wird. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kopp, zu dem von Ihnen zuletzt geäußerten Wunsch darf ich Ihnen sagen: Diesen Wunsch haben Sie schon zu Anfang dieser Wahlperiode geäußert und Sie werden ihn wahrscheinlich bis 2006 noch öfters vortragen. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Antrag verbinden die Kolleginnen und Kollegen von der FDP die Erwartung, der Deutsche Bundestag möge Regelungen zum Anpassungsgeld für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Steinkohlenbergbaus an die vergleichbaren Regelungen anderer Branchen angleichen, die aber - das sage ich hier sofort - nicht vergleichbar sind und sich somit auch nicht ohne weiteres von der einen auf die andere Branche übertragen lassen. ({0}) Damit Sie diese Problematik besser nachvollziehen können, will ich dabei einmal näher auf den kohlepolitischen Hintergrund eingehen. Im Rahmen der Anschlussfinanzierung der Steinkohlenbeihilfen ab 2006 soll die Förderung von derzeit 26 Millionen Tonnen auf 16 Millionen Tonnen in 2012 abgesenkt werden. Dies ist mit einem Abbau von über 16 000 Arbeitsplätzen verbunden, und dies nur in einer begrenzten Region, im Steinkohlenbergbau. ({1}) Um Sozialverträglichkeit sicherzustellen, sollen die Regelungen zum APG, also dem Anpassungsgesetz, bis 2012 verlängert werden; dabei sollen die Frühverrentungen der Bergleute an den allgemeinen Bedingungen ausgerichtet werden. Darauf werde ich gleich noch näher eingehen. Dies ist aus Gründen der Sozialverträglichkeit nötig und auch aus energiepolitischen und rohstoffpolitischen Gründen sinnvoll. Das APG hat sich seit 1972 als Instrument bewährt; es dient der sozialen Flankierung des personellen Anpassungsprozesses im deutschen Steinkohlenbergbau. Es wurde im Übrigen nie - ich sage noch einmal: nie - infrage gestellt, auch nicht von den FDP-Wirtschaftsministern, etwa 1991 von Herrn Möllemann oder 1997 von Herrn Rexrodt. Damals wurde die Geltungsdauer des APG verlängert, und dies aus gutem Grund. Ich sage auch an die Adresse derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die dieser Debatte aufmerksam zuhören: Politik muss auch in den Zeiten, in denen man selber in der Opposition ist, verlässlich bleiben. Dies gilt insbesondere für Sie, meine Damen und Herren von der FDP. ({2}) Darüber hinaus werden die neuen APG-Richtlinien ab 2006 unter anderem auch Elemente enthalten, in denen bereits Forderungen nach einer Angleichung an die allgemeinen Regelungen berücksichtigt werden. ({3}) Ich will dies hier nennen: Alle Änderungen, die sich aus der veränderten Rentengesetzgebung ergeben, fließen automatisch in die Leistungsberechnung ein. Mit dem Geburtsjahrgang 1952 ist eine Inanspruchnahme der Rente ab dem 62. Lebensjahr nur noch mit 10,8 Prozent Rentenkürzung möglich. Damit verschiebt sich für die Übertagebeschäftigten der Eintritt in das APG auf das 57. Lebensjahr. Der Beitrag zur Krankenversicherung wird ab 2006 für neue APG-Empfänger nicht mehr voll erstattet. Der Beitragspflichtige muss sich, wie andere auch, dann mit 50 Prozent am Krankenversicherungsbeitrag beteiligen. Der Entwurf der APG-Richtlinie befindet sich zurzeit in der Ressortabstimmung und wird dann mit den Bergbauländern beraten. ({4}) Die vorgesehenen Veränderungen werden von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite - hören Sie genau zu, Frau Kopp - mitgetragen. Lassen Sie mich aber auch etwas zur energiepolitischen Seite sagen. Die Gremienbeschlüsse