Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Helmut Rauber feiert heute seinen
60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich ihm
sehr herzlich.
({0})
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der
Kollege Volker Kauder als ordentliches Mitglied aus
dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Norbert Röttgen vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Norbert Röttgen als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Sodann teile ich mit, dass die Kollegin Undine Kurth
ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen benennt als Nachfolgerin
die Kollegin Monika Lazar. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Kollegin Lazar als Schriftführerin gewählt.
Durch eine Gesetzesänderung wurde das aus neun
Mitgliedern des Bundestages bestehende Gremium nach
§ 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes aufgelöst. Dafür muss gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes ein neues Gremium - ebenfalls bestehend aus
neun Mitgliedern des Bundestages - gewählt werden.
Hierfür schlägt die Fraktion der SPD die Kollegen
Florian Pronold, Christian Lange ({1}),
Dr. Rainer Wend und Uta Zapf, die Fraktion der CDU/
CSU die Kollegen Ruprecht Polenz, Christian
Schmidt ({2}) und Dr. Andreas Schockenhoff, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Kollegen HansChristian Ströbele sowie die Fraktion der FDP den
Kollegen Dr. Max Stadler vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann sind die genannten Kollegen in das Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes gewählt.
Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Uwe
Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Albert Schmidt ({4}), Volker Beck ({5}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt
verbessern - Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen
- Drucksache 15/4942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({7})
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht
- Drucksache 15/3423 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
- Drucksache 15/4469 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Minkel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({10}) zu der Streitsache vor
dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 249/04
- Drucksache 15/4944 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({11})
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD
Klage des Landes Hessen gegen Finanzzuweisungen des Bundes an das „Kompetenzzentrum Bologna“ der Hochschulrektorenkonferenz - Konsequenzen für die auf europäischer
Ebene vereinbarte Reform des Hochschulwesens in Deutschland
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ferner sollen die Punkte 3 g und 4 b, die jeweils Änderungen des Grundgesetzes betreffen, sowie der Tagesordnungspunkt 22 a und b - Versammlungsgesetz bzw.
Gesetz über befriedete Bezirke - abgesetzt werden.
Die Punkte 6 und 25 sollen getauscht werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Tourismus ({12}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Stärkung
der gesundheitlichen Prävention
- Drucksache 15/4833 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({13})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Haushaltsausschuss ({14}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Dieter
Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Prävention
und Gesundheitsförderung als individuelle
und gesamtgesellschaftliche Aufgabe
- Drucksache 15/4671 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({15})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({16}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Annette WidmannMauz, Verena Butalikakis, Monika Brüning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU: Prävention als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe umfassend, innovativ und unbürokratisch gestalten
- Drucksache 15/4830 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({17})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa
- Drucksachen 15/4900, 15/4939 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({18})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter
Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Müller,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte
des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4716 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({19})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Michael Roth ({20}), Günter Gloser,
Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Rainder Steenblock, Volker Beck
({21}), Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der
Rechte des Bundestages und des Bundesrates
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 15/4925 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({22})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der Begleitung, Mitgestaltung und
Kontrolle europäischer Gesetzgebung
- Drucksache 15/4936 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({23})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei der Rechtsetzung der Europäischen
Union nach In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages
- Drucksache 15/4937 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({24})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({25}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd
Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSUCSU
Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen
- Drucksachen 15/2970, 15/4206 Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Roth ({26})
Rainder Steenblock
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen, meine Herren! Wir legen
heute den Grundstein für eine gute Zukunft Europas. Wir
reden heute darüber, auf welchem Fundament wir Europäerinnen und Europäer leben und arbeiten wollen. Was
eint uns? Was hält uns zusammen? Was stiftet Identität
in Europa? Normalerweise beschäftigen sich Politikerinnen und Politiker mit diesen Fragen. Wir hatten aber im
Jahr 2003 erstmals seit langem wieder eine spannende
Debatte von Intellektuellen sowie Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern darüber, was uns zusammenhält
bzw. was uns eint.
Der deutsche Philosoph Habermas hat sich mit
Jacques Derrida, dem großen französischen Intellektuellen, zusammengetan. Beide haben gemeinsam ein Mut
machendes Plädoyer für das vorgelegt, was unser gemeinsames Bewusstsein neben all dem Politisch-Technokratischen, was uns allzu oft auch hier beschäftigt,
ausmachen könnte. Sie haben darüber gesprochen, dass
uns Europäerinnen und Europäer die Höhen und Tiefen
einer gemeinsam durchlittenen Geschichte einen. Uns
eint die Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger für die
Widersprüche des Fortschritts. Uns eint das Ethos im
Kampf um soziale Gerechtigkeit. Uns eint die Skepsis
gegenüber staatlicher Allmacht. Uns eint der Kampf gegen die Todesstrafe.
All dies sind Mut machende Beispiele. Heute fügen
wir ein weiteres Mut machendes Beispiel hinzu, denn
wir können stolz erklären, dass die europäische Verfassung, die uns heute Morgen hier zusammengeführt hat,
Identität stiftet.
({0})
Sie lädt die Bürgerinnen und Bürger Europas ein, sich
auf einem gemeinsamen Fundament zu vereinigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass wir
hier auch sehr kritisch und kontrovers über den Inhalt
der Verfassung gestritten haben. Wir sollten diesen Inhalt aber nicht an Wolkenkuckucksheimen messen und
uns nicht allein am Wünschenswerten, sondern am
Machbaren orientieren. Wären größere Reformschritte
nötig gewesen? - Ja. Waren größere Reformschritte
möglich? - Aus meiner Sicht nein.
Wenn wir über den Konvent und die sich daran anschließende Regierungskonferenz reden, dann sollten
wir nicht Amsterdam und Nizza vergessen, Regierungskonferenzen, die ohne parlamentarische Mitwirkung
schlechtere Ergebnisse zustande gebracht haben. Ich bin
deshalb von dieser europäischen Verfassung so begeistert - mit meiner Begeisterung möchte ich Sie ein wenig
anstecken - weil sie deutlich macht, dass Europa nicht
allein eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern von
Werten zusammengehalten wird. Die GrundrechteCharta wird rechtsverbindlicher Bestandteil dieser Verfassung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann seine
Rechte einklagen. Diese Rechte und die hiermit verbundenen Pflichten sind Maßstab für alle europäischen Institutionen.
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
besonders wichtig, dass das europäische Sozialmodell
zukunftsfest gemacht wird. Der Geist der Solidarität und
der sozialen Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden
durch die Verfassung. Daher sollten wir die Kommission
und alle anderen, die in Europa Verantwortung tragen,
immer wieder daran erinnern, dass Europa nur dann eine
Zukunft hat, wenn es sich auf einem sozialen Fundament
bewegt.
({1})
Wir haben es geschafft, die Europäische Union handlungsfähiger zu machen. Blockaden werden überwunden. In der Außen- und Sicherheitspolitik bekommt
Europa Gesicht und Stimme. Es besteht die Chance, dass
wir gemeinsam die großen, zentralen Herausforderungen
dieser Welt lösen und dass wir nicht mehr über Gegensätze reden, sondern Gemeinsamkeiten formulieren.
Auch haben wir die Chance, Globalisierung zu gestalten
und den Menschen die Angst vor der Globalisierung zu
nehmen. Globalisierung hat aus unserer Sicht nur dann
eine Zukunft, wenn sie ein menschliches Antlitz erhält.
Auch dies wird in der europäischen Verfassung deutlich.
Last, but not least stärken wir die Demokratie.
All dies ist ein Erfolg sozialdemokratischer Politik.
Dafür haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten jahrzehntelang gestritten: nicht nur Willy Brandt und
Helmut Schmidt.
({2})
Der Grundstein für diesen Konvent, der der EU-Verfassung zum Erfolg verholfen hat, ist unter deutscher Präsidentschaft, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, gelegt worden. Dies ist mit unserem Namen verbunden und
deswegen sollten wir darauf stolz sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
wir laden aber auch Sie dazu ein, ebenfalls stolz auf das
Ergebnis zu sein; darüber werden Sie nachher sicherlich
noch reden. An dieser Stelle danke ich allen, die zu diesem Erfolg beigetragen haben: unserem Konventsdelegierten Jürgen Meyer und dem Kollegen Altmaier von
der CDU/CSU. Auch Herr Teufel, der auf der Bundesratsbank sitz, hat Anteil an diesem Erfolg.
({4})
Dies gilt auch für den Bundeskanzler, den Außenminister und viele andere.
({5})
Ich rufe dies nur in Erinnerung, weil eben nicht nur
Regierungsvertreter, sondern auch Parlamentarierinnen
und Parlamentarier daran beteiligt waren. Wenn wir mit
Michael Roth ({6})
der europäischen Verfassung mehr Demokratie wagen,
dann sollten wir gemeinsam auch mehr Parlamentarismus wagen. Die europäische Verfassung stärkt nämlich
nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die
nationalen Parlamente. Wir haben uns immer als Partner
des Europäischen Parlamentes verstanden. Wir haben
aber gleichzeitig im innerstaatlichen Prozess die Aufgabe, Einfluss zu nehmen auf die Europapolitik. Es ist
unser gemeinsamer Beitrag, für mehr Öffentlichkeit und
mehr Transparenz zu sorgen, indem wir auch hier im
Bundestag über die Zukunft Europas diskutieren und
Probleme beraten.
({7})
Das dürfen wir nicht allein dem Europäischen Parlament
überlassen.
Natürlich ist da manches verbesserungswürdig und
auch verbesserungsfähig. Deswegen hat die rot-grüne
Koalition ein Begleitgesetz vorgelegt, mit dem der Versuch unternommen werden soll, das, was uns die EUVerfassung als Auftrag mit auf den Weg gibt, in konkrete
Gesetzesmaterie zu gießen.
Wir haben uns dabei von einigen Prinzipien leiten lassen:
Erstens. Der Bundestag hat schon jetzt weitreichende
Mitwirkungsmöglichkeiten. Aus meiner Sicht nutzt er
sie bislang nur begrenzt. Deswegen sollten wir, bevor
wir weitreichende neue Gesetze beschließen, die vorhandenen Möglichkeiten offensiver und selbstbewusster
nutzen.
({8})
Zweitens. Die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Konzert von inzwischen 25 Mitgliedstaaten darf nicht beschnitten, nicht geschwächt
werden. Deutschland muss mit einer Stimme klar, selbstbewusst und deutlich in Brüssel und in der Europäischen
Union wahrgenommen werden.
({9})
Drittens. Bei all den Problemen im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, die wir im Rahmen der Föderalismuskommission beraten haben - leider bislang ohne
Erfolg -, können wir das, was uns bedrängt - das bezieht
sich nicht allein auf Art. 23 des Grundgesetzes -, nicht
im Rahmen der Ratifizierungsdebatte lösen. Wir sollten
all das im Rahmen eines großen Paketes nochmals angehen, wenn die Föderalismuskommission ihre Arbeit
- möglicherweise in Bälde - wieder aufnimmt.
Viertens. Wir wehren uns - das vielleicht ein wenig in
Richtung der Opposition - gegen diverse Politikmätzchen, die auch in einigen Anträgen und Gesetzentwürfen
der Opposition Einzug gehalten haben. Mir ist nicht einsichtig, warum wir jetzt, nachdem sich die Praxis jahrzehntelang bewährt hat, noch einmal darüber reden sollen, dass vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
der Bundestag zu befassen ist. Das ist doch nur vor dem
Hintergrund der Kontroverse um den Türkeibeitritt zu
sehen. Solche Überlegungen sollten wir unterlassen;
denn das hat mit dieser EU-Verfassung nichts zu tun.
Weil wir diese Prinzipien zugrunde gelegt haben,
konzentriert sich der Inhalt unseres Begleitgesetzes auf
die Konsequenzen, die sich unmittelbar aus der europäischen Verfassung ergeben. Es sind dies im Wesentlichen
vier Punkte:
Der erste Punkt, nämlich die Frage, wie wir im Bundestag mit dem Prinzip der Subsidiarität umgehen, hat
uns sehr eng zusammengeführt, fraktionsübergreifend.
Wir - meine Kollegin Angelica Schwall-Düren, mein
Kollege Günter Gloser und ich - haben schon im vergangenen Jahr dem Bundestagspräsidenten ein Papier zugeleitet und darüber auch mit allen Fraktionen gesprochen.
Wir haben in der interfraktionellen Arbeitsgruppe großes
Einvernehmen darüber erzielt, dass wir die Fachausschüsse und den Europaausschuss noch enger zusammenwirken lassen müssen, um die Frage der Subsidiaritätsrüge vernünftig zu lösen.
Der zweite Punkt ist die Subsidiaritätsklage. Wenn
wir mit einer Rüge keinen Erfolg haben, haben wir als
Deutscher Bundestag die Möglichkeit zu klagen. Wir
sind der Auffassung, dass eine Klage nur dann erfolgversprechend ist, wenn die Mehrheit des Deutschen Bundestages eine solche Klage ausspricht. Deswegen sind
wir gespannt auf Ihre Argumente, mit denen Sie begründen wollen, warum Sie dies als Minderheitenrecht auszugestalten beabsichtigen.
Ein dritter Punkt ist die Passerelle-Klausel. Das ist
ein fürchterliches Wort; man nennt es auch Brückenklausel. Wir haben als Deutscher Bundestag sehr dafür
gestritten, Blockaden zu überwinden und in möglichst
vielen Politikfeldern von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Wir haben uns leider
nicht in allen Bereichen durchsetzen können. Deswegen
eröffnet die Passerelle eine Chance für uns; denn dadurch kann der Europäische Rat einstimmig beschließen,
in Politikfeldern, die gegenwärtig der Einstimmigkeit
unterliegen, zur qualifizierten Mehrheit überzugehen.
Wir haben - das unterstützen wir selbstverständlich die Chance, ein Veto einzulegen. Dieses Veto sollte aber,
wenn überhaupt, von Bundesrat und Bundestag gemeinsam ausgesprochen werden. Wir sollten also nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union oder auch von
den Ländern, neue Blockaden aufbauen, sondern zu erreichen versuchen, dass in noch mehr Politikfeldern
nicht mehr einstimmig, sondern mit Mehrheit entschieden wird, weil sonst eine Union der 25 oder 27, perspektivisch der 30, nicht mehr führbar und steuerbar ist.
({10})
Viertens haben wir - das mag der Bundesregierung
nicht in Gänze schmecken - in unserem Begleitgesetz
auch dafür gesorgt, dass die Informationspflichten der
Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag
erweitert werden. Auch darin liegt ein Angebot an Sie.
Ein weiteres Angebot ist, dass wir - über die Regelungen
des Begleitgesetzes hinaus -, wenn wir die Geschäftsordnung ändern und eine gesonderte Vereinbarung zwischen
Michael Roth ({11})
Bundesregierung und Bundestag beschließen, den gewonnenen Spielraum konkret nutzen, um Probleme, die
sich möglicherweise im Verhältnis zwischen Bundestag
und Bundesregierung ergeben, konstruktiv zu lösen.
Ich warne davor, neue Blockaden aufzubauen. Wir
sollten versuchen, die Europäische Union handlungsfähiger zu machen. Wir sollten aber nicht das, was wir auf
europäischer Ebene hinter uns gelassen haben, sozusagen durch die Hintertür im Deutschen Bundestag wieder
einführen.
({12})
Die Ratifizierung der europäischen Verfassung muss
uns gelingen. Wir sind zum Optimismus verbannt.
({13})
- Vielen Dank für den Hinweis. Das habe ich nun davon,
dass ich mir meine Rede nicht genau aufgeschrieben
habe. - Wir sind zum Optimismus verdammt, weil eine
Europäische Union, die unter den Regeln von Nizza zu
arbeiten hätte, aus meiner Sicht weder handlungsfähig
noch erweiterungsfähig oder zukunftsfähig wäre. Das
müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.
Wir sollten gemeinsam einen Beitrag dazu leisten,
dass in allen Mitgliedstaaten die Ratifizierung gelingt.
Es ist nicht nur im deutschen Interesse, es ist auch im europäischen Interesse. Lasst uns helfen, dass in den Niederlanden, in Frankreich und überall dort, wo Referenden durchgeführt werden, die Bürgerinnen und Bürger
davon überzeugt werden, dass dies eine Chance für uns
ist! Da ist jede Hilfe, die wir den Partnern und Freunden
in Europa gewähren, sofern sie gewünscht wird, sicherlich geboten.
Ich will zum Schluss noch einen Punkt ansprechen,
der mich immer wieder irritiert. Gelegentlich äußern
sich Politikerinnen und Politiker sehr arrogant über die
Bürger, indem sie davon sprechen, dass die Bürger skeptisch seien, sich nicht für Europa interessieren würden
und keinen Anteil an diesem großen Projekt nehmen
würden. Ich frage einmal ganz selbstkritisch: Können
wir wirklich Begeisterungsfähigkeit von Bürgerinnen
und Bürgern verlangen, wenn wir selbst nicht begeistert
sind?
({14})
Wir müssen es endlich schaffen, dass wir den Wulst an
technokratischen Regelungen, die leider mit dieser wunderbaren Idee von Europa verbunden sind, über Bord
werfen und dass wir auf den Kern Europas zurückkommen. Wirtschaftliche Prosperität, sozialer Zusammenhalt, Friedensmacht Europa, internationale Solidarität
und Zusammengehörigkeit sowie ökologische Nachhaltigkeit sind die Punkte, um die es im Kern geht. Sie verbergen sich gelegentlich hinter technischen Details. Es
lohnt der Blick in die EU-Verfassung. Sie ist eine Chance
für uns und die Bürgerinnen und Bürger.
Weil es sich in Deutschland um ein rein parlamentarisches Ratifizierungsverfahren handelt - das ist nun leider einmal so -, stehen wir Abgeordnete in einer besonderen Pflicht. Wir müssen begeistern können. Wir
müssen Bürgerinnen und Bürger überzeugen können.
Wir müssen um Zustimmung werben. Wir müssen für
Gespräche offen sein. Wir müssen uns der Kritik stellen.
Nur dann haben wir eine Chance, dass diese europäische
Verfassung in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist.
({15})
Lassen Sie uns diese Ratifizierung auch als Chance
für uns begreifen! Ich bin sehr optimistisch - wir werden
darum kämpfen -, dass unser gemeinsames Projekt
Europa eine gute Zukunft hat.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten von
Baden-Württemberg, Erwin Teufel.
({0})
Erwin Teufel, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundesrat hat sich am vergangenen Freitag
mit dem europäischen Verfassungsvertrag beschäftigt.
Er hat seine Vorstellungen für das Ratifizierungsverfahren an die Adresse der Bundesregierung klar definiert.
Wir sind für diesen europäischen Verfassungsvertrag.
Wir halten ihn für einen großen Schritt nach vorne. Er
führt zu mehr Subsidiarität, zu mehr Bürgernähe, zu
mehr Transparenz, zu klar definierten Grund- und Menschenrechten für die Bürgerinnen und Bürger, zu mehr
Demokratie, zu einem offeneren Verfahren in der europäischen Gesetzgebung und zu einer klaren Kompetenzordnung. Das alles ist sehr positiv zu werten. Deswegen
haben wir eine grundsätzlich positive Einstellung zu diesem Vertrag. Wir werden ihn im Bundesrat ratifizieren.
Wir sind aber der Meinung, dass zum Besten in diesem europäischen Verfassungsvertrag die Kontrollrechte der nationalen Parlamente gehören.
({2})
Das sind übrigens, Herr Kollege Roth, nicht Gemeinschaftsrechte von Bundestag und Bundesrat. Wir haben
die Kontrollrechte im Verfassungsvertrag vielmehr als
Rechte jeder Kammer in den nationalen Parlamenten definiert. Das muss nun auf eine wirksame Weise umgesetzt werden. Dafür hat der Bundesrat vier Länder zu
Verhandlungen mit der Bundesregierung beauftragt. Ich
habe am letzten Freitag ganz klar zu diesem Antrag Stellung genommen, der in vielen Teilen mit dem übereinstimmt, was dem Bundestag heute in Gesetzentwürfen
vorliegt. Ich möchte mich deshalb heute nicht wiederholen, sondern einige grundsätzliche Bemerkungen daMinisterpräsident Erwin Teufel ({3})
rüber machen, warum Europa in eine bessere Verfassung
kommen muss.
Gestern vor 60 Jahren ist ein Bombenhagel über die
Stadt Pforzheim niedergegangen - mit mehr als
15 000 Toten. Vor wenigen Tagen haben wir den
60. Jahrestag der schrecklichen Bombardierung Dresdens mit Zehntausenden von Toten erlebt. Das war über
Jahrhunderte die geschichtliche Realität in Europa. Alle
20, 30 Jahre hat man in europäischen Bürgerkriegen, die
im 20. Jahrhundert zu Weltkriegen geworden sind, zusammengeschlagen, was vorher mühselig aufgebaut
worden ist.
Man sagt: Die Menschen lernen nicht aus der Geschichte. Die Deutschen haben aus der Geschichte gelernt - spät genug. Wir sind nicht nur eine verspätete Nation; wir sind auch eine verspätete Demokratie.
Konrad Adenauer hat dieses Land nach 1949 nach
Westen orientiert. Dies war nicht nur eine geographische
Orientierung nach Westen; dies war eine Orientierung
hin zu den freiheitlichen Demokratien des Westens,
({4})
hin zur freiheitlichen, demokratischen Verfassungstradition des Westens. Wir verdanken inzwischen 50 und
mehr Jahre des Friedens und der Freiheit dieser Westorientierung der deutschen Politik, der Aussöhnung mit
Frankreich und den ehemaligen Kriegsgegnern von gestern, der europäischen Einigung und - das sage ich am
Tag nach dem Besuch von Präsident Bush in Mainz aus
ganzer Überzeugung - dem Bündnis mit den Vereinigten
Staaten von Amerika. Ohne all das hätten wir nicht die
längste Periode des Friedens und der Freiheit in
Deutschland erlebt.
({5})
Deshalb ist jeder Deutsche, der bei Verstand ist, mit
der Ratio und dem Herzen für Europa. Aber es muss
doch all denen, die politische Verantwortung tragen, zu
denken geben, dass auch wir in den letzten zehn Jahren
in den monatlichen Umfragen, die die Europäische
Union in allen Mitgliedstaaten über die Akzeptanz von
Europa durchführt, im Unterschied zu früheren Zeiten,
als wir in Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und
mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen Länder,
bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind. Das muss
uns doch zu denken geben.
Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der
Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als ein
fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut wie
keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein Geflecht
von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine Übersicht.
Der Bauer, der Handwerksmeister, der Kommunalpolitiker erleben aber fast tagtäglich europäische Gesetzgebung, von der sie der Überzeugung sind, dass sie bürgerfern und problemfern ist, dass sie sehr viel besser auf
nationaler Ebene, auf Länderebene, ja sogar auf kommunaler Ebene erfolgen sollte.
({6})
Das ist der Grund, warum wir dringend eine europäische Verfassung brauchten, die das Subsidiaritätsprinzip achtet. Europa ist nicht stark, wenn es sich um tausend Aufgaben, wenn es sich um tausenderlei Aufgaben
kümmert, sondern dann, wenn es sich um die richtigen
Aufgaben kümmert.
({7})
Die richtigen Aufgaben lassen sich genau definieren.
Es sind diejenigen Aufgaben, deren Lösung über die
Kraft des Nationalstaates hinausgeht. Kein Nationalstaat
kann sich heute mehr allein verteidigen. Deswegen sind
Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend
europäische Aufgaben. Ich bin nicht der Meinung, dass
auf diesem Gebiet Aufgaben an die Länder zurückgegeben werden sollten, sondern dass zusätzliche Aufgaben
auf europäischer Ebene gelöst werden müssen.
Es ist ein Fortschritt, dass wir einen europäischen Außenminister mit zusätzlichen Zuständigkeiten bekommen. Es ist ein Fortschritt, dass wir die drei Säulen Europas zusammengefügt haben. Es ist ein Fortschritt, dass
wir in Europa mehr Mehrheitsentscheidungen treffen
können. Es ist ein Fortschritt, dass wir in den Krisenherden der Welt nicht mehr mit drei Personen auftreten,
nämlich mit demjenigen, der gerade für ein halbes Jahr
den Vorsitz innehat, mit demjenigen, der ihn im letzten
halben Jahr innehatte, und mit demjenigen, der ihn im
nächsten halben Jahr innehaben wird. Wir bringen nun
Kontinuität in dieses Amt. Das bisherige Vorgehen war
nicht überzeugend.
({8})
Man muss einen weiteren Grund hinzufügen, warum
diese Verfassung notwendig war. Das bisherige Prinzip
war außerordentlich erfolgreich. Die Europäische Union
ist eine Erfolgsgeschichte. Das sollte man nicht vergessen, sondern aussprechen. Was aber für die Gemeinschaft der sechs, der zehn und der zwölf Mitgliedstaaten
möglich war und mit 15 Mitgliedstaaten kaum noch
funktioniert hat, funktioniert mit 25 Mitgliedstaaten
nicht mehr. Ohne die Erfahrungen von Nizza - längster
Gipfel: fünf Tage, vier Nächte - wäre es nicht zu dem
Auftrag von Laeken, zu einem Konvent für eine europäische Verfassung gekommen.
({9})
Betrachten wir das Ergebnis. Natürlich könnte jeder
- das ist angedeutet worden -, der einen Verfassungsentwurf schreiben will, eine aus seiner Sicht bessere Verfassung schreiben.
({10})
Jeder hat Wünsche. Es wurden aber entscheidende
Schritte nach vorne getan.
Ministerpräsident Erwin Teufel ({11})
Erstens. Das Ergebnis des Grundrechtekonvents unter
der Leitung von Roman Herzog ist ohne Wenn und Aber
Teil der neuen europäischen Verfassung. Sie enthält alle
Grund- und Menschenrechte, wie sie einer rechtsstaatlichen, freiheitlichen Verfassung entsprechen.
Zweitens. Wir haben eine klare Kompetenzordnung.
Was ist nicht alles dagegen gesagt worden? Europa ist
ein dynamischer Prozess, der nicht an einem Tag in einer
Verfassung, in einer Kompetenzordnung eingefangen
werden könne. Die europäische Verfassung enthält heute
- ähnlich wie das Grundgesetz - einen Artikel über ausschließliche Zuständigkeiten der Europäischen Union,
einen Artikel über gemischte Zuständigkeiten, einen Artikel über ergänzende Zuständigkeiten, sogar einen Artikel, in dem steht, worum sich die Europäische Union auf
gar keinen Fall kümmern darf, nämlich beispielsweise
um die innere Ordnung der Mitgliedstaaten. Es wird das
Selbstverwaltungsrecht der Städte und Gemeinden in
diesem Artikel anerkannt. Erstmals kommen in einem
europäischen Vertrag Städte vor, obwohl europäische
Kultur und Geschichte weitgehend Stadtkultur und
Stadtgeschichte sind. Das war höchste Zeit.
({12})
Man muss sich natürlich fragen, was die Einfallstore
dafür waren, dass immer mehr Zuständigkeiten, die man
besser auf nationalstaatlicher, auf regionaler oder kommunaler Ebene erledigen sollte, nach Europa verlagert
wurden.
Das erste große Einfallstor war der Binnenmarktartikel, Art. 308 EGV, der so allgemein gefasst war, dass
mir zwei Kommissare gesagt haben: Wenn wir in keinem europäischen Vertrag eine Begründung für eine
neue Kompetenz gefunden haben, dann haben wir uns
auf den Binnenmarktartikel bezogen; denn er schaffte
immer die Basis für eine neue Kompetenz.
({13})
Das zweite große Einfallstor war, dass jeder europäische Vertrag auf seinen ersten drei, vier Seiten und in
20 Spiegelstrichen mit allgemeinen Zielsetzungen begann. Das war Lyrik nach dem Motto: Edel sei der
Mensch, hilfreich und gut.
({14})
Auf dieser Basis konnte die Kommission immer eine Begründung für eine neue Zuständigkeit finden.
({15})
Deshalb war es nötig, diese Einfallstore zu schließen.
Das ist jetzt in Form einer klaren Kompetenzordnung
geschehen. Noch wichtiger ist, dass es darin klipp und
klar heißt: Allgemeine Zielsetzungen sind künftig nicht
mehr kompetenzbegründend. Vielmehr benötigt man
von nun an eine Einzelfallermächtigung. Wenn die Europäische Kommission, die auch in Zukunft für die Setzung europäischer Normen - sie haben nun übrigens die
gleiche Bezeichnung wie im nationalen Recht; künftig
handelt es sich um europäische Gesetze - zuständig ist,
eine entsprechende Initiative ergreift, dann muss sie
selbst vorher prüfen, ob der Grundsatz der Subsidiarität
eingehalten ist und ob eine europäische Maßnahme überhaupt notwendig und adäquat ist. Das Ergebnis ihrer
Prüfung muss sie im Einzelnen begründen und dabei
ganz klare Kriterien, die ihr vorgegeben sind, erfüllen;
das halte ich für außerordentlich wichtig. Und dies unterliegt künftig einer Kontrolle durch alle nationalen Parlamente.
Nun zum Europäischen Rat bzw. zum Ministerrat.
Sie sind mir sicherlich nicht böse, wenn ich sage, dass er
das reformbedürftigste Gremium war.
({16})
Kein demokratisches Parlament der Welt hat nicht öffentlich getagt.
({17})
Aber der Ministerrat hat nicht öffentlich getagt. Jetzt ist
Öffentlichkeit hergestellt. Herr Außenminister Fischer,
bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich für die gute Zusammenarbeit im Konvent. Eines nehme ich den Außenministern allerdings ein bisschen übel: Als sie sich bei
der ersten Befassung mit dem Verfassungsentwurf in
Rom noch auf gar nichts verständigen konnten, haben
sie die vorgesehene Schaffung eines Gesetzgebungsrates
abgelehnt. In Zukunft wird es wiederum nicht einen Gesetzgebungsrat, sondern sieben, acht, zehn oder zwölf
Gesetzgebungsräte geben.
Die Folge wird sein: Wenn sich - das ist ein beliebiges Beispiel - ein Umweltminister mit einem Vorhaben
in seinem nationalen Kabinett nicht durchsetzen kann,
weil es dort auch noch einen Finanzminister, einen Wirtschaftsminister und einen Regierungschef gibt,
({18})
was wird er dann tun? Er wird sein Vorhaben zwei Wochen später im Ministerrat in Brüssel zur Sprache bringen. Dort ist er ausschließlich unter seinesgleichen, nur
unter Umweltministern. Die Chance, dass er dort Zustimmung für sein Vorhaben, mit dem er im nationalen
Parlament gescheitert ist, bekommt, ist sehr viel größer.
Daher müssen die Mitgliedstaaten so unglaublich viele
Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht umsetzen, obwohl ihre Kabinette entsprechende Pläne zuvor abgelehnt haben.
({19})
Meine Damen und Herren, deswegen wäre nichts
wichtiger als die Schaffung eines einheitlichen Gesetzgebungsrates gewesen, besetzt mit einem Vertreter des
Auswärtigen Amtes oder des Kanzleramtes
({20})
Ministerpräsident Erwin Teufel ({21})
- das hätten Sie unter sich ausmachen müssen -, der eine
Gesamtschau hat und, wie es auch ein nationales Parlament tut, an das Ganze denken muss.
({22})
Immerhin gibt es, was den Europäischen Rat bzw. den
Ministerrat betrifft, auch Verbesserungen. Es wurde das
Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt; das ist ein
Vorteil. In vielen Bereichen fand der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen statt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Satz
zu einer der wenigen verbliebenen Streitigkeiten, nämlich zur Passerelle-Regelung, sagen. Es ist doch unstrittig, dass, wenn wir heute Punkte hätten, bei denen von
der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung übergegangen werden sollte, diese Teil der Beratungen im Bundestag und Bundesrat wären und einer Zweidrittelmehrheit bedürften. Wenn wir nun künftig, weil Politik ein
dynamischer Prozess ist, von Einheitsentscheidungen zu
Mehrheitsentscheidungen übergehen wollen, wäre eigentlich eine Verfassungsänderung notwendig, so wie
das Grundgesetz normalerweise geändert werden müsste.
Da eine Verfassungsänderung aber 25 Ratifizierungen
bedarf, hat man ein vereinfachtes Verfahren geschaffen.
Aber wenn klar ist, dass es faktisch um eine Verfassungsänderung geht, dann muss man die nationalen Parlamente befassen wie jetzt bei der Grundentscheidung über
den Verfassungsvertrag. Nach meiner Meinung sollte die
Regierung vorher wissen, wie ihre Parlamente dazu stehen. Das ist ganz einfach meine Meinung; diese Argumente müssten zunächst einmal widerlegt werden.
Wir haben die Kommission nicht geschwächt. Leider
haben sich bei der Verringerung der Zahl der Kommissare die Regierungschefs auf ein spätes Datum - erst
2014 - verständigt; wir sind von 2009 ausgegangen.
Aber ich weiß, wie schwierig es ist, wenn kleine Staaten,
wenn neue Staaten darauf bestehen, mit einem Kommissar in der Kommission vertreten zu sein.
Die Rechte des Europäischen Parlaments wurden
entscheidend verbessert. Das halte ich für richtig. Seit
über 20 Jahren wählen wir ein Europäisches Parlament.
Wenn man die Bürger auf der Straße fragen würde, würden 98 von 100 auf die Frage, wer das Gesetzgebungsorgan in Europa ist, sagen: das Europäische Parlament, das
wir wählen. Tatsächlich ist es der Ministerrat. Das Europäische Parlament hat Befassungsrechte gehabt. Jetzt bekommt es haushaltsmäßig und gesetzgebungsmäßig fast
die Rechte, die der Ministerrat hat. Mittelfristig, glaube
ich, müssen sich das Europäische Parlament zur Bürgerkammer und der Europäische Rat zur Staatenkammer
entwickeln, ganz ähnlich dem Modell Bundestag - Bundesrat.
Die Verbesserungen sind entscheidend, wenn auch
keineswegs ideal. Aber ich betrachte Europa vor allem
als eine Friedensgemeinschaft. Europa war das große
Erfolgsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg: Von denjenigen, die übrig gebliebenen sind, von Westeuropa, Resteuropa, wurden die Römischen Verträge abgeschlossen,
durch die die Europäische Gemeinschaft entstanden ist.
Eine Erweiterung nach Süden hat sich ergeben, es hat
eine Erweiterung nach Westen gegeben und die nach
Norden. Die große Zeitenwende des Jahres 1989 hat die
Erweiterung nach Osten möglich gemacht. Ich vergesse
nicht, was mir der erste frei gewählte ungarische Ministerpräsident, Jozsef Antall, in Budapest gesagt hat: „Wir
kehren zurück nach Europa. Wir haben uns nie von Europa verabschiedet. Wir sind durch die sowjetische Hegemonialmacht gewaltsam von Europa ferngehalten
worden.“ Das alles ist nun vollendet mit der Gemeinschaft der 25. Es ist nicht einfach, in Europa um Kompromisse zu ringen, aber es ist notwendig: Wir haben
keine Alternative und wir haben jetzt ein klares Fundament. Über die Verträge hinaus, die bisher von Diplomaten für Diplomaten geschrieben worden sind, haben wir
jetzt eine echte europäische Verfassung. Europa wird
durch diese Verfassung in eine bessere Verfassung kommen. Nicht alle Probleme sind gelöst, aber ein Meilenstein für eine gute Zukunftsentwicklung ist gesetzt.
({23})
Ich erteile dem Bundesminister des Auswärtigen,
Joschka Fischer, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Teufel, ich möchte mich dem Dank des
Hauses ausdrücklich anschließen. Das war nicht der übliche Dank für die gute Zusammenarbeit, die wir hatten,
sondern das war der Dank für eine, wie ich finde, große
europäische Rede, die Sie heute hier gehalten haben.
Über die Parteigrenzen hinweg möchte ich mich dafür
bedanken.
({0})
Der baden-württembergische Ministerpräsident hat zu
Recht mit der historischen Dimension begonnen. Gerade in diesem Jahr, 60 Jahre nach dem Ende der Tragödie des Zweiten Weltkrieges - der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz liegt erst wenige
Tage zurück -, gedenken wir der Bombennächte, des
ganzen Grauens der europäischen Zerstörung und auch
der deutschen Selbstzerstörung. Zugleich diskutieren wir
heute über einen ganz entscheidenden Baustein des europäischen Einigungswerks, nämlich die europäische Verfassung. Deutschland ist heute von Partnern und Freunden in der Union der 25 und im Atlantischen Bündnis
umgeben.
Ich kann nur unterstreichen, was der baden-württembergische Ministerpräsident gesagt hat: Aus der Geschichte wird in der Regel nicht gelernt, aber die Europäer haben daraus gelernt. Es gab zwei wichtige
Umstände: Zum einen war es die Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sicherheit und der
Freiheit Westeuropas und damit auch des westlichen Teil
Deutschlands und Berlins nach 1945 verpflichtet zu bleiben, zum anderen war es die Vision einer europäischen
Einigung, die Schuman und Monnet, die beiden großen
französischen Staatsmänner, entwickelt und gemeinsam
mit Konrad Adenauer in den europäischen Verträgen
umgesetzt haben.
Herr Teufel, ich denke, Sie haben mit Ihrer Rede klar
gemacht, dass es sich hier bei allem notwendigen parteipolitischen Streit doch um ein gemeinsames Projekt handelt. Es geht nämlich darum, dieses Europa so zu schaffen, dass dauerhaft Frieden auf diesem Kontinent
herrscht.
({1})
Wenn Sie so wollen, ist es nicht nur der eigentliche
Gründungsgedanke, sondern auch die Aufgabe der Europäer, dass sie ihre Kontroversen nicht mehr auf den
Schlachtfeldern, sondern am Verhandlungstisch austragen. Viel Bürokratie ist daraus zu erklären, weil es unterschiedliche Interessen gibt: Es gibt große und kleine
Länder, wir haben ein föderales, Frankreich hat ein zentralistisches System, es gibt Staaten mit zwei Kammern
und andere mit einer Kammer und es gibt arme und reiche Länder, die auch auf materieller Ebene einen Interessenausgleich benötigen.
Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union
ist eine große Erfolgsgeschichte. Hier im Raum sitzen
viele, die sich noch daran erinnern können, wie es in den
60er- und 70er-Jahren in Griechenland, Spanien, Portugal und auch in Irland gewesen ist. Heute sind das Länder mit hoch entwickelten Wirtschaften, mit stabilen Demokratien und mit starken Zivilgesellschaften; es sind
Rechtsstaaten. Die Vorstellung, dass es dort noch einmal
zu einer Militärdiktatur kommen könnte, ist absurd und
abwegig. Neben der großen Leistung der betroffenen
Völker spielt der europäische Integrationsprozess dabei
eine ganz entscheidende Rolle. Irland, dessen tragische
Geschichte wir alle kennen, ist heute pro Kopf das
zweitreichste Land. Hieran kann man den großen Erfolg
erkennen.
Nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht und nach
der Überwindung der künstlichen Teilung Europas durch
den Kalten Krieg war klar - es galt nicht nur für die Ostdeutschen, dass sie über den europäischen Einigungsprozess der EU beitreten würden -, dass sich die europäische Einigungsidee selbst verraten würde, wenn die
Ost-, Ost-Mittel- und Süd-Ost-Europäer von diesem
Einigungsprozess künstlich ausgeschlossen würden, obwohl sie daran teilhaben wollen und können. Deswegen
hat es diese große Erweiterungsrunde gegeben. Ich
denke, das war ein notwendiger historischer Schritt und
er erweist sich zunehmend als großer Erfolg.
({2})
Wir können die Bedeutung an der Rolle erkennen, die
die Europäische Union in der orangenen Revolution
gespielt hat. Das Zusammenspiel des polnischen und des
litauischen Präsidenten mit Javier Solana und den anderen Europäern war der entscheidende Beitrag von außen
dafür, dass den neuen Prinzipien, auf denen Europa ruht
und sich weiterentwickeln wird, nämlich der Absage an
Einflusszonen und hegemonialen Ansprüchen sowie der
Unterstreichung des Rechts auf Selbstbestimmung in
freien und fairen Wahlen, zum Erfolg verholfen wurde.
Das hat für unsere zukünftige Sicherheit wie auch für die
Zusammenarbeit mit Russland, die von strategischer Bedeutung ist, eminente Bedeutung.
Wir konnten auch sehen, was uns mit 15 Staaten nicht
gelungen ist. Ministerpräsident Teufel hat den Vertrag
von Nizza angeführt. Dieser war nach dem Vertrag von
Amsterdam nur eine weitere Stufe. Schon bei den Verhandlungen in Maastricht sind bestimmte Fragen nicht
beantwortet worden. Deswegen gab es die Regierungskonferenz in Amsterdam, bei der von „Überbleibseln“
gesprochen wurde. Aber diese Überbleibsel waren bei
diesen Verhandlungen die Hauptsache. In Nizza ging es
um weitere Überbleibsel. Wir haben es mit 15 Staaten
nicht geschafft, hier eine Lösung zu finden. Aber ich
habe im Konvent die Erfahrung gemacht, dass sich die
neuen und jungen Mitgliedstaaten in die europäische
Konsensfindung sehr schnell eingearbeitet haben. Deswegen sehe ich es als eine große Leistung an, dass das,
was die 15 Staaten, die alten Europäer, in drei Regierungskonferenzen nicht geschafft haben, mit 25 Mitgliedstaaten in der Europäischen Union in zwei Regierungskonferenzen in nur sechs Monaten erreicht wurde,
nämlich den Verfassungsvertrag, den der Konvent erarbeitet hat, letztendlich anzunehmen. Hieran zeigt sich
auch, dass die These, eine größere Union, die zwar
schwieriger, aber auch bedeutender sei, müsse weniger
handlungsfähig sein, einfach nicht stimmt; denn sie hat
sich als handlungsfähig erwiesen. Deswegen haben wir
heute die Chance, über diese Verfassung in erster Lesung
zu diskutieren.
({3})
Der erste Schritt war die Erweiterung. Diese Erweiterung ist durch das Ende des Kalten Krieges und des OstWest-Konfliktes in einem positiven Sinne erzwungen
worden. Aber dieser Schritt bliebe Stückwerk, wenn wir
beim Nizza-Vertrag, der die geltende Grundlage ist, stehen bleiben würden. Ministerpräsident Teufel hat aus
Sicht der Länder die wichtigen Punkte genannt. Es ist
völlig klar: Wir brauchen eine gemeinsame Sicherheitsund Außenpolitik. Dabei kann nicht am Rotationsmodell der Präsidentschaft festgehalten werden. Jenseits aller Parteipolitik erlebe ich als Außenminister im
europäischen Konzert, dass unsere Partner die Bedeutung der Europäischen Union im Grunde genommen
ernster nehmen, als es die Struktur der Institutionen in
diesem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik heute
zulässt. Sie wollen ein verlässliches europäisches Handeln, weil die Europäische Union in einem positiven
Sinne mehr und mehr zum internationalen Machtfaktor
wird. Daran haben auch die Gründungsväter und -mütter
der Union geglaubt und dafür gearbeitet. Dies spiegelt
sich ebenfalls in einem wesentlichen Teil des Verfassungsvertrages wider.
Wir brauchen eine Abkehr von der rotierenden Präsidentschaft. Die Union muss eine beständige Repräsentanz haben. Das mag für die Bürgerinnen und Bürger
weniger wichtig klingen. Aber die Rolle, die die Europäische Union im gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten und der Bürgerinnen und Bürger in der Welt
spielt, hängt davon ab. Wir brauchen einen Außenminister, der die europäische Außen- und Sicherheitspolitik
mit einem auswärtigen Dienst auf europäischer Ebene in
Verbindung mit den Mitgliedstaaten tatsächlich repräsentiert. Diese Dinge sind für die Zukunftsfähigkeit von
entscheidender Bedeutung. Gerade einen Tag nach dem
Besuch von Präsident Bush wird klar, dass seine Aussage, Amerika habe Interesse an einem starken Europa,
bedeutet, dass wir diese Verfassung brauchen, oder wir
bleiben bei dem zweiten Schritt, der auf die Erweiterung
folgen muss, stehen.
({4})
Dasselbe gilt meines Erachtens auch für die innere
Ausgestaltung der Europäischen Union. Wenn gesagt
wird, die Bürgerinnen und Bürger interessierten sich wenig für Europa, dann, glaube ich, liegt das auch daran,
dass die Bürgerinnen und Bürger einen Sinn für die
Machtfrage haben. Dass das Europäische Parlament in
Zukunft wesentliche Rechte bekommt, wird dazu führen,
dass es mehr Verantwortung erhält. Dass es nicht mehr
für die allgemeinen Klauseln zuständig ist, sondern konkrete Zuständigkeiten besitzt, werden die Bürgerinnen
und Bürgern verstehen, die zwischen Kommunen, Land
und Bund differenzieren. Ich glaube, es ist keine Überforderung, allen klar zu machen, was in Zukunft in Europa entschieden wird. Dies wird meines Erachtens zu
einer anderen Legitimationsgrundlage führen.
Dass der Präsident der Europäischen Kommission
schon heute im Lichte der Mehrheitsentscheidungen auf
Vorschlag vom Parlament gewählt wird, ist ein erster
Schritt in diese Richtung. Ich wage die Prophezeiung,
dass die Zeit, in der die Europawahlen eine geringere
Bedeutung hatten, zu Ende gegangen ist. Schon bei der
letzten Europawahl hat sich eine Verschiebung abgezeichnet. Ich bin der Meinung, dass dann, wenn diese
Verfassung Wirklichkeit wird und institutionell ausgeschöpft wird, die demokratischen Prozesse, die für die
Willensbildung und die Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger von entscheidender Bedeutung sind, von
einer anderen Gewichtigkeit sein werden. Das geht dann
aber auch in Richtung Europäisches Parlament. Das bedeutet, dann auch mehr Verantwortung zu übernehmen.
Das ist die zweite Konsequenz.
Damit komme ich auf die Ausgestaltung bei uns zu
sprechen. Ich bin der Meinung, dass das Parlament in
Zukunft natürlich eine wichtigere Rolle spielen wird.
Die Subsidiaritätsklausel muss ernst genommen werden. Wenn es einen Dissens gibt - es fällt mir schwer,
Herr Kollege Teufel, heute einen Dissens zu Ihnen zu
finden -, dann liegt er vielleicht dort, jedoch nicht in der
praktischen Umsetzung. Jede Bundesregierung wird
doch klug genug sein, von Anfang an das Subsidiaritätsproblem nicht nur im Auge zu haben, sondern sich auch
politisch darauf einzulassen. Nur, eine Bindung der Bundesregierung in den europäischen Verhandlungen, wie
sie etwa für die dänische Regierung gilt, halte ich unter
allen Gesichtspunkten - angesichts der Bedeutung unseres Landes, des Gewichts, des föderalen Aufbaus und
der ganz anderen Größenordnung - für einen Schritt, der
meines Erachtens die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung auf europäischer Ebene begrenzen und damit
nicht in eine positive Richtung führen würde.
Die Subsidiaritätsklage wird innerstaatlich ausgestaltet werden. Das war das, was wir durchgesetzt haben. Es
wird meines Erachtens darauf ankommen, dass die beiden Kammern die entsprechenden Regelungen vereinbaren. Ich bin mir sicher, dass wir uns einigen können. Das
gilt auch für die Subsidiaritätsrüge.
Zur Passerelle: Es war immer die deutsche Position,
weniger Einstimmigkeit zu wollen. Das war nicht nur
die Position von Rot-Grün, sondern die gemeinsame
Position. Wir wollen Mehrheitsentscheidungen. Auch im
Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik war das Haus
unisono der Meinung, dass wir mehr Mehrheitsentscheidungen wollen, also weg vom Veto.
Jetzt komme ich zu der Frage der Bindung der Bundesregierung in den Verhandlungen. Sie haben zu Recht
auf das Ratifikationsverfahren hingewiesen. Das findet
hinterher statt, schon heute. Der Bundestag entscheidet
nicht vorher, ob er das will, sondern er entscheidet heute
in einem Ratifikationsverfahren mit Zweidrittelmehrheit, ob er das akzeptiert oder nicht. Ich finde den Vorschlag in der Verfassung, die Parlamente und dann, wenn
es Zweikammersysteme gibt, beide Kammern über eine
Änderung entscheiden zu lassen, richtig. Das findet jedoch im Nachhinein statt und eine Vorabbindung der
Bundesregierung ist nicht gegeben. Ich bitte das Haus,
noch einmal zu bedenken, welche Konsequenzen ein anderes Vorgehen hätte. Das ist völlig unabhängig von der
parteipolitischen Zusammensetzung der Bundesregierung.
({5})
Das sind die Dinge, über die wir uns in Zukunft unterhalten müssen. Ich möchte noch bezüglich des Gesetzgebungsrates, den Sie, Herr Kollege Teufel, zu Recht
angesprochen haben, hinzufügen: Ich verhehle nicht,
dass ich ihn mir gewünscht hätte. Ich verletze nicht die
Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht eines Mitglieds des Kabinetts, wenn ich sage, dass es manche
Kollegen gab, die aus Gründen, die Sie angeführt haben,
durchaus ein Fragezeichen gesetzt haben. Klar war: Wir
hatten da keine Mehrheit.
({6})
Es waren zwei Mitgliedstaaten, die dafür gekämpft haben, alle anderen Mitgliedstaaten waren dagegen, sowohl in der Runde der 15 Mitgliedstaaten als auch später
in der Runde der 25. Insofern gab es keine Chance, das
durchzusetzen.
Ansonsten aber ist diese Verfassung gelungen: Wir
haben eine Parallelität von Rechten der Mitgliedstaaten
und Subsidiaritätsprinzip, wir haben die Stärkung der
Rechte des Europäischen Parlaments und der Kommission und die klare Definition des Verhältnisses zum Rat.
Wir haben bei der Gesetzgebung ein klares Verfahren,
das - das können wir mit einem gewissen Stolz sagen im Grunde genommen dem Dreisatz des Grundgesetzes
abgeschaut ist, nämlich die ausschließliche Gesetzgebung für beide Seiten und den konkurrierenden Bereich.
Es hat eine Klärung stattgefunden und es gibt keine allgemeinen Ermächtigungsklauseln mehr. Wir haben jetzt
europäische Grundrechte. Wer hätte gedacht, als Roman
Herzog damals den Auftrag übernommen hat, die
Grundrechte-Charta zu entwerfen - eine Initiative übrigens, die von der Bundesregierung und insbesondere
von Bundeskanzler Schröder ausging; das gilt auch für
die anderen Bereiche, die ich eben vorgetragen habe -,
dass wir heute die Grundrechte-Charta mit verbrieften
Grundrechten in der europäischen Verfassung haben,
und das trotz der Widerstände auf europäischer Ebene?
Ich gehörte damals zu denen, die sich darüber gefreut
hätten, aber eine realistische Skepsis an den Tag gelegt
haben. Die ist widerlegt worden und das ist gut so.
({7})
Angesichts dessen, was diese Verfassung für die europäischen Bürgerinnen und Bürger, die Integration der alten und neuen Mitgliedstaaten, die verbesserte institutionelle Arbeit auf europäischer Ebene und die verbesserte
Integration der nationalen Parlamente - unabhängig davon, ob es sich um eine oder zwei Kammern handelt -,
aber auch für die Europäische Union in ihrer zunehmenden außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung bedeutet, kann ich nur unterstreichen: Wir brauchen diesen
Verfassungsvertrag. Deswegen hoffe ich, dass das Haus
mit sehr großer Mehrheit möglichst schnell zu einer Ratifikation kommt. Denn als Bundesaußenminister und
Europäer wünsche ich mir, dass einer der wichtigen
Staaten in der Europäischen Union eine klare, schnelle
und richtige Entscheidung trifft.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich erteile Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
diese Debatte heute Morgen begann, war ich zunächst
außerordentlich überrascht. Ich habe noch keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung erlebt, mit dem ein
Vertragswerk vergleichbarer Qualität eingebracht worden ist, ohne dass die Bundesregierung das Vorhaben
durch eine Einbringungsrede begründet hätte.
({0})
Aber als der baden-württembergische Ministerpräsident hier gesprochen hat, ist diese Enttäuschung - um
nicht zu sagen: Empörung - über die Verschluderung
parlamentarischer Sitten schnell gewichen. Herr Ministerpräsident Teufel, das war die große Rede eines großen
Europäers. Ich danke Ihnen sehr herzlich dafür.
({1})
Ich danke Ihnen auch deshalb, Herr Ministerpräsident,
weil Sie mit der Begründung dieses guten Entwurfs eines Verfassungsvertrags eine Perspektive verbunden haben. Denn er stellt einen Meilenstein dar. Wir haben aber
noch einen langen Weg vor uns; schließlich ist und bleibt
es ein Vertrag. Es gibt noch keine Verfassung, die
- ähnlich den ersten Worten der amerikanischen Verfassung „We the people“ - mit „Wir, das Volk Europas“ beginnt. So weit sind wir noch nicht; es gibt noch kein
Staatsvolk.
Uns liegt vielmehr ein Vertrag vor, der von den Regierungen erarbeitet wurde und mithilfe einer neuen Einrichtung zustande gekommen ist, die sich sehr bewährt
hat, nämlich der Konvent. Wir werden aber noch einen
weiten Weg gehen müssen, bis die Europäer eines Tages
eine Verfassung bekommen werden, die den Zusatz
„Vertrag“ nicht mehr benötigt.
Dennoch ist der Vertrag gut. Er ist - auch aus liberaler
Sicht - ein Kompromiss, der aber tragfähig ist. Sehr wesentliche liberale Elemente - von den Grundrechten über
die Vertragsfreiheit, das Verbot der Überregulierung, die
Subsidiaritätsforderung bis hin zur Verhältnismäßigkeitsregelung - sind darin enthalten. Weil diese sehr guten Errungenschaften in das europäische Recht Eingang
finden, werden wir Liberale dem Vertragswerk zustimmen.
Zu einem späteren Zeitpunkt wird es darum gehen,
wesentliche Lücken zu schließen, die bereits angesprochen worden sind. Ich habe es außerordentlich bedauert,
dass im Rahmen der Regierungskonferenz, die den Entwurf des Konvents alles in allem nur unwesentlich verschlechtert hat, zumindest in einem Punkt eine wesentliche Verschlechterung zustande gekommen ist, nämlich
beim Legislativrat. Damit sind große Gefahren verbunden. Ich denke, wir müssen durch nationale Vorsorge sicherstellen, dass die gute Absicht des Konvents nicht in
das Gegenteil verkehrt wird.
Im Zusammenhang mit den zu schließenden Lücken
ist dann, wenn wir eines Tages vom Verfassungsvertrag
zu einer Verfassung übergehen, die den Zusatz „Vertrag“
nicht mehr benötigt, die Frage zu berücksichtigen, wie
die Legimitationslücke zu schließen ist, die sich daraus
ergibt, dass das Prinzip der Gleichgewichtigkeit der individuellen Wählerstimmen in der Europäischen Union
auch in Zukunft noch nicht gelten wird. Zur Beruhigung
sei deshalb gesagt: Für die Europapolitiker wird noch
sehr viel zu tun bleiben, auch wenn der Verfassungsvertrag vorliegt.
Die Ratifizierung der Verfassung ist kein bürokratischer Akt. Es geht vielmehr darum, die Zustimmung
der Bürgerinnen und Bürger zu erzielen. Diese wird
nicht dadurch erreicht, dass wir eine Expertendebatte
führen, sondern wir müssen die Debatte an die Bürgerinnen und Bürger herantragen. Es ist leicht, über die Bürokraten auf europäischer Ebene herzuziehen. In manchen
Fällen ist das völlig unberechtigt, aber manchmal ist es
leider auch berechtigt. Manchmal ist es unsinnige bürokratische Überregulierung oder sogar bevormundender
Unfug, der aus Brüssel kommt. Manchmal müssen wir
einfach nur erklären, dass eine europäische Richtlinie
oder Rechtsetzung - welcher Art auch immer - zum Beispiel dazu dient, fairen Wettbewerb zu organisieren, und
dass daher europäisches Handeln häufig ein Segen ist,
gerade wenn es darum geht, unsere verkrusteten Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland zu knacken.
({2})
Wesentlich ist, dass wir Politikerinnen und Politiker uns
darum bemühen, mehr zu erklären und zu werben. Information ist der erste Schritt.
Sie haben zu Recht die historische Dimension des
Verfassungsvertrages angesprochen. Wir unterschätzen
völlig, welche große Bedeutung der Verfassungsvertrag
hat, welche Anerkennung die europäische Integration
bei den Menschen jenseits von Europa genießt und wie
sehr Europa mittlerweile zu einem Modellfall für Regionen der anderen Welt geworden ist. Das sollten wir nicht
länger tun. Diese Unterschätzung kommt übrigens auch
darin zum Ausdruck, dass wir - wie ich finde: völlig
leichtfertig und unnötig - auf die Perspektive einer europäischen Stimme in der Weltpolitik, also eines Sitzes im
Weltsicherheitsrat, verzichten. Eines Tages kommt es
noch so weit, dass der amerikanische Präsident Bush
nach seinem Besuch in Brüssel die Forderung nach einem europäischen Sitz erhebt und sie gegen den Willen
der Bundesregierung durchsetzt.
({3})
Herr Bundesminister, man ist ja durch das beflügelt, was
in den letzten Tagen möglich geworden ist.
Der erste Schritt ist natürlich Information. Es ist
schon ein ziemlicher Skandal, dass ein Lehrer - egal in
welchem Bundesland -, der die Bundeszentrale für politische Bildung oder das Bundespresseamt anruft und
fragt, ob es möglich ist, ihm den Text des vom Europäischen Rat verabschiedeten Verfassungsvertrags zuzuschicken, die Antwort bekommen wird, dass der Verfassungsvertrag leider noch nicht in gedruckter Form
vorliegt, dass er ihn aber im Internet herunterladen kann.
Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit führt gerade eine millionenschwere Medienkampagne mit der Überschrift „Sibirien bleibt kalt“
durch. Ich freue mich zwar ebenfalls über das In-KraftTreten des Kioto-Protokolls. Aber dass wir für den europäischen Verfassungsvertrag in gedruckter Form kein
Geld übrig haben, wohl aber für eine solche Kampagne,
die eigentlich nicht mehr erforderlich ist, um politische
Überzeugungsarbeit zu leisten, ist schon ein ziemlich
schlechter Scherz.
({4})
Letzter Punkt. Dass die Europäerinnen und Europäer,
insbesondere die Deutschen, so skeptisch und zurückhaltend sind und so schlecht informiert sind, hat natürlich
auch etwas damit zu tun, dass wir gerade in Deutschland
als Politikerinnen und Politiker oft gar nicht die Notwendigkeit sehen, die Bevölkerung in der Breite zu überzeugen und mitzunehmen. Europa ist häufig unpopulär und
schwer zu erklären.
({5})
Deswegen bleibt mancher gerne - Herr Kollege Gloser,
Sie gehören nicht dazu - wie die Hasen mit angelegten
Löffeln in der Ackerfurche liegen, wenn es darum geht,
Europa zu erklären, und der euroskeptische Wind über
uns hinwegweht.
({6})
Hätten wir die Notwendigkeit, in einer Referendumskampagne das Volk mitzunehmen, müssten wir uns alle
sehr viel mehr anstrengen.
({7})
Ich beklage den mangelnden Mut, der zum Ausdruck
kommt, wenn die Mehrheit dieses Hauses einen Volksentscheid über die europäische Verfassung ablehnt. Es
waren doch die Grünen, die noch 2004 in ihrem Wahlprogramm ausdrücklich geschrieben haben:
In Deutschland soll der erste bundesweite Bürgerentscheid über die neue Verfassung durchgeführt
werden.
Dieses Haus hat niemals einen entsprechenden Gesetzentwurf der Grünen gesehen. Wir legen Ihnen aber einen
vor.
({8})
Von Ihnen wird zwar wolkig angekündigt, dass die Einführung eines Volksentscheides in größerem Rahmen
auf den Tisch des Hauses kommen wird. Wir warten es
ab. Interessant ist aber, dass bis dahin der europäische
Verfassungsvertrag mit der Brechstange durch das Ratifizierungsverfahren gebracht werden soll. Ich finde das
nicht sehr überzeugend. Wir werden Ihnen in naher Zukunft die Gelegenheit geben, in namentlicher Abstimmung über die Einführung eines Volksentscheids über
den europäischen Verfassungsvertrag zu entscheiden.
Ich sage dies für meine Fraktion nicht als Vertreter
derjenigen, die ohnehin für die Einführung von mehr
plebiszitären Elementen in unsere Verfassung eintreten,
sondern als jemand, der als überzeugter Anhänger der
repräsentativen Demokratie der Auffassung ist, dass
auch in einer solchen Demokratie die Repräsentanten der
Legitimation durch das Volk bedürfen.
({9})
Wir haben 1990 - Herr Kollege Röttgen, ich sage das
sehr selbstkritisch - die Chance verpasst, dem Volk das
Grundgesetz für das vereinigte Deutschland zur Ratifizierung vorzulegen.
({10})
Wir sollten uns nun nicht die Möglichkeit nehmen, diesen Fehler bei der europäischen Verfassung zu vermeiden. Deswegen haben wir Ihnen eine Grundgesetzänderung vorgeschlagen. Wir werden bald im Deutschen
Bundestag in namentlicher Abstimmung darüber zu befinden haben. Ich freue mich darauf, dass die Grünen
dann die Chance haben, ihre beachtliche Lücke zwischen Versprechen und Halten, zwischen Wort und Tat
zu schließen.
Haben Sie herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Generation meiner Großeltern hat Krieg gegeneinander geführt. Heute ist Europa das erfolgreichste Friedensprojekt
aller Zeiten. Europäische Softpower ist so wirkungsvoll,
so attraktiv, dass sich viele Nachbarländer der EU auf den
Weg der Freiheit und der Demokratie gemacht haben.
Der Erfolg der Integration Europas ist zugleich die
größte Herausforderung für die Europäische Union. Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig anzugehen war
ohne Zweifel ein Wagnis, war aber zugleich die Voraussetzung für das Gelingen. Machen wir uns nichts vor:
Bereits die EU der Fünfzehn stieß an die Grenzen ihrer
Handlungsfähigkeit. Doch erst gemeinsam mit den
neuen Mitgliedstaaten war der Handlungsdruck groß genug, um sich auf eine europäische Verfassung zu einigen.
Diese Verfassung ist, allen berechtigten Wünschen
nach weiter gehenden Regelungen zum Trotz, ein Meilenstein. Ja, sie ist mehr als das. Ich meine, die europäische Verfassung ist die Geburtsurkunde der Vereinigten
Staaten von Europa.
({0})
Ich weiß, dass das nicht jeder heute so sieht, dass das
manche heute nicht so sehen wollen. Aber ich bin zuversichtlich, dass das im Rückblick einmal so eingeordnet
werden wird.
Jeremy Rifkin schreibt dazu:
Vor mehr als 200 Jahren erschufen die amerikanischen Gründerväter einen neuen Traum für die
Menschheit, der die Welt veränderte. Heute entwirft
eine neue Generation von Europäern einen radikal
neuen Traum - einen, der ihrer Überzeugung nach
den Herausforderungen der zunehmend vernetzten
und globalisierten Welt im 21. Jahrhundert besser
gerecht wird. Vielleicht können wir von unseren
Freunden in Europa etwas lernen.
Es liegt auch an uns, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Die Verfassung ist nicht der Endpunkt der
Integration, sondern der Rahmen für eine, wie es in ihrer
Präambel heißt, Ever Closer Union, für eine immer engere Integration Europas.
Europa hat gelernt. Wie so oft war eine durchaus krisenhafte Entwicklung Voraussetzung für weitere Integrationsfortschritte. Ich erinnere mich sehr gut an die Debatten im Konvent über die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik, als zur gleichen Zeit das Wort vom alten und neuen Europa die Runde machte. Das ist überwunden. Die Konzeption einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist Ausdruck eines
selbstbewussten Europas, das bereit ist, Verantwortung
zu übernehmen.
Wir nehmen Partnerschaft ernst und setzen auf die
Stärkung des transatlantischen Bündnisses. Ich freue
mich, dass auch der amerikanische Präsident in dieser
Woche in Brüssel zum Ausdruck gebracht hat, dass ein
starkes Europa ein starker Partner der Vereinigten Staaten ist.
Die Verfassung wird Europa handlungsfähiger machen. Das ist notwendig, weil wir in der EU auch die
Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung
sehen. Mit der Refokussierung der Lissabon-Strategie
auf Wachstum und Beschäftigung, mit einer ökonomischen Interpretation des Stabilitäts- und Wachstumspakts tragen wir dazu bei, Europas Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber Nordamerika, Südostasien, China, Indien
oder dem Mercosur zu stärken.
Doch es geht nicht nur um die Handlungsfähigkeit der
Europäischen Union, sondern wir diskutieren im Zusammenhang mit der Ratifizierung der europäischen Verfassung auch über die Handlungsfähigkeit Deutschlands in
Europa. Um deutsche Interessen - wer wollte ernsthaft
bestreiten, dass es diese auch in Zukunft geben wird wirkungsvoll zu vertreten, brauchen wir einen handlungsfähigen Bundesstaat. Es ist bedauerlich, dass die
Föderalismuskommission nicht zu einem entsprechenden Ergebnis kam. Wir werden das Thema meines Erachtens wieder aufgreifen müssen. Weder Bund noch
Länder sollten aber jetzt den Versuch machen, die Ratifizierung der Europäischen Verfassung, die wirklich von
historischer Bedeutung ist, zum Anlass zu nehmen, die
Schlachten der Föderalismuskommission noch einmal zu
schlagen.
({1})
Lassen Sie uns die Fragen miteinander regeln, die mit
der Ratifizierung unmittelbar zusammenhängen bzw. die
sich aus der Stärkung der nationalen Parlamente, wie
sie die Verfassung vorsieht, ergeben. Herr Ministerpräsident Teufel, die Stärkung der nationalen Parlamente ist
nicht zuletzt - das gilt in Deutschland sowohl für den
Bundestag als auch für den Bundesrat - ein gemeinsamer Erfolg der deutschen Mitglieder im Konvent gewesen.
Ich bedanke mich bei den Europapolitikern der Koalitionsfraktionen für den Entwurf eines Begleitgesetzes.
Ihr Entwurf ist der eines selbstbewussten Parlaments,
das seine Rechte wahrnimmt und zugleich im Blick behält, was Deutschland insgesamt in Europa und was die
Europäische Union voranbringt.
Wir wissen, dass es auch unter den Ländern und
selbst in der Opposition viel Sympathie für die Vorschläge der Koalitionsfraktionen gibt - zumindest bei
denjenigen, die sich noch an eigene Regierungszeiten erinnern oder die Hoffnung darauf, irgendwann wieder
einmal Regierungsverantwortung im Bund zu übernehmen, noch nicht völlig aufgegeben haben.
({2})
Lassen Sie uns in den anstehenden Beratungen des
Begleitgesetzes zur europäischen Verfassung nicht diskutieren, was der Regierung oder der Opposition, dem
Bund oder den Ländern nützt, sondern was im Interesse
der Bundesrepublik Deutschland in Europa liegt.
({3})
An die Adresse einiger Bundesländer sage ich mit Blick
auf die Beratungen im Bundesrat in der vergangenen
Woche deshalb: Wir beraten die Ratifizierung einer Verfassung für Europa und nicht eine Durchführungsverordnung für den Föderalismus in Deutschland. Herr Ministerpräsident Teufel, ich sage ausdrücklich: Ich bin
dankbar, dass Sie diesen Akzent in der heutigen Debatte
im Deutschen Bundestag gesetzt haben.
Im Konvent und in der Regierungskonferenz hatte
sich Deutschland dafür eingesetzt, von der bisher als Regel erforderlichen Einstimmigkeit grundsätzlich in die
Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen.
Eine Europäische Union mit 25 und mehr Mitgliedern
kann ihre Entwicklung nicht ständig vom jeweils langsamsten Mitglied abhängig machen.
Es liegt im Übrigen auch und gerade im deutschen Interesse, die schlechte Tradition zu beenden, dass sich
mancher sein nationales Veto gerne abkaufen lässt. Die
Verfassung sieht nun in zahlreichen Bereichen den Übergang zur Mehrheitsentscheidung vor. Aber noch immer
- da sind wir uns einig - bleiben zu viele Ausnahmen
vom demokratischen Mehrheitsprinzip bestehen.
Um nun nicht jeden zukünftigen Integrationsfortschritt in diesem Bereich mit der hohen Hürde einer Verfassungsänderung zu behindern, wurde das Instrument
der Passerelle, der Brückenklausel, geschaffen. Demnach soll der Europäische Rat einstimmig entscheiden
können, in weiteren Bereichen von der Einstimmigkeit
in die qualifizierte Mehrheit überzugehen. Doch das
Veto des Parlaments eines einzigen Mitgliedstaates in einem Zeitraum von sechs Monaten nach der ER-Entscheidung kann diese Entscheidung aufheben.
Nun, wie es einige hier und im Bundesrat fordern,
auch noch die Entscheidung der europäischen Staatsund Regierungschefs vorab an die Zustimmung des Parlaments zu knüpfen, entspricht eben nicht dem Geist der
europäischen Verfassung und es entspricht nicht dem
Ziel, das wir gemeinsam in den Verhandlungen über die
Verfassung vertreten haben.
({4})
Wer für ein demokratischeres Europa eintritt, wer
grundsätzlich den Übergang zur Mehrheitsentscheidung
gefordert hat - Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben
das hier wiederholt getan - und wer eine entsprechende
Verfassung ratifiziert hätte, kann nun nicht das verbliebene Flexibilitätsinstrument ad absurdum führen. Die
Passerelle ist als Brücke angelegt, nicht als Grenze. Lassen Sie uns diese Brücke miteinander beschreiten, Herr
Ministerpräsident Teufel.
Wir haben ein gemeinsames Interesse, den Ratifikationsprozess zum Erfolg zu führen, nicht nur in Deutschland. Wir wissen, dass in einigen Mitgliedstaaten noch
lebhafte Debatten anstehen. Ich bedanke mich für die
Bereitschaft des Deutschen Bundestages, durch vielfältiges Engagement seiner Mitglieder und nicht zuletzt
durch ein rasches, zeitlich abgestimmtes Verfahren zu einer positiven Ratifikationsdynamik in Europa beizutragen.
Frankreich und Deutschland: Die Aussöhnung zwischen unseren Ländern, war die Basis für die Einigung
Europas. Frankreich und Deutschland stehen auch heute
für eine EU, die mehr ist als ein Markt: nämlich ein Europa der Freiheit und der Solidarität, ein Europa, das
seine Verantwortung in der Welt wahrnimmt, ein Europa
der Staaten und der Bürger.
Die europäische Verfassung ist auch Ausdruck dieses
Verständnisses. Sie schreibt nicht nur die Werte und
Ziele Europas fest. Sie gibt uns auch einen Rahmen, um
diese Ziele zu erreichen, in Europa und darüber hinaus.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Politik brauchen wir Visionen und große
Ziele, aber wir müssen auch immer darauf achten, dass
wir den Bezug zur Realität nicht verlieren. Wir müssen
beides miteinander verbinden. Staatsminister Bury hat
gerade davon gesprochen, dass dieser Vertrag über eine
europäische Verfassung vielleicht eines Tages als Gründungsurkunde für die Vereinigten Staaten von Europa
angesehen wird. Das mag so sein, auch wenn wir wahrscheinlich ein anderes Modell vor Augen haben. Ich will
gleich ein paar Bemerkungen zur Europäischen Union
machen.
Wie auch immer, es hätte schon der Bedeutung dieses
Vertragswerks entsprochen, wenn es die Bundesregierung hier ordentlich eingebracht hätte.
({0})
Aber die frohe Botschaft dieses Morgens ist, dass der
Föderalismus wirklich eine gute Ordnung ist und funktioniert. Wenn die Bundesregierung versagt, dann gibt es
einen Ministerpräsidenten, der das in vorbildlicher
Weise macht. Herzlichen Dank, Erwin Teufel!
({1})
Herr Kollege Hoyer, in Ihrer Argumentation - vom
Anfang zum Ende hin - war ein gewisser Widerspruch;
den will ich an dieser Stelle doch kurz erwähnen. Am
Anfang haben Sie richtigerweise gesagt: Es ist ein Vertrag über eine Verfassung. Es ist auch nicht das Ende des
Verfassunggebungsprozesses in Europa. Es ist ein
Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Deswegen ist die Frage einer Volksabstimmung möglicherweise anders zu betrachten, als wenn wir eine Verfassung hätten, wie Sie gesagt haben, mit der Formulierung
„We the people“. Das ist aber nicht so. Das wollen die
Menschen in Europa jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt auch nicht. Was die Menschen wollen, ist genau
diese neue Form politischer Integration.
Es war übrigens eine Idee, die wir in der Union entwickelt haben, nämlich einen Vertrag über eine europäische Verfassung zu schließen, weil das die beiden Gesichtspunkte, Vision und Realität, richtig miteinander
kombiniert. Es ist ein Modell, in dem wir schrittweise
Teile von staatlicher Souveränität auf eine entstehende
neue politische Einheit übertragen. Das ist das Einzigartige, das Neue, das Modellhafte der europäischen Integration. Es ist wichtig, dass der amerikanische Präsident,
wenn ich es richtig verstanden habe, bei seinem Besuch
in Brüssel in dieser Woche diesen Prozess zum ersten
Mal richtig verstanden und akzeptiert hat. Auch das
bringt uns ein ganzes Stück voran.
Aber wir müssen die Balance halten. Wir müssen die
Menschen in Europa auf diesem Weg mitnehmen und
überzeugen. Das ist schwieriger und eine größere Aufgabe, als wir uns das gelegentlich bewusst machen. Wir
dürfen das nicht zu einer Debatte von Technokraten und
Experten verkommen lassen.
Deswegen scheint mir wichtig zu sein, dass wir zunächst Folgendes klar machen: Der Bereich der Außenund Sicherheitspolitik wird in den kommenden Jahren
der wichtigste der europäischen Integration sein. Alles,
was dazu gesagt worden ist, ist richtig. Es kann nicht
besser gesagt werden, als es von Erwin Teufel heute Vormittag gesagt worden ist. Daran müssen wir weiter arbeiten. Damit verträgt sich nicht eine Politik der Bundesregierung, bei der sie vom deutschen Weg und von einer
Renationalisierung der Außenpolitik spricht. Damit verträgt sich nicht eine Politik von Achsenbildung in Europa. Vielmehr muss eine Politik betrieben werden, die
ganz Europa, große und kleine Mitgliedstaaten, zu einer
gemeinsamen Position bringt. Das sollten wir lernen.
({2})
Ein weiterer Punkt. Wenn dieses Europa gelingen
soll, braucht es klare Wurzeln. Deswegen haben wir so
darum gerungen und sind nicht so ganz glücklich damit,
dass es nicht, noch nicht gelungen ist, die geistigen,
geistlichen, kulturellen und zivilisatorischen Grundlagen, ohne die Europa nicht werden wird und nicht werden kann, was es werden muss, in diesem Verfassungsvertrag stärker zu beschreiben.
({3})
Das ist nicht rückwärts gewandt, sondern Voraussetzung
für Zukunftsgestaltung. Das ist wichtig.
Der nächste Schritt ist übrigens, dass für mehr Verlässlichkeit in der europäischen Politik gesorgt wird.
Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, bei diesem wichtigen Anlass mit aller Eindringlichkeit: Unterschätzen Sie nicht, wie sehr Sie das europäische Projekt
dadurch gefährden, dass Sie das Stabilitätsversprechen
für die europäische Währung, das wir gemeinsam eingegangen sind, durch Ihren laxen Umgang mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gefährden.
({4})
Wenn die Bürger den auf dem Weg zur europäischen
Einheit gegebenen Zusagen und Versprechungen nicht
vertrauen können, wird ihre Zustimmung für Europa
nicht wachsen. Das ist der entscheidende Punkt. Den
sollten wir nicht zu kleiner Münze verkommen lassen,
sondern müssen das immer wieder sagen: Verlässlichkeit
ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen dem
europäischen Einigungswerk anvertrauen. Anders wird
das nicht gelingen.
({5})
- Herr Kollege Müntefering, ich sagte, damit das gelingt, was wir gemeinsam wollen und bereits hier entwickelt haben, ist es wichtig, dass man gegebene Versprechen nicht nur in allgemein gehaltenen Reden, sondern
auch im Alltag beherzigt. Die Bürger achten nämlich
nicht nur darauf, was wir heute sagen, sondern auch darauf, was wir morgen für eine Politik machen.
({6})
Es ist ja auch gut, wenn wir darüber streiten. Das gehört zur Demokratie. Deshalb will ich gleich hinzufügen
- das hätte ich Ihnen sonst heute Vormittag erspart; aber
nun haben Sie mich dazu gebracht -,
({7})
dass Sie, wenn Sie eine Politik der offenen Grenzen und
der Integration wollen, nicht Schindluder mit der Visaerteilung betreiben dürfen. Das passt nämlich nicht zusammen.
({8})
Wenn es in Europa aufgrund des Schengen-Abkommens
offene Grenzen gibt, müssen wir uns auch an dieses Abkommen halten. Die Vorwürfe unserer Partner zeigen,
dass wir das Schengen-Abkommen verletzt haben. Meiner Meinung nach handelt es sich um einen schweren
Verstoß, wodurch europäische Verlässlichkeit gefährdet
wird.
({9})
- Ach, Herr Müntefering, Ihre Methoden kenne ich. Immer wenn Ihnen etwas nicht gefällt, versuchen Sie,
durch Zwischenrufe zu stören. Sie werden unsicher; Sie
haben auch allen Grund dazu.
({10})
Wir sollten uns übrigens auch vor zu vielen Versprechungen hüten. So habe ich in den letzten Jahren von
Rednern in europapolitischen Debatten zur LissabonStrategie gehört, dass Europa bis zum Jahre 2010 zur dynamischsten und wachstumsstärksten Region in der Welt
gemacht werden soll. Das ist ein wunderschönes Ziel.
Jedoch wissen alle Beteiligten, dass sie dieses Versprechen so nicht einhalten können. Wenn wir Quartal für
Quartal die ohnehin schon geringen Wachstumsprognosen wieder nach unten korrigieren müssen, sollten
wir den Mund nicht zu voll nehmen, um nicht morgen
bei der Bevölkerung Enttäuschungen hervorzurufen, deren Zustimmung und Vertrauen wir brauchen.
({11})
Im Zusammenhang mit dem Thema europäische Souveränität möchte ich noch ganz am Rande einen Punkt
erwähnen, der, wie ich glaube, wichtiger wird: Die Debatte, die zwischen dem Bundesverfassungsgericht und
den europäischen Gerichten über die Grenzen von Verbindlichkeiten der Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen geführt wird, wird zunehmend zu einer Debatte über die Frage, wie sich nationale Souveränität
und europäischer Einigungsprozess miteinander verbinden lassen. Wir müssen dieses Thema ernst nehmen
und uns darum kümmern, damit hierdurch nicht neue
Stolpersteine auf den Weg zur europäischen Einigung
gelegt werden.
({12})
Das bringt mich zu dem nächsten Thema: Ein wichtiger Punkt im Verfassungsvertrag, dessen Ratifizierung
wir zustimmen werden, ist, dass die Rolle des Europäischen Parlamentes gestärkt wird. Es ist aber genauso
wahr, dass in der Wahrnehmung der meisten Menschen
in unserem Land und in anderen europäischen Ländern
das Europäische Parlament nicht oder noch nicht in der
Lage ist, die alleinige Legitimation politisch-parlamentarischer Entscheidungen sicherzustellen. Dazu werden
auch in Zukunft die nationalen Parlamente gebraucht.
Das ist nicht gegen Europa gerichtet, sondern dient dazu,
die europäische Einigung zu stärken und abzusichern.
Das wird ohne den Beitrag der nationalen Parlamente
nicht gehen.
({13})
Deswegen müssen auch die nationalen Parlamente
ihre Verantwortung in diesem Punkt stärker wahrnehmen. Wie das geschehen könnte, dazu haben wir Vorschläge vorgelegt. Ich weiß, dass Regierungen - das
habe ich auch schon bei der Vorgängerregierung erlebt es gar nicht so gerne haben, wenn sich Parlamente daran
beteiligen. Es ist aber auch eine Wahrheit, dass die notwendige Öffentlichkeit von Entscheidungen nur hergestellt werden kann, wenn die nationalen Parlamente
rechtzeitig beteiligt und befasst werden. Anderenfalls
geht es schief.
({14})
Bei vielen aktuellen Entscheidungen, von den Antidiskriminierungsrichtlinien bis hin zur Dienstleistungsrichtlinie, erleben wir, was geschieht, wenn die Öffentlichkeit
zu spät von Entscheidungsprozessen in Kenntnis gesetzt
wird, die in Europa ablaufen.
({15})
Unsere Vorschläge, wie dafür gesorgt werden kann,
dass durch Beratungen in unserem nationalen Parlament
rechtzeitig europäische Entscheidungen transparent und
öffentlich gemacht werden können und damit die Legitimität dieser Entscheidungen sichergestellt werden kann,
sind nicht gegen Europa gerichtet, sondern stärken den
europäischen Einigungsprozess.
Wir wollen mit unseren Vorschlägen auch nicht die
Handlungsfähigkeit der Regierung beeinträchtigen - darum geht es überhaupt nicht -, sondern wir wollen dafür
sorgen, dass Entscheidungen, die die europäischen Institutionen treffen, hinterher von der Bevölkerung auch als
verbindlich und parlamentarisch-demokratisch legitimiert akzeptiert werden können. Wer sich dafür einsetzt,
der stärkt den europäischen Einigungsprozess und will
ihn nicht verhindern.
Sie als Koalitionsfraktionen haben Ihre Initiative so
kurzfristig eingebracht, dass man auf der Tagesordnung
dieser Sitzung noch nicht einmal eine Drucksachennummer finden kann; dies zeigt schon die ganze Sorgfalt, mit
der Sie beraten haben.
({16})
- So ähnlich haben Sie auch den Verfassungsvertrag
heute Morgen eingebracht.
An der Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu dem Ratifizierungsgesetz zum Vertrag über eine
europäische Verfassung besteht kein Zweifel. Aber die
Frage, wie wir die parlamentarische Beteiligung ausgestalten, gehört nicht zu den Quisquilien. Deswegen werden wir den Gesetzentwurf nicht einfach durchwinken,
sondern ihn sorgfältig beraten. Dabei werden wir das
Ziel verfolgen, gemeinsam mit Ihnen Lösungen zu finden, die über eine stärkere Mitwirkung des nationalen
Parlaments an der Legitimation europäischer Entscheidungen das europäische Einigungswerk für die Zukunft
stärken. Dazu bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegin Marianne Tritz, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
wollte eigentlich einen anderen Einstieg für meinen Beitrag zur europäischen Verfassung wählen;
({0})
aber da Herr Schäuble noch einen kleinen Schlenker zur
Visageschichte gemacht hat, möchte ich darauf erwidern.
({1})
Herr Schäuble, die Europaabgeordneten von CDU/
CSU und FDP haben noch im Januar 2005 Visaerleichterungen für die Ukraine gefordert. In einem Änderungsantrag zu einer Resolution zu den ukrainischen
Wahlen
({2})
hat die EVP-Fraktion den Rat und die Kommission aufgefordert, sich für die erleichterte Visavergabe an
Ukrainer einzusetzen. Alle Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP haben am 13. Januar 2005 in namentlicher
Abstimmung für diese Resolution gestimmt. - Vielen
Dank.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische
Verfassung braucht eine breite Unterstützung im ganzen
Land. Dazu wollen wir hier und heute unseren Beitrag
leisten. Diese Verfassung wird die Europäische Union
demokratischer, transparenter und effizienter machen
und den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger
verbessern.
Alle Umfragen besagen, dass die übergroße Mehrheit
der Deutschen der EU-Verfassung positiv gegenübersteht. Zugleich sagen die Befragten jedoch, dass sie über
den Inhalt der Verfassung zu wenig wüssten. Es muss
unsere Aufgabe als Parlamentarier sein, diese Wissenslücken gemeinsam mit der Bundesregierung und den
Medien in den nächsten Monaten zu füllen.
({4})
Dazu gehört, dass wir konkrete Ängste in der kritischen
Öffentlichkeit klar ansprechen und ausräumen müssen.
Zum Beispiel gibt es die Sorge, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu militärisch
werden könnte. Lassen Sie mich darauf etwas genauer
eingehen: Die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik ist ein Prozess, der nicht mit
der europäischen Verfassung begonnen hat, sondern sich
vom Vertrag von Maastricht über Amsterdam und Nizza
bis zum heutigen Tage immer weiter entwickelt hat. Diesen Prozess halte ich für unverzichtbar. Nur ein gemeinsames und starkes Europa hat wirklichen Einfluss im
Rahmen der internationalen Gemeinschaft.
({5})
Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich fragen, ob die Einrichtung einer europäischen Verteidigungsagentur zwingend notwendig in der Verfassung
stehen muss. Ich meine, nein; denn die Verteidigungsagentur ist ohnehin schon im Aufbau, und zwar auf der
Grundlage der jetzigen Verträge. Aber dass wir eine solche Verteidigungsagentur brauchen, steht meiner Ansicht nach außer Frage. Jeder der 25 Mitgliedstaaten unterhält nach wie vor seine eigenen Streitkräfte und seine
eigenen Rüstungskapazitäten. Arbeitsteilungen und das
Zusammenlegen von Fähigkeiten sind selten. Vielfach
sind diese Streitkräfte schon aufgrund unterschiedlicher
technischer Standards nicht in der Lage zusammenzuarbeiten. Das bedeutet konkret: Die europäischen Staaten
geben mehr Geld für Verteidigung aus als nötig. Mit der
europäischen Verteidigungsagentur werden militärische
Überkapazitäten abgebaut und - gesamteuropäisch betrachtet - Verteidigungsausgaben eingespart.
Außerdem ist die europäische Verfassung die erste
Verfassung, die im Rahmen ihrer sicherheitspolitischen
Bestimmungen gleichberechtigt von zivilen und militärischen Mitteln spricht. Wenn man sich Art. I-3 anschaut,
stellt man fest, dass es endlich auch aus friedenspolitischer Perspektive eine positive andere Gewichtung der
außenpolitischen Zielbestimmungen gibt. Dieser Bedeutungszuwachs der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sollte sich dementsprechend auch in der Verfassung niederschlagen.
Zur Liberalisierung der Wirtschaftsordnung lassen
Sie mich Folgendes sagen. Es ist schon eine skurrile Situation: Während zum Beispiel von Attac kritisiert wird,
dass die europäische Verfassung eine neoliberale Wirtschaftsordnung festschreibt und das soziale Europa beerdigt wird, beschweren sich in Großbritannien Wirtschaftsverbände und die konservative Opposition über
zu viel europäische Sozialpolitik und die damit verbundene Bürokratie.
({6})
Sie sorgen sich um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft.
Für diese Verfassung musste ein Kompromiss gefunden werden und der ist nicht der schlechteste. Er wurde
folgendermaßen formuliert:
Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung
Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen
Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine
in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen
Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität
hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und soMarianne Tritz
zialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und
Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Meine Damen und Herren, eine Verfassung, die das
Ziel der Vollbeschäftigung formuliert - was, nebenbei bemerkt, in unserem Grundgesetz nicht zu finden ist -, dem
Vorwurf des Neoliberalismus auszusetzen, ist sicherlich
nicht zu rechtfertigen.
Kommen wir schließlich zum Vorwurf der „imperialen Machtpolitik“, wie ich es in einigen Papieren gegen
die Verfassung lesen durfte. Das ist natürlich totaler
Quatsch. Das bisherige Abstimmungssystem im Ministerrat war weder transparent noch gerecht. Bei jedem
neuen Beitritt gab es ein Geschacher über die Stimmgewichtung. Die Verfassung macht endlich Schluss mit
diesem System, das keine Bürgerin und kein Bürger jemals verstanden hat. Die doppelte Mehrheit ist ein klares und zukunftsfestes Abstimmungssystem und wird
dem Doppelcharakter der Union der Bürgerinnen und
Bürger und der Union der Staaten bestmöglich gerecht.
Durch das Bevölkerungskriterium heißt es in Zukunft
„one man - one vote“. Durch das Staatenkriterium wird
sichergestellt, dass nicht wenige große Mitgliedstaaten
die kleineren und mittleren Staaten dominieren können.
Somit wird den berechtigten Interessen aller Seiten
Rechnung getragen.
Natürlich hat die Verfassung auch Schattenseiten; das
will ich gar nicht verhehlen. Aber sie wird sich in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln. Natürlich hätte jeder diese Verfassung ein wenig anders geschrieben. Aber als eine Verfassung, die von Politikern
verschiedenster Couleur aus 28 Staaten erarbeitet wurde,
ist sie ein ausgewogener Kompromiss zwischen den vielen unterschiedlichen Vorstellungen. Die europäische
Verfassung ist ein Meilenstein der europäischen Integrationsgeschichte. Mit der neuen Verfassung wird man
wissen, wer am Ruder steht und wer was entscheidet:
Rat, Kommission oder Europäisches Parlament.
Wenn in einigen Jahren die erste Revision der Verfassung auf der Tagesordnung stehen wird, dann werden
wir weiter für die Dinge kämpfen, die in diesem ersten
Anlauf leider nicht durchsetzbar waren. Dazu gehören
zuallererst die Abschaffung der verbliebenen Einstimmigkeitserfordernisse im Ministerrat und die volle
Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments, natürlich nicht zu vergessen die Abschaffung des unsäglichen
Euratom-Vertrags.
({7})
Die Ratifizierung in Deutschland wird auch im Rest
Europas genau beobachtet. Wir sollten die parlamentarische Beratung deshalb sorgfältig, aber ohne unnötige
Verzögerung durchführen. Ein deutliches Ratifizierungssignal aus Deutschland kann auch auf Abstimmungen in
anderen Staaten eine positive Auswirkung haben. Deshalb sagen wir heute Ja zur Verfassung als ersten Schritt
zu mehr Handlungsfähigkeit. Wir sagen Ja zur Weiterführung des Dialogs mit dem Ziel, eine wirkliche politische Union zu entwickeln. Es ist unsere Aufgabe, dieses gemeinsame Europa den Bürgerinnen und Bürgern
nahe zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich
freuen, wenn wir es schaffen könnten, die Schlussabstimmung über die Verfassung am Europatag, also am
9. Mai, durchzuführen. Dies wäre ein richtig starkes Signal für Deutschland und Europa: Am 8. Mai feiern wir
60 Jahre Kriegsende und am Tag darauf beschließen wir
in einer Sondersitzung die europäische Verfassung.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Tritz, ich stimme Ihnen in dem Punkt zu, dass
die europäische Verfassung in Form dieses Vertrages ein
Meilenstein und ein Quantensprung ist. Man stärkt das
Gewicht der Europäischen Union, indem man ihr eine
eigene Rechtspersönlichkeit verleiht und indem man ihr
neue Instrumente zur Wahrnehmung einer europäischen
Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gibt. Weil
das so ist, sind wir Liberale der Meinung, dass es in diesem Stadium der Entwicklung richtig ist, auch die Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen.
({0})
Von verschiedenen Rednern wurde zu Recht immer
wieder angesprochen, dass die europäische Öffentlichkeit nicht in dem notwendigen Maße hergestellt wurde.
Europäische Identität und das Gefühl, sich in diesem Europa, das man nicht als technokratisches Monstrum betrachtet, zu Hause zu fühlen, werden erreicht, wenn
kommuniziert und diskutiert wird und wenn die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass man ihnen offen sagt,
wie die Situation ist, und dass ihnen ein Mitspracherecht
eingeräumt wird. Diese Position ist bisher leider nicht
auf Zustimmung in diesem Hause gestoßen. Aber ich
denke, all diejenigen, die sich der Stärkung der Demokratie verpflichtet fühlen und die diese Haltung zum
Credo ihrer Politik gemacht haben, können aus guten
Gründen unseren Vorschlag nicht ablehnen.
Wir sind froh, dass Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, aber auch Wettbewerbsfähigkeit und Marktwirtschaft als Ziele in dem europäischen Verfassungsvertrag
verankert sind. Es ist gut, dass viele mit uns gemeinsam
die Kritik, wir würden für einen Neoliberalismus eintreten, zurückweisen. Diese Gemeinsamkeit hat es in der
Vergangenheit in ähnlichen Situationen nicht häufig gegeben.
Wir sind dafür, dass die Europäische Union ein Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist. Wir wollen keine abgeschottete Europäische Union, die niemanden mehr hereinlässt - auch nicht nach Deutschland.
Deshalb sind ordnungsgemäße Visumerteilungsverfahren wichtig und notwendig. Wenn es in anderen Staaten
Notlagen gibt, werden wir uns für die Erteilung von Visa
immer einsetzen. Daher finde ich es gut, dass im Januar
2005 im Europäischen Parlament in diesem Sinne gehandelt wurde.
({1})
Was wir aber nicht wollen, ist eine Visumspraxis, die
zum Missbrauch einlädt und die möglicherweise gegen
Gesetze verstößt.
({2})
Der gegenwärtige Sachverhalt muss aufgeklärt werden.
Ihre Linie, diese Auseinandersetzung zu bestehen, indem
Sie uns Vorwürfe machen, wird nicht tragen.
({3})
Für die Liberalen sage ich ganz deutlich: Wir wollen,
dass auch künftig Menschen in die Europäische Union
kommen können. Wir stehen für ein plurales, offenes
und aufgeschlossenes Deutschland. Genau das ist der
Geist, der in dieser europäischen Verfassung zu finden
ist.
Ganz entscheidend ist, wie die Begriffe „Bürgernähe“
und „Handlungsfähigkeit der Europäischen Union“ umgesetzt werden. Damit sind wir bei dem Punkt, dem Herr
Schäuble zu Recht eine große Bedeutung beigemessen
hat. Es ist keine Kleinigkeit, sich mit der Rolle des Bundestages bzw. der nationalen Parlamente in der Ordnung, wie sie der europäische Verfassungsvertrag schaffen soll, auseinander zu setzen.
Wir waren immer dafür, dass eine Bundesregierung in
außenpolitischen Fragen handlungsfähig sein muss. Dabei ist es wichtig, das Parlament frühzeitig zu unterrichten und zu informieren. Das funktioniert nie so hundertprozentig, wie sich das ein Parlament vorstellt. Auch als
noch Frau Kollegin Wieczorek-Zeul im Europaausschuss die Opposition anführte und ständig bindende
Aufträge an die Bundesregierung formulierte, die Herr
Hoyer dann sofort mit nach Brüssel nehmen sollte,
({4})
waren wir der Meinung, dass es nicht sein kann, dass
eine Bundesregierung in ihren Handlungsspielräumen so
eingeengt wird, dass ihre Vertreter in Verhandlungen nur
noch zum Telefon laufen und im Bundestag nachfragen,
ob sie das eine noch sagen dürfen, bei einem anderen Paket schon eine Meinung äußern dürfen oder sich erst
rückversichern müssen.
({5})
Deshalb haben wir Bedenken gegen die vorgesehene
Form der Festlegung in einem sehr frühen Stadium und
gegen die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten
der Bundesregierung.
Wir sind aber der Meinung, dass der Bundestag bei
Mehrheitsentscheidungen hinterher zustimmen sollte.
Hier gibt es entscheidende Weichenstellungen weg von
der Einstimmigkeit hin zu mehr Mehrheitsentscheidungen; dafür waren wir immer. Wir sind froh, dass jetzt in
mehr Bereichen Mehrheitsentscheidungen möglich sein
sollen. Wir hoffen, dass das mit den bestehenden Instrumentarien weiter durchgeführt werden kann. Er sollte
sich nicht vorher festlegen, aber hinterher zustimmen.
Warum sollen wir uns denn nur versammeln, um ein
Nein, ein Veto zu formulieren? Es ist doch viel besser,
wenn man eine positive Beschlussfassung herbeiführt
und zustimmt, wozu es normalerweise immer der Mehrheit im Hause bedarf. Das ist wichtig. Wir sind aber
nicht der Meinung, dass hierfür eine Zweidrittelmehrheit
nötig sein sollte.
In einem einzigen Punkt, Herr Teufel, möchte ich Ihnen widersprechen. Die Kompetenzübertragung erfolgt
mit dem europäischen Verfassungsvertrag in den Bereichen, in denen es darum geht, von der Einstimmigkeit zu
Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Dies würde eine
Zweidrittelmehrheit des Bundestages nicht mehr rechtfertigen.
Ganz entscheidend ist, das Subsidiaritätsprinzip
durchzusetzen und die Rechte der nationalen Parlamente
zu verteidigen, die wir haben und die man uns nehmen
möchte, indem man gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt.
Ich denke, dass wir uns zu einem späteren Zeitpunkt
hier im Hause sehr intensiv mit dem am Ende stehenden
Klagerecht auseinander setzen sollten. Ich bin sehr wohl
der Meinung, dass es ein Minderheitenklagerecht einer
Fraktion geben sollte.
({6})
Denn sollen nur diejenigen, die die Regierung bilden,
entscheiden, ob eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips vorliegt oder nicht? Juristische und andere Bewertungsfragen gehen hier Hand in Hand.
({7})
Kontrolle effektiv auszuüben wird nur dann möglich
sein, wenn es ein Minderheitenrecht gibt.
({8})
Das wird nicht jedes Jahr zigmal wahrgenommen werden, sondern sich auf wichtige Punkte konzentrieren.
Hier haben wir eine andere Position, als es SPD und
Grüne in ihrem Vorschlag vorsehen.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa schreibt heute Geschichte. Die Verfassung ist Ausdruck des Selbstbewusstseins, der Selbstbehauptung und
der Selbstachtung Europas.
Wir, die deutsche Sozialdemokratie, bringen dabei einen unverwechselbaren Teil unserer Identität ein. Zur
Erinnerung: Unsere junge Partei hat unter dem Namen
Axel Schäfer ({0})
ADAV schon im ersten Programm zur Reichstagswahl
des Norddeutschen Bundes 1866 formuliert:
Unter deutscher Einheit versteht die Arbeiterpartei
… einen Anfang eines solidarisch europäischen
Staates.
Für die SPD verbindet sich mit Europa eine Grundüberzeugung über Generationen hinweg,
({1})
beginnend mit Ferdinand Lassalle und August Bebel,
über Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto
Wels bis zu Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut
Schmidt und Gerhard Schröder.
Unser Bundeskanzler macht auf europäischer Ebene
eine Politik, die die Interessen unseres Landes mit dem
Selbstbewusstsein, mit der Selbstbehauptung und mit
der Selbstachtung Europas verbindet. Das hat sich in den
letzten beiden Jahren überdeutlich gezeigt.
({2})
Die Kernbotschaft dieser Verfassung ist die „… Gewissheit, dass die Völker Europas … entschlossen sind,
… immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten“. Das ist nur auf der Grundlage einer länderübergreifenden Idee möglich. Auf ihrer Grundlage wurde
durch praktisches Handeln Schritt für Schritt eine neue
Wirklichkeit geschaffen und eine neue Staatsräson von
heute 25 Mitgliedsländern begründet.
Ferner ist das nur durch einen parteiübergreifenden
Verfassungsbogen möglich, der von Konservativen und
Christdemokraten über Liberale, Grüne bis hin zu den
Sozialdemokraten - manchmal auch ein Stück darüber
hinaus - reicht. Deshalb gilt neben all jenen, denen
schon Dank ausgesprochen wurde - Joschka Fischer und
Erwin Teufel -, mein ganz persönlicher Dank den deutschen Mitgliedern des Europäischen Parlaments Klaus
Hänsch genauso wie Elmar Brok von der CDU und ein
Stück weit Sylvia-Yvonne Kaufmann, eine einsame
Streiterin für die Verfassung in der PDS.
Diese Verfassung bringt die Europäische Union auf
dem Weg vom Staatenverbund hin zu den vereinigten
Staaten von Europa ein deutliches Stück voran. Sie beinhaltet die Selbstverpflichtung der Länder, ihre Souveränität nicht mehr im klassischen Sinn, als Abgrenzung gegen die Nachbarn, zu verstehen, sondern wichtige Teile
der Macht zusammen auszuüben und große Bereiche der
Politik miteinander zu gestalten. Wir sind auf dem Weg
zu einer Union von Bürgerinnen und Bürgern, die sich
gemeinsam in ihrer unterschiedlichen Nationalität als
Europäerinnen und Europäer fühlen.
Deshalb muss sich auch unsere Begrifflichkeit ändern. „Die in Brüssel“ gibt es nicht. „Die in Brüssel“,
das sind immer auch wir, unsere Abgeordneten, unsere
Minister, unsere Beamten und unsere Vertreter im Verein
mit den anderen, die auch so sind wie wir, die mit uns
eine Gemeinschaft bilden.
({3})
Diese Verfassung verpflichtet uns zugleich, zwischen
den Zuständigkeiten, also zwischen den ausschließlichen, den geteilten und den ergänzenden Kompetenzen, klarer zu unterscheiden. Weil wir ein föderales
Europa wollen, müssen wir zugleich dort begrenzen, wo
ein Zentralstaat entstehen könnte.
Ich gehe noch ein Stück weiter. Weil die Europäische
Union allen Staaten Europas offen steht, welche die in
der Verfassung definierten Werte und Ziele achten, müssen wir auch beginnen, über die Finalität des Einigungsprozesses zu sprechen. Das heißt, wir müssen
ganz klar sagen: Weitere Beitritte von Staaten des Europarates sind nur möglich, wenn sich diese Länder in einem längeren Integrationsprozess so wandeln, dass sie in
die EU aufgenommen werden können, und wir die EU
gleichzeitig so entwickeln, dass sie handlungsfähig
bleibt.
({4})
Das heißt auch, weder die Staaten des nördlichen Afrikas noch des Nahen Ostens werden der EU beitreten
können. Hier dürfen wir keine Illusionen und Zweideutigkeiten verbreiten. Es gilt vielmehr, mit den Ländern
dieser Großregionen besondere Verbindungen weiter
auszubauen - Stichwort Euromed - und eine spezifische,
vertrauensvolle, enge Kooperation zu schaffen.
Diese Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen aller Parteien und Fraktionen hier im Haus, verpflichtet
uns auch selbst. Wir sind in der Sozialdemokratischen
Partei Europas, in der Europäischen Volkspartei, bei den
europäischen Liberaldemokraten und bei den Grünen.
Wir müssen uns selbst europäisieren. Das bedeutet, wir
müssen die europäische Einigung bei unserer innerparteilichen Arbeit als die Besonderheit des Alltags annehmen. Wir müssen sie in jede politische Dimension einbringen und nicht von einer speziellen Europapolitik
neben Kommunal-, Landes- und Bundespolitik sprechen.
Bei der nächsten Europawahl müssen wir den Mut haben, gemeinsame Spitzenkandidaten der Parteifamilien aufzustellen, damit man weiß - das ist der Auftrag
dieser Verfassung -, wer zum Beispiel als Sozialdemokratin oder Sozialdemokrat in Europa für diese Union
Anspruch erhebt, Kommissionspräsident zu werden.
Das Gleiche gilt auch für Sie von der CDU/CSU. Hierzu
haben die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bei
der letzten Wahl einen wichtigen Ansatzpunkt geliefert.
Dazu gehört auch, dass wir jetzt in anderen Ländern
und in unseren Mitgliederparteien für die Verfassung
werben müssen. Ich sage sehr stolz: Nur ein Sozialdemokrat hat im Europäischen Parlament gegen die EUVerfassung gestimmt; das ist die beste Quote aller Fraktionen. Es bleibt insbesondere für die Kolleginnen und
Kollegen von der EVP noch eine Menge zu tun - die
Länder, in denen dies der Fall ist, will ich nicht nennen -, weil wir nicht nur in Deutschland, sondern in jedem einzelnen Land eine Mehrheit brauchen.
({5})
So weit zur Position der SPD-Fraktion.
Axel Schäfer ({6})
Erlauben Sie mir jetzt eine persönliche Anmerkung.
Dieser wichtige Tag, an dem wir Mut zu Europa beweisen, wird durch Kleinmut bei der Ratifizierung leider etwas getrübt. SPD, Grüne, FDP und CSU haben sich im
vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, ein Referendum
zu ermöglichen. Diese Parteien stellen 409 von 601 Abgeordneten. Das entspricht exakt zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages. Trotz einer solch großen Mehrheit war es nicht möglich, die CDU von ihrer Ablehnung
abzubringen, sie in unsere Mitte zu nehmen und davon
zu überzeugen, dass der Weg einer Volksabstimmung in
Deutschland richtig ist; das bedaure ich sehr.
An die Kolleginnen und Kollegen von der FDP gewandt möchte ich deutlich machen: Hätten Sie im
Jahre 2002 dem Vorschlag von Rot-Grün, Volksentscheide in das Grundgesetz aufzunehmen, zugestimmt,
statt ihn mit 16 zu 18 Stimmen abzulehnen, hätten wir es
in der heutigen Debatte leichter.
({7})
Wenn es um Entscheidungen in grundlegenden europäischen Angelegenheiten geht, sind in 24 von 25 EUStaaten Elemente direkter Demokratie vorgesehen - bei
uns nicht. Warum das so ist, kann ich Ihnen zwar politisch erklären; ich will es aber persönlich nicht rechtfertigen. 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen über die EU-Verfassung abstimmen;
damit haben sie Recht. Alle Vorbehalte, die die Referendumsgegner gegenüber der EU-Verfassung haben, sind
überholt. Diejenigen, die aus strategischen bzw. taktischen Gründen gezögert haben, sind leider auch von der
Realität widerlegt worden.
({8})
Trotz der parlamentarischen Ratifizierung, die in
Deutschland durch Bundestag und Bundesrat stattfindet,
wird die problematische Volksabstimmung in Großbritannien leider nicht, wie erhofft, unterbleiben, werden
wir ein mögliches Referendum leider nicht, wie geplant,
eher durchführen können, als es in Frankreich geschehen
wird, vermeiden wir leider auch nicht das Risiko eines
zu geringen Interesses oder gar, wenn das Referendum in
Form eines Plebiszits durchgeführt wird, einer Ablehnung durch die Bevölkerung; das sollte deutlich gesagt
werden.
Das Ergebnis des Votums in Spanien ist eine großartige Zustimmung. Die Beteiligung an der Abstimmung
erreichte fast das Niveau der letzten Europawahl. An
dieser Stelle danke ich Gerhard Schröder persönlich und
im Namen meiner Fraktion dafür, wie er sich dort engagiert hat. Das war ein gutes Beispiel für die Europapolitik eines sozialdemokratischen deutschen Bundeskanzlers.
({9})
Ich weiß sehr wohl: All diejenigen, die nur in Bundestag und Bundesrat über die EU-Verfassung abstimmen
wollen, haben die Tradition unseres Landes und die jetzigen Bestimmungen des Grundgesetzes auf ihrer Seite;
das wiegt ohne Zweifel schwer. In der gegenwärtigen Situation, in der sich Europa dynamisch entwickelt, verharren wir dadurch allerdings in einer Struktur, die in
den Jahren 1948 und 1949 geschaffen wurde, als die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes von einer europäischen Einigung nur träumen konnten.
Eine Ratifizierung der EU-Verfassung, die mit breiter
öffentlicher, kritischer und informativer Diskussion
- auch auf supranationaler Ebene -, mit Veranstaltungen, auch mit Papierbergen, Festivitäten, Sachaufklärung und Medienrummel begleitet worden wäre, hätte
die europäische Idee besser in den Köpfen und Herzen
der Menschen verankert und die auch in schwierigen
Zeiten notwendige Zustimmung zum erreichten Stand
der europäischen Integration verbessert.
Apropos Information, lieber Kollege Hoyer: Vom
Bundespresseamt wurden 25 000 Broschüren zur europäischen Verfassung herausgegeben,
({10})
von denen ich Ihnen eine bereits überreicht habe.
Das gewählte Verfahren geht an den zukunftsweisenden Intentionen des Grundgesetzes vorbei. Buchstabe
und Geist unserer Verfassung besagen, die Bürgerinnen
und Bürger durch Wahlen und Abstimmungen an Entscheidungen zu beteiligen, bis schließlich vom deutschen
Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen
wird. Das war bei Gründung der Bundesrepublik bekanntlich noch nicht möglich.
Direkte Demokratie - auch das ist ein Ergebnis der
friedlichen Revolution in der DDR - hätte bei Vollendung der deutschen Einheit sehr wohl praktiziert werden können, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP. Dann wäre ein Volksentscheid über die
europäische Verfassung heute pure Selbstverständlichkeit.
Ich weiß - damit komme ich zum Ende -, der Deutsche Bundestag hat in grundlegenden, faktisch nicht korrigierbaren Entscheidungen - eine solche steht auch
heute an - fast immer eine glückliche Hand bewiesen:
mit der Westintegration, bei der Ostpolitik und auch in
der Hauptstadtfrage. Nur ein einziges Mal, soweit ich
das in Erinnerung habe, hat sich ein unabänderlicher Beschluss unseres Hauses vor der Geschichte als Torheit
erwiesen: der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980. Wenn wir in Kürze hier - so hoffe ich -, mit
fast 598 von 601 Abgeordneten für die EU-Verfassung
stimmen, ist das eine außergewöhnliche Leistung in
Deutschland und ein großer Erfolg für Europa.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Peter Altmaier, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute über die europäische Verfassung, wenige Wochen
nachdem die bundesdeutsche Föderalismuskommission
ohne ein einziges greifbares Ergebnis im Streit auseinander gegangen ist. Demgegenüber haben es immerhin
mehr als 220 Vertreterinnen und Vertreter aus 28 Staaten
mit völlig unterschiedlichen Interessen, Auffassungen
und Erfahrungen geschafft, sich in einem vergleichbaren
Zeitraum auf eine europäische Verfassung zu verständigen, die nach dem Urteil aller Beteiligten eine entscheidende Verbesserung und einen großen - manche sagen:
historischen - Fortschritt bedeutet.
({0})
Worin liegt diese Diskrepanz? Ich glaube - sehr geehrter
Herr Müntefering, Sie werden mir innerlich wahrscheinlich beipflichten -, die Föderalismuskommission ist
nicht zu einem Ergebnis gekommen, weil es einige Beteiligte gab - wir wissen auch, wo sie sitzen -,
({1})
die aus Sorge, ein Wahlkampfthema zu verlieren, den
Erfolg dieser Jahrhundertreform gefährdet haben.
Die europäische Verfassung ist dagegen zustande gekommen, weil alle Beteiligten - die Länder, die politischen Familien, die Delegierten im Konvent - bereit
waren, zum entscheidenden Zeitpunkt über ihren eigenen Schatten zu springen und Lösungen zu akzeptieren,
die sie jahrelang erbittert bekämpft haben. Es war für die
Briten noch vor zwei Jahren völlig undenkbar, einen europäischen Außenminister zu akzeptieren, die Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta zu akzeptieren oder sich
vorzustellen, dass der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Parlament gewählt wird. Es
war für unsere französischen Nachbarn nicht der Punkt
eins auf der Agenda, das Europäische Parlament zu stärken und das Gewicht der Europäischen Kommission
deutlicher hervorzuheben. Es war für die Polen und die
Spanier ein ganz schwieriger Prozess, das, was sie in
Nizza an Stimmengewicht im Ministerrat erkämpft hatten, zugunsten der doppelten Mehrheit, die uns am Herzen lag, wieder herzugeben.
Meine Damen und Herren, auch wir hätten in dieser
europäischen Verfassung natürlich gerne mehr Mehrheitsentscheidungen gehabt, vor allem im Bereich der
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir hätten uns eine noch deutlichere Kompetenzabgrenzung gewünscht, weniger Bürokratie und einfachere Strukturen.
Aber gerade der Umstand, dass diese europäische Verfassung eben nicht zu 100 Prozent die Wünsche und die
Vorstellungen eines einzigen Landes widerspiegelt, hat
dazu beigetragen, dass Europa insgesamt gewonnen hat
und damit alle Bürgerinnen und Bürger.
({2})
Woran liegt es denn nun, dass wir zwar eine Verfassung haben, die nach der Einschätzung aller Experten einen großen Fortschritt, auch für die Bürgerinnen und
Bürger, bedeutet, dass dieser Verfassung aber viele Menschen mit Skepsis begegnen? Ich glaube, in den letzten
Jahren ist ein Bewusstseinswandel eingetreten. 40 Jahre
lang gingen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass
das, was im europäischen Interesse wichtig ist, auch im
nationalen, deutschen Interesse liegt. Heute glauben immer mehr Menschen - auch in vielen Fällen, wo es gar
nicht so ist -, dass es einen Gegensatz zwischen dem europäischen Interesse auf der einen Seite und dem deutschen, nationalen Interesse auf der anderen Seite gibt.
({3})
Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe. Ich meine,
es ist auch die Schuld - nicht allein - einer Bundesregierung, die ständig von nationalen Interessen spricht und
die europäischen Institutionen in vielen Fällen mit diesem Argument angreift, in der Praxis aber relativ wenig
von den Interessen, die sie definiert hat, durchsetzt.
({4})
Noch nie hat eine Bundesregierung derart gegenüber
Brüssel getönt und in der Praxis dann so wenig erreicht.
Herr Bundesaußenminister, das hat einen Grund; er
liegt nicht in Brüssel. Ich bin überzeugt, dass das Funktionieren der Europäischen Union nach wie vor im vitalen deutschen Interesse liegt, weil kein anderes Land so
stark wie Deutschland auf funktionierende Strukturen
angewiesen ist und weil kein anderes Land durch eine
funktionierende Europäische Union einen derart großen
Gestaltungsspielraum erhält. Es gibt aber ein anderes
Problem, nämlich die Frage, wie wir mit der europäischen Politik innenpolitisch umgehen. Wir können natürlich nicht wissen, welche Interessen wir in Brüssel
durchsetzen wollen, wenn wir uns nicht rechtzeitig Gedanken darüber machen, worin unsere Interessen bestehen und welche wir in Brüssel durchsetzen möchten. Genau das ist der Punkt, über den wir im Zusammenhang
mit der Ratifizierung diskutieren müssen.
Ich will ausdrücklich anerkennend sagen, dass RotGrün einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, in dem eine
Reihe von wichtigen und vernünftigen Aspekten für den
innerstaatlichen Umgang mit der europäischen Politik angesprochen wird. Dieser Gesetzentwurf bleibt aber
weit hinter dem zurück, was wir benötigen, um unseren
Umgang mit der europäischen Politik so neu zu organisieren, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen können.
({5})
Lieber Michael Roth, es geht bei dieser Frage nicht
um einen Konflikt zwischen dem nationalen Parlament
auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite.
Es geht um die Frage, wie wir die innerstaatliche Debatte so organisieren können, dass wir rechtzeitig wissen, welche politischen Positionen wir im Ministerrat
und im Europäischen Parlament vertreten wollen. Es ist
eben so, dass es zu Projekten wie REACH oder zur
Dienstleistungsrichtlinie auf der einen Seite des Hauses
andere Vorstellungen gibt als auf der anderen Seite des
Hauses. Warum fangen wir in vielen Fällen erst dann an,
uns über die Auswirkungen europäischer Richtlinien Gedanken zu machen, wenn sie in Brüssel bereits beschlossen und im Gesetzblatt veröffentlicht sind?
({6})
Das ist das Problem. Der Lösung dieses Problems dient
unser Gesetzentwurf.
({7})
Ich denke, wir täten gut daran, zwei klare Signale zu
geben, nämlich auf der einen Seite das Signal, dass wir
diese europäische Verfassung mit einer großen parteiübergreifenden Mehrheit in diesem Haus wollen, und
auf der anderen Seite das Signal, dass wir uns gemeinsam der Herausforderung stellen, die innerstaatlichen
Strukturen an die notwendigen Veränderungen anzupassen.
Herr Kollege Altmaier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Gerne, ja.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Altmaier, ich würde Ihnen gerne
eine Frage stellen.
({0})
Stimmen Sie mit mir darin überein, dass es für den Bundestag schon jetzt - verbrieft in Art. 23 Abs. 3 des
Grundgesetzes - die Möglichkeit gibt, Stellungnahmen
abzugeben, die die Bundesregierung berücksichtigen
muss? Wenn dem so ist, würden Sie dann auch zur
Kenntnis nehmen, dass der Deutsche Bundestag bislang
in geschätzten 3 bis 5 Prozent aller Rechtsetzungsakte
Gebrauch davon gemacht hat?
({1})
Lieber Herr Kollege Roth, stimmen Sie mit mir darin
überein, dass diese Bestimmung unter der Verantwortung einer CDU-geführten Bundesregierung ins Grundgesetz aufgenommen wurde und dass der Umstand, dass
in den letzten Jahren davon so wenig Gebrauch gemacht
worden ist, möglicherweise auch mit dem Desinteresse
zu tun hat, das man diesen Fragen in den Reihen der jetzigen rot-grünen Mehrheit entgegenbringt?
({0})
Meine Damen und Herren, diese Verfassung, über die
wir diskutieren, ist die Verfassung des freiheitlichen, des
bürgerlichen und des demokratischen Europas. Die Europäische Union mit dieser Verfassung ist kein zahnloser
Tiger, sondern ein Akteur, der in der Weltpolitik Gewicht haben wird. Nun haben wir die Europäische Union
mit dieser Verfassung nicht neu erfunden. Nach dem
Dank an die Verfassungsväter, an Erwin Teufel und viele
andere, die für diese Verfassung gearbeitet haben,
({1})
ist es auch wichtig, zu sagen: Wir vollenden mit dieser
Verfassung das, was die Gründungsväter der Europäischen Union und der europäischen Integration seit
Konrad Adenauer quer über alle Parteien und Fraktionen
hinweg für Europa erreicht haben.
Wir haben in der Verfassung den freiheitlichen
Aspekt der europäischen Integration betont. Wir haben uns zur sozialen Marktwirtschaft bekannt, aber
klargestellt, dass dazu eben auch der Markt gehört und
dass die Europäische Union nur mit Freiheit und Wettbewerb ihren Platz in einer globalisierten Welt verteidigen
und ausbauen kann.
Wir haben den Stabilitätspakt in der europäischen
Verfassung nicht geändert, weil wir glauben, dass dies
der falsche Weg ist. Es ist schon erstaunlich: Die Bundesregierung und Rot-Grün haben in den letzten beiden
Jahren die amerikanischen Freunde bei jeder Gelegenheit kritisiert. Man kann darüber diskutieren, wie man
das im Einzelnen bewertet. Aber ich stelle in einem
Punkt ein herzliches Einvernehmen zwischen der BushRegierung auf der einen Seite und der Fischer/SchröderRegierung auf der anderen Seite fest, nämlich im Glauben daran, mit ausufernden Staatsdefiziten die Wachstumsprobleme in den jeweiligen Ländern lösen zu können. Das ist ein Irrweg.
({2})
Nachdem Sie bei jeder Gelegenheit an Bill Clinton und
Madeleine Albright erinnern, sollten Sie einmal auch bedenken, dass die höchsten Wachstumszahlen in den Vereinigten Staaten erreicht worden sind, als das öffentliche
Defizit am niedrigsten war. Deshalb ist die Frage, wie
wir mit dem europäischen Stabilitätspakt umgehen, eine
ganz entscheidende Frage des Vertrauens in die Europäische Union.
Die Europäische Union ist auch bürgerlich in dem
Sinne, dass wir die Sicherheitsbedürfnisse der
Menschen ernst nehmen. Es ist oft gesagt worden: Die
Öffnung der Grenzen führt zu Kriminalität, Visamissbrauch und vielem anderen. Deshalb finde ich es schon
beachtlich, dass sich jetzt in der Europäischen Union
herausstellt, dass der sozialistische Einwanderungs- und
Justizkommissar Vitorino möglicherweise strengere und
seriösere Einreisevorschriften verantwortet hat, als sie
von dem deutschen Bundesinnenminister Schily und
dem deutschen Bundesaußenminister Fischer national
praktiziert worden sind.
({3})
Erlauben Sie mir, noch zwei Punkte anzusprechen.
Die Europäische Union wird mit dieser Verfassung demokratischer werden. Das wollen wir über alle Parteigrenzen hinweg und dafür haben wir im Konvent gemeinsam gekämpft. Das muss man dann aber auch in der
Praxis akzeptieren und praktizieren. Ich habe nie verstanden, wie jemand nach dem Ausgang der Europawahl
mit der Europäischen Volkspartei als der mit Abstand
stärksten Fraktion im Europäischen Parlament auf die
Idee kommen konnte, den - von uns allen als Person geschätzten - Herrn Verhofstadt aus Belgien als neuen
Kommissionspräsidenten zu installieren. Auch meine
Fraktion schätzt Herrn Verheugen als guten Europäer
und versierten Kommissar. Dass aber die Partei, die in
der Europawahl das niedrigste Stimmergebnis erzielt
hat, das sie in ihrer ganzen Geschichte in nationalen
Wahlen erreichen konnte, den Anspruch erhebt, in die
Europäische Kommission einen Vertreter ihrer Partei zu
entsenden, ist eben kein Beispiel dafür, wie man die
Demokratisierung Europas voranbringt.
({4})
Die europäische Verfassung bringt nicht nur die europäische Integration voran, sondern greift auch berechtigte Interessen der Mitgliedstaaten auf und schützt
sie. Ich will zum Thema Kompetenzabgrenzung sagen:
Lieber Herr Teufel, Sie haben sehr viel dazu beigetragen,
dass es zu einer besseren Kompetenzabgrenzung kommt.
({5})
Wenn wir im Jahre 1949 vergleichbare Regelungen im
deutschen Grundgesetz gehabt hätten, dann stünden
heute die Länder bei der Verteilung der Kompetenzen in
vielen Bereichen besser da, und wir hätten die Föderalismuskommission vielleicht gar nicht gebraucht. Insofern
haben wir hier Voraussetzungen dafür geschaffen, dass
sich auch das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten in der
nächsten Zeit entspannen kann.
Es ist heute noch nicht gesagt worden, aber ich halte
es für wichtig: Die Europäische Union ist auch eine
Werteunion. Wir haben es nicht geschafft, einen Gottesbezug zu verankern. Das war von Anfang an schwierig, weil nur ein Drittel aller Staaten in Europa einen derartigen Gottesbezug in ihren Verfassungen hat. Ich hätte
mir allerdings schon gewünscht, Herr Bundesaußenminister, dass, nachdem Hunderttausende und Millionen
von Menschen sich hierfür mit ihren Unterschriften ausgesprochen haben, die deutsche Bundesregierung wenigstens den Versuch gemacht hätte, dieses Anliegen in
den entscheidenden Beratungen der Regierungskonferenz durchzusetzen.
({6})
Wir haben aber, auch ohne dass Sie dies getan haben,
vieles erreicht. Wir haben das religiöse Erbe in die Verfassung aufgenommen und wir haben die Würde des
Menschen im ersten Artikel der Grundrechte-Charta
ganz prominent geschützt. Ich glaube, dass diese Verfassung mit ihrem Wertebezug ein wichtiges Signal auch
über die Grenzen der Europäischen Union hinaus sein
wird. Wir können nicht alle Probleme der Welt dadurch
lösen, dass wir die Europäische Union ständig erweitern,
wir können aber ein klares Signal an alle demokratischen
und alle demokratiebereiten Länder geben. Die Verabschiedung dieser Verfassung wird dieses Signal nicht nur
in Europa, sondern weit darüber hinaus sein können.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Teufel, Ihre Rede ist hier
hoch gelobt worden.
({0})
Darum will ich klar ansprechen, was mir nicht gefallen
hat. Sie sprachen vom Bombenhagel auf deutsche Städte
und Sie sprachen von ehemaligen Kriegsgegnern, die
sich jetzt wieder versöhnt hätten. Sie vergaßen allerdings, zu erwähnen, dass Nazideutschland einen Weltenbrand gelegt und andere Länder überfallen hat. Darstellungen wie diese tragen zu einer Geschichtsumdeutung
bei, der wir uns entgegenstellen.
({1})
Wir als PDS sind klar bei Richard von Weizsäcker, der
vom 8. Mai 1945 als vom Tag der Befreiung sprach.
({2})
Vertrauen beruht immer auf Gegenseitigkeit. SPD,
CDU/CSU und Grüne trauen nicht den Bürgern unseres
Landes und die Bürger trauen immer weniger den
etablierten Parteien. Sie, meine Damen und Herren, haben noch nicht verstanden, dass Sie Vertrauen nicht einklagen können. Sie müssen den Bürgern auch Vertrauen
schenken. Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich einem
Volksentscheid zur EU-Verfassung
({3})
und wollten doch einmal mehr Demokratie wagen. Die
PDS fordert, wie auch die FDP, einen Volksentscheid
zum EU-Verfassungsentwurf. Damit sind wir hier im
Parlament zwar eine Minderheit, aber in Europa gehören
wir damit zur Mehrheit.
({4})
Warum dürfen Spanier, Franzosen, Briten und Europäer
aus insgesamt zehn Ländern über die EU-Verfassung
entscheiden, aber nicht die Bundesdeutschen? Das können Sie keinem Menschen erklären. Auch Sie, Herr
Schäfer, haben das hier in Ihrer persönlichen Erklärung
bedauert.
Wir als PDS können erklären, warum wir gegen diese
Verfassung sind. Dafür gibt es zwei gute Gründe: Erstens. Die Verfassung setzt auf militärische Stärke, auf
Aufrüstung und weltweite militärische Konfliktlösungen.
({5})
Zweitens. Die Verfassung setzt auf freien Markt - nicht
auf soziale Marktwirtschaft -, freien Geldverkehr und
freie Konkurrenz.
({6})
Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Konfliktlösungen in Europa nie funktioniert haben. Unsere
Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa unter dieser Logik in den letzten 100 Jahren nur gelitten hat. Wir
wollen dieser Logik nicht länger folgen. Diese Logik ist
weder für Europa noch für einen anderen Kontinent oder
ein anderes Land gut.
({7})
Es ist auch ein gefährlicher Irrglaube, dass wir Europa
militärisch aufrüsten müssen, um unsere Unabhängigkeit
gegenüber den USA zu sichern oder herzustellen. Ein
solches Unterfangen wäre nicht nur ökonomischer
Wahnsinn, es würde auch ein lebensgefährliches Wettrüsten einleiten.
Aber einige Lobbyisten scheinen bereit zu sein, jedes
Risiko einzugehen, damit die Rendite stimmt. Wir haben
es erst kürzlich hier im Bundestag mit dem Eurofighter
erlebt: Wir geben wissentlich für ein schlechtes Flugzeug Unsummen aus, weil wir nicht aus geschlossenen
Verträgen mit unseren europäischen Partnern aussteigen
können. Schon jetzt tricksen die europäischen Rüstungsunternehmen die nationalen Parlamente aus und freuen
sich auf die in der Verfassung festgeschriebene Europäische Verteidigungsagentur, die bisher Rüstungsagentur
hieß, was aus meiner Sicht weitaus ehrlicher war. Die
Kontrolle dieser Rüstungsagentur wird - ich darf den
Artikel zitieren - wie folgt beschrieben:
({8}) Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßig gehört. Es wird über
ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
Das hört sich wirklich nicht nach einer knallharten Kontrolle an. Damit wird Korruption und Selbstbedienung
Tür und Tor geöffnet.
({9})
Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, sondern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt
auf „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Wir erleben doch gerade, was das praktisch
heißen soll. Dienstleistungsunternehmen sollen in
Zukunft nur noch den Anforderungen ihres Herkunftslandes unterliegen. Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslandes würden gänzlich untersagt. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen und Standards beim
Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz könnten auf
einfache und billige Weise unterlaufen werden. Das Resultat wären ein weiterer Sozialabbau und weiteres
Wachstum der Armut innerhalb Europas. Derzeit können
wir täglich in den Medien verfolgen, wie sich diese Entwicklung im Fleischereigewerbe vollzieht.
So stellen wir uns das Zusammenleben in Europa
nicht vor. Im Verfassungsentwurf gibt es zwar in der Tat
Aussagen und Textpassagen, lieber Kollege Schäfer, die
wir unterstützen, die sinnvoll sind und die eine wirkliche
Verbesserung darstellen würden, doch die Ablehnungsgründe wiegen um ein Vielfaches schwerer.
Eine Verfassung, die in den beiden entscheidenden
Punkten Rüstung und soziale Marktwirtschaft hinter den
Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zurückbleibt,
kann keine Grundlage eines zukunftsgerichteten Europas
sein. Wir sagen Nein zu diesem Verfassungsvertrag, weil
wir Ja zu Europa sagen und daran festhalten, dass ein
besseres Europa möglich ist.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerd Müller von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/
CSU ist die gestaltende Kraft in Europa.
({0})
Wir wollen kein zentralistisches, sondern ein föderales
Europa. Ministerpräsident Teufel hat dies bereits deutlich gemacht.
Wir wollen ein Europa der Parlamente und nicht der
Bürokratien. Wir wollen ein Europa, das sich auf das
christlich-abendländische Erbe beruft und zu einem Gottesbezug bekennt. Der vorliegende Verfassungsentwurf
wäre klarer, föderaler, christlicher und hätte diesen Gottesbezug, hätte nicht Gottvater der Grünen, der größte
anzunehmende Außenminister, über diesen Verfassungsvertrag verhandelt.
Ich möchte mich zunächst auf die Frage konzentrieren, welche Rolle der Bundestag und die nationalen
Parlamente in Zukunft in einer Europäischen Union
spielen werden, in der schon heute 70 Prozent der
Gesetzgebung auf europäischer Ebene erfolgt. Mit dem
Verfassungsvertrag wird - das ist unstreitig - die
Abwanderung der Kompetenzen nach Brüssel erheblich verstärkt werden. Die EU weitet den Rechtsetzungsrahmen auf fast alle nationalen Politikbereiche und dabei
auch auf klassische Felder der bisherigen Innenpolitik
aus. Auch in der Justiz, in der Innenpolitik, in der Daseinsvorsorge und in der Energiepolitik - bis hin zu den
Kommunen - wird die Gesetzgebung künftig noch stärker als bisher über Brüssel erfolgen.
Damit verlieren die Landtage und der Bundestag weitere substanzielle Gestaltungs-, Mitwirkungs- und Kontrollrechte wie auch an politischer Legitimation. Die
Demokratie legitimiert sich über das Volk und durch
Wahlen. Der Wähler legitimiert uns, die Parlamente. Wir
haben eine Legitimation auf Zeit.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer
die europäische Gesetzgebung legitimiert. Wer legitimiert 80 Prozent der Rechtssetzung in Brüsseler Bürokratenstuben in der EU-Kommission? Auf diese Frage
gibt der Verfassungsentwurf bisher nicht die entscheidende Antwort. Wir müssen auf nationaler Ebene eine
Antwort darauf finden.
Wir haben es zurzeit mit einer Entparlamentarisierung der Demokratie zu tun. Professor Hans Hugo
Klein, der ehemalige Bundesverfassungsrichter, spricht
gar von der Entmachtung der Parlamente. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat eine düstere Prognose zur Zukunft des Parlamentarismus gegeben: „Die Diskussion
entfällt, die Öffentlichkeit entfällt, der repräsentative
Charakter des Parlaments und der Abgeordneten entfällt.“
Das ist keine Demokratie, wie wir sie uns vorstellen.
In dieser Aussage liegt wahrscheinlich auch der tiefere
Kern der Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern,
zwischen der Politik und dem Volk. Wir müssen wieder
zurück. Wir müssen Politik und Entscheidungsvorgänge
transparent machen und das Volk einbeziehen. Wir beziehen unsere Kraft nur vom Volk. Wir müssen in der
Demokratie diese gestaltenden Grundlagen wieder verwirklichen.
({1})
Ich möchte Ihnen zwei aktuelle Beispiele nennen, die
zeigen, dass der Bundestag in der europäischen Rechtsetzung außen vor ist. Wir diskutieren, aber wir entscheiden nicht mehr. Damit legitimieren wir die Rechtsetzung in Brüssel nicht mehr. Die Frage ist: Wer kann
legitimieren? Das Europäische Parlament kann nur
ergänzend eine Legitimation geben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil sehr deutlich dargelegt: Demokratische Legitimation europäischer Politik erfolgt zuvörderst über die nationalen
Parlamente - wir sind schließlich am nahesten am Bürger -, unsere Wahl und die Kontrolle des Ministerrates
sowie ergänzend durch das Europäische Parlament. Dies
wird auch in Zukunft so sein. Das Bundesverfassungsgericht stellt ebenfalls fest:
Dem Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse
von substanziellem Gewicht verbleiben.
Es bleibt offen, ob der Verfassungsvertrag diesen Vorgaben gerecht wird.
Eines ist allerdings klar - hier wird die gestaltende
Kraft der Union deutlich -: Wir wollen Demokratie und
Entscheidungsstrukturen zum Bundestag und zum Bürger zurückholen und den Bundestag zu einem europäischen Mitwirkungsparlament machen.
({2})
Die Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen
Bundestages in der EU-Gesetzgebung ist essenziell notwendig. Um zwei Beispiele zu nennen: Die Bundesregierung hebelt heute den Stabilitäts- und Wachstumspakt aus, ohne dass wir mitentscheiden können. Hier
vollzieht sich eine Veränderung von Primärrecht. Wir
diskutieren, aber wir entscheiden nicht mehr. Ein weiteres Beispiel: Die Bundesregierung beschließt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wir
können zwar darüber diskutieren, aber faktisch nicht entscheiden. Das muss sich ändern!
CDU und CSU machen - das ist ein qualitativer
Sprung, den wir machen müssen; in Österreich wird dieser Weg gegangen; in Dänemark ist es Praxis; in Italien
wird darüber diskutiert - in ihrem Gesetzentwurf vier
zentrale Vorschläge und fordern alle anderen Fraktionen
auf, in einen konstruktiven Dialog einzutreten und diese
Vorschläge bei der Ratifizierung zu berücksichtigen:
Erstens. Wir fordern die Verwirklichung eines Parlamentsvorbehalts, das heißt einer Bindewirkung der
Zustimmung der nationalen Parlamente zu zentralen
Gesetzgebungsakten der EU. Bevor beispielsweise
Wirtschaftsminister Clement als deutscher Minister im
europäischen Ministerrat in Brüssel die für unsere Handwerker und Dienstleistungsberufe so wichtige Dienstleistungsrichtlinie mit beschließt, soll und muss er sich
zukünftig der deutschen Öffentlichkeit und dem deutschen Parlament stellen und sagen, wofür oder wogegen
er ist, und sich hier das entsprechende Votum abholen.
Damit hätten wir Öffentlichkeit und Transparenz hergestellt sowie die Entscheidungen ein Stück weit zum
Bürger zurückgeholt. Das ist das Wesentliche, was wir
unter Demokratie verstehen.
({3})
Zweitens. Wir wollen die Zustimmung des Bundestages mit Zweidrittelmehrheit bei neuen Zuständigkeitsübertragungen und beim Übergang vom Prinzip der
Einstimmigkeit zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung.
Ich brauche das nicht näher zu verdeutlichen; denn Herr
Ministerpräsident Teufel hat das bereits ausgeführt. Die
Mitgliedstaaten müssen Herren der Verträge bleiben.
Wenn es im Rahmen des neuen, autonomen Verfahrens
zu Vertragsänderungen kommt, dann darf das nicht am
Parlament und am Willen des Volkes vorbei geschehen.
Dies käme einer Entmachtung der Parlamente gleich.
Deshalb fordern wir eine Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit, wie sie im Übrigen bisher verfassungsmäßig
notwendig ist.
Drittens. Die Subsidiaritätsklage muss als Minderheitenrecht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat
diese Möglichkeit schon heute. Wir machen keinen qualitativen Sprung, wenn wir sie der Mehrheitsfraktion einräumen.
Viertens. Ich möchte hervorheben, dass zukünftig
Beitrittsverhandlungen - beispielsweise mit der Türkei
oder der Ukraine - nur mit Zustimmung des Parlaments
erfolgen dürfen. Warum soll der Bundestag, die Vertretung des Volkes, zukünftig bei solchen Entscheidungen
nicht beteiligt werden, ausgeschlossen werden?
Wenn wir diese vier qualitativen Punkte umsetzen,
dann wird die Ratifizierung kein Problem sein. Unabhängig davon, wie viele dem letztendlich zustimmen,
geht es hierbei aber auch um die Frage, wie wir unter
den genannten veränderten europäischen Rahmenbedingungen Demokratie gestalten. Diese Frage geht nicht nur
an die eine Seite dieses Hauses, sondern dies ist eine
Frage, die sich das gesamte deutsche Parlament und die
Parlamente aller übrigen 24 Mitgliedstaaten stellen müssen.
Wir wollen Macht zum Wähler, zum Bürger, Kontrolle in die Parlamente und Europa zum Volk zurückholen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort erhält jetzt der Kollege Günter Gloser von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin bei
dem jetzigen Stand der Debatte etwas irritiert. Angesichts des Beitrags des Kollegen Dr. Müller soeben hier
einerseits und der Rede von Ministerpräsident Teufel zu
Beginn unserer heutigen Debatte andererseits weiß ich
gar nicht mehr, was die Union in bestimmten Bereichen
eigentlich will.
({0})
Ich sage klar und deutlich: Wir, die rot-grüne Koalition,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wollen die Verfassung. Wir wollen diese Verfassung rechtzeitig ratifizieren und wir wollen sie nicht mit Themen befrachten, die
in andere Bereiche dieses Parlaments gehören, beispielsweise, wie hier schon erwähnt worden ist, in die Föderalismuskommission.
({1})
Vor wenigen Wochen schrieb ein bekannter Publizist
und Wissenschaftler, Professor Weidenfeld: Europa ist
erschöpft.
({2})
Dem kann ich nicht zustimmen. Genau dieses Projekt,
das auch dieser Bundestag sehr aktiv begleitet hat, unterstreicht dies. Europa ist eben nicht erschöpft. Europa hat
es geschafft, mit 15 Mitgliedstaaten sowie zwölf weiteren Staaten und der Türkei einen Verfassungsprozess zu
organisieren.
({3})
Wenn gelegentlich auch in der Öffentlichkeit gefragt
wird, ob wir Parlamentarier in diesem politischen Betrieb überhaupt etwas erreichen könnten, dann kann ich
auch anhand des Beispiels der Methode der Erarbeitung
des Entwurfs einer europäischen Verfassung und seiner
Inhalte darauf nur antworten: Ja, das Parlament kann etwas erreichen.
({4})
Ich sage in diesem Zusammenhang ganz offen: Wir
sind uns einig darin, dass Nizza in der Tat kein Erfolgserlebnis war. Es musste etwas geändert werden. Verschiedene Regierungen haben erklärt, man müsse die Zivilgesellschaft beteiligen. Das Parlament kam bei
entsprechenden Aussagen nicht vor. Es wären dann aber
Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die gesagt haben: Lasst uns eine andere Methode finden, lasst uns mit
den Kolleginnen und Kollegen vom Europäischen Parlament und auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus
den nationalen Parlamenten diese Verfassung entwerfen.
Ich halte es im Übrigen nicht nur für einen Akt der
Höflichkeit, sondern auch für einen demokratischen
Uransatz, dass wir gesagt haben: Wenn wir schon wissen, dass wir in den nächsten Jahren weitere Länder in
die Europäische Union aufnehmen, dann lasst uns die
Beitrittsländer bei dieser Aufgabe mitwirken. Ich meine,
es war klug, dass wir das - und zwar parteiübergreifend - gemacht haben.
({5})
Ich möchte dabei auf etwas zurückkommen, was der
Kollege Dr. Schäuble in dieser Debatte im Widerspruch
zu dem gesagt hat, was Herr Teufel hier dargelegt hat. In
der Vorbereitung auf diese Debatte habe ich auch ältere
Protokolle gelesen. Dabei habe ich festgestellt, dass Sie
immer wieder dieselbe Platte - heute müsste man vielleicht besser „CD“ oder „Diskette“ sagen - auflegen, indem Sie sagen, diese Bundesregierung beeinträchtige
das Verhältnis zwischen Großen und Kleinen und zerstöre dieses und jenes. Das stimmt einfach nicht.
({6})
Herr Schäuble, davon sollten Sie sich verabschieden;
denn wenn Sie die verschiedenen Prozesse in der Europäischen Union verfolgen, ob es sich nun um die Außenund Sicherheitspolitik, die Währungspolitik oder die
Finanzpolitik handelt, werden Sie immer wieder erkennen, dass jeweils Große und Kleine dabei sind. Sie sollten also nicht einen Gegensatz dahin gehend konstruieren, dass es jeweils nur die Bundesrepublik Deutschland
und Frankreich seien und viele kleine Länder sich nicht
entsprechend verhielten.
Man sollte endlich einmal zur Kenntnis nehmen, dass
in der Europäischen Union natürlich unterschiedliche Interessen vorhanden sind, die zusammengeführt werden
müssen. Deshalb kann ich auch nicht verstehen - das gilt
auch für die Ausführungen meines ansonsten geschätzten Kollegen Peter Altmaier -, dass die Union immer
wieder sagt, das und das sei gefordert worden, sei in
Brüssel aber nicht durchgesetzt worden. Wir haben ein
Grundverständnis und natürlich haben wir Interessen.
Dabei müssen wir aber davon ausgehen, dass es in der
Europäischen Union neben uns 24 Partnerländer gibt,
die ebenfalls ihre jeweiligen Interessen und Anliegen haben, welche sich von unseren unterscheiden können.
Deshalb ist es sicherlich schwierig, zu vermitteln, warum die Europäische Union gelegentlich zu lange
braucht, bis sie eine Entscheidung trifft.
Zur Erläuterung ein Beispiel - ich mache mich darüber nicht lustig; Kollege Silberhorn und andere kommen wie ich aus der fränkischen Region; sie kennen den
Hintergrund -: Die drei Städte Nürnberg, Fürth und
Erlangen - sie sind politisch unterschiedlich geprägt überlegen sich, ob sie aus Sparsamkeitsgründen ein gemeinsames Statistikamt einrichten. Diese Städte schaffen es nicht, sich über 32 Stellen zu verständigen. Früher
konnten sie sich nicht auf die Schaffung einer gemeinsamen Müllverbrennungsanlage verständigen. Dennoch gilt
dort vom Grundsatz her: eine Sprache, eine Mentalität,
auch in Bezug auf die Art und Weise, wie man Politik
betreibt. Angesichts dessen darf es die Öffentlichkeit
doch nicht verwundern, dass auf der europäischen Ebene
manche Prozesse etwas länger dauern. Ich finde, in bestimmten Punkten kommt man durchaus zu einem Erfolg.
({7})
Nun zum Wehklagen im Hinblick auf die Rechte des
Deutschen Bundestages
({8})
- ich will hier keine Selbstbezichtigung vornehmen; aber
man muss schon selbstkritisch analysieren -: Herr
Altmaier, Kollege Hoyer, wir, der Deutsche Bundestag,
haben doch schon jetzt bestimmte Rechte. Das ist das
Ergebnis eines Prozesses seit der Ratifizierung des
Maastrichter Vertrages. Wenn man das selbstkritisch beleuchtet, stellt man jedoch fest, dass wir von diesen
Rechten häufig gar keinen Gebrauch gemacht haben.
({9})
Herr Schäuble hat hier die Dienstleistungsrichtlinie
angesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Hier im Deutschen Bundestag hat jeder das Recht, diese Thematik auf
die Tagesordnung zu setzen, entsprechend zu beleuchten
und sich mit der Bundesregierung auseinander zu setzen.
Das ist doch nicht das Problem.
({10})
In der Vergangenheit hatten wir sicherlich das Problem,
rechtzeitig unterrichtet zu werden, um unsere Position
auch im Parlament zu finden. Ich glaube, die Vorschläge,
die wir gemacht haben, sind von großer Bedeutung.
Herr Kollege Dr. Müller, das Selbstbewusstsein des
Deutschen Bundestages ist anders, als es in Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. In diesem Gesetzentwurf fordern Sie, dass der Deutsche Bundestag das
Recht erhält, ein Büro bei der Ständigen Vertretung in
Brüssel einzurichten.
({11})
Ich habe kein Problem mit der Ständigen Vertretung. Im
Gegenteil: Ich fühle mich dort ständig gut vertreten.
({12})
Um einen Frühwarnmechanismus zu stärken, ist ein
Büro, das beim Europäischen Parlament angesiedelt ist,
besser als ein Büro bei der Exekutive. Möglicherweise
haben das andere in der Politik jedoch nicht so gesehen.
Wir haben rechtzeitig gesagt - das möchte ich deutlich machen -: Der Deutsche Bundestag muss sich auf
die neue Konstellation einstellen. Die Verabschiedung
des von Rot-Grün eingebrachten Gesetzentwurfs schafft
die Möglichkeit, die Rechte des Deutschen Bundestages
auszubauen.
Nun zu Ihnen, Frau Dr. Lötzsch. Ich kann es fast
schon nicht mehr hören, dass Sie von der Europäischen
Union immer als einer Militärunion und Ähnlichem
sprechen. Neben der PDS gibt es viele andere Gruppierungen, die so denken; insofern sollte man dieses Thema
ganz offen ansprechen: Die Europäische Union ist - das
ist heute von vielen Rednern gesagt worden - ein Modell
für andere Regionen in der Welt, was die Organisation
eines friedlichen Prozesses des Zusammenwachsens angeht. Nach der Spaltung durch den Irakkonflikt hat man
in der Europäischen Union eine Sicherheitsstrategie entwickelt. Was hat das mit Militärunion zu tun? Auch die
PDS sollte die Verfassung einmal von A bis Z durchlesen und nicht ganz bestimmte Punkte herausgreifen, die
dann auch noch falsch interpretiert werden.
Die Europäische Union hat es darüber hinaus geschafft - auch das ist an die Öffentlichkeit gerichtet -,
dafür zu sorgen, dass es im früheren Jugoslawien bzw. in
Mazedonien zu keinem Bürgerkrieg gekommen ist, sondern dass sich dort eine friedliche Initiative entwickelt
hat. Warum kommt es immer wieder zu dem Geschrei,
die Europäische Union wende Waffengewalt an, um
kriegerisch oder möglicherweise sogar imperialistisch
aktiv zu werden? Wir sollten ehrlich darüber diskutieren,
ob manche Passage richtig ist; aber man sollte in der
deutschen Bevölkerung vor allem keine neuen Ängste
schüren. Ich bitte auch die Kolleginnen und Kollegen,
letztendlich aktiv dafür einzutreten, dass diese Verdrehung nicht im Raum stehen bleibt.
({13})
Die Opposition hat durch unterschiedliche Vorlagen
versucht, verschiedene Bereiche in den Fokus zu rücken.
Ich habe dazu noch einmal eine Frage, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger. Wir waren im Deutschen
Bundestag bei der Begleitung des Konvents doch überwiegend der Auffassung, dass wir von der Mehrheitsentscheidung und nicht vom Einstimmigkeitsprinzip als
Regel ausgehen sollten. Auf dem Weg sind wir sicherlich noch nicht am Ende angelangt. Die Frage ist nun,
warum Sie eine vorgeschaltete Abstimmung haben wollen, wenn vom Prinzip der Einstimmigkeit auf das Prinzip der Mehrheitsentscheidung übergegangen wird.
({14})
- Dazu gibt es bei Ihnen widersprüchliche Äußerungen.
({15})
Auf der einen Seite sprechen Sie sich für die Ausweitung
der Mehrheitsentscheidung aus und auf der anderen
Seite wollen Sie das wieder etwas zurücknehmen und
die Handlungsfähigkeit so wieder eingrenzen. Ich habe
Ihren Antrag jedenfalls so verstanden und ich denke,
dass ich ihn richtig gelesen habe.
Wer an dieser Stelle hätte vor einigen Jahren gedacht
- die Kollegen Axel Schäfer und Michael Roth haben
das in Ihren Beiträgen auch schon deutlich gemacht -,
dass uns ein solches Projekt wie die europäische Verfassung einmal zur Abstimmung vorgelegt werden
würde? Wer hätte daran gedacht, dass wir als Parlamentarier aktiv daran würden mitwirken können? Ich sage
das auch mit einem gewissen Stolz. Ich erinnere mich
noch an unsere Oppositionszeiten in Bonn, als die SPDBundestagsfraktion erste Workshops - das war damals
noch ein schönes neues Wort - zu der Frage veranstaltet
hat: Brauchen wir in Europa nicht eine GrundrechteCharta? Das hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer
damals initiiert. Dies ist nun daraus erwachsen.
Vor diesem Hintergrund sollten wir wirklich bedenken, welche Entscheidung wir im Juni bei der abschließenden Beratung treffen. Ich bin froh darüber, dass es in
den letzten Tagen auch in der Union viele Stimmen gegeben hat, die gesagt haben: Ja, wir sind an einer zügigen Ratifizierung interessiert. - Sehr überrascht hat
mich, dass auch der CSU-Landesgruppenchef Michael
Glos das erst gestern wieder gesagt hat. Durch Ihren Beitrag, Herr Ministerpräsident Teufel, ist, glaube ich, deutlich geworden, dass wir alle in diesem Haus - trotz mancher Unterschiede zwischen den Fraktionen; das gilt
vielleicht auch für das Verhältnis zum Bundesrat - ein
Interesse daran haben sollten, im Juni diese Verfassung
zu ratifizieren, um so auch ein Zeichen nach Frankreich
zu geben.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der europäische Verfassungsvertrag ist uns mit dem Anspruch
vorgelegt worden, mehr Demokratie, mehr Bürgernähe
und mehr Transparenz zu schaffen. Wenn wir diesem
Verfassungsvertrag im Ergebnis zustimmen, dann deshalb, weil insbesondere diesem Anspruch Rechnung getragen wird, etwa durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, was ein ganz wesentlicher Baustein
dieses Verfassungsvertrages ist. Nur sage ich: Wenn wir
mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Bürgernähe schaffen wollen, dann reicht es nicht aus, nur das
Europäische Parlament zu stärken. Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass Rechtsetzung immer weniger in
Berlin und immer mehr in Brüssel stattfindet. Deswegen
würden auch der Ministerrat und insbesondere die nationalen Regierungen deutlich mehr an Transparenz und
Bürgernähe vertragen.
Die Situation, vor der wir stehen, ist offenbar die,
dass bereits etwa 60 bis 70 Prozent dessen, was wir im
Deutschen Bundestag beraten, durch Vorgaben der Europäischen Union veranlasst ist. Wenn es richtig ist, dass
die Bundesregierung immer weniger in Berlin mit dem
Bundestag entscheiden muss, sondern ohne Bundestag
mit einzelnen Ministern in Brüssel im Ministerrat entscheiden kann, dann ist es dringend notwendig, dass wir
die Debatten, die die Bundesregierung in Brüssel führt,
zum Gegenstand unserer öffentlichen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag machen. Herr Gloser, Sie
haben gesagt, das sei ein Thema, das nicht hierher gehöre. Es gehört hierher, dass wir die Kontrollfunktion,
die wir als Parlament haben, ernst nehmen und der Bundesregierung bei dem, was sie in Brüssel tut, auf die Finger schauen. Wir müssen in Deutschland Öffentlichkeit
darüber herstellen.