zur Stilllegung bzw. vorgezogenen Stilllegung sind mit der APGRegelung konditioniert. Ein Verzicht auf APG bzw. die faktische Außerkraftsetzung der APG-Richtlinie und damit das Verlassen des sozialverträglichen Anpassungsprozesses würden einen leistungsfähigen Steinkohlenbergbau gefährden und damit den Verlust des dringend benötigten energiepolitischen Beitrags der heimischen Steinkohle bedeuten. Wir als SPD-Fraktion stehen zum Energiemix und dazu gehört auch die heimische Steinkohle. ({5}) Ich frage mich, meine Damen und Herren von der FDP, ob Sie damit auch den Verzicht der Stahlindustrie auf Koks aus heimischer Kokskohle oder die Stilllegung von Kraftwerken, bedingt dadurch, dass wir bei Kraftwerkskohle auf dem Weltmarkt in absehbarer Zeit vielleicht in einen Lieferstau geraten, in Kauf nehmen wollen. ({6}) Das scheint mir nicht zu Ende gedacht; denn ich bin überzeugt, dass Ihnen die Entwicklungen auf den Weltrohstoffmärkten durchaus bekannt sind. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag verkennen Sie völlig, dass es sich beim APG nicht um einen Bestandteil der Arbeitsmarktreformen handelt. Die Arbeitsmarktreformen sollen vorrangig Arbeitslose wieder in Arbeit bringen. Dies trifft aber nicht auf die älteren Bergleute zu. Ich wiederhole: Beim APG handelt es sich um ein bewährtes Instrument, um einen sozialverträglichen Personalabbau zu garantieren. Die Bergleute sind nicht arbeitslos. Sie machen aus der Solidarität für ihre Nachfolger - ihre Kinder, die junge Generation - heraus ihre vom Grundsatz her sehr sicheren Arbeitsplätze frei und verzichten auf erhebliche finanzielle Mittel. Ich fasse zusammen: Ihr Antrag hält einer Prüfung unter den Gesichtspunkten sowohl der Sozialverträglichkeit als auch der Energiepolitik nicht stand und ist deshalb abzulehnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Zusammenhang mit dem deutschen Steinkohlenbergbau, den die FDP in ihrem Antrag thematisiert, gibt es zweifellos viele Wahrheiten. Wahr ist, dass es für die aus dem Bergbau ausscheidenden Kumpel in unserem Land traditionell gute Regelungen im Vergleich zu anderen Branchen gibt. ({0}) Wenn Sie aus einer Kohleregion stammen, dann wissen Sie allerdings auch, dass zur Wahrheit gehört, dass dies seine guten Gründe hat; denn unsere Bergleute haben nach dem Zweiten Weltkrieg durch ihre schwere Arbeit mit erheblichen gesundheitlichen Belastungen einen unverzichtbaren, großen Beitrag zum Wiederaufbau unseres Landes, und zwar nicht nur der Bergbauregionen, geleistet. ({1}) Wahr ist auch, dass man - entsprechend war die Politik CDU/CSU-geführter Bundesregierungen - allein mit dem Hinweis auf Verdienste der Vergangenheit bestimmte Strukturen natürlich nicht unendlich lange fortbestehen lassen kann. In den Bergbauregionen hat es einen Strukturwandel gegeben und wir als Union haben immer gesagt, uns wäre es lieber, er wäre schneller vorangegangen; das ist uns auch für die Zukunft wichtig. Wahr ist aber auch, dass man vor diesem Hintergrund mit Recht die Frage stellen kann, ob die Bundesregierung gut beraten war, angesichts der durch ihre Politik herbeigeführten katastrophalen allgemeinen wirtschaftlichen Lage noch im November 2003 einen Finanzrahmen für das Anpassungsgeld für Arbeitnehmer des Steinkohlenbergbaus in dem Umfang zuzusagen, in dem sie es - trotz der von der FDP angesprochenen Regelungen für Arbeitnehmer anderer Branchen - getan hat. Genauso gehört zur Wahrheit, dass die rot-grüne