({0})
Der europäische Verfassungsvertrag führt dabei
durchaus zu Fortschritten, etwa mit der Subsidiaritätsrüge, die ich begrüße, die ich aber für weitgehend substanzlos halte, weil das Ergebnis dieser Rüge nur ist,
dass die Kommission verpflichtet wird, eine Stellungnahme, die noch dazu von mehreren nationalen Parlamenten abgegeben worden sein muss, zu prüfen. Mehr
als eine Prüfung ist es nicht.
Die Subsidiaritätsklage ist da schon etwas mehr. Wir
würden uns wünschen, dass insbesondere die kleinen
Fraktionen dieses Hauses erkennen, dass es hierbei um
eine Normenkontrolle geht, nämlich um die Frage, ob
das, was die Minister in Brüssel beschließen, auch tatsächlich mit der Grundlage des Verfassungsvertrages
vereinbar ist. Deshalb macht es Sinn, diese Subsidiaritätsklage ebenso wie die nationale Normenkontrolle als
ein Minderheitenrecht auszugestalten. Es handelt sich
hierbei also nicht um eine Mehrheitsfrage, sondern um
eine reine Rechtsfrage, die der Europäische Gerichtshof
zu klären hat. Deshalb sind wir für das Minderheitenrecht.
({1})
Meine Damen und Herren, die zusätzlichen Rechte,
die der europäische Verfassungsvertrag den nationalen
Parlamenten einräumt, begrüße ich. Ich halte sie aber insoweit für eingeschränkt, als sie nur auf die Organe der
Europäischen Union gerichtet sind und gerichtet sein
können. Zusätzlich müssen wir die Rechte des Deutschen Bundestages im Verhältnis zur Bundesregierung stärken. Wir brauchen mehr Kontrolle der Bundesregierung und mehr Öffentlichkeit bei den Dingen, die
die Bundesregierung für Deutschland in Brüssel berät
und beschließt.
({2})
Wir fordern erstens mehr Information. Es kann doch
nicht sein, dass selbst die Koalitionsfraktionen noch
nicht einmal darüber unterrichtet werden, wenn die eigene Bundesregierung eine Initiative in Brüssel ergreift.
Es kann doch nicht sein, dass Sie mit großer Nachsicht
der rigiden Informationspolitik des Auswärtigen Amtes
begegnen, die uns völlig im Unklaren darüber lässt, was
die Ständigen Vertreter in Brüssel beraten und beschließen. Es ist völlig unakzeptabel, dass wir noch nicht einmal das an Informationen bekommen, was der Bundesrat
bekommt. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger, als
dass wir in Bezug auf die Informationspolitik mit dem
Bundesrat gleichgestellt werden.
({3})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen: Herr
Kollege Roth hat vorhin kritisiert, bei unseren Vorschlägen handele es sich teilweise nur um Mätzchen, so etwa,
wenn wir einfordern, dass der Deutsche Bundestag ein
zustimmendes Votum abgibt, bevor die Bundesregierung
Verhandlungen beispielsweise über Beitritte oder Vertragsänderungen aufnimmt. Meine Damen und Herren,
wir reden über Verträge, die wir hier in diesem Hause
mit einer Zweidrittelmehrheit ratifizieren müssen. Da
macht es doch Sinn, dass wir nicht erst am Ende des Verhandlungsprozesses ein Votum abgeben, sondern schon
im Vorhinein der Regierung einen Verhandlungsauftrag mitgeben, etwa in Form einer Zustimmung, dass sie
Verhandlungen aufnehmen kann. Hierfür ist dann keine
Zweidrittelmehrheit wie für die endgültige Zustimmung
vorgesehen, sondern eine einfache Mehrheit. Das heißt,
die Koalitionsfraktionen haben es in der Hand. Uns geht
es nur darum, dass wir darüber eine öffentliche Debatte
führen.
({4})
Ich frage mich da schon, welchen Kleinmut bzw. welches Selbstverständnis Sie als Parlamentarier haben,
({5})
wenn Sie nicht bereit sind, den Deutschen Bundestag mit
der Frage zu befassen, ob Verhandlungen etwa über neue
Verträge oder über Beitritte aufgenommen werden sollen.
({6})
Kollege Silberhorn, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss und sage abschließend:
Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen,
dass wir die Europadebatte aus den akademischen Hinterzimmern herausbringen und an das Licht der Öffentlichkeit führen.
({0})
Das geschieht, wenn sie hier im Deutschen Bundestag
geführt wird. Wir müssen die Mauer einreißen, die zwischen Bürgern und Bürokraten besteht.
({1})
Deswegen fordern wir mehr öffentliche Debatten und
eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen
Bundestages.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4900, 15/4939, 15/4716, 15/4925,
15/4936 und 15/4937 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen sollen
- abweichend von der Tagesordnung - nicht an den
Haushaltsausschuss, weder mitberatend noch nach § 96
der Geschäftsordnung, überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 15/4206 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/2970 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortsetzen - Den europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich
Merz, Dr. Michael Meister, Dietrich
Austermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine stabile Wirtschafts- und Währungsunion - europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt nicht ändern
- Drucksachen 15/3957, 15/3719, 15/4915 Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Michael Meister von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt
wurde 1997 auf Drängen der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Er sollte die Gemeinschaft vor einer
expansiven Staatsverschuldung der Nationalstaaten
schützen und die Geschäftsgrundlage für die Einführung
des Euros darstellen. Ohne diesen Stabilitätspakt gäbe
es heute den Euro nicht.
({0})
Es war unser Anliegen, dass die künftige europäische
Währung so stabil wie die D-Mark werden sollte. Dieses
Versprechen haben wir gemeinsam - der Deutsche Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung - gegenüber den Menschen in unserem Land abgegeben.
Heute will unser Bundeskanzler von diesem Versprechen nichts mehr wissen. Er will den Stabilitätspakt außer Kraft setzen.
({1})
- Herr Spiller, dies hat er in einem Namensartikel in der
„Financial Times Deutschland“ vom 17. Januar erklärt.
({2})
Ich wundere mich: Der Bundeskanzler schreibt in einer
Zeitung Namensartikel, ist aber bei keiner Debatte, die
wir zu diesem Thema geführt haben, hier im Parlament
ans Rednerpult getreten, um seine Position vorzutragen.
({3})
Hier wäre der Platz des Bundeskanzlers, um zu erklären,
was er am Pakt ändern will, warum er es ändern will und
welche Konsequenzen und Ziele er damit verbindet. Der
Kanzler steht hier nicht am Rednerpult, er ist noch nicht
einmal auf seinem Platz. Wir vermissen ihn; dies ist ein
schlechter Stil im Umgang mit dem demokratisch gewählten Parlament in Deutschland.
({4})
Meine Damen und Herren, die Vorschläge des Bundeskanzlers sind ökonomisch unsinnig und langfristig
für unser Land gefährlich.
({5})
Würden sie realisiert, würde die Transparenz des Stabilitäts- und Wachstumspakts außer Kraft gesetzt. Jegliche
Staatsverschuldung ließe sich in Zukunft rechtfertigen.
Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass der Stabilitätspakt
zu Grabe getragen würde, wenn die Vorschläge des Bundeskanzlers zum Tragen kämen.
({6})
Dies haben auch die Medien aufgegriffen: „Deutschland hebelt Defizitverfahren aus“, hieß es in der „Financial Times Deutschland“ vom 16. Februar 2005,
„Schröder hat den Stabilitätspakt erledigt“, hieß es in der
„Berliner Zeitung“ vom 18. Februar 2005. Alle großen
Zeitungen unseres Landes haben das Vorhaben des Bundeskanzlers beim Namen genannt: Aufweichung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Allein die Ausnahmen, die der Bundeskanzler fordert,
erlauben de facto ein Staatsdefizit von 8 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Gleichzeitig verkündet die Bundesregierung nach außen, die 3-Prozent-Grenze gelte unvermindert. Die Aufweichung des Stabilitätspakts nicht
zuzugeben, sondern sie als eine Stärkung des Pakts zu
verkaufen, ist pure Heuchelei. Damit zerstören Sie national und international das Vertrauen in die Verlässlichkeit
und Berechenbarkeit deutscher Politik.
({7})
Mit diesem Kurs isoliert sich Deutschland innerhalb der
Europäischen Union.
({8})
Deutschland fällt im internationalen Wohlstandsvergleich immer weiter zurück. Dafür ist jedoch nicht der
Stabilitätspakt verantwortlich, sondern die rot-grüne
Politik. Die rot-grüne Regierung hat nicht den Mut, die
für unser Land notwendigen Strukturanpassungen vorzunehmen. Dass heute Morgen kein verantwortlicher
Minister auf der Regierungsbank sitzt, ist ein schlagender Beweis dafür, dass dieser Mut, Kraft und Entscheidungskompetenz fehlen.
({9})
Deswegen brauchen wir endlich wieder Minister, die auf
der Regierungsbank Platz nehmen, die dem Parlament
sagen, was sie vorhaben, und die die Kraft haben, dies
hier im Parlament mit Mehrheit durchzusetzen und dann
auch den Menschen in unserem Land zu erklären.
Meine Damen und Herren, das wirtschaftliche
Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland dümpelt
vor sich hin, während alle Länder um uns herum schneller wachsen und sich besser entwickeln. Deshalb sage
ich eines ganz deutlich: Den von Ihnen konstruierten Gegensatz zwischen der Konsolidierung der Staatsfinanzen
und dem Wirtschaftswachstum gibt es nicht. Es ist nicht
zutreffend, was der Bundeskanzler öffentlich konstruiert
und was sein Finanzminister immer wieder vorträgt:
dass solide Staatsfinanzen einem Wirtschaftswachstum
entgegenstünden. Das Umgekehrte ist richtig:
({10})
Konsolidierte Haushalte sind eine zwingende Voraussetzung für dauerhaftes, nachhaltiges, inflationsfreies
Wachstum. Deshalb wird derjenige, der den Stabilitätspakt mutwillig zerstört, das Fundament zertrümmern,
auf dem unser Land wieder zu Wohlstand, Wachstum
und Arbeitsplätzen kommt, meine Damen und Herren.
({11})
Weil Ihre zögerliche und halbherzige Politik bislang
erfolglos geblieben ist - Sie haben 5 Millionen Arbeitslose, die höchste Staatsverschuldung in der Geschichte
unseres Landes,
({12})
geringe Wachstumsraten und einen ständig zunehmenden Abgang von Menschen aus der Erwerbsarbeit zu
verantworten -,
({13})
bereiten Sie jetzt einen Paradigmenwechsel in der deutschen Finanz- und Haushaltspolitik vor. Sie wollen erneut mit den alten Zöpfen kreditfinanzierter Konjunkturprogramme antreten. Dabei sind Ihnen die Kriterien
des Stabilitäts- und Wachstumspakts hinderlich. Deshalb
wollen Sie diesen Pakt aushebeln und ihn beseitigen.
({14})
Nun habe ich eben kritisiert, dass der Bundesfinanzminister nicht anwesend ist. Es ist aber genauso bedauerlich, dass auch der Minister, der die Finanzpolitik in
Deutschland momentan maßgeblich bestimmt, nicht anwesend ist, nämlich der Bundeswirtschaftsminister, der
mit seinem konjunkturpolitischen Aktionismus das Land
weiterhin in eine höhere Staatsverschuldung treibt. Ich
sage Ihnen voraus: Der Plan funktioniert nicht. Das einzige Ergebnis wird ein Strohfeuereffekt sein, der die
deutsche Volkswirtschaft und die Menschen teuer zu stehen kommen wird. Denn die Schulden von heute werden
sie in Zukunft über höhere Steuern und Abgaben bezahlen müssen; das ist die einfache Wahrheit.
Deshalb werden Sie mit einem solchen Programm
nicht das Vertrauen der Menschen erreichen, sondern Sie
werden Vertrauen zerstören. Das haben wir bereits in
den 70er-Jahren erlebt.
({15})
Aber im Gegensatz zu den 70er-Jahren ist die internationale Wirtschaft heute viel stärker verzahnt. Wir haben
viel stärkere Globalisierungseffekte. Deshalb werden die
Absickerverluste Ihrer Programme über unsere Grenzen
hinaus viel größer sein. Es wird Anbieter und Arbeitnehmer aus anderen Ländern geben, die mit deutschen Steuergeldern und Konjunkturprogrammen Arbeitsplätze finanziert bekommen, und die Menschen in diesem Lande
werden die Schulden in Zukunft über Steuern und Abgaben bezahlen müssen. Das heißt, Sie beseitigen Arbeitsplätze und schaffen Schulden in diesem Land. Das ist die
falsche Politik, meine Damen und Herren.
({16})
Was unsere Volkswirtschaft dringend brauchen
würde, wären mehr Freiheit, weniger Regulierung, mehr
Wettbewerb in Deutschland, ein im internationalen Kontext wettbewerbsfähiges Steuersystem, eine Entkopplung der Arbeitskosten von der Finanzierung der Sozialsysteme und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Darüber
würde unsere Wirtschaft wieder in Gang kommen, würden Wachstum und Arbeitsplätze generiert und Wohlstand in Deutschland gesichert.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung,
es ist ja geradezu merkwürdig, dass die Union zu all diesen Themen hier Vorschläge eingebracht hat, dass wir
deutlich gemacht haben, wie der Wachstumsmotor der
deutschen Volkswirtschaft wieder angeschoben werden
kann. Wir haben Vorschläge zur Vereinfachung des Steuersystems, zur Unternehmensbesteuerung - übrigens mit
großer Zustimmung in der Öffentlichkeit -, zur Vereinfachung des Steuerrechts, um endlich unser komplexes
System zu überwinden, und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts gemacht; der Kollege Pofalla hat den Pakt
für Deutschland vorgestellt. Zu allen Themen liegen
Vorschläge der Union vor, die dazu dienen sollen, unser
Land strukturell für die Zukunft besser aufzustellen. Und
was haben wir auf der Regierungsbank? Eine nicht handlungsfähige Regierung, die sich nicht traut, Entscheidungen zu treffen und die notwendigen Strukturprozesse in
Deutschland durchzusetzen.
({18})
- Wir haben das konkret vorgelegt, Herr Schmidt.
({19})
Wenn Sie das nicht kennen, liegt das nur daran, dass Sie
nicht lesen können. Lesen Sie die Vorschläge, machen
Sie sie sich klar und seien Sie dann bereit, mit uns zu reden und sie umzusetzen, statt hier mit Polemik zu argumentieren. Polemik schafft keine Arbeitsplätze und hilft
nicht weiter. Kommen Sie endlich zu sachlichen Entscheidungen!
({20})
Meine Damen und Herren, es wird ja oft so dargestellt, als liege der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht
im deutschen Interesse. Ich sage ausdrücklich: Er liegt
im ureigenen Interesse der Menschen in unserem Land.
({21})
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist kein Selbstzweck
und keine nutzlose Selbstverpflichtung, die sich einfach
aufkündigen lässt. Er soll vielmehr solide Staatsfinanzen, niedrige Zinsen und niedrige Inflationsraten bewirken.
An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Die Zinsen
und die Preissteigerungsraten sind in ganz Europa aufgrund des Paktes und der Vorbereitung der Länder auf
den Vertrag und auf den Beitritt zur Eurozone niedrig.
Deshalb war der Stabilitäts- und Wachstumspakt nach
meiner Einschätzung bisher ein Erfolg.
({22})
Nicht der Pakt ist das Problem, sondern die prinzipienlose Verschuldungspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung. Damit wurden die Dämme eingerissen.
({23})
Nicht der Pakt hat versagt, sondern die Finanz- und
Haushaltspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung.
({24})
Wo stehen wir denn heute? Wir hatten am Ende des
vergangenen Jahres eine Gesamtverschuldung in Höhe
von 1 400 Milliarden Euro. Jedes in Deutschland neu geborene Kind hat 17 000 Euro Schulden. Sie haben es zu
verantworten, dass im letzten Jahr pro Kopf 1 000 Euro
neue Schulden hinzugekommen sind. Die Grünen treten
zwar für eine nachhaltige Politik ein, sind aber mit dafür
verantwortlich, dass jedem Menschen im Laufe eines
Jahres 1 000 Euro neue Schulden aufgebürdet wurden.
Diese Politik hat nichts mit Nachhaltigkeit und einer soliden Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu tun.
Jetzt wird behauptet, der Pakt dürfe nicht mechanisch,
sondern müsse flexibel angewendet werden. Ausgehend
von einem ausgeglichenen Staatshaushalt können wir in
konjunkturell schwachen Zeiten 60 Milliarden Euro
Schulden pro Jahr machen und würden uns trotzdem
noch innerhalb der Grenzen dieses Paktes bewegen. Angesichts der Meinung, dass dieser Rahmen zu eng sei,
muss ich fragen: Wie viel Flexibilität braucht diese Bundesregierung noch? Wie viele Schulden pro Jahr wollen
Sie oberhalb der 60-Milliarden-Euro-Grenze zukünftig
machen? Wo bleibt Ihre Verantwortung für künftige Generationen? Die Antwort ist relativ einfach - auch die
Europäische Kommission und die OECD sind dieser
Meinung -: Sie haben in guten Zeiten zu wenig konsolidiert. Deshalb läuft das Ganze nun aus dem Ruder.
({25})
Sie hätten lernen müssen, Herr Tauss, dass man in guten
Zeiten Geld beiseite legt.
({26})
Die Aussage, Rot und Grün könnten nicht mit Geld umgehen, trifft also den Nagel auf den Kopf.
({27})
Lassen Sie mich zum Schluss feststellen. Die Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik dieser rot-grünen
Bundesregierung ist gescheitert. Der Finanzminister ist
gescheitert und traut sich nicht mehr in den Deutschen
Bundestag. Die Bundesregierung hat nicht die Kraft, zu
konsolidieren und eine zukunftsfähige Politik für die
Menschen umzusetzen. Der europäische Stabilitäts- und
Wachstumspakt muss unverändert beibehalten werden.
Er liegt im Interesse der Menschen; denn er schützt sie
vor einer falschen Politik von Rot-Grün.
Vielen herzlichen Dank.
({28})
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zur Erläuterung will ich sagen, dass Bundesfinanzminister Eichel die Absicht hatte, heute hier zu sprechen.
Aber er ist krank und hat mich gebeten, statt seiner hier
zu sein. Ich bin zwar nicht völlig gesund,
({0})
aber immer noch gesünder als Herr Eichel; denn er liegt
sozusagen flach und ich kann noch aufrecht stehen.
({1})
Herr Kollege Meister, Sie haben einen Popanz aufgebaut.
({2})
Sie behaupten nämlich, die Bundesregierung plane, ein
kreditfinanziertes Konjunkturprogramm aufzulegen.
Nachdem Sie diese Behauptung aufgestellt hatten, haben
Sie die Bundesregierung minutenlang für diese vorgebliche Absicht geprügelt. Keine Sorge: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, ein kreditfinanziertes Konjunkturprogramm aufzulegen. Diesen Teil der Rede hätten
Sie sich schenken können. Sinnvollerweise lassen Sie
ihn aus dem Protokoll streichen, weil er mit der Realität
nichts zu tun hat.
({3})
Sie sagen ferner - diese Aussage war bei den Konservativen schon immer beliebt -, Sozialdemokraten könnten nicht mit Geld umgehen.
({4})
- Das war schon immer falsch, Herr Kollege Willsch.
({5})
Sie wissen ja, dass das Statistische Bundesamt in dieser Woche die Zahl revidiert hat, die für das kürzlich zu
Ende gegangene Jahr 2004 die Überschreitung des
Maastricht-Kriteriums darstellt. Das Statistische Bundesamt war noch im Januar der Auffassung, dass wir bei
3,9 Prozent landen würden; zu Beginn dieser Woche hat
es gesagt, wir lägen bei 3,7 Prozent.
({6})
Das ist natürlich nicht zufriedenstellend. Dies ist weiter
eine Überschreitung des 3-Prozent-Kriteriums.
Ich darf dazu noch Folgendes anführen: Die Staatsquote ist im vergangenen Jahr, im Jahr 2004, im Verhältnis zu 2003 um 1,3 Prozentpunkte zurückgegangen.
Wäre das jemals zu Ihrer Regierungszeit geschehen, hätten Sie Fackelzüge veranstaltet.
({7})
- Nein, das liegt nicht daran. Das hat vielmehr damit zu
tun, dass es beim Bund, bei den meisten Ländern - wenn
auch nicht bei allen - und bei vielen Kommunen eine äußerst restriktive Konsolidierungslinie gibt, während die
Einnahmen leider nicht konstant waren,
({8})
was aber übrigens nicht nur mit konjunkturellen Bedingungen zu tun hatte, sondern auch mit der entsprechenden Steuerreformstufe. 0,5 Punkte der genannten
1,3 Prozentpunkte sind auf die Steuersenkung zurückzuführen. Dies ist also eine bewusste Politik, eine Politik,
die wir so induziert haben.
Der Einbruch bei den Einnahmen hat es nicht erlaubt,
das Maastricht-Kriterium einzuhalten. Wir wären nämlich sonst, vor dem Hintergrund dieser wirklich restriktiven Ausgabenlinie, bei 2,5 Prozent gelandet. Damit
wären wir noch immer nicht richtig glücklich, hätten
aber immerhin unter dem 3-Prozent-Kriterium gelegen.
An der Ausgabenseite hat es also nicht gelegen.
Sie behaupten immer, die Sozis könnten nicht mit
Geld umgehen. Damit ist induziert - das wollen Sie damit zum Ausdruck bringen -: Die schmeißen das Geld
mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Nein, wir haben
eine äußerst restriktive Ausgabenpolitik gemacht. Die
Einnahmen sind in der Tat nicht zufriedenstellend gewesen; das will ich nicht bestreiten.
({9})
Herr Kollege Meister, dieser Popanz, den Sie hier aufgebaut haben,
({10})
soll nach meinem Dafürhalten von Ihrem Antrag ablenken, der heute zur Abstimmung steht. Denn in diesem
Antrag steht nichts anderes, als dass die Bundesregierung nicht in Brüssel verhandeln soll. Die soll dort toter
Mann spielen.
({11})
Die soll da gar nicht reden. Das ist der Gegenstand Ihres
Antrags. Sie haben heute schamhaft verschwiegen, dass
das der Gegenstand Ihres Antrages ist.
({12})
Man kann natürlich Nebenkriegsschauplätze aufbauen,
({13})
weil man sich dann doch ein bisschen dafür schämt, was
man vor wenigen Monaten zu Papier gebracht hat. Deswegen haben Sie hier über ganz andere Dinge gesprochen und nicht über Ihren Antrag.
({14})
Ganz vorsichtig will ich noch auf die Behauptung eingehen, die Union habe ein Steuervereinfachungskonzept
und ein Konzept zur Senkung der Unternehmensteuern
vorgelegt.
({15})
Das finde ich nun wirklich interessant. Ich glaube, für
beides gibt es nur ein leeres Blatt.
({16})
Denn Sie haben noch überhaupt nichts zu Papier gebracht.
({17})
- Das Konzept 21 stand vor wenigen Wochen hier im
Deutschen Bundestag in einer Anhörung des Finanzausschusses zur Debatte und ist von allen Sachverständigen
({18})
ob seiner Unzulänglichkeit - um es vorsichtig auszudrücken; man könnte auch ganz andere Worte wählen - zurückgewiesen worden.
({19})
Die Sachverständigen haben darauf hingewiesen, dass
Sie die Fragen zur Unternehmensbesteuerung völlig ausgeblendet haben. Genau das war der Gegenstand dieser
Anhörung.
({20})
Dann kommen Sie mit Worten wie „Pakt für Deutschland“, wovon Sie seit zwei Wochen reden. Das einzige
Konkrete daran ist der weitere Abbau der Arbeitnehmerschutzrechte. Das sind alte Hüte, von denen Ihr früherer
Kollege Norbert Blüm sagt, er warte noch immer auf die
Wirksamkeit dieser Maßnahmen, die er schon damals ergriffen habe.
({21})
- Lieber Heinz, ich bin doch ganz ruhig.
({22})
- Nein, das finde ich gar nicht.
({23})
- Hat denn Herr Meister irgendetwas zum Stabilitätspakt
gesagt? Ich könnte hier natürlich meine Rede auch vorlesen; aber ich gehe jetzt auf Herrn Meister ein.
({24})
- Ich bitte Sie! Ich kann Ihnen diese Rede meinetwegen
sofort zu Protokoll geben, damit Sie sie nachlesen können. - Herr Meister hat keinen Ton zum Stabilitätspakt
gesagt,
({25})
sondern mit unwahren Behauptungen potemkinsche
Dörfer aufgebaut, damit er sie anschließend wieder kurz
und klein schlagen kann. Das kann ich doch nicht einfach so stehen lassen.
({26})
Für die Bundesregierung ist und bleibt klar - das sage
ich, damit Sie zufrieden sind -: Wir brauchen den Stabilitäts- und Wachstumspakt.
({27})
- Darf ich jetzt vielleicht zu Ende reden? Sie haben mich
doch gerade danach gefragt. - Wir werden uns in Europa
auch weiterhin dafür einsetzen, dass er den jeweiligen
Gegebenheiten gerecht werden kann, indem er in den
Einzelstaaten und in der Gesamtheit der europäischen
Staaten eine sinnvolle Finanzpolitik ermöglicht, und
dass er auch in Zukunft angewandt wird.
({28})
„3,0 ist 3,0“ - diese Formulierung von Herrn Waigel
war schon immer etwas zu schlicht. Wie Sie wissen, hat
der zuständige Kommissar Almunia gesagt,
({29})
die bisherige Handhabung des Paktes habe einige Mitgliedsländer geradezu in die Rezession getrieben.
({30})
- Natürlich nicht alle Länder, aber so ist das Zitat von
Almunia. - Dies kann natürlich nicht Gegenstand oder
sinnvolles Ergebnis eines europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspaktes sein. Vor diesem Hintergrund bekennt
sich die Bundesregierung weiterhin zu ihm.
Wir werden alles tun,
({31})
und zwar nicht nur wegen unserer europäischen Verpflichtungen, sondern auch aufgrund der Verpflichtungen, die sich aus unserer eigenen Verfassung ergeben,
bei der Konsolidierung der Haushalte weiter voranzuschreiten. Wir werden weiterhin eine sehr restriktive
Ausgabenpolitik fahren.
({32})
Wir werden das Geld natürlich nicht mit vollen Händen ausgeben und auch keine Strohfeuer zünden, wie
Sie, Herr Meister, es befürchtet haben. Wir müssen darauf achten, dass die finanzpolitischen Maßnahmen der
jeweiligen Situation angemessen sein dürfen und können. Dies sollte im Interesse des ganzen Hauses liegen.
Herzlichen Dank.
({33})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas
Pinkwart von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zum dritten Mal in Serie führen wir eine Debatte zu diesem Thema ohne den Finanzminister; heute
krankheitsbedingt - meine Fraktion übermittelt Genesungswünsche an den Finanzminister -, zweimal zuvor
aber aus anderen Gründen. Zum dritten Mal in Serie hören wir von den Vertretern des Finanzministeriums zum
eigentlichen Anliegen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes überhaupt nichts. Das Parlament wird für dumm
verkauft.
({0})
Das Stichwort Unternehmensteuerreform, Frau
Staatssekretärin, ist in der Tat bemerkenswert: Sie verkünden in Ihren großen Reden hier, Sie hätten zum
1. Januar 2005 die tollste Steuerreform aller Zeiten umgesetzt, und drei Wochen nach Inkrafttreten dieser so tollen Steuerreform erzählt Ihr Bundeswirtschaftsminister
dem deutschen Volk, dass das alles nichts tauge und
dringend eine Unternehmensteuerreform in Deutschland
umgesetzt werden müsse. Sie sind dafür federführend
zuständig und legen diesem Haus überhaupt nichts dazu
vor.
({1})
Nun zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es ist doch
nicht so, dass das 3-Prozent-Kriterium Sie gehindert
hätte, das Richtige für Deutschland zu tun. Sie haben es
drei Jahre hintereinander mehr als überzogen: 2002
3,6 Prozent, 2003 3,9 Prozent und im vergangenen Jahr
3,7 Prozent. Sie haben die Obergrenze weit überschritten
und trotzdem nicht mehr Beschäftigung und Wachstum
geschaffen, wie Sie es der Öffentlichkeit suggerieren
wollen, sondern mehr Arbeitslosigkeit, mehr Schulden
und weniger Wachstum hervorgebracht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, die wir hier zu kritisieren haben.
({2})
Trotz alledem melden Sie nach Brüssel für dieses Jahr
2,9 Prozent.
({3})
Um auf diese Zahl zu kommen, haben Sie am Haushalt
viele Reparaturen vornehmen müssen. Die EU-Kommission hat Ihre Maßnahmen als weder nachhaltig noch
strukturverbessernd kommentiert. Sie haben eine Neuverschuldung von 2,9 Prozent gemeldet, um Strafzahlungen abzuwenden. Wären Sie sich sicher, das 3-ProzentKriterium wenigstens in diesem Jahr erfüllen zu können,
würden Sie sich nicht seit Monaten maßgeblich darum
kümmern, die Sanktionsmechanismen des Stabilitätsund Wachstumspaktes auszuhebeln.
({4})
In Wahrheit haben Sie Ihren kleinen Risikopuffer in
Höhe von etwas mehr als 2 Milliarden Euro schon in den
ersten Wochen dieses Jahres faktisch verbraucht. Aus
den aktuellen Zahlen zum ALG II ergibt sich eine zusätzliche Haushaltsbelastung von 6 bis 7 Milliarden
Euro. Der Bundesbankgewinn ist viel zu hoch angesetzt.
Die Haushaltsrisiken im steuerlichen Bereich betragen
insgesamt 10 Milliarden Euro. All das bedeutet, dass Sie
den Risikopuffer in den ersten Wochen dieses Jahres
schon mehrfach verspielt haben. In Wahrheit erwarten
Sie für das laufende Jahr eine Neuverschuldung von
mindestens 3,4 Prozent. Das ist die Wahrheit, die Sie
hier vortragen müssten.
({5})
Weil Sie befürchten, dass in Brüssel im
Wahljahr 2006 die Quittung für diese verfehlte Politik
ausgestellt wird und dass eine Strafzahlung auf Sie zukommen wird, versuchen Sie jetzt, die Regeln auszuhebeln.
({6})
Das ist doch die Wahrheit. Um Ihre Politik der Beliebigkeit fortzusetzen, verfahren Sie frei nach dem Motto:
Wenn die Regeln nicht passen, werden sie passend gemacht.
Der Bundeskanzler persönlich setzt dem Ganzen die
Krone auf. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“:
Der Bundeskanzler
will eine Einigung über den Stabilitätspakt erkaufen, indem er die deutschen Milliardenbeträge an
die EU-Kasse aufstockt.
Der Kanzler und der Finanzminister wollen also
zweierlei: erstens den Stabilitätspakt zulasten des Wohlstandes dieser und der nachfolgenden Generation aufweichen und die Schleusen für die Staatsverschuldung
weiter öffnen, zweitens die anderen Staaten damit locken, dass Deutschland ab dem Jahr 2007 die ohnehin
sehr hohen Beiträge an die EU um weitere 5 bis 7 Milliarden Euro erhöht.
({7})
Sie wollen einen doppelten Preis für Ihre verfehlte Politik bezahlen. Das ist die Wahrheit.
({8})
Jetzt komme ich auf einen sehr bemerkenswerten
Punkt - ich habe ihn gestern Nachmittag bereits im
Haushaltsausschuss vorgetragen -: Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat die Regierung in
einem einstimmigen Beschluss,
({9})
der erst vor wenigen Wochen gefasst worden war, aufgefordert, bei der 1-Prozent-Linie zu bleiben.
({10})
Die Diskussion endete damit, dass der Vertreter Ihres
Hauses, Ihr Staatssekretär, dieserlei Zusammenhang
oder Junktim - man könnte auch sagen: Kuhhandel nicht dementiert hat. Es hieß dann lediglich: Dazu werde
der Finanzminister heute Stellung nehmen und mögliche
Bedenken ausräumen.
({11})
Er ist heute krankheitsbedingt nicht anwesend - Sie,
Frau Staatssekretärin, haben dazu nichts, aber auch gar
nichts gesagt ({12})
und der Bundeskanzler, der diesen Kuhhandel offensichtlich einfädelt, fehlt ebenfalls.
Herr Carstens, der Ausschussvorsitzende, hat treffend
festgestellt: Natürlich kann eine Regierung am Ende von
Verhandlungen von der Vorgabe des Parlaments abweichen; aber sie darf, wenn es keine entsprechende
Rückkopplung mit dem Parlament gegeben hat, nicht bei
Aufnahme von Verhandlungen von Vorgaben des Parlaments abweichen.
({13})
Deshalb sage ich: Hier wird eine Politik betrieben, die
das Parlament - auch Sie, meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen - nicht mehr ernst nimmt.
({14})
Entweder lassen Sie sich von der Regierung am Nasenring führen oder es handelt sich um eine gezielte Vernebelungstaktik der Regierung und der sie tragenden
Fraktionen. Ich jedenfalls sage: Wir werden uns weder
von der Regierung am Nasenring führen lassen noch uns
von Ihrer Vernebelungsaktion beeinflussen lassen. Deswegen sage ich für meine Fraktion ganz klar: Gestern
wurde zugesagt, dass der Bundesfinanzminister heute
definitiv Auskunft gebe. Das ist nicht geschehen.
({15})
- Er ist krank. Das habe ich eingangs gesagt, Frau
Scheel. Ich wünsche ihm beste Genesung! Das nehmen
wir sehr ernst.
({16})
Aber die Frau Staatssekretärin hat ihn vertreten und ihren Auftrag nicht erfüllt.
({17})
Auch der Bundeskanzler ist nicht anwesend.
Ich erwarte eine endgültige Klarstellung, dass die Regierung weiterhin auf Basis des Beschlusses des Haushaltsausschusses handelt. Solange dies nicht klargestellt
ist, erwarten wir vom Bundesfinanzminister - das kündige ich hiermit an - in einer Sondersitzung des Haushaltsausschusses persönlich Auskunft, bevor er, hoffentlich dann wieder genesen, zur nächsten EcofinRatssitzung fährt. Wir können doch keine solche Politik
der Beliebigkeit zulassen, die gegen die Interessen unseres Landes gerichtet ist. Wir jedenfalls werden Ihnen das
nicht durchgehen lassen.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Staatssekretärin Dr. Hendricks das Wort.
Herr Kollege Pinkwart, ich will das gerne aufnehmen.
Mir ist zwar gesagt worden, dass mein Kollege beamteter Staatssekretär Ehlers gestern gesagt hat, er wolle zu
Ihrer Frage zum Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“
nicht Stellung nehmen. Aber mir ist nicht übermittelt
worden, dass zugesagt worden ist,
({0})
dass der Minister das heute - bzw. in seiner Vertretung
ich - das erledigen sollte. Das will ich gerne nachholen:
Selbstverständlich ist es das Ziel der Bundesregierung, am 1-Prozent-Ziel für den europäischen Haushalt,
bezogen auf das Bruttonationaleinkommen, festzuhalten.
Sie wissen, die Initiative dazu ist nicht zuletzt von
Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit fünf
anderen Regierungschefs, insbesondere aus Ländern
Nordwesteuropas, ausgegangen. Selbstverständlich verhandelt die Bundesregierung auf dieser Basis. Dass das
schwierig ist, dass die Interessenlage andernorts anders
ist, ist klar. Unter der Hand sagt die Bayerische Staatsregierung in Brüssel sogar: „Machen wir doch lieber
1,27 Prozent, damit wir ein bisschen mehr in den Strukturfonds haben.“
({1})
Das ist wirklich eine kluge Rechnung: Wir geben zwei
Euro nach Europa, damit wir einen Euro nach Bayern
zurückbekommen!
Ich sage Ihnen: Wir verhandeln auf der Basis des 1-Prozent-Ziels. Das bedeutet, dass der Bruttobeitrag der Bundesrepublik Deutschland am EU-Haushalt allein wegen
der Entwicklung, die für 2007 bis 2013 zu erwarten ist,
bei einem 1-Prozent-Beitrag von derzeit rund 22 Milliarden Euro auf etwa 33 Milliarden Euro steigen würde.
Dies finden wir als Perspektive für den europäischen
Haushalt völlig ausreichend. Wir sehen nicht, dass nationale Haushalte, sei es im Bund oder in den Ländern, auf
absehbare Zeit eine solche Perspektive haben.
Herzlichen Dank.
({2})
- Wir verhandeln nicht anders! Es muss ja nicht die
Wahrheit sein, was in der „Süddeutschen Zeitung“ steht;
deswegen weise ich das noch einmal ausdrücklich zurück.
({3})
Zur Erwiderung Professor Pinkwart.
Frau Staatssekretärin, Sie haben aus Ihrer Sicht eine
Verhandlungslinie aufgezeigt und sie gleichzeitig relativiert. Sie haben für die Regierung aber nicht die Feststellung des Bundeskanzlers zu dieser Linie dementiert.
({0})
Ich erwarte hier ein klares Dementi für die Regierung,
({1})
da bisher kein öffentliches Dementi der Regierung in
dieser Sache erfolgt ist. Es muss ein klares Dementi
kommen, dass Sie in Ihren Verhandlungen keinen Zusammenhang zwischen den Kriterien für die Auslösung
der Sanktionsmechanismen des Stabilitätspaktes und der
1-Prozent-Linie herstellen. Ein solches Dementi haben
Sie eben nicht vorgetragen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Frau
Staatssekretärin hat gerade sehr klar und eindeutig auf
die Nebelkerzen geantwortet, die die FDP hier geworfen
hat.
({0})
Ich möchte jetzt ganz kurz auf das eingehen, was Herr
Dr. Meister gesagt hat. Er hat hier wieder den Anspruch
formuliert - das macht die CDU/CSU bei fast jeder Gelegenheit -, man solle in diesem Land doch bitte schön
Strukturreformen durchführen, und zwar vor allen Dingen Steuersenkungen im Unternehmensbereich. Er
sagte, die Union habe ein Konzept dafür. Dieses Konzept
hat aber noch niemand gesehen. Es gibt zwar eine Überschrift, die immer wieder nach vorne getragen und überall verkündet wird, was das aber inhaltlich bedeutet,
weiß niemand. Jedenfalls wissen wir, dass alle Vorschläge, die bislang von der Union und übrigens auch
von der FDP gekommen sind, das völlige Gegenteil dessen bewirken würden, was wir unter der Einhaltung des
Wachstums- und Stabilitätspaktes verstehen.
({1})
Es ergäben sich nämlich Einnahmelücken, die die ganze
Problematik, in der wir stecken, verstärken und verschärfen würden, statt die Situation zu verbessern.
({2})
- Sie haben sehr widersprüchliche Vorschläge.
Ich möchte Ihnen von dieser Stelle aus einmal sagen:
Sie legen immer nur Papiere vor - Zehnpunkteprogramme, Fünfpunkteprogramme, Siebenpunkteprogramme - und sagen, das sei die Lösung des Problems
für den Standort Deutschland und führe zu mehr Beschäftigung. Wenn wir uns dann aber über einzelne
Punkte mit Ihnen unterhalten und genauer nachhaken,
dann stellen wir jedes Mal fest, dass Sie sich ständig in
Widersprüchlichkeiten verstricken, dass Sie bei keinem
Punkt wissen, wie er mit den anderen Punkten zusammenpasst, und dass Sie nur Luftblasen aufsteigen lassen,
die bei einer Konkretisierung platzen. So kann man
keine Politik für dieses Land machen.
({3})
Sie wissen auch ganz genau, dass wir eine wesentlich
geringere Nettokreditaufnahme und eine andere Haushaltssituation in diesem Land hätten, wenn Sie alle Vorschläge zum Subventionsabbau in den letzten Jahren
nicht mit Ihrer schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat
blockiert hätten.
({4})
Deswegen liegt hier ein Stück Verantwortung sehr wohl
natürlich auch bei Ihnen; das wissen Sie auch.
({5})
Bevor ich zum Wachstums- und Stabilitätspakt
komme, möchte ich noch Folgendes sagen: Die Probleme, die wir in diesem Land zu bewältigen haben, dürfen keinesfalls schöngeredet werden. Mehr als 5 Millionen arbeitslose Menschen sind etwas sehr
Bedrückendes; jeder arbeitslose Mensch, der arbeiten
will und keine Arbeit findet, ist einer zu viel.
({6})
Aber wenn Sie die Lage permanent nur schwarzreden,
({7})
dann schaden Sie diesem Land mehr, als Sie ihm nutzen.
Wie schaut denn das Ausland auf Deutschland? Das versteht doch die Welt nicht mehr. Wir sind international
wirtschaftspolitisch relativ gut aufgestellt und hören immer nur Ihre Ansagen, es sei alles furchtbar. Wie wollen
Sie ausländische Investoren mit diesen Ansagen nach
Deutschland bringen?
({8})
Diese Politik nutzt unserem Land nicht, sondern schadet
ihm.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt zwei
erfreuliche Nachrichten seitens des Statistischen Bundesamtes:
Erstens. Im Jahre 2004 hatten wir ein um 0,2 Prozent
niedrigeres gesamtstaatliches Defizit als vorher berechnet. Es beträgt nunmehr 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
({10})
Zweitens. Neben dem Bundesfinanzminister erwartet
nun auch die Bundesbank, dass die Bundesrepublik
Deutschland das 3-Prozent-Defizitkriterium des Stabilitätspaktes in diesem Jahr einhalten kann.
({11})
Das ist also keine Ansage vonseiten der Bundesregierung oder des Bundesfinanzministeriums. Diese Erwartung trägt die Bundesbank mit. Wir sind sehr froh, dass
wir mit unseren Analysen richtig liegen und sich andere
unseren Bewertungen anschließen.
({12})
Ich hoffe sehr, dass diese Prognose Realität wird.
Nach mehreren Jahren der Stagnation und der Überschreitung des 3-Prozent-Defizitkriteriums befinden sich
neben Deutschland und Frankreich noch mehrere europäische Länder im Defizitverfahren des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes. Vor dem Hintergrund der realen konjunkturellen Entwicklung und der bereits eingeleiteten
Defizitverfahren wird eine Reform des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes im EU-Ministerrat verhandelt - nicht
mehr und nicht weniger. Der Pakt ist im Realitätstest des
Konjunkturverlaufs in sehr schweres Fahrwasser geraten. Dem Pakt liegen theoretische Annahmen zugrunde,
die sich in der Realität als nur sehr begrenzt tauglich erwiesen haben.
({13})
Im Zentrum der Reform stehen deshalb Überlegungen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt in seiner Anwendung den realen Konjunkturverläufen anzupassen,
({14})
ohne die Sanktionsmechanismen der EU-Kommission
gegenüber den Nationalstaaten aufzugeben. Ich betone:
Die beiden wesentlichen Kriterien für die Messung der
fiskalischen Lage einer Volkswirtschaft bleiben unangetastet. Sowohl das 3-Prozent-Defizitkriterium als auch
das 60-Prozent-Kriterium der Gesamtverschuldung bleiben unangetastet.
({15})
Das ist der erklärte Wille des Bundeskanzlers und des
Bundesfinanzministers.
Nach dem Willen der EU-Kommission soll dem
Schuldenstand und damit der Nachhaltigkeit
({16})
bei der haushaltspolitischen Überwachung mehr Gewicht gegeben werden. Diesen Willen unterstützen wir,
weil der Gesamtschuldenstand in manchen Ländern sehr
hoch ist und mehr oder weniger alle europäischen Länder wegen der demographischen Entwicklung erhebliche
Probleme mit der impliziten Staatsverschuldung im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme haben oder bekommen werden. Das wissen wir und das wissen auch Sie.
Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie sich diesem
Prozess derartig verweigern, wie Sie es derzeit tun.
({17})
Leider hat Deutschland mit einer Gesamtverschuldung von 66 Prozent gegen das 60-Prozent-Kriterium
verstoßen. Das braucht man nicht schönzureden.
({18})
Das ist ein Problem. Alle Maßnahmen im Rahmen der
Agenda 2010 sollen dazu beitragen, die Gesamtverschuldung zurückzuführen und das 3-Prozent-Defizitkriterium wieder einzuhalten.
({19})
Strukturpolitische Maßnahmen wie die Rentenreform, die Gesundheitsreform oder die Arbeitsmarktreformen
({20})
entwickeln ihre Wirkungen mit zeitlichen Verzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass bei der Reform des
EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes verwirklichte
Strukturreformen berücksichtigt werden sollen, die
nachweislich - das betone ich - nachhaltige Wirkungen
haben; denn damit dokumentiert man, dass man für eine
nachhaltige Struktur- und Finanzpolitik steht.
({21})
Richtig ist auch, dass Investitionen in die Zukunft,
also in Forschung und Bildung, berücksichtigt werden.
Das sind wir den kommenden Generationen schuldig.
({22})
Wir sind jedoch der Meinung, dass es eine lange Liste
von Ausnahmeregelungen bei der Beurteilung des Defizits eines Landes nicht geben sollte.
({23})
Die Kriterien sollen in ihrer Anwendung vergleichbar
sein.
Rückblickend ist festzustellen, dass dem Stabilitätsund Wachstumspakt ein eher mechanistisches Bild von
Konjunkturverläufen zugrunde lag.
({24})
Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass die Definition
einer scharfen Rezession - Wachstumsraten von minus
2 Prozent - zugunsten der Klarstellung aufgegeben wird,
dass ein befristetes Überschreiten der Defizitobergrenze
von 3 Prozent künftig generell bei negativen Wachstumsraten zulässig sein kann.
({25})
Damit wird der Erfahrung Rechnung getragen, Herr Professor Pinkwart, dass bereits eine Stagnationsphase im
Konjunkturverlauf ein Überschreiten der Defizitkriterien
nach sich ziehen kann.
Die Kritik von CDU/CSU und FDP an der Reform
des Paktes ist ohnehin völlig realitätsfremd. Denn ob das
Defizit am Ende eines Jahres bei 3,1 Prozent oder bei
2,9 Prozent - ein Wert, mit dem man das Kriterium eingehalten hätte ({26})
liegt, das gibt überhaupt keine Auskunft über die wirtschaftliche Lage der jeweiligen Volkswirtschaft. Es sind
andere Kriterien, die über die wirtschaftliche Lage einer
Volkswirtschaft Auskunft geben.
({27})
Frau Kollegin Scheel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Professor Pinkwart?
Gerne.
Bitte schön, Herr Pinkwart.
Frau Scheel, Sie sagen, dass man in rezessiven Phasen über die 3-Prozent-Grenze hinausgehen könne. Wie
bewerten Sie konjunkturpolitisch das vergangene Jahr,
dessen statistische Werte uns jetzt vorliegen? Wir hatten
ein Wachstum von 1,6 Prozent. Sie haben das
Maastricht-Kriterium mit 3,7 Prozent deutlich verfehlt.
Im laufenden Jahr stoßen Sie an die Grenze von
3 Prozent, die nach Ihrer Interpretation die maximale
Obergrenze darstellt.
({0})
Andere sehen uns deutlich über 3 Prozent. Die Bundesregierung geht von einem Wachstum von 1,6 Prozent
aus. Trotzdem wird die Obergrenze komplett ausgereizt.
Wie hoch soll denn dann noch die Neuverschuldung gemessen am BIP sein, wenn Sie in die nächste Rezession
hineinkommen sollten?
({1})
Herr Professor Pinkwart, die strukturelle Schwierigkeit, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben,
({0})
ist die, dass die Beschäftigungsschwelle bei einem
Wachstum von etwa 1,9 Prozent liegt.
({1})
Das heißt, wenn das Wachstum unter 1,9 Prozent liegt,
haben wir weniger Steuereinnahmen, höhere Arbeitslosigkeit und damit höhere Ausgaben für den Staat.
({2})
Wir haben, um genau diese Problematik anzugehen,
strukturelle Reformen gemacht.
({3})
Ich habe die Rentenreform und andere Reformen, die bereits gemacht worden sind, angesprochen.
({4})
Diese führen im Ergebnis dazu, dass die Beschäftigungsschwelle ein Stückchen sinkt.
({5})
Deswegen kann es passieren, dass man in Zeiten, in
denen es wirtschaftlich zwar etwas nach vorne geht,
die Strukturreformen aber noch nicht so wirken, über
die 3-Prozent-Grenze schwappt, obwohl man vernünftig
aufgestellt ist. Das ist der Punkt, auf den ich eigentlich
verweisen wollte. Die Tatsache, dass das Defizit knapp
über oder knapp unter 3 Prozent liegt, sagt nichts darüber aus, ob unsere Volkswirtschaft dazu in der Lage
ist, eine nachhaltige Finanzpolitik im Sinne des Wachstums- und Stabilitätspakts zu erreichen. Es sind vielmehr
die strukturellen Fragen, die entscheidend sind. Es ist
eine qualitative Bewertung notwendig.
({6})
Die qualitative Bewertung soll über die Reformdiskussion, die auf europäischer Ebene derzeit geführt wird, erfolgen.
Frau Kollegin Scheel, die Fragen und Antworten sollten kurz und präzise sein. Wir sind hier nicht im Seminar. Es wäre zwar notwendig, aber es ist leider nicht so.
({0})
Ich bin über Ihre Einschätzung froh, dass ich einen
großen Beitrag zur Aufklärung geleistet und dazu beigetragen habe, dass die Union und die FDP die wirtschaftspolitischen, finanzpolitischen und gesamtstaatlichen
Vorgehensweisen verstehen. Es freut mich sehr, dass mir
das gelungen ist.
({0})
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Die Redezeit
ist gleich vorbei. Das, was überhaupt nicht mehr diskutiert wird, ist die Frage, warum eigentlich der Wachstums- und Stabilitätspakt eingeführt worden ist. Er ist
deswegen eingeführt worden, weil wir eine stabile Währung wollten,
({1})
auch im Hinblick auf Leistungsbilanzdefizite und Haushaltsdefizite in den USA. Der Wert des Euro hat sich gegenüber dem Dollar erhöht. Der Euro wird verstärkt als
Reservewährung gehalten. Europa hat sich eine stabile,
wertbeständige Währung gegeben. Das muss man sehen.
Das war der Grund, warum der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingeführt worden ist: Man wollte eine stabile
Währung in Europa.
Die Debatte, die wir jetzt über das Defizitkriterium
und darüber führen, ob man die Defizitkriterien realitätstauglicher gestalten soll, hat damit zu tun. Aber das
ursprüngliche Ziel, eine Währung im gesamten Euroraum mit dieser wunderbaren Stabilität zu schaffen, ist
erreicht. Dieses Ziel wird auch in der Zukunft weiterhin
umgesetzt.
({2})
Darauf muss man immer wieder verweisen. Die Frage,
ob das Kriterium von 3 Prozent überschritten wird oder
nicht, ist zwar eine wichtige Frage - das will ich nicht in
den Hintergrund drängen -, aber wir wollen auch alles
tun, um den konjunkturellen Aufschwung zu stärken.
Wir wollen alles tun, um die Binnennachfrage anzukurbeln
Frau Kollegin Scheel, Ihre Redezeit ist schon lange
abgelaufen.
- und im Rahmen dessen den Konsolidierungspfad
weiter zu beschreiten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass RotGrün in allen Fragen der Wirtschafts- und Währungspolitik und der Haushalts- und Finanzpolitik nach der
Methode „Haltet den Dieb!“ vorgeht, ist keine Überraschung. Aber dass Sie, Frau Staatssekretärin, in der
Frage der finanziellen Perspektive der Europäischen
Union Äußerungen der Bayerischen Staatsregierung heranziehen, ohne Ross und Reiter zu nennen, schlägt dem
Fass den Boden aus.
({0})
Insofern fordere ich Sie auf: Entweder Sie nennen
Ross und Reiter oder Sie nehmen diese Aussage zurück!
Es gibt keine Zielrichtung der CDU und der CSU und
der von ihnen getragenen Landesregierungen in
Deutschland, einer Erhöhung des europäischen Haushalts zuzustimmen.
({1})
Ich will in Erinnerung rufen, dass es bei diesem Tagesordnungspunkt um ein zentrales Thema geht.
({2})
Der Deutsche Bundestag hat am 2. Dezember 1992, also
vor etwas mehr als zwölf Jahren, nahezu einstimmig
- 543 von 568 abgegebenen Stimmen waren dafür; auch
die Abgeordneten der SPD- und der grünen Fraktion haben zugestimmt; nur die Kommunisten waren dagegen folgenden Beschluss gefasst:
Der Deutsche Bundestag nimmt die Besorgnis in
der Bevölkerung über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung ernst. … Der Deutsche Bundestag wird sich jedem Versuch widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in
Maastricht vereinbart worden sind.
({3})
Deshalb müssen wir diese Debatte im Parlament führen.
Der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in
einem „Spiegel“-Interview vom 24. Februar 1997 verkündet:
Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, die den
Maastricht-Vertrag noch ernst nehmen. … Ich will,
dass die Stabilitätskriterien strikt eingehalten werden. … Die Europäische Kommission soll darüber
wachen, dass die Fiskalpolitik der Einzelstaaten
nicht aus dem Ruder läuft.
Wir haben es doch hier mit einer galoppierenden Schizophrenie zu tun!
({4})
Wenn es keine Schizophrenie ist, dann ist es zumindest
Gedächtnisverlust.
Die Wahrheit liegt doch ganz woanders: Der Kanzler
und sein Erfüllungsgehilfe Hans Eichel haben sich nach
sechs Jahren Regierungsverantwortung in Sachen Haushalts- und Fiskalpolitik als unfähig erwiesen
({5})
und wollen nun dem einzigen noch verbliebenen Kontrollinstrument solider Haushaltspolitik, dem Stabilitätsund Wachstumspakt, den Garaus machen.
Im internationalen Umfeld liest es sich wie Kabarett:
Erst initiiert Deutschland den Stabilitätspakt zum Schutz
der gemeinsamen Währung. Dann möchte eben dieses
Land die Regeln des Euros mit aller Gewalt wieder streichen und zum krönenden Abschluss behaupten die Beteiligten auch noch allen Ernstes, dass der Pakt durch die
Änderungen gestärkt wird. Über diese politische Darstellung lacht ganz Europa.
({6})
Das Gegenteil ist der Fall: Durch Ihre Forderungen
wird der Pakt nicht gestärkt, sondern massiv geschwächt. Sie machen den Bock zum Gärtner und schicken uns dann auch noch einen wirtschaftspolitischen
Geisterfahrer in die Anhörung, der behauptet, der Pakt
sei tot. Gleichzeitig stimmt die Bundesregierung auf der
Grundlage des Pakts dem Defizitverfahren gegen Griechenland zu. In Deutschland herrscht in der Tat eine galoppierende Schizophrenie.
({7})
Man muss sich auch einmal im Detail mit den Forderungen, die der Bundesfinanzminister schriftlich an den
EU-Ratspräsidenten gerichtet hat, auseinander setzen.
Erstens wird die Einrechnung von Sonderlasten wie der
deutschen Einheit gefordert. Die Wiedervereinigung ist
15 Jahre her. Sie kommen wirklich früh darauf, die Einrechnung der Sonderlasten der deutschen Einheit beim
europäischen Stabilitätspakt zu fordern.
({8})
Zweitens fordern Sie die Anrechnung der Nettozahlungen an die EU. Lieber Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, wo bleiben denn dann die Nettoerträge?
Bei einer ordentlichen Buchhaltung ist es doch das Mindeste, dass nicht nur die Einnahmen, sondern auch die
Ausgaben mit eingerechnet werden.
({9})
Drittens verlangen Sie, dass Strukturreformen im Sozial-, Arbeits- und Steuerbereich ebenso anerkannt werden sollen wie viertens Ausgaben für Innovation, Forschung und Entwicklung oder fünftens Investitionen in
Humankapital. Da wird doch der Hund in der Pfanne
verrückt; denn Sie wollen die Kosten für den Beamtenapparat, den Sie zusätzlich erweitern wollen, herausrechnen und so die Last des europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakts verringern. Das können wir nicht mitmachen.
({10})
Sie wollen sechstens die konjunkturelle Entwicklung
und siebtens den Beitrag eines Mitgliedstaates zur Stabilität des Währungsraums berücksichtigt wissen.
Sie haben die gestrige Debatte nach dem Motto geführt: Der Stabilitätsanker Deutschland gilt noch, weil
unsere Inflation im Vergleich zum europäischen Durchschnitt so gering ist. Meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, das lernt man in der Volkswirtschaftslehre schon im ersten Semester: Wenn man einen
einheitlichen Währungsraum mit starken und schwachen
Volkswirtschaften hat, dann ist es automatisch so - Sie
können das nachlesen; das ist der so genannte BalassaSamuelson-Effekt -, dass insbesondere die Preise für
nicht handelbare Güter und Dienstleistungen schneller
steigen als die Preise für handelbare Güter. Vor diesem
Hintergrund ist es ganz logisch, dass wir - genauso wie
vor zehn Jahren in Spanien, Griechenland und Portugal
sowie heute in den osteuropäischen Ländern - eine höhere Inflation haben. Daraus ergibt sich denklogisch,
dass die Inflationsrate Deutschlands unter dem Durchschnitt der Europäischen Union liegt. Das kann also kein
Argument für Ihre Position sein. Das ist vielmehr eine
ganz einfache Wahrheit in der klassischen Wirtschaftsund Währungspolitik.
({11})
Achtens. Zu guter Letzt wollen Sie die Eröffnung eines Defizitverfahrens nur noch beim Nachweis eines
schwerwiegenden Fehlers eines Mitgliedstaats ermöglichen. Das ist der Gipfel; denn damit setzen Sie die Forderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts schlicht
und einfach außer Kraft. Das ist die Strategie von RotGrün. Sie wollen nämlich alles andere als den Pakt stärken. Sie wollen vielmehr durch die Aufweichung der
Stabilitätskriterien lediglich den Bankrott Ihrer Politik
verschleiern.
({12})
Weil Ihnen finanz- und haushaltspolitisch nichts mehr
einfällt, wollen Sie die Lizenz zum ungehemmten Schuldenmachen. Dagegen wehren wir uns mit aller Kraft.
Vor diesem Hintergrund muss ich Ihnen sagen: Sie
haben es schlicht und einfach nicht verstanden. Ihnen
fehlt offensichtlich die intellektuelle Kraft, um die Fragestellungen von Wirtschafts- und Währungspolitik im
Zusammenhang zu sehen. Es ist festzuhalten: Wir geben
mittlerweile jeden fünften Euro, den wir durch Steuern
einnehmen, für Schuldzinsen wieder aus. Dieses Geld
fehlt uns an anderer Stelle, um Infrastruktur, Bildung
und Innovation zu unterstützen.
({13})
Zusätzlich wird durch Ihre Fiskalpolitik der Spielraum
für dringend notwendige Entlastungen auf der Steuerund Abgabenseite erheblich eingeschränkt.
Sie müssen einfach verstehen: Solange die Möglichkeit besteht, Kredite aufzunehmen, wird das Geld durch
Ihre Regierung mit vollen Händen aus dem Fenster geworfen. Rot-Grün verfährt seit Jahren nach den Grundsätzen: Erstens. Sind die Staatsfinanzen erst ruiniert,
dann lebt sich’s gänzlich ungeniert. Zweitens. Nach uns
die Sintflut. Wenn man Ihrer Argumentation folgte,
müsste man Kredite aufnehmen, um in die Zukunft investieren zu können. Das ist heuchlerisch und stimmt
nicht. Schulden sind nämlich keine Investitionen in die
Zukunft. Schulden sind vielmehr die Steuern von morgen. Da haben Sie uns hineingeritten. Durch Ihre Politik
verkaufen Sie die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder.
Ich kann Sie daher nur auffordern: Hören Sie auf!
Nutzen Sie die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um Ihren Haushalt zu sanieren! Zerstören Sie
nicht das Fundament der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion! Wer den Stabilitätspakt kaputtmacht,
spielt mit der Zukunft unseres Landes. Sie sollten sich
das sehr genau überlegen.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ortwin Runde von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Fahrenschon, ich weiß zwar nicht, ob Sie an der
Debatte über die europäische Verfassung teilgenommen
haben. Aber es wäre gut gewesen, wenn der Geist dieser
Debatte den Inhalt Ihrer Rede ein Stück geprägt hätte.
({0})
Das ist ja wirklich ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Meine Damen und Herren von der Union, wir erleben
die heutige Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt als dritte oder vierte Wiederholung im Parlament.
Inzwischen kennen wir fast alle Argumente.
Die Bürger, die Zuhörer müssen sich doch fragen:
Was ist an der Stabilität denn nicht in Ordnung?
({1})
Wie sehen die Fakten aus? Bei der Beantwortung dieser Fragen stellt man fest, dass der Euro sehr stabil ist,
was die Preissteigerungen, das Preisniveau, den Binnenwert angeht. Der Binnenwert des Euro ist absolut stabil.
({2})
Herr Fahrenschon hat eben schon eine Begründung dafür
geliefert, warum das Preissteigerungsniveau in Deutschland sehr viel geringer ist als in den anderen europäischen Ländern. Der Außenwert des Euro ist mit
1,32 Dollar so hoch, Herr Fahrenschon, dass man da in
der Tat schon Bedenken haben muss.
({3})
Jeder, der Zeitung liest, stellt fest, dass in dieser Tatsache
auch eine Bedrohung für unsere weitere wirtschaftliche
Entwicklung liegt.
({4})
Wenn wir über die Frage der Stabilität reden, dann führen wir also eine Phantomdebatte. Mit der Stabilität haben wir in Europa, haben wir in Deutschland kein Problem.
({5})
Das ist also nicht die Frage.
Worum geht es denn dann darüber hinaus? Herr
Fahrenschon redet hier so, als wären wir Deutschen die
Einzigen in Europa, die über eine Weiterentwicklung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts nachdenken und daran
arbeiten.
({6})
Ich stelle dazu fest: Es gibt einen Bericht bzw. Vorschlag
der Europäischen Kommission zur Weiterentwicklung
des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
({7})
- Das ist keine Schönrederei.
({8})
Hier sehe ich auch eine Analogie zu der Diskussion, die
wir vorhin geführt haben. In jener Diskussion hat Herr
Teufel gesagt, warum die europäische Verfassung aufgrund der Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, weiterentwickelt werden muss. Bereits vorher wurde schon gesagt, ein entscheidender
Punkt für die europäische Verfassung sei gewesen, dass
sich Europa dadurch verändert hat, dass die Europäische
Union nicht mehr aus 15, sondern aus 25 Ländern besteht.
Herr Kollege Runde, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schauerte?
Natürlich.
Bitte schön, Herr Schauerte.
Herr Kollege Runde, Sie haben jetzt erläutert, wie der
Binnen- und Außenwert der europäischen Währung sein
soll. Welche Ursachen das haben mag, will ich jetzt dahingestellt sein lassen. Der Stabilitätspakt stellt aber
doch insbesondere auf eine grundsätzlich notwendige
Begrenzung der Verschuldung ab. Entsprechend sind
Obergrenzen für die Staaten bei der Verschuldung festgelegt worden.
({0})
Muss ich Ihren jetzigen Ausführungen entnehmen, dass
Sie die Verschuldungsgrenze gar nicht ansprechen wollen, weil Sie glauben, dass wegen der Stabilität des Euros mehr Schulden möglich, vielleicht sogar sinnvoll
sein könnten, um einen zu hohen Wert des Euros wieder
zu reduzieren?
Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt hat
das Ziel Stabilität erreicht. Andere Ziele wie Wachstum
und Beschäftigungssicherung sind dadurch nicht erreicht
worden, Herr Schauerte.
({0})
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat nach den Erkenntnissen der Europäischen Kommission - Almunia,
Prodi und andere haben dies bewertet - dazu geführt,
dass die Länder nicht aus der Rezession herauskommen,
sondern dass eine prozyklische Entwicklung eintritt,
dass die Konjunktur durch die entsprechenden Maßnahmen also abgewürgt wird. Insoweit war der Stabilitätsund Wachstumspakt nicht erfolgreich.
({1})
- Nein, das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das
gilt, so Almunia, insbesondere auch für Portugal.
Schauen Sie sich auch einmal die Situation der Portugiesen oder der Niederländer an; dort ist es genauso.
({2})
Wenn die Kommission darangeht, den Pakt neu zu interpretieren und weiterzuentwickeln, dann stellt sich die
Frage, welche Interessen wir als Deutsche in diese Weiterentwicklung des Pakts einbringen müssen. Herr
Fahrenschon, da fallen mir natürlich sofort die Lasten
der Einheit ein. Die Bewältigung der deutschen Einheit
war wie eine Vorstufe dessen, was wir heute mit der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten erleben.
Die gesamte Europäische Union muss dafür viel Geld
aufbringen. Eine Leistung dieser Art haben wir als einzelnes Land erbracht, indem wir entsprechende Lasten
geschultert haben. Dass man das im Stabilitäts- und
Wachstumspakt im Hinblick auf die Beurteilung heranzieht, ist doch selbstverständlich. Dem liegt deutsches
Interesse zugrunde. In Frankreich käme kein oppositioneller Politiker auf die Idee, eine gegenteilige Auffassung zu vertreten.
({3})
Schauen Sie sich einmal an, wie hoch der Anteil der
Kosten und der Lasten der deutschen Einheit an der Verschuldungsgrenze von 60 Prozent ist. Das ist ein ganz erheblicher Umfang.
({4})
Dazu haben Sie sich in der Vergangenheit ab und an einmal bekannt. Das müssen Sie doch mit berücksichtigen.
({5})
Aus meiner Sicht ist es absolut vernünftig, dafür zu
sein, die Nettozahlerposition bei der Interpretation zu
beachten. Das entspricht doch unserem Interesse. Sie haben hier von Kuhhandel gesprochen. Der Zusammenhang zwischen der Anerkennung von Sonderlasten und
den Ausgaben für Europa ist gegeben. Sie müssten daher
eigentlich die Position der Bundesregierung unterstützen.
({6})
Wenn man sich die europäische Ebene anschaut, dann
muss man sehen, dass der Pakt sinnvollerweise Zukunftsprobleme lösen sollte. Deutschland und andere
Länder haben Probleme mit der demographischen Entwicklung. Überall dort müssen der Arbeitsmarkt und die
sozialen Sicherungssysteme reformiert werden. Eine
klare wirtschaftspolitische Erkenntnis ist: Zur Lösung
dieser Probleme ist es notwendig, vorübergehend mehr
auszugeben. Anders sind diese Reformen nicht umsetzbar und nicht durchsetzbar. Das bei der Bewertung zu
berücksichtigen ist im europäischen Interesse. Anreize
für Bildung und Forschung zu setzen muss doch unsere
Zielsetzung sein.
({7})
Dass Sie sich aus der gesamten Diskussion über die
Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit Ihrer fundamentalistischen Haltung - es gibt sie
sonst nirgendwo in Europa - ausklinken, führt Sie in die
totale Isolation und nimmt Ihnen jedes Recht, hier mitzudiskutieren.
({8})
Herr Kollege Runde, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Gerne.
Herr Michelbach, bitte schön.
Herr Kollege Runde, aus meiner Sicht tragen Sie hier
eine sehr abenteuerliche Theorie vor. Ist es nicht eine
Tatsache, dass die Länder der Eurozone, die in den vergangenen Jahren aufgrund von Reformen die Defizitquote eingehalten und damit den Pakt nicht gebrochen
haben, bei weitem nicht die Probleme Deutschlands haben? Diese Länder haben mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Die Situation ist doch so, dass Deutschland
den Pakt nicht eingehalten und mehr Schulden gemacht
hat, wodurch genau diese Probleme entstanden sind. Ist
es nicht so?
({0})
Herr Michelbach, ich muss sagen: Hier irren Sie sich.
Die Holländer haben zeitweise, als sie noch in einer besseren Position gewesen sind, so argumentiert wie Sie.
Schauen Sie sich einmal an, wie viele europäische Länder sich in Schwierigkeiten befinden. Wenn Sie das tun,
dann werden Sie feststellen: Viele sind vom hohen Ross
heruntergestiegen, weil die Realität sie eingeholt hat. Sie
haben mittlerweile gemerkt, dass sie davon abhängig
sind, dass die Wirtschaft in Deutschland wächst.
({0})
Daher haben sie ein Interesse daran, dass der Stabilitätsund Wachstumspakt so ausgelegt wird, dass er wirtschaftliches Wachstum nicht abwürgt. Diese Erkenntnis
haben inzwischen auch unsere Nachbarländer.
({1})
Herr Meister, Sie haben das Thema Unternehmensteuern angesprochen, aber das Desaster unerwähnt gelassen, das Ihre Steuersenkungsvorstellungen im Rahmen der allgemeinen Steuerreform in der Anhörung
erlebt haben,
({2})
in der alle gesagt haben: Angesichts der gegenwärtigen
Situation der Staatsfinanzen sind weitere Steuersenkungen nicht machbar. - Das war das eindeutige Ergebnis.
({3})
Geht erst einmal daran - so war die Empfehlung der
Sachverständigen -, die Steuerschlupflöcher zu schließen;
({4})
wenn ihr dann gesehen habt, welche Auswirkungen das
hat, könnt ihr euch über Steuersätze unterhalten!
Herr Meister - ({5})
- Herr Michelbach. Herr Meister hat aber vorher gesprochen.
({6})
Es waren Herr Michelbach und Herr Meister, die ein Unternehmensteuerkonzept angemahnt haben. Schauen Sie
sich einmal an, was Herr Merz seinerzeit geliefert hat!
({7})
Die Ansage war: auf dem Bierdeckel, synthetische Einkommensteuer, keine duale Besteuerung. Sie sind inzwischen in tiefe Nachdenklichkeit verfallen,
({8})
haben deswegen auch noch eine Schreibhemmung. Zu
der Frage, was Ihre steuerpolitischen Vorstellungen sind,
haben Sie bisher nur weiße Blätter produziert.
({9})
Eines noch zu der Funktion, die die Debatte über den
Stabilitäts- und Wachstumspakt für Sie hat. Ich habe hier
den Eindruck, dass Sie diese Debatte nur nutzen, um den
Stabilitäts- und Wachstumspakt als Peitsche einzusetzen - in Richtung Flexibilisierung und Abbau in den Bereichen Tarifrecht, Mitbestimmung und Kündigungsschutz.
({10})
Da machen Sie sozusagen einen umgekehrten Helmut
Schmidt,
({11})
aber ohne ökonomischen Sachverstand.
({12})
Diese Interpretation des Stabilitäts- und Wachstumspaktes werden wir natürlich nicht mitmachen,
({13})
weil das - jetzt komme ich wieder zu der Debatte heute
früh zurück - keine Konzeption für ein solidarisches
Europa ist und keine Zukunftsvision für Europa sein
kann. Es ist eine ganz andere Vision, die Sie verfolgen.
Sie wird unsere Unterstützung nicht finden. Wenn Sie
sich der Realität annähern wollen, dann müssen Sie tatsächlich anders über den Stabilitäts- und Wachstumspakt
reden und dürfen nicht ständig nur die Zahl drei betonen;
das ist nicht hinreichend.
({14})
Als nächster Redner hat der Kollege Olav Gutting
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Der Stabilitäts- und Wachstumspakt gefällt
Herrn Eichel nicht. Dafür habe ich Verständnis; denn
Sünder mögen keine Gesetze. Aber was Sie von der Regierung auf europäischer Ebene mit der Aufweichung
des Stabilitäts- und Wachstumspaktes planen, ist eine
Schande. Diese Regierung versündigt sich an zukünftigen Generationen in Europa.
({0})
1996 haben die europäischen Finanzminister auf dem
EU-Gipfel in Dublin beschlossen, vor allem auf Druck
von Deutschland, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu
gründen: Das jährliche Loch in der Staatskasse darf nicht
tiefer klaffen, als es 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
entspricht, und der gesamte Schuldenberg des Staates
darf sich nicht höher auftürmen als bis zu 60 Prozent der
jährlichen Wirtschaftsleistung.
({1})
Bisher gilt die Grenze von 3 Prozent. Wer die Grenze
von 3 Prozent überschreitet, verstößt gegen den Pakt.
({2})
Das hat jeder verstanden. Dass es jeder versteht, ist
wichtig. Dies war vor allem für uns Deutsche ein ganz
wichtiges Signal.
({3})
Die dauerhafte Stabilität der Deutschen Mark war von
Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland für die Menschen in unserem Land Ausdruck wirtschaftlicher Stärke
und Kontinuität.
({4})
Die deutsche Währung galt im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Währungen immer als Garant für
Stabilität. Wir Deutsche hingen an unserer Mark.
Um die mit der Einführung des Euro verbundenen
Sorgen und Ängste in der Bevölkerung, die es durchaus
gab, zu zerstreuen, setzte die damalige Bundesregierung
bei der Einführung des Euro auf Aufstellung und strikte
Einhaltung strenger Stabilitätskriterien. Es war 1992
auch einmal gemeinsamer Wille dieses Hohen Hauses
- wir haben es vorhin gehört -, sich jedem Versuch zu
widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die
in Maastricht vereinbart worden sind. Was die Bundesregierung jetzt mit der Aufweichung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes plant, nennt man „Wegfall der Geschäftsgrundlage“. Es ist die Zerstörung der Basis, auf
der das Vertrauen der Menschen in Deutschland in die
neue Währung beruht.
({5})
Die Forderung des Finanzministers und dieser Regierung, das Schuldenmachen nun zu erleichtern, bedeutet
das Ende dieses Paktes.
Sie wollen die Kosten der Einheit, Sie wollen die
Zahlungen an Brüssel, Sie wollen Kosten für Bildung
und anderes bei der Berechnung berücksichtigt wissen.
Wie wollen Sie bitte dann Ihren Fluchthelfern aus dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt Frankreich und Italien
verbieten, beispielsweise die Kosten für Militärausgaben
zu berücksichtigen? Wie wollten Sie Ihren Fluchthelfern
dann erklären, dass das nicht geht?
({6})
Das wird Ihnen nicht gelingen, aber das stört Sie auch
nicht. Diese Regierung weiß nämlich ganz genau um die
verheerenden Auswirkungen ihres Handelns.
({7})
An ernsten und konkreten Warnungen hat es ja nicht gefehlt, sei es von der Bundesbank oder anderen Experten.
Das haben wir ja alles schon gehört.
Es geht dieser Regierung einfach nur noch darum, die
Macht zu sichern. Sie wollen im Wahljahr 2006 auf keinen Fall ein Defizitverfahren haben. Genauso wie sich
SPD und Grüne derzeit in Schleswig-Holstein über den
Willen der Wähler hinwegsetzen, genauso setzt sich
diese Regierung über alle Warnungen und Mahnungen
beim Pakt hinweg.
({8})
Der Schaden, der dadurch entsteht, und die Lasten, die
Sie dadurch zukünftigen Generationen aufladen, scheinen Sie dabei nicht zu interessieren.
Die exzessive Verschuldungspolitik dieser Regierung
ist ja auch gerade deshalb so schlimm, weil es die künftigen Generationen, die diese Rechnung bezahlen sollen,
gar nicht geben wird. Europa ist ja der Kontinent mit den
wenigsten Kindern. Europa hat nicht nur die wenigsten
Kinder, sondern weltweit auch das geringste Wirtschaftswachstum.
Ich bin froh, Frau Staatssekretärin Hendricks, dass Sie
vorhin gesagt haben, dass Sie kein kreditfinanziertes Investitionsprogramm planen. Ich hoffe, die ganze Regierung hat sich zwischenzeitlich von der Vorstellung verabschiedet,
({9})
der Staat könnte die Wirtschaft mit mehr Krediten hoch
hieven. Wünschenswert wäre ein erhöhter Konsum,
wünschenswert wäre eine erhöhte Investitionsbereitschaft. Hierzu brauchen wir aber verlässliche finanzpolitische Rahmenbedingungen. Verlässliches Wachstum
wird es nur mit Stabilität geben und niemals ohne Stabilität.
({10})
Wer Hand an diesen Pakt legt, zerstört das Vertrauen der
Menschen in diese Stabilität.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Köhler von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute über zwei Anträge zum
europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beiden
Anträgen ist gemeinsam, dass sie den Stabilitäts- und
Wachstumspakt erhalten wollen, um ein Funktionieren
der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sicherzustellen. Dies drücken wir in unserem Antrag wie
folgt aus:
Zur Sicherung der Stabilität der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ({0}) sind solide
öffentliche Finanzen unabdingbar, die Währungsunion braucht auch in Zukunft ein funktionsfähiges
und glaubwürdiges Instrument der finanzpolitischen Koordinierung.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat sich nach unserer Auffassung in seiner Grundkonzeption bewährt. In
unserem Antrag heißt es daher weiter:
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seinen wesentlichen Bestandteilen - der 3-Prozent-Defizitgrenze und der 60-Prozent-Schuldengrenze - hat in
den letzten Jahren auch unter schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine positive
Wirkung auf die Finanzpolitiken in den Mitgliedstaaten der Währungsunion ausgeübt.
Wer allerdings, wie es verschiedentlich versucht wird
und leider auch heute wieder versucht wurde, das dazu
notwendige Ringen als „Aufweichungsversuche“ diffamiert, schadet der Glaubwürdigkeit des Paktes.
({1})
Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ist der Euroraum heute finanzpolitisch besser aufgestellt als die
USA und Japan. Während das Defizit im Euroraum im
Jahre 2004 2,9 Prozent betrug, betrug es in den USA
4,2 Prozent und in Japan sogar 7,1 Prozent.
({2})
Auch die Inflation hat sich in engen Grenzen gehalten:
Die Steigerungsraten der Verbrauchspreise lagen zwischen 2000 und 2003 im Euroraum bei rund 2 Prozent,
in Deutschland sogar nur bei 1 Prozent. Das heißt, der
Euro ist nach innen und außen stabil.
({3})
Bei allen Erfolgen des Stabilitäts- und Wachstumspakts können wir die Augen aber nicht vor den Erfahrungen verschließen, die wir mit der Anwendung des Paktes
in den vergangenen Jahren gemacht haben. Ein zentraler
Auslöser für die Reformdebatte war die Kontroverse
über die Nutzung der im Vertrag und im Pakt enthaltenen
Ermessensspielräume. Die bisherige Anwendung ließ
eine Diskussion durch Kommission und Ecofin-Rat über
eine ökonomisch angemessene und richtige Finanzpolitik völlig in den Hintergrund treten. Deswegen sind wir
für eine Reform des Paktes.
Eine solche Reform ist keine deutsche Erfindung.
Auch sind wir deswegen in Europa nicht isoliert.
({4})
Schon vor längerer Zeit hat der damalige Präsident der
EU-Kommission Romano Prodi den Pakt als „dumm“
bezeichnet. Zwischenzeitlich ist die Mehrheit der Mitgliedstaaten für eine Reform des Paktes. Selbst die Kommission als Hüterin der Verträge hat in ihrer Mitteilung
vom 13. September 2004 eine Reihe von Reformvorschlägen gemacht. Insoweit ist die Zeit über den Antrag
der Union hinweggegangen. Er steht nicht mehr auf der
Agenda der europäischen Institutionen.
Warum will nun die Kommission eine Reform des
Paktes? Bei der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts sind eben nicht nur Erfolge zu verbuchen. In
einigen Ländern ist der Fortschritt in Richtung Schuldenabbau völlig unzureichend.
({5})
In diesem Jahr erfüllen lediglich fünf der zwölf Mitglieder des Euroraums die Hauptregel des Paktes. Mindestens drei Länder werden Defizite von über 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts haben, weitere drei wahrscheinlich.
({6})
- Das sind die Zahlen von diesem Jahr.
({7})
Eine Reihe von ökonomischen Überlegungen steht
neben politischen und institutionellen Gesichtspunkten
hinter diesen Vorschlägen für ein ausgewogenes Anpassungspaket:
Erstens. In Anbetracht der Unterschiede zwischen den
Mitgliedstaaten, was etwa wirtschaftliche Entwicklung
oder Schuldenstand angeht, brauchen wir mehr Spielraum und ökonomisches Augenmaß bei der Beurteilung
der Budgetentwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten.
({8})
Dieser Gesichtspunkt gewinnt vor dem Hintergrund der
Erweiterung deutlich an Gewicht. Auf der Grundlage der
bestehenden Vertragswerke sollen bestimmte Länderspezifika stärker in Rechnung gestellt werden, als es bisher
geschehen ist.
Zweitens mangelt es dem gegenwärtigen Regelwerk
an ausreichenden Anreizen, in wirtschaftlichen Aufschwungphasen haushaltspolitisch für schlechte Zeiten
vorzusorgen. Wenn aber in guten Zeiten kein Haushaltsüberschuss erwirtschaftet wird, wie soll dies dann in
schlechten Zeiten gelingen?
Drittens erwächst angesichts der demographischen
Entwicklung in Europa die Einsicht, dass langfristigen
Nachhaltigkeitsaspekten mehr Bedeutung beigemessen
werden muss, als es noch Mitte der 90er-Jahre der Fall
war.
({9})
Neben diesen ökonomischen Argumenten gibt es auch
politisch-institutionelle Gründe, weshalb eine Überarbeitung des Stabilitäts- und Wachstumspakts nötig ist.
({10})
Das ist auch das Ziel unseres Antrages. Im Lichte dieser Überlegungen erscheint es nach unserer Ansicht angebracht, das wirtschaftspolitische Regelwerk zu stärken
und seine Anwendung zu verbessern. Verbesserung heißt
in diesem Fall, den ökonomischen Gehalt der Regeln zu
erhöhen, um den größer gewordenen Unterschiedlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten einer EU der 25
besser Rechnung tragen zu können.
Nach der Konzeption des EG-Vertrages dient das Instrumentarium der Haushaltsüberwachung zur Vermeidung schwerwiegender Fehler in der Haushalts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten. Der Vertrag selbst sagt:
Es ist keineswegs Ziel und Aufgabe der finanzpolitischen Koordinierung, den Mitgliedstaaten in ihre täglichen Geschäfte hineinzuregieren. Das ist Sache der einzelnen Mitgliedstaaten und muss es auch bleiben.
({11})
Um es an der 3-Prozent-Defizitgrenze festzumachen: Eine Finanzpolitik ist doch nicht immer gut, solange das Defizit noch bei 2,9 Prozent liegt, und sie ist
auch nicht notwendigerweise schlecht, wenn das Defizit
auf 3,1 Prozent steigt. Die Sicht der Union ist hier völlig
unökonomisch.
({12})
Es geht vielmehr darum, eine stabilitäts- und wachstumsgerechte Ausrichtung der Finanzpolitik zu gewährleisten. Einzelne Zahlen können dies nicht aufzeigen,
sondern nur eine fundierte Analyse; eine Gesamtschau
ist also nötig.
Oder wenn ein Land Strukturreformen umsetzt, die
für mehr Wachstum und nachhaltige Finanzen entscheidend sind, aber zu einem Defizitanstieg über 3 Prozent
führen - sollte dann ein Verfahren eröffnet werden? Wir
sagen, in diesen Fällen nicht.
Ein zentrales Kriterium ist für uns die Konjunktur.
Neben starken Wirtschaftsabschwüngen sollten auch Perioden der Stagnation Berücksichtigung finden. Zudem
ist zu bedenken, dass die Mitgliedstaaten zum Teil Sonderlasten zu schultern haben, die nicht primär Ausdruck
einer finanzpolitischen Entscheidung sind. Ich darf hier
für Deutschland die hohe finanzielle Belastung durch die
deutsche Einheit nennen. Eine weitere Sonderbelastung,
die von nationalen finanzpolitischen Erwägungen losgelöst ist, sind die hohen Transfers an den EU-Haushalt.
Auch solche Zahlungen sollten im Rahmen finanzpolitischer Analysen Berücksichtigung finden.
Ich möchte noch einmal betonen: Es geht nicht um
ein „Rausrechnen“, sondern es geht um die Philosophie
der Einzelfallbeurteilungen. Eine sinnvolle Anwendung
des Stabilitätspakts ist nur auf der Basis einer umfassenden ökonomischen Analyse des jeweiligen Einzelfalls
möglich.
({13})
Insoweit sehen wir dem Europäischen Rat am 22. und
23. März hoffnungsvoll entgegen und fordern Sie auf,
dem Antrag der Koalitionsparteien zuzustimmen.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter
Willsch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin, es hat Ihnen nicht gefallen, dass wir gesagt
haben, Sie wollten den Pakt eigentlich nicht mehr. Aber
die Debatte hat es der deutschen Öffentlichkeit gezeigt:
Sie haben nur formal gesagt, Sie wollten den Pakt weiterhin; aber alles, was Sie inhaltlich gesagt haben, hat
genau belegt, dass Sie mit einem Stabilitätsziel nichts
anfangen können. Sie haben über die 3-Prozent-Grenze
gesprochen, Frau Scheel. Aber Sie müssen sich einmal
vor Augen führen, was eigentlich das Ziel ist, nämlich
ein ausgeglichener Haushalt. Eine Neuverschuldung von
3 Prozent markiert dabei die Obergrenze.
({0})
Ziel der Haushaltspolitik sollen ausgeglichene Staatshaushalte sein.
({1})
Aber Sie reden nur noch über die Obergrenze der Neuverschuldung von 3 Prozent und die halten Sie nicht einmal ein, sondern überschreiten sie sogar um ein Viertel.
Und dafür sollen wir Sie noch loben? Das kann doch
wohl nicht wahr sein!
({2})
Frau Hendricks, Sie hören es nicht gerne, wenn wir
die Regierung kritisieren. Deshalb zitiere ich einmal
einen Beobachter der politischen Szene. Hendrik
Munsberg kommentierte in der „Berliner Zeitung“ vom
18. Februar dieses Jahres:
Der Euro-Stabilitätspakt ist erledigt, mausetot.
Hauptverantwortlich dafür sind Kanzler Gerhard
Schröder und sein Erfüllungsgehilfe Hans Eichel.
({3})
Man muss sich in diesem Zusammenhang einmal daran erinnern, wie sich der Finanzminister in der Öffentlichkeit dargestellt hat: Er hat sich bevorzugt mit Sparschweinen ablichten lassen und er hat durch seinen hoch
bezahlten PR-Berater die Geschichten in Umlauf bringen lassen, dass er beim Putzen der Wohnung von der
Leiter gefallen ist und seine Döner in der Imbissstube an
der Ecke selbst kauft.
Der Finanzminister hat immer von einem ausgeglichenen Haushalt gesprochen. Dann hat er aber auf
einmal gemerkt, dass es nicht leicht sein wird, einen solchen zu erreichen. Danach war von „nahezu ausgeglichen“, also „close to balance“, die Rede. Von „close to
balance“ ist jetzt ebenfalls keine Rede mehr. Inzwischen
geht es nur noch um das 3-Prozent-Kriterium. Aber
selbst das kann er nicht einhalten. Haushalts- und finanzpolitisch ist die Bilanz der Regierung katastrophal.
({4})
Statt aus der aktuellen Situation die richtigen
Schlüsse zu ziehen, macht Eichel genau das Falsche. Wir
befinden uns in der Fastenzeit. Während dieser Zeit versuchen einige, ihre überflüssigen Pfunde, die sie im
Winter angesammelt haben, loszuwerden.
({5})
Wenn ich mir Herrn Eichels öffentliches Reden und
Handeln anschaue, dann kann ich Parallelen feststellen:
Er redet zwar die ganze Zeit vom Abnehmen, futtert aber
sozusagen heimlich Pralinen, wenn er glaubt, keiner
würde ihm zuschauen. Wenn er auf der Waage feststellen
muss, dass sich nichts an dem Gewicht geändert hat,
wirft er die Waage weg, anstatt die Pralinen wegzulassen. Das ist sein Konzept.
({6})
Sie legen in der Tat die Axt an den Stabilitätspakt. Sie
wollen Forschungsausgaben, Bildungsausgaben und
Nettozahlungen an die EU abziehen. Sie wollen die Kosten für Strukturreformen in den Sozialsystemen abziehen. Ich kann Ihnen noch weitere Anregungen geben:
Sie bekommen die Franzosen mit ins Boot, wenn Sie
vorschlagen, die Kosten für Überseedepartements und
für die Force de Frappe abzuziehen. Die Griechen bekommen Sie mit ins Boot, wenn Sie vorschlagen, die
Kosten für die Olympischen Spiele abzuziehen. Man
könnte auch schon einmal an die Kosten für die Fußballweltmeisterschaft im nächsten Jahr denken. Sie können
sich eine Reihe von Ausweichkriterien ausdenken. Aber
damit höhlen Sie den Pakt aus. Sie wollen diesen Pakt
nicht, weil Sie nie den Zusammenhang zwischen Stabilität und Wachstum in der Volkswirtschaft verstanden haben. Das ist das Problem.
({7})
Der Kanzler und der Finanzminister tragen die Meinung vor, dass zu viel Gewicht auf Stabilität und zu wenig auf Wachstum liege, es heiße aber doch „Stabilitätsund Wachstumspakt“. Wenn das richtig wäre, dann
müsste jetzt irgendwann einmal, nachdem Sie dieses
Jahr das 3-Prozent-Kriterium zum vierten Mal in Folge
reißen, eine positive Entwicklung auf der WachstumsKlaus-Peter Willsch
seite eintreten. Aber das Gegenteil ist richtig: Die Weltwirtschaft wächst mit 5 Prozent, die Wirtschaft in
Europa mit 2,3 Prozent und Deutschlands Wirtschaft mit
1,5 Prozent. Das ist Ihre magere Bilanz. Außerdem befindet sich der Arbeitsmarkt im freien Fall. Man spricht
schon von offiziell 5,2 Millionen Arbeitslosen. Jeden Tag
gehen in Deutschland über 1 000 reguläre Beschäftigungsverhältnisse verloren. Diese Arbeitsplätze sind
futsch. Dafür sind Sie verantwortlich. Und Sie wollen einfach das Regelwerk ändern, nur weil Sie es nicht einhalten
können! Was ist denn das für eine miserable Politik?
({8})
Sie müssen sich einmal deutlich vor Augen führen,
was Sie mit Ihrer Politik in Europa anrichten. Beim Fall
des Eisernen Vorhangs und bei der Öffnung der EU haben wir uns vorgenommen, ein Europa der Stabilität zu
schaffen. Wir haben die Maastricht-Kriterien in den
Acquis communautaire aufgenommen. Dieses Regelwerk galt für Länder, die beitreten wollten und jetzt beigetreten sind. Es gilt auch für die Transformationsländer,
die dazukommen wollen, die also Kandidatenstatus haben. Diesen Ländern wird gesagt, sie müssten eine ordentliche Haushaltspolitik vorweisen, um Mitglied in
der Europäischen Union zu werden. Wie soll jemand an
der Spitze eines solchen Landes seiner Bevölkerung erklären, dass Anstrengungen notwendig sind und dass
man harte Schnitte machen muss, um die Strukturen zu
ändern, wenn wir, die wir diesen Pakt durchgesetzt haben, diejenigen sind, die mit diesem Pakt plötzlich nichts
mehr zu tun haben wollen? Damit versündigen Sie sich
an Europa. Wir waren auf einem guten Wege, ein Europa
der Stabilität zu schaffen.
({9})
Inzwischen werden von Ihren Büchsenspannern im
Finanzministerium - Frau Hendricks, Sie haben dies
zwar vorhin dementiert, aber es gibt offenbar entsprechende Überlegungen - Konjunkturprogramme angekündigt. Einige Tagesordnungspunkte später können Sie
heute ein Konjunkturprogramm ohne einen Steuereuro
beschließen. Da reden wir über die Zukunft des Luftverkehrsstandortes Deutschland. Sie sind nicht in der Lage,
dazu Ja zu sagen. Da geht es um eine Investition von
3,5 Milliarden Euro und um zusätzliche Arbeitsplätze.
Herr Kollege, es besteht die Bitte nach einer Zwischenfrage. Ihre Redezeit ist aber schon abgelaufen.
({0})
Ich erlaube Ihnen, diese Zwischenfrage zu beantworten.
Aber dann können Sie nicht mehr in Ihrer Rede fortfahren.
Es gibt vonseiten der SPD den dringenden Wunsch,
dass ich fortfahren darf.
({0})
Den mag es geben; aber den werde ich nicht erfüllen. - Bitte.
Bitte, die Zwischenfrage.
Herr Kollege Willsch, ist Ihnen bekannt, dass in diesem Haus, aber auch weit darüber hinaus die Bereitschaft besteht - Sie wissen das sicherlich als Mitglied
des Unterausschusses zu Fragen der Europäischen
Union -, die Bundesregierung dabei, die Kriterien einzuhalten, in der Weise zu unterstützen, dass wir uns darauf
verständigen, dass die Ausgaben für den künftigen
Finanzplanungszeitraum der EU auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzt werden sollen? Ich habe
gerade recherchiert, dass es einen gleich lautenden Kabinettsbeschluss der Bayerischen Staatsregierung gibt.
Sind Sie mit mir darin einig, dass damit die Aussagen
der Frau Staatssekretärin, die sie vorhin gemacht hat, widerlegt sind?
Herr Kollege Kalb, ich kenne kein CDU/CSU-regiertes Land, das für eine Ausweitung der Finanzierungsbasis der EU in dem Sinne ist,
({0})
wie das hier vorgetragen wurde. Ich glaube wohl, dass es
in der Bayerischen Staatsregierung einen einschlägigen
Beschluss dazu gibt. Wie gesagt, das gilt darüber hinaus
aber auch für andere unionsgeführte Länder.
Einen Appell richte ich zum Abschluss an den Kanzler, der sich anlässlich des Bush-Besuches bemüßigt
fühlte, an den Vergleich zu erinnern, wer Koch und wer
Kellner ist. Gerade an dem Beispiel des Ausbaus des
Flughafens in Frankfurt kann der Kanzler zeigen, ob er
den Kellner zum Laufen bringt und die Grünen endlich
bereit sind, Notwendigkeiten im Hinblick auf Zukunftsmärkte zu berücksichtigen, anzuerkennen, und er kann
dafür sorgen, dass investiert wird und Arbeitsplätze in
diesem Land entstehen und nicht das Gegenteil geschieht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses auf Drucksache 15/4915. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3957 mit
dem Titel „Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortset-
zen - Den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ausschusses? - Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Op-
positionsparteien angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/3719 mit dem Titel „Für eine stabile
Wirtschafts- und Währungsunion - europäischen Stabili-
täts- und Wachstumspakt nicht ändern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den
Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange-
nommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e sowie
Zusatzpunkt 1 auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Reisekostenrechts
- Drucksache 15/4919 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Erleichterung
der Verwaltungsreform in den Ländern
({0})
- Drucksache 15/4114 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Hochbaustatistikgesetzes
- Drucksache 15/4738 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Finanzausgleichsgesetzes
- Drucksache 15/4739 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung
- Drucksache 15/2417 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Faße, Uwe Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert
Schmidt ({5}), Volker Beck ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt verbessern - Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen
- Drucksache 15/4942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4114 soll
zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 28 a. Ich rufe
auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Indonesien
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/3882 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({8})
- Drucksache 15/4824 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({9})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Stimmt
jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen worden.
Ich rufe auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll
vom 26. August 2003 zu dem Vertrag vom
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
28. Februar 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Moldau
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/3883 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({10})
- Drucksache 15/4824 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({11})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen
worden.
Ich rufe auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juli
2000 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Palästinensischen
Befreiungsorganisation zugunsten der Palästinensischen Behörde über die Förderung und
den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/3884 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({12})
- Drucksache 15/4824 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({13})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte Sie wiederum, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Änderungs- und Ergänzungsprotokoll
vom 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zu
dem Vertrag vom 10. November 1989 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Volksrepublik Polen über die Förderung und
den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/3885 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({14})
- Drucksache 15/4824 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({15})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn
Sie zustimmen wollen. Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. März
2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Tadschikistan über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
- Drucksache 15/3886 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({17})
- Drucksache 15/4824 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({18})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4824, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({19}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Arbeitsdokument der Kommission
Einbeziehung von Umweltbelangen in andere
politische Bereiche - eine Bestandsaufnahme
des Cardiff-Prozesses
KOM ({20}) 394 endg.; Ratsdok. 10251/04
- Drucksachen 15/3696 Nr. 2.12, 15/4471 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Josef Göppel
Michael Kauch
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wohnungswesen ({21}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dirk Fischer ({22}), Gero
Storjohann, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Flexibilität für das Schaustellergewerbe
- Drucksachen 15/3490, 15/4483 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3490 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({23}) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stabilisierung und Weiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens
- Drucksachen 15/4043, 15/4693 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Minkel
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4043 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({24})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: § 122 a ({25})
- Drucksache 15/4798 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Dr. Ole Schröder
Volker Beck ({26})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 15/4703, 15/4779 Nr. 2.1,
15/4877 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 15/4703
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 184 zu Petitionen
- Drucksache 15/4856 Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 184 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
- Drucksache 15/4857 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 185 wurde ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 186 zu Petitionen
- Drucksache 15/4858 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 186 ist ebenfalls einstimmig
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 187 zu Petitionen
- Drucksache 15/4859 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 187 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 188 zu Petitionen
- Drucksache 15/4860 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 189 zu Petitionen
- Drucksache 15/4861 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Zusatzpunkt 2 a und 2 b:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht
- Drucksache 15/3423 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({35})
- Drucksache 15/4469 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Minkel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({36})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 249/04
- Drucksache 15/4944 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({37})
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Zusatzpunkt 2 a, den Gesetzentwurf des Bundesrats zur Änderung des Gesetzes über das Wohneigentum und das Dauerwohnrecht, Drucksache 15/3423. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf
Drucksache 15/4469, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Nun kommen wir zur Abstimmung über Zusatzpunkt 2 b, die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu einer Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksache 15/4944. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren
eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu
bitten, einen Prozessvertreter für den Deutschen Bundestag zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Klage des Landes Hessen gegen Finanzzuweisungen des Bundes an das „Kompetenzzentrum Bologna“ der Hochschulrektorenkonferenz - Konsequenzen für die auf europäischer
Ebene vereinbarte Reform des Hochschulwesens in Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Abgeordnete Ernst Dieter Rossmann das Wort.
({38})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der hessische Ministerpräsident Roland Koch hat
nun doch Verfassungsklage gegen das HRK-Förderprogramm … eingereicht. Koch gefährdet damit
einen bundesweiten Reformprozess, den auch das
Land Hessen bislang voll mitgetragen hat.
({0})
So lautete der entsprechende Kommentar des Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Herrn Professor
Gaehtgens. Er hat dazu noch klarer ausgeführt:
Koch torpediert ein sinnvolles Programm aus Gründen, die mit den Hochschulen nichts zu tun haben.
Wir erwarten von der CDU/CSU, dass sie heute Stellung dazu nimmt, ob sie gegen das Vorgehen Kochs ist
oder mit dem Torpedo Koch die Hochschulpolitik in
Deutschland blockieren will, hintertreiben will, kaputtmachen will.
({1})
Wenn es um das grundlegende Ziel ging, dass mit
dem 1997/1999 eingeleiteten so genannten Bologna-Prozess ein europäischer Hochschulraum zu schaffen ist, haben wir ja immer Einigkeit gehabt. Wir haben es gemeinsam für ausgesprochen sinnvoll gehalten.
40 europäische Staaten sind jetzt dabei. Wir sind stolz
darauf, dass in Deutschland in allen Hochschulgesetzen
- vom Bund bis zu den Ländern - das Fundament für
diesen Bologna-Prozess mit gelegt worden ist. Die Bildungsministerin des Bundes und die Vertreterin der Länder, Frau Erdsiek-Rave aus Schleswig-Holstein, konnten
neulich erst mitteilen, dass über 26 Prozent der Studiengänge schon umgestellt worden sind.
Es gibt ein breites Bündnis dafür, diesen sinnvollen
Prozess in Europa und in Deutschland konstruktiv auszubauen. Ich nenne als Mitwirkende der Arbeitsgruppe
„Fortführung des Bologna-Prozesses“ das Bundesbildungsministerium, die Kultusministerkonferenz, die
Hochschulrektorenkonferenz, den Deutschen Akademischen Austauschdienst, die Vereinigung der Studierenden; sie alle arbeiten daran. Die Studierenden klären auf
und werben, Gewerkschaften und Arbeitgeber sorgen
dafür, dass Abschlüsse anerkannt werden und Gewicht
bekommen, der DAAD führt ein mit EU- und Bundesgeldern finanziertes Programm durch und die Hochschulrektorenkonferenz tut das, was ihre Pflicht ist: Sie
will diesen Prozess vorantreiben und besser organisieren. Sie hat dazu eine breite Palette an Initiativen. Sie hat
zum Beispiel einen Wettbewerb ausgelobt, an dem sich
Hochschulen beteiligen können - von den 365 deutschen
Hochschulen haben sich 129 dafür interessiert -, in einem Auswahlprozess Mittel für sich zu gewinnen, um
beispielhaft an 20 Hochschulen verteilt über Deutschland ein Netzwerk mit personeller Unterstützung und
Kompetenz so aufzubauen, dass dieser europäische Bildungsprozess beispielhaft für alle Hochschulen steht und
von ihm gelernt werden kann. Die Projektmittel, die dafür notwendig sind, sind von der Hochschulrektorenkonferenz eingeworben worden. 4,4 Millionen Euro sollen
aufgeteilt werden; es hat erste Konferenzen dazu gegeben. Zum 1. April dieses Jahres soll das Projekt beginnen. So weit die Sachlage.
In dieser Situation strengt Herr Koch eine Verfassungsklage an! Dass das von der Hochschulrektorenkonferenz als empörende Blockade, Torpedierung, Unterbindung von etwas, was im Interesse aller sinnvoll ist,
wahrgenommen wird, darf niemanden wundern.
({2})
Über diese Empörung muss man sich umso weniger
wundern, als das Ganze eine Vorgeschichte hat: Die
Fachminister, alle Gutwilligen, die etwas für Bildung
und Forschung und Wissenschaft in Deutschland tun
wollen, haben sich schon einmal von den CDU/CSUMinisterpräsidenten bös hintergangen fühlen müssen: als
der Pakt für Forschung - für viele Jahre 3 Prozent Mittelzuwachs für die großen Wissenschaftsorganisationen
zu garantieren - aus nicht sachlichen Gründen hintertrieben worden ist, blockiert worden ist.
({3})
Man muss sich auch nicht wundern, dass sich die Repräsentanten von 365 Hochschulen in Deutschland von
der CDU/CSU hintergangen fühlen, wenn das Exzellenzprogramm blockiert wird: 1,9 Milliarden Euro für
die Exzellenz an Hochschulen, in einer sehr gut ausgearbeiteten programmatischen Form.
Da ist es natürlich die Spitze, wenn sich ein Ministerpräsident, der offensichtlich kein Verhältnis zu seinen
Hochschulen gewinnt - weil er sie weder in seinem Land
fördert
({4})
noch ihnen über die Hochschulrektorenkonferenz den
Freiraum lässt, sich selbst zu entwickeln -, hier jetzt
auch noch als „Torpedo“ - so Gaehtgens; Sie wissen,
was das bedeutet - betätigt. An der Stelle gibt es eine
kleine Hoffnung: Herr Koch ist der einzige solche Ministerpräsident.
({5})
Wir haben in dieser Debatte einen Wunsch: Wir wünschen uns, dass die CDU/CSU eine klare Antwort gegen
Herrn Koch findet, damit Herr Koch in der deutschen
Öffentlichkeit der Einzige bleibt.
({6})
Vor den Rektoren, vor den Studenten, vor den Hochschulen, vor der deutschen Öffentlichkeit muss heute
hier klar werden: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
sucht keine Ausflüchte, sie ergeht sich nicht in juristischen Kleinigkeiten, sie findet eine klare Linie zum Bologna-Prozess und zur Projektinitiative der Hochschulrektorenkonferenz - gegen Herrn Koch. Das ist Ihre
Gelegenheit; nutzen Sie sie! Oder Sie machen sich mitschuldig.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph
Bergner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Rossmann, wenn Sie mit Ihren Ausführungen
unterstreichen wollten, dass sich die deutsche Wissenschaftspolitik - und ich betone: Politik; gottlob! nicht
die deutsche Wissenschaft - in einer Krise befindet, so
können wir das gerne gemeinsam feststellen.
({0})
- Nein, nein, es wird gar nicht pastoral; ich fürchte, Sie
werden am Ende der Rede einen ganz anderen Eindruck
haben.
({1})
Wir sollten uns zunächst einmal klar machen, worum
es geht. Es geht zuerst darum, dass zwischen den Erwartungen und Ansprüchen der Politik und der öffentlichen
Finanzierung der Wissenschaft eine Lücke klafft. In dieDr. Christoph Bergner
ser Lücke bewegen sich der Bund und das Bundesministerium, die nur Zuwendungstitel zu verantworten und es
damit sehr viel leichter als die Länder haben, die sich mit
sehr viel verbindlicheren Personalausgaben herumschlagen müssen. Wenn Sie das vorurteilsfrei analysieren,
dann müssen Sie sagen, dass der Bund in dieser Frage
mit den Ländern in einer Weise umgeht, die zu einer
Diskussion geführt hat, in der man sachliche Einwände
gar nicht mehr von Finanzierungsvorbehalten unterscheiden kann. In diesem Finanzpoker werden nun auch
noch gezinkte Karten eingeführt,
({2})
weil man auf Einnahmetitel ohne rechtliche Voraussetzungen verweist, beispielsweise die Eigenheimzulage.
Bei all diesen Vorschlägen geht es Ihnen also nicht
um eine Lösung für unser Wissenschaftssystem, sondern
um die Außenwirkung. Beim Hören Ihres Debattenbeitrages habe ich den Eindruck gewonnen, dass es Ihnen
auch bei dieser Debatte mehr um die Außenwirkung als
um die Lösung eines wirklich vorhandenen Problems
geht.
({3})
Diese Propagandaschlacht verdeckt den prekärsten aller
Befunde: Noch nie in der Geschichte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung bzw. der Bundesministerien für Bildung und für Forschung hat es ein so
zerrüttetes Verhältnis zwischen dem Bund und den Verantwortlichen in den Ländern gegeben.
({4})
- Entschuldigung, wer sitzt denn im Bundesbildungsministerium und wer erstellt Novellen des Hochschulrahmengesetzes, die vor dem Verfassungsgericht scheitern?
({5})
Sie können doch keinen Vergleich mit früheren Verantwortungsträgern im Bundesbildungsministerium ziehen
und dabei Ihre Verantwortung für die völlig zerrütteten
Verhältnisse von sich weisen.
({6})
Nein, Frau Bulmahn hat ihre Politik mehr auf Außenwirkung denn auf Problemlösung und Moderation unterschiedlicher Länderinteressen ausgerichtet. Das ist unsere Kritik.
({7})
- Das gehört zum Thema.
({8})
In diesen Zusammenhang gehört auch eine Initiative,
die ich bereits in einer Fragestunde im November hinterfragt habe. Als ich den Parlamentarischen Staatssekretär
Kasparick gefragt habe, wie er die Länder in das Förderprogramm „Kompetenzzentrum Bologna“ einbezogen
hat, hat er mit dem ihm eigenen Charme des Überlegenen gesagt, das sei kein Förderprogramm.
({9})
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass
Herr Rossmann den Begriff „Förderprogramm“ in seinem Beitrag heute hier genannt hat. Über den Begriff
„Förderprogramm“ oder „Nichtförderprogramm“ will
ich gar nicht streiten, es geht mir um die schlichte Frage,
ob der Bund mit seinen Zuwendungsmitteln
({10})
laufend Programme durchführen und gewissermaßen
eine Rosinenpickerei anstatt einer mit den Ländern einvernehmlichen Politik betreiben kann, ohne sich mit den
Ländern abzustimmen; diese Abstimmung hat nämlich
nicht stattgefunden.
({11})
Ich verstehe den Antrag, den die Landesregierung
Hessen beim Bundesverfassungsgericht gestellt hat, so
({12})
- auch die anderen Anträge haben Sie so genannt -, dass
man sich in Verhältnissen, die wirklich als zerrüttet gelten müssen, zunächst einmal um die Klärung der rechtlichen Fragen bemühen muss, durch die das Bundesbildungsministerium endlich dazu gezwungen wird, sich
gegenüber den Ländern rechtstreu zu verhalten und die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir zu einer
Bildungs- und Forschungspolitik aus einem Guss kommen können.
({13})
Ich sage noch einmal: Die Wissenschaftspolitik in
Deutschland befindet sich in einer Krise, die wir ernst
nehmen sollten. Wenn wir so weitermachen, wie Frau
Bulmahn in den letzten Jahren vorgegangen ist, dann
wird aus der Krise der Wissenschaftspolitik eine Krise
der Wissenschaft.
({14})
Dies können wir nicht wollen. Wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, dies zu verhindern.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bergner, ich stelle fest: Sie haben die Chance, sich
in angemessener Weise von den Obstruktionsplänen des
Herrn Koch zu distanzieren, nicht wahrgenommen.
({0})
Es herrscht politisches Einvernehmen darüber, dass
unser Wissenschafts- und Hochschulsystem an einem
kritischen Punkt angelangt ist. Da bin ich relativ sicher.
({1})
Die Frage, um die es heute geht, muss lauten: Wie können wir unsere Hochschul- und Forschungseinrichtungen international weiter nach vorne bringen und sie besser machen? Darüber müssen wir uns unterhalten. Die
Frage, die uns bewegen sollte, ist, was zur Erreichung
dieser Ziele notwendig ist. Einerseits sind jede Menge
Strukturreformen notwendig, etwa mehr Finanz- und
Personalautonomie für die Hochschulen, mehr Möglichkeiten, inhaltliche Akzente und Profile herauszubilden,
und ein modernes Wissenschaftstarifvertragsrecht. Alles
in allem brauchen wir Strukturreformen.
({2})
Andererseits brauchen wir mehr Geld und mehr Zusammenarbeit.
({3})
Dieser Einsicht verweigern sich im Moment vor allen
Dingen drei Ministerpräsidenten, nämlich die Herren
Teufel, Stoiber und Koch. Das ist verantwortungslos.
({4})
Aus fadenscheinigen Kompetenzgründen blockieren Sie
mehr Mittel für Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Aber am schlimmsten ist, dass Stoiber, Teufel und
Koch Wissenschaftler und Studierende quasi in Geiselhaft nehmen, weil sie eitel auf ihre Alleinzuständigkeit
in Sachen Bildung und Hochschule pochen und jede Kooperation verweigern. Das muss man einmal feststellen.
({5})
Diese Herren blockieren den Pakt für Forschung und
Innovation, der den großen Forschungseinrichtungen einen jährlichen Mittelzuwachs von 3 Prozent für die
nächsten Jahre garantieren würde. Dazu kann ich nur sagen: Das ist verantwortungslos. Diese Herren blockieren
die Exzellenzinitiative zur Förderung unserer Universitäten. Die Universitäten wollen das Programm, weil es
ihnen in den nächsten Jahren 1,9 Milliarden Euro zusätzliche Mittel bringen würde. International findet dieses
Programm große Anerkennung. Wer aber will es nicht?
Wiederum die Herren Koch, Stoiber und Teufel.
({6})
Ich komme nicht umhin, dieses Verhalten als „bildungspolitische Sonthofenstrategie“ zu bezeichnen.
({7})
Offenbar soll die Situation an unseren Universitäten
noch schlechter werden, um ihren Zustand hinterher als
miserabel kritisieren und daraus ein politisches Süppchen kochen zu können. Auch das nenne ich verantwortungslos.
({8})
Den Vogel schießt jetzt aber Ministerpräsident Koch
ab - das muss ich schon sagen -, der dem Bund verbieten
will, den Bologna-Prozess, also die zügige Einführung
von Bachelor- und Masterstudiengängen in Deutschland,
modellhaft an einigen Hochschulen zu unterstützen. Da
kann man sich nur an den Kopf fassen. Ich frage mich:
Warum macht der Herr das? Will er den Universitäten
gezielt Mittel vorenthalten? Welche Strategie steckt dahinter? Ich kann beim besten Willen nichts anderes als
Obstruktion und bewusste Schädigung der Hochschulen
erkennen.
({9})
Das Ganze wäre eventuell halb so schlimm, Herr
Bergner, wenn Stoiber, Koch und Teufel erklärten, dass
sie das Geld vom Bund nicht annehmen, sondern die
Hochschulen selber unterstützen wollen. Was aber
kommt? Es kommt gar nichts.
({10})
Es kommen nur schöne Worte, aber kein zusätzliches
Geld. Das passt doch vorne und hinten nicht zusammen.
Man kann doch nicht das Geld des Bundes, der sich engagiert, ablehnen, weil er als nicht zuständig angesehen
wird, aber selber keinen Euro beisteuern wollen. Ich
frage Sie ernsthaft, wie Sie das kommunizieren wollen.
Damit werden Sie große Schwierigkeiten haben.
Es kommt sogar noch schlimmer. Die Leute, die den
Universitäten das Geld verweigern, blockieren im Bundesrat die Abschaffung der Eigenheimzulage und geben
lieber Geld für Beton aus, anstatt Geld in die Köpfe zu
investieren. Das passt doch alles nicht zusammen.
({11})
Herr Kollege Rossmann hat das wunderbar beschrieben. Deswegen will ich das gar nicht im Detail machen.
Sie sollten ernsthaft über Folgendes nachdenken: Wenn
sämtliche Wissenschaftsorganisationen, vertreten durch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den Wissenschaftsrat und die Hochschulrektorenkonferenz, die
CDU/CSU-geführten Länder bitten, sie aus der Geiselhaft zu entlassen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Nehmen Sie das ernst!
({12})
Stoppen Sie die hochschul- und forschungspolitische
Geisterfahrt der Herren Koch, Stoiber und Teufel! Stoppen Sie ihre Blockadepolitik im Bundesrat und helfen
Sie mit, Deutschland forschungs- und hochschulpolitisch wieder weiter nach vorne zu bringen. Darum geht
es. Nur das interessiert die Leute, nicht das Hin und Her
und das Pingpong, das teilweise hier gespielt wird.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
dem bedauerlichen Scheitern der Föderalismuskommission eine Politik der verbrannten Erde auf Kosten der
Hochschulen zu betreiben, halte ich für verantwortungslos. Sie schadet dem Forschungsstandort Deutschland.
({0})
Wir alle waren und sind uns darüber einig, dass wir angesichts der Globalisierung und angesichts der Tatsache,
dass Europa zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum bis 2010 entwickelt werden soll, vor großen
Herausforderungen stehen. Das bedeutet eben auch, dass
wir bei diesen Herausforderungen berücksichtigen müssen, dass vieles, was bisher anders gemacht worden ist,
neu gedacht werden muss. Man muss auch Bildung neu
denken. Wir werden eine Strategie entwickeln müssen,
in deren Rahmen Bund und Länder gemeinsam für Bildung und Forschung in Europa eintreten. Da nützt kein
kleinkariertes Denken,
({1})
auch nicht von Landesregierungen, die meinen, sie würden sich für die Hochschulen ihres Landes verwenden;
denn es geht hier um die Frage, wie viel Autonomie wir
den Hochschulen in unserem Lande zugestehen. Das ist
nämlich der Kern. Ich als Liberale sage ganz klar - wir
haben das auch in die Föderalismusdebatte eingebracht -: Es ist sinnvoll, den Hochschulen grundgesetzlich ihre Autonomie zu geben. Das heißt auch,
Autonomie der Organisation und Autonomie in der Organisation der benötigten Mittel zu gewähren. Wenn sie
diese volle Autonomie haben, dann werden das Einmischen und die Inkompetenz, die sich in manchen Entscheidungen der Politik zeigt, nicht mehr möglich sein.
Deswegen drängen wir weiterhin darauf, dass es diese
grundgesetzliche Verankerung gibt.
Ich will darauf hinweisen, dass die Klage des hessischen Ministerpräsidenten wie folgt begründet worden
ist:
Wir wollen mit der Klage verhindern, dass der
Bund ohne Zustimmung des Landes den Hochschulen … seine Vorstellungen … aufzwingt.
({2})
Das würde von uns auch vehement abgelehnt. Aber genau darum geht es eigentlich nicht.
({3})
Die Universität Konstanz schreibt zu Recht:
Der Vorwurf Kochs, mit der finanziellen Hilfe für
einzelne Hochschulen … greife der Bund verfassungswidrig in Länderrechte ein, ist geradezu abwegig. Die Umstellung herkömmlicher Diplomund Magisterstudiengänge auf Bachelor und Master
ist ein von Bund und Ländern gleichermaßen getragener Beschluss …
({4})
Die Umstellung … kann gerade angesichts der föderalen Struktur in Deutschland erfolgreich nur gelingen, wenn die Hochschulen auf das Angebot der
mit dem HRK-Programm intendierten bundesweiten Vernetzung und Abstimmung zurückgreifen
können.
({5})
Ich kann das nur unterstützen. Man weiß, wie die Wissenschaft darauf reagiert hat. Die hessischen Hochschulpräsidenten sind von der Klage der Landesregierung im
Bildungsstreit mit dem Bund wenig begeistert.
({6})
Sie sind entsetzt. Der Wiesbadener Fachhochschulpräsident Clemens Klockner zeigte sich, wie viele andere
Präsidenten auch, über die Klage entrüstet. Koch sei
doch selbst für die Einführung der Studiengänge gewesen. Mit dem Gang nach Karlsruhe handele er gegen die
Interessen der Hochschulen. Genauso sehen wir das.
({7})
Wir brauchen eine innovative Bildungs-, Hochschulund Wissenschaftspolitik. Sonst werden wir den internationalen Wettbewerb um den Spitzenstandort nicht gewinnen können. Ich sage ganz klar an die Union und
Herrn Dr. Bergner gerichtet: Sie tun sich keinen Gefallen
damit, dass Sie dieses Beispiel politisch gegen die Bundesregierung hochschaukeln. Es ist fast schon beschämend, dass ich das sagen muss.
({8})
Denn es kann hier nicht um parteipolitisches Kalkül gehen. Vielmehr muss es allen in diesem Hause, die wollen, dass Deutschland wieder Spitzenstandort wird, um
die Sache gehen.
In diesem Zusammenhang kann ich Sie nur auffordern: Wirken Sie auf Ministerpräsident Koch ein, dass er
die Klage zurückzieht! Sie war ein Fehlschritt und hilft
Deutschland nicht. Mit seiner Strategie, die dem Denken
eines Landesfürsten des 17. Jahrhunderts entspricht,
setzt er die Zukunft des Wissenschaftsstandorts Deutschland aufs Spiel.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Berg.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pieper, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Rede. Ich
glaube, wir waren selten so völlig einer Meinung, wie
bei diesem Punkt.
({0})
Das, was sich seit Monaten in der Hochschulpolitik
abspielt, trägt nämlich mittlerweile groteske Züge. Das
jüngste Beispiel dafür ist - es wurde schon mehrfach erwähnt - Roland Kochs Klage, die Anlass zu dieser Aktuellen Stunde gab. Er will verhindern, dass die Hochschulen bei der Studiengangreform unterstützt werden.
Vergangenen Freitag haben sich deshalb auch die führenden Wissenschaftsorganisationen mit einem Hilferuf
an die Öffentlichkeit gewandt. Professor Gaehtgens, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, hat wörtlich
festgestellt:
Die Hochschulen warten auf diese Initialzündung.
Eine mögliche Blockade bedeutete einen enormen
Schaden für das deutsche Hochschulwesen.
({1})
Ministerpräsident Koch sollte überlegen, ob er diesen verantworten kann … Es gibt keine sachlichen
Gründe für die Verweigerungshaltung des Ministerpräsidenten.
({2})
Ich verstehe deshalb nicht, warum Sie sich so dahinter
stellen, Herr Dr. Bergner.
({3})
Bund und Länder haben sich 1999 verpflichtet, bis
zum Jahr 2010 europaweit vergleichbare Studiengänge
- die Bachelor- und Masterstudiengänge - an den Hochschulen einzuführen. Von diesem Ziel ist das deutsche
Hochschulsystem noch weit entfernt. Es liegt auch im
europäischen Vergleich eher zurück.
Bisher machen Bachelor- und Masterabschlüsse
26,3 Prozent des gesamten Studienangebots aus.
716 dieser knapp 3 000 Studiengänge sind akkreditiert.
Um den Reformprozess zu forcieren, hat die HRK
- wohl gemerkt: nicht die Bundesregierung - ein Förderprogramm entwickelt. Mir ist es letztlich völlig
schnuppe, ob es Förderprogramm oder Kompetenzzentrum genannt wird; es geht um die Sache, Herr
Dr. Bergner. Den Hochschulen werden Expertinnen und
Experten zur Seite gestellt, die sie bei der konkreten
Umsetzung der Bologna-Ziele organisatorisch und konzeptionell unterstützen. Das Bundesbildungsministerium
möchte, wie Sie wissen, dieses Projekt mit 4,4 Millionen
Euro unterstützen. Das aber will Roland Koch verhindern.
Wirklich überrascht waren wir von diesem Vorgehen
allerdings nicht. Denn Ihre Kolleginnen und Kollegen
aus den Ländern blockieren die Exzellenzinitiative und
den Pakt für Forschung und Innovation. Jetzt blockieren
Sie auch noch die Studienreform.
({4})
Verlässlichkeit ist für die CDU/CSU mittlerweile zum
Fremdwort geworden. Es ist zu Ihrer Lieblingsstrategie
geworden, erst einmal Ja und kurze Zeit später doch lieber Nein zu sagen.
({5})
Beispiel Exzellenzinitiative: Hierzu liegt ein unterschriftsreifer Vorschlag vor. Die Wissenschaftsminister
von Bund und Ländern waren sich noch im November 2004 einig, dass er umgesetzt werden sollte. Graduiertenschulen, Exzellenzcluster und Spitzenuniversitäten sollten danach mit 1,9 Milliarden Euro gefördert
werden.
Die Exzellenzinitiative wird im Ausland mit großen
Erwartungen als Zeichen der Reformfähigkeit Deutschlands wahrgenommen. Das haben der Wissenschaftsrat,
die DFG und die HRK letzte Woche betont. Aber die
Ministerpräsidenten der CDU/CSU-geführten Länder
verhindern die Umsetzung. Genau dasselbe Verfahren
wird beim Pakt für Forschung und Innovation angewandt. Mit diesem Pakt bekämen die außeruniversitären
Forschungseinrichtungen die finanzielle Planungssicherheit, die sie immer wieder von uns einfordern.
Der Bund würde die jährlichen finanziellen Zuwendungen bis 2010 um mindestens 3 Prozent pro Jahr steigern. Im Gegenzug müssten die Forschungs- und Wissenschaftsorganisationen zusätzliche Maßnahmen ergreifen,
um Qualität, Effizienz und Leistungsfähigkeit zu steigern.
({6})
Der Pakt brächte also mehr Geld für die Forschung, aber
auch mehr Forschung für das Geld. Auch hier hatten sich
Bund und Länder bereits geeinigt. Aber nun wird das
Vorhaben durch die B-Länder ebenfalls blockiert. Während sich Ihre Kollegen aus den Bundesländern mit Händen und Füßen gegen die Unterstützung des Bundes für
die Hochschulen wehren, haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, letzte Woche eine
Vollkostenfinanzierung der Forschung an Hochschulen
durch den Bund gefordert. Eine klare Linie ist bei Ihnen
beim besten Willen nicht mehr zu erkennen.
({7})
Im Ergebnis läuft Ihre Politik - das ist das Schlimme eigentlich immer auf das Gleiche hinaus: Am Ende bewegt sich nichts mehr.
({8})
Daher bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, noch einmal ganz eindringlich: Beenden Sie Ihre Angriffe auf die deutsche Wissenschaft
und sorgen Sie dafür, dass die erforderlichen Programme
unverzüglich in die Tat umgesetzt werden! Das erwartet
- zu Recht - die deutsche Wissenschaft von uns allen
und wir sind es der deutschen Wissenschaft auch schuldig.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir greifen nicht Wissenschaft und Forschung
an,
({0})
sondern nur schlechte Politik. Ich möchte ausdrücklich
klarstellen: Die Union unterstützt den Bologna-Prozess
mit Nachdruck und Entschlossenheit.
({1})
Die unionsgeführten Bundesländer gehören zu den
Schrittmachern des Bologna-Prozesses.
({2})
Gerade Hessen hat in den letzten Monaten enorme
Schritte unternommen, um seine Hochschulen an die Bedürfnisse des europäischen Hochschulraums anzupassen.
({3})
Unser Eintreten für die Ziele des Bologna-Prozesses
darf aber nicht dazu führen, dass wir einen weiteren Verfassungsbruch gutheißen. Bei aller Begeisterung für den
Bologna-Prozess müssen wir die Kompetenzverteilung
des Grundgesetzes beachten. Eine Neuordnung der
Kompetenzen durch die Hintertür ist mit uns nicht zu
machen.
({4})
Wir sind nicht bereit, nach dem Motto „Wo kein Kläger,
da kein Richter“ stillzuhalten und den Geldfluss an die
HRK contra legem zu dulden.
({5})
Ihre Methode hat System. Seit 1998 versuchen Sie unentwegt, mit einer Politik des goldenen Zügels Abhängigkeiten durch Einmalzahlungen zu schaffen und die
Bundesländer dabei zu hintergehen.
({6})
Ihr Vorgehen in Sachen Bologna-Förderung ist nur eine
neue Variante dieser alten Masche.
({7})
Kompetenzgrundlagen für ein alleiniges Handeln des
Bundes sind weit und breit nicht ersichtlich.
({8})
Damit fallen die Durchführung des Programms zur Förderung des Bologna-Prozesses und seine Finanzierung
eindeutig in den Kompetenzbereich der Bundesländer.
({9})
Um diese Sachlage zu verschleiern, fließen die Gelder
nun an die Hochschulrektorenkonferenz. Somit umgeht
der Bund bewusst und gewollt die Verfassung. Sie missachten die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.
Pressekonferenzen, auf denen neue Förderprogramme
wie weiße Kaninchen aus dem Hut gezaubert werden,
stehen für einen schlechten politischen Stil. Bevor sich
die Frau Ministerin wieder als Zauberin betätigt, sprechen Sie doch lieber mit den Bundesländern
({10})
und stimmen Sie Ihr Vorgehen mit den entsprechenden
Gremien ab. In den Rahmenvereinbarungen der Bund/
Länder-Kommission ist klar und deutlich geregelt, wie
der Entscheidungsprozess bei gemeinsamen Projekten
laufen muss. Maßen Sie sich also nicht mehr Rechte an,
als Ihnen zustehen.
({11})
Wenn Landesminister aus der Presse von Ihrem Bologna-Programm Kenntnis erlangen, dann ist das Kind
schon in den Brunnen gefallen. Dann dürfen Sie sich
nicht über Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht
wundern. Sie zerstören damit dauerhaft Vertrauen.
({12})
Gegenseitiges Vertrauen ist aber notwendig, um die Herausforderungen des Bologna-Prozesses gemeinsam
meistern zu können. Ihr jetziges Vorgehen ist dagegen
kontraproduktiv und hemmt geradezu das effektive Erreichen der Bologna-Ziele.
({13})
Durch Ihr Bologna-Programm werden die Hochschulen
gezwungen, die alten Studiengänge ohne Rücksicht auf
Verluste in Bachelor- und Masterstudiengänge umzuwandeln.
({14})
Aus Vertrauensschutzgründen müssen die alten Studiengänge aber weiterlaufen. Mit Ihrem Vorgehen provozieren Sie teure Parallelstrukturen an den Hochschulen. Für
Mehrkosten müssen die Bundesländer aufkommen.
Genau diese Zuckergusspolitik ist es, die die Länder
auf die Barrikaden treibt.
({15})
Ob Ganztagsschule, Juniorprofessur, Eliteuniversität überall will der Bund einmalig Euros spendieren und den
Applaus der Öffentlichkeit kassieren,
({16})
derweil die Länder auf den Folge- und Mehrkosten sitzen bleiben. Diese ruinöse Schaufensterpolitik zulasten
der Länder muss ein Ende haben. Allein darum geht es.
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Josef Fell.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Klage des Landes Hessen gegen das
Kompetenzzentrum Bologna ist der vorläufige Höhepunkt des Angriffs der unionsregierten Länder auf den
Bildungsstandort Deutschland.
({0})
Ministerpräsident Koch geht es hierbei nicht um die
Stärkung der Hochschulen, nicht um die notwendige
Umsetzung von Beschlüssen der europäischen Staaten
1999 in Bologna zur Stärkung und Angleichung von
Hochschulabschlüssen. Nein, es geht Ministerpräsident
Koch und übrigens mit ihm zusammen den Ministerpräsidenten Teufel und Stoiber ausschließlich um die
machtpolitische Verhinderung jeglichen Einflusses des
Bundes auf die Bildung.
({1})
Natürlich stehen wir zur verfassungsgemäßen Bildungshoheit der Länder. Diese steht nicht zur Debatte.
Vielmehr geht es um die Frage, ob der Bund dort mithelfen und Kooperationsangebote machen darf, wo die Länder offensichtlich nicht in der Lage sind, ausreichende
Grundlagen für eine Verbesserung der Bildung zu schaffen.
({2})
Wir haben Erfahrung darin, was es bedeutet, wenn
alleinige Länderhoheit im Bildungsbereich wirkt. Im
Bereich der schulischen Bildung haben die vielen PISAErgebnisse gezeigt, dass Länderhoheit kein Garant für
ein hohes Bildungsniveau ist.
({3})
Diese Erkenntnis müsste Herrn Koch und übrigens auch
Herrn Stoiber, der aus den gleichen machtpolitischen
Gründen heraus sogar die Föderalismuskommission
scheitern ließ, zu der Erkenntnis führen, dass wir gemeinsam mit Bundesunterstützung die Qualität und Finanzausstattung der Schulen und Hochschulen verbessern sollten.
({4})
Es ist richtig, dass wir mit besserer Finanzausstattung
der Hochschulen und Schulen Bildung verbessern können. Aus den genannten machtpolitischen Gründen haben die unionsregierten Länder die Finanzmittel des
Bundes für Gesamtschulen in Höhe von 4 Milliarden
Euro aber ursprünglich abgelehnt. Inzwischen entfalten
diese Bundesmittel selbst in den südlichen Bundesländern ihre positive bildungspolitische Wirkung.
({5})
Des Weiteren lehnen sie die 285 Millionen Euro pro
Jahr ab, die der Bund für die Förderung der Universitäten im Wettbewerb um die Exzellenz an den Hochschulen geben will.
Sie blockieren bei der Eigenheimzulage 60 Millionen
Euro in diesem Jahr für den dringend notwendigen
Hochschulbau und sparen damit sogar ihren eigenen
Beitrag von 60 Millionen Euro. Das ist ein 120-Millionen-Euro-Schaden für die Hochschulen allein in diesem
Jahr durch Ihre verfehlte Politik.
({6})
Gleichzeitig blockieren Sie zig Millionen Euro Forschungsmittel, die von den Hochschulen ebenfalls abgerufen werden könnten, und verhindern dadurch, dass ein
Vielfaches des Betrages dieser Forschungsmittel aus der
privaten Wirtschaft mit fließen kann.
Nun klagt das Land Hessen sogar noch wegen der
4,4 Millionen Euro Bundesmittel für die notwendige Beratung durch Kompetenzzentren im Bologna-Prozess.
Man sollte nun meinen, dass die unionsregierten Länder eigene Anstrengungen unternähmen, um das von ihnen selber in der letzten Woche beklagte Finanzloch der
Hochschulen auszugleichen.
({7})
Aber auch hier Fehlanzeige. Nicht einmal die
85 Millionen Euro, die von den Ländern im letzten Dezember für die Exzellenzinitiative in Aussicht gestellt
wurden, fließen an die Hochschulen, geschweige denn
die vielen Hundert Millionen Euro Bildungs- und Forschungsmittel, die der Bund zugesagt hat, die Sie aber
blockieren.
Offensichtlich liegt Ihnen nichts an einer wirklichen
Verbesserung von Bildung und Forschung an Schulen
und Hochschulen in Deutschland. Aus machtpolitischen
Gründen nehmen Sie, meine Damen und Herren von der
Union, unter dem Deckmantel der Länderhoheit eine
gravierende Schwächung der Bildung in Deutschland in
Kauf.
({8})
Doch das, meine Damen und Herren von der Union,
wird Ihnen die Gesellschaft nicht mehr länger abnehmen. Zu Recht finden im Moment zunehmend Studentenproteste statt. Ich persönlich weiß genau, wie die verfehlte Schulpolitik in Bayern die Eltern auf die
Barrikaden treibt. Endlich wachen auch die Hochschulrektoren auf. Die dpa berichtet, dass die hessischen
Hochschulpräsidenten von der Klage ihres Ministerpräsidenten wenig begeistert sind. Ihnen sei es egal, woher
das notwendige Geld kommt. Wenn die Länder schon
nicht zahlen, dann sind sie froh, wenn wenigstens der
Bund einspringt. So viel zu Ihrer Behauptung, Frau Seib,
dass in Hessen vieles getan werde.
({9})
Auch die Sprecher der Allianz der Wissenschaftsorganisationen und der Hochschulrektorenkonferenz haben dieses bildungs- und wissenschaftsfeindliche Verhalten der Union in klarer und scharfer Form kritisiert.
Der einhellige Protest von Eltern, Studenten, Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen muss Sie, meine
Damen und Herren der Union, doch endlich zur Vernunft
bringen.
({10})
Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zurück zu einer vernünftigen Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Zusammenarbeit mit Bund und Ländern! Die bildungspolitischen Herausforderungen in Deutschland sind viel zu
groß, als dass sie den machtpolitischen Spielen der
Union geopfert werden dürfen.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Wicklein.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man muss sich doch einfach einmal die Frage
stellen: Was erwarten die Menschen von uns Politikern?
Ich sage Ihnen, was sie erwarten - wenn man unterwegs
ist, kann man das auch überall hören -: Sie erwarten von
uns Politikern, dass wir die Verantwortung gemeinsam
übernehmen und uns nicht im machtpolitischen Hickhack verfangen.
({0})
Sie erwarten von uns Politikern, dass wir ihnen Perspektiven aufzeigen und dass wir unserer Verantwortung für
den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland gerecht werden.
Verantwortung übernehmen heißt, Lösungen aufzuzeigen und zu handeln. Das heißt nicht, schlechtzureden
und auf der anderen Seite zu verhindern und zu blockieren, wenn Lösungsansätze auf dem Tisch liegen. Das Pokern um Macht bringt uns nicht weiter; die Menschen
haben das auch satt. Heute ist Handeln gefragt.
({1})
Wir haben dadurch, dass wir unsere bundespolitischen Prioritäten auf Bildung, Wissenschaft und Forschung gesetzt haben, schon viel erreicht. Laut einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung
investieren Unternehmen wieder stärker in Innovationen. Junge Forscherinnen und Forscher kehren nach
Deutschland zurück. Die Studierendenzahlen bezogen
auf einen Jahrgang sind von 1998 bis heute um 8 Prozent
auf 36 Prozent angestiegen.
Dennoch kann uns diese Situation nicht zufrieden
stellen: überfüllte Hörsäle an unseren Hochschulen, zu
lange Studienzeiten, nach wie vor zu hohe Abbrecherzahlen, zu wenig Vernetzung von Forschung und Wirtschaft. Unsere Ziele sind deshalb klar: Bund und Länder
haben sich auf die Realisierung des gemeinsamen europäischen Hochschulraumes im Bologna-Abkommen verständigt. Wir wollen gemeinsam das Ziel von Lissabon
erreichen, unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
zu steigern.
({2})
Die Zeit zum Handeln wird immer knapper. Jeder muss
wissen, dass wir dies nur miteinander erreichen können.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege wäre die Umsetzung der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern.
Von den 1,9 Milliarden Euro würde der Bund allein
1,5 Milliarden Euro übernehmen. Damit eng verbunden
ist der Pakt für Forschung und Innovation, mit dem die
großen Forschungsorganisationen jährlich rund 100 Millionen Euro mehr bekommen würden. Die Wissenschaftsorganisationen warten darauf.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz und der Wissenschaftsrat fordern in einer gemeinsamen Erklärung die Umsetzung
von Pakt und Exzellenzinitiative.
({3})
Das Gleiche trifft auch auf die Förderung des Kompetenzzentrums Bologna durch den Bund zu. Es ist Zeit,
Farbe zu bekennen, sehr geehrte Damen und Herren von
der Opposition.
({4})
- Richtig, nur die von der Union; das habe ich heute mit
Freude gehört.
Unsere Studierenden an den Hochschulen, unsere
Forscherinnen und Forscher können nicht länger warten.
Wir legen jetzt das Fundament für die Zukunft. Deshalb
appelliere ich an die Union in Bund und Ländern, sich
dieser Verantwortung bewusst zu werden und ihr machtpolitisches Poker zu beenden.
({5})
Was sagen uns denn die Pläne zur Kürzung um
20 Millionen Euro an den Unis in Bayern?
({6})
Was sagt uns denn der Hilferuf der hessischen Universitäten nach besserer finanzieller Unterstützung durch das
Land?
({7})
- Ich sage, Herr Dr. Bergner: Kein Bundesland kann
diese Aufgaben allein bewältigen.
({8})
Notwendig ist vielmehr eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern. Wir brauchen einen sachlichen, konstruktiven Dialog auf allen Ebenen, der nicht
Selbstzweck ist, sondern den wir im Interesse der Studierenden sowie der Forscherinnen und Forscher in unserem Land führen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den
Menschen in unserem Land die Frage beantworten, was
wir konkret tun, um hier Arbeitsplätze zu schaffen. Wir
alle wissen, dass dies nicht solche an Fließbändern sein
werden. Unser Plus sind die kreativen Köpfe und Ideen.
Daran müssen wir unser Bildungs- und Wissenschaftssystem ausrichten.
Enden möchte ich mit einem passenden Zitat aus dem
„Tagesspiegel“ vom 19. Februar, das ich Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nicht vorenthalten möchte:
Stellen wir uns ein Kind vor, dessen Eltern gerade
geschieden wurden. Das Gericht hat das Sorgerecht
dem Vater zugesprochen, nicht der Mutter. Doch es
ist die Mutter, die dem frierenden Kind Schuhe kaufen möchte. Das will der Vater nicht zulassen. Die
Mutter soll endlich aufhören, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen! - Dann kauft doch bestimmt der Vater dem Kind die Schuhe? - Irrtum.
Der Mann kann und will das nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helge Braun.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
({0})
Die Redner von Rot-Grün heute in dieser Debatte haben
für mich ein erschreckendes Bild gezeichnet, was ihr
Verständnis von der deutschen Verfassung angeht.
({1})
Wer bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit davon
spricht, dass es dabei um juristische Kleinigkeiten, Prozesshanselei, unkonventionelle Hilfe, Formalismus,
Machtpolitik oder Hickhack geht,
({2})
der hat wirklich kein Recht, zu sagen, dass er auf dem
Boden der Verfassung Politik macht.
({3})
Es geht hier überhaupt nicht um die Frage, ob die
Hochschulen gut Geld gebrauchen können,
({4})
sondern es geht hier um die Frage: Ist denn, wenn es
Geld gibt, am Ende die Verfassung egal?
({5})
Das, meine Damen und Herren, ist nicht der Fall.
({6})
In der Debatte heute haben Sie immer wieder den Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz als Kronzeugen angeführt und die gestrige Pressekonferenz von
Hochschulrektorenkonferenz, Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft erwähnt.
({7})
Es gibt noch andere Zitate von dem gleichen Präsidenten
Peter Gaehtgens. Er hat der Bundesregierung auch empfohlen - ich zitiere aus der „Welt“ vom 19. Februar 2005 -,
künftig die von der Verfassung gegebenen und durch das
Karlsruher Urteil zu den Studiengebühren unterstrichenen Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Ländern zu
akzeptieren und auf Dialog zu setzen. Auch das gehört
zur Wahrheit!
({8})
Die Bundesregierung versucht konsequent - einmal
durch die Juniorprofessur und zum anderen durch das
Verbot der Studiengebühren -, durch Rechtsetzung in
die Kompetenzen der Länder einzugreifen. Bei der
Ganztagsschule oder jetzt im Falle des Bologna-Prozesses wird versucht - mit der Rechtsetzung ist man vor
dem Verfassungsgericht ja gescheitert -, mit dem goldenen Zügel des Geldes zu bestimmen. Sie wissen genau:
Bildungspolitik - das ist meine tiefe Überzeugung - darf
nicht dadurch gestaltet werden, dass gesagt wird: Na ja,
es gibt Gelder vom Bund; dann müssen wir sie abrufen.
Sollen wir das vielleicht sein lassen? - Bildungspolitische Entscheidungen müssen politisch getroffen werden.
Der politischen Entscheidung folgt das Geld und nicht
umgekehrt.
({9})
- Die Botschaft der Aktuellen Stunde heute, Herr Kollege Rossmann, ist eine ganz andere. Schon allein im
Thema der Aktuellen Stunde, die Sie für heute beantragt
haben, nämlich Folgen der Klage für den Bologna-Prozess, ist im Grunde genommen ein Schuldeingeständnis
enthalten. Sie rechnen also damit, dass die Klage Erfolg
hat. Wenn die Klage nämlich abgewiesen würde, wäre
die Antwort auf die Frage nach den Folgen relativ leicht:
keine Folgen.
({10})
Wenn aber vor dem Verfassungsgericht auch diese Klage
Bestand hat, dann hat das Folgen. Die Tatsache, dass Sie
sich um die Folgen Sorgen machen, ist letzten Endes
schon das Schuldeingeständnis,
({11})
dass Sie fest damit rechnen, dass die Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird.
({12})
Der hier zum Teil erweckte Eindruck, Hessen wolle
damit den Bologna-Prozess torpedieren - diese etwas
militaristische Sprache haben Sie ja in diesem Zusammenhang gebraucht -,
({13})
ist falsch. Es geht nicht um die Beeinflussung des Bologna-Prozesses. Hessen ist ja sogar Vorreiter beim Bologna-Prozess.
({14})
Die hohe Zahl bereits akkreditierter Studiengänge macht
das deutlich.
({15})
Hessen wird seiner Rolle beim Bologna-Prozess in eigener, souveräner Verantwortung durchaus gerecht und
braucht an dieser Stelle keine Handlungsanweisungen
des Bundes.
Nun zur Föderalismuskommission und ihrer Arbeit:
Eine Föderalismusreform in Deutschland ist notwendig
und wünschenswert. Aber dem Versuch des Bundes, in
den Bildungswettbewerb der Länder einzugreifen, erteilt
die Union eine klare Absage. Die Diskussion um den Föderalismus auf dem Rücken der Bildung ist unerträglich.
Die Tatsache, dass Sie heute in einer solchen Art und
Weise versucht haben, die Klage des Landes Hessen für
sich zu instrumentalisieren, macht den schon entstandenen Schaden nur noch größer.
({16})
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Kasparick.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer heute
Vormittag der Debatte in diesem Hohen Hause gefolgt
ist, hat eine der Sternstunden europäischer Politik erleben können. Ministerpräsident Erwin Teufel hat eine,
wie ich fand, großartige europäische Rede gehalten und
ist dafür vom Außenminister dieser Republik auch ausdrücklich gelobt worden. Der Kanzler war persönlich bei
ihm, um sich für diese Rede zu bedanken.
Das, was wir jetzt hier erleben, steht im Gegensatz zu
dieser großen europäischen Stunde und ist einfach eine
Schande.
({0})
Es ist eine Schande angesichts der Tatsache, dass wir
über einen der wichtigsten europäischen Reformprozesse reden, nämlich über die Frage, was die Hochschulen und Universitäten dazu beitragen können, um den
Raum Europa zu gestalten. 40 Länder Europas haben
sich auf einen Prozess verständigt, bei dem die Hochschulen vorangehen sollen. Man nennt diesen Prozess
dem Ort nach, wo er verabredet worden ist, den Bologna-Prozess. 40 Staaten bilden damit eine neue Gemeinschaft in Europa.
Dann gibt es so großartige Europäer wie Herrn
Dr. Bergner aus Halle,
({1})
dessen Universität sich im Wettbewerb der Hochschulrektorenkonferenz bewährt hat und die eine der wenigen
Universitäten ist,
({2})
die an dem von der Hochschulrektorenkonferenz ausgelobten Wettbewerb teilnehmen darf und entsprechende
Unterstützung erhalten soll. Herr Dr. Bergner, ich als
Mitglied dieser Bundesregierung fordere Sie von diesem
Platz auf, diese Frage, die heute Gegenstand der Plenardebatte ist, noch einmal am Hochschulstandort Halle in
Gegenwart des Rektors der Universität Halle öffentlich
zu diskutieren.
({3})
Dann können Sie dem Rektor der Hochschule Halle einmal Ihre Position erklären.
({4})
Die Konsequenz aus Ihrem heutigen Verhalten ist,
dass der Universität Halle eine dringend notwendige Unterstützung
({5})
verweigert wird. Dabei bitten uns die Universitäten darum.
({6})
Es haben sich 129 Universitäten gemeldet, um an dem
Wettbewerb teilzunehmen. Nach den strengen Kriterien,
die nicht vom Bund, sondern von der Hochschulrektorenkonferenz aufgestellt worden sind, dürfen davon nur
20 daran teilnehmen.
Ich bin sehr neugierig, wie Sie Ihre Haltung insbesondere den ostdeutschen Universitäten erklären wollen. Sie
sagen zwar, Sie wollten ihnen auf dem Weg nach Europa
helfen, aber verweigern diese Unterstützung. Ich bin
sehr neugierig, wie Sie das Herrn Professor Grecksch in
Halle erklären wollen.
({7})
Ihre hier gezeigte europapolitische Kompetenz ist
nicht überzeugend. Weil Sie mich vorhin darauf persönlich angesprochen haben, wiederhole ich es: Es handelt
sich nicht um ein Förderprogramm des Bundes, sondern
um ein Projekt der Hochschulrektorenkonferenz.
({8})
Nun wird immer gesagt, wir hätten nicht mit den Ländern geredet. Dies ist definitiv falsch.
({9})
Der Bologna-Prozess ist gemeinsam zwischen Bund und
Ländern verabredet worden.
({10})
Deswegen hat der Bund, vertreten durch die Bundesministerin, den Zwischenbericht zum Bologna-Prozess
auch gemeinsam mit der Vertreterin der Länder präsentiert.
Da es sich hierbei um eine gemeinsam verabredete
Anstrengung auf dem Weg nach Europa handelt, fordere
ich Sie von dieser Stelle aus auf: Hören Sie auf mit der
Falschaussage, der Prozess sei mit den Ländern nicht abgestimmt. Das Gegenteil ist richtig.
({11})
Die Ministerpräsidenten haben gesagt: Wir wollen diesen Prozess.
Wenn Sie sagen, der Bund wolle sich Kompetenzen
im Hochschulbereich anmaßen, dann erlaube ich mir,
damit es da überhaupt kein Vertun gibt, noch einmal den
zarten Hinweis: Auf Bitten der Hochschulen hat die
Hochschulrektorenkonferenz zu einem Wettbewerb aufgerufen, in dem sich 20 Universitäten und andere Hochschulen durchgesetzt haben. Die Universitäten bitten
dringend um Unterstützung im Bologna-Prozess. Ich
will nur noch einmal deutlich machen, um welche Dimension es sich dabei handelt. Die Verpflichtung - eine
Verpflichtung der Ministerpräsidenten und des Bundes lautet, dieses Ziel bis 2010 zu erreichen. Das heißt, wir
haben noch fünf Jahre Zeit, aber erst knapp 26 Prozent
der deutschen Hochschulen beteiligen sich daran.
({12})
Wenn wir nicht deutlich an Tempo zulegen, dann werden wir das, worauf wir uns zwischen Bund und Ländern
gemeinsam verständigt haben, nicht erreichen. Deswegen bin ich der festen Überzeugung: Das, was wir jetzt
gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz auf
Wunsch der Hochschulen machen, ist nur ein kleiner
Beitrag. Eigentlich wäre sehr viel mehr erforderlich; sofern Sie mit den Hochschulen reden, wissen Sie das
auch.
Deshalb mahne ich zur Vorsicht, wenn Sie das Argument Verfassung bemühen. Diesen Prozess haben wir
gemeinsam verabredet. Im Übrigen haben sich die
Hochschulen nach den politischen Vorgaben ihrer Landesregierungen zu richten. Worum es im Kern geht, will
ich Ihnen aus einer öffentlichen Pressemitteilung zitieren, auch wenn mir diese Sprache zu zitieren schwer
fällt; aber ich zitiere einfach einmal das hessische Kultusministerium:
Wir müssen uns erneut gegen einen Versuch von
Frau Bundesministerin Bulmahn zur Wehr setzen,
sich hinter dem Rücken der Länder Zuständigkeiten
zu erschleichen.
({13})
- Es ist falsch. Wir haben den Bologna-Prozess mit den
Ländern verabredet. Sie gehen hier von objektiv falschen Tatsachen aus. Das ist Ihr Problem.
({14})
Dazu gibt es eine gemeinsame Verabredung. Im Übrigen
geht es hier überhaupt nicht darum, sich etwas zu erschleichen, sondern um die Frage, was uns nach vorn
bringt, hin zum europäischen Forschungsraum. Ich kann
Sie nur dringend bitten, uns dabei zu unterstützen. Die
Kollegen der Koalitionsfraktionen haben das Angebot
des Bundes schon einmal verdeutlicht: 1,9 Milliarden Euro
für die Exzellenzinitiative - Sie lehnen ab; zusätzliches
Geld im Umfang von 10 Milliarden Euro aus der Eigenheimzulage ins System für Bildung und Forschung - Sie
lehnen ab.
({15})
Der Bund bietet zusätzlich den Pakt für Forschung an,
damit die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft oder
die WGL zusätzliches Geld bekommen - Sie lehnen ab.
Jetzt wollen wir den Hochschulen auf deren Anforderung helfen, damit wir in Europa endlich ankommen Sie lehnen ab.
Von dieser Stelle aus fordere ich Sie ausdrücklich auf:
Hören Sie auf, die deutsche Wissenschaft auf diese
Weise so schwer zu beschädigen!
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Axel Fischer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss Ihnen
ganz ehrlich sagen: Als ich auf der Tagesordnung gelesen habe, dass vonseiten der SPD diese Aktuelle Stunde
beantragt wird,
({0})
habe ich mich gewundert. Ich habe mich gefragt, warum
die SPD darüber sprechen will, dass ein Land eine Klage
vor dem Verfassungsgericht einreicht, um herauszufinden, ob das, was die Bundesforschungsministerin
möchte, verfassungsmäßig ist oder nicht.
({1})
Eigentlich hätte ich erwartet, dass Sie sich zurücklehnen,
weil Sie der Auffassung sind, dass das Gesetz gut überprüft ist und Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.