Bundesregierung diese Regelung nun einmal getroffen hat und dass bei allen auf die Zukunft gerichteten Überlegungen der Satz gelten muss, dass einmal geschlossene Verträge einzuhalten sind. Das gilt nicht nur für die spezielle Frage des Anpassungsgeldes für Bergleute, sondern auch für die gesamte deutsche Steinkohlenpolitik. Vor diesem Hintergrund hat die Unionsfraktion auch immer zu den im Jahre 1997 im Steinkohlenkompromiss getroffenen Vereinbarungen gestanden. Wenn Wirtschaftspolitik einen Rahmen setzen soll - das ist genau das Credo der Ordnungspolitik -, dann muss dieser Rahmen natürlich auch verlässlich sein, dann kann man ihn nicht bei der erstbesten Gelegenheit, kaum dass er verabredet worden ist, infrage stellen. Das gilt für den Bergbau genauso wie für die Post oder für andere Bereiche, in denen Anpassungsregelungen einmal vereinbart worden sind. ({2}) Wahr ist auch, dass es bei dem hier in Rede stehenden Anpassungsgeld der Arbeitnehmer des Steinkohlenbergbaus um eine Regelung geht, die es seit 1972 gibt. Dieses Anpassungsgeld hat sich als Instrument zur sozialen Flankierung des Anpassungsprozesses im deutschen Steinkohlenbergbau im Grundsatz bewährt. Zur Wahrheit gehört natürlich auch - auch wenn Sie es nicht gerne hören mögen -: In diesen 33 Jahren, in denen es dieses Anpassungsgeld gibt, hat keine Partei so lange regiert wie die FDP. Sie haben nämlich 26 Jahre lang für dieses Anpassungsgeld die politische Verantwortung getragen. Man kann noch weiter zurückgehen: Der Höhepunkt des deutschen Steinkohlenbergbaus war im Jahre 1958. ({3}) Seitdem gehen die Produktion und die Beschäftigung im Bergbau zurück. ({4}) Niemand hat seit 1958 in Deutschland länger regiert und länger Steinkohlenpolitik gemacht als Sie von der FDPFraktion. Das sage ich unabhängig davon, wie man inhaltlich zu dieser Politik stehen mag. Es drängt sich natürlich schon der Eindruck auf, dass Sie sich ein wenig in der Rolle des Konvertiten, der, wenn er erst einmal konvertiert hat, dann - getrieben vom schlechten Gewissen - besonders radikale, aber nicht unbedingt sachgerechte Vorschläge macht. ({5}) Das waren meine Vorbemerkungen. Jetzt will ich auf einzelne Punkte eingehen, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen. Sie sprechen beispielsweise davon, dass die Beschäftigten des Steinkohlenbergbaus von den mit der HartzIV-Reform verbundenen Einschnitten verschont bleiben. Ich will in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, dass wir Hartz IV nie als Instrument gesehen haben, um Menschen zu ärgern oder zu drangsalieren. Natürlich haben wir uns durchgerungen, Menschen Opfer zuzumuten. Aber es ging uns bei Hartz IV in erster Linie darum, arbeitslose Menschen schneller wieder in Arbeit zu bringen, als es bisher gelungen ist. Dass das seit dem In-Kraft-Treten der Reform nicht gelungen ist, hängt natürlich mit der desaströsen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung insgesamt zusammen. Diese Politik hat dazu geführt, dass sinnvolle Maßnahmen der letzten Jahre - wir haben sie deshalb mitgetragen, weil für uns die Vorteile die Nachteile überwogen haben; ich nenne als Stichwort Hartz II und Hartz IV - insgesamt durch eine falsche Wirtschaftspolitik konterkariert worden sind. Das ist einfach die Wahrheit im Zusammenhang mit Hartz IV. Nun ist natürlich auch richtig, dass das 1972 eingeführte Anpassungsgeld für Bergleute nie in erster Linie dem Zweck gedient hat, ausscheidende ältere Bergleute in