Die Aufregung, die Sie an den Tag legen, scheint mir
aber zu zeigen, dass Sie Sorgen haben, dass Sie nicht
verfassungsmäßig gehandelt haben.
({2})
Wir reden nämlich heute nicht über die Frage des
Bologna-Prozesses; da sind wir uns ja in den meisten
Punkten einig. Wir reden darüber, inwieweit sich die
Bundesregierung an Recht und Gesetz hält, unser
Grundgesetz beachtet und sich darum kümmert, wie die
Aufgaben dort verteilt sind. Das ist heute das Thema,
meine Damen und Herren.
({3})
Wir reden auch über das Verständnis von Demokratie
und Föderalismus. Welche Aufgaben haben die Bundesländer, welche Aufgaben hat der Bund? Rot-Grün hat
zum wiederholten Male - jetzt wird es besonders interessant - Recht und Gesetz eben nicht eingehalten. Schauen
wir uns doch einmal an, wie das damals bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat war.
({4})
Wenn ich mich recht erinnere, hat damals der Bundesratspräsident, Herr Wowereit, eine Stimme, die nicht
gültig war, als Jastimme gezählt. Vor dem Bundesverfassungsgericht musste dieses Zuwanderungsgesetz eingesammelt werden, weil sich die SPD nicht um das Grundgesetz gekümmert hat. Das ist die Wahrheit, meine
Damen und Herren.
({5})
Oder schauen wir uns unseren Finanzminister an.
Zum wiederholten Male wird im Deutschen Bundestag
ein Haushalt eingebracht, der nicht verfassungskonform
ist. Mir ist klar, dass Sie das nicht gerne hören, aber das
Axel E. Fischer ({6})
sind Tatsachen; in diesen Fällen beachten Sie das Grundgesetz nicht.
({7})
Oder denken wir an den Außenminister, der heute
fehlt, an die Geschichte des Fischer-Erlasses, der jetzt im
Untersuchungsausschuss überprüft wird.
({8})
Auch dabei ist doch die Frage: Inwieweit hat sich diese
Bundesregierung an Recht und Gesetz gehalten?
({9})
Ich möchte jetzt gar nicht all die Dinge ansprechen,
über die noch diskutiert wird. Allein im Forschungsbereich haben wir doch, Herr Staatssekretär, genügend Beispiele dafür, dass Sie vor dem Bundesverfassungsgericht
gescheitert sind. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Juniorprofessur und zum Verbot der Studiengebühren haben gezeigt, dass sich die Bundesregierung
in diesen Fällen Kompetenzen angemaßt hat, die ihr
nicht zustehen. Das ist heute das Thema.
({10})
Das Problem ist: Sie von Rot-Grün scheren sich nicht
um Recht und Gesetz, Sie interessiert es überhaupt nicht,
was im Grundgesetz steht. Beim Durchsetzen Ihrer ideologischen Ziele interessieren Sie sich nicht für das, wofür Sie zuständig sind.
({11})
Meine Damen und Herren, vielleicht erinnern Sie sich
noch an den Kanzlersong, der Ende 2002 sehr populär
war.
({12})
Da hieß es zum Beispiel: „Ich erhöhe euch die Steuern“.
Es ging um die verschiedenen Steuern, die Sie erfunden
haben könnten, bis hin zur Haarfärbesteuer. Dazu gab es
ein Video, in dem eine Puppe zu sehen war, die dem
Bundeskanzler sehr ähnlich war und die das Grundgesetz die Toilette hinuntergespült hat. Sie haben sich damals über dieses Video empört. Ich frage Sie - Ihr
nächster Redner kann das ja ansprechen -: Was halten
Sie vom Grundgesetz? Wie halten Sie sich an Recht und
Gesetz? Wie steht es mit Ihrer Verfassungskonformität?
Das ist heute die Frage.
({13})
Meine Damen und Herren, es ist, wenn man es sich
betrachtet, eigentlich verhältnismäßig einfach: Die Bundesregierung ist im Forschungsbereich nicht in der Lage,
ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Forschungsministerin
kümmert sich um Dinge, die sie nichts angehen - ob das
die Bildungspolitik oder Sonstiges ist -, um von ihrem
Versagen in anderen Bereichen abzulenken. Deshalb unsere Aufforderung: Kümmern Sie sich wieder um das,
wofür Sie gewählt sind! Kümmern Sie sich um Ihre Aufgaben!
({14})
Machen Sie eine vernünftige Forschungspolitik und achten Sie dabei Recht und Gesetz; denn jeder Bundeskanzler und jeder Minister hat hier vor diesem Hohen Hause
geschworen, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu achten. Das ist die Aufgabe und daran sollten Sie
sich halten, damit Sie nicht erneut vor dem Verfassungsgericht unterliegen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Swen Schulz.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden unter anderem über die Verfassung. Ich möchte zunächst einmal
festhalten, wie traurig die Verfassung ist, in der sich die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion befindet.
({0})
Keine Ausschusssitzung und keine Plenardebatte vergehen, in der Sie nicht die Bundesregierung und die Regierungskoalition zu Verbesserungen in der Bildungsund Forschungspolitik auffordern. Das ist für eine Opposition völlig in Ordnung. Das Problem ist nur: Gleichzeitig klatschen Sie Beifall, wenn unionsgeführte Länder
auf dem Klageweg die Möglichkeiten des Bundes, ebendiese von Ihnen geforderten Verbesserungen durchzusetzen, beschneiden wollen.
({1})
Auch heute erleben wir das. Niveau: Tendenz fallend,
wie man angesichts der Rednerliste sagen muss.
({2})
Sie unterwerfen sich der zerstörerischen Logik von
Machttaktikern. Sie befinden sich - was noch schlimmer
ist - am Gängelband der Unionsministerpräsidenten.
({3})
Swen Schulz ({4})
Der Ministerpräsident von Hessen ist der skrupelloseste von denen. Er strengt jetzt eine weitere Klage gegen eine sinnvolle Initiative an und setzt damit seine
Blockadestrategie fort. Es geht ihm dabei nicht um Bildung und Wissenschaft. Es geht ihm dabei noch nicht
einmal so sehr, wie er immer behauptet, um die Kompetenz der Länder. Er will einfach blockieren.
({5})
Er will die Lage verschlechtern, um hinterher der Bundesregierung die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben.
({6})
Bei den Beratungen der Föderalismuskommission
wurde das sehr deutlich. Es ist eine Legende, dass die
Föderalismusreform am Thema Bildung gescheitert ist.
Sie ist von Machtegoisten kaputtgemacht worden. Der
bayerische Ministerpräsident war ja durchaus bereit, die
bereits vereinbarten Teile der Föderalismusreform unter
Dach und Fach zu bringen und den Rest zu vertagen.
Doch er konnte sich im eigenen Lager gegen Koch nicht
durchsetzen.
({7})
Koch wollte keine Einigung. Er hat Stoiber die Pistole
auf die Brust gesetzt.
({8})
Dieses Verhalten kann man durchaus mit dem Verhalten
von jemandem vergleichen, der erst die Eier klaut und
hinterher „Haltet den Dieb!“ ruft.
Jetzt soll nach vielen anderen Prozessen auch der
Bologna-Reformprozess blockiert werden. Es haben sich
über 100 Hochschulen für die 20 Kompetenzzentren beworben, einige aus Hessen. Eine hessische Hochschule
ist ausgewählt worden, nämlich die Fachhochschule
Frankfurt am Main. Das Interesse an dem Programm hat
deutlich gemacht, wie groß der Bedarf dafür ist und wie
richtig HRK und Bundesregierung damit liegen.
Ich könnte meine gesamte Redezeit locker mit Zitaten
von unabhängigen Stellen und von Betroffenen füllen
- darunter HRK-Präsident Gaehtgens -, die sich bestürzt
zu dieser Neuauflage der Blockadepolitik des Ministerpräsidenten Koch äußern. Die Universität der Künste
Berlin reagiert mit Entsetzen und in der Fachhochschule
Trier herrscht Betroffenheit.
Frau Seib, ich möchte noch ein Wort zu der hessischen Wissenschaftspolitik sagen. Die hessischen Universitäten weisen darauf hin, dass Bund und Länder
durch ihre Unterschrift 1999 in Bologna für diesen Prozess „gemeinsam Verantwortung tragen, der das Land
Hessen bisher nur unzureichend gerecht wird“.
({9})
Was für eine Ohrfeige!
({10})
Es ist ein verheerendes Echo und Koch steht auf weiter
Flur alleine da, mit Ausnahme der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Grandios!
({11})
Der Staatssekretär hat es schon angesprochen: Die
Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium für
Bildung und Forschung haben jüngst gemeinsam im nationalen Bericht 2004 für Deutschland festgehalten, dass
die Realisierung der Ziele des Bologna-Prozesses in
Deutschland in der Verantwortung der Hochschulen, der
Länder und des Bundes liegt. Dieser Feststellung schließen sich Ausführungen über die nationale BolognaStruktur und über die gemeinsame Arbeitsgruppe „Fortführung des Bologna-Prozesses“ an, an der sich natürlich die Bundesregierung beteiligt. Es wird außerdem
auf die Zusammenarbeit von Hochschulrektorenkonferenz und Bundesregierung verwiesen.
Ganz offenkundig sehen die Kultusminister dieses
Problem durchaus etwas differenzierter als Ministerpräsident Koch.
({12})
Hier scheint durch, was wir schon an vielen anderen
Stellen erlebt haben: Die Fachminister können trotz aller
Meinungsverschiedenheiten, die es gelegentlich gibt, in
der Sache ganz gut mit der Bundesregierung zusammenarbeiten. Aber Ministerpräsident Koch blockiert aus purer Machttaktik vernünftige Politik.
({13})
Es gibt dafür wirklich keinen besseren Zeugen als die
Landesregierung Hessen selbst.
Die Fachhochschule Frankfurt am Main, die sich an diesem Programm beteiligen möchte und einen Zuschlag
bekommen hat, hat beim Hessischen Ministerium für
Wissenschaft und Kunst angefragt, was denn nun angesichts der Verfassungsklage Hessens aus dem Kompetenzzentrum wird. Die Antwort des Ministeriums an die
Hochschule lautete: Weitermachen, gründen Sie ruhig
das Kompetenzzentrum!
({14})
Lieber Kollege Fischer, wenn das so gegen die Verfassung, gegen Recht und Gesetz verstößt, warum untersagt dann nicht die Hessische Landesregierung die Beteiligung ihrer Hochschule an diesem Programm?
({15})
Swen Schulz ({16})
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass wir es mit
einem höchst unehrlichen und üblen Machtspiel des Ministerpräsidenten auf Kosten der Hochschulen und der
Studierenden zu tun haben.
Ich fordere die CDU/CSU-Fraktion auf, sich dem
endlich einmal entgegenzustellen. Stoppen Sie Koch!
Unternehmen Sie zumindest den Versuch!
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Kretschmer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
fange mit einfachen Dingen an: In Art. 62 unserer Verfassung steht: „Die Bundesregierung besteht aus dem
Bundeskanzler und aus den Bundesministern.“ Nicht
einmal dafür reicht es bei dem Herrn Staatssekretär, der
sich hier vor wenigen Minuten als Mitglied der Bundesregierung bezeichnet hat. Wie soll das dann bei solch
komplizierten Dingen wie der Zusammenarbeit von
Bund und Ländern, beim so genannten Föderalismus,
funktionieren?
Die Bundesministerin macht in bundespolitischen
Fragen eine Geisterfahrt durch Deutschland und landet
jedes Mal an einem Prellbock, beim Bundesverfassungsgericht, holt sich eine Beule
({0})
und nimmt neue Fahrt auf, um die nächste Wand zu erwischen, hinter der dann wieder eine neue kommt.
({1})
Das ist besonders bedauerlich; denn von der Bildungsministerin könnte man eigentlich erwarten, dass sie klüger wird und aus ihren Fehlern lernt. Aber das Gegenteil
ist der Fall.
Die Diskussion in der letzten knappen Stunde ist nicht
sonderlich von Inhalt geprägt gewesen.
({2})
Die Bundesländer und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen zum Bologna-Prozess. Sie haben ihn immer
gewollt und ihn gemeinsam vereinbart. Die Bundesländer haben den Bologna-Prozess in ihren Landeshochschulgesetzen verankert. Sie haben die Einführung der
Bachelor- und Masterabschlüsse vereinbart. Ein Viertel
aller Studiengänge ist bereits umgestellt.
Worum geht es also? Es geht nicht darum, dass wir
den Bologna-Prozess nicht wollen.
({3})
Es geht nicht darum, dass die Bundesländer den Bologna-Prozess verhindern oder boykottieren wollen. Es
geht darum, dass sie die permanente Einmischung des
Bundes in die Länderkompetenzen unterbinden wollen,
was vollkommen richtig ist.
({4})
Das Ganze machen sie an einem Programm fest, das
Frau Bundesbildungsministerin Bulmahn vorgeschlagen
hat und mit dem sie in die BLK gegangen ist. Auf der
BLK wurde ihr gesagt: Natürlich wollen wir die Akkreditierung unterstützen; aber wir halten ein besonderes
Programm für nicht erforderlich. Den Vorsitz in dieser
Kommission am 5. Juli letzten Jahres in Bonn hat die
Bundesbildungsministerin persönlich geführt.
Nur, sie hat aus diesem klaren Nein keine Konsequenz gezogen, sondern dieses Programm trotzdem eingeführt. Sie will - koste es, was es wolle - mit dem Kopf
durch die Wand. Jetzt klagt natürlich ein Bundesland
({5})
und sagt: Nicht mit uns! Wir können alles besprechen aber eben nur besprechen und nicht hintenherum vorgehen, Herr Tauss.
({6})
Deswegen ist es vollkommen richtig, wie der Ministerpräsident des Landes Hessen vorgeht.
({7})
Dies ist übrigens eines der Länder, das im deutschen
Wettbewerb hervorragend dasteht. Dieses Land hat Herr
Koch von Ministerpräsident Eichel übernommen. Es war
völlig desolat und finanziell ruiniert. Jetzt wird eine Sache nach der anderen abgearbeitet, um dieses Land nach
vorne zu bringen.
({8})
Das ist die Realität. Man muss sich an Recht und Gesetz
und an die Verfassung halten; dann kommt man auch
voran.
Wir lassen es nicht mit uns machen, dass Sie die Mittel für den Hochschulbau von 1,1 Milliarden auf
925 Millionen Euro kürzen und dann vergiftete Köder
auslegen und sagen: Jetzt macht irgendwelche Programme! Nicht mit uns, meine Damen und Herren!
({9})
Diese unredliche Politik muss aufgedeckt werden, damit die Menschen draußen auf der Straße, die Professoren und die Studenten in den Hochschulen sehen, dass
man Politik so nicht machen kann.
({10})
Ich habe in den vergangenen Minuten gehört, dass der
Bund den Hochschulen zusätzliches Geld in Milliardenhöhe zur Verfügung stellen will. Im vergangenen Jahr
lag das staatliche Defizit dieses Landes bei 3,7 Prozent.
Die Neuverschuldung betrug 37 Milliarden Euro. Was
erzählen Sie denn den Leuten auf der Straße? Sie haben
dieses Land finanziell gegen die Wand gefahren, Sie haben es ruiniert. Dieses Land kann gar nichts mehr.
({11})
Wenn Sie sich die Haushaltszahlen genau anschauen,
stellen Sie fest, dass der Haushalt nur dann auszugleichen ist, wenn Sie irgendwelche Tricks vornehmen oder
Postpensionen auflösen und in den Haushalt einstellen.
({12})
Sie können überhaupt nichts mehr. Sie haben die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung zu verantworten. Sie brauchen hier nicht den Eindruck zu erwecken,
als ob Sie noch Geld hätten, das Sie in Forschung und
Bildung investieren könnten. Machen Sie erst einmal
Ihre Hausaufgaben, kommen Sie in die Gänge und dann
können wir über weitere Programme reden!
({13})
Ihre Politik ist in größtem Maße unredlich und unseriös.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Man kann wirklich nur
hoffen, dass das, was von Ihnen, Herr Kretschmer, gerade vorgetragen worden ist, von vielen Menschen im
Lande gehört worden ist. Man kann es wirklich nur hoffen.
Probleme, die wir haben, in dieser Form darzulegen,
Ihre eigene Verantwortung für die Massenarbeitslosigkeit, die Verschuldung und die Handlungsunfähigkeit
des Bundes zu leugnen und von Ihren Versäumnissen im
Bereich Bildung und Wissenschaft abzulenken, das ist
Chuzpe. Etwas anderes ist das nicht mehr.
({0})
Herr Braun, normalerweise kenne ich Sie als seriösen
Kollegen. Ich gestehe zu, dass Sie während der ganzen
Debatte bedröppelt aussahen. Ich nehme an, dass es Ihnen ebenso wie dem Großteil Ihrer Kollegen peinlich ist,
was von Herrn Koch und den Rednerinnen und Rednern
hier gesagt worden ist. Wenn Sie aber schon den Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz zitieren, dann
bitte in der Vollständigkeit, die zum Thema gehört. Herr
Gaehtgens hat ausdrücklich gesagt: „Die deutschen
Hochschulen appellieren nachdrücklich an die Länder,
ein Zusammenwirken mit dem Bund zu unterstützen.“
({1})
Das erwarten die Hochschulen von den Ländern. Sie haben heute die Chance vertan, sich dieser Position anzuschließen.
Liebe Frau Seib - leider ist sie nicht mehr anwesend.
Ich finde es komisch, wenn man hier eine Rede hält,
Sprüche schwingt und anschließend den Plenarsaal verlässt. Ich finde das nicht in Ordnung. Richten Sie ihr das
aus, mit einem schönen Gruß. Sich hier hinzustellen und
zu behaupten, dass Hessen bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses vorn liegt, ist angesichts der Tatsache erstaunlich - Kollege Schulz hat berechtigterweise bereits
darauf hingewiesen -, dass sich die Fachhochschule
Frankfurt zusammen mit anderen hessischen Universitäten für dieses Programm beworben hat. Warum hat sie
das getan, wenn in Hessen alles so wunderbar ist, wie sie
es hier zu suggerieren versuchte?
Warum - auch das muss man fragen - unterstützt das
hessische Wissenschaftsministerium diese Bewerbung
der hessischen Fachhochschule? Ich kann es Ihnen genau sagen: Weil das, was sie hier dargestellt hat, nicht
der Richtigkeit entspricht. Die Hessische Landesregierung lässt wie die anderen Landesregierungen die Universitäten in Deutschland an vielen Stellen im Stich. Es
gibt nur wenige Ausnahmen. Schauen Sie über den
Rhein nach Rheinland-Pfalz. Dieses Land ist die Ausnahme. Sie versagen - um das ganz deutlich zu sagen an dieser Stelle kläglich.
({2})
Die Themen für eine Aktuelle Stunde werden gemeinsam vereinbart. Kollege Fischer, ich hätte mir ein anderes Thema für diese Debatte vorstellen können. Leider
ist meinem Vorschlag nicht gefolgt worden. Mein Vorschlag wäre gewesen: Die fortgesetzte Sabotage dringend notwendiger Reformen im Bildungs- und Innovationssystem der Bundesregierung durch Herrn Stoiber,
Herrn Koch, Herrn Teufel und Co. Das ist das eigentliche Thema, um das es heute geht.
({3})
Die zweite Frage, um die es heute geht, ist, ob diese
Herren für ihre Politik die Unterstützung Ihrer Bundestagsfraktion erhalten. Mit Entsetzen sehe ich, sehen die
deutschen Studierenden und die Verantwortlichen der
deutschen Hochschulen, dass Sie sich sozusagen ausverkauft haben an ihre Ministerpräsidenten. Als Bildungspolitiker sind Sie zu keiner eigenen Meinung fähig, sondern schließen sich diesem Katastrophenkurs an. Das ist
ein klägliches Versagen der Bildungs- und Forschungspolitiker der Union im Deutschen Bundestag.
({4})
Die Spur der Verwüstung, die die Union in der deutschen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft langsam
hinterlässt, ist leider sehr viel breiter. Stichworte sind
schon gefallen. Seit Monaten blockieren die Ministerpräsidenten der Union das Programm zur Förderung von
Spitzenuniversitäten - gegen den Rat der Wissenschaftsminister. Seit Monaten verweigern sie - demnächst verhandeln wir darüber wieder im Vermittlungsausschuss die Freigabe dringend notwendiger Finanzmittel für Bildung und Forschung durch die Abschaffung der Eigenheimzulage.
({5})
- Der Umfang der Eigenheimzulage beträgt ein Mehrfaches der Steinkohlesubventionen. Kollege Fischer, wenn
Sie etwas davon verstünden, wüssten Sie, dass die Mittel
für die Steinkohle vertraglich gebunden sind. Im Gegensatz dazu könnten wir die Mittel, die wir für die Eigenheimzulage bereitstellen, bereits morgen für Bildung
und Forschung heranziehen.
({6})
Durch Ihre Klage gegen die Juniorprofessur haben
Sie Zehntausende junger Nachwuchswissenschaftler diskriminiert und verunsichert. Gemeinsam mit den Ländern konnten wir den Schaden im letzten Moment abwenden. Die Föderalismuskommission hat Herr Koch
mit seinen absolut inakzeptablen Forderungen an die
Wand fahren lassen.
Nein, das, was Sie machen, ist nicht in Ordnung. Das
ist Prozesshanselei und ein vordergründiges, formalistisches Debattieren über Rechtspositionen,
({7})
auf denen Sie beharren. Das tun Sie zulasten der Wissenschaftslandschaft. Das ist das eigentliche Problem.
Wenn die Tatsache, dass bei der Hochschulrektorenkonferenz 120 Bewerbungen eingegangen sind, um den
Bologna-Prozess voranzubringen, von Ihnen als nicht
am Bedarf orientiert angesehen wird, kann ich Ihnen nur
sagen: Sie sind entweder uninformiert, blind oder böswillig.
({8})
An dieser Stelle kann man Ihnen eigentlich alles zusammen unterstellen. 20 Universitäten haben jetzt diese
Möglichkeit. Sie wollen das verhindern. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft, der Wissenschaftsrat und die
Hochschulrektorenkonferenz haben sich gemeinsam gegen die Fortsetzung der von Herrn Koch, Ihrer Partei
und Ihren Leuten betriebenen Blockade des Programms
zur Förderung von Spitzenuniversitäten und des Paktes
für Forschung und Innovation beschwert und dagegen
protestiert.
Ich sage Ihnen: Das ist ein einzigartiger Vorgang. Ich
kann mich nicht erinnern, dass in den zehn Jahren, in denen ich Bildungs- und Forschungspolitik mache,
({9})
schon einmal solch ein Protestschrei aus der Bildungsund Wissenschaftsszene gekommen ist. Wenn Sie das
nicht zum Nachdenken bewegt, kann ich Ihnen nur sagen: Ihnen geht es nicht um Bildung und Forschung,
sondern Sie verfahren nach dem Motto „Augen zu und
durch“ zulasten des Wissenschaftsstandortes Deutschland.
({10})
In einem kürzlich auf www.spiegel-online.de erschienen Artikel hieß es über Koch: „Ein Mann sieht rot.“ Die
Überschrift eines Artikels im „Tagesspiegel“ lautete
„Rabenvater“, womit Landesvater Koch gemeint war.
Dort wurde geschrieben:
Es geht um die Zukunft Deutschlands im weltweiten Wettbewerb. Sind die Länder wirklich reif für
diese große Verantwortung? Sie leisten gerade einen Offenbarungseid.
Da auch Sie gerade diesen Offenbarungseid leisten,
kann ich Sie nur auffordern: Stoppen Sie Ihren Ministerpräsidenten und Ihren Kurs und kehren Sie zum Dialog
zurück! Bund und Länder haben in diesem Land gemeinsam die nationale Verantwortung für Wissenschaft und
Forschung. Das erwarten die Menschen zu Recht. Sie
hingegen zerstören diesen Prozess. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, wollen Sie davon ablenken.
Ich bedanke mich.
({11})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Günter
Bruckmann, Ludwig Stiegler, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Winfried
Hermann, Albert Schmidt ({1}), Volker
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Luftverkehrsstandort Deutschland - Koordination und Kooperation verbessern Nachhaltigen Luftverkehr für die Zukunft
sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer
({3}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Lippold ({4}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Luftverkehrsstandort Deutschland sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Friedrich ({5}), Dr. Karl Addicks, Daniel
Bahr ({6}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Flughafenkonzept für Deutschland
- Drucksachen 15/4518, 15/3312, 15/4517,
15/4876 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Günter Bruckmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Hans-Günter Bruckmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beratungen, die wir in den Ausschüssen des Deutschen Bundestags zum Luftverkehrsstandort Deutschland durchgeführt haben, zeigten erstens eindeutig, dass die
Fraktionen die nachhaltige Weiterentwicklung des Luftverkehrsstandortes Deutschland im Grundsatz wollen.
Allerdings haben sich unsere Auffassungen zu bestimmten Fragen in Nuancen sehr deutlich unterschieden.
Zweitens zeigten die Beratungen, dass der nationale
und der internationale Luftverkehr seinen Beitrag zur
wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes und zur
Verbesserung der Mobilität leistet.
Drittens zeigten sie, dass die Luftfahrtindustrie in
Deutschland und Europa gut aufgestellt ist.
Fakt ist: Die Bundesregierung hat mit ihren Entscheidungen zur Förderung der zivilen Luftfahrt die Weichen
für die Zukunft richtig gestellt. Das Beispiel Airbus mit
dem Roll-out des A380 in Toulouse im Januar und die
strategische Entscheidung, die Entwicklung des A350
mit Darlehen zu fördern, waren richtig und notwendig.
Wenn man sich ansieht, wie sich der Markt für neue
Flugzeuge in den nächsten 20 Jahren entwickelt, wird
man feststellen können, dass es um ein Volumen von
1 300 Milliarden US-Dollar geht.
Die europäische und auch die deutsche Luftfahrtindustrie haben sich in der Vergangenheit einen großen
Anteil an der Wertschöpfung in dieser Wachstumsbranche gesichert. Das wird auch in Zukunft so sein. Mit der
Airbus-Industrie hat Europa die USA im zivilen Bereich
zum ersten Mal bei der Anzahl neu ausgelieferter Flugzeuge geschlagen. Gleichzeitig haben sich die deutsche
und europäische Luftfahrtindustrie mit ihrer Modellpalette gut aufgestellt. Wenn man die Prognosen ernst
nimmt - wir wissen ja: Planung ersetzt den Irrtum durch
den Zufall, und gute Planer wie wir überlassen nichts
dem Zufall -, haben wir in der nächsten Zeit eine
Verdoppelung des Weltluftverkehrs zu erwarten; man
geht davon aus, dass es im Jahr 2020 so weit sein wird.
Die vier größten europäischen Volkswirtschaften hatten im Jahr 2001 ein Passagieraufkommen von 520 Millionen Fluggästen. Wir erwarten für 2020 ein Volumen
von über 1 Milliarde Fluggästen. Dabei stehen die europäischen Metropolen mit ihren Hubs in London, Paris
und Amsterdam im Wettbewerb zu den deutschen Flughäfen, unseren Hubs in Frankfurt und München wie auch
unseren sonstigen internationalen Flughäfen. Da kann
man sagen, dass die Weiterentwicklung von großer, ja
von nationaler Bedeutung ist.
Auf der anderen Seite müssen wir eins erkennen: Wir
müssen das eine tun, ohne das andere zu lassen. Was
meine ich damit? Wir müssen nicht nur ökonomische,
sondern auch ökologische Interessen berücksichtigen
und die Bürger bei unseren Planungen mitnehmen. Bei
den Beratungen der Fraktionen in den Ausschüssen hat
sich gezeigt, dass wir uns im Ansatz der Instrumente unterscheiden. Einig sind wir uns, dass wir die Bedingungen für den Luftverkehrsstandort Deutschland zu optimieren haben, damit er weiter international
wettbewerbsfähig ist. Was wir dabei aber nicht vergessen dürfen: Auch der Luftverkehr muss sich nicht nur
den Wünschen der Kunden nach Sicherheit, Pünktlichkeit, Passagierkomfort und Wirtschaftlichkeit anpassen,
sondern er muss selbstverständlich auch dem Gesichtspunkt eines modernen Umweltschutzes und den Kriterien der Nachhaltigkeit gerecht werden.
Wir werden das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm
novellieren, wie es unser Bundeskanzler im letzten Jahr
auf dem Luftverkehrskongress gesagt hat. Zwar haben
die deutschen Verkehrsflughäfen bis zum Ende des
Jahres 2002 insgesamt rund 550 Millionen Euro ausgegeben - 420 Millionen Euro mehr, als nach dem Fluglärmgesetz des Jahres 1971 notwendig waren -, aber
trotz dieser anerkennenswerten Leistungen der Luftfahrtindustrie und der Flughäfen zur Reduzierung des
Fluglärms wird ein Teil der erreichten Verbesserungen
dadurch zunichte gemacht, dass wir mehr Flugbewegungen im deutschen Luftraum zu verzeichnen haben.
Wir müssen also den Schutz der Menschen vor der
Belastung durch Fluglärm deutlich verbessern, den Betreibern der Flughäfen aber zugleich Planungssicherheit
geben. Wir erwarten, dass wir Mitte dieses Jahres einen
zwischen den Ressorts abgestimmten Gesetzentwurf im
Parlament beraten können. Dann werden wir entscheiden, wie das neue Fluglärmgesetz aussehen wird.
Wir werden uns auch dafür einsetzen, die EU-Richtlinien zu Betriebsbeschränkungen und Umgebungslärm
in nationales Recht zu überführen. Dabei ist es ganz
wichtig, dass wir bei der Forschungsförderung die Entwicklung lärmarmer, umwelt- und klimafreundlicher
Flugzeuge und alternativer Treibstoffe stärker berücksichtigen. Die Erfolge der Triebwerksindustrie in der
Vergangenheit zeigen ganz eindeutig einen Weg auf, der
für die Zukunft weitergegangen werden muss. Wir
wollen den Treibstoffverbrauch und damit auch den
CO2-Ausstoß um weitere 50 Prozent reduzieren und wir
wollen den Ausstoß von Stickoxiden um 80 Prozent reduzieren. Wir wollen den Lärmpegel beim subjektiven
Höreindruck um weitere 50 Prozent senken.
({0})
Jetzt zeigt sich, dass weitere Erfolge im Umweltschutz durch die Luftfahrtforschung möglich sind.
Weitere Optimierungen im Triebwerksbau, Zellendesign und Flightmanagement sind erfüllbare Herausforderungen, durch die auch der Luftverkehr einen Beitrag
zum Klimaschutz leisten soll.
Die Generalversammlung der ICAO lässt die Vorreiterrolle der EU beim Klimaschutz weiter zu. Die verabschiedete Umweltresolution zeigt, dass die EU eine
Richtlinie über die Besteuerung von Kerosin bzw. eine
streckenbezogene Emissionsabgabe innerhalb der EU
vorbereiten und verabschieden kann. Eine solche Richtlinie kann aber erst nach der Vollversammlung der ICAO
im Jahre 2007 zum Tragen kommen.
({1})
Als positiv empfinde ich auch die Aussagen der Luftverkehrswirtschaft, die den Vorstoß der britischen Regierung unterstützen wollen, wonach der Luftverkehr in den
europäischen Emissionshandel aufgenommen werden
soll. Ich meine, wenn die Luftverkehrswirtschaft dies
selbst sagt, dann ist das ein Beitrag von nationaler und
internationaler Bedeutung.
({2})
Vor einem Jahr habe ich noch nicht erwartet, dass dieser
Weg, der dort aufgezeigt wird, möglich ist. Das zeigt
aber, dass im Dialog eine Weiterentwicklung von Positionen möglich ist.
Auf der anderen Seite müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir die Koordination und Kooperation verbessern können. Es kann doch nicht sein, dass derzeit öffentliche Mittel in Regionalflughäfen investiert werden,
({3})
die auf Dauer offensichtlich wirtschaftlich nicht tragfähig sind.
({4})
Man muss nur die Tagespresse aufmerksam verfolgen,
um zu sehen, dass manche der dort ansässigen Billigflieger in ihrer Flugplangestaltung nicht gerade stetig sind.
Von Stetigkeit kann schon gar keine Rede sein, wenn das
Unternehmen so schnell wieder vom Markt verschwindet, wie es dort aufgetreten ist, sich also sozusagen in
Luft auflöst. Jüngste Beispiele sind die Insolvenzen der
Billigflieger V-Bird und Air Polonia Ende letzten Jahres.
Nach dem Charleroi-Urteil des letzten Jahres muss man
davon ausgehen, dass es bei den Beihilfen eine Veränderung geben wird. Sie wissen, dass sie in der Höhe und
zeitlich begrenzt sein müssen. Es ist der richtige Weg,
wenn das dann in europäisches und nationales Recht umgesetzt wird.
Wir unterstützen die Initiative Luftverkehr und die
Bundesregierung bei der Bearbeitung eines abgestimmten Masterplanes für eine bundesweit effiziente Flughafenplanung. Wir wollen eine bessere Koordination und
Kooperation sowie eine engere Verknüpfung mit dem
gesamten Infrastrukturnetz des Bundes. Deshalb sollte
geprüft werden, ob und inwieweit eine Verlagerung der
Planungskompetenz zugunsten des Bundes möglich ist
und ob nicht eine Bündelung von Kompetenzen und
Ansprechpartnern an einer zentralen Stelle die Position
des Luftverkehrsstandortes Deutschland nachhaltig stärken würde.
Ich sage auch: Eine europäische Abstimmung und
Koordination ist ein Gebot der Stunde. Unstreitig ist,
dass wir eine Harmonisierung der europäischen Rahmenbedingungen brauchen, dass wir gleiche Standards
im Bereich der Luftsicherheit zu organisieren haben und
dass wir dabei Technologien einsetzen müssen, die gegenseitig anerkannt werden und zukunftsfähig sind.
Ich sehe gerade auf meiner Uhr, dass ich langsam
zum Schluss kommen muss.
({5})
Wir unterstützen die Bundesregierung und die Initiative
der Luftverkehrswirtschaft. Wir wollen, dass sich der
Luftverkehrsstandort Deutschland nachhaltig und wettbewerbsfähig weiterentwickeln kann. Es muss aber auch
sehr deutlich sein, dass Ökonomie auf der einen und
Ökologie auf der anderen Seite zwei Seiten der gleichen
Medaille sind.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert
Königshofen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zum dritten Mal innerhalb
kurzer Zeit diskutiert der Deutsche Bundestag über den
Luftverkehrsstandort Deutschland. Das zeigt, wie wichtig das Thema ist.
Der Luftverkehr wird für die moderne Volkswirtschaft in der Tat ein immer wichtigeres Segment - das
gilt für Deutschland, für Europa, ja, für die ganze Welt.
Er wächst doppelt so schnell wie die Weltwirtschaft. Die
Wachstumsraten im Passagierverkehr liegen bei 5 Prozent und bei der Luftfracht sogar bei 7 Prozent. Der
Luftverkehr hat pro Jahr rund 1,7 Milliarden Fluggäste. In Deutschland sind es 140 Millionen, die auf
rund 2 Millionen Flügen befördert werden. Rund
750 000 Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt vom
Luftverkehr ab; Tendenz weiter steigend. Hinzu kommen noch die Arbeitsplätze in der Tourismusbranche.
Deshalb wiederhole ich, was ich in der ersten Debatte
am 23. September vergangenen Jahres an dieser Stelle
gesagt habe: Die Luftfahrtbranche ist heute eine der wenigen Jobmaschinen in Deutschland. Dabei gilt folgende
Faustformel: 1 Million zusätzliche Fluggäste schaffen
rund 1 000 und 100 000 Tonnen zusätzliche Fracht rund
2 600 neue Jobs.
({0})
Die positive Wirkung der Luftverkehrswirtschaft auf
Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung ist also unbestritten. Darüber sind wir uns über die Fraktionsgrenzen
hinweg einig. Wir bemühen uns seit Jahren gemeinsam,
den Luftverkehrsstandort Deutschland nach vorne zu
bringen. Mein Vorredner, der Kollege Bruckmann, hat
das gerade ebenfalls betont.
({1})
Auch die Anträge, die heute vorliegen, dienen diesem
Ziel. Sie kennzeichnet deshalb ein hohes Maß an grundsätzlicher Übereinstimmung. Aber wie so häufig steckt
der Teufel im Detail.
({2})
Im Unterschied zu den Anträgen der anderen Fraktionen bekennt sich der Antrag der CDU/CSU-Fraktion
zum Ausbau des internationalen Drehkreuzes Frankfurt.
({3})
Wir wissen, dass dieser Ausbau in der Region umstritten
ist. Daher wollen wir hier Flagge zeigen. Es reicht nicht,
wenn Sprecher der Regierungsfraktionen wie bei den
letzten Debatten feststellen, dass eine Stärkung der
Drehkreuze Frankfurt und München eine Aufgabe von
nationaler Bedeutung sei. Auch der Hinweis auf den zunehmenden Konkurrenzkampf mit Flughäfen in anderen
europäischen Metropolen wie London, Paris und Amsterdam ist wichtig und richtig. Aber man muss konkret
sagen, wie man Frankfurt und München unterstützen
will. In Frankfurt brauchen wir zum Beispiel den Bau
der neuen Landebahn und der neuen Wartungshalle für
den A380.
Wir wollen - das steht auch so in unserem Antrag -,
dass der gesamte Deutsche Bundestag durch ein klares
Bekenntnis zum Ausbau des Frankfurter Flughafens ein
Signal setzt. Die Basis unserer Parteien und die Bürger
im Frankfurter Raum sollen wissen: Wir im Deutschen
Bundestag sind dafür. Wenn ich „wir“ sage, hoffe ich,
dass das alle einschließt: CDU/CSU, FDP, SPD und
Grüne. Das muss die Botschaft des heutigen Tages sein.
({4})
Ein weiterer Punkt, bei dem man über Details sprechen muss, ist die Kerosinsteuer. Wir, die CDU/CSUFraktion, haben uns immer gegen einen deutschen Alleingang ausgesprochen, wie ihn noch vor wenigen Wochen der Kollege Loske von den Grünen gefordert hat.
Nun geht es um eine europäische Initiative des deutschen Finanzministers Eichel. Er will die Kerosinsteuer
einführen, um die nationalen Haushalte zu entlasten. Sie
soll auch, so lesen wir, zur Finanzierung der Entwicklungshilfe herangezogen werden.
Darüber hinaus hofft Finanzminister Eichel, die Billigflieger zu treffen. Ob man die Billigflieger mit einer
Erhöhung der Kerosinsteuer wirklich trifft, bezweifle
ich; denn diese Steuer fällt ja bei allen Fluglinien an,
nicht nur bei den Low-Cost-Carriern. Man muss sich natürlich fragen: Warum sind die Billigflieger so günstig?
Einerseits liegt das sicherlich an ihrer unbestrittenen
ökonomischen Effizienz. Andererseits - das hat auch der
Kollege Bruckmann angesprochen - werden sie häufig
von interessierten und meist kleineren Flughäfen mit
Subventionen, also Steuergeldern, angelockt. Das verzerrt den Wettbewerb und muss ein rasches Ende finden.
Bevor man sich über eine Kerosinsteuer Gedanken
macht, um die Billigflieger zu treffen, sollte man hier
den Hebel ansetzen. Man sollte verhindern, dass öffentliches Geld fließt, wo es wenig Sinn macht.
Nun müssen wir ein Weiteres bedenken. Die Kerosinsteuer auf EU-Ebene einzuführen heißt ja nicht, dass sie
überall in Europa erhoben wird. Es wird auch danach
Flughäfen in Europa geben, wo die Steuer nicht erhoben
wird. Als Beispiel nenne ich nur den Flughafen ZürichKloten. Darüber hinaus zeigt der Widerstand Großbritanniens, dass man den Wettbewerb im Luftverkehr
global sehen muss. Europa ist kein abgeschotteter Markt,
auf dem man sich ohne Konsequenzen seine eigenen
Wettbewerbsbedingungen schaffen kann. Wir stehen in
einem knallharten weltweiten Wettbewerb, den wir jeden
Tag neu bestehen müssen.
Länder wie Großbritannien, Griechenland und Spanien wissen das und lehnen daher die Kerosinsteuer ab.
Da in solchen Fragen in der EU das Einstimmigkeitsprinzip gilt, wird die Kerosinsteuer vorerst auch nicht
kommen. So wurde dann auch, wie das in Europa üblich
ist, zunächst die Europäische Kommission beauftragt,
eine Studie über die Folgen der Kerosinsteuer erstellen
zu lassen. Es wird also noch einige Zeit dauern, bis das
erste Geld in Eichels Kasse kommt. Ich glaube, dass es
bei diesem Vorstoß nur um ein Beruhigungsmanöver für
die Grünen und die extremen Linken in der SPD geht.
Die sollen beruhigt werden, damit man weiter seine Politik machen kann.
({5})
Nun komme ich zum dritten Streitpunkt, zur Novelle
zum Fluglärmgesetz. Längst ist die Rechtsprechung der
deutschen Gerichte über die nach wie vor geltende Regelung von 1971 hinweggegangen.
({6})
Die damals festgelegten Grenzwerte werden dem veränderten Verkehrsaufkommen und dem gestiegenen Lärmbewusstsein der Menschen nicht mehr gerecht.
({7})
Deswegen wollen wir, dass dieses veraltete Gesetz auf
der Grundlage eines fairen Ausgleichs zwischen Ökonomie und Ökologie endlich novelliert wird.
({8})
- Ja, Sie wollen das auch. Seit 1998 haben Sie dazu fast
wöchentlich Ihren Willen bekundet, aber gehandelt haben Sie seit der Zeit nicht.
({9})
Seit 1998 haben Sie dazu nichts gesagt.
({10})
- Das ist gar kein Quatsch, Herr Scheffler. Das Kabinett
kann sich vielmehr seit fast sieben Jahren nicht auf einen
gemeinsamen Entwurf einigen. Das ist die Wahrheit.
({11})
Jetzt geistert wieder ein Vorschlag durch die Gegend, der
die einseitige und ideologische Handschrift des Herrn
Trittin trägt.
({12})
- Genauso ist das.
({13})
Der eigene Verkehrsminister und der eigene Wirtschaftsminister stimmen dem noch nicht einmal zu. Es gibt kein
abgestimmtes Konzept. Trittins Vorschlag geistert durch
die Welt, aber es passiert letzten Endes nichts. Ich will
Ihnen offen sagen: Wir werden diesem Entwurf von
Trittin nicht zustimmen; denn da ist von einem fairen
Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie nicht die
Rede.
({14})
Dann könnten Sie sehr wahrscheinlich den Luftverkehr
in Deutschland dichtmachen und an jede weitere Erweiterung brauchte man nicht mehr zu denken.
Mit unserem Antrag wollen wir den Luftverkehrsstandort Deutschland sichern und ausbauen. Nur so kann
unsere Luftverkehrswirtschaft ihre Rolle als Wohlstands- und Jobmaschine weiterhin wahrnehmen. Daher
bitte ich Sie: Springen Sie mal über Ihren Schatten!
Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit hier heute ein ordentlicher Antrag verabschiedet wird!
({15})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
mit dieser Debatte in der vierten Runde. Alle sind kundig und wir können ein Stück weit ein Resümee ziehen:
Was sind die wichtigen Punkte unserer Debatte, wo gibt
es Gemeinsamkeiten und wo gibt es deutliche Unterschiede?
Ich glaube, es wird schon aus den Anträgen und auch
aus den Debatten deutlich: Alle - ich sage bewusst: alle betonen die Wichtigkeit des Flugverkehrs für Arbeitsplätze, für die Wirtschaft, den Tourismus und die Gesellschaft insgesamt.
({0})
- Das ist schon etwas.
Unterschiedliche Auffassungen gibt es aber in der
Frage, was dies bedeutet und wie wir hinsichtlich des
stetig zunehmenden Flugverkehrs zu verfahren haben.
Ich will an dieser Stelle einige größere Unterschiede ansprechen.
Alle Anträge beschäftigen sich mit der Frage, wie die
Standorte in Deutschland zu sichern sind und wo Flughäfen notwendig sind. Ich habe eine Deutschlandkarte
der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen
mitgebracht, auf der Flughäfen sowie internationale und
nationale Fluglandeplätze verzeichnet sind. Es ist erstaunlich, wie viele Orte in Deutschland einen Flughafen
haben.
({1})
Ein Thema, das uns in diesem Zusammenhang beschäftigen muss und das uns inzwischen auch vielfach ärgert,
ist, dass sich an Orten, an denen es noch keinen zivilen
Flughafen gibt, aber an denen ein Militärflughafen geschlossen werden könnte, Kommunalpolitiker für die
Nutzung des Flughafens als Billigflughafen oder Charterflughafen aussprechen.
({2})
Der Kollege Schmidt hat mir gesagt, dass in Bayern
gleich mehrere Flughäfen geplant sind.
({3})
Unter dem Gesichtspunkt einer effizienten und bezahlbaren Infrastruktur halte ich es für absoluten Blödsinn,
überall in der Provinz neue Regionalflughäfen zu bauen.
({4})
Das kann sich niemand leisten und es ist auch nicht sinnvoll.
({5})
Übrigens sind solche Regionalflughäfen auch keine
Jobmaschinen. Wenn überhaupt, dann können sie nur
dann funktionieren, wenn Kommunal- und Regionalpolitiker Subventionsmittel beschaffen und die Billigcarrier mit besonders günstigen Angeboten angelockt werden. Das sind, wie ich meine, keine sinnvollen
Maßnahmen. Notwendig ist stattdessen auch im Bereich
der Infrastruktur eine Konzentration der Mittel. Es muss
schließlich nicht in jedem Fall geflogen werden. Das
Flugzeug muss vielmehr mit anderen Verkehrsmitteln
verknüpft werden. Zwischen den Metropolen und den
Flughäfen muss es gute Bahnverbindungen geben. Das
ist aber nicht finanzierbar, wenn es überall Kleinflughäfen gibt. Wir können uns das allenfalls für die acht Großflughäfen vorstellen.
Insofern stelle ich zusammenfassend fest - ich glaube,
einige meiner Kollegen teilen diese Auffassung -: Erstens
ist ein Masterplan notwendig, der eine sorgfältige Koordinierung und Systematisierung vorsieht. Ich meine, wir
sind als Bundespolitiker in der Pflicht, darauf hinzuweisen, dass es nicht sinnvoll wäre, wenn jede Region einen
Regionalflughafen hätte.
({6})
Zweitens. Flugverkehr produziert viel Fluglärm.
Deswegen wird auch in allen Anträgen ein neues Fluglärmgesetz gefordert.
({7})
In diesem Zusammenhang muss ich darauf zu sprechen
kommen, Kollege Königshofen, aus welchem Grund wir
uns nicht einigen können. Es sei Ihnen zugestanden, dass
wir uns seit sechs Jahren in der Bundesregierung schwer
tun, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu erarbeiten.
Lange Zeit war die Streitfrage, welche Grenzwerte richtig und mit welchen Kosten die Durchsetzung der
Grenzwerte und die Lärmschutzmaßnahmen verbunden
sind. Unter den Befürwortern des Gesetzes gibt es dann
sofort zwei Meinungen. Einige befürworten das Gesetz
unter der Voraussetzung, dass die Grenzwerte wie auch
die Kosten möglichst niedrig ausfallen. Andere setzen
sich für ambitionierte Grenzwerte ein und nehmen die
damit verbundenen Kosten in Kauf; diese sind ihrer Ansicht nach von den Flugpassagieren zu tragen.
Sie haben heute ein schönes Beispiel geliefert, Herr
Königshofen. Sie haben zwar allgemein zugestanden,
dass ein entsprechendes Gesetz notwendig ist, aber die
CDU/CSU-Fraktion hat bis zum heutigen Tag kein einziges Eckpunktepapier vorgelegt, aus dem konkret hervorgehen würde, welche Grenzwerte Sie mittragen und wie
hoch die entstehenden Kosten sein dürfen. Ohne solche
konkreten Angaben bleiben Ihre Äußerungen nur wohlfeile Bekenntnisse.
({8})
Inzwischen liegt eine seriöse Berechnung der sich aus
dem Trittin-Entwurf ergebenden Grenzwerte und Kosten
vor. Lange Zeit wurde das Gesetz damit bekämpft, dass
astronomische Summen genannt wurden. Im Gespräch
waren 1 Milliarde, 2 Milliarden oder sogar 20 Milliarden.
Der vorliegenden seriösen Berechnung zufolge ist bei einigermaßen ambitionierten Grenzwerten, die dem entsprechen, was deutsche Gerichte in ihrer Rechtsprechung längst als sinnvoll beurteilen, mit Kosten in Höhe
von 600 Millionen bis 700 Millionen Euro zu rechnen.
Auf zehn Jahre bezogen macht das jährlich 60 Millionen
oder 70 Millionen Euro aus, die alle Flughäfen zusammen - sicherlich in jeweils unterschiedlicher Höhe zahlen müssten. Ich meine, dass das zumutbar ist. Das
brauchen wir; das ist dringend notwendig.
({9})
Mein letzter Punkt ist der Klimaschutz, der bereits
von meinen Vorrednern angesprochen wurde. Ich bin
nach wie vor der Überzeugung, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen, wenn wir erkennen, dass der Flugverkehr wächst; man rechnet mit Wachstumsraten zwischen 50 und 100 Prozent in den nächsten 20 Jahren.
Wir wissen, dass inzwischen schon 9 Prozent der Treibhausgase auf den Flugverkehr zurückzuführen sind und
dass der Flugverkehr in circa 25 Jahren wahrscheinlich
der größte klimaschädigende Faktor im Verkehrssektor
sein wird. Dem Flugverkehr müssen daher die externen
Kosten angerechnet werden. Dafür gibt es zwei Verfahren: Erstens. Wir brauchen dringend eine Kerosinbesteuerung, und zwar möglichst auf europäischer
Ebene. Aber wir müssen sie nicht mehr europaweit
einheitlich durchsetzen; denn nach der neuen Energiesteuerrichtlinie müssen sich nicht mehr alle, sondern nur
die wichtigsten Länder verständigen. Das muss natürlich
sein; denn in ökonomischer und ökologischer Hinsicht
ist es kontraproduktiv, wenn wir es alleine machen. Aber
zumindest die Hauptflugverkehrsländer mit den wichtigen Drehkreuzen sollten zusammen vorangehen. Das ist
unser Vorschlag.
({10})
Zweitens. Langfristig muss der Flugverkehr in das
Kioto-Regime einbezogen werden.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Von 2012 an muss der
Flugverkehr in das internationale Klimaschutz-Regime aufgenommen werden. Der Flugverkehr darf nicht als einziger Bereich weitermachen wie bisher. Alle müssen zum
Klimaschutz beitragen, auch der Flugverkehr.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hermann, was Sie zum Schluss gesagt haben, ist das typische Nebelkerzenwerfen der Grünen.
({0})
Die Bundesregierung hat auf Anfrage der FDP-Fraktion in Person der Kollegin Hendricks deutlich gemacht,
dass sie derzeit gar nicht daran denkt, bilaterale Gespräche aufzunehmen. Also sollten Sie uns nicht vorwerfen,
dass wir keine Vorschläge zu etwas gemacht haben, das
Sie selber noch gar nicht auf den Weg gebracht haben.
Bevor Sie sich öffentlich äußern, sollten Sie erst einmal
klären, was tatsächlich Ziel der Bundesregierung ist.
({1})
Genauso verfahren Sie mit den Flughafenkonzepten.
Wir brauchen keinen neuen Masterplan. Es liegt ja
bereits einer der Initiative Luftfahrt vor und er ist von
Ihnen begrüßt worden. Was wir bräuchten, ist die konsequente Überarbeitung des von Ihnen vorgelegten Flughafenkonzeptes aus dem Jahre 2000; denn das passt
nicht mehr in die Zeit.
({2})
- Einen Masterplan gibt es ja bereits. Alle Daten liegen
vor.
Warum passt Ihr Flughafenkonzept nicht mehr in die
Zeit? 90 Prozent des kompletten Luftverkehrs in
Deutschland werden an acht Flughäfen abgewickelt. Von
diesen 90 Prozent läuft rund die Hälfte über Frankfurt
und München. Die restlichen 10 Prozent verteilen sich je
nach Sichtweise - es kommt an, ob man alle Verkehrslandeplätze mit regelmäßiger Linienbedienung und alles
andere, was da kreucht und fleucht, einbezieht - auf
Kleinigkeiten. Man muss also zuerst in der Planung
Schwerpunkte setzen und Infrastrukturverknüpfungen
vornehmen und kann dann über ein Flughafenkonzept
nachdenken. Das erfordert auch die Überprüfung, welche Flughafenkapazitäten überhaupt noch notwendig
sind. Das würde aber gleichzeitig bedeuten, dass Sie sich
zu vier, fünf oder sechs Startbahnen, die wir an bestehenden Flughäfen noch brauchen, positiv äußern müssten.
Das sieht man an Frankfurt.
Lieber Kollege Königshofen, es geht gar nicht darum,
ob man den Ausbau des Flughafens Frankfurt will
oder nicht. Das, was Sie verlangen, fällt nicht in die
Bundeszuständigkeit. Was in diese Zuständigkeit fällt,
ist ein neues Fluglärmgesetz. Das ist notwendig und
sollte endlich eingefordert werden, um Rechtssicherheit
zu schaffen, und zwar für beide Seiten. Es kann doch
nicht sein, dass auf der Grundlage eines Gesetzes von
1971 - mit dem entsprechenden Richterrecht als Konsequenz - jede Erweiterung eines Flughafens zu einem
Hürdenlauf wird, der gigantische Aufwendungen erfordert. Frankfurt ist doch ein Beispiel dafür, was Bürokratie in Deutschland alles bewältigen muss. Das kann es
doch nicht sein, wenn wir der Meinung sind, dass eine
Erweiterung der Flughafeninfrastruktur für den Standort
Deutschland wichtig ist. Wenn das die Antwort darauf
ist, dann haben wir wirklich Probleme in Deutschland.
({3})
Erschwerend kommt hinzu: Wir werden es auf keinen
Fall schaffen, alle aufgrund der Konversion frei gewordenen Militärflughäfen - ob nun von Kanadiern, Franzosen, Engländern, Amerikanern oder von der deutschen
Luftwaffe - als zivile Flughäfen weiterzuführen. Der
Kollege Schmidt hat hier bereits zwei Beispiele eingeführt. Ich kann andere Beispiele nennen: Wir haben einen von der Infrastruktur her wunderbaren Flughafen in
Lahr in Baden-Würtemberg, der uns von den Kanadiern
übergeben worden ist. Des Weiteren haben wir den Baden-Baden Airport, der hoch subventioniert ist. Außerdem haben wir den Flughafen Basel/Mulhouse und wir
haben ein Flughäfchen in Straßburg. Obwohl keiner dieser Flughäfen in der Lage ist, auf entsprechende Bedarfssituationen konsequent zu reagieren, kostet jeder
von ihnen Geld und fühlt sich jeder einzelne dieser Flughäfen benachteiligt, wenn ein anderer etwas hat, was er
selbst nicht hat.
Die Antwort der Politik müsste doch die Festlegung
sein, dass es von der Potenzialanalyse her dieser oder jener Flughafen sein soll; dieser oder jener erhält eine
Schienen- und Straßenanbindung. Es kann doch nicht
sein, dass eine Kommune beschließt, einen Flughafen
auszubauen, und den Bund bittet, dort auch eine Autobahn- und ICE-Anbindung zu schaffen, und zwar am
besten noch mit entsprechenden Subventionen. Das dürfen wir uns auf Dauer nicht leisten. Das ist kein Konzept. Die EU hat ja vorgemacht, wie es sein kann. Charleroi ist schon genannt worden.
Es ist klar, dass es bestenfalls noch Ausgleichsmaßnahmen für Fluglinien geben darf, die etwas weniger
entwickelte Flughäfen anfliegen, und zwar in Höhe von
30 bis 50 Prozent und für maximal fünf Jahre; das alles
steht im Endeffekt schon in den entsprechenden Richtlinien. Danach muss sich das eigenwirtschaftlich rechnen.
Bei allem anderen, was in dieser Form erkennbar nicht
funktioniert, muss man sich Gedanken machen dahin gehend, ob es angesichts der vorhandenen Probleme noch
Sinn macht, das auszubauen. Allein die Aussage, Luftverkehr schaffe Arbeitsplätze, die ja im Prinzip nicht
falsch ist, löst doch in der Region kein einziges Problem.
Wenn die Nachfrage nicht vorhanden ist und wenn das,
was eigentlich positiv sein könnte, nicht zum Tragen gebracht werden kann, dann schafft das keine neuen Arbeitsplätze, sondern kostet Subventionen, Geld, das wir
eh nicht haben, und hat unter Umständen noch zur Konsequenz, dass an anderen Flughäfen Probleme entstehen
und diese anderen Flughäfen darunter leiden.
Es gibt einen Ausbaubedarf; das ist völlig klar. Wir
brauchen für diesen Ausbau Rechtssicherheit in Form
eines neuen Fluglärmgesetzes. Außerdem brauchen wir
eine abgestimmte Besteuerung im Bereich der Luftfahrt.
Horst Friedrich ({4})
Es darf also keine nationalen Alleingänge, auch keine bilateralen Abenteuer geben, sondern das muss in abgestimmter Form europaweit mit dem Ziel gemacht werden, das dann auch weltweit umzusetzen. Alles andere
wäre tödlich. Dies alles steht in unserem Antrag und deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Danke sehr.
({5})
Für die Bundesregierung erhält die Parlamentarische
Staatssekretärin Iris Gleicke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland war auch im Jahre 2004 Exportweltmeister.
Dieser Titel ist nicht zuletzt der Verkehrswirtschaft zu
verdanken, die es ja erst ermöglicht, dass Waren exportiert werden.
Dabei spielt das Flugzeug als Verkehrsmittel eine beachtliche Rolle, was den Wert der Exporte angeht. Die
per Flugzeug exportierten Warenmengen und -werte
steigen kontinuierlich. Auch die Entwicklung der Passagierzahlen bei den Airlines ist dynamisch. Nach den Krisen der vergangenen Jahre wurden im Jahre 2004 wieder
mehr Passagiere befördert, als das im Jahre 2000 der Fall
war.
Dieses Wachstum bringt auch mehr Arbeitsplätze
rund um die Flughäfen mit sich. Man spricht in diesem
Zusammenhang gern, wie auch in der heutigen Debatte
wieder, von der Jobmaschine. Es ist keine Frage: Die
Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist groß. Wir müssen dafür
sorgen, dass es weiterhin gut vorangeht. Ich bedanke
mich für die große Einigkeit hier im Hause in dieser
Frage.
Deutschland liegt in der Mitte Europas und der erweiterten EU und ist als zentrale Drehscheibe für den internationalen Luftverkehr in einer guten Ausgangsposition.
Aber auch unsere Nachbarn verfügen über moderne
Flughäfen. Wir stehen im Wettbewerb und stellen uns
diesem europäischen und internationalen Wettbewerb.
Der Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen ist da äußerst hilfreich; denn damit wird das
Ziel verfolgt, die Rahmenbedindungen für den Luftverkehrsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit weiter zu verbessern. Es ist schade, dass sich die
Opposition diesem Antrag nicht anschließen mochte;
schließlich enthalten die nun vorliegenden Anträge eine
Vielzahl von Gemeinsamkeiten. Aber auch dann, wenn
sich die Opposition im Moment noch verweigert, entsteht kein Schaden; denn der Antrag der Koalitionsfraktionen ist ausgewogen und umfassend. Besonders wichtig ist, dass hier nicht einzelne Flughäfen bevorzugt
behandelt werden. Das wäre auch ganz falsch; denn es
gilt, den Gesamtstandort mit seiner flächendeckenden
Flughafeninfrastruktur zu erhalten und wettbewerbsfähig zu gestalten.
In diesem Sinne wird die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, die Verlagerung von Planungskompetenzen zugunsten des Bundes zu überprüfen, um dem
Bund eine stärker koordinierende Rolle im Interesse der
Gesamtstandortpolitik zuzuweisen. Durch die Novellierung des Fluglärmgesetzes sollen auch die Belastungen
durch Fluglärm deutlich verringert und den Betreibern
Planungssicherheit verschafft werden.
Einige der geforderten Maßnahmen sind bereits eingeleitet. Dazu zählen die Bewertung eines von der Industrie vorgelegten Masterplans für die Entwicklung der
Flughafeninfrastruktur, die Novellierung des Fluglärmgesetzes und die Umsetzung der EG-Richtlinie zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen.
Wir treten konsequent für einen starken Luftverkehrsstandort Deutschland ein. Die Bundesregierung arbeitet
aktiv in der Initiative „Luftverkehr für Deutschland“
mit, die von Vertretern der Luftverkehrswirtschaft gestartet wurde und die von unserem Bundesminister
Dr. Manfred Stolpe moderiert wird.
({0})
Eines ist mir ganz besonders wichtig: Mit dem Antrag
der Koalitionsfraktionen wird ausgehend von der
Wachstumsprognose für eine höhere Akzeptanz des
Luftverkehrs plädiert. Auch deshalb ist es gut, dass die
Novellierung des Fluglärmgesetzes auf dem Weg ist. Ich
bin zuversichtlich, dass ein fairer und guter Ausgleich
zwischen den berechtigten Interessen der Bürgerinnen
und Bürger und den berechtigten Interessen der Luftverkehrswirtschaft gefunden wird.
Aber auch in der Forschung - der Kollege
Bruckmann hat es schon angesprochen - muss weiter an
lärmarmen und umweltfreundlichen Flugzeugen gearbeitet werden. Es ist deshalb sinnvoll, alternative Treibstoffe bei der Forschung stärker zu berücksichtigen.
({1})
Die Bundesregierung erhält mit dem Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen einen zukunftsorientierten
Wegweiser und das ist auch gut so. Ich bedanke mich an
dieser Stelle ausdrücklich.
({2})
Wie alle Mobilitätsbereiche ist auch der Luftverkehr auf
eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz zwingend angewiesen. Diese Akzeptanz gilt es zu bewahren und auszubauen. Das liegt in unser aller Interesse. Dieser Aufgabe
haben wir uns gemeinsam zu widmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat der
Kollege Wilhelm Josef Sebastian, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In allen Wortbeiträgen, also fraktionsübergreifend, ist
deutlich geworden, welche Bedeutung der Luftverkehrsstandort Deutschland hat. Es ist aber höchste Zeit, dass
wir unser Augenmerk auf die Förderung des Luftverkehrs richten und dass wir dafür ein positives Klima
schaffen; denn der Luftverkehr nimmt - ich sage das mit
Blick auf die wirtschaftliche Situation in Deutschland eine immer wichtigere Position ein.
In der heutigen Zeit muss man froh sein, dass es noch
eine Branche gibt, die deutliche Wachstumsraten aufweist und vor allem zahlreiche Arbeitsplätze bereitstellt, ja, die Chance bietet, zusätzliche Arbeitsplätze zu
schaffen. Ich sage dies auch als Mitglied des Tourismusausschusses; denn dieser Aspekt ist mir in der ganzen
Diskussion der letzten Monate etwas zu kurz gekommen.
Nur mit leistungsfähigen Flughäfen in Deutschland
und mit begleitender Infrastruktur bewältigen wir die
Aufgabe, das Reiseziel Deutschland für Menschen, die
nicht direkt aus Nachbarländern kommen, attraktiv zu
machen und den Menschen in Deutschland die Chance
zu geben, Reiseziele im Ausland zu vertretbaren Konditionen zu erreichen. Es ist eine staatliche Aufgabe, hierfür die Rahmenbedingungen zu setzen. Ich bewerte es
positiv, dass dies jetzt fraktionsübergreifend erkannt
wurde.
Die Voraussetzungen für die Mobilität von Menschen
zu schaffen ist eine der vordringlichsten Aufgaben. In einer globalisierten Welt sind wir nicht nur auf moderne
Kommunikationstechniken, sondern auch maßgeblich
auf leistungsfähige Flugverkehrsnetze angewiesen.
Globalisierung ist das Stichwort, das uns auch im Hinblick auf die Stellung Deutschlands im internationalen
Luftverkehr bewegen sollte. Wer will ernsthaft bezweifeln, dass nur eine leistungsfähige Flughafenstruktur in
Deutschland den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit mit
anderen Staaten bewirken kann? Die naturgegebene geographische Lage im Herzen Europas sollte uns ermuntern, im Passagier- und Güterverkehr eine zentrale Bedeutung zu erlangen. Für die Ansiedlung internationaler
Unternehmen in Deutschland ist ein wettbewerbsfähiges
Flughafennetz von entscheidender Bedeutung.
({0})
Wir alle sind uns sicherlich darüber einig, dass in einem koordinierten Vorgehen ein wichtiger Schlüssel für
den Erfolg der Bemühungen liegt. Dies bedeutet, dass
sich Bund und Länder in ihren Planungen hinsichtlich
der Flughafeninfrastruktur austauschen und abstimmen.
Es darf aber nicht so sein, dass durch bundesweite Vorgaben die Entwicklung neuer regionaler Standorte für
den Flugverkehr grundsätzlich unmöglich wird; denn
auch die regionalen Flughäfen, denke ich, haben in unserem Land eine hohe Bedeutung.
({1})
Im Zuge der allgemeinen Harmonisierungsbemühungen dürfen neue Regelungen und Belastungen mit Rücksicht auf die Wahrung der Wettbewerbsgleichheit nicht
in einem nationalen Alleingang vorgenommen werden.
Der Ruf nach mehr Steuern und Belastungen als der
Weisheit letzter Schluss ist im Übrigen völlig falsch.
Eine immer wieder geforderte Besteuerung von Kerosin
ist daher für uns kein Thema. Ebenso wie die Ökosteuer,
die wir als umweltpolitisch weitgehend wirkungslos erleben,
({2})
wird eine solche Besteuerung nur zu einer Verteuerung,
aber nie zu einer Verbesserung führen.
Wir von der Union vertrauen auf die Kräfte der
Marktwirtschaft und für uns ist es besonders wichtig, im
Sinne von Wirtschaftlichkeit, Energieverbrauch, Immissions- und Lärmschutz die technische Entwicklung
weiter zu fördern. Eine ökonomische Grundwahrheit ist,
dass nur technischer Fortschritt nachhaltiges Wachstum
begründen kann. Wer die „FAZ“ vom 22. Februar gelesen hat, konnte dort unter der Überschrift - ich zitiere „Der Fluglärm kann noch einmal halbiert werden“ interessante technische Ansätze nachvollziehen.
Interessant ist, im Antrag von SPD und Grünen zu lesen, dass die Bündelung von Kompetenzen und Ansprechpartnern an einer Stelle offenbar als wirksamer
Schritt zur Förderung des Luftverkehrsstandortes gesehen wird. Aber wie üblich bleibt es nebulös: Es sei zu
prüfen, ob und inwieweit so etwas geschehen kann.
({3})
Durch die luftverkehrsübergreifende Bündelung von
Kompetenzen und Know-how werden Experten aus
Wirtschaft, Forschung und öffentlicher Hand gemeinsam
zukunftsfähige Strategien für den Luftverkehrsstandort
Deutschland entwickeln.
Der Antrag von Rot-Grün weist aber durchaus in die
richtige Richtung und greift viele Punkte des Antrags der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf. An einer maßgeblichen Stelle weist er jedoch erneut einen erheblichen
Hang zur Hasenfüßigkeit aus. Man traut sich regierungsseitig nicht, sich klar und eindeutig für den Ausbau des
Flughafens Frankfurt auszusprechen.
({4})
Das ist der Grund dafür, dass wir bei aller Übereinstimmung in Einzelpunkten Ihrem Antrag heute nicht zustimmen können.
Symptomatisch für die Politik aus Halbheiten und faulen Kompromissen ist vor allem das Thema Fluglärm; es
hat in der Debatte hier schon breiten Raum eingenommen. Leider muss man an dieser Stelle darauf hinweisen
- das ist auch schon geschehen -, dass im rot-grünen Gesetzgebungsverfahren eine ganze Menge Sand im Getriebe ist. Nachdem bereits Ende 2003 viele SPD-BunWilhelm Josef Sebastian
destagsabgeordnete in ihren von Fluglärm betroffenen
Wahlkreisen aus vordergründigen Motiven vollmundig
die kurzfristige Vorlage eines Gesetzentwurfs ankündigten, warten wir heute, Anfang 2005, immer noch darauf.
({5})
Ruchbar wurde dann aber im letzten Jahr ein Referentenentwurf aus dem Hause Trittin, der offenbar das Papier nicht wert war, auf dem er geschrieben stand.
({6})
Die Anhörung von Verbänden im letzten September hat
offenbar einen solchen Verriss zur Folge gehabt, dass der
Entwurf augenscheinlich wieder einkassiert wurde. Wie
anders wäre es zu erklären, dass heute immer noch
nichts auf dem Tisch liegt?
({7})
Auch in der heutigen Debatte ist ja wohl deutlich geworden, welcher Meinungsstreit zwischen Trittin, Stolpe
und Minister Clement in diesen Fragen besteht.
Die Formulierung in Ihrem heute zur Abstimmung
stehenden Antrag zeigt, dass auch Ihnen selbst die Regierung untätig vorkommt. Sie fordern nämlich die Bundesregierung auf, endlich einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Fluglärmgesetzes vorzulegen.
({8})
Man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
Die beiden Koalitionsfraktionen fordern ihre eigene Regierung auf, etwas zu tun. Sie dokumentieren damit, dass
sie bisher untätig war.
({9})
Machen Sie Minister Stolpe und Minister Trittin
Dampf, damit endlich etwas passiert. Alle Betroffenen
haben nämlich ein Recht, zu wissen, welche Richtlinien
zukünftig im Bereich Fluglärm gelten: die von Fluglärm
betroffenen Menschen, die Betreiber von Flughäfen, die
Fluggesellschaften und alle, die dort Arbeit finden. Nicht
wir von der CDU/CSU sind aufgefordert, diese Kriterien
vorzulegen, wie das eben schon einmal gefordert wurde.
Legen Sie einmal Kriterien vor. Wir werden Ihnen dann
sagen, ob wir sie für richtig halten.
({10})
Wir fordern Sie nachdrücklich auf, zu handeln. Sie haben noch anderthalb Jahre Zeit, um zu handeln.
({11})
Danach werden wir Ihnen zeigen, wie man es richtig
macht.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 15/4876.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4518 mit dem Titel „Luftverkehrsstandort
Deutschland - Koordination und Kooperation verbessern - Nachhaltigen Luftverkehr für die Zukunft sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der CDU/
CSU-Fraktion auf Drucksache 15/3312 mit dem Titel
„Luftverkehrsstandort Deutschland sichern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/4517 mit dem Titel „Flughafenkonzept für Deutschland“.
({0})
- Flughafen! Ich bin im Übrigen ziemlich sicher, Herr
Kollege, dass mit und ohne Zweifel über die Intonation
das Abstimmungsverhalten ziemlich präzise das gleiche
sein wird.
({1})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Meine Vermutung war nicht gänzlich falsch: Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, Hermann
Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Folgerungen aus der Tsunami-Flutkatastrophe
vom 26. Dezember 2004 - Deutsche Entwicklungspolitik stärken und verstetigen
- Drucksache 15/4657 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die verheerende Flut vom 26. Dezember 2004 gehört zu den
schlimmsten Naturkatastrophen der jüngeren Geschichte. Über zwölf Länder in Süd- und Südostasien sowie in Afrika sind betroffen, rund 300 000 Menschen haben ihr Leben verloren, darunter auch Hunderte
Deutsche.
Der Schock über das Unfassbare, aber auch Mitgefühl
und Anteilnahme mit allen Betroffenen haben Menschen
in aller Welt in unglaublichem Ausmaß aktiviert.
Großes Lob gebührt den nationalen und internationalen Hilfsorganisationen, die in kürzester Zeit reagiert
haben, um die Notversorgung der 5 Millionen zumeist
obdachlosen Überlebenden bestmöglich sicherzustellen.
Die Tsunamikatastrophe stellt allein wegen der vielen
betroffenen Länder hinsichtlich Koordination und Logistik eine riesige Herausforderung für das nationale und
internationale Krisenmanagement dar. Die Bundesregierung hat schnell reagiert und deutsche Hilfe richtigerweise auf die am schwersten betroffenen Regionen in
Aceh und Sri Lanka konzentriert. Auch der schnelle Einsatz der Bundeswehr war eine gute und richtige Entscheidung.
({0})
Im Namen der Unionsfraktion richtet sich mein Dank
an alle, die an den Hilfsmaßnahmen beteiligt waren, ob
Ministerialbeamte, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen,
Soldaten oder private Helfer. Ebenso danke ich den vielen Mitbürgern, die durch ihre Spenden deutlich gemacht haben, dass ihnen das Schicksal und das Leid der
Menschen in der Unglücksregion nicht gleichgültig sind.
({1})
Die überwältigende internationale Anteilnahme und
Unterstützung für die Flutopfer sowie die Erfahrung,
dass schnelle internationale Hilfe in diesem Umfang
überhaupt möglich ist, werfen auch ein bemerkenswert
positives Licht auf die Globalisierung; dies möchte ich
besonders den Globalisierungskritikern mit auf den Weg
geben. Die deutsche humanitäre Soforthilfe, ob staatlich,
privat oder über Nichtregierungsorganisationen, hat insgesamt gut funktioniert.
({2})
Natürlich gibt es auch Verbesserungsvorschläge. Deshalb appelliere ich, auch die Manöverkritik sehr ernst zu
nehmen, damit wir für mögliche zukünftige Katastrophen noch besser gewappnet sind.
Die von vielen erwartete zweite Katastrophe in Form
von Seuchen und Krankheiten konnte verhindert werden. Doch jetzt erreichen wir die kritische Phase des
Übergangs von der Nothilfe zum Wiederaufbau. In Zusammenarbeit mit den regional und lokal Verantwortlichen müssen jetzt die richtigen Weichen gestellt werden,
um einen wirklich nachhaltigen Wiederaufbau zu erreichen.
Das Ausmaß der Zerstörung ist unvorstellbar: Allein
in der indonesischen Provinz Aceh sind über 1 150 Schulen, 6 000 Kilometer Straße und 490 Brücken zerstört.
Priorität beim Wiederaufbau haben vor allem die Gesundheitsversorgung, die Wasserver- und -entsorgung,
Wohnunterkünfte, die materielle und soziale Infrastruktur und natürlich der Schutz und die Betreuung der vielen betroffenen Kinder.
Neben dem unermesslichen Leid der Menschen und
den großen materiellen Schäden wird deutlich, dass auch
die Umwelt in der Krisenregion stark in Mitleidenschaft
gezogen wurde. Korallenriffe, Mangrovenwälder und
Fischbestände sind vielerorts ernsthaft bedroht. Zudem
hat das Salzwasser die natürliche Vegetation und landwirtschaftliche Flächen bis zu 3 Kilometer landeinwärts
zerstört. Eine intakte Umwelt - dazu zähle ich auch die
Tropenwälder Indonesiens - ist Voraussetzung für die
nachhaltige Entwicklung der Region. Wir müssen daher
die Appelle der Umweltorganisationen ernst nehmen
und uns dafür einsetzen, dass der Wiederaufbau nicht zu
einer Abholzung der für das globale Weltklima so wichtigen Tropenwälder führt.
({3})
Die Unionsfraktion fordert in ihrem Antrag:
Die deutsche Unterstützung muss langfristig, seriös, solide finanziert, transparent und maßgeschneidert konzipiert werden.