eine andere Beschäftigung zu bringen. ({6}) Sie verwechseln hier ein wenig Äpfel mit Birnen. ({7}) Sie weisen in Ihrem Antrag darauf hin, dass die Bundesknappschaft den Bergleuten Leistungen gewährt, die diese nur zum Teil über Sozialversicherungsbeiträge finanzieren. Das ist nun in der Tat eine unbestreitbare Aussage, die für die Knappschaftsrentner genauso gültig ist wie für alle anderen Rentner, die aus der gesetzlichen Rentenversicherung - es gibt einen hohen Bundeszuschuss - Leistungen beziehen. Angesichts der Tatsache, dass auf einen aktiven Bergmann statistisch etwa fünf Rentner kommen, ist selbstverständlich klar, dass dieser Bergmann mit seinem Sozialversicherungsbeitrag nicht allein für diese Rentner aufkommen kann. Sie sagen in Ihrem Antrag auch, dass Sie zu einer sozialverträglichen Regelung kommen wollen. Das ist natürlich die Quadratur des Kreises. Sie stellen nämlich die einmal getroffenen Regelungen infrage und wollen gleichzeitig neu verhandeln, um auf andere Weise zu einer sozialverträglichen Regelung zu kommen. Sie müssten dazu nicht nur das Ei des Kolumbus finden, sondern es müsste Ihnen auch die bekanntermaßen unmögliche Quadratur des Kreises gelingen. Ich will in diesem Zusammenhang nur noch darauf hinweisen, dass Änderungen, die sich aus der veränderten allgemeinen Rentengesetzgebung ergeben, mittlerweile automatisch in die Leistungsberechnung für das Anpassungsgeld einfließen. Als Beispiel nenne ich den Wegfall von Ausbildungsanerkennungszeiten oder willkürliche Nullrunden bei der Rentenanpassung, die die Bundesregierung den Rentnern allgemein beschert hat. Von daher ist die Behauptung, dass die Bergleute von den Folgen der allgemeinen katastrophalen rot-grünen Wirtschaftspolitik ausgenommen werden, allenfalls begrenzt richtig. ({8}) Um die Situation, dass man die Quadratur des Kreises nicht erfolgreich schaffen kann, zu erkennen, genügt im Übrigen ein Blick in die Presselandschaft dieser Tage. Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ sprach vorgestern von einem neuen Kraftakt im Kohlenbergbau. Die „FAZ“, eigentlich bekannt dafür, ordnungspolitisch Kurs zu halten, spricht in ihrer gestrigen Ausgabe von einem „beispiellosen Sozialpakt in der deutschen Steinkohle“. Sie weist darauf hin, dass durch den Verzicht der gesamten Belegschaft im deutschen Steinkohlenbergbau zunächst 1 300 Arbeitsplätze erhalten bleiben. Zu diesem Sozialpakt mit einem Volumen von insgesamt 140 Millionen Euro, so schreibt die „FAZ“, würden allein die Mitarbeiter durch Lohnverzicht und andere Maßnahmen 110 Millionen Euro beitragen. ({9}) Dies dient der von Ihnen geforderten sozialverträglichen Regelung, die für den deutschen Steuerzahler im Übrigen billiger ist als die Entlassung der betroffenen Menschen in die Arbeitslosigkeit. ({10}) Es wäre natürlich vollkommen illusorisch, anzunehmen, dass ein solcher Solidarpakt greifen könnte, wenn gleichzeitig die von der Politik bereits einmal gegebenen Zusagen plötzlich nicht mehr gelten würden. Eine solche Politik wäre unverantwortlich. ({11}) Ich habe zu Beginn meiner Rede darauf hingewiesen, dass mit dem Verweis auf Leistungen des Bergbaus in der Vergangenheit selbstverständlich nicht sämtliche vom Bergbau für die Zukunft gewünschten Hilfen gerechtfertigt werden können. Deswegen hat sich gerade die CDU in Nordrhein-Westfalen auf einen Weg begeben, der den Bergleuten keine populären, aber ehrliche Antworten im Hinblick auf die Zukunft des deutschen