Hierzu erwarten wir von der Bundesregierung zu gegebener Zeit konkrete Aussagen. Noch ist uns nicht klar,
wie die Summe von 500 Millionen Euro finanziert werden und welche Projektschwerpunkte es geben soll.
({4})
Jetzt kommt es darauf an, durch die Koordinierung
mit den betroffenen Ländern, anderen Gebern und privaten Hilfsorganisationen die bestmögliche und effizienteste Verwendung der Mittel sicherzustellen und die
Wiederaufbauhilfe in ein nachhaltiges entwicklungspolitisches Konzept einzubetten. Wenn über 200 Hilfsorganisationen an einem Ort arbeiten, kommt es zwangsläufig zu Überlappungen und Doppelstrukturen, die durch
eine verbesserte Koordination vermieden werden sollten.
Im Zusammenhang mit der großen Spendenbereitschaft der Deutschen teile ich mit Bundespräsident
Köhler die Hoffnung, dass die Hilfe für Süd- und Südostasien einen Bedeutungszuwachs der Entwicklungspolitik insgesamt mit sich bringt. Wir dürfen auf keinen
Christa Reichard ({5})
Fall zulassen, dass nur die Krisen- und Katastrophenregionen berücksichtigt werden, die besondere mediale
Aufmerksamkeit genießen.
Sehr wichtig erscheint mir auch Folgendes: Sowohl in
Aceh als auch in Sri Lanka toben seit Jahrzehnten anhaltende Bürgerkriege. Es besteht die Gefahr, dass durch
diese Bürgerkriege viele der Projekte und Hilfsmaßnahmen wieder zerstört werden oder nicht ihre volle Wirkung
entfalten können. Daher halte ich die Beilegung der Bürgerkriege für die größte Herausforderung und zugleich
wichtigste Voraussetzung für einen wirklich nachhaltigen
Wiederaufbau und begrüße besonders die hoffnungsvollen Verhandlungen, die die indonesische Regierung mit
den Rebellen führt und über die uns heute der Botschafter
von Indonesien berichtet hat, sie seien auf einem guten
Wege. Wir wünschen Erfolg bei diesen Verhandlungen,
damit dann auch die Hilfsmaßnahmen zu einem guten
Wiederaufbau führen können.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Karin Kortmann,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Reichard hat darauf hingewiesen: Die
Tsunamikatastrophe hat der Welt vor Augen geführt,
dass wir alle auf einem verwundbaren Planeten leben.
Die Gewalt der Wassermassen, deren Schreckensbilder
uns Weihnachten via Fernsehen in unseren Wohnzimmern erreichten und aufschreckten, hat unermessliches
Leid über so viele Menschen und Familien gebracht, wie
wir es uns nie vorstellen konnten. Wir beklagen auch
heute noch die Toten und Verletzten, die Leidenden und
vor allem die Angehörigen der Vermissten, die in ihren
Herzen sicherlich noch immer große Hoffnung haben,
aber auch wissen, dass die Zeit Wunden heilen muss.
Ich möchte deswegen ebenfalls zu Beginn meiner
Rede sehr aufrichtig all jenen danken, die den Wettlauf
mit der Zeit aufgenommen haben und schnell, unbürokratisch, oft auch unter Einsatz und Gefährdung ihres eigenen Lebens tatkräftig mit angepackt haben, um Hilfe
zu leisten.
({0})
Die große Anteilnahme und auch die Spendenbereitschaft in Deutschland sowie in vielen anderen Ländern der Welt sind beispiellos. Sie sind auch heute noch,
zwei Monate nach der Katastrophe, sichtbar. Vielerorts
finden noch immer Sammelaktionen und Benefizveranstaltungen statt und die Kreativität bei der Vermittlung
von Hilfe ist unbegrenzt.
Sicherlich hat auch die schnelle Hilfe der Bundesregierung mit dazu beigetragen, dass diese Solidaritätswelle in Gang gesetzt wurde. Der Bundeskanzler hat mit
seiner Idee der kommunalen Partnerschaften einen
ganz wichtigen Impuls gegeben. Die Globalisierung der
Solidarität hat damit einen Namen bekommen. Mehr als
1 000 Schulen, Kommunen und Unternehmen haben
mittlerweile ihr Interesse an einer mittel- und langfristigen Unterstützung bei der „Kommunalen Servicestelle Partnerschaftsinitiative“ des BMZ in Bonn angemeldet,
Menschen, die wissen, dass, wenn die Soforthilfe beendet ist, die Aufbauarbeit im Sinne eines nachhaltigen
Entwicklungsprozesses verlässlich fortgeführt werden
muss.
Die Meldungen der Servicestelle in Bonn zeigen, dass
die meisten Bewerbungen aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen kommen, aus dem Bundesland, das
unter Ministerpräsident Johannes Rau damals die kommunale Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut hat,
in der kommunale Eine-Welt-Beauftragte die Kommunen, Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen
Gruppen in ihrem Engagement unterstützen, sie vernetzen und kooperative Formen der Zusammenarbeit aufbauen. Wir erkennen daran: Hilfe ist nicht einfach zu
verordnen, sondern sie braucht, wie wir am Beispiel von
Nordrhein-Westfalen sehen, auch ein gewachsenes Verständnis von globaler Partnerschaft. Bonn war damit
auch die erste Stadt, die gemeinsam mit der Deutschen
Welthungerhilfe und dem Bonner „General-Anzeiger“
am 3. Januar ein solches Bündnis für die Menschen im
Distrikt Cuddalore im Bundesstaat Tamil Nadu initiiert
hat. Wir haben festgestellt, dass dort an der Südküste Indiens die Deutsche Welthungerhilfe 1 992 Opferfamilien
- das sind rund 12 000 Personen; viele von ihnen sind
Fischer - unterstützt und ihnen eine neue Existenzgrundlage gibt. Daran sehen wir: Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Gerade die Verbindung von Kommunen,
Schulen und Entwicklungsorganisationen ist außerordentlich hilfreich.
({1})
Diese Region ist wie viele andere Krisengebiete auf
internationale Hilfe angewiesen. Gestern konnte man in
„Spiegel online“ nachlesen, dass bisher rund 7 Milliarden US-Dollar für die Not- und Katastrophenhilfe, aber
auch für langfristige Entwicklungsprojekte weltweit zur
Verfügung gestellt wurden.
Ich habe bereits gesagt, dass die große Spendensumme eine große Hypothek für diejenigen ist, die für
die Mittelverwendung zuständig sind. Denn die vielen
Spender wollen wissen, an wen ihr Geld geht. Sie wollen
wissen, ob damit den armen Menschen geholfen wird
oder ob das Geld in korrupten Strukturen versickert. Sie
fragen sich außerdem: Dient das Geld allein dem Aufbau
der Tourismusindustrie oder profitiert auch die ländliche
Bevölkerung davon? Werden neue Ungleichheiten zwischen Tsunamigebieten und anderen vergessenen Krisenregionen der Welt geschaffen? Werden die öffentlich
zugesagten Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro aus
dem laufenden BMZ-Haushalt finanziert oder handelt es
sich um eine zusätzlich notwendige Hilfeleistung, die
nicht zulasten anderer Regionen geht? Frau Reichard hat
zu Recht darauf hingewiesen. Ich kann sie in ihrer Auffassung nur unterstützen.
({2})
- Herr Weiß, hören Sie doch bitte zu!
Ich wünsche mir deshalb, dass das öffentliche Interesse nicht nachlässt, sondern dass der Wunsch nach objektiver Berichterstattung bei der Bevölkerung und bei
den Medien weiter besteht. Diese Berichterstattung hat
um die Jahreswende entscheidend dazu beigetragen,
dass die Tsunamikatastrophe dieses große Echo fand und
dass es diese Mobilisierung gab. Ich sage an die Adresse
der Medien: Tragen Sie jetzt dazu bei, dass auch dem
weniger spektakulären Wiederaufbau Aufmerksamkeit
zuteil wird.
({3})
Andere „Tsunamis“ - beispielsweise die Vertreibung
und das Morden im Sudan, die HIV/Aids-Pandemien in
Südfrika - haben nicht diese mediale Aufmerksamkeit.
Das bedeutet weniger öffentliches Interesse und weniger
Unterstützung. Die Macht, aber auch die Kraft der Medienberichterstattung entscheidet gerade in der Entwicklungszusammenarbeit über die Stärke und den Umfang
der öffentlichen und privaten Hilfe.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Sie haben in Ihrem Antrag einen umfassenden Forderungskatalog vorgelegt, den die Bundesregierung bearbeiten soll.
Ich darf in diesem Zusammenhang aber darauf hinweisen, dass die Bundesregierung schneller gehandelt hat,
als Sie in der Lage waren, Ihren Antrag zu schreiben.
({5})
- Warum sollen wir ein Sammelsurium an Hilfeleistungen zusammenstellen, wenn doch die Bundesregierung
seit dem zweiten Weihnachtstag in einer konzertierten
Aktion des Auswärtigen Amtes, des BMZ und des Verteidigungsministeriums genau diese Leistungen erbringt?
({6})
Frau Reichard, Sie haben eben mit Recht darauf hingewiesen, dass es Klarheit in dem, was wir tun, geben
muss. Darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Verzeihen Sie mir, dass ich trotzdem auf den letzten Punkt Ihres Antrags hinweisen muss. Darin fordern Sie die Bundesregierung auf,
die Modalitäten der deutschen Zusammenarbeit den
modernen Erfordernissen anzupassen und ein Konzept zur maßgeschneiderten Zusammenarbeit orientiert an der Leistungsfähigkeit der Partner vorzulegen.
Ich habe gedacht, dies sei eine Verschlusssache. Walter
Riester sagte mir vorhin, dass die Rentenformel im Vergleich zu dieser Forderung einfach zu erklären sei.
({7})
Wir wissen nicht, was Sie darunter verstehen. Sie müssen besser ausdrücken, was Sie tatsächlich wollen.
Von grundsätzlicher und entscheidender Bedeutung
wird sein, dass die Gebergemeinschaft zu einer weiteren
Koordinierung ihrer Hilfeleistungen kommt. Die Vielzahl von Hilfsorganisationen - es gibt allein in Sri Lanka
8 000 - ist unter quantitativen Gesichtspunkten sicherlich beeindruckend. Diese Organisationen gleichen aber
hinsichtlich Effektivität, Transparenz und der Fähigkeit,
die Eigenverantwortung der in den betroffenen Ländern
lebenden Menschen zu stärken, eher einem uneffektiven,
multilateral tätigen Hilfetrupp. Wir müssen in der Tat
Sorge dafür tragen, dass nicht bei jeder multilateral erforderlichen Hilfe eine Wanderungsbewegung von Organisationen, die es gut meinen, die aber nicht immer gut
arbeiten, stattfindet. Auf die Arbeit der Bundesregierung
habe ich wohlwollend hingewiesen.
Wir müssen aber auch darauf hinweisen - ich denke,
das ist der entscheidende Punkt -, dass die Regierungen
der betroffenen Länder die Hilfeleistungen nach den Kriterien der Bedürftigkeit vergeben und sie nicht aufgrund
parteipolitischen Machtkalküls missbrauchen. Damit
bietet sich hoffentlich die Chance, Bürgerkriegsparteien
zu versöhnen und nach dieser fürchterlichen Katastrophe
zu einem wirklichen Friedensprozess zu kommen. Denn
wir alle wissen: Ohne Frieden ist eine Zukunft nach dem
Wiederaufbau nicht tragfähig. Unsere Möglichkeiten dabei sind begrenzt. Bei aller gut gemeinten Unterstützung
von außen bleibt entscheidend, ob in den jeweiligen
Staatsführungen und bei den Verantwortlichen in diesen
Ländern der Wille zu einer vernünftigen Entwicklung
des eigenen Landes vorhanden ist.
Bei der Wiedererlangung von Existenzen wird zurzeit
der Schwerpunkt auf die Fischerei, auf die Ausstattung
mit Booten, Netzen und Kühlanlagen, gelegt. Damit
wird der Schaffung einer Existenzgrundlage in umfangreichem Maße Rechnung getragen. Aber wir sollten
auch darauf achten, dass es nicht nur darum geht, die
Männer auszustatten. Wir sollten dafür sorgen, dass auch
junge Frauen Existenzgrundlagen bekommen. Die
jüngsten Fernsehberichterstattungen machen mich da
sehr nachdenklich. Unter dem Stichwort „Zurück zur
Normalität“ habe ich in der vergangenen Woche einen
Beitrag darüber gesehen, dass der so genannte Sextourismus wieder floriert und Männer sagen: Schön, dass wir
da wieder ein Schnäppchen machen können! - Das ist
ein wichtiger Punkt, den wir in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Menschenrechtsarbeit berücksichtigen müssen.
Frau Kollegin, Ihnen ist sicher entgangen, dass Sie
schon seit einer Minute von der Großzügigkeit des Präsidenten leben.
({0})
Herr Präsident, ich danke für dieses nordrhein-westfälische Verständnis.
Ich glaube, dass wir im Ausschuss - wenn ich diesen
Gedanken noch zu Ende führen darf -, was die Hilfeleistungen und die Bemühungen angeht, einer Meinung
sind. Wir sagen allerdings: Die Bundesregierung hat gehandelt und handelt weiterhin. Deswegen danke für die
Anregungen! Aber sie werden bereits umgesetzt.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
({0})
Bevor ich nun dem Kollegen Markus Löning das
Wort erteile, weise ich die Vermutung zurück, es gebe einen Nordrhein-Westfalen-Bonus bei der Bemessung von
Redezeiten.
({0})
Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für diesen
Hinweis, Herr Präsident, bin ich natürlich sehr dankbar.
Ich werde mich bemühen, mich strikt an die Redezeit zu
halten.
Ich glaube, es ist selbstverständlich, dass wir in dieser
Debatte - das ist meines Wissens die erste Debatte, die
wir zu der Tsunamikatastrophe führen - zunächst einmal
deutlich machen, mit wie viel Dankbarkeit wir auf das
schauen, was die vielen Helfer dort geleistet haben. Ich
selbst bin vorletzte Woche in Banda Aceh gewesen und
habe gesehen, wie die Situation vor Ort ist. Vor Ort zu
sein führt noch einmal zu einer ganz anderen Erfahrung
als die Bilder, die schon im Fernsehen furchtbar wirken.
Die unmittelbare Wirkung vor Ort ist noch einmal ganz
anders.
Wenn man die Lage vor Ort gesehen hat, kann man
noch viel deutlicher empfinden, welche große menschliche Leistung unsere Helfer und die vielen Freiwilligen
erbringen, die beispielsweise gesagt haben: Natürlich
gehe ich mit dem THW für sechs Wochen nach Indonesien und helfe dort. - Ich habe einen Mann kennen gelernt, der seinen Installateurbetrieb seinen Mitarbeitern
überlassen und gesagt hat: Ich gehe da hin, um zu helfen.
Ich denke, dass das unserer ganz besonderen Anerkennung bedarf.
({0})
Lassen Sie mich generell zu diesem Thema ein paar
Punkte anmerken. Die Bundesregierung hat gesagt, sie
konzentriere sich auf Indonesien und Ceylon. Auch die
CDU/CDU hat das in ihrem Antrag gefordert. Ich finde
es schade, dass wieder einmal Afrika herausfällt. Ich
rege an, Somalia und das Horn von Afrika nicht zu vergessen, wo es auch Betroffene gab. Es ist gut, dort zu
helfen, wo die Not am größten ist. Es ist aber auch wichtig, dort zu helfen, wo vielleicht mit weit weniger Geld
und weit weniger spektakulär geholfen werden kann.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle auf eines deutlich hinweisen: Zwei Länder, die betroffen sind, nämlich Indien und
Thailand, haben gesagt, sie seien von sich aus, aus eigener Stärke, in der Lage, diese Katastrophe zu bewältigen.
Die Inder reden von einem Schaden in der Größenordnung von immerhin 450 Millionen bis 500 Millionen
Dollar. Es geht dabei also nicht um Peanuts. Die Inder
haben gesagt, sie seien in der Lage, das selbst zu bewältigen. Ich finde, auch die Anstrengungen, die dort unternommen werden, bedürfen unserer Anerkennung.
({2})
In einem anderen Punkt - er wurde hier schon angesprochen - möchte ich Ihnen widersprechen bzw. Sie
bitten, den Antrag noch ein bisschen nachzubessern: die
Frage der Bürgerkriege. Ich glaube, es ist nicht richtig,
dass dieser Punkt in Ihrem Antrag nur einer von vielen
ist. Die Situation in den Ländern steht und fällt mit der
Frage, ob die Bürgerkriege beendet werden. Es macht
doch überhaupt keinen Sinn, dass unsere Schulen für den
Aufbau einer Schule in Banda Aceh Geld sammeln,
wenn als nächstes die GAM hingeht und die Schule wieder abbrennt, weil dort aus ihrer Sicht weiterhin zentrale
Inhalte, die in Jakarta bestimmt werden - die GAM bekämpft das -, unterrichtet werden. Wir müssen sehr viel
mehr dafür tun, dass die Bürgerkriege beigelegt werden.
Das gilt im Übrigen genauso für Sri Lanka, dessen
Entwicklung seit vielen Jahren durch den Bürgerkrieg
blockiert wird. Sri Lanka könnte längst eine wesentlich
höhere Stufe in seiner Entwicklung erreicht haben, wenn
dieser Bürgerkrieg nicht jegliche Investition verhinderte.
Die Frage der Bürgerkriege muss aus meiner Sicht viel
stärker in den Fokus dessen rücken, was wir hier besprechen.
({3})
Herr Ruck, lassen Sie mich zum Schluss noch eine
Anmerkung zur ODA-Quote von 0,33 Prozent - Sie haben sie angesprochen - machen. Die Bundesregierung
braucht keinen Plan mehr vorzulegen, wie sie die Quote
von 0,33 Prozent erreichen will; denn sie hat dem Irak
4 Milliarden Euro geschenkt und erreicht damit in diesem Jahr auf jeden Fall die ODA-Quote von
0,33 Prozent. Man kann darüber diskutieren, ob solch
eine Entschuldung überhaupt sinnvoll und richtig ist und
ob sie für die ODA-Quote angerechnet werden soll. Es
bleibt aber festzuhalten: Die Bundesregierung wird die
ODA-Quote von 0,33 Prozent durch diese Entschuldung
erreichen.
({4})
An dieser Debatte stört mich, dass man jetzt aufgrund
der Hilfsbereitschaft der Menschen sagt: Entwicklungspolitik hat Konjunktur, also lasst uns doch einmal
darüber reden, wie wir mehr Geld für die Entwicklungspolitik einsetzen können, sei es durch Steuererhöhungen
oder sei es durch eine höhere Verschuldung. Das ist eine
Debatte, die ich nicht verstehe. Warum gehen wir nicht
den Weg, zunächst einmal die schwierigeren Themen anzugehen? Warum führen wir nicht eine Debatte darüber,
wo wir Entwicklungshilfe sinnvoll konzentrieren können
und wo es Länder gibt, die keine Entwicklungshilfe
mehr brauchen, bevor wir den Weg in eine weitere Verschuldung gehen?
Ich schaue bei diesem Thema immer besonders gern
die Grünen an, weil sie 1998 hier angetreten sind und gesagt haben: Wir wollen Generationengerechtigkeit in der
Finanzpolitik; wir wollen eine nachhaltige Finanzpolitik.
({5})
Diese Ziele werden leichtfertig über Bord geworfen; sie
spielen nicht einmal mehr eine Rolle.
({6})
Ich finde, wir sollten zunächst die schwierigen Debatten
darüber führen, wie wir das Geld sinnvoll konzentrieren
können, bevor wir einfach mehr Geld verlangen.
Vielen Dank.
({7})
Nachdem ich jetzt den Nachweis geführt habe, dass es
nicht nur für nordrhein-westfälische Kollegen Zuschläge
gibt, erhält der Kollege Ruck die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
von Herrn Löning direkt angesprochen worden und
möchte deshalb zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Ich glaube schon, dass auch wir, die Opposition, aufgefordert sind, die Versprechen, die die Bundesregierung den Entwicklungsländern in Monterrey gegeben hat, gemeinsam umzusetzen. Wir jedenfalls stehen
zu dem Versprechen, das die Bundesregierung gegeben
hat, nämlich eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu erreichen. Man muss sich natürlich fragen - da gebe ich
Ihnen Recht -, wie die Erfüllung der Quote von
0,33 Prozent erreicht werden soll. Auch wir sind strikt
dafür, dass wir nicht in eine weitere Schuldenfalle tappen, sondern dass wir uns über die Qualität der Entwicklungshilfe und die Schwerpunkte der zukünftigen
Entwicklungshilfe, über die Länderauswahl, die Sektorenauswahl und auch über eine bessere internationale
Arbeitsteilung unterhalten. Das wird zu einem Schwerpunkt auch der Diskussionen in diesem Hause zur Entwicklungspolitik.
Dessen ungeachtet und vor dem Hintergrund der dramatischen Situation, dass in vielen Ländern dieser Welt
Erfolge bei der Armutsbekämpfung bisher ausgeblieben
sind, halten auch wir es für richtig, zu dem zu stehen,
was die Bundesrepublik bzw. die Bundesregierung versprochen hat, nämlich bis 2006 eine ODA-Quote von
0,33 Prozent zu erreichen.
Damit bin ich bei einem zweiten Punkt, über den wir
neulich schon im Ausschuss diskutiert haben, nämlich
der Frage des Schuldenerlasses zugunsten von Irak: Frau
Kortmann, ich erwarte, dass es in diesem Hause einen
breiten Konsens darüber gibt, dass die Mittel, die für
einen Schuldenerlass des Iraks eingesetzt wurden, nicht
auf die ODA-Quote von 0,33 Prozent angerechnet werden dürfen.
({0})
Darüber, ob ein Schuldenerlass für Irak sinnvoll ist, kann
man sicher streiten. Jedenfalls darf das nicht zu einem
Trick werden, sodass man sagt: Gut, die ODA-Quote haben wir erfüllt. - Ein solches Vorgehen würden wir nicht
mittragen.
({1})
Für die Bundesregierung spricht nun die Parlamentarische Staatssekretärin Uschi Eid.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde vorschlagen, dass wir über das Thema,
um das es gerade ging, in den dafür geeigneten Gremien,
im zuständigen Ausschuss und in den Fraktionen, diskutieren. Ich glaube, hier können wir uns verständigen.
Aber heute, zwei Monate nach der verheerenden Flutkatastrophe in Südostasien, will ich über den aktuellen
Stand der Dinge berichten und Sie darüber informieren.
Obwohl die Flutkatastrophe bereits zwei Monate her ist,
stehen wir immer noch völlig fassungslos vor dieser Tragödie. Die Hunderttausenden Toten lassen uns nicht los,
noch immer vermissen Familien Angehörige und täglich
werden, selbst nach so langer Zeit, weitere Tote geborgen.
Die Bundesregierung und die deutsche Bevölkerung
sind nicht zur Tagesordnung übergegangen. Damit straften sie in der Öffentlichkeit geäußerte Befürchtungen
Lüge. Indonesien, Sri Lanka, Indien, die Malediven,
Thailand und Somalia wurden nicht vergessen oder von
der Tagesordnung verdrängt. Im Gegenteil: Der Bundesaußenminister und die Bundesentwicklungsministerin
haben die betroffene Region besucht. Frau Ministerin
Wieczorek-Zeul kam erst gestern aus Sri Lanka zurück,
wo sie sich über die gegenwärtige Situation und den
Fortschritt beim Wiederaufbau informiert hat.
Die noch immer andauernde Spendenbereitschaft
der Bevölkerung sowie die überaus positive Resonanz
auf die Partnerschaftsinitiative des Bundeskanzlers sind
ermutigend. Bisher wurden über 500 Millionen Euro gespendet. 80 Partnerschaften wurden bereits vermittelt.
Das Interesse von Schulen, Kommunen und Verbänden,
Partnerschaften einzugehen, ist so groß, dass die „Servicestelle Kommunen in der Einen Welt“ in Bonn seit
Januar mit zehn zusätzlichen Halbtagskräften besetzt
bleiben muss, die von acht Uhr morgens bis acht Uhr
abends Anfragen aus der Bevölkerung bearbeiten.
Die Beauftragte des Bundeskanzlers für die Partnerschaftsinitiative der deutschen Fluthilfe, Frau Christina
Rau, ist die Garantin für eine gute Zusammenarbeit zwischen Ministerien, Ländern und Kommunen auf der einen Seite und den Partnern in den betroffenen Gebieten
auf der anderen Seite.
({0})
Sie ist aber auch die Garantin für eine Kooperation, die
respektvoll mit den Partnern umgeht und auch ein Auge
darauf haben wird, dass das Recht auf Selbstbestimmung der Partner von der anrückenden Hilfswelle nicht
untergraben wird.
Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen: Wenn
in einem Land wie Sri Lanka plötzlich über 1 000 Nichtregierungsorganisationen tätig sind, kann dies dazu führen, dass die Menschen vor Ort nicht mehr Herr im eigenen Haus sind, sondern die Helfer - wie gut auch immer
sie es meinen - das Geschehen bestimmen. Hier muss
man daher sehr koordiniert vorgehen.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Bundesregierung hat sofort nach dem Seebeben auf der ersten Geberkonferenz der Vereinten Nationen 50 Millionen Euro für
die Nothilfe zur Verfügung gestellt. Dieses Geld diente
der dringend notwendigen Versorgung mit Medikamenten, Decken und Nahrung. Wir dürfen nicht übersehen,
welch großartige Leistungen seit dieser Zeit erbracht
worden sind. Allein die Tatsache, dass es zum Beispiel
nicht zum befürchteten Ausbruch von Seuchen gekommen ist, ist ein Wunder. Dieses Wunder verdanken wir
der guten Hilfe vor Ort. Großen Respekt zolle ich den
Regierungen der betroffenen Länder, den nationalen und
regionalen Behörden sowie den Helferinnen und Helfern, die selbstlos und aufopfernd bis zur Erschöpfung
zugepackt haben.
({1})
Unser großer Dank - da schließe ich mich allen meinen Vorrednern an - gilt den Durchführungsorganisationen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sowie
der Bundeswehr, dem THW, den Hilfswerken und den
Nichtregierungsorganisationen. Viele Menschen haben
sich engagiert; das ist ein großartiges Vorbild.
({2})
Bundeskanzler Schröder hat angesichts der Herausforderungen des Wiederaufbaus der zerstörten Gebiete
500 Millionen Euro zugesagt. Diese werden über die
nächsten drei bis fünf Jahre ausgezahlt, und zwar sowohl
für Maßnahmen in Asien als auch für Maßnahmen in den
betroffenen ostafrikanischen Ländern; auch diese brauchen Frühwarnsysteme und entsprechende Katastrophenschutzpläne und -übungen. Dieses Geld, das zusätzlich zur Verfügung gestellt wird, ist für den mittel- und
langfristigen Wiederaufbau nötig. Gestern haben wir im
Ausschuss über diesen Punkt diskutiert und die Ministerin hat umfassende Transparenz hinsichtlich der Verwendung dieser Gelder zugesagt, so wie es die beste Tradition unseres Hauses ist.
({3})
Die Wiederaufbauhilfe folgt dem entwicklungspolitischen Ziel, das Selbsthilfepotenzial der Überlebenden
zu stärken. Der Wohnungsbau, die kommunale und soziale Infrastruktur, Wasser- und Stromversorgung, Handwerk und Kleinbetriebe stehen hierbei im Vordergrund.
Den Betroffenen ist am meisten geholfen, wenn die
Wirtschaftskraft in den Ländern wieder gestärkt wird
und wenn die Menschen wieder in die Lage versetzt werden, für sich und ihre Familie selber zu sorgen.
Umweltaspekte müssen zukünftig stärker in den Mittelpunkt rücken. Erste Untersuchungen haben gezeigt,
dass intakte Mangrovenwälder und Korallenriffe die Bevölkerung vor der Wucht der Welle geschützt haben.
Umweltschutz ist Katastrophenschutz und muss bei
Wiederaufbaumaßnahmen integraler Bestandteil sein.
Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass der Wiederaufbau gelingt, ist allerdings - das haben viele Vorredner
schon gesagt - der Frieden. Deswegen fordere ich von
hier aus alle beteiligten Gruppierungen auf, zusammenzuarbeiten. In Sri Lanka müssen die Tamilenrebellen der
LTTE und die Regierung ihre Friedensgespräche wieder
aufnehmen. Unverzichtbar ist der so genannte gemeinsame Mechanismus, damit beide Konfliktparteien gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Hilfe in alle Gebiete kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sowohl in Sri Lanka
als auch in Indonesien liegt in der Katastrophe auch die
Chance, dass ihre Bewältigung produktiv genutzt werden kann und durch gemeinsame Wiederaufbauaktivitäten ein Versöhnungsprozess erwächst. Wir wünschen
den betroffenen Menschen, dass diese Chance zum Frieden genutzt wird; auf diesem Weg haben beide Länder
unsere Unterstützung.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte den letzten Punkt aufgreifen,
den die Staatssekretärin angesprochen hat und auf den
auch Markus Löning schon verwiesen hat: Wie immer
liegt in Katastrophen wie dieser auch eine Chance, eine
Herausforderung. Deshalb sollte man sich noch einmal
die vier oder fünf Krisengebiete in der Region vor Augen führen:
Da ist natürlich Aceh. Wir begrüßen es außerordentlich, dass gestern die zweite Runde der Verhandlungen
zwischen der indonesischen Regierung und den Rebellengruppen zu Ende gegangen ist. Die GAM scheint einen autonomen Status für Aceh zu akzeptieren und auf
völlige Selbstständigkeit zu verzichten; da hat sich auch
Martti Ahtisaari, der frühere finnische Präsident, Verdienste erworben. Diese Entwicklung stimmt hoffnungsvoll.
In Sri Lanka ist es noch nicht ganz so günstig, aber
auch hier, Frau Ministerin, möchten wir uns bei Ihnen
bedanken, dass Sie diese Frage bei Ihrem Besuch dort
angesprochen haben; für das Land liegt in der Katastrophe eine große Chance.
Wir müssen übrigens überall in den von der Katastrophe betroffenen Gebieten darauf achten, dass keine Seite
- welche auch immer - die Not der Menschen in klingende Münze umzusetzen versucht; was die tamilischen
Rebellen manchmal anstellen, ist auch nicht besonders
erfreulich.
Man sollte aber auch die anderen Krisengebiete beachten: Auch Papua im Osten Indonesiens ist eine
Frage, die immer noch nicht gelöst ist. Da die Insel Neuguinea des Öfteren von Tsunamis betroffen ist, hoffe ich,
dass es nicht auch dort erst einer Tsunamiwelle bedarf,
bis man sich zu einer vernünftigen Autonomieregelung
für dieses Gebiet durchringt.
Wir sollten in diesem Zusammenhang übrigens auch
die Situation in Südthailand nicht vergessen. Der mit
großer Mehrheit wiedergewählte Ministerpräsident von
Thailand, Thaksin, könnte sich hier große Verdienste erwerben, wenn er auf die muslimische Bevölkerung im
Süden seines Landes zugehen würde, um auch dort Frieden zu stiften.
Ein weiterer Punkt, der uns in den nächsten Wochen
intensiver beschäftigen wird, ist, wie es mit dem Krisenherd Burma aussieht. Wir hatten heute eine Diskussion
mit dem malaysischen und mit dem indonesischen Botschafter. Malaysia wird den Vorsitz in der ASEAN-Gemeinschaft ab Mitte dieses Jahres innehaben. Im Laufe
des nächsten Jahres wird dann Burma - Myanmar - den
Vorsitz übernehmen. Wir müssen uns natürlich bereits
heute fragen - einige der Kollegen waren anwesend; ich
sehe hier Renate Jäger und Alex Bonde -, wie die EU
reagiert, wenn sich die Situation in Burma nicht verbessert. Sie hat Auswirkungen auf die gesamte Lage. Glücklicherweise ist das Land von der Katastrophe weitestgehend verschont geblieben. Aber auch hier zeigt sich
wieder, dass sich das Regime letzten Endes weigert, die
Karten offen auf den Tisch zu legen.
Der Appell lautet also, diesen gesamten Prozess zu
nutzen, um die Verantwortlichen darauf hinzuweisen,
dass sie jetzt die große Chance haben, in ihren Ländern
Versöhnung zu stiften. Überall dort, wo wir das von
außen unterstützen können, sollten wir das auch tun. Ich
komme noch einmal auf das Beispiel von Myanmar bzw.
Burma zurück: Die schwierigen Probleme dort können
natürlich weder in Berlin noch in Washington, London
oder Brüssel gelöst werden. Sie müssen schon von den
Betroffenen in der Region selbst gelöst werden. Dabei
können wir sie aber unterstützen.
In diesem Zusammenhang sollten wir uns durchaus
noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen - das ist auch
schon zwei- oder dreimal angesprochen worden -, dass
es Länder wie Indien und Thailand gibt, die sich bewusst
dafür entschieden haben, die Folgen der Katastrophe mit
ihren eigenen finanziellen und personellen Ressourcen
anzugehen. Natürlich haben diese Länder die notwendigen finanziellen Ressourcen. Trotz allem sollten wir aber
nicht vergessen, dass große Teile der indischen Bevölkerung bitterarm sind. Die Ungleichverteilung der natürlichen und auch der finanziellen Ressourcen in diesem
Lande wirft andere Fragen auf, die natürlich auch mit
der EZ zu tun haben.
Markus Löning, ich vermute, dass wir uns bei der
Definition von Entwicklungspolitik ein wenig missverstanden haben. Übrigens vermeide ich den Begriff „Entwicklungshilfe“. Ich glaube, darüber sind wir inzwischen schon hinweg.
({0})
Ich plädiere immer dafür, dass wir uns die Bereiche, in
denen wir mit den Ländern zusammenarbeiten, immer
sehr sorgfältig anschauen können. Wenn Sie sich die private Ebene und die Kirchen in Indien anschauen, dann
erkennen Sie, dass ein großer Bestandteil der Arbeit dort
natürlich die unmittelbare Armutsbekämpfung ist. Zum
Beispiel in der Wissenschaftskooperation ist Indien aber
natürlich ein sehr interessanter Partner.
({1})
Frau Ministerin, ich würde es übrigens begrüßen, wenn
die Zuständigkeit für die internationale Wissenschaftskooperation mehr bei Ihnen als woanders konzentriert wäre. Das Problem hatten wir aber schon einmal.
Insofern denke ich, dass auch dort große Chancen liegen.
Das erkennt man, wenn man sich das anschaut.
Ich fasse zusammen: Die Krise - jetzt geht es um den
Wiederaufbau - bedeutet für die Länder eine große
Chance und Herausforderung. Deutschland und die
Europäische Union sollten jede Chance nutzen, den Prozess für Frieden und Versöhnung sowie zum Wiederaufbau in dieser Region zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Raabe, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundespräsident
Horst Köhler hat nach der Flutkatastrophe ein richtiges
Bild gebraucht: Wenn man Menschen dauerhaft aus ArDr. Sascha Raabe
mut befreien will, dann reicht es nicht, ihnen jeden Tag
Fisch als Mahlzeit zu spendieren, sondern dann muss
man ihnen auch ein Fischerboot kaufen, damit sie sich
ihren Fisch selbst fangen können.
({0})
So weit, so gut. In Zeiten der Globalisierung reicht das
aber noch nicht aus; denn wir müssen den Fischern mit
fairen Handelsbedingungen auch die Möglichkeit geben,
den Fisch zu einem guten Preis zu verkaufen.
Das Beispiel der Fischerei ist nicht zufällig gewählt.
Wir alle kennen die Opferzahlen der Katastrophe, die
mehr als einer Viertelmillion Menschen das Leben gekostet hat. Aber die wirtschaftlichen Schäden durch
Zerstörung der Infrastruktur hätten eine Katastrophe
nach der Katastrophe zur Folge, wenn wir nicht schnell
und entschlossen handeln würden. In Sri Lanka sind
70 Prozent der Fischerboote und zehn von zwölf Häfen
zerstört. Dazu kommen natürlich die verheerenden Auswirkungen auf den Tourismussektor und auf fast alle
Wirtschaftszweige durch Zerstörung der Straßen, Brücken und anderer wichtiger Einrichtungen.
Der Tsunami hat von der Welt eine besondere Solidarität verlangt und die Welt hat besondere Solidarität gegeben. Die Hilfsbereitschaft in Deutschland ist beispielhaft. Die privaten Haushalte haben bisher über
400 Millionen Euro gespendet und auch heute, zwei Monate nach der Flutkatastrophe, ist die Spendenbereitschaft ungebrochen. Auch die Bundesregierung hat
schnell und solidarisch gehandelt.
({1})
Die feste Hilfszusage in Höhe von 500 Millionen Euro
an die betroffenen Länder ist im internationalen Vergleich unerreicht.
({2})
Mehr noch: Zu dieser Summe wird, wo es sinnvoll erscheint, Schuldenerlass gewährt.
Manche in Deutschland sind stolz darauf, dass wir
Exportweltmeister sind. Manche sind stolz, deutsch zu
sein, aus Gründen, die ich nicht weiter ausführen
möchte. Andere, wie ich, sind stolz darauf, dass wir in
Bezug auf Solidarität und Hilfsbereitschaft Weltmeister
sind. Ich denke, das ist etwas, worauf wir im Interesse
der Menschen wirklich stolz sein können.
({3})
Es gilt das Motto der nachfrageorientierten
Entwicklungszusammenarbeit. Es ist schon angesprochen worden: Natürlich braucht ein Land wie Thailand
keinen Schuldenerlass. Die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung in Indonesien und Sri Lanka müssen in
Friedensinitiativen in die von Bürgerkriegen zerrütteten
Regionen eingebettet werden. Selbstverständlich wollen
wir auch die Chance nutzen, Indonesien als dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde zu zeigen, dass eine friedliche Koexistenz zwischen den Religionen möglich ist. Entwicklungspolitik ist immer auch
Friedenspolitik.
({4})
Wir können mit Selbstbewusstsein feststellen: Unsere
internationale Zusammenarbeit ist vorbildlich und wird
bei unseren Partnern geschätzt und anerkannt. Anfang
dieser Woche war Ministerin Heidemarie WieczorekZeul in Sri Lanka. Neben dem Erleben von viel Leid und
Hoffnung brachte sie für Deutschland auch gute Nachrichten aus der Krisenregion mit; denn Sri Lanka schätzt
Deutschland als verlässlichen und willkommenen Partner. Überdies wird dort die Arbeit der deutschen Entwicklungsorganisationen von allen Seiten hoch geachtet.
Aber auch viele regionale Initiativen verdienen Lob.
Es wurde schon von Kollegin Kortmann gesagt, dass
dem Aufruf des Kanzlers, nachhaltige Partnerschaften
zu gründen, erfreulich viele Kommunen gefolgt sind. Da
heute schon so viel von Nordrhein-Westfalen die Rede
war, lassen Sie mich als Hesse eine besondere Aktion
aus meiner Heimat, dem Main-Kinzig-Kreis, hervorheben. Hier wurde eine Partnerschaft mit dem Ort
Beruwala in Sri Lanka ins Leben gerufen. Rund
150 000 Euro wurden allein bei diesem kommunalen
Projekt von Unternehmen, Bürgern, Kommunen und
Institutionen im Kreis gesammelt. Zielgenau wurden
mithilfe einheimischer Experten bisher etwa 14 Schulen,
elf Fischerboote und mehrere Häuser instand gesetzt.
({5})
Elf Schulen aus dem Kreis wollen sich in Form von
Schulpatenschaften dauerhaft engagieren. Diese Initiative hat bereits spürbar gewirkt. In Beruwala kann mittlerweile wieder gefischt werden. Das erste Boot ist auf
den Namen „Main-Kinzig-Kreis“ getauft worden.
({6})
Ich möchte dieses Boot als Symbol dafür nehmen, dass
wir Menschen dieser Welt alle im gleichen Boot sitzen,
ganz egal ob es im Main-Kinzig-Kreis, in NordrheinWestfalen oder in Sri Lanka ist.
Unsere Hilfe darf nicht enden, wenn die Katastrophe
aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist. Jeden
Tag sterben weltweit 24 000 Menschen an den Folgen
von Hunger und Armut. Deswegen müssen wir unser
Bewusstsein dafür weiterentwickeln, dass unsere Verantwortung global ist, in Südostasien genauso wie in
Afrika.
({7})
Die Katastrophe in Südasien hat uns auch Denkanstöße
für die zukünftige Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit gegeben. Es wurde deutlich, dass Entwicklungszusammenarbeit kohärent sein muss. Sie kann nur
dann kohärent sein, wenn sie mit einer stimmigen Wirtschafts- und Handelspolitik einhergeht.
({8})
Schauen wir uns die Wirtschaftssektoren in den betroffenen Ländern an. Wenn wir an Thailand denken,
denken wir vor allem an die reichen Tourismusregionen
an den Küsten. In den ländlichen Gebieten herrscht aber
oft noch bittere Armut und die Menschen sind auf die
Landwirtschaft angewiesen. Thailand hat als Zuckerproduzent enorme Wettbewerbsvorteile. Es kann seinen Zucker aber nicht auf dem Weltmarkt absetzen, weil dort
EU-subventionierte Exporte die Weltmarktpreise drücken und gleichzeitig durch Zölle und Protektionismus
der Markt bei uns abgeschottet wird.
Deshalb müssen wir für eine andere Handelspolitik
sorgen. Denn hätte Thailand mehr Geld gehabt und wäre
es besser entwickelt gewesen, dann hätte vielleicht mehr
Geld für ein Frühwarnsystem zur Verfügung gestanden
und dann wären viele Häuser stabiler gebaut gewesen.
Wir als SPD-Fraktion haben dies in all unseren Beschlüssen zur Welthandelsrunde und zum Zuckermarkt
immer deutlich gemacht. Von Ihnen, meine Damen und
Herren von der Opposition, hat es dazu im Bundestag
immer nur Gegenstimmen gegeben.
({9})
- Richtig, es war die CDU. - In dem Antrag, den Sie
heute im Bundestag eingebracht haben, gibt es sicherlich
viele Punkte, denen ich zustimmen kann. Aber niemand
von Ihnen hat bei diesem Antrag an die Handelspolitik
gedacht. Ich sage Ihnen: Ohne kohärente Handelspolitik
macht das alles keinen Sinn. Um beim Bild zu bleiben:
Es reicht nicht aus, Fischerboote zu kaufen, sondern der
Fischer muss seinen Fang auch zu fairen Preisen verkaufen können.
Der Fischereisektor ist ein bedeutender Wirtschaftszweig für die Entwicklungsländer. Zwei Drittel der Weltbevölkerung deckt über 40 Prozent des Proteinbedarfs
mit Fischereiprodukten. Allein in Ost- und Südasien gilt
Fisch als wichtigste Eiweißquelle für 1 Milliarde Menschen. Die Existenz von 300 bis 500 Millionen Menschen hängt von der Fischerei ab. Auch hier wird die
Existenz durch die Industrieländer gefährdet, die mit
subventionierten Fangflotten vor den Küsten Afrikas
und Asiens die Fischbestände räubern. Zum Teil geschieht dies legal durch Zahlung von Lizenzgebühren an
oft korrupte Behörden, zum Teil auch illegal unter falscher Beflaggung. Gleichzeitig wird der Marktzugang
von den USA durch unzulässige Antidumpingmaßnahmen oder von Europa durch Zölle erschwert. Wir müssen endlich damit aufhören, den Entwicklungsländern
die Märkte für ihre Produkte zu versperren. Das gilt für
alle Agrarprodukte, die für Entwicklungsländer bedeutend sind.
({10})
Das Jahr 2005 soll nicht erst seit der schrecklichen
Flutkatastrophe in Südostasien das Jahr der Armutsbekämpfung werden. Wir sind auch im fünften Jahr nach
der Festsetzung der Milleniumsentwicklungsziele und
im entscheidenden Jahr der WTO-Entwicklungsrunde.
Wir haben heute schon darüber diskutiert, wie man Armutsbekämpfung finanzieren kann. Eine Devisentransaktionsteuer, die so genannte Tobintax, würde eine solche Möglichkeit bieten. Deshalb freue ich mich, dass,
nachdem Heidi Wieczorek-Zeul das schon länger fordert, auch Bundeskanzler Schröder dies jüngst erstmals
ausdrücklich befürwortet hat; denn unkontrollierte Finanzspekulationen gehen schließlich oft zulasten der
Entwicklungsländer.
({11})
Sie erwähnen in Ihrem Antrag die Asienkrise von 1997.
Deswegen erwarte ich von Ihnen aus der Union, dass Sie
nicht immer gegen die Tobinsteuer anreden, sondern ihre
Einführung unterstützen.
({12})
Sie, Herr Löning, haben gefragt, wie man die ODAQuote erhöhen kann, ohne sich weiter zu verschulden.
Einerseits kann man bei den Agrarsubventionen, die in
Europa die Hälfte des EU-Haushaltes ausmachen und
weltweit bei über 300 Milliarden Euro liegen, etwas machen. Das ist das Sechsfache der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Herr Dr. Ruck, Sie haben vorhin
den Irak angesprochen. Es gehen pro Jahr 956 Milliarden Euro in die Rüstung und das Militär. Das ist ein Anstieg von 18 Prozent seit 2002. Wenn wir, wie die Union
es gewollt hat, unsere Soldaten auch in den Irak geschickt hätten, dann hätten wir noch weniger Geld für
Entwicklungszusammenarbeit.
({13})
Wenn wir auch nur einen Bruchteil der Gelder für Rüstung für die Entwicklungszusammenarbeit ausgäben,
dann hätten wir für die Armutsbekämpfung mehr Geld,
ohne uns weiter verschulden zu müssen.
({14})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich kann damit abschließen. - Wir müssen den Entwicklungsländern die Chance geben, ihre Stärken zu entfalten. Deswegen müssen wir eine faire Handelspolitik
betreiben. Aus diesem Grunde können wir Ihrem Antrag
nicht zustimmen. Ich glaube aber, wir werden uns an anderer Stelle über eine gerechte Globalisierung weiter
konstruktiv streiten.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat das
Wort der Kollege Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Raabe, ich bin etwas enttäuscht über die Krittelei an unserem Antrag. Natürlich beansprucht ein Antrag im
Deutschen Bundestag nicht grundsätzlich Vollständigkeit in jedem einzelnen Detail, aber wir haben mit unserem Antrag die Möglichkeit geschaffen, dass sich das
Parlament mit dem Thema Tsunami befasst und dass wir
beleuchten können, was sich in den vergangenen acht
Wochen auch auf politischer Ebene abgespielt hat. Sie
wissen, dass es sehr viel Unterstützung für viele Maßnahmen der Bundesregierung gegeben hat und dass ein
gemeinsamer Dank an die Hilfsorganisationen erfolgt
ist. Es hat eine unglaubliche Spendenbereitschaft und
Anteilnahme der Bürgerinnen und Bürger gegeben.
Das Positive an der Katastrophe bestand darin, dass
die Welt zusammengerückt und bereit gewesen ist, über
Grenzen und politische Gegensätze hinweg zu handeln.
Ich will aber auch betonen, dass die Realität und die im
Fernsehen übertragenen Bilder grausam sind. Frau
Dr. Ober, Herr Löning und ich haben die Situation in
Banda Aceh erlebt und wissen von daher, dass eine rote
Fahne auf einem Steinhaufen bedeutet, dass noch immer
Tote darunter liegen, und dass eine weiße Fahne bedeutet, dass diese Fläche abgesucht worden ist.
Wir haben erlebt, wie sich die Helfer dort mit der Unterstützung der verschiedenen Regierungen eingesetzt
haben. Wir haben aber auch feststellen müssen, dass es
noch unversorgte und unterversorgte Bereiche gibt. Wo
die Kameras fokussiert sind, passiert eine ganze Menge.
Aber in anderen Küstenstreifen 200 oder 300 Kilometer
entfernt läuft die Hilfe erst noch an.
Die NGOs haben viel geleistet. Ich habe selbst miterlebt, wie Luftfahrt ohne Grenzen innerhalb von drei Tagen in der Lage war, eine Hilfsgüterlieferung nach Colombo zu bringen, die sie auch mit dem Auswärtigen
Amt genau abgestimmt hatte.
Wir erleben, dass Partnerschaftsinitiativen in allen
Bundesländern, in vielen Kommunen und auch in Vereinen entstanden sind und dass selbst dort eine Koordination stattfindet, wo früher politische Gegensätze zwischen den Ländern bestanden, die aber im Interesse der
Sache beiseite geschoben werden. Die Partnerschaftsinitiativen können dazu beitragen, dass auch die Menschen
näher zusammenrücken, wenn zum Beispiel Schulen,
Kirchen oder andere in diesen Initiativen dauerhaft und
nachhaltig zusammenarbeiten.
Wir müssen allerdings darauf achten, dass im Hinterland mancher Länder nicht der Eindruck entsteht, dass es
bei der Versorgung und dem Neuaufbau vernachlässigt
wird, wie wir es bereits in Gesprächen festgestellt haben.
({0})
Alle Maßnahmen können nur gemeinsam mit den Verantwortlichen vor Ort durchgeführt werden.
Es besteht kein Zweifel daran - dieser Punkt wurde
bereits angesprochen -, dass in der Flutkatastrophe auch
eine Chance besteht, nämlich die Chance auf Frieden in
Sumatra, in Indonesien und auf Sri Lanka. Es ist aber
nicht nur eine Chance, sondern auch eine Forderung. Die
Menschen, die bereit sind, sich dort zu engagieren und
Geld zu spenden - egal, ob es 5 Euro, 500 Euro oder
mehrere Tausend Euro sind -, haben einen Anspruch
darauf, dass zwischen den Rebellen und der jeweiligen
Regierung ernsthaft verhandelt wird.
({1})
Ich erwarte, dass diejenigen, die politische Verantwortung tragen, den Friedensprozess, der dort ermöglicht
wird, begleiten.
Ein Punkt macht mich im Zusammenhang mit der
Flutkatastrophe sehr nachdenklich. Wir können glücklich darüber sein, dass die Bevölkerung insgesamt eine
solche Spendenbereitschaft an den Tag legt. Aber ich
glaube, dass wir im Parlament, aber insbesondere auch
die Medien aus der Katastrophe eine neue Verantwortung abzuleiten haben. Dabei handelt es sich um die Verantwortung hinsichtlich der Frage, ob es ausreicht, den
Fokus immer nur über einen bestimmten Zeitraum auf
bestimmte Bilder zu lenken.
Wer sich mit der Situation in Darfur, im Kongo oder
in Simbabwe befasst, wird feststellen, dass uns manchmal über zwei oder drei Wochen eine Katastrophensituation vorgestellt wird, dass wir einige Zeit helfen und
dass die jeweilige Region dann wieder aus unserem
Blickwinkel verschwindet. Ich glaube, dass wir im Parlament eine Verantwortung dafür haben, dass nicht nur
in Katastrophenfällen über nachhaltige Entwicklung
und die Bereitschaft zu teilen diskutiert wird. Vielmehr
ist eine breite Diskussion innerhalb der Bevölkerung und
mit den Medien notwendig. Denn ohne die Medien kommen wir nicht weiter. Ich habe den Eindruck, dass durch
diese Katastrophe das Bewusstsein für das Elend in dieser Welt geschärft worden ist und dass wir aufgrund dieser Katastrophe die Chance haben, mehr Gemeinsamkeit
im Hinblick auf andere Gebiete zu erreichen. Wenn das
eine Lehre aus dieser Katastrophe ist, dann kann uns das
viel weiter bringen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4657 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht darüber Ein-
vernehmen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur auswärtigen
Kulturpolitik 2003
- Drucksache 15/4591 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Griefahn, Eckhardt Barthel ({2}), Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Antje Vollmer, Claudia Roth ({3}),
Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Auswärtige Kulturpolitik stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Nooke, Dr. Friedbert Pflüger, Bernd Neumann
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
stärken
- Drucksachen 15/2659, 15/2647, 15/3244 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Griefahn
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({5})
Die Fraktionen haben sich auf eine Debattenzeit von
45 Minuten verständigt. - Ich höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die
Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute liegt uns der achte Bericht der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik vor. Ich bin froh,
dass wir aus diesem Anlass endlich wieder eine Debatte
über dieses wichtige Thema führen. Der Bericht ist wirklich gut gelungen. Anhand zahlreicher konkreter Beispiele bietet er einen Überblick über die aktuellen
Schwerpunkte und die langfristigen Ziele der deutschen
Kultur- und Bildungspolitik im Ausland. Er hat bereits
die Forderung aus unserem Antrag aufgenommen, auch
aus anderen Ressorts zu berichten; das freut mich sehr.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir im gesamten Kulturund Bildungsbereich viel stärker zusammenarbeiten.
Die Debatte in den letzten Jahren - auch auf der parlamentarischen Ebene - hat Früchte getragen. Viele unserer Anregungen sind tatsächlich eingeflossen. Die
Ziele der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, von
denen die einzelnen Maßnahmen abgeleitet sind, stehen
im Vordergrund, nämlich die Wahrnehmung der kulturund bildungspolitischen Interessen Deutschlands, aber
auch die zahlreichen langfristig angelegten Maßnahmen.
Das bedeutet zum Beispiel die Vermittlung eines zeitgemäßen Bildes von Deutschland als Teil eines integrierten
Europas und auch, dass wir einen Wertedialog führen,
dass wir mit dem Dialog der Kulturen zur Konfliktprävention beitragen, dass wir die deutsche Sprache in der
kulturellen Vielfalt erhalten und dass wir mit dem Dialog
mit dem Islam Demokratieimpulse in der islamischen
Welt unterstützen und verstärken. Das alles sind wichtige Punkte, die aufgegriffen worden sind.
Bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik stehen die Menschen im Ausland im Vordergrund. Das
heißt, es geht hier nicht um die Arbeit zwischen den Regierungen, sondern um den Dialog Deutschlands, der
Mittlerorganisationen und der Menschen, die vor Ort tätig sind, mit anderen Kulturen und damit um die Zivilgesellschaft und deren Multiplikatoren, ob das nun ein
Deutschkursangebot in Budapest, eine Ausstellung der
bildenden Kunst in Beirut, eine Lesung und viele Begegnungen von Günter Grass in Kalkutta, das Afrikafestival
in Würzburg oder die Initiative „Bücher für den Irak“ ist.
Das alles sind ganz wichtige, praktische Beispiele.
({0})
In der vorliegenden Bilanz wird deutlich, dass das
Auswärtige Amt in seiner Kulturpolitik verstärkt
Schwerpunkte gesetzt hat, auf die sich die Arbeit konzentriert. Einerseits bietet das die Möglichkeit, die konkrete Arbeit an wichtigen Stellen zu intensivieren. Andererseits zeigt sich auch hier sehr deutlich die Folge der
schwierigen finanziellen Situation. Seit fast zehn Jahren werden die Mittel immer weiter gekürzt. 2003 standen bei einem Gesamtetat von 552,4 Millionen Euro
wiederum 8,1 Millionen Euro weniger als im Vorjahr zur
Verfügung. Also ist der Anteil am Bundeshaushalt auf
0,2 Prozent geschrumpft. Glücklicherweise konnten wir,
das Parlament, aber erreichen, dass die Mittel für die
auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht als
Subventionen eingestuft werden, wie es im Koch/
Steinbrück-Papier gefordert wird.
({1})
Außenkulturpolitik darf nicht unter den Subventionsbegriff fallen. Das muss auch so bleiben; denn es geht um
nichts Geringeres als die Bedeutung unseres Landes für
andere Länder, die Völkerverständigung sowie die Unterstützung von kultureller Vielfalt und demokratischer
Entwicklung.
({2})
Welches sind die zentralen Ziele? Eines ist zum Beispiel, Deutschland als Bildungs- und Forschungsstandort
weiter voranzubringen. In den 117 Auslandsschulen,
die wir haben, sind immerhin 70 000 Schüler, von denen
53 000 nicht aus Deutschland stammen. Es gibt zahlreiche Programme zur Entsendung von Lehrern an insgesamt 370 Schulen. Das sind zusammen rund 500 Schulen, die intensiv das Fach Deutsch anbieten. Sie sind
wichtige Instrumente dafür, Kindern und ihren Eltern
außerhalb von Deutschland die Möglichkeit zu geben,
eine besondere Beziehung zu Deutschland und seiner
Kultur aufzubauen.
Wir wissen: Wer als Kind begonnen hat, sich mit unserem Land und unserer Kultur zu beschäftigen, wird
auch zum Studieren hierher kommen, wird geschäftliche
Beziehungen zu Deutschland haben, wird deshalb eine
starke Anbindung haben und Botschafter Deutschlands
in seinem Land sein.
({3})
Allerdings müssen wir angesichts des Rückgangs der
Entsendungen deutscher Firmen - und auch unserer eigenen Institutionen - ins Ausland das Auslandsschulwesen insgesamt reformieren. Dafür wird es ein gemeinsames Konzept von Parlament, Auswärtigem Amt und
Kultusministerkonferenz geben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir jetzt daran arbeiten.
Der Hochschulstandort Deutschland ist weiter verbesserungsbedürftig und -fähig. Wir haben durch verstärktes Hochschulmarketing und durch neue englischsprachige Studiengänge an deutschen Hochschulen
einiges erreicht. Der Kollege Tauss wird sicherlich
gleich etwas dazu sagen. Der Deutsche Akademische
Auslandsdienst und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung sind dabei wertvolle Partner, durch die die Bildungs- und Forschungsarbeit und der Standort Deutschland wirklich gestärkt werden und deren Alumnen später
in ihrem jeweiligen Land als Botschafter für Deutschland wirken.
Wir haben aber auch ein Problem, und zwar hier im
Inland. Das besteht darin, dass die Geistes-, Sozial und
Kulturwissenschaften zurzeit in vielen Bundesländern
von starken Kürzungen bedroht sind.
({4})
- Nicht nur da, sondern auch an anderen Stellen. - Dadurch kommen wir in die Situation, dass uns die Fachleute verloren gehen, die wir für die intensive Dialogarbeit brauchen. Als wir das Programm „Dialog mit dem
Islam“ begonnen haben - daran möchte ich in diesem
Zusammenhang erinnern - haben wir 27 junge Wissenschaftler überwiegend aus den Islam-, Politik- und Sozialwissenschaften eingestellt. Diese haben hervorragende Arbeit geleistet, zum Beispiel in Kabul, in der
Türkei und in anderen islamischen Ländern. Für uns ist
es sehr wichtig, gerade die positiven, offenen Tendenzen
in den islamischen Ländern zu unterstützen. Dafür brauchen wir qualifizierte Mitarbeiter. Wenn diese hier nicht
mehr ausgebildet werden können, dann können wir die
Dialogprogramme nicht weiter durchführen.
({5})
Ich appelliere an Sie alle, in Ihren Hochschulen bzw.
in Ihren Bundesländern dafür einzutreten, dass die betreffenden Mittel nicht gekürzt werden, dass nicht alles
auf die technischen und die Naturwissenschaften konzentriert wird. Als Mathematikerin finde ich es natürlich
wichtig, dass es die letztgenannten Wissenschaftszweige
gibt. Aber wir müssen auch die anderen Wissenschaftszweige entsprechend stark fördern.
({6})
Eine wichtige und erfolgreiche Arbeit leisten die
438 Goethe-Institute, die es überall im Ausland gibt.
Im letzten Jahr kamen mehr als 4,5 Millionen Besucherinnen und Besucher zu den 16 000 von diesen Instituten
angebotenen Veranstaltungen. Das ist zusammen mit den
Deutschkursen, die es dort gibt, ein umfassendes Angebot. Die starke Nachfrage zeigt, wie groß das Interesse
an unserer Kultur im Ausland ist.
Jetzt soll, wie es in dem Bericht heißt, das Ganze stärker angebotsorientiert gemacht werden, sprich: die Gebühren sollen kostendeckend sein. Damit stoßen wir an
Grenzen der Budgetbelastung. Die Elternbeiträge an den
deutschen Schulen, in denen heutzutage bis zu
70 Prozent Gastlandschüler sind, und die Gebühren bei
den Goethe-Instituten sind nicht in jedem Fall steigerbar.
Man kann das auch nicht mit der englischen Sprache
vergleichen. Insofern müssen wir auch politisch überlegen, was uns die Arbeit dieser Einrichtungen in bestimmten Ländern wert ist und ob wir die Anbindung
von Menschen aus diesen Ländern an Deutschland tatsächlich wollen. Wir können nicht einfach sagen, dass
wir das mit der englischen Sprache bzw. mit den englischen Schulen vergleichen müssen.
({7})
Den Kürzungen darf auch nicht die Kulturarbeit in
kleineren Ländern wie Vietnam, den baltischen Staaten
oder der Mongolei zum Opfer fallen, die traditionell ein
sehr starkes Interesse an deutscher Kultur haben. Dem
sollten wir Rechnung tragen. Wir sollten keine Lücke
entstehen lassen zwischen denen, die eine Anbindung an
unser Land bereits haben, und denen, die wir nicht so
stark fördern, weil wir das jetzt gerade nicht so wichtig
finden. Ich meine, hier muss Kontinuität gewahrt bleiben. Andere Länder, gerade aus dem anglo-amerikanischen Bereich, werben sehr aggressiv um Studenten und
Sprachschüler. Ich meine, hier müssen wir einen politischen Schwerpunkt setzen.
({8})
In diesem Punkt müssen wir auch überlegen, ob es
noch länger gerechtfertigt ist, dass die finanziellen Mittel für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu
einem Viertel in der Europäischen Union der 15 verbleiben. Das müssen wir im Zusammenhang mit der europäischen Integration wirklich überlegen. Wir haben ja
schon heute Morgen eine längere Debatte über die europäische Verfassung geführt. Die deutsch-französische
Freundschaft ist wirklich sehr intensiv. Gleichzeitig gibt
es zum Beispiel ein Goethe-Institut in Bordeaux. Ich
stelle mir die Frage: Wäre es nicht besser, ein GoetheZentrum einzurichten, das von der Stadt, von der Universität und von uns - wir könnten zum Beispiel Mittel
für ein paar Programme bereitstellen - getragen wird? In
anderen Bereichen ist es ähnlich.
Wir müssen über einen weiteren Punkt diskutieren,
der in diesem Bericht angesprochen worden ist: die Budgetierung der Mittlerorganisationen. Wir kämpfen darum bereits seit vielen Jahren. Ich persönlich finde es
gut, dass es in Italien seit Anfang dieses Jahres ein Pilotprojekt zur Budgetierung des Goethe-Instituts gibt. Ich
muss aber auch sagen: Ich finde diesen Ansatz noch ein
bisschen zu zaghaft. Ich wünsche mir die Budgetierung
für alle Goethe-Institute und für alle deutschen Schulen,
und das mit einem Komplettbudget, das die Handlungsfähigkeit vor Ort wirklich ermöglicht, sodass die Mittel,
die erwirtschaftet werden, tatsächlich vor Ort ausgegeben werden können.
In dem Bericht der Bundesregierung wird betont, dass
ein Schwerpunkt auf der Krisenprävention und dem
euro-islamischen Dialog liegt. Dorthin ist auch Geld
geflossen. Wir haben auf diesem Gebiet viel erreicht.
Seit Mai 2000 bietet das Goethe-Institut Ankara in Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft und dem türkischen Außenministerium Kurse für Imame an. Diesen
islamischen Geistlichen die deutsche Sprache und Kultur
zu vermitteln, bevor sie bei uns in muslimischen Gemeinden predigen, ist wirklich eine erstklassige und
sinnvolle Sache. Ich glaube, es lohnt sich wirklich, dort
Energie zu investieren.
Das neue Goethe-Institut Kabul in Afghanistan hat es
tatsächlich geschafft, Begegnungen zustande zu bringen
und damit zur Demokratieentwicklung beizutragen.
({9})
Ich erinnere auch daran, dass die Deutsche Welle vor Ort
Alphabetisierungsprogramme durchführt und Journalisten ausbildet. Das alles sind nur wenige Beispiele, die
zeigen, wie man mit wenig Geld ganz viel erreichen
kann. Auf diese Art und Weise können wir sozusagen einen Fuß in diese Länder setzen.
Auch die Arbeit in der Breite ist wichtig. In den
letzten Jahren ist verstärkt der Ansatz verfolgt worden,
Lesesäle einzurichten. Inzwischen sind fast 60 in
25 Ländern eingerichtet worden. Letztes Jahr hatte ich
die Gelegenheit, mit Frau Limbach den Lesesaal in
Pjöngjang zu eröffnen. Wie wichtig es gerade in dieser
Zeit für Studenten und Bürger in Nordkorea ist, einen
Anlaufpunkt zu haben, um mit anderen Gedanken, mit
anderen Ideen konfrontiert zu werden und um andere Informationen zu bekommen, ist jedem offensichtlich. Das
ist wirklich ein zukunftsfähiges Modell.
Ich begrüße auch sehr, dass die Bundesregierung über
20 Buchmessen gefördert hat, so auch in China. Leider
ist die Buchmesse in Kuba letztes Jahr abgesagt worden.
Ich glaube, wir müssen uns mehr dort engagieren, wo die
Bürger sind. Die Bürger sind auf den Buchmessen. Dort
können wir sie erreichen. Da können wir einen Dialog
führen, als Anlaufpunkt dienen, Ideen verbreiten und zur
Demokratieentwicklung sowie zur Konfliktprävention
beitragen. Ich hoffe, wir werden diese Arbeit fortsetzen.
({10})
Die europäische Ebene spielt eine wichtige Rolle. Besonders in der Kooperation mit unseren europäischen
Partnern können wir die Arbeit in vielen Ländern intensivieren. Zum Beispiel ist die Planung der Unterbringung des deutschen und des französischen Kulturinstituts in Moskau in einem gemeinsamen Gebäude
sicherlich ein gutes Signal. Ich verweise auch auf die
vielen Lesesäle gerade in Russland, die gemeinsam von
Deutschland und Frankreich eingerichtet worden sind.
Wenn wir uns Europa anschauen, dann erkennen wir,
dass wir noch sehr viel auf den Weg bringen müssen.
Die Diskussion im Rahmen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik wird immer noch zu gering geschätzt. Die auswärtige Kulturpolitik der Europäischen
Union muss ein eigenes Standbein bekommen. Auch unsere Verteidigungs- und Sicherheitspolitiker müssen dies
zu ihrer Aufgabe machen, damit klar wird: Das ist ein
wichtiges Mittel, um Krisenprävention zu betreiben. Es
geht nicht nur darum, Polizeikräfte auszubilden, sondern
auch darum, den Dialog vor Ort durch gemeinsame Anstrengungen der Europäer zu organisieren.
({11})
Das war ein wunderschöner Schlusssatz, Frau Kollegin.
Ja.
Ich wünsche mir nur noch, dass die Herrschaften in
diesem Saal unseren Antrag, der vieles dessen, was ich
hier angesprochen habe, beinhaltet, unterstützen und
dass wir die auswärtige Kulturpolitik, wie wir es bislang
getan haben, sehr einvernehmlich vorantreiben.
({0})
- Herr Nooke, ich sage Ihnen: Ihr Antrag geht sicherlich
in eine andere Richtung, auch wenn er viele unserer Ansätze unterstreicht. Deswegen können Sie uns unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Klaus Rose, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist nicht einmal ein ganzes Jahr her, dass wir
den letzten Bericht diskutiert haben. Das ist auf den ersten Blick sehr erfreulich. Es scheint so zu sein, als wäre
die auswärtige Kulturpolitik im Zentrum der Diskussion
im Parlament.
Wir haben vor einem Jahr eine große mediale Begleitung gehabt, weil es damals wegen der Koch/
Steinbrück-Initiative, nach der man manches aus diesem Bericht als Subvention betrachten sollte, Ärger gab.
So haben manche Zeitungen geschrieben, dass das Ende
der auswärtigen Kulturpolitik ansteht. Das alles ist Gott
sei Dank nicht eingetreten. Man hatte damals einen
Schuldigen: Die linke Seite des Hauses hatte mehr Koch
gelesen. Wir hatten mehr Steinbrück gelesen.
({0})
Man konnte sich dann aussuchen, wer denn an der Misere der auswärtigen Kulturpolitik eigentlich schuld ist.
({1})
Inzwischen ist dieses Thema vom Tisch. Aber ist die
auswärtige Kulturpolitik in bessere Bahnen gekommen?
({2})
Gibt es mehr Geld?
({3})
Hat man ein neues Konzept? Kann man feststellen, dass
wirklich intensiv nachgedacht wurde, um großartige
neue Konzepte auf die Welt zu bringen, wie das früher
üblich war, als Sie noch in der Opposition waren und gesagt haben, der Geist stehe links? Null ist vorhanden!
Fehlanzeige! Meine Damen und Herren von der heutigen
Regierungskoalition, Sie haben auch auf diesem Feld
nichts Besonderes bewerkstelligt.
({4})
Die Kollegin Griefahn hat natürlich ein paar schöne
Dinge aufgezählt. Sie hat im Grunde genommen den Bericht vorgetragen. Ich möchte ein paar Punkte herausgreifen.
Mich ärgert da etwas. Man redet bei der auswärtigen
Kulturpolitik ja so schön von der Kultur. Es sind zwei
Anträge vorgelegt worden, die im Grunde genommen
das Gleiche wollen. Dass die beiden Anträge schon vor
einem Jahr gestellt wurden
({5})
und erst jetzt diskutiert werden, zeugt schon von einem
seltsamen Demokratieverständnis hier im Parlament.
Auch dass es in den Ausschüssen so typisch lief - die
Koalition hat für ihren Antrag gestimmt und den unseren
abgebügelt; wir konnten dann natürlich nichts anderes
tun, als unseren Antrag aufrechtzuerhalten -, zeugt nicht
von einer besonderen Kultur. Sie sagen nun, dass wir gemeinsam etwas tun wollen, dass Parlament, Regierung
und sonst wer gemeinsam arbeiten sollen. Ich bin sehr
gespannt, wie das in der Zukunft besser werden soll,
nachdem Sie in der Vergangenheit ja anderes bewiesen
haben.
Es gäbe eine Reihe von Positionen innerhalb dieses
Berichts der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik anzusprechen. Ich kenne die Materie aus vielen Jahren intensiver Arbeit. Ich habe viele Auslandsbesuche
gemacht, auch Auslandsschulen, Goethe-Institute usw.
besucht. Was mich ärgert, ist - das sage ich heute
wieder -: Es findet nirgendwo Nachhaltigkeit statt.
({6})
Die Stiftungen haben keine Planungssicherheit. Das
fängt bei der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an, auch
wenn sie vor kurzem ein schönes Jubiläum gefeiert hat,
und geht bis hin zu den politischen Stiftungen. Wenn
man mit denen redet, erfährt man, dass sie im Grunde
genommen keine Chance haben, sich für einige Jahre im
Voraus etwas vorzunehmen, weil immer das Damoklesschwert des Sparens und der globalen Minderausgabe
über ihnen schwebt. Das ist doch keine zukunftsgerichtete Kulturpolitik.
({7})
- Auf einen kulturell so hoch stehenden Zwischenruf
von Ihnen, Herr Tauss, habe ich gewartet. Sie vergleichen wirklich Äpfel mit Birnen. Wir reden von der Kulturpolitik.
({8})
Das ist genau der Punkt, den ich jetzt wieder aufgreife.
Zu einem Punkt möchte ich die Bundesregierung etwas fragen. Es wird in der UNESCO im Zusammenhang
mit der WTO auch diskutiert, in welchem Maß internationales Kulturgut weltweites Handelsgut werden soll.
Es gibt europäische Regierungen, die der Meinung sind,
dass das unter keinen Umständen sein darf. Mich würde
schon interessieren, wie die Bundesregierung dazu steht,
wie man nach ihrer Auffassung nationales Kulturgut
möglicherweise schützen, möglicherweise besonders unterstützen kann, um die nationale Eigenart wirklich beizubehalten. Bisher habe ich dazu wenig gehört. Aber das
ist eine wichtige Frage unserer auswärtigen Kulturpolitik.
Wie die Kollegin Griefahn habe auch ich das Schreiben des Weltverbandes der deutschen Auslandsschulen
bekommen. Sie haben Alarm geschlagen. Da kann man
nicht sagen, es gebe viele Schulen und es sei alles wunderbar.
({9})
Sie haben Alarm geschlagen, weil sie sich in ihrer Zukunftsfreudigkeit von der deutschen Seite eigentlich
mehr erwartet haben, weil sie eine wichtige Aufgabe
draußen in der Welt erledigen. Stattdessen hatten wir vor
kurzem noch 1 044 Lehrer. Die Zahl sinkt, im nächsten
Jahr um 69. Es wird also immer weniger gemacht. Sie
haben es zwar so dargestellt, dass man in Westeuropa
weniger tue und dafür Verschiebungen woandershin vornehme. Das mag ja sein. Insgesamt ist aber festzuhalten,
dass auch die Konferenz des Weltverbandes Deutscher
Auslandsschulen sehr besorgt ist, dass es nicht mehr vernünftig weitergeht. Ich kann nur darum bitten, dass wir
in den zuständigen Ausschüssen im Parlament gemeinsam diesbezügliche Überlegungen anstellen; denn auch
die Auslandsschulen brauchen Planungssicherheit.
Ebenso muss es hier mehr Flexibilität geben und es darf
nicht etwas angerechnet werden, was nicht dazugehört.
So wurde die Europäische Schule, die in Frankfurt steht,
finanziell mit einbezogen. Dabei handelt es sich aber
doch um keine Auslandsschule.
Ich habe insgesamt das Gefühl, das ich hier und heute
zum Ausdruck bringen möchte, dass man von Ihrer Seite
aus, weder in der Fraktion noch in der Führung des Hauses, der Kulturpolitik keine besonders große Aufmerksamkeit widmet.
({10})
Ich möchte deshalb - Sie wissen ja, dass ich sonst frei
spreche - Artikel aus zwei Zeitungen zitieren, in denen
das meiner Meinung nach sehr gut belegt wird. Klassischer und drastischer als die „Süddeutsche Zeitung“
kann man die Misere in der auswärtigen Kulturpolitik
gar nicht beschreiben. Am 23. Dezember letzten Jahres
wurde das Auf und Ab beim Goethe-Institut kommentiert. Bekanntlich gab es drei Generalsekretäre in vier
Jahren, nicht mitgerechnet die provisorischen Generalsekretäre. Da scheint etwas nicht ganz gut gelaufen zu
sein. Man hat zwar ein paar gute Programme mit der arabischen Welt aufgelegt und vielleicht auch das eine oder
andere Gute gemacht. Aber ansonsten ist das Hauptmerkmal der ganzen Arbeit fehlendes Geld. Der Kommentator in der „Süddeutschen Zeitung“ zieht daraus
den Schluss: Sowohl dem Auswärtigen Amt wie seinem
Chef ist „das Kulturelle im Grunde fremd“. Es wird nur
die Kulturvermittlung bürokratisch abgewickelt.
({11})
Es ist leider wahr: Wenn sich ein Chef nicht um sein
Amt kümmert, dann kann man auch nicht erwarten, dass
er sich um die auswärtige Kulturpolitik kümmert. Nachdem sich gezeigt hat, wie fremd ihm alles ist, wundert
mich auch dieses Ergebnis nicht mehr.