Steinkohlenbergbaus gibt. Dazu gehört für uns die Halbierung der Steinkohlenförderung bis zum Jahre 2010. Die von Rot-Grün vorgesehene geringere Kürzung der Förderung reicht aus unserer Sicht nicht aus; denn die damit im Vergleich zu unserem Vorschlag verbundenen zusätzlichen finanziellen Belastungen sind mit den Grundsätzen einer nachhaltigen Finanzpolitik nicht vereinbar und insbesondere der zukünftigen Generation nicht zumutbar. Auch das gehört zur Wahrheit: Es gibt in der Steinkohlenpolitik kein ausschließliches Schwarz-Weiß. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich hoffe sehr, dass es uns in Zukunft, gerade in den nächsten Monaten, gelingt, die großen Gemeinsamkeiten, die wir auf dem großen Gebiet der Energiepolitik insgesamt haben, wieder in den Vordergrund zu stellen. Wir sind uns ja einig, was die hauptsächlichen Probleme unserer Energiepolitik sind. ({13}) - Das Hauptproblem ist doch, dass wir es uns in einem Land, in dem es zu Recht hohe Löhne und umfangreiche soziale Leistungen gibt, auch noch leisten, durch eine ideologisch-motivierte und vollkommen überzogene Förderung erneuerbarer Energieträger, durch den Ausstieg aus unserer Spitzentechnologie im Bereich der Kernkraft und durch viele andere Maßnahmen mehr die Energie in Deutschland künstlich teuer zu machen. Das ist doch das Hauptproblem in der Energiepolitik in Deutschland. ({14}) Es bringt uns, glaube ich, nicht weiter, wenn wir alle vom Energiemix reden und sich jeder seinen eigenen Energiemix gestaltet: Rot-Grün unter Stilllegung der sichersten Kernkraftwerke der Welt, Sie mit einem Absturz im Bereich der Kohlepolitik, mit einer Tabula rasa gegenüber Regelungen, die niemand so lange politisch geprägt hat wie Sie selber. Das hat nichts mit einem sinnvollen Energiemix zu tun. Wir geben inzwischen für die Kohle weniger Geld aus als für die Förderung erneuerbarer Energien. Es spielt dabei gar keine Rolle, ob die Belastungen die Steuerzahler oder die Verbraucher treffen. Dies alles sind letztlich Belastungen, die unsere Wirtschaft treffen, die die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land lähmen und die angesichts der unvermeidbaren Kostenbelastungen und der Wettbewerbsprobleme, die wir im Vergleich zum europäischen und außereuropäischen Ausland haben, nicht zu rechtfertigen sind. Hinzu kommt natürlich, dass die Kostenbelastungen, die der Steinkohlenbergbau verursacht, unstrittig herunter- und nicht hinaufgehen. Die in anderen Bereichen ideologisch-motivierte und total überzogene Förderpolitik, die die Energiepreise künstlich hochtreibt, sind das Hauptproblem unserer Energiepolitik. Kollege Laumann hat darauf in einer wirtschaftspolitischen Debatte in aller Deutlichkeit hingewiesen; daran kann ich nur noch einmal erinnern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Kopp?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, vielen Dank dafür, dass Sie diese Frage zulassen. - Wir sind uns sicher einig darin, dass wir die Kohle in Zukunft im Energiemix erhalten wollen. Das will auch die FDP. Auch Sie wissen wahrscheinlich, dass beispielsweise die heimische Braunkohle komplett wettbewerbsfähig ist. Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, wenn ich sage, dass man vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die deutsche Steinkohle nicht wettbewerbsfähig ist, unsere Kohlekraftwerke mit Importkohle sehr viel kostengünstiger befeuern kann? Ihre Argumentationslinie - Sie haben ausgeführt, wir benötigten die teure, nicht wettbewerbsfähige deutsche Steinkohle, um unsere Kraftwerke mit Steinkohle zu bestücken - ist nicht unser Argumentationsansatz. Natürlich brauchen wir die Steinkohle, aber nicht die teure heimische. Wir wollen stattdessen Importkohle, die nicht subventioniert wird und keine hohen Kosten verursacht.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin zunächst Ihrer Meinung, dass zu einem Energiemix in Deutschland auch die Braunkohle gehört. Ich verkenne jedoch nicht die umweltpolitischen Probleme, die damit verbunden sind. Es wird keinen Königsweg geben und auch nicht den Energieträger, auf den wir uns allein verlassen können. Die Diskussion über die Importkohle wird in letzter Zeit aufgrund der veränderten Weltmarktpreise mit anderen Akzenten geführt, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. ({0}) Das ändert natürlich überhaupt nichts daran, dass wir den sozialen Anpassungsprozess, den wir vor Jahrzehnten eingeleitet haben, fortführen sollten. Ich bestreite gar nicht, dass die deutsche Steinkohle auch bei den heute gültigen Energiemarktpreisen teurer ist als Importkohle. Sie wissen, dass wir in Deutschland bereits Importkohle verwenden. Genauso verwenden wir heimische Steinkohle. Das alles gehört zu einem sinnvollen Energiemix. Wenn wir von einem sinnvollen Energiemix sprechen, meinen wir nicht nur einen Energieträger und schließen andere aus, sondern dann beziehen wir uns auf den gesamten Energiemix. Darin unterscheiden wir uns. ({1}) Unabhängig davon haben wir in der Energiepolitik, in der Analyse der verheerenden Konsequenzen einer ideologisch verfehlten rot-grünen Energiepolitik sehr viel Übereinstimmung. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingen wird, uns in den kommenden Wochen und Monaten diesen Gemeinsamkeiten wieder verstärkt zuzuwenden. Ich bedanke mich für den Dialog, den wir fast während meiner gesamten Redezeit in diesem Kreis geführt haben. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brauksiepe, im Großen und Ganzen fand ich Ihre Rede sehr gut; aber einen Punkt möchte ich herausgreifen. Der Vergleich zwischen den erneuerbaren Energien und der deutschen Steinkohle hinkte, ({0}) die Steinkohle ist ein Energieträger der Vergangenheit, die erneuerbaren Energien sind die Energieträger der Zukunft. Das sieht sogar die von Ihnen zitierte „FAZ“ so, die davon spricht, dass die Kosten, die bei den erneuerbaren Energien aufgebracht werden müssen, notwendig sind, um zukunftsfähig zu werden. Das konnten Sie gestern in der „FAZ“ nachlesen. ({1}) Frau Kopp, es wäre besser gewesen, Sie hätten Ihre Rede zu Protokoll gegeben; am besten wäre es gewesen, Sie hätten Ihren Antrag zurückgezogen. ({2}) Es ist bekannt, dass die SPD und wir in der Frage, ob es einen dauerhaften Steinkohlensockel geben soll oder nicht, nicht einer Meinung sind. Ich halte auch die Kokskohle nicht für wettbewerbsfähig, da man in Australien die Kokskohle über Tage abbauen kann. ({3}) Das Problem liegt dabei nicht in der Förderung, sondern im Transport. Aber dieses Problem wird sich regeln lassen. Darüber, dass wir einen sozial verträglichen Strukturwandel wollen und auch zu gegebenen Versprechen stehen wollen, sind sich anscheinend mit Ausnahme Ihrer Fraktion alle Fraktionen hier im Hause einig. Sie stehen mit Ihrer Ansicht allein da. Natürlich muss man in Zeiten, in denen man den Bürgern durch Hartz IV und andere Reformanstrengungen einiges zumutet, auch