Die Grünen haben zwar versucht, eine neue Ausländerpolitik zu machen. Das Ergebnis war ein Scherbenhaufen. Aber dem wichtigen Instrument „auswärtige
Kulturpolitik“ haben sie bisher keinerlei Impulse gegeben. Deshalb konnte auch die „Frankfurter Allgemeine
Zeitung“ am 15. Februar dieses Jahres schreiben:
Wir beginnen zu begreifen, daß die Grünen und ihr
Außenminister durch Visapolitik Kulturpolitik im
großen Stil betreiben, obwohl sie im eigenen Hause
die Mittel für auswärtige Kulturpolitik unbarmherzig immer weiter kürzen… Man kann nur von einer
Politik des Hasards reden.
Recht hat die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: Hasardeure sind in der Politik nirgendwo gut,
({12})
in der auswärtigen Kulturpolitik sowieso nicht. Meine
Damen und Herren speziell von der Regierung - Sie sind
ja heute zahlenmäßig einigermaßen vertreten -, schreiben Sie sich auch diese Kritik hinter Ihre
({13})
Aktendeckel und schauen Sie, dass Sie hier mehr bringen, als Sie in der letzten Zeit geleistet haben.
({14})
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Staatsministerin Kerstin Müller.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Rose, den Vorwurf, dass die auswärtige
Kulturpolitik für uns keinen besonderen Stellenwert
habe, will ich hier direkt zu Beginn ganz entschieden zurückweisen.
({0})
Für uns - das haben wir auch ganz konkret in unserer
Politik der letzten Jahren gezeigt - ist die auswärtige
Kulturpolitik ein unverzichtbarer, ein konstitutiver Teil
unserer Außenpolitik.
({1})
Frau Griefahn hat hierzu schon einiges gesagt. Ich werde
dazu jetzt auch noch ausführen.
Wenn wir Krisen verhindern oder ausgebrochene
Konflikte bewältigen wollen, müssen wir auf den Kulturdialog setzen. Dass das Motto „Kultur gegen Krisen“
eine Erfolgsgeschichte sein kann, hat diese Bundesregierung immer wieder unter Beweis gestellt. Ein Beispiel
dafür ist etwa der Stabilitätspakt Südosteuropa. Er setzt
mit großem Erfolg gerade auch auf Kultur- und Bildungsarbeit, etwa wenn der Deutsche Akademische
Austauschdienst auf dem Balkan Hochschulpartnerschaften zwischen ehemaligen Kriegsgegnern vermittelt.
Auch in anderen Regionen, von deren Stabilität unsere eigene Sicherheit maßgeblich abhängt, leistet die
deutsche auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ganz
wichtige Beiträge. Ich greife als Beispiel den Brennpunkt Afghanistan heraus. Gerade im kulturpolitischen
Bereich haben wir hier viel gemacht. Ich möchte nur ein
Beispiel anführen. In Afghanistan hat das Goethe-Institut im September 2003 als erstes westliches Kulturinstitut nach dem Sturz des Talibanregimes seine Arbeit wieder aufgenommen. Das war für uns ein ganz wichtiger
Punkt. Außerdem haben wir in Kabul in den letzten Jahren unter anderem zwei Schulen wieder aufgebaut, die
Hunderten von Jungen und Mädchen eine neue Lebensperspektive geben. Mit solchen Initiativen leisten die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und der Kulturmittler Pionierarbeit, und das oft unter
den schwersten Bedingungen.
({2})
Eine andere Herausforderung an die Kulturpolitik
stellt die Globalisierung dar. Sie beschränkt sich längst
nicht mehr nur auf das Wirtschaftsleben. Gerade Ideen
und Lebensstile verbreiten sich heutzutage mit großem
Tempo. Von manchen als Bedrohung der Vielfalt
menschlicher Lebensformen gefürchtet, wird kulturelle
Globalisierung oft aber auch als Bereicherung erfahren,
die zu neuen, bisweilen überraschenden Einsichten verleitet. Das hat - ich will auch in diesem Zusammenhang
ein Beispiel nennen - zuletzt die eindrucksvolle Ausstellung „Identity versus Globalisation“ der Heinrich-BöllStiftung gezeigt, die ich im letzten Herbst in Berlin eröffnet habe.
Herr Rose, die auswärtige Kulturpolitik macht sich
gerade im Rahmen der UNESCO für ein zukunftsweisendes Übereinkommen zum Schutz der kulturellen
Vielfalt stark.
({3})
Ich kann das hier im Einzelnen nicht ausführen, weil dafür die Zeit nicht reicht. Gerade in der letzten Woche haben wir im Auswärtigen Amt im Rahmen des Forums
„Globale Fragen“ eine große, sehr gut besuchte Debatte
durchgeführt, in der wir den Stand der Verhandlungen
dargestellt haben. Sie sind zu diesen Diskussionen herzlich eingeladen. Für uns ist das ein ganz wichtiges Anliegen.
({4})
Unter dem Vorzeichen der Globalisierung stellt sich
die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik auch einer
anderen Aufgabe: In der modernen Informationsgesellschaft ist Wissen zum entscheidenden Produktionsfaktor
geworden. Heute besteht im Wettbewerb nur, wer am
weltweiten Ideenaustausch teilnimmt und die besten
Köpfe erreicht. Wir tragen entscheidend zur Stärkung
des Standorts Deutschland bei, wenn wir durch deutsche
Auslandsschulen, Sprachkurse oder Stipendien den internationalen Wissenstransfer stärken.
Auf diesem Gebiet haben wir in den letzten Jahren
Beachtliches erreicht. Auch das gehört zu der Bilanz.
Nach den USA und Großbritannien ist Deutschland
heute weltweit einer der beliebtesten Studienstandorte.
An diesem Erfolg hat auch die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik einen ganz entscheidenden Anteil.
({5})
Vor diesem Hintergrund freue ich mich besonders,
dass es uns gelungen ist, die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik im Jahr 2005 weitgehend von Mittelkürzungen auszunehmen, und das trotz großer Einsparungen im Bundeshaushalt. Ich danke in diesem Zusammenhang Ihnen allen, über alle Fraktionsgrenzen
hinweg, für die Unterstützung und das Engagement. Ob
Steinbrück oder Koch - es bleibt dabei: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist keine Subvention - diese
Idee war wirklich absurd -, sie ist eine Investition in unsere Zukunft. Deshalb werden wir auch weiter in diese
Zukunft investieren.
({6})
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz ausdrücklich die Anstrengungen der Mittlerorganisationen,
etwa des Goethe-Instituts, würdigen, die in den letzten
Jahren große Kreativität und Anstrengungen bei der Umsetzung der Sparbeschlüsse gezeigt haben. Für die dabei
erreichten Effizienzgewinne in Verbindung mit neuer
Schwerpunktsetzung, gebührt ihnen große Anerkennung.
({7})
Dazu rechne ich auch die neuen Programme, mit denen
nach dem Herbst 2001 der Dialog der Kulturen als Mittel
zur Krisenprävention gefördert wurde.
Eines ist klar: Angesichts knapper Mittel im Bundeshaushalt bleibt die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nur dann zukunftsfähig, wenn wir sie zielstrebig modernisieren und wirtschaftlicher machen. Auf diesem
Weg sind wir bisher gut vorangekommen.
Selbstverständlich haben wir auch ein Konzept, wie
es weitergehen soll. Für die nächste Zeit sind drei wichtige Neuerungen vorgesehen. Ich möchte sie kurz erwähnen:
Erstens. Wir wollen die regionalen Schwerpunkte der
Kulturarbeit anpassen. Wir wollen uns also noch stärker
als bisher in Regionen engagieren, die von besonderem
außenpolitischen Interesse sind. Dazu zählen die zukünftigen Staaten der Europäischen Union genau so wie Ostasien und der Nahe und Mittlere Osten.
Zweitens. Um trotz knapper Mittel weiterhin neue
Ideen anpacken zu können, gehen wir auch bei der Finanzierung der Kulturarbeit neue Wege. Wir suchen stärker als bisher die Zusammenarbeit mit Privaten.
Drittens entwickelt das Auswärtige Amt die Steuerungsinstrumente der auswärtigen Kulturpolitik konsequent weiter. Vor wenigen Tagen hat das Auswärtige
Amt beispielsweise zum zweiten Mal eine Zielvereinbarung mit der deutschen UNESCO-Kommission geschlossen.
({8})
Ich bin davon überzeugt, dass diese Neuerungen die
deutsche auswärtige Kultur- und Bildungsarbeit dauerhaft stärken werden. Wir handeln als Bundesregierung
darum ganz im Sinne der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien vom Mai letzten Jahres,
die ich ausdrücklich unterstütze. Ich denke, in diesem
entscheidenden Punkt sind wir uns doch über die Fraktionsgrenzen hinweg einig: Die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik ist und bleibt ein konstitutiver Bestandteil deutscher Außenpolitik, dessen Zukunft wir sichern
müssen und wollen. In diesem Zusammenhang ist gerade eine lebendige und kreative Kulturpolitik eine wirklich nachhaltige und vernünftige Investition in die Zukunft.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Otto.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich lausche immer wieder ganz angetan den Reden von Frau
Griefahn und Frau Staatsministerin Müller.
({0})
Sie sind wirklich voll von schönen Begriffen. Wir sind
beglückt, wenn wir das alles hören.
({1})
Meine Aufgabe ist es, diese schönen Worte mit der
nüchternen Realität etwas zu kontrastieren.
Der erste Satz Ihres Antrages lautet:
In den letzten Jahren, spätestens seit der „Konzeption 2000“, gewinnt die auswärtige Kulturpolitik …
zunehmend an Bedeutung.
Dieser hoffnungsfrohe Befund steht leider in einem diametralen Gegensatz zu den nüchternen Zahlen der Realität, insbesondere des Haushaltes.
Bereits der heute zu diskutierende Bericht der Bundesregierung weist nach, dass sich die Mittel des
Bundes für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
keineswegs vergrößert, sondern nachweislich und kontinuierlich verringert haben. Ich will Ihnen die Zahlen
noch einmal vor Augen rufen: 1997 - da war noch eine
andere Regierung dran - betrugen die Ausgaben für
AKP - auswärtige Kultur- und Bildungspolitik 607,4 Millionen Euro; 2004 sind diese Mittel auf
543,6 Millionen Euro heruntergefahren worden. Das ist
eine Kürzung um 63,8 Millionen Euro, also um rund
15 Prozent. Von einem „zunehmend an Bedeutung gewinnen“ kann man da leider nicht sprechen.
({2})
Noch bedenklicher ist - das müssen wir uns immer
vor Augen halten, wenn Sie von der großen dritten Säule
und der konstitutiven Bedeutung sprechen -, dass im
Zeitraum von 1993 bis 2003 der Anteil der Ausgaben für
die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik am Gesamthaushalt des Auswärtigen Amtes von 32,8 Prozent auf
unter 25 Prozent gesunken ist. Es geht hier also nicht um
relative oder gleich bleibende Kürzungen im Rahmen
der übrigen Kürzungen des Auswärtigen Amts, sondern
es geht hier eindeutig um überdurchschnittliche Kürzungen.
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen
von SPD und Grünen, in Ihrem Antrag fordern Sie an
zentraler Stelle,
die Haushaltsmittel für die auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik nachhaltig zu gestalten …
- Sie nicken, Frau Griefahn. Ich kann Ihnen nur sagen:
Diese Nachhaltigkeit möchte ich gerne einmal sehen.
({3})
Weil „Nachhaltigkeit“ inzwischen zu einem rot-grünen Modewort geworden ist, habe ich mich einmal im
Duden informiert, was Nachhaltigkeit eigentlich heißt.
Es bedeutet: sich auf längere Zeit stark auswirkend. Ist
also Ihr „nachhaltig“ so zu verstehen, dass die seit Jahren sinkenden Haushaltsmittel auf längere Zeit noch
weiter sinken sollen?
Vor diesem Hintergrund hat die FDP-Fraktion im zuständigen Ausschuss beantragt, die schöne Worthülse
wie folgt zu konkretisieren:
Eine nachhaltige Gestaltung der Haushaltsmittel für
die auswärtige Kulturpolitik ist so zu verstehen,
dass mit dem Haushalt 2005 der Ansatz der Haushaltsmittel für die auswärtige Kulturpolitik auf das
Niveau vor dem Vermittlungsergebnis
- Koch/Steinbrück zurückgeführt wird und für die Folgejahre zumindest eine Verstetigung dieses Mittelansatzes stattfindet.
Wir sind Kummer gewohnt, jeder Antrag der FDP wird
von Ihnen zurückgewiesen.
Interessant ist die Begründung, mit der Sie unseren
Antrag zurückgewiesen haben. Im Ausschussprotokoll
heißt es:
Der Punkt des Änderungsantrags der Fraktion der
FDP, der die nachhaltige Gestaltung des Haushalts
betreffe, könne nicht mitgetragen werden, da es bereits um eine Festlegung für die Zukunft gehe.
Anschaulicher lässt sich der Beweis nicht führen, dass es
Ihnen nur um unverbindliche, blumige Worthülsen geht
statt um eine belastbare und - jetzt verwende ich das
Wort - nachhaltige Zukunftsentscheidung.
({4})
Wenn Sie bereits die Forderung nach einer Verstetigung der Mittel als eine unerträgliche Festlegung ablehnen, dann können wir all Ihre hehren Beteuerungen von
der wachsenden Bedeutung der auswärtigen Kulturpolitik schlicht und einfach vergessen.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lammert?
Sehr gerne.
Herr Kollege Otto, könnten Sie mir helfen, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Zurückweisung
des FDP-Antrages wegen der Bindewirkung für die Zukunft und dem Hinweis der Staatsministerin in dieser
Debatte, dass es sich bei Kulturausgaben nicht um Subventionen, sondern um Investitionen in die Zukunft handele?
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lammert. Es ist interessant, dass die Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen die Mittel für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu Recht als eine Investition betrachten, aber gleichzeitig nicht mit allen Fraktionen
dazu beitragen wollen, diese Ausgaben zu verstetigen.
Wenn wir ihr Argument von der Nachhaltigkeit - die
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün mögen dieses
Wort - ernst nehmen würden, dann müssten sie zumindest einer minimalen Verstetigung, nämlich dem Halten
des derzeitigen Niveaus, zustimmen.
Frau Staatsministerin und die für den Ausschuss für
Kultur und Medien zuständigen Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen, ich kann nicht verstehen,
dass Sie einer solchen Konkretisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs nicht zustimmen wollen. Herr Kollege
Lammert, Sie haben völlig Recht: Wer von Investitionen
in die Zukunft spricht, der muss wenigstens eine Verstetigung akzeptieren. Das ist die Minimalforderung, die
wir an Rot-Grün stellen.
({0})
Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung
zu einem anderen Punkt machen. Frau Griefahn und
Frau Müller, Sie haben immer davon gesprochen, dass
die regionale Schwerpunktsetzung wichtig sei. Eine
Ihrer Forderungen ist, die Mittel für Westeuropa auszudünnen und stattdessen auf andere Regionen der Welt zu
verteilen. Frau Müller spricht in diesem Zusammenhang
von außenpolitisch interessanten Regionen. Es drängt
sich uns der Eindruck auf, dass je diktatorischer und
amerikafeindlicher ein Land ist, desto größer seine
Chancen sind, dass dort ein Goethe-Institut eröffnet
wird. Ich nenne als Beispiele Pjöngjang - dieses Beispiel
haben auch Sie erwähnt -, Algier, Peking und Havanna.
Stattdessen werden viel besuchte und etablierte Institute
in unseren europäischen Partnerländern und in den USA
reihenweise geschlossen.
({1})
Diese regionale Schwerpunktsetzung werden wir sehr
nachhaltig prüfen. Denn es geht nicht an, dass wir unsere
europäischen Partner, mit denen wir eine gemeinsame
europäische Identität begründen wollen, vor den Kopf
stoßen und stattdessen in Algier, Havanna und Pjöngjang
viel Geld ausgeben. Wir sollten damit etwas vorsichtiger
sein. Der Drang hin zu Diktaturen sollte auf jeden Fall
kritisch beleuchtet werden.
Meine Kollegen von SPD und Grünen, ich denke,
dass der Erfolg unserer auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ganz entscheidend davon abhängt, ob wir in
der Lage sind, im Parlament über die Fraktionsgrenzen
hinweg einen Konsens herzustellen. Ich sage Ihnen noch
einmal: Ich kann nicht verstehen, wenn wir ganz im
Sinne der Grünen Nachhaltigkeit in diesem Bereich fordern, Sie aber jede Präzisierung ablehnen. Ich bitte Sie,
bei den Haushaltsberatungen dafür Sorge zu tragen, dass
dieser Bereich nicht weiter als Steinbruch dient, sondern
dass wir eine Verstetigung der Mittel für die auswärtige
Kulturpolitik erreichen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Otto, ich denke, dass Ihre Bemerkung
hinsichtlich Algier und Peking einen falschen Zungenschlag in die Debatte gebracht hat. Verfolgen Sie im
Übrigen einmal, was andere Staaten in diesen Ländern
unternehmen! Dann werden Sie erkennen, dass es gute
Gründe gibt, hier etwas zu tun.
Es ist im Moment ein wenig schick, das eine oder andere Reizwort in der politischen Debatte zu benutzen.
Herr Kollege Rose hat vorhin das Reizwort Visum erwähnt. Ein Zusammenhang erschließt sich mir nicht. Ich
kann mich aber gut an meine Oppositionszeit erinnern,
als es für viele auswärtige Künstlerinnen und Künstler
nur sehr schwer möglich war, Visa zu bekommen. Ich
habe mich damals dafür eingesetzt, dass insbesondere
viele Künstler aus dem osteuropäischen Raum einreisen
konnten. Dazu stehe ich nach wie vor.
Oder denken wir an die Steuerpolitik. Sie haben ausländische Künstlerinnen und Künstler mit Ihrer Steuerpolitik ein Stück weit abgeschreckt. Wir haben das durch
Änderungen der Steuergesetzgebung beseitigt.
({0})
Diejenigen, die immer die Steuern senken wollen, wollen auch in diesem Bereich immer mehr Staatsausgaben.
Das ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Widerspruch.
Herr Kollege Otto und alle anderen Kolleginnen und
Kollegen, wir sind uns einig, dass wir für die auswärtige
Kulturpolitik gerne mehr Geld hätten. Ich glaube, es ist
unbestritten, dass dem so ist.
({1})
- So gut sind Ihre Anträge dann auch wieder nicht, dass
man ihnen zustimmen könnte; denn sie sind, lieber Kollege Otto, zum Teil nur mit Polemik gespickt.
({2})
- Ihr Vortrag hat es bewiesen.
Spätestens seit der „Konzeption 2000“ haben wir die
auswärtige Kulturpolitik als integralen Bestandteil der
Außenpolitik entscheidend gestärkt. Dass vieles noch
nicht wünschenswert umgesetzt werden konnte, ist ein
anderer Punkt. Dass wir nach der Verschuldungspolitik,
die Sie betrieben haben, Haushaltszwänge haben, ist
ebenfalls richtig.
Wir haben aber einiges bewirkt. Wir haben gerade
wegen verschiedener ökonomischer Zwänge Verbesserungen durchgeführt. Ich erinnere an die Goethe-Institute, den DAAD und an andere Einrichtungen.
Herr Kollege Rose, Sie haben auf meinen Zuruf zur
Eigenheimzulage wieder hektisch reagiert. Vor einiger
Zeit gab es die Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Die
Zinseinsparungen - wir haben mit diesen Erlösen unsere
Schulden reduziert - haben wir gezielt in Bildung, Forschung und Wissenschaft investiert.
({3})
Das war eine hervorragende Geschichte. Der Deutsche
Akademische Austauschdienst hat davon in hohem
Maße profitiert. Jetzt wäre es doch eigentlich nahe liegend, zu sagen: Dieses Geld steht nicht mehr zur Verfügung. Lassen Sie uns deshalb nach neuen Finanzierungen suchen!
Ich sage Ihnen: Ich bin bereit, wenn wir die Eigenheimzulage abschaffen, eine Verpflichtungsermächtigung in den Haushalt zu schreiben - da macht der
Finanzminister mit -, damit speziell für den Deutschen
Akademischen Austauschdienst und andere Bereiche der
Bildungspolitik im Ausland etwas getan wird.
({4})
Sie jammern im Übrigen ständig über Geld. Auch ich
jammere über Geld, insbesondere im Bildungsbereich,
obwohl wir hier zugelegt haben. Sie kürzen in Ihren
Ländern und haben während Ihrer Regierungszeit auf
Bundesebene in Permanenz gekürzt. Diese Krokodilstränen sollten wir uns - das wäre meine herzliche Bitte schenken.
({5})
- Mit Zwischenfragen könnte man meine Redezeit verlängern.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nach dem
11. September 2001 5 Millionen Euro für den europäisch-islamischen Dialog eingesetzt. Das war zusätzliches
Geld. Wir haben im Rahmen des Stabilitätspaktes für
Afghanistan 9,2 Millionen Euro aufgebracht. Davon haben in erheblichem Maße - das hat die Staatsministerin
angedeutet - gerade Bildungseinrichtungen profitiert,
zum Beispiel Hochschulen und das Sekundarschulwesen. Es gab in diesem Zusammenhang eine Förderung
der Kulturinstitute, Medienkooperationen, als ganz besondere Priorität die Förderung von Frauen im Bildungsbereich, den Wiederaufbau und die Förderung einer
Mädchen- und Jungenschule in Afghanistan, die Ausstattung von Bibliotheken, die Übersetzung deutscher
Kinderliteratur und eine Kooperation der Deutschen
Welle.
Bei aller Kritik, die man erheben kann, ist es meine
herzliche Bitte, dass man nicht so tun sollte, als wäre
nichts geschehen. Es ist sehr viel Geld dorthin geflossen.
Das war gut angelegtes Geld. Das sollten wir auch künftig in diesen Bereichen so machen.
({7})
Ein weiterer Punkt, den Sie angesprochen haben, ist
die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die sich dem internationalen Austausch qualifizierter Wissenschaftler
widmet. In diesem Jahr wurde in den „VDI-Nachrichten“ geschrieben, dass das deutsche Weltniveau wieder
asiatische Forscher lockt. Zu Ihren Regierungszeiten gab
es solche Überschriften zu meinem Bedauern nicht. Da
haben wir die ein Stück weit vergrault. In den „VDINachrichten“ stand ferner:
Der Forschungsstandort Deutschland hat international einen besseren Ruf, als wir das hier zu Lande
wahrhaben wollen.
Wir haben hier also etwas verändert.
({8})
Wir haben den Sofia-Kovalevskaja-Preis für ausländische Wissenschaftler eingeführt. Das ist ein hervorragendes Instrumentarium, Nachwuchswissenschaftler
nach Deutschland zu holen. All dies ist ein Beitrag, um
zu Verbesserungen zu kommen.
Zum Deutschen Akademischen Austauschdienst habe
ich schon etwas gesagt. Immerhin gab es fast 32 000 geförderte Ausländer, davon 7 666 Wissenschaftler und
Künstler und zusätzlich 22 000 Stipendiaten im Rahmen
des Sokrates/Erasmus- und des Leonardo-da-Vinci-Programms.
Sie merken, ich rede relativ schnell, weil mir ein paar
Minuten Redezeit vom Präsidium geklaut worden sind.
({9})
Frau Präsidentin, das war keine Kritik.
Ich will es deutlich sagen: Bei allen Problemen, über
die wir hier diskutieren, sollten wir die Kirche im Dorf
lassen.
({10})
Wir brauchen mehr Geld; ich stimme Ihnen zu. Bekanntlich ist Zufriedenheit der Feind allen Fortschritts. Deswegen wollen wir noch mehr tun. Das können wir und
wollen wir auch. Geben Sie uns die dazu erforderlichen
finanziellen Mittel! Die werden frei, wenn wir die Eigenheimzulage abschaffen.
Im Übrigen kann ich Ihnen sagen: Wir werden miteinander - da bin ich mir sicher - sinnvolle Aufgabenfelder in allen Bereichen der auswärtigen Bildungs- und
Kulturpolitik finden. Ihre Anträge lehnen wir zu meinem
Bedauern ab.
({11})
Herr Nooke, Sie hätten gemeinsam mit uns einen Antrag
erstellen können. Wenn Sie das gemacht hätten, wären
wir vielleicht schon ein Stück weiter. Sie sind ja noch
jung - nicht ganz, aber ziemlich -,
({12})
also bestehen noch Chancen, dass wir es das nächste Mal
gemeinsam machen. Wir sind dabei im Sinne der Kulturpolitik zu jeder Kooperation bereit.
Ich bedanke mich.
({13})
Dem Präsidium fehlt nichts. Wir brauchen also niemanden zu beklauen.
({0})
- Ja, für die gesamte Debatte fehlt manchmal Zeit.
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Günter Nooke das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Ich will versuchen, ganz unaufgeregt zusammenzufassen, worum es hier heute ging und eigentlich immer
noch geht.
Bei der Debatte zur Einbringung unserer Anträge
habe ich Vorbemerkungen gemacht, von denen ich zwei
in Kurzform wiederholen möchte.
Erstens. In keinem Bereich der Politik haben die Ansprüche so Schwindel erregende Höhen erreicht wie in
der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Zweitens. Kein Bereich der auswärtigen Politik ist so
beschämend vernachlässigt worden wie die auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik.
Ich füge heute eine weitere Bemerkung hinzu: Die
Koalition ist nicht fähig, die Grundlagen und Ziele der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik - ich nenne
gleich ein paar Details - zu formulieren. Den daraus resultierenden Kompetenzverlust mag man aus Sicht der
Opposition vielleicht sogar begrüßen. Da wir uns aber
einig darüber sind, wie wichtig dieses Thema ist, sage
ich: Der Kompetenzverlust ist für die Mittlerorganisationen fatal.
Der Außenminister hat im Ausschuss für Kultur und
Medien vor einem Jahr tränentreibend erklärt, es würden
weitere Einschnitte „ins Mark“ der auswärtigen Kulturund Bildungspolitik folgen. Er sagte, dass er leider
nichts dagegen tun könne. Man könnte denken, er fühlte
sich schon damals als Außenminister entmachtet; aber
ich glaube, er hat es anders gemeint. Wir alle kennen
- darüber ist schon geredet worden - die finanzielle Situation. Hier ist aber nicht das große Bedauern angezeigt, sondern es sind Ideen gefragt. Im Antrag der
Koalition findet sich keine einzige Idee, auch nicht im
Bericht für das Jahr 2003, den wir hier vorgelegt bekommen haben.
({0})
Herr Rose hat die „FAZ“ zitiert, wo die Visapolitik als
„Kulturpolitik im großen Stil“ bezeichnet wurde. Es
wäre gut, wenn das Auswärtige Amt im großen Stil Kulturpolitik betreiben würde - genau das wünschen wir
uns -, jedoch nicht mit ungesetzlichen Visaerlassen, sondern entsprechend dem gesetzlichen Auftrag des Auswärtigen Amtes für die Kulturpolitik.
({1})
Bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik geht
es um Kultur aus Deutschland, um deutsche Kultur und
um Deutschland als Kulturnation. Es geht um Interesse
an Deutschland und um deutsches Interesse. Es tut uns
allen gut, wenn wir uns in den Beziehungen zu unseren
Partnern in der Welt um Vertrauen bemühen. Das Handeln des Außenministers und zusätzlich der vorliegende
Antrag machen es aber enorm schwierig, dies Vertrauen
bei den Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturund Bildungspolitik und vor allem auch bei den Partnern
zu gewinnen.
Ich möchte auf den vorgelegten Bericht über das Jahr
2003 eingehen, der übrigens erst sieben Tage vor Weihnachten 2004 - deshalb reden wir erst heute über unsere
Anträge - vorgelegt wurde.
({2})
Im Bericht lernen wir als Erstes, dass der Anteil der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik am Gesamthaushalt kontinuierlich gesunken ist. Wir lernen auch, dass
ein Potenzial, diese Kürzungen durch „Optimierung“
- so heißt es in dem Bericht - aufzufangen, nicht mehr
vorhanden ist.
({3})
Man muss das nicht dramatisieren; denn im Kulturaustausch macht sich das nicht notwendig stärker bemerkbar als in anderen Bereichen der Kulturpolitik und den
Kulturinstitutionen. Es besteht jedoch ein gravierender
Unterschied: Die Auswirkungen werden überall auf der
Welt sichtbar. Sie werden uns von den Mittlern im Ausland immer wieder vor Augen geführt. Die Äußerung
von Unverständnis für das, was wir im Bereich der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik machen, ist dabei
noch die freundlichste Form des Gesprächs. Wir dürfen
nicht aus den Augen verlieren, was im Ausland von der
deutschen Kultur- und Bildungspolitik erwartet wird.
Der Bericht zeigt weiter, dass die größte Teilsumme
der Mittel - das ist schon gesagt worden - im „Europa
der 15“ ausgegeben wird. Man hat den Eindruck, als sei
die EU-Osterweiterung für das Auswärtige Amt zufällig
gekommen. Angesichts der wachsenden Bedeutung auch
asiatischer Länder müssen wir darauf achten, dass die
Entwicklung, die wir als Deutschlands auswärtige Kultur- und Bildungspolitik formulieren, der weltweiten Politik in diesem Bereich nicht gleich zwei Schritte hinterherhinkt. Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
muss dort vor Ort sein, wo es um deutsche Interessen
geht; auch das muss sie leisten.
Ich wiederhole gern folgenden Satz, der im Bericht
steht: Die deutsche auswärtige Kultur- und Bildungspolitik - so heißt es dort - dient der „Förderung deutscher
kultur- und bildungspolitischer Interessen“. Das ist immerhin gut gemeint. Im Antrag der Koalition findet sich
dieser Satz bezeichnenderweise nicht. Auch im Rückblick auf das Jahr 2003 findet sich hinsichtlich der Umsetzung dieses Ziels nicht viel.
({4})
Das hat damit zu tun, dass dieser Satz der jetzigen Haltung des Auswärtigen Amtes widerspricht. Beim Lesen
des Berichts wird deutlich, dass es nicht darum geht, die
deutsche Kultur zum Exportschlager zu machen und das
Angebot, die deutsche Sprache zu lernen, auszubauen.
Vielmehr wird in zunehmendem Maße unter dem Mantel
des Dialogs der Kulturen gut gemeinte Vermittlungsarbeit angeboten.
({5})
Aber das ist nicht ausreichend und erst recht nicht gut:
weder für unser Land noch für andere Länder.
Abschließend noch eine Bemerkung zum Bericht. In
der Rubrik „… andere Einrichtungen der AKBP“ - so
heißt es dort in unschöner Sprache - wird nun auch die
Kulturstiftung des Bundes genannt. Sie leiste einen
„wichtigen und wertvollen Beitrag“ zum kulturellen
Austausch. Im Ergebnis ist das sicherlich richtig und
nicht zu beanstanden.
Als Einrichtung der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik haben wir sie allerdings nicht gegründet,
Frau Griefahn. Als Kulturpolitiker sollten wir diese
freundliche Übernahme durch das Auswärtige Amt daher auch nicht mitmachen.
Nun komme ich zum Antrag der Koalition - Frau
Griefahn, Sie können ja eine Zwischenfrage stellen;
dann darf ich länger reden -, der - das sage ich, weil Sie
auch das vorhin nicht wussten - später als unser Antrag
vorgelegt wurde; schauen Sie auf das Datum.
({6})
Ihr Text steht total im Gegensatz zu dem Eindruck, den
Sie durch die vonseiten der Koalition gehaltenen Reden
zu erwecken versucht haben.
({7})
Bezeichnend ist, dass die Koalition das Wort „Bildungspolitik“ nicht einmal in den Titel ihres Antrags aufgenommen hat. Dieser Begriff ist schlichtweg vergessen
worden.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es dann nicht mehr,
dass Sie in Ihrem Antrag auch die Auslandsschulen vergessen haben, obwohl Sie jetzt über sie gesprochen haben. Sind Sie doch mal ehrlich! So gesehen ist das nur
konsequent. Aber so kann man keine auswärtige Kulturund Bildungspolitik machen. Das ist geschludert und
grob fahrlässig. Ich hoffe - das will ich allerdings nicht
behaupten -, dass das nicht auch bedingt vorsätzlich geschehen ist.
({8})
Die Lehrenden und Lernenden an fast 120 deutschen
Auslandsschulen jedenfalls werden Ihnen das nicht
nachsehen.
Die in Ihrem Antrag formulierten Ziele bleiben weit
hinter dem zurück, was selbst auf der Homepage des
Auswärtigen Amtes für jedermann nachzulesen ist. Hätten Sie Ihren Antrag dort doch wenigstens abgeschrieben.
({9})
Es ist grotesk, dass Sie mit Ihrem Antrag Ihre eigene Regierung, die - zumindest verbal - schon weiter ist, als
Sie es sind, auffordern wollen, mehr zu tun.
Was sollen zum Beispiel die Mittler von Ihrer Forderung halten - ich zitiere -, „die Haushaltsmittel für die
auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nachhaltig zu
gestalten“?
({10})
Nachhaltig in Erinnerung geblieben ist mir die Tatsache,
dass sich die Mittel in ungebremstem Sturzflug befinden.
({11})
Die Mittlerorganisationen wissen, dass sie jetzt völlig
im Stich gelassen werden: nicht nur vom Außenminister
- das war schon bekannt -, sondern auch - das ist neu von der Koalition.
({12})
Bisher waren die Mittler - wie auch ich - der Auffassung, die Kolleginnen und Kollegen würden für die Stärkung der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kämpfen, Frau Griefahn.
({13})
- Es geht leider nicht friedlich. ({14})
Von einer Stärkung gibt es aber keine Spur. Sie fordern
die Regierung allen Ernstes auf - auch das ist ein Zitat -,
„die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Mittlerorganisationen zu erhalten“. Ich betone: zu erhalten. Das ist
wirklich blanker Hohn und gleichbedeutend mit Untätigkeit.
Wie groß Ihre Zweifel an der Arbeit des Auswärtigen
Amtes wirklich sind, zeigt Ihre dritte Forderung auf eindrucksvolle Weise: Man möge bitte arbeiten - Zitat „ohne dabei den umfassenden Ansatz der AKP zu gefährden“. Ich wiederhole: ohne zu gefährden.
({15})
Das lässt ja noch schlimmere Ahnungen zu:
({16})
Offenbar müssen Sie davon ausgehen, dass das, was das
Auswärtige Amt in die Wege leitet, schon per se eine potenzielle Gefährdung darstellt.
({17})
Zu dieser Lagebeschreibung haben nicht einmal wir von
der Opposition uns in unserem Antrag - der nicht nur
gut gemeint, sondern auch wirklich gut ist - verleiten
lassen. Mit Rücksicht auf die Mittler und die Rezeption
im Ausland hielten wir es für wenig hilfreich, hier gemeinsam zu schimpfen. Ich möchte gar nicht wissen, wie
Ihr Antrag im Ausland wahrgenommen wird. Ich kann
Ihnen nur raten, die Finger von diesem Text zu lassen; er
hilft keinem. Im Gegenteil: Ihr Antrag enthält keine einzige konkrete, in die Zukunft weisende Idee. Ich vermute, dass den Mittlern das Lesen Ihres offenkundig
hilflosen Textes eher Angst einjagt. Deshalb, Frau
Griefahn und liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, konnten wir Ihrem Antrag wirklich nicht zustimmen.
({18})
Da unserer eher vorgelegen hat, wäre es vernünftig gewesen, sich an einem guten Text verbessernd zu betätigen, als über Nacht etwas hinzuschreiben, was nur peinlich ist.
({19})
Der Katalog unserer Forderungen ist lang, aber alle richten sich an das Auswärtige Amt, das für die Rahmenbedingungen zuständig ist,
({20})
mit denen erfolgreiche Politik gemacht werden könnte.
Sie zeigen, dass wir mit der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik im besten Sinne noch viel vorhaben. Wenn
wir es mit der Investition in Köpfe ernst meinen, sollten
wir baldmöglichst eine andere Debatte über dieses
Thema führen
({21})
und im deutschen Parlament etwas wirklich Substanzielles dazu sagen; mit Ihrem Antrag haben Sie das jedenfalls nicht getan.
({22})
Deshalb werden wir ihn wieder ablehnen.
Danke.
({23})
Den schönen Ausdruck „Sind Sie doch mal ehrlich“
verbuchen wir unter Dialektdeutsch, nicht?
({0})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4591
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3244. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2659 mit
dem Titel „Auswärtige Kulturpolitik stärken“ in der
Ausschussfassung anzunehmen.
({1})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
({2})
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
CDU/CSU auf Drucksache 15/2647 mit dem Titel „Aus-
wärtige Kultur- und Bildungspolitik stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({3}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes zur Berücksichtigung
von Zweitstimmen ({4})
- Drucksache 15/4717 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({6}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes zur Korrektur der Grundmandatsklausel ({7})
- Drucksache 15/4718 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Thomas Strobl.
({9})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten zwei Gesetzentwürfe, die wir von
der Unionsfraktion eingebracht haben, weil wir der Auffassung sind, dass unser Wahlrecht, das Wahlrecht der
Bundesrepublik Deutschland, in mehreren Punkten einer
Neujustierung bedarf. Zwei Dinge wollen wir damit allerdings nicht erreichen: Erstens wollen wir unser bewährtes Wahlrecht gar nicht grundsätzlich verändern.
Zweitens geht es uns auch nicht darum - dies möchte ich
ausdrücklich betonen -, dieses Thema in irgendeiner Art
und Weise zum Gegenstand einer überzogenen parteipolitischen Auseinandersetzung zu machen. Deswegen
möchte ich alle Kolleginnen und Kollegen des Hohen
Hauses bitten, unsere Vorschläge in den kommenden
Ausschussberatungen ganz offen zu prüfen.
({0})
Zunächst zu den Grundmandaten: Unser Wahlrecht
enthält zwei Sperrklauseln: Eine Partei kommt nur
dann in den Deutschen Bundestag, wenn sie entweder
mindestens 5 Prozent der Stimmen erhält oder wenn sie
drei Direktmandate erzielt; so das geltende Recht.
Diese Sperrklauseln haben sich ganz grundsätzlich
bewährt, weil sie einer Zersplitterung der Parteienlandschaft entgegenwirken. Die Väter und Mütter des
Grundgesetzes haben aus den Unzulänglichkeiten vorangegangener Verfassungen die richtigen Schlüsse gezogen. Mit der Wiedererlangung der Einheit Deutschlands ist nach unserer Auffassung allerdings eine
verfassungsrechtlich bedenkliche Diskrepanz zwischen dem Stimmenaufkommen, das notwendig ist, um
die 5-Prozent-Hürde zu überwinden, und dem Stimmenaufkommen, mit dem drei Wahlkreise direkt gewonnen
werden können, entstanden.
Bei der Wahl 1998 konnten mit 180 000 Stimmen drei
Wahlkreise gewonnen und damit für eine Partei der Einzug in den Bundestag erreicht werden. Dagegen waren
2 355 288 Stimmen erforderlich, um die 5-ProzentHürde zu überspringen. 0,6 Prozent der Stimmen reichten also aus, um drei Grundmandate und somit für eine
Partei den Einzug in den Bundestag zu erreichen. Dem
standen 5 Prozent gegenüber, die eben für die 5-ProzentHürde erforderlich waren. Anders gesagt: Für das Überspringen der 5-Prozent-Hürde waren 2,3 Millionen Stimmen erforderlich, wohingegen weniger als ein Zehntel
dieser Stimmen, nämlich 180 000 Stimmen, ausreichten,
um als Partei über die Grundmandatsklausel in den
Deutschen Bundestag zu ziehen.
Der Grund liegt darin, dass die Proportionierung der
Grundmandatsklausel natürlich vor der deutschen Einheit geschrieben worden ist. Mit der Wiedervereinigung
hat sich die Anzahl der Wahlberechtigten allerdings um
29 Prozent erhöht. Ebenso stieg die Zahl der Wahlkreise
an. In der alten Bundesrepublik gab es 248 Wahlkreise.
Diese Zahl stieg nach der Wiedervereinigung auf 328
und wurde durch die Verkleinerung des Deutschen Bundestages zur letzten Bundestagswahl auf 299 gesenkt. Es
sind damit aber immer noch 51 Wahlkreise mehr als vor
der deutschen Einheit.
Also: Es gibt ein Drittel mehr Wahlberechtigte und
ein Fünftel mehr Abgeordnete als vor der deutschen Einheit. Die Zahl der Grundmandate - drei - blieb jedoch
gleich und ist für eine Partei ausreichend, um in den
Bundestag einzuziehen. Damit fallen die Grundmandatsklausel und die 5-Prozent-Hürde unverhältnismäßig weit
auseinander. Anders gesagt: Die 5-Prozent-Klausel kann
durch die Grundmandatsklausel - drei Direktmandate sehr leicht unterlaufen werden.
Das Problem ist ein Stück weit auch aktuell. Nehmen
Sie den SSW in Schleswig-Holstein. Dass er in den
schleswig-holsteinischen Landtag einziehen kann, ist
eine Ausnahme von der 5-Prozent-Klausel.
({1})
Wenn Sie bedenken, dass diese Ausnahme darüber entscheidet, wer in Schleswig-Holstein eine Landesregierung bilden kann, und sich das für den Deutschen Bundestag vorstellen, dann erkennen Sie, so denke ich, dass
Thomas Strobl ({2})
wir Anlass haben, uns ganz ernsthaft gemeinsam darüber
zu unterhalten, ob wir wollen, dass eine Partei aufgrund
von drei Direktmandaten eventuell mit 30 oder 40 Abgeordneten in den Bundestag einziehen kann.
({3})
Wir meinen, eine Anpassung der Zahl der Grundmandate an die vor der Einheit geltenden Verhältnisse
ist notwendig. Deswegen beantragen wir, die Anzahl
der Grundmandate auf fünf zu erhöhen. Damit wäre
wieder eine verfassungsrechtlich angemessene Proportion zur 5-Prozent-Klausel hergestellt.
({4})
Wohlgemerkt - ich sage es noch einmal -: Es geht
uns nicht darum, dass wir unser Wahlrecht und die
Sperrklauseln grundsätzlich ändern wollen. Wir halten
die Regelungen - insbesondere die 5-Prozent-Klausel für grundsätzlich richtig. Es geht uns um eine Anpassung an die Verhältnisse im größer gewordenen wiedervereinigten Deutschland, also um eine verhältnismäßige
Annäherung der Grundmandatsklausel an die 5-ProzentKlausel. Nicht mehr und nicht weniger ist der Inhalt dieses Gesetzentwurfes.
({5})
Etwas komplizierter liegen die Fälle bei den so genannten Berliner Zweitstimmen. Dieses Problem ist
bei der Bundestagswahl 2002 in der Praxis zum ersten
Mal aufgetreten. Es fußt auf einer Regelungslücke im
Bundeswahlgesetz. Diese Regelungslücke sollten wir
endlich schließen. Das Bundesverfassungsgericht hat
diese Regelungslücke bereits in einer Entscheidung im
Jahre 1988 ausdrücklich festgestellt. Aber nicht nur das:
Es hat auch den Bundesgesetzgeber ausdrücklich aufgefordert,
({6})
diese Lücke zu schließen. Seither ist nichts geschehen.
Das heißt, der Gesetzgeber hat es seit 1988 unterlassen,
einen klaren Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu
erfüllen.
({7})
- Verehrte Frau Kollegin Stokar von Neuforn, wir sollten das nicht zu einer Frage der Parteipolitik machen.
Das ist keine Frage der Mehrheitsverhältnisse hier im
Deutschen Bundestag und schon gar nicht die Frage, wer
die Bundesregierung stellt. Dies betrifft uns als Parlament und unser Wahlrecht. Wir sollten gemeinsam beraten und diskutieren und dies nicht zu einer Frage einer
parteipolitischen Auseinandersetzung machen. Das halte
ich für falsch.
({8})
Es ist höchste Zeit, das nachzuholen, zumal eben 2002
dieser vom Bundesverfassungsgericht 1988 zunächst
einmal theoretisch gesehene Fall Realität geworden ist,
sodass wir, Frau Stokar, zumindest seit 2002 doch einen
zusätzlichen Anlass haben, diese Thematik anzugehen,
da sie in der Tat eingetreten ist.
Aus Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes folgt, dass der
Erfolgswert aller Stimmen bei allen Wählerinnen und
Wählern gleich sein muss. Es geht also um den gleichen
Wahlrechtsgrundsatz. Kein Wähler darf mit Erst- und
Zweitstimme sozusagen einen unterschiedlichen Erfolgswert haben oder gar zwei Treffer erzielen. Das ist
beispielsweise dann der Fall, wenn ein parteiloser Direktkandidat in einem Wahlkreis gewählt wird und dann
ins Parlament einzieht. Dieses Mandat wird aber nicht
auf eine bestimmte Partei angerechnet, weil er keiner
Partei angehört.
Mit den Zweitstimmen der Stimmzettel, auf denen
dieser parteilose, direkt gewählte Erstkandidat angekreuzt ist, wird allerdings ein doppelter Stimmerfolg erzielt; denn die Wähler haben erfolgreich einen parteilosen Direktkandidaten gewählt und zusätzlich mit ihrer
Zweitstimme an der politischen Zusammensetzung des
Deutschen Bundestages mitgewirkt. Nach geltendem
Recht des § 6 des Bundeswahlgesetzes werden diese
Zweitstimmen nicht mitgezählt. Das ist auch so in Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt,
dass diese Regelung rechtmäßig, ja sogar notwendig ist.
Ähnlich stellt sich die Lage im Falle der so genannten
Berliner Zweitstimmen dar. Übrigens noch einmal: Dies
ist exakt der Fall, den das Bundesverfassungsgericht
1988 theoretisch gesehen und daraufhin den Bundesgesetzgeber aufgefordert hat, diese Lücke im Wahlrecht zu
schließen.
({9})
- Zu schließen, Frau Kollegin. Sagen Sie mir, wann sich
der Bundesgesetzgeber mit dieser Thematik beschäftigt
hat, bevor die CDU/CSU diesen Antrag eingebracht hat.
Genau das ist das Problem. Nicht nur im Wahlrecht gibt
es eine Menge Baustellen, aber Rot-Grün mit seiner
Mehrheit im Bundestag unternimmt leider nichts, um
diese Baustellen abzuarbeiten. Deswegen müssen wir
entsprechende Anträge einbringen.
({10})
Besonders bitter ist in diesem Fall, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundestag aufgefordert hat,
sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Wenn wir den
Antrag nicht eingebracht hätten, dann hätte er sich bis
zum heutigen Tag nicht damit befasst, weil Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, einen solchen Antrag zu
formulieren.
({11})
Der Fall der Berliner Zweitstimmen ist im Gesetz
nicht geregelt. Die Stimmen wurden bei der
Bundestagswahl 2002 einfach mitgezählt. Dies ist nach
unserer Auffassung ein klarer Verstoß gegen den Wahlrechtsgrundsatz des gleichen Erfolgswertes der Stimmen
Thomas Strobl ({12})
und damit mit Verfassungsrecht nicht zu vereinbaren.
Richtig wäre gewesen, § 6 des Bundeswahlgesetzes analog anzuwenden. Jedenfalls ist es hohe Zeit, diese Lücke
zu schließen. Konsequenterweise müsste der Zweitstimmenausschluss bei den gewählten Erststimmenvertretern, die einer Partei angehören, die an der 5-ProzentKlausel gescheitert ist, genauso gelten. Diese Gesetzeslücke - ich sage es noch einmal -, die wir seit 1988 hätten schließen müssen, wollen wir mit diesem Gesetzentwurf schließen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
im Übrigen damals nicht nur wegen des Grundsatzes des
gleichen Erfolgswertes der Stimmen angemahnt, sondern auch durch seine Aussage, dass es gerade bei den
Wahlrechtsgrundsätzen vonnöten ist, dass wir Rechtsklarheit haben. Diese Rechtsklarheit besteht in diesem
Punkt eben nicht. Das wird im Übrigen - das möchte ich
den Kollegen der SPD sagen - am sehr knappen Wahlergebnis des Jahres 2002 deutlich. Wenn nämlich der § 6
analog angewendet worden wäre oder man die Gesetzeslücke entsprechend dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts bereits vor 2002 geschlossen hätte, dann
hätte die Union mehr Stimmen als die SPD erhalten.
Das Grundgesetz schreibt uns insbesondere beim
Wahlrecht vor, klare Regeln aufzustellen und den gleichen Erfolgswert der Stimmen zu gewährleisten. An
beide Aufgaben sollten wir herangehen. Wir sollten uns
insbesondere daranmachen, dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf diese Gesetzeslücke schließen. Wir
wollen dem lang angemahnten Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes nachkommen. Wir sollten diese Lücke
endlich schließen und dafür sorgen, dass alle Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland bei
ihrer Stimmabgabe bei einer Bundestagswahl den gleichen Erfolgswert mit ihren Stimmen haben. Ich würde
mich freuen, wenn das im ganzen Hause so gesehen
würde. Ich freue mich auf die weiteren parlamentarischen Beratungen hier im Plenum und dann in den Ausschüssen.
Besten Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Wittig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
CDU/CSU hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes vorgelegt, mit dem geregelt werden
soll, dass die Zweitstimmen derjenigen Wähler nicht berücksichtigt werden sollen, die mit ihrer Erststimme einem Wahlkreisbewerber zum Erfolg verholfen haben,
dessen Partei aber an der 5-Prozent-Klausel gescheitert
ist und auch keine drei Direktmandate erreichen konnte.
Wir wissen, dass sich dieser Fall bei der Bundestagswahl 2002 ergeben hat. Die PDS erreichte in den Berliner Wahlkreisen 86 und 87 jeweils ein Direktmandat.
Sowohl der Bundeswahlausschuss als auch der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages haben sich
mit dieser Angelegenheit befasst, und zwar sehr intensiv.
In beiden Ausschüssen war es streitig, ob im Hinblick
auf die Vorschrift des § 6 des Bundeswahlgesetzes und
eine hierzu ergangene Wahlprüfungsentscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1988 - Herr
Strobl hat sie angeführt - die so genannten Berliner
Zweitstimmen berücksichtigt werden sollten.
In diesem Zusammenhang - das hat Herr Strobl nicht
erwähnt - möchte ich darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr über eine
hierzu anhängige Wahlprüfungsbeschwerde entscheiden
wird. Nicht erwähnt hat Herr Strobl auch, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang eine
nochmalige Auszählung der so genannten Berliner
Zweitstimmen veranlasst hat. Das müsste Ihnen, Herr
Strobl, eigentlich bekannt sein. Das stand sogar in den
Medien und war für jedermann nachlesbar. Das Ergebnis
müsste Ihnen erst recht bekannt sein. Es sieht so aus:
Auch ohne diese Zweitstimmen wäre es zu keiner anderen Sitzverteilung nach der Bundestagswahl 2002 gekommen. Haben Sie das nicht gewusst, Herr Kollege?
Vielleicht haben Sie das nur unterschlagen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht in diesem Jahr an. Unseres Erachtens besteht deshalb derzeit kein Bedarf für die Einleitung eines
Gesetzgebungsverfahrens.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Strobl?
Ja.
Frau Kollegin, es ist mir sehr wohl bekannt, dass sich
an der Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag
nichts geändert hätte. Aber Sie können nicht die Tatsache in Abrede stellen, dass die Union mehr Stimmen erhalten hätte als die SPD. An der Mandatsverteilung hätte
sich deswegen nichts geändert, weil die SPD-Fraktion
Überhangmandate hat. Das ist aber ein anderer Sachverhalt. Sie sollten das fairerweise nicht miteinander vermengen.
Des Weiteren meine ich, dass uns die Tatsache, dass
Bürger gegen die Feststellung des Wahlergebnisses der
Bundestagswahl 2002 in genau diesem Punkt vor dem
Bundesverfassungsgericht Klage erheben, nicht davon
entlasten kann, dass wir bis zum heutigen Tag einem
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
1988 nicht nachgekommen sind. Es wäre schließlich genug Zeit dafür gewesen. Besonders peinlich fände ich,
wenn das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren
die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers noch einmal
aufgreifen und sie ihm sozusagen um die Ohren hauen
würde und wir bis zu diesem Zeitpunkt wirklich nichts
getan hätten. Halten Sie es insofern vor dem Hintergrund
der laufenden Verfahren nicht doch für nützlich, dass wir
uns aufgrund unserer Initiative im Deutschen Bundestag
mit dem Thema beschäftigen?
({0})
Lieber Herr Strobl, das steht doch gar nicht in Abrede. Wir beschäftigen uns doch bereits seit 20 Minuten
damit und werden uns auch in den Ausschüssen weiter
damit beschäftigen.
({0})
Das steht insofern außer Zweifel.
({1})
Sie haben das Jahr 1988 angesprochen und bieten mir
damit die Gelegenheit, festzustellen, dass Sie zehn Jahre
Zeit gehabt hätten, zu handeln. Sie haben dies aber nicht
für nötig erachtet.
({2})
Auch wir hätten seit 1998 durchaus handeln können.
({3})
Wir haben es aber nicht für notwendig erachtet.
Ihr Gesetzentwurf trägt den Titel „Zweitstimmen-Berücksichtigungsgesetz“. Ich will nicht alle anderen Probleme, die Sie angesprochen haben, damit vermengen,
aber ich bin der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf eher
„Zweitstimmen-Nichtberücksichtigungsgesetz“ heißen
sollte. Denn es ist eindeutig, gegen wen er sich richtet.
({4})
Lassen Sie mich nun zu dem zweiten Gesetzentwurf
der CDU/CSU kommen, mit dem die Korrektur der so
genannten Grundmandatsklausel verlangt wird. Die
Grundmandate sollen von drei auf fünf angehoben werden. Auch hierbei möchte ich darstellen, worum es aus
meiner Sicht geht.
Bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur die Parteien berücksichtigt, die mindestens
5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen
Zweitstimmen erhielten oder die in mindestens drei
Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Sofern eine Partei zwar die 5-Prozent-Grenze verfehlt, aber in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz erringt, nimmt sie mit
allen Zweitstimmen unterhalb der 5-Prozent-Grenze an
der Sitzverteilung teil.
Ein Blick in die Vergangenheit macht deutlich, wem
die Grundmandatsklausel bisher genutzt hat. 1953 hat
die Grundmandatsklausel der Deutschen Partei und dem
Zentrum genützt. Damals gab es - auch das möchte ich
in diesem Zusammenhang erwähnen - sogar nur ein
Grundmandat.
1957 hat wiederum die Deutsche Partei davon profitiert. 1994 war es - das ist bereits angesprochen worden - die PDS. Sie erreichte nur 4,4 Prozent der Zweitstimmen, gewann aber vier Wahlkreise in Berlin.
Es ist höchst interessant, was das Bundesverfassungsgericht zur Grundmandatsklausel feststellt: Die Grundmandatsklausel dient dem von der Verfassung legitimierten Zweck des Ausgleichs zum Teil sogar gegenläufiger
Ziele, nämlich erstens ein funktionsfähiges Parlament zu
schaffen und zweitens eine effektive Integration des
Staatsvolkes zu bewirken. Zudem - das ist, zumindest
meiner Ansicht nach, das Allerwichtigste - ergeben sich
für die Zahl der Grundmandate keine verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das Bundesverfassungsgericht führt
weiter aus:
Im Übrigen ist es der Beurteilung des Gesetzgebers
anheim gegeben, auf wie viele Wahlkreiserfolge er
als Ausdruck eines besonderen politischen Gewichts abhebt. … Schon deshalb kann es von Verfassungs wegen nicht beanstandet werden, dass der
Gesetzgeber nach Vergrößerung des Wahlgebietes
durch die Wiedervereinigung Deutschlands die Anzahl der Grundmandate nicht erhöht hat.
({5})
So weit das Bundesverfassungsgericht. Das betrifft sowohl Ihre als auch unsere Regierung. Ich möchte nur
noch hinzufügen, dass diese Regelung seit Jahrzehnten
auf diese Weise angewendet wird.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU stellt aber gerade
darauf ab - das ist für mich schon ein bisschen merkwürdig -, dass sich die Zahl der Wahlberechtigten durch die
Wiedervereinigung um rund 29 Prozent, also um knapp
ein Drittel, vergrößert habe und dass nun endlich gehandelt werden müsse. Lieber Herr Strobl, in diesem Zusammenhang müssen Sie meines Erachtens zwei Fragen
beantworten. Erstens. Warum verlangen Sie erst jetzt, im
Jahr 2005 - oder gerade jetzt? -, Konsequenzen, obwohl
Ihnen seit 1990 - seit 1990! - bekannt ist, dass sich die
Zahl der Wahlberechtigten um knapp ein Drittel vergrößert hat? Diese Frage müssen Sie mir beantworten; denn
ich kann es selber nicht. Zweitens. Aus welchen Gründen soll eigentlich bei einer Vergrößerung der Zahl der
Wahlberechtigten um knapp ein Drittel die Zahl der
Grundmandate um mehr als ein Drittel angehoben werden?
Festzustellen ist: Die in der Begründung des Gesetzentwurfs hergestellte Beziehung zwischen der Stimmenzahl, die aufzubringen ist, um die 5-Prozent-Sperrklausel zu überwinden, und derjenigen, mit der drei
Wahlkreise direkt errungen werden können, würde sich
durch die Erhöhung auf insgesamt fünf Direktmandate,
wie Sie begehren, nur unwesentlich verändern. Die Differenz zwischen den erforderlichen Erststimmen und
Zweitstimmen ist - ich möchte nicht alles wiederholen in Wirklichkeit sehr geringfügig.
Sie haben vorhin sehr viele Rechenbeispiele genannt.
Ich schlage vor, dass wir uns im Ausschuss intensiv mit
Zahlen- und Rechenbeispielen beschäftigen. Sie behaupten aber, es gebe eine verfassungsrechtlich bedenkliche
Differenz zwischen der Stimmenzahl, die aufzubringen
ist, um die 5-Prozent-Sperrklausel zu überwinden, und
der Stimmenzahl, mit der man drei Wahlkreise direkt
erringen kann. Gestatten Sie mir deshalb, noch einmal
auf das Bundesverfassungsgericht zu verweisen. Es hat
keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert, wenn
weiterhin eine Differenz im bisherigen Umfang
zwischen der Stimmenzahl, die aufzubringen ist, um die
5-Prozent-Sperrklausel zu überwinden, und derjenigen
besteht, mit der man drei Wahlkreise direkt erringen
kann. So weit das Bundesverfassungsgericht. Ich musste
darauf bereits zum zweiten oder dritten Mal verweisen.
Ich möchte abschließend feststellen: Verfassungsrechtlich und wahlrechtlich lässt sich Ihr Anliegen kaum
begründen. Außerdem ist im Sinne der Ausführungen
des Bundesverfassungsgerichtes zu fragen, ob eine effektive Integration des Staatsvolkes bei einer Erhöhung
auf fünf Grundmandate noch gewährleistet ist. Vielmehr
ist wohl davon auszugehen, dass Ihr Anliegen politisch
motiviert ist. Der Bitte von Herrn Strobl, darüber im
Ausschuss intensiv zu sprechen, kommen wir natürlich
gerne nach. Wir befassen uns ja bereits damit. Wir werden dort ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, Ihre
politischen Anliegen zu prüfen und die Gegebenheiten,
die sich unter verfassungs- und wahlrechtlichen Gesichtspunkten ergeben, dagegen abzuwägen. Auf die
Diskussion freue ich mich.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute zwei unterschiedliche Themen, die
nur eines gemeinsam haben, nämlich dass sie etwas mit
dem Wahlrecht zu tun haben. Ich möchte in den drei Minuten, die mir zur Verfügung stehen, zu beiden kurz Stellung nehmen. Ich muss die Sachverhalte nicht wiederholen, da sie schon vorgetragen wurden. Ich möchte zuerst
mit den Berliner Zweitstimmen beginnen. Ich teile die
Auffassung des Kollegen Strobl, dass wir diesen Sachverhalt regeln sollten. Ich habe mich - genauso wie SPD
und Grüne - gegen das Ansinnen der CDU/CSU gewandt, die Bestimmung in § 6 des BWG analog anzuwenden; denn ich glaube, dass gerade das Wahlrecht
sehr strikt sein muss und dass sich deshalb eine analoge
Anwendung verbietet. Wenn wir aber dort strikt sind,
dann sollten wir auch eine gesetzliche Regelung vornehmen. Von daher meine klare Aussage, dass auch ich hier
Regelungsbedarf in der Richtung sehe, die Sie dargestellt haben.
({0})
Ich glaube aber, dass auch das, was die Kollegin
Wittig in dieser Debatte vorgetragen hat, wirklich überlegenswert ist. In diesem Jahr wird es die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts geben und das Bundesverfassungsgericht wird mit Sicherheit Ausführungen
dazu machen, die wir berücksichtigen müssen. Es macht
keinen Sinn, ein Gesetz gerade verabschiedet zu haben
und anschließend vom Bundesverfassungsgericht möglicherweise zu vernehmen, dass dabei dies oder jenes zusätzlich zu berücksichtigen gewesen wäre. Deshalb soll
oder muss das zwar auf die Agenda kommen, meiner
Auffassung nach aber erst für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Ich habe Sie auch
so verstanden, dass Sie dazu bereit sind.
Eines muss jedenfalls klar sein: Das Stimmengewicht muss gleich sein. Deshalb muss hier eine Änderung erfolgen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
das aber nur zu erwägen gegeben; es war kein Auftrag,
wie Sie gesagt haben. Jedenfalls führt ein Nachdenken
über diese Frage zu der Entscheidung, dass wir da tatsächlich etwas ändern müssen.
Der zweite Punkt: Grundmandatsklausel. Die kleineren Fraktionen im Bundestag, meine eigene, aber auch
Bündnis 90/Die Grünen, wissen, wie schwierig es ist,
ein Direktmandat zu erringen. - Der Kollege Ströbele
lächelt gerade, weil er ein solches Mandat errungen hat,
allerdings unter großen Anstrengungen. - Also, das Erringen eines Direktmandats für kleinere Parteien ist
außerordentlich schwierig. Die Tatsache, dass drei Direktmandate errungen worden sein müssen, bevor die
Grundmandatsklausel zur Anwendung kommt, macht
darüber hinaus deutlich, dass es sich um eine politische
Bewegung handeln muss, die offensichtlich Gewicht hat,
etwa ein regionales Gewicht, oder die aus anderen Gründen bei einer Bundestagswahl einen entsprechenden Erfolg hat. Ich rate uns davon ab, hier eine Änderung vorzunehmen. Die Hürde ist hoch, aber sie ist auch ein
Minderheitenschutz. Hierdurch besteht für politische
Gruppierungen, die sich neu gebildet haben, die Möglichkeit, gegebenenfalls auf diesem Wege in das politische Geschehen einzugreifen.
Ich sehe die Notwendigkeit für eine Änderung hier
also nicht. Ihre Berechnungen habe ich verstanden. Aber
auch in diesem Punkt muss ich der Kollegin Wittig
Recht geben. Das Bundesverfassungsgericht hat uns insoweit keine Aufgaben gestellt. Wir haben hier eine
große Möglichkeit zu variieren. Wenn wir politisch klug
sind, dann sollten wir daran nichts ändern. Mit dieser
Auffassung wird die FDP-Bundestagsfraktion in die Beratungen gehen. Ich freue mich darauf und ich denke,
dass wir dabei zu vernünftigen Entscheidungen kommen
können, und zwar quer durchs ganze Haus.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Silke Stokar.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Ausgang der Bundestagswahl 2002 war sehr knapp. Ich
kann mich noch gut an die kurze Sequenz erinnern, in
welcher der Herr Edmund Stoiber meinte, er sei Bundeskanzler. Das war aber nicht so, wie zumindest wir hier
alle heute wissen. Rot-Grün hat die Bundestagwahl 2002
gewonnen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
habe manchmal das Gefühl, dass Sie mit dieser Wahlniederlage bis heute nicht angemessen umgehen können.
({0})
Wir haben jetzt, im Jahre 2005, erneut nachgezählt, und
zwar in zwei Wahlbezirken in Berlin, 86: Berlin-Marzahn, 87: Berlin-Lichtenberg. Diese hoffentlich letzte
Nachzählung hat wohl auch für Sie ergeben, dass sich an
der Mandatsverteilung nichts ändert. Rot-Grün ist der
Sieger der Bundestagswahl 2002.
Ich erwähne das hier deshalb noch einmal, weil ich
das gleiche merkwürdige Erlebnis bei dem letzten Wahlabend in Schleswig-Holstein hatte. Ich bedauere, dass
jetzt noch einmal so ein Ton hineingekommen ist, indem
es hieß: der SSW. Seit Tagen wird die Minderheitengruppierung des SSWs, die gerade vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist, beschimpft und es
werden Neuwahlen gefordert. Für wenige Minuten gab
es an dem Wahlabend einen Ministerpräsidenten
Carstensen, der ebenfalls nicht kapiert hat, dass das
Wahlergebnis erst mit der Auszählung der Stimmen feststeht.
Ich weise hier extra darauf hin, weil Ihre beiden Vorlagen etwas mit Machterhalt und der Akzeptanz von
Wahlergebnissen zu tun haben.
({1})
Hier ist zur Genüge dargestellt worden, dass das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts von 1988 nicht auf die
von Ihnen problematisierte Zweitstimmenregelung anwendbar ist.
({2})
Hier wurde zu Recht gesagt: Eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts steht aus. Wir werden diese
Entscheidung in Ruhe abwarten und dann prüfen, ob es
überhaupt Handlungsbedarf gibt.
({3})
Ich möchte auch etwas zu der immer wiederkehrenden Diskussion über die Grundmandatsklausel sagen.
Ich bitte wirklich darum, dass wir in diesem Hause etwas
mehr Gelassenheit zeigen. Ich finde, es zeugt einfach
von der Vielfalt der Demokratie in unserem Lande, dass
zwei Frauen von der PDS in diesem Hause sitzen. Ich
hätte noch nicht einmal etwas dagegen, wenn sie hier
vorne einen vernünftigen Tisch hätten.
Wir alle tun uns doch hier überhaupt keinen Gefallen,
wenn wir erneut darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist,
die Anzahl der Grundmandate auf fünf zu erhöhen. In
der Realität wäre das eine Ausschlussklausel. Sie versuchen, die Hürden für kleine Parteien zu erhöhen.
Wir können mit der bisherigen Regelung gut leben;
sie ist eine Minderheitenschutzklausel. Drei Direktmandate sind mit einem gewissen Stimmengewicht verbunden. Wenn eine Partei bei einer Bundestagswahl drei
Direktmandate errungen hat, dann können die Mandatsträger die Wählerinnen und Wähler als Abgeordnete ihrer Partei hier im Bundestag vertreten. Ich finde das richtig. Ich sehe überhaupt keinen Anlass, hier erneut - das
ist ja nicht das erste Mal - eine Debatte über Grundmandate zu führen.
({4})
Es gibt eine vernünftige Regelung und wir sollten an dieser Regelung festhalten. Wir sollten die Größe haben, zu
sagen: Minderheitenpositionen haben in der Demokratie
und damit auch im Parlament ihren Platz.
Danke schön.
({5})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/4717 und 15/4718 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung
und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur
UN-Antifolterkonvention
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine Bekräftigung des absoluten Folterverbots
- Drucksachen 15/3507, 15/4396, 15/4826 Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Thilo Hoppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Christoph Strässer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns allen, die
wir hier noch sitzen, wäre, glaube ich, wohler, wenn wir
diese Debatte nicht führen müssten. 60 Jahre nach Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen, 57 Jahre
nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte hier im Deutschen Bundestag über das
Verbot der Folter diskutieren zu müssen ist ein bedrückender, aber, wie ich finde, notwendiger Umstand.
Uns liegen zwei Anträge zur Beratung vor, die beide
in die richtige Richtung gehen. Wir werden natürlich unseren eigenen Antrag verfolgen, weil er nach unserer
Auffassung den politischen Rahmen für die Diskussion
deutlicher bestimmt und hinsichtlich der Umsetzung des
Zusatzprotokolls zur UN-Antifolterkonvention auch
deutlich aktueller ist.
Seit einigen Tagen liegen die schriftlichen Urteilsgründe des Landgerichts Frankfurt in einer Angelegenheit vor, die die nationale Debatte über die Legitimität von Folter in Ausnahmesituationen über einen ganz
langen Zeitraum bestimmt hat. Das Urteil enthält auf der
einen Seite in wünschenswerter Klarheit eine Absage an
jegliche Form der Folter, gerade auch im strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren, und auf der anderen Seite bei der
Strafzumessung Augenmaß wegen der furchtbaren Konfliktsituation der ermittelnden Beamten von Polizei und
Staatsanwaltschaft. Es ist ein bemerkenswertes Urteil,
wie ich finde, das unser aller Respekt verdient.
Das Verbot von Folter ist ein elementarer menschenrechtlicher Bestandteil eines jeden Rechtsstaats. Trotzdem wird die Zulässigkeit von Folter national und international immer wieder diskutiert. Auf nationaler Ebene
wird an verschiedenen Stellen versucht, eine sehr emotionale Situation zu einer Relativierung des absolut geltenden Folterverbots zu benutzen. Betrachtet man allein
den Sinngehalt der Worte „absolut“ und „relativ“, so
wird eines sofort deutlich: Etwas absolut zu setzen und
es sofort wieder zu relativieren ist nach meiner Auffassung logisch nicht möglich.
Das Absolute an diesem Verbot begründet sich aus
der Würde des Menschen, seinem freien Willen und seinem angeborenen Menschenrecht auf Freiheit vor der
Willkür anderer. Art. 1 unseres Grundgesetzes steht eben
gerade nicht unter einem Gesetzesvorbehalt und ist insoweit einer Güterabwägung auch nicht zugänglich. Wer
diese humanitären und rechtlichen Grundprinzipien infrage stellt, untergräbt das Wertesystem rechtsstaatlicher
Gesellschaften.
Ich gehe darüber hinaus. Eine Aufweichung des Folterverbots ignoriert die Lehren der europäischen Aufklärung,
die die Grundlagen für Freiheit und Demokratie, für
Rechtsstaat und Menschenwürde aller vorbereitet hat
und auf die wir Europäer zu Recht auch deshalb so stolz
sind, weil deren Umsetzung durch lange Auseinandersetzungen erkämpft werden musste.
({0})
Diese unmissverständliche Wahrheit scheint nicht überall einzuleuchten.
Dabei sind auch die kodifizierten straf-, verfassungsund völkerrechtlichen Grundlagen des Folterverbots eindeutig, und zwar ebenso buchstäblich wie der Widerspruch von absolut und relativ. Die verfahrensrechtliche
Geltung des Folterverbots im Strafermittlungsverfahren
ist durch § 136 a der Strafprozessordnung gesichert. Darin heißt es unmissverständlich:
Die Freiheit der Willensentschließung und der
Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln …
In der aktuellen Diskussion werden das Recht auf
Nothilfe nach § 32 StGB und der Notstand nach
§ 34 StGB herangezogen. Es wird behauptet, in solchen
Fällen müsse eine Güterabwägung zwischen dem Recht
des Verdächtigen, nicht gefoltert zu werden, und dem
Recht auf Leben des Bedrohten zulässig sein. Unter bestimmten Umständen soll das Foltern des Verdächtigen
legitim sein, wobei sich die Protagonisten dieser Gedanken schwer tun, eine andere Umschreibung für das zu
finden, was real Folter ist. Einige gehen sogar so weit,
festzustellen, dass sich der Staat durch den Schutz der
Würde des Täters in diesem Fall zum Mittäter macht. Es
wird auch nicht besser dadurch, glaube ich, dass diese
Gedanken in einem renommierten Grundgesetzkommentar veröffentlicht sind, der bis zu diesem Zeitpunkt eine
völlig andere Position hatte.
({1})
Wer das in dieser Form ernsthaft vertritt, der verabschiedet sich von der naturrechtlichen Begründung des
Rechts durch Immanuel Kant als Freiheit des einen vor
der Willkür des anderen.
Das Verbot der Folter in der Bundesrepublik ist unter
anderem durch Art. 104 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes
sichergestellt, der wie folgt lautet:
Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch
körperlich mißhandelt werden.
Wer das Folterverbot aufweichen will, widerspricht gewollt oder ungewollt den Grundsätzen unserer Verfassung. Die Mütter und Väter unserer Staatsordnung haben
das absolute Verbot von Folter also an die Existenz des
Grundgesetzes gekoppelt. Und sie taten gut daran.
Zahlreiche internationale Verträge wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale
Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische
Grundrechte-Charta fordern ebenfalls das absolute Folterverbot und diese Regeln gelten gemäß Art. 25 des
Grundgesetzes als unmittelbares Bundesrecht.
Besonders deutlich ist Art. 2 Abs. 2 der UN-Konvention gegen Folter. Dieser bestimmt, dass auch außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg
oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein
sonstiger öffentlicher Notstand, nicht als Argument für
Folter geltend gemacht werden dürfen. Die nationale wie
die internationale Rechtslage ist somit eindeutig: Die
Anwendung oder Androhung von Gewalt zur Abgabe einer Erklärung eines gefangenen Menschen unterliegt einem absoluten Verbot ohne irgendeine Ausnahme.
Wir, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, wollen deshalb mit unserem Antrag „Für eine
Bekräftigung des absoluten Folterverbots“ die Absolutheit dieses Folterverbots national sowie international
noch stärker einfordern.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist es für uns,
sich für die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur UNAntifolterkonvention einzusetzen, international, aber
selbstverständlich auch vor unserer eigenen Haustür. Damit Deutschland das Zusatzprotokoll ratifizieren kann,
bedarf es der Mitwirkung der Länder. Ich sage das Stichwort: Lindauer Abkommen. Leider fehlt immer noch
die endgültige Zustimmung von vier Bundesländern, allesamt CDU-regiert. Ich weiß nicht, warum Hamburg,
Thüringen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen der Ratifizierung noch nicht endgültig zugestimmt haben. In unserem Ausschuss im Deutschen Bundestag besteht jedenfalls Übereinstimmung, dass dieses Abkommen
nunmehr schnell umgesetzt werden muss. Wir begrüßen
es deshalb außerordentlich, dass seit dem 1. Juli 2004
endlich Bewegung in die Diskussion gekommen ist und
nur noch die vier genannten Länder - ich nenne es einmal so - Bedenkfrist beanspruchen. Die Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU sollten einmal nachfragen,
was denn da eigentlich so lange dauert. Es gilt auf jeden
Fall festzuhalten, dass eine schnelle Ratifizierung im
Moment in der Hand dieser Länder liegt.
Ich füge hinzu: Die Bundesregierung ist diesen Ländern schon weit entgegengekommen, indem sie die Ausstattung des nationalen Präventionsmechanismus, der
ja gefordert wird, so heruntergefahren hat, dass die entsprechende Länderkommission nur noch aus vier ehrenamtlichen Sachverständigen und einem kleinen Sekretariat besteht. Mit dieser Ausstattung kann sie allerdings
wohl kaum den vielfältigen Aufgaben nachgehen, die ihr
zu übertragen sind. Wir kritisieren dies ausdrücklich und
sagen, an die Adresse des Bundesministeriums der Justiz
gerichtet: Wir werden an dieser Stelle auf Nachbesserungen drängen, damit die Aufgaben vernünftig erfüllt werden können. Es stößt aber gerade unter diesem Umstand
auf absolutes Unverständnis, wenn selbst angesichts des
gewählten Modells eines schlanken Präventionsmechanismus die genannten vier Bundesländer ihre Bedenken
immer noch nicht zurückgestellt haben und eine schnelle
Zeichnung verhindern.