diese Regelungen auf den Prüfstand stellen. Aber aufgewacht, liebe FDP, das haben wir auch gemacht. Das wurde hier bereits mehrfach ausgeführt. ({4}) Die Bedingungen der Frühverrentung werden sich zukünftig an den allgemeinen Veränderungen orientieren. Das war Teil des Steinkohlenkompromisses, ({5}) den SPD und Grüne beschlossen haben. Die Regelung in dieser Form wird keinen Bestand haben, stattdessen wird die Richtlinie angepasst. Natürlich - das bezieht sich auf den aktuellen Haushalt - kann man die Bedingungen nicht nachträglich für die Menschen ändern, die die Regelung in Anspruch genommen haben. Schließlich haben sie ihren Arbeitsplatz aufgegeben und sind in Rente gegangen. Das ist doch völlig klar. Das wäre doch unverantwortlich. ({6}) Natürlich muss man zwischen den Menschen, die unter Tage arbeiten, und denen, die in einem Büro als Sachbearbeiter arbeiten, unterscheiden. Aber wir haben - das wurde schon gesagt - die Frühverrentungsregelungen für beide Gruppen im Sinne der allgemeinen Frühverrentungsregelungen nach oben angepasst: für diejenigen, die unter Tage arbeiten, auf 52 Jahre, und für alle anderen auf 57 Jahre. Dann bekommen sie fünf Jahre lang Anpassungsgeld, danach verminderte Rentenbezüge. Das haben wir analog zu allen anderen Branchen geregelt; hier gibt es keinen Unterschied. Dasselbe gilt für den zweiten Punkt, den Sie angesprochen haben: die Bundesknappschaft, zu der der Bund in der Tat Zuschüsse zahlt. Aber er zahlt auch zu den allgemeinen Rentenversicherungen steuerliche Zuschüsse. ({7}) Dass ein Unterschied zwischen dem einen und dem anderen System besteht, hat auch damit zu tun, dass wir die Leistungen in diesem Bereich radikal abgebaut haben. Während im allgemeinen Rentensystem zwei Arbeitnehmer für einen Rentner zahlen, zahlt im System der Knappschaft ein Arbeitnehmer für sechs Rentner. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hustedt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Lammert, bitte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hustedt, ist es nicht ein Gebot der Fairness gegenüber allen, die an diesem Thema Interesse haben - damit meine ich nicht nur die hier anwesenden Kolleginnen und Kollegen, sondern auch die in vergleichbaren Branchen unmittelbar Betroffenen -, einzuräumen, dass es für den Anpassungsprozess im Bergbau neben Regelungen, die analog zu allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen getroffen wurden, in der Tat privilegierte Regelungen gibt, die mit hohen öffentlichen Mitteln ermöglicht werden, dass wir diese Sonderregelungen aber aus guten Gründen über viele Jahre hinweg finanziert haben und wir uns vermutlich wünschen würden, dass der Strukturwandel in anderen Branchen auf ähnliche Weise hätte flankiert werden können, wie es in diesem Bereich möglich war, und dass insofern die Frage, ob wir dies im Kontext stattgefundener Veränderungen für eine nicht definierte Dauer in Zukunft fortsetzen können, legitim ist? Unsere Position wäre glaubwürdiger, wenn wir sagen würden: Wir müssen an allen Stellen, auch an dieser, neu nachdenken: nicht nur darüber, was wünschenswert ist, sondern auch darüber, was möglich ist. Aber in der Tat - das hat Kollege Brauksiepe gerade deutlich gemacht sollte man nicht ausgerechnet in einer Phase, in der die Betroffenen ganz ungewöhnliche zusätzliche Anstrengungen unternehmen und auf Einkommen und Versorgungsansprüche verzichten müssen, einen solch bemerkenswerten Konsens, der auch für andere Branchen beispielhaft sein könnte, mutwillig gefährden, indem man sie mit der Botschaft konfrontiert, dass sich die Bundesregierung in dieser Situation von ihren eigenen, verbindlichen Zusagen zurückzieht. ({0})