Sehr geehrter Herr Kollege Funke, angesichts dieses
Standes der Debatte sollten Sie sich nach meiner Überzeugung ernsthaft überlegen, den Antrag Ihrer Fraktion
zurückzuziehen und Ihre Arbeitskraft zum Beispiel in
Niedersachsen, wo Ihre Partei an der Regierung beteiligt
ist, einzubringen und sich dort für eine schnellstmögliche Zustimmung einzusetzen. Das würde uns, wie ich
glaube, weiterbringen.
({2})
- Es ist aber kontraproduktiv, wenn sich das irgendwie
rollierend überholt.
Immer wieder wird das Verbot von Folter im Kontext
der Bekämpfung des Terrorismus auf internationaler
Ebene von Rechtsstaaten, auch von Rechtsstaaten westlicher Prägung, infrage gestellt. Vielfach geht es dabei
um Maßnahmen zu präventiven Zwecken der Terrorismusbekämpfung, also zur Verhinderung bevorstehender
terroristischer Anschläge. Alle internationalen Verträge
sprechen, wie bereits erwähnt, eine deutliche Sprache.
Die Realität sieht indes anders aus. In Guantanamo wird
seit 2002 nach Berichten nicht nur von Amnesty International die Menschenwürde durch grausame, entwürdigende Methoden außer Kraft gesetzt. Wir erleben dies in
Afghanistan und in vielen anderen Ländern; zum Teil
bedient man sich auch - ich nenne es einmal so - des Erfahrungsschatzes von Staaten außerhalb der westlichen
Demokratien, um auf bestimmte Ereignisse zu reagieren
und entsprechende Ergebnisse zu erzielen.
Begründet wird diese Vorgehensweise mit der rechtlichen Einstufung der Gefangenen als ungesetzliche feindliche Kämpfer. Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich:
Dieses Vorgehen ist nach allen internationalen Verträgen
nicht nur rechtswidrig, sondern unmenschlich und für einen echten Demokraten unerträglich.
({3})
Der Schutz und die Sicherheit des Einzelnen, meine Damen und Herren, ist die Existenzbegründung für jeden
Rechtsstaat. Dieser Schutz des Menschen ist immer auch
der Schutz vor der Willkür durch den Staat.
Deshalb fordern wir - ich sage dies zum Schluss noch
einmal nachdrücklich -, das absolute Folterverbot im Inund Ausland, auch im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus, zu verteidigen, und lehnen außerdem konsequent jegliche Form des so genannten Feindstrafrechts
ab. Ein Rechtsstaat darf keinen rechtsfreien Raum dulden, geschweige denn schaffen. Denn rechtsfrei bedeutet
rechtlos. Und rechtlos bedeutet - es sei mir gestattet,
Thomas Hobbes zu zitieren -: homo homini lupus. Für
alle die, die des Lateinischen nicht mächtig sind, gibt es
die schöne deutsche Übersetzung: Der Mensch ist dem
Menschen ein Wolf. Über diesen Zustand sollten wir in
unseren freiheitlichen Demokratien hinweg sein. Ich
bitte Sie deshalb um Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist jetzt genau eine Woche her, dass ich ein
sehr ausführliches Gespräch mit einem Arzt im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin führte. Eindrucksvoll schilderte er mir die verschiedenen Therapieformen, deren Ziel es ist, gefolterten Menschen zu
helfen. Doch er schilderte nicht nur die vielfältigen Therapiebemühungen, die darauf gerichtet sind, das Leid der
oft nach vielen Jahren noch traumatisierten Kinder,
Frauen und Männer zu lindern. Er schilderte mir auch
die Methoden der Folterknechte. Er sprach von den Bemühungen, einem Kurden zu helfen, den seine Peiniger
in einen Raum warfen, dessen Boden mit Glasscherben
übersät war. Dann hetzten sie Hunde auf den nahezu unbekleideten Mann, deren Pfoten mit einer Art Schuh vor
den Scherben geschützt waren. Diese schreckliche Quälerei fand ihre Fortsetzung in einem Raum, auf dessen
Boden Salz angehäuft war, das beim Eindringen in die
offenen Wunden zu unvorstellbaren Schmerzen führte.
Entsetzt steht man vor der grausamen Fantasie derjenigen, die sich solche Quälereien von Menschen einfallen lassen. Doch ich stelle in dieser Debatte auch dankbar fest, dass es Menschen gibt, die nicht beim Entsetzen
stehen bleiben und sich beispielsweise in dem Behandlungszentrum für Folteropfer engagieren, das von Kolleginnen und Kollegen aus allen Bundestagsfraktionen unterstützt wird.
Nach Angaben von Amnesty International wurden in
den vergangenen Monaten in über 130 Ländern Menschen gefoltert und misshandelt. Opfer werden zum Beispiel engagierte Personen ethnischer Minderheiten, oppositionelle Politiker, Studentenführer, kritische
Journalisten, Angehörige religiöser Minderheiten, Menschenrechtsverteidiger und Menschen, die gegen ungerechte soziale Verhältnisse protestieren. Opfer von Folter
sind aber auch Menschen, die verdächtigt werden, Straftaten begangen zu haben und von denen Geständnisse erpresst werden sollen. Sogar Kinder werden gefoltert,
etwa bei der Verhaftung ihrer Eltern oder wenn sie selbst
ins Gefängnis geworfen werden. Kinder werden zudem
gefoltert und misshandelt, um sie in Kriegen, vor allem
in Bürgerkriegen, als Kindersoldaten missbrauchen zu
können.
Wir wissen um die politischen Rahmenbedingungen,
die die Gefahr der Folter verstärken: Haft ohne jeden
Kontakt zur Außenwelt - so genannte IncommunicadoHaft -, unfaire Prozesse, in denen unter Folter erpresste
Geständnisse als Beweismittel Anerkennung finden,
Straflosigkeit bis hin zum offiziellen Gewähren der Immunität für Folterer, mangelnde Ausbildung der Sicherheitskräfte oder gar Ausbildung zur Folter, Erziehung
und Ausbildung zu absolutem Gehorsam sowie Pressezensur, gerade wenn es um das Fehlverhalten von Sicherheitsorganen geht. Die Änderung dieser Rahmenbedingungen muss unser Ziel sein. 139 Staaten sind
inzwischen Vertragsstaaten der Antifolterkonvention.
Zahlreiche Vertragsstaaten sehen sich jedoch selbst massiven Foltervorwürfen ausgesetzt.
({0})
Mit dem Ziel, Präventionsmechanismen zur Verhinderung von Folter und Misshandlung in Gewahrsamseinrichtungen zu schaffen, wurde das Zusatzprotokoll zur
UN-Antifolterkonvention im Dezember 2002 von der
Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Bereits am 14. März 2002 hatte sich der Bundestag in einer einstimmigen Beschlussfassung für ein
solches Fakultativprotokoll ausgesprochen. Nun zeichnet sich eine baldige Einigung des Bundes mit den Ländern über diese Zeichnung des Zusatzprotokolls ab. Als
Unionsfraktion begrüßen wir dies ausdrücklich. Im Hinblick auf entsprechende Bemerkungen des Kollegen
Strässer füge ich hinzu, dass deutliche Appelle unserer
Bundestagsfraktion, namentlich unseres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Bosbach, an die Landesregierungen zu dieser sich abzeichnenden Einigung beigetragen haben. Deswegen werden wir gern dem FDP-Antrag
zustimmen, dessen Annahme geeignet ist, dabei zu helfen, dass dieser Prozess zügig zu einem guten Ergebnis
geführt wird.
Was den Antrag der Regierungsfraktionen angeht, so
gebe ich gern zu, dass das Bemühen verdienstvoll ist,
eine Bekräftigung des absoluten Folterverbots in den Zusammenhang der verschiedenen Debatten zu diesem
Thema zu stellen. Leider führt diese Bemühung jedoch
zur fragwürdigen Vermischung höchst unterschiedlicher
Sachverhalte. Ungenauigkeiten führen zudem zu unfairen Beurteilungen. So heißt es in dem rot-grünen Antrag
nach Ausführungen zum in Guantanamo Bay angewandten Feindstrafrecht:
Die rechtswissenschaftlichen Überlegungen in
Deutschland sind ähnlich.
Dies ist in dieser Allgemeinheit völlig falsch; denn die
ganz überwältigende Mehrheit der juristischen Äußerungen in der Bundesrepublik Deutschland hat sich klar gegen derartige Vorstellungen von einem Feindstrafrecht
gewandt und steht selbstverständlich zur Absolutheit des
Folterverbots. Gewiss meinen Sie Ihre Formulierung
nicht als Generalvorwurf. Aber die Ernsthaftigkeit des
Themas erfordert eben präzisere Formulierungen.
Erwähnt sei schließlich das zwischenzeitlich erfolgte
Gerichtsurteil im Fall des ehemaligen Vizepräsidenten
der Frankfurter Polizei, dessen Klarheit in der Bekräftigung der Absolutheit des Folterverbots Sie, Kollege
Strässer, selbst ansprachen. Dieses Urteil hat die entsprechenden Passagen Ihres Antrags zu überholten Aussagen
gemacht.
Da auch ich zugleich nicht verhehlen will, dass Ihr
Antrag eine Reihe von sehr wichtigen Feststellungen
und begrüßenswerten Forderungen enthält, werden wir
uns bei diesem Antrag der Stimme enthalten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus müssen
wir als Menschenrechtler nach wie vor einige Ausprägungen der Art, wie dieser Kampf geführt wird, massiv
und deutlich kritisieren. Es ist traurig, dass etliche Jahre
nach dem 11. September 2001 das Thema Folter immer
noch auf der Agenda steht und dass wir diese Praktik
auch innerhalb der demokratischen Staaten nach wie vor
anklagen und bekämpfen müssen. Das ist einer der
Gründe, warum wir gut daran tun, hier im Parlament regelmäßig und ohne nachzulassen die universelle Geltung
der unveräußerlichen Menschenrechte einzufordern, gerade auch im Kampf gegen den Terrorismus.
Die Erosion des Folterverbots - man glaubt, Menschenrechte suspendieren zu müssen, um Menschenrechte zu verteidigen - bekommen wir leider auch im eigenen Land zu spüren. Hermann Gröhe, das ist
tatsächlich eine Tendenz, die es hierzulande so vor einigen Jahren noch nicht gab und die uns beunruhigen
muss. Wir müssen auch seitens des Menschenrechtsausschusses intensiv und kontinuierlich daran arbeiten, sie
zu stoppen.
Die Bilder aus Abu Ghureib haben zwar einhelliges
Entsetzen hervorgerufen; trotzdem gerät die Gewissheit,
dass Folter ein Anschlag auf die Menschenwürde ist,
auch in manchen Debatten in Deutschland ins Rutschen.
Das zeigt die öffentliche Debatte um den mittlerweile
verurteilten Polizeipräsidenten Herrn Daschner ebenso
wie die Berichte aus einigen Kasernen, in denen im Rahmen militärischer Übungen unmenschliche, erniedrigende und grausame Methoden simuliert worden sind.
Regierung und Parlament - und zwar im Parlament
einmütig über alle Fraktionsgrenzen hinweg - haben
nach diesen Vorfällen eindeutig klargestellt, dass das
Folterverbot keine Ausnahme duldet. Darüber bin ich
wirklich außerordentlich froh.
({0})
Trotzdem bekommt vor diesem Hintergrund die anstehende Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention der Vereinten Nationen eine zusätzliche,
ganz andere Gewichtung, als sie bisher schon hatte.
Gerade rechtsstaatliche Demokratien sind gefordert,
eine Erosion des Folterverbots zu verhindern, und zwar
vor allen Dingen dadurch, dass auch innerstaatlich alle
menschenrechtlichen Konventionen und Instrumente
rechtlich und praktisch verankert werden. Dabei geht es
nicht zuletzt - das ist sehr wichtig - um unsere eigene
Glaubwürdigkeit. Wenn wir andere Menschen und Staaten auffordern wollen, die Menschenrechte zu achten
und zu stärken, dann müssen wir sie im eigenen Land in
beispielhafter Weise umsetzen, wohl wissend - das sage
ich ganz ausdrücklich -, dass wir natürlich im Vergleich
zu vielen anderen Ländern dieser Erde in guten und sicheren rechtsstaatlichen Verhältnissen leben. Auch vor
dem Hintergrund, dass wir im Rahmen der Reform der
Vereinten Nationen vonseiten der Demokratien mehr
Verantwortung anstreben, muss die innerstaatliche menschenrechtliche Situation nicht nur gut sein, sondern beispielhaft.
Ich bin der Justizministerin sehr dankbar, dass in ihrem
Haus ein Konzept für die praktische Umsetzung des Zusatzprotokolls erarbeitet worden ist, das auch endlich einen
Durchbruch gebracht hat, weil es vielen Bundesländern ermöglicht hat, die Bedenken gegen die Ratifizierung aufzugeben. Herr Staatssekretär, Sie wissen ja, dass wir
vonseiten unseres Ausschusses diese Bemühungen sehr
nachdrücklich und intensiv unterstützt haben. Die Koalitionsfraktionen haben ihrerseits Bemühungen unternommen, auf der Länderschiene Rückenwind zu geben. Wir
haben gemeinsam mit der SPD unsere Fraktionen in den
Landtagen angeschrieben mit der Bitte, der Ratifizierung
des Zusatzprotokolls nicht länger im Wege zu stehen.
Es gab ein Fachgespräch im Herbst, in dem wir intensiv darum geworben haben, dass das arbeitsfähige Konzept, das aus dem Justizministerium vorgelegt worden
ist, auch bei den Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen Zustimmung finden konnte. Das Konzept sah eine
gemeinsame Länderkommission vor, in die jedes Bundesland einen ehrenamtlich tätigen Sachverständigen
entsenden sollte. Die Reisekosten für die Sachverständigen und die Kosten für das Kommissionssekretariat mit
damals vier Mitarbeitern sollten von den Ländern gemeinsam getragen werden.
Ich habe allerdings volles Verständnis dafür, dass renommierte Nichtregierungsorganisationen nicht bereit
sind, dass Magersuchtmodell mitzutragen, zu dem das
bisher schon sehr schlanke Konzept inzwischen zusammengestrichen worden ist. Es ist eine Illusion zu glauben,
dass ein solches Magersuchtmodell mit gerade einmal vier
Experten und einem einzigen Sekretariatsmitarbeiter, über
das zurzeit verhandelt wird, all die Aufgaben erfüllen
kann, die eine solche Kommission laut Fakultativprotokoll zu leisten hat.
Die Kommission soll regelmäßig Kontrollbesuche in
Strafvollzugseinrichtungen, psychiatrischen Anstalten,
im Polizeigewahrsam sowie in den geschlossenen Abteilungen von Alten- und Pflegeheimen sämtlicher Bundesländer machen. Anschließend soll sie den zuständigen
Behörden Empfehlungen geben, einen Jahresbericht erstellen und schließlich mit dem VN-Unterausschuss für
die Prävention gegen Folter zusammenarbeiten.
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wo das Problem ist.
An den Kosten kann es eigentlich nicht liegen. Denn bei
dem ursprünglichen Modell wären nach Expertenschätzungen für kleine Bundesländer jährlich Kosten im vier-,
allerhöchstens im fünfstelligen Bereich zu veranschlagen gewesen. Das fällt in einem Landeshaushalt nun
wirklich unter die Rubrik Kleinigkeiten.
Wir unterstützen die Bundesregierung, vor allem auch
das Justizministerium, ausdrücklich darin, die ursprüngliche Version zu realisieren. Ich appelliere an die
Bundesländer, den guten Reden jetzt gute Taten folgen
zu lassen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem stimmen wir alle überein: Es darf in Deutschland
für Folter keinen Raum geben - unter keinen Bedingungen, auch nicht in absoluten Ausnahmefällen und auch
nicht in Ansätzen oder nur als Androhung.
({0})
Das ist eine der Lehren unserer Geschichte, eine der
Grundlagen unserer freiheitlichen Rechtsordnung, eines
der Grundprinzipien, auf denen unser Gemeinwesen aufgebaut ist.
Die Diskussion um den erschütternden Mordfall von
Metzler im vergangenen Jahr hat gezeigt, wie schnell der
gesellschaftspolitische Konsens aufgrund von tagespolitischen Stimmungen in dieser wichtigen Frage brüchig
geworden ist. Umso wichtiger ist es, dass die Verantwortlichen in der Politik, also wir, hier an einem Strang
ziehen.
Deutschland hat aufgrund seiner historischen Verantwortung, seiner Verfassung und seiner menschenrechtspolitischen Ansprüche darüber hinaus aber auch die Verpflichtung, Vorreiter im Kampf gegen die Folter auf der
ganzen Welt zu sein. Wie notwendig das ist, zeigen die
erschütternden Berichte von Amnesty International und
von anderen Nichtregierungsorganisationen fast täglich
aufs Neue.
Wir können uns als Politiker, sei es als Regierungsvertreter oder als Abgeordnete, in Gesprächen vor Ort
gegen Folter stark machen. Wir können mit NGOs zusammenarbeiten und wir können den Weg über die Medien gehen. Aber uns steht ein weiterer Weg zur Verfügung, nämlich das internationale Recht, das die
Grundlage für ein weltweites Folterverbot schaffen
muss.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb bereits Ende
Juni letzten Jahres einen Antrag im Deutschen Bundestag eingebracht, in dem wir uns für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur UN-Antifolterkonvention aussprechen. Es geht
uns dabei um den Inhalt dieses Zusatzprotokolls, den wir
für umsetzbar und für umsetzenswert erachten.
Es geht uns aber durchaus auch darum, dass Deutschland eine Vorreiterrolle bei der Ratifikation internationaler Abkommen in diesem wichtigen und hochsensiblen
Bereich einnimmt. Ich weiß, die Bundesregierung kündigt seit längerem an, sich in einem Abstimmungsprozess mit den Ländern zu befinden. Die Innenministerkonferenz der Länder hat bereits im letzten Sommer
Prüfung zugesagt. Passiert ist aber bislang nichts, außer
dass weiter gestritten wird und angeblich erste mündliche Einigungen vorliegen. Dieses Zögern tut der
Vorbildfunktion Deutschlands nicht gut; es schwächt
unsere Glaubwürdigkeit beim weltweiten Kampf gegen
Folter.
({1})
Ich sage Ihnen zu, Herr Kollege Strässer, dass ich
mich bei den Ländern, in denen wir an der Regierung beteiligt sind, dafür einsetzen werde, dass diese Länder alsbald ebenfalls zeichnen werden.
({2})
Wir haben im Sommer die Initiative ergriffen. RotGrün hat daraufhin im Dezember mit einem eigenen Antrag nachgezogen. Im Antrag von Rot-Grün ist verklausuliert und in einer Fülle von allgemeinen Beobachtungen und Forderungen
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- ich weiß - der Appell an die Bundesregierung versteckt, das Zusatzprotokoll zu unterzeichnen. Dazu sage
ich: Vielen Dank, dass Sie das so nett verpackt haben.
({0})
Sie sind Verpackungskünstler.
Ich möchte es klar und deutlich sagen: Ratifikation
jetzt, und zwar so schnell wie möglich!
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über zwei Anträge. Der eine
kommt von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen.
In ihm wird bekräftigt, dass das Folterverbot absolut und
ausnahmslos gilt. Die PDS im Bundestag teilt diese Auffassung. Das Folterverbot leitet sich direkt aus Art. 1 des
Grundgesetzes ab: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das heißt die Würde jedes Menschen, auch solcher Menschen, die scheinbar oder tatsächlich unter Verdacht stehen.
Wer indes Folter rechtfertigt, wer die Würde eines
Menschen gegen die Würde eines anderen abwägt, der
gibt einen fundamentalen und historischen Anspruch
dem Ermessen preis. Die PDS will das nicht.
Allerdings diskutieren wir heute nicht nur abstrakt.
Wir hatten eine sehr konkrete Debatte rund um die Folterdrohungen des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei. Wir kennen die Äußerungen von Professor
Wolffsohn, der Folter unter bestimmten Bedingungen für
legitim hält. Ähnlich äußerten sich übrigens - damals in
einer ganz eigenartigen Koalition - Wolfgang Bosbach,
CDU, und Oskar Lafontaine, SPD. Umso erfreuter war
ich heute, zu hören, dass Wolfgang Bosbach gegenüber
Landesregierungen aktiv geworden ist.
Wir erleben außerdem, wie in Kriegs- und Krisengebieten gefoltert und Folter trainiert wird. Wir wissen,
dass der Präsident der USA Folter zulässt - und das
nicht nur in Guantanamo. Auch deshalb sollte der Bundestag ein ganz klares Zeichen gegen jedwede Folterpraxis und gegen jeden Legitimationsversuch setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
den Grünen, daher finde ich es unverständlich, dass Sie
heute den Antrag der FDP, über den wir auch beraten,
ablehnen. Die FDP will, dass die Bundesrepublik
Deutschland die Antifolterkonvention der UNO zeichnet
und ratifiziert. Ich finde das richtig, zumal die Konvention eine Folterdefinition enthält, die keine der bemühten
Ausnahmen vom Folterverbot zulässt.
Rot-Grün hat auch heute wieder auf Abstimmungsprobleme mit den Bundesländern verwiesen, die sich
aus den unterschiedlichen Kompetenzen von Bund und
Ländern ergeben. Außerdem sei man in der Praxis schon
weiter als im Antrag der FDP unterstellt. Das ist völlig
klar; Kollege Funke hat auf den zeitlichen Ablauf verwiesen.
Mich überzeugen beide Bedenken überhaupt nicht,
zumal die UNO-Konvention erst dann an Kraft gewinnt,
wenn sie von genügend Staaten ratifiziert wird.
({0})
- Ja, aber Sie könnten ein wenig aktiver werden, indem
Sie mit der Annahme des Antrages der FDP Ihren Willen
unterstreichen und bekunden.
({1})
Insofern bleibt der schlechte Geschmack, dass der
Antrag einfach nur von der falschen Seite kommt. Ich
finde, wenn es um den Schutz der Grund- und Menschenrechte geht, dann sollte es keine richtige und keine
falsche Seite geben, wenn beide dasselbe wollen.
Deshalb wird die PDS im Bundestag heute schlicht
beiden Anträgen zustimmen.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Folter ist menschenverachtend, abscheulich und in keiner Weise hinnehmbar. Eigentlich braucht
man es gar nicht eigens zu betonen, dass wir alle hier im
Saal - die Debatte hat dies wenig überraschend gezeigt Folter in jeglicher Form und zu welchem Zweck auch
immer aufs Schärfste verurteilen und ablehnen.
Uns liegen nun zwei Anträge zur Folterthematik vor:
einer von der FDP und einer von der Regierungskoalition. Wir werden uns dem Antrag der FDP anschließen.
Bei der Abstimmung über den Antrag der Regierungskoalition werden wir uns enthalten.
Der Forderung eines generellen Folterverbotes, wie in
beiden Anträgen enthalten, schließen wir uns selbstverständlich voll und ganz an; darüber besteht Einigkeit.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben in Ihrem Antrag einiges miteinander verbunden, was
nicht miteinander verbunden werden darf. Deswegen
können wir Ihren Antrag leider - wirklich leider - nicht
bedingungslos mittragen.
Zum Hintergrund unserer heutigen Debatte ist zu sagen, dass 1984 die UN-Antifolterkonvention verabschiedet wurde und dass sie danach durch die UN-Mitgliedstaaten bedauerlicherweise zögerlich umgesetzt wurde.
Mittlerweile haben allerdings mehr als 145 Staaten der
191 Mitgliedstaaten die Antifolterkonvention angenommen. Das Protokoll trat nach der Ratifizierung durch die
ersten 20 Vertragsstaaten am 26. Juni 1987 in Kraft und
gilt in der Bundesrepublik seit dem 31. Oktober 1990.
Nach jüngsten Angaben von Amnesty International
- das ist bereits mehrfach angesprochen worden - wird
jedoch immer noch in 132 Staaten von Polizei und staatlichen Stellen gefoltert, sodass es die Vereinten Nationen
für nötig befanden, ein Zusatzprotokoll zu erstellen. Diesem „Zusatzprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafe“ stimmte dann die UNGeneralversammlung im Dezember 2002 zu. Darin werden neben der Folter auch andere grausame, unmenschliche und entwürdigende Behandlungen oder Bestrafungen verboten.
Das Zusatzprotokoll sieht zum einen - das unterstützen wir sehr - die Einrichtung eines internationalen Gremiums, eines Unterausschusses, vor, das dem Komitee
zur Bekämpfung der Folter untersteht und Untersuchungen in Gefängnissen oder an anderen Orten, an denen
sich Gefangene befinden, durchführen kann. Außerdem
sollen die Mitgliedstaaten - auch das unterstützen wir
natürlich - zum selben Zweck innerstaatliche unabhängige Gremien einrichten. Vorbeugung steht also im Vordergrund. Folter muss von vornherein verhindert werden
und darf nicht erst dann beklagt werden, wenn sie schon
vollzogen worden ist.
Bisher wurde das Zusatzprotokoll von 27 Staaten gezeichnet, aber nur von drei Staaten ratifiziert. Es ist offensichtlich, dass die Ratifizierung des Zusatzprotokolls
durch Deutschland auf bestem Wege ist. Sie ist aber leider immer noch nicht vollzogen worden. Es hapert - wir
alle haben das schon beklagt; ich denke, darüber sind wir
uns wirklich einig - an der Umsetzung durch die Länder. Deshalb ist die Forderung der FDP, dass möglichst
zügig vonseiten der Bundesregierung die notwendigen
Voraussetzungen für eine Lösung mit den Ländern geschaffen werden, mehr als berechtigt. Ich glaube, es ist
auch klar, dass wir die Bundesregierung dabei unterstützen.
({0})
- Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass wir die Bundesregierung dabei unterstützen werden. Wir wollen uns doch
nicht bei diesem Thema streiten.
Wir werden - da bin ich zuversichtlich - die entsprechenden Hürden nehmen; schließlich haben wir ein gemeinsames, parteiübergreifendes Ziel. Es wäre daher ein
gutes Zeichen, wenn wir im Bundestag - durch unsere
Beschlussfassung - und auch die Akteure in den Ländern diese Bemühungen unterstützten und damit ein
Signal setzten.
So weit, so gut.
Ich möchte aber, wenn Sie erlauben, noch begründen,
warum wir uns bei Ihrem Antrag enthalten und dem Antrag der FDP voll und ganz zustimmen werden. Sie gehen in Ihrem Antrag auf den Fall Daschner ein. Dabei
geht leider eines unter: Es ging bei diesem Fall nicht um
vollzogene Folter - das wäre katastrophal -, sondern um
den brutalen Notstand einer Kindesentführung, bei dem
wahrscheinlich von polizeilicher Seite schlicht und ergreifend nicht überblickt werden konnte, was man eigentlich tat, als man anordnete, man möge den Entführer
mit Folter bedrohen. Das zuständige Gericht hat das entsprechend erkannt - Herr Strässer hat es vollkommen
richtig gesagt - und hat es auch in seiner Urteilsfindung
berücksichtigt. In Ihrem Antrag - das kann man leider
herauslesen - unterstellen Sie, in der öffentlichen Meinung gebe es die Tendenz, das absolute Folterverbot auszuhebeln. Diese Tendenz - das muss ich ganz klar
sagen - kann ich in der öffentlichen Debatte nicht mehr
erkennen. Deswegen gefällt uns Ihr Antrag vom Wortlaut her nicht so gut. Wir halten die Formulierung für etwas unglücklich.
({1})
Im gleichen Atemzug nennen Sie Guantanamo Bay,
wo es anerkanntermaßen zu einer Aushebelung der amerikanischen Bürgerrechte und - das ist noch viel schlimmer - der Rechte aus der III. Genfer Konvention zum
Schutz von Kriegsgefangenen gekommen ist. Der Zustand dort ist unbestritten unhaltbar, grausam und menschenunwürdig; wir alle können dafür nur tiefste Abscheu empfinden. Das Problem ist nur, dass Sie in Ihrem
Antrag die Behauptung aufstellen, die rechtswissenschaftlichen Überlegungen in Deutschland gingen zumindest zum Teil in eine ähnliche Richtung. Allein, hier
einen Zusammenhang herstellen zu wollen, halte ich für
unglücklich. Es bleibt natürlich nicht aus, dass es in der
Rechtswissenschaft einige verquere Meinungen, ganz
bewusst vorgetragen, zu diesem Thema gibt. Ich denke
aber, wir müssen ganz deutlich herausstellen, dass diese
Meinungen Minderheitenmeinungen sind. Es ist auch
klar, dass wir alle nicht dieser Meinung sind. Wir können
es definitiv nicht unterstützen, dass Sie einen solch pauschalen Zusammenhang herstellen.
({2})
Der Antrag der FDP enthält die notwendigen Fakten.
Ich habe bereits gesagt, dass wir Sie bei der Umsetzung in den Ländern unterstützen werden, wo wir können. Beide Seiten, der Bund und die Länder, sind nun in
der Pflicht. Das ist so; da haben Sie völlig Recht. Wo wir
mit Ihnen zusammenarbeiten können, möchten wir das
gern tun. Erst dann können wir zufrieden sein und erst
dann haben wir ein ausreichendes Zeichen gegen Folter
gesetzt. Aus diesem Grunde schließen wir uns, weil uns
dieser Antrag näher ist, dem Antrag der FDP an.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 15/4826 und beginnen mit der Abstimmung
zu Buchstabe b der Beschlussempfehlung. Unter
Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3507
mit dem Titel „Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung
und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der FDP sowie der Kollegin Petra Pau angenommen.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 15/4396 mit dem Titel „Für eine Bekräftigung des absoluten Folterverbots“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition und der Kollegin Petra Pau bei Enthaltung
der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, Dirk Niebel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anti-Benachteiligungsgesetz für den deutschen Mittelstand auf den Weg bringen
- Drucksache 15/4734 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Wir legen Ihnen heute Abend ein Anti-Benachteiligungsgesetz für den Mittelstand vor. Dies tun wir aus
dem einfachen Grund, weil wir unbedingt möchten, dass
in Anbetracht der schwierigen Wirtschaftslage, in der
wir uns gegenwärtig befinden - die Wachstumsraten
sind gering, die Arbeitslosenzahlen exorbitant hoch -,
der Fokus auf den deutschen Mittelstand gerichtet wird.
Daher bitten wir Sie um besonders große Aufmerksamkeit.
Im Jahr 2004 hat es 110 000 Insolvenzen gegeben.
40 000 davon waren Firmeninsolvenzen.
({0})
Da Sie sich immer wieder weigern, weitere Reformen
durchzuführen, nenne ich Ihnen ein Beispiel: Wir halten
es für unabdingbar, dass der Kündigungsschutz gelockert wird.
({1})
Wir möchten den Kündigungsschutz lockern, um mehr
Beschäftigung zu ermöglichen.
({2})
Große Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften,
Maßnahmen zur Effizienzsteigerung durchführen und in
deren Folge Personal abbauen müssen, können sich das
leisten. Kleine oder mittelständische Unternehmen hingegen, die ihre Beschäftigten aufgrund ihrer schlechten
Auftragslage nicht mehr behalten und zum Beispiel
keine Abfindungen mehr zahlen können, müssen allein
aus Kostengründen in die Insolvenz gehen. Dann gehen
Arbeitsplätze unwiederbringlich verloren.
({3})
- Ich kann verstehen, dass Sie das nicht nachvollziehen
können. Aber es ist absolut notwendig, diesen Unternehmen die nötige Luft zum Atmen zu geben, um so Beschäftigung zu ermöglichen.
({4})
- Die Arbeitslosenquote ist so hoch, weil Sie nicht verstehen, um was es geht.
({5})
- Es ist doch schon spät. Regen Sie sich doch nicht über
etwas auf, was Sie selbst verursacht haben und nun anderen in die Schuhe schieben wollen!
({6})
Wir wollen eine Steuerreform für alle. 80 Prozent
der Unternehmen in Deutschland sind personengeführte
Gesellschaften
({7})
und zahlen Einkommensteuer. Wir möchten, dass diese
Unternehmen von einer echten Steuerreform profitieren
können.
({8})
Das ist notwendig, um vielen das Überleben und die
weitere Beschäftigung von Menschen überhaupt möglich zu machen.
Wir fordern eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes.
({9})
Wir möchten, dass die Schwelle, ab der ein Betriebsrat
freigestellt wird, 500 Beschäftigte beträgt und nicht, wie
Sie immer propagieren, 200.
({10})
Wir möchten die künstliche Konkurrenz ansprechen,
die Sie von Rot-Grün gerade den mittelständischen Unternehmen bringen. Ich nenne als Beispiel die Ich-AGs.
360 000 Existenzgründungen hat es im vergangenen
Jahr gegeben. Davon hatten 330 000 staatliche Unterstützung,
({11})
das heißt, wir wissen gar nicht, wie lange diese Existenzgründungen am Markt bestehen werden, ob sie sich
überhaupt halten können. Langzeitarbeitslose Personen
stehen häufig günstiger da, wenn sie eine Ich-AG gründen, weil sie dann im ersten Jahr zumindest 600 Euro
netto an staatlicher Unterstützung einnehmen.
({12})
- Es ist ja okay, man gönnt es ihnen ja, nur löst es das
Problem nicht. Wir unterstützen staatlicherseits eine
künstliche Konkurrenz und machen den mittelständischen Unternehmen das Leben zusätzlich schwer.
({13})
Das gleiche Desaster bei den 1-Euro-Jobs. Sie werden sehen, diese 1-Euro-Jobs werden gerade in den
Kommunen dazu führen, dass reguläre Arbeit in großem
Umfang wegfallen wird.
({14})
Das ist ein Riesenproblem.
({15})
- Schreien Sie doch nicht so laut! Es wird dadurch nicht
besser.
Ich nenne als Weiteres das ERP-Sondervermögen.
Sie lassen es zu, dass 2 Milliarden Euro aus dem ERPSondervermögen abgezogen werden und nicht mehr zur
Verfügung stehen,
({16})
um mittelständischen Unternehmen nachgefragte Existenzgründungskredite zu geben. Dafür haben Sie die
Hand gehoben.
Sie verantworten auch, dass die Energiepreise für Unternehmen und für Privatverbraucher durch eine unverantwortliche Energiepolitik in enorme Höhen gestiegen
sind.
({17})
Frau Kollegin, Sie hatten schon fünf Minuten. Sie
müssen zum Schluss kommen.
({0})
Letzter Satz: Schreien Sie weniger, werden Sie tätig
und machen Sie eine Politik, die dem Mittelstand nützt
und ihm nicht die Beine wegschlägt!
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Kopp, verehrte Kollegen der FDP,
ich glaube, der beste Beitrag zur Antibenachteiligung
des deutschen Mittelstandes wäre es gewesen, wenn Sie
einmal positiv über Handwerk und Mittelstand in
Deutschland gesprochen hätten - heute Abend hier, vor
allen Dingen aber draußen bei den Leuten.
({0})
Denn mittlerweile haben wir eine Spirale, ausgelöst
durch Ihre Unwahrheiten und Halbwahrheiten, die sich
in der Tat negativ auf die Entwicklung der deutschen
Konjunktur auswirkt.
Sie hätten zum Beispiel sagen können, dass wir im
Jahr 2004 rund 137 000 neue Unternehmen in Deutschland hatten.
({1})
Das ist der größte Gründungssaldo seit 1993.
({2})
Das kann man doch auch einmal erwähnen, wenn man
über den Mittelstand in Deutschland spricht; das gehört
sich doch.
Das Statistische Bundesamt bezifferte die Zahl der
Selbstständigen im Jahr 2002 mit 3,64 Millionen Menschen. Heute dagegen sind es 4,31 Millionen Menschen.
({3})
Auch das kann man an dieser Stelle einmal sagen.
Stattdessen stellen Sie unter anderem wider besseres
Wissen auf die 1-Euro-Jobs ab.
({4})
Denn Sie wissen genau - das ist der erste Punkt -, dass
wir im SGB II zu den Arbeitsgelegenheiten festgelegt
haben, dass öffentlich geförderte Beschäftigung gegenüber anderen Eingliederungsleistungen immer nachrangig anzustreben ist.
Zweiter Punkt. Sie wissen genau, dass sie zusätzlich
und gemeinnützig zu sein haben.
Dritter Punkt. Sie wissen genau, dass im Gesetz eine
regional ausgerichtete so genannte Monitoringstelle
empfohlen ist, die genau das verhindern soll, was Sie behaupten, dass nämlich Arbeitsplätze verdrängt werden.
({5})
Wir haben dafür Sorge getragen, dass der Mittelstand
trotz der 1-Euro-Jobs leben kann. Ich bitte Sie, dafür zu
werben und sich dafür einzusetzen, dass diese Monitoringgruppen zum Beispiel auch in Ihrem Wahlkreis tatsächlich arbeiten. Das wäre ein Beitrag für den Mittelstand und das Handwerk in Deutschland und ganz
nebenbei auch in Ihrem Wahlkreis.
({6})
Schließlich haben Sie wieder einmal auf die Ich-AGs
abgestellt. Das ist eine Ihrer berühmten Leiern. Die FDP
ist - zumindest lese ich das immer wieder einmal - die
Partei des Mittelstandes.
Christian Lange ({7})
({8})
Ich frage mich wirklich, warum Sie eigentlich die Menschen diskreditieren, die während ihrer Langzeitarbeitslosigkeit ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und
es wagen wollen. Statt auf Dauer Transferleistungen zu
erhalten, wollen sie die Ich-AG nutzen, um eine eigene
Selbstständigkeit auszuprobieren. Wir helfen ihnen dabei. Sie müssten eigentlich jubeln und sagen, dass Sie
genau das wollen. Wir wollen mehr Selbstständige in
Deutschland. Das kann ein Weg dahin sein.
({9})
Aber nein, Sie sagen, das könne keiner sein.
({10})
Ob es einer sein wird, wird sich in der Tat erst in den
nächsten ungefähr zwölf Monaten herausstellen. Wir haben Sorge dafür getragen, dass die entsprechenden Überprüfungen stattfinden können.
Bis jetzt ist unklar, ob die Abbruchquote von 16 bis
20 Prozent, auf die Sie in Ihrem Antrag abstellen, darauf
zurückzuführen ist, dass diese Menschen als Selbstständige gescheitert sind oder dass sie ihre Förderanträge
nicht gestellt haben. Die Regionaldirektion NordrheinWestfalen etwa hat der Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt, dass sie beispielsweise im April 2004 rund ein
Fünftel der Abgänge darauf zurückführt, dass die Betreiber der Ich-AGs im zweiten Geschäftsjahr schlicht und
einfach vergessen haben, einen neuen Antrag zu stellen.
Ich bitte Sie, das zumindest einmal zur Kenntnis zu
nehmen und vor allen Dingen zu sehen: Selbst wenn die
Abbruchquote bei den neu gegründeten Ich-AGs
20 Prozent betragen würde, wäre das nicht außergewöhnlich hoch, sondern läge im ganz normalen Bereich.
Bei Selbstständigen, die neu auf den Markt kommen, beträgt die Abbruchquote im Schnitt nämlich 20 Prozent.
Wenn eine falsche Geschäftsidee gewählt wird, kommt
es zum Abbruch. Die Quote wäre also noch nicht einmal
überdurchschnittlich hoch. Sie nehmen die durchschnittliche Abbruchquote bei den nicht geförderten Selbstständigen nicht zur Kenntnis und behaupten schlicht, dass
das alles Subventionitis sei und in den Ofen ginge. So
unterstützen Sie die Kultur der Selbstständigkeit in
Deutschland sicher nicht.
({11})
Ich komme nun zu Ihrer immer wieder vorgetragenen
Polemik in Sachen Kündigungsschutz. Ich will Ihnen
sagen: Diese Bundesregierung und diese Koalitionsfraktionen haben dazu beigetragen, dass der Kündigungsschutz angemessen gelockert wurde, indem wir den
Kündigungsschutz für Betriebe mit zehn oder weniger
Beschäftigten - das sind kleine und mittlere Unternehmen - ab dem 1. Januar 2004 aufgehoben haben. Wir haben die Kriterien der Sozialauswahl gelockert, sodass
zum Beispiel Menschen mit besonderen Kenntnissen
und Fähigkeiten bei der Sozialauswahl nicht als Erste
herausfallen. Gerade in einer kritischen wirtschaftlichen
Lage benötigt der Handwerker bzw. das kleine Unternehmen diese Mitarbeiter nämlich. Wir haben dafür gesorgt, dass diese trotz der Sozialauswahl weiterhin im
Betrieb bleiben können. Das ist eine Flexibilisierung des
Kündigungsschutzes im Sinne von Existenzgründern
und im Sinne von Handwerk und Mittelstand.
Das Ziel, das Sie mit Ihrem Antrag verfolgen, ist
nicht eine Flexibilisierung, sondern eine Abschaffung
des Kündigungsschutzes. Wer Ihren Antrag genau
durchliest, kann das erkennen. Sie fordern zum Beispiel
eine vierjährige Wartezeit bis zum Einsetzen des Kündigungsschutzes und den Ausschluss der Betriebe mit bis
zu 50 Arbeitnehmern vom gesamten Kündigungsschutz.
({12})
Das bedeutet, dass 96 Prozent der Betriebe in Deutschland in Zukunft nicht mehr unter den Kündigungsschutz
fallen würden.
({13})
Das wäre keine Flexibilisierung, sondern eine faktische
Abschaffung. Das ist etwas anderes. Sagen Sie das bitte
auch so, damit die Menschen das verstehen können.
({14})
Bei Ihren üblichen Auseinandersetzungen um den
Rechtsanspruch auf Teilzeit ist es genau so. Sie hatten
vergessen, dieses Thema, das auch in Ihrem Antrag
steht, zu erwähnen.
({15})
Dieser Rechtsanspruch ist gerade für die Arbeitnehmer
in kleinen und mittleren Unternehmen eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte. Seit In-Kraft-Treten dieses Gesetzes ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um
700 000 auf circa 7,2 Millionen Menschen gestiegen.
Die Teilzeitquote ist damit trotz der rückläufigen Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen um 2,6 Prozent
auf 22,4 Prozent im Jahre 2003 gestiegen. Das bedeutet,
das ist kein Einstellungshindernis. Im Gegenteil: Teilzeitarbeit wird vereinbart, wenn der Arbeitnehmer eine
Reduzierung der Arbeitszeit wünscht und der Wunsch
im Unternehmen realisierbar ist. Das heißt, der Arbeitgeber kann den Teilzeitantrag aus betrieblichen Gründen
ablehnen.
Das ist mittelstandsfreundlich. Deshalb ist es eine Erfolgsgeschichte. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie gesagt
hätten: Sie sind auf dem richtigen Wege; denn das ist
Mittelstandspolitik, wie wir sie uns vorstellen. - Diese
Mittelstandspolitik würde tatsächlich auch einer FDP gut
anstehen.
Ganz zum Schluss komme ich zum Thema Mitbestimmung. Da ich aus Baden-Württemberg stamme,
will ich Ihnen die Geschichte von Daimler-Chrysler erzählen. Wenn wir von Mitbestimmung sprechen, sprechen wir nicht vom Handwerk oder von kleinen und
mittleren Unternehmen. Bei mir im Schwäbischen wird
zwar manchmal der Daimler auch als Mittelständler bezeichnet, aber das ist mehr humoristisch gemeint.
Christian Lange ({16})
Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, was bei DaimlerChrysler vereinbart worden ist: Nach intensiven Verhandlungen im Sommer 2004 - das ist noch nicht sehr
lange her - ist es gelungen, ein Reformpaket zu beschließen, das dem Unternehmen jährlich Einsparungen von
500 Millionen Euro bringen wird und gleichzeitig ein
klares Bekenntnis des Unternehmens zum Standort
Deutschland beinhaltet. Beschäftigungssicherung und
keine betriebsbedingten Kündigungen bis zum 31. Dezember 2011 gehen mit mehr Arbeitsflexibilität, geringeren Zuwachsraten bei den Entgelten und dem Ausschöpfen weiterer Effizienzpotenziale bei Neuanläufen
von Produkten einher. Das zeigt die Flexibilität bei der
Mitbestimmung, die heute in Betrieben möglich ist. Dafür brauchen wir weder ein Nein zur Mitbestimmung
noch eine Veränderung.
({17})
Die Mitbestimmung hat sich bewährt. Das hat zwar
nichts mit dem Mittelstand zu tun - das will ich
zugestehen -, steht aber in Ihrem Antrag. Es muss jedoch erwähnt werden, dass das eine gute Sache ist. Deswegen wollte ich es zum Schluss angeführt haben. In
diesem Sinne: Bitte ziehen Sie Ihren Antrag zurück! Ich
glaube, das wäre für Handwerk und Mittelstand in
Deutschland der beste Beitrag.
({18})
Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Lange, wir haben
gerade wieder festgestellt, wie die Rituale in der Debatte
ablaufen. Wenn die Opposition einen Antrag stellt,
schimpfen Regierung und Koalition darüber, ohne auch
nur im Ansatz aufzuzeigen, was sie als eigentlicher Verantwortungsträger tun wollen. Umgekehrt ist es häufig
auch so. Bei dem Ernst der Lage ist das aber nicht angemessen und diese Rituale können wir den Menschen
auch nicht mehr vermitteln.
Der Antrag der FDP enthält eine Menge positiver
Punkte. Einige halten wir nicht für richtig. Die entsprechenden Punkte werden wir in den Ausschussberatungen
vertiefen. Aber dieser Antrag wird den gleichen Weg wie
unser Antrag vor zwei Jahren nehmen, in dem wir ein
15-Punkte-Programm zu dem, was der Mittelstand damals brauchte, vorgelegt haben. Ich vermute, dass die
Abfasser des FDP-Antrags in unserem Antrag nachgeschaut haben, was die Union gefordert hat. Unser Antrag
ist mit viel Verve beraten und dann kaputtgemacht worden. Aber über diese Dinge will ich gar nicht reden.
Ich möchte gerne mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken: Wo stehen wir eigentlich? Ist das, was wir jetzt
an neuer Wettbewerbsfähigkeit und neuem Potenzial erreicht haben, ausreichend? Wenn das nicht ausreicht,
stellt sich die Frage: Was können wir noch tun? Ich will
Ihre einzelnen Maßnahmen wirklich nicht kritisieren.
Man kann der Ich-AG eine Menge Positives abgewinnen; darüber, ob der hohe Aufwand, der dafür betrieben
wird, im richtigen Kosten-Nutzen-Verhältnis steht,
werden wir nach dem Monitoring nachzudenken haben.
Sie haben die Entscheidungen mit Ihrer Mehrheit getroffen. Ich sage Ihnen für die Union sogar: Ich würde mir
wünschen, Sie hätten mit diesen Methoden Erfolg, damit
wir weiterkommen. Das ist nämlich wichtiger, als diesen
Streit zu vertiefen und zu verlängern.
({0})
Wir können aber mit der Position, die wir erreicht haben, in keiner Weise zufrieden sein. Die BertelsmannStiftung hat in einem Standortranking festgestellt: Unter
den 21 Industrienationen, mit denen wir uns zu vergleichen haben, nehmen wir den 21. Platz ein. Unsere Tendenz ist eher schlechter geworden. Wir können auch
nicht evaluieren, wie viel an neuer Wettbewerbsfähigkeit
wir gewonnen haben, wie wir uns besser aufstellen können, welche Wachstumsimpulse das für Beschäftigung
und Binnenkonjunktur bringt und welche Zukunftschancen darin stecken. Wir finden nichts, auch wenn
wir genau hinschauen.
Deswegen kritisiere ich jetzt nicht alle einzelnen
Maßnahmen. Aber selbst die Summe aller Maßnahmen,
die im Wesentlichen Sie ergriffen haben, reicht bei weitem nicht aus, um uns einen nennenswerten Vorteil in
dem härter werdenden Wettbewerb in der Welt zu eröffnen. Das muss uns doch umtreiben! Ich sehe allerdings
nicht, dass Sie etwas Neues suchen, sondern im Moment
erkenne ich eigentlich nur, dass - das ist meine größte
Sorge - die Regierung anderthalb Jahre vor der Wahl
sagt: Das war es eigentlich. Richtiges, Wichtiges,
Schwieriges werden wir jetzt nicht mehr machen. - Ich
muss deswegen dem Mittelstand in Deutschland sagen:
Stellt euch darauf ein, dass ihr vor Ablauf von drei Jahren keine bessere Situation bekommt, als ihr sie jetzt
habt, weil nichts Neues, Weltbewegendes, Verbesserungsfähiges mehr in der Pipeline ist.
Es gibt nur noch Verteidigungsgefechte für das Wenige, das wir miteinander auf den Weg gebracht haben.
In der Zeit, in der wir das Wenige auf den Weg gebracht
haben, sind unsere Wettbewerber schneller als wir gewesen. Das heißt, der Abstand hat sich tendenziell eher vergrößert als verkleinert. Das ist die Lage und das ist das,
was die Mittelständler wissen, die auf der internationalen Bühne arbeiten und sich ihre Wettbewerbspreise jeden Tag auf die Bildschirme holen. Deswegen kommt
kein neues Vertrauen auf.
Wir könnten einiges tun, zum Beispiel im Bereich des
Energierechts. Wir kommen aber nicht voran. In der
Konzentrationsbewegung und der Preisgestaltung zum
Beispiel könnten wir etwas tun. In den letzten Jahren
hatten wir in Deutschland eine Steigerung der Energiekosten um 30 bis 40 Prozent. Als ob es uns zu gut ginge!
Wenn wir hohe Löhne haben wollen, können wir nicht
auch noch hohe Energiepreise haben. Es ist zu viel, was
die Volkswirtschaft zu tragen hat. Aber es gibt keine BeHartmut Schauerte
wegung. Noch nicht einmal das Energiewirtschaftsrecht
kommt.
Das Antidiskriminierungsgesetz ist nun leider beim
Familienministerium gelandet. Dieses Gesetz - der Arbeitgeberverband hat heute eine Fachtagung dazu abgehalten - belastet den Arbeitsmarkt und verschlechtert die
Bedingungen für die Immobilienwirtschaft. Es stellt sich
die Frage, welche Probleme auf die Leute zukommen,
die Wohnungen vermieten. Das sind die beiden Hauptfelder. Wir brauchen uns doch nicht darüber zu streiten,
dass wir Behinderte und Benachteiligte nicht diskriminieren wollen. Bei der deutschen Gründlichkeit müssen
wir aber damit rechnen, dass wir dann, wenn wir das machen, was Sie vorhaben, 27 000 bis 40 000 zusätzliche
Klagen in Deutschland haben werden.
({1})
In England gab es bei einer Bevölkerung von
57 Millionen im Jahr 2003 27 000 Klagen. Dort gibt es
ein ähnlich schlechtes Antidiskriminierungsgesetz. Es ist
übrigens der Vater oder die Mutter des deutschen Antidiskriminierungsgesetzes. Damals, als die Engländer es
beschlossen hatten, haben sie es für so gefährlich für ihren Standort gehalten, dass sie empfohlen haben, es europaweit zu verbreiten. Sie sind darauf hereingefallen.
Diese große Zahl von Klagen stellt ein Beschäftigungsprogramm für Rechtsanwälte dar, von denen ich einer
bin. Wenn Sie so weitermachen, dann wird mein Beruf
so lukrativ, dass ich wieder in ihn hineinwechsele.
({2})
Es ist also wirklich interessant, welche Chancen Sie
aufzeigen. Da kommen wir nicht weiter. Das ADG ist
eine ganz schlimme Geschichte.
({3})
Kommen wir zur Unternehmensteuerreform.
Clement sagt, sie müsse sein, Rezzo Schlauch äußert
sich gar nicht dazu. Übrigens, was hatten die Menschen
Hoffnung, als Sie Mittelstandsbeauftragter wurden!
({4})
Ich habe Ihre warnende Stimme bei der Durchsetzung
von Mittelstands- und Wirtschaftsinteressen in der Bundesregierung bis heute nicht ein einziges Mal vernommen;
({5})
blanke Fehlanzeige.
Ich muss zum Schluss kommen.
({6})
Ja, Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Beim Bürokratieabbau ist nichts passiert. Den könnten wir erreichen und der würde uns nicht viel kosten. In
Sachen Arbeitsmarktentriegelung ist zu wenig passiert.
Es reicht noch nicht. Ich warne vor dem Stillstand, der
sich jetzt abzeichnet.
({0})
Der ist meine größte Sorge.
Herr Kollege, Sie wollten und Sie müssen zum
Schluss kommen.
Ich bin dabei. - Ich bitte Sie: Gehen Sie noch einmal
in sich und überlegen Sie, was wir noch zusätzlich tun
müssten, damit wirklich neue Hoffnung keimen kann.
Sonst haben wir drei dunkle bewegungslose Jahre vor
uns.
({0})
Das hält der deutsche Mittelstand nicht mehr aus.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Rezzo
Schlauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schauerte, Sie haben die Aufmerksamkeit des
Plenums dadurch geweckt, dass Sie eingangs angekündigt haben, sich nicht an den üblichen Ritualen beteiligen zu wollen.
({0})
In der ersten Hälfte Ihrer Rede habe ich gedacht, dass
Sie das möglicherweise durchhalten würden, zum
Schluss ist sie aber doch wieder wie die Eingangsrede
Teil dieser Rituale geworden.
Es ist zwar richtig, dass der Mittelstand zurzeit aus
verschiedenen Gründen dem Druck von vielen verschiedenen Seiten ausgesetzt ist. Das bestreitet niemand. Aber
so zu tun, als ob nichts geschehen sei, wie es Frau Kollegin Kopp getan hat, die mit riesigem Gestus riesige Forderungen stellt, bringt uns nicht weiter.
({1})
Wenn Sie eine Steuerreform für alle fordern, Frau
Kopp, dann möchte ich Sie daran erinnern - auch wenn
ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören -, dass wir für
den Mittelstand eine relevante Steuersenkung durchgeführt haben, und zwar haben wir den Spitzensteuersatz
von 53 Prozent auf 42 Prozent und den Eingangssteuersatz von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt. Das bedeutet in absoluten Zahlen eine Entlastung des deutschen
Mittelstands in Höhe von 17 Milliarden Euro. Sie hätten
sich doch darüber gefreut, wenn Sie in Ihrer Regierungszeit zumindest dazu in der Lage gewesen wären, beispielsweise beim Spitzensteuersatz die Steuerbelastung
unter 50 Prozent zu drücken.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?
Nein, danke. Ich habe vorhin aufmerksam zugehört
und will jetzt meine Rede im Ganzen vortragen. - Frau
Kollegin Kopp, in diesem Punkt vermisse ich jegliche
Differenzierung. Da wird lediglich mit großem Gestus
eine Steuerreform für alle gefordert.
({0})
Es trifft nicht zu, dass ich mich in der Frage einer Unternehmensteuerreform drücke, Herr Schauerte. Wenn
wir aber über die Fortsetzung einer Unternehmensteuerreform diskutieren - beispielsweise durch das Modell eines dualen Systems, das im Sachverständigenrat zur Diskussion steht - und sich alle dafür aussprechen, dann
müssen wir höllisch aufpassen, dass wir die Entlastung
des Mittelstands, die wir mit der Einkommensteuerreform und den gesenkten Tarifen erzielt haben, nicht in
einem Schritt wieder aufheben. Denn entgegen der immer wieder erhobenen Forderung einer großen Steuerreform für den Mittelstand haben wir für den Mittelstand
bereits eine erhebliche Entlastung und sehr viel niedrigere Steuertarife als bei den Körperschaften erreicht.
Das muss bei der wohlfeilen Forderung einer neuen
Steuerreform berücksichtigt werden, damit man nicht
dem Mittelstand sozusagen wieder einmal vor das
Schienbein tritt.
({1})
Die Steuerreform stellt den zentralen Punkt der Entlastung dar. Auf die weiteren Punkte will ich gar nicht
eingehen. Wer hat denn beispielsweise aus der Notwendigkeit der Finanzierung des Mittelstands heraus, die ein
dringendes und großes Problem darstellt, damit angefangen, eine leistungsfähige, professionelle und effektive
Mittelstandsbank aus KfW und DtA zu schmieden, was
jahrelang versäumt worden war? Wer hat denn neue Programme für die Finanzierung aufgelegt, um die vorhandene Zurückhaltung der großen Banken, insbesondere
der Geschäftsbanken, bei der Kreditierung zumindest einigermaßen auszugleichen?
({2})
Sie führen in der Begründung Ihres Antrags an, das
KfW-Ifo-Mittelstandsbarometer beweise, dass wir den
Mittelstand links liegen gelassen hätten. Frau Kopp, ich
weiß nicht, ob Sie das Mittelstandsbarometer von letzter
Woche richtig gelesen haben, aber dort steht klar:
Damit bleibt festzuhalten, dass die Verbesserung
des Ifo-Geschäftsklimas für die gesamte gewerbliche Wirtschaft inklusive seiner beiden Teilkomponenten einzig
- einzig! auf die positive Entwicklung des Mittelstandes zurückzuführen ist.
Das bestärkt und ermutigt uns, den im Rahmen der
Agenda 2010 eingeschlagenen Kurs konsequent fortzusetzen.
({3})
Herr Schauerte, natürlich muss man darüber diskutieren, mit welchen Maßnahmen man diesen Kurs fortsetzt.
Aber Sie können dabei nicht so vorgehen, wie Sie es tun.
Ich habe heute hier den ganzen Tag gesessen und habe
erlebt, wie Sie in der Diskussion über den Stabilitätsund Wachstumspakt sowie über die Maastricht-Kriterien
eine Philippika nach der anderen geritten haben. Deshalb
finde ich es äußerst unseriös, wenn Sie nun wirtschaftspolitische Forderungen stellen, die zwar für meine Begriffe durchaus diskutabel sind, aber im Haushalt negativ zu Buche schlagen. Dabei wissen Sie ganz genau
- nehmen Sie einmal Regierungshandeln vorweg! -,
dass wir in einer äußerst schwierigen Haushaltssituation
sind. Wenn es nach mir ginge, würde die Ist- und Sollbesteuerung sofort verändert. Das wäre für den Mittelstand
mit Sicherheit ein weiterer vernünftiger Schritt. Darüber
diskutieren wir auch.
({4})
Aber Sie wissen ganz genau, dass Sie in der ersten Diskussion nach einer solchen Änderung sofort fragen würden, ob die 1,5 Milliarden Euro - das wäre in etwa das
Entlastungsvolumen - negativ zu Buche schlagen und ob
das Einhalten der im Maastricht-Vertrag sowie im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegten 3-Prozent-Verschuldungsgrenze gefährdet ist. Ich erwarte von einer seriösen Mittelstandsdiskussion eine differenziertere
Herangehensweise.
Liebe Kollegin Kopp, die Umsetzung Ihrer Forderung
nach Abbau des Kündigungsschutzes, so wie Sie ihn
ausgestaltet haben - Sie sehen eine betriebliche Anwendungsschwelle von 50 Arbeitnehmern vor -, würde das
Kündigungsschutzgesetz in 96 Prozent aller Betriebe obsolet machen. Eine solche Flurbereinigung unseres Sozialstaatsprinzips können Sie vielleicht vertreten. Aber
vor dem Hintergrund, dass - das habe ich heute gelesen Herr Kubicki etwas mehr Warmherzigkeit von der FDP
gefordert hat, kann ich nur sagen, dass das Ausdruck
ökonomischer Kälte ist. Wenn es das alleine wäre, würde
ich noch sagen: Okay, darüber können wir reden. Aber
vielleicht sollten Sie einmal bedenken, dass eine solche
Maßnahme in wirtschaftspolitischer Hinsicht natürlich
zur Verunsicherung, zur Angst beitragen und das Binnenklima noch mehr kaputtmachen würde.
({5})
Insofern glaube ich, dass das, was Sie fordern, in keiner Weise geeignet ist, die Situation des Mittelstandes zu
verbessern. Was ich gar nicht begreifen kann, ist - hier
komme ich auf den Kollegen Lange zurück -: Wie kann
eine Partei, die sich die Selbstständigkeit auf die Fahnen
schreibt, sozusagen die Hilfestellung für eine Verbreiterung der Kultur der Selbstständigkeit auf diese Art und
Weise diskreditieren?
({6})
Da haben Sie Ihre uralten Grundsätze, die Sie immer vor
sich hergetragen haben, völlig außer Acht gelassen. Der
Selbstständige, der aus einer Ich-AG oder aus dem Überbrückungsgeld kommt, hat genau das gleiche Recht wie
alle anderen Selbstständigen, unsere Achtung dafür zu
bekommen, dass er in das Risiko gegangen ist. Die
Selbstständigen, die zu der Klientel der FDP gehören,
sind da also keinen Deut besser. Ich finde es gut, dass
wir damit angefangen haben, auch vonseiten des Staates
zu einer Kultur der Selbstständigkeit zu ermutigen.
({7})
Auch in Ihrem Antrag tun Sie so, als ob wir in den sozialen Sicherungssystemen gar nichts gemacht hätten.
Ihnen ist offenbar entgangen, dass wir hier etwas getan
haben, was Sie versäumt haben. Die FDP ist 16 Jahre
lang dem Slogan „Die Rente ist sicher“ nachgelaufen,
ohne dass sie auch nur einen Muckser getan hätte.
({8})
Die Einführung der privaten Kapitaldeckungsvorsorge,
die wir vorgenommen haben, hätte Ihnen gut angestanden. Sie haben das aber nicht getan.
({9})
Wir haben diesen Weg eingeschlagen und werden ihn
fortsetzen. Ich kann Sie völlig beruhigen, Herr Kollege
Schauerte, indem ich Ihnen sage, dass wir den Mittelstand mit weiteren Maßnahmen entlasten werden.
Für konstruktive Vorschläge der Opposition, die den
Wirtschaftsstandort Deutschland und den Mittelstand in
Deutschland voranbringen, sind wir offen. Der vorliegende Antrag leistet allerdings keinen Beitrag dazu.
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ich bedanke mich.
({10})
Das Wort hat der Kollege Matthäus Strebl, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Schlauch, von der Rente zurück zum Mittelstand. Man kann nicht oft genug betonen, welche tragende Rolle der Mittelstand bei uns in
Deutschland eigentlich spielt. Obwohl das von vielen
immer wieder gesagt wird, auch in der heutigen Debatte
hier, hat man angesichts der rot-grünen Politik nicht den
Eindruck, dass diese Erkenntnis bei der Regierungsbank
angekommen ist.
Dabei sprechen die Fakten für sich. Die rund 3,3 Millionen mittelständischen Unternehmen in Deutschland erbringen fast 50 Prozent der Bruttoinvestitionen und
60 Prozent der Bruttowertschöpfung. Damit stellt der
Mittelstand 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent
der Ausbildungsplätze in Deutschland. In den mittelständischen Unternehmen in Deutschland wird oftmals über
Bedarf ausgebildet. Der Mittelstand ist somit das Rückgrat einer starken Wirtschaft und muss entsprechend gefördert und darf nicht gehemmt werden.
Umso alarmierender sind die Zahlen, die uns bezüglich Wirtschaft und Arbeit seit Monaten erreichen. Die
Zahl der Firmenpleiten ist dramatisch. Wie die Kollegin
Kopp schon gesagt hat, gab es im vergangenen Jahr
40 000 Insolvenzen. Das bedeutet, dass in Deutschland
etwa alle zwölf Minuten eine Firma Pleite geht. Dabei
gibt es sozusagen kein freies Wochenende, sondern das
geht von 0 Uhr am Sonntag bis 24 Uhr am Samstag.
Alarmierend ist auch, dass die psychologisch bedeutende Marke von 5 Millionen Arbeitslosen überschritten
worden ist. Ich befürchte, dass das so weitergehen wird.
Dies liegt nicht allein an Hartz IV mit dem ALG II. Mit
der neuen Zählweise sind lediglich 200 000 arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger in die Arbeitslosenstatistik
aufgenommen worden, die früher dort gefehlt haben.
Das geht darauf zurück, dass die makroökonomischen
Bedingungen nicht stimmen. Dafür trägt Rot-Grün die
Verantwortung.
({0})
Die Prognosen für die Zukunft sind nicht optimistischer. Das Schweizer Forschungsinstitut Prognos erwartet erst ab 2008 eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt,
weil, so im „Handelsblatt“ vom 22. Februar 2005 nachzulesen, die Reformansätze falsch sind und nicht richtig
greifen.
Eigentlich müsste jeder vernünftige Mensch nun zu
dem Schluss kommen, dass der Mittelstand sehr stark
gefördert werden muss. Doch weit gefehlt: Statt starker
Förderung erfährt der Mittelstand immer stärkere Einschränkungen. Der politische Maßnahmenkatalog dieser
Bundesregierung liest sich wie ein Strafgesetzbuch für
den Mittelstand:
({1})
Während große Kapitalgesellschaften steuerlich entlastet
werden, werden Personengesellschaften mit einem viel
zu komplizierten Steuerrecht - unseres ist eines der
kompliziertesten - belastet. Die Bürokratielasten für
mittelständische Unternehmen - auch das wurde heute
schon gesagt - steigen immer weiter. So verursachen
zum Beispiel die staatlichen Bürokratiepflichten bei
Großunternehmen etwa 5,5 Stunden Arbeit pro Jahr,
während bei den Kleinunternehmen pro Jahr 64 Stunden
anfallen.
({2})
Ein Wort an Herrn Staatssekretär Schlauch und an
seine Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank
einschließlich des Bundeskanzlers Gerhard Schröder
sage ich: Die Bundesregierung ist wirklich fleißig - hervorragend! Allein in der vergangenen, also in der
14. Wahlperiode wurden rekordverdächtige 489 neue
Gesetze verkündet.
({3})
Da sprechen Sie von Bürokratieabbau und vielem anderen mehr.
Durch vielfältige Mehrbelastungen, zum Beispiel
durch immer höhere Energiepreise, wird die ohnehin
schwache Eigenkapitaldecke des Mittelstandes weiter
geschwächt. Außerdem wurden dem ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung auf Beschluss der Bundesregierung 2 Milliarden Euro entzogen, um Haushaltslöcher zu stopfen.
Hinzu kommen die nicht unwesentlichen Herausforderungen - ich möchte sie ebenfalls nennen - durch die
Billigarbeitskräfte aus dem Osten - ein Resultat der EUOsterweiterung -, die dem Handwerk und kleineren Betrieben erheblich zu schaffen machen werden. Es darf
nicht passieren, dass unsere deutschen Arbeitskräfte wegen Einwanderung von Arbeitskräften aus dem Osten
mit untertariflicher Bezahlung auf der Straße stehen. Das
macht den Mittelstand kaputt. Dies ist, schlicht gesagt,
das Ausbeuten von Menschen auf Kosten deutscher Mitbürger. Wir müssen gemeinsam die richtige Lösung dieses Problems finden. Die hohen Lohnnebenkosten sind
ein weiteres Problem.
Die Summe dessen ist: Dem Mittelstand geht allmählich die Puste aus. Es liegt auf der Hand, dass der Kanzler der Bosse seine ruhige Hand nicht nur für die großen
Unternehmen bewegen darf, sondern auch für den Mittelstand.
({4})
Wir brauchen daher eine groß angelegte Mittelstandsoffensive, die den Mittelstand in den verschiedenen Bereichen entlastet und einen fairen Wettbewerb garantiert.
Wichtig ist vor allen Dingen: Wir brauchen eine mittelstandsfreundliche Wirtschaftspolitik, Unternehmensgründungen, Vereinfachungen und Deregulierung, um
die Unternehmen von staatlichen und gesellschaftlichen
Aufgaben zu entlasten.
({5})
- Herr Kollege Bindig, passen Sie auf, damit Sie etwas
mitbekommen! - Die Tarifparteien sollten unter anderem aufgefordert werden, Öffnungsklauseln in Tarifverträgen zur Beschäftigungssicherung zu verankern.
Ich komme zum Schluss.
({6})
Der Mittelstand steht seit Jahrzehnten für eine hervorragende Ausbildung, Arbeitsplätze und Innovationen in
Deutschland. Lassen Sie uns zusammenstehen und alles
dafür tun, dass der Mittelstand gestärkt wird! Es müssen
dringend Maßnahmen ergriffen werden, um den Mittelstand zu erhalten.
Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum Schluss kommen.
Das ist der Schlüssel für mehr Arbeitsplätze in
Deutschland.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4734 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für
Spätaussiedler
- Drucksache 15/4486 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 15/4950 Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
Erwin Marschewski ({2})
Dr. Max Stadler
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ute Vogt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Änderungen des Wohnortzuweisungsgesetzes wurden im Deutschen Bundestag schon immer, jedenfalls
solange ich mich erinnern kann, mit großer Einigkeit beschlossen. Vielleicht kommt das daher, dass dieses Gesetz in den Medien eine eher geringe Aufmerksamkeit
genossen hat und noch genießt, dafür allerdings umso
größere Aufmerksamkeit bei den betroffenen Spätaussiedlern und auch bei denjenigen, die in den Ländern die
Verantwortung für die finanzielle Unterstützung tragen,
für die das also eine große Wirkung hat.
Das zweite Änderungsgesetz zum Wohnortzuweisungsgesetz, das aus dem Jahr 1996 stammt, wurde damals beschlossen, um zu regeln, dass diejenigen, die als
Spätaussiedler einem bestimmten Land zugewiesen werden, in diesem Land auch ihren Wohnsitz nehmen und
nur dort die regulären Sozialhilfeleistungen erhalten
können. Sinn war, eine damals sehr starke Ungleichheit
bei der Verteilung der Spätaussiedler auf die Länder abzubauen und ein Stück mehr Gerechtigkeit zu erreichen,
was die Kostenbelastung für die einzelnen Bundesländer
angeht. Man hat daher geregelt, dass bei einem Umzug
an einen neuen Ort die betroffenen Spätaussiedler Sozialhilfe nur noch in einem sehr begrenzten Umfang
- Übernahme der Verpflegungskosten - erhalten. Es war
gut und richtig, denke ich, dass dieses Gesetz schon damals, unter anderer Regierung, auf den Weg gebracht
wurde, und es war auch gut und richtig, dass wir das gemeinsam mit den Ländern so getragen haben.
Wir haben damit nicht zuletzt erreicht, dass die
Akzeptanz der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler in den einzelnen Kommunen verbessert wurde, weil
nicht ein Ort einen Zuzug in großem Maße zu verkraften
hatte, sondern der Zuzug innerhalb Deutschlands breiter
verteilt werden konnte. Insofern kam dieses Gesetz auch
den Betroffenen unmittelbar zugute. Die Verteilung auf
mehrere Schultern hat natürlich wesentlich bessere Integrationsmöglichkeiten zur Folge.
Kern der heute zur Beratung stehenden Änderung ist
folgender: Wir wollen auf einige besondere Fälle eingehen. Diese Änderung ist uns vonseiten des Bundesverfassungsgerichts aufgegeben worden. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht - darüber sind wir
froh und darüber können wir uns gemeinsam erfreut zeigen -, dass der Kern der Regelung, nämlich die Wohnortzuweisung, verfassungsmäßig ist und auch in Zukunft
bestehen bleiben kann.
Neu geregelt werden sollen besondere Härtefälle. Sie
sollen anders behandelt werden, als das in der Vergangenheit geschehen ist. Bei den Härtefällen geht es darum, dass Ehegatten oder Lebenspartner oder Eltern und
ihre minderjährigen Kinder aufgrund von Verteilungsund Zuweisungsentscheidungen an verschiedenen Orten
leben müssen oder dass die Zuweisung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht. Die Änderung wird am Grundsatz
der Regelung aber nichts ändern. Der gerechte Ausgleich zwischen den Ländern bleibt erhalten. Aber sie
wird dazu führen, dass Härtefälle, die einzelne Familien
getroffen haben, in Zukunft besser berücksichtigt werden können.
Wir wollen die Gelegenheit nutzen, auch einige
redaktionelle Änderungen vorzunehmen. Die redaktionellen Änderungen betreffen die Angleichung des
Wohnortzuweisungsgesetzes an Neuregelungen zum Arbeitslosengeld II. Das Wohnortzuweisungsgesetz betrifft
bislang nur die Sozialhilfe. Da sich durch Hartz IV auch
in diesem Bereich etwas geändert hat, wollen wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf klarstellen, dass auch
das Arbeitslosengeld II entsprechend einbezogen wird.
Es erschien uns wichtig, noch einen letzten Punkt aufzunehmen. Auf Bitten der Länder schaffen wir eine Vorschrift ab, die ursprünglich für die gerechtere Verteilung
der Kosten gedacht war, nämlich die Kostenerstattung
zwischen den Ländern. Auf Bitten der Länder legen
wir fest, dass diese Erstattung künftig wegfällt, weil sich
in der Praxis gezeigt hat, dass der bürokratische Aufwand, um die Verteilung vorzunehmen, weit größer ist
als die Verteilungswirkung, also die finanzielle Entlastung der einzelnen Haushalte.
In diesem Sinne wird das Gesetz, denke ich, verbessert. Wir nehmen die Erfahrungen auf, die in den letzten
Jahren mit dem Gesetz gemacht wurden. Wir sind froh
darüber, dass wir uns in diesem Hause über Folgendes
einig sind: Im Grundsatz ist ein solches Wohnortzuweisungsgesetz nach wie vor notwendig. Damit erreichen
wir, dass die Integration der Spätaussiedler, die in diesen
Tagen unsere vorrangigste Aufgabe ist, besser organisiert wird und in den betroffenen Städten eine höhere
Akzeptanz findet.
In diesem Sinne freue ich mich zum einen, dass wir es
möglich gemacht haben, dass in Zukunft für einige Härtefälle Abhilfe geschaffen werden kann, zum anderen
aber darüber, dass wir uns einig sind in der Auffassung,
dass dieses Gesetz weiterhin anzuwenden ist. Ich hoffe,
dass es noch mehr Fälle gibt, insbesondere in der Innenpolitik, wo wir die Beschlüsse in solch einer Einmütigkeit fassen, wie es bezüglich dieses Wohnortzuweisungsgesetzes abzusehen ist.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Erwin Marschewski,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Union wird der Änderung des Wohnortzuweisungsgesetzes zustimmen. Dies deshalb, weil es der
Forderung des Bundesverfassungsgerichtes entspricht,
unbillige Härten bei der Verteilungs- und Zuweisungsentscheidung zu vermeiden. Ich finde, es ist gut, dass
diese Gesetzesänderung erfolgt. Sie greift dann, wenn
Ehegatten, Eltern oder Kinder verschiedenen Wohnorten
zugewiesen werden oder wenn die Zuweisungsentscheidung der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit entgegensteht. Ich denke, dass diese Änderung die Integration
fördert, dass sie für den Arbeitsmarkt gut ist und last, not
least dem Schutz der Familie Rechnung trägt, obwohl
natürlich den Spätaussiedlern durch die erhebliche Beeinträchtigung der Freizügigkeit eine ganze Menge zugemutet wird. Aber diese Änderung war und ist notwendig.
Durch das Wohnortzuweisungsgesetz, das wir damals
beschlossen haben - die Frau Staatssekretärin hat es vorhin gesagt -, werden die Lasten für die zu erbringenden
Leistungen gerechter aufgeteilt und die Integration erheblich verbessert.
Meine Damen und Herren, von 1988 bis heute sind
fast 3 Millionen Spätaussiedler und ihre Angehörigen
nach Deutschland gekommen: aus den Staaten Mittel-,
Ost- und Südosteuropas, vor allen Dingen aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Diese Menschen
mussten - das wissen wir - über Jahrzehnte schlimmes
Leid erdulden. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 wurden sie pauschal der Kollaboration mit
den Nazis verdächtigt, ihre Siedlungsstrukturen wurden
zerschlagen, sie wurden umgebracht, vergewaltigt oder
verschleppt: nach Sibirien, in