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann Ihnen nur zustimmen. Wir stehen zur Anpassungsregelung. ({0}) Wir haben gesagt - hier befinde ich mich mit meiner Position, wie übrigens auch Sie, zwischen jener der FDP und der Ihrer Partei -, dass wir nicht alles beim Alten gelassen haben. Vielmehr haben wir, weil neue Zeiten angebrochen sind, allen ein bisschen mehr zugemutet. ({1}) Dementsprechend haben wir auch die Regelungen zum Anpassungsgeld verändert und zum Beispiel den Zeitpunkt, ab wann jemand Anpassungsgeld bekommt, nach hinten verschoben. ({2}) Wir machen hier zwar nicht Tabula rasa; aber wir haben Veränderungen vorgenommen, die den neuen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. ({3}) Von daher sage ich Ihnen: Teilweise stimme ich Ihnen zu; aber teilweise sind wir in dieser Frage weiter als Sie. Wir wollen gemeinsam mit der SPD modernisieren und uns der Zeit anpassen. ({4}) Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass das, was die FDP fordert, zum Teil schon geschehen ist. Dafür kann ich Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: die Krankenversicherungsbeiträge. Künftig werden zum Krankengeld Zuschüsse in Höhe von nur 50 Prozent nötig. Auch die neuen Regelungen zum Zahnersatz und die Anpassungen in der Pflegeversicherung werden eins zu eins übernommen. Hier besteht überhaupt kein Unterschied zwischen den Kohlekumpels und allen anderen betroffenen Bürgern. Insgesamt muss man sagen: Wir reduzieren die Jahresproduktion bis zum Jahr 2012 von 26 Millionen Tonnen auf 16 Millionen Tonnen. Wir schließen fünf von zehn Zechen, ({5}) darunter auch das Bergwerk Walsum. Erstmals werden auch ökologische und volkswirtschaftliche Folgeschäden berücksichtigt. So haben wir eine Zeche, die sich unter dem Rhein befand und in der gebaggert wurde, früher geschlossen; ({6}) denn aufgrund der Arbeit, die dort stattgefunden hat, hat sich die Hochwassergefahr dramatisch erhöht. Dadurch haben wir sowohl die Folgeschäden als auch die Kosten sehr deutlich reduziert. Das ist ein absoluter Pluspunkt unserer gemeinsamen Vereinbarung. ({7}) Wir reduzieren die Belegschaften auf die Hälfte: von 38 000 auf circa 20 000 Menschen; das ist immer noch ein dramatischer Abstieg. Die Kohlesubventionen sinken von 2,7 auf 1,8 Milliarden Euro. Wir haben zudem dafür gesorgt, dass die steigenden Weltmarktpreise auf die Subventionen angerechnet werden, damit der Steuerzahler entlastet wird. ({8}) - Ja, natürlich: Wie gesagt, man kann Verträge nicht von einem Tag auf den anderen auflösen, ({9}) sondern man muss es so machen, dass die Branche damit umgehen kann. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit in der Politik; alles andere wäre unverantwortlich. ({10}) Wir sind auf dem Pfad des Ausstiegs aus der Subvention der Steinkohle und wir werden diesen Pfad weiter beschreiten. Danke schön. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede des Kollegen Rolf Hempelmann von der SPD-Fraktion wird krankheitsbedingt zu Protokoll ge- nommen; ich denke, Sie sind damit einverstanden.1) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3722 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 9. März 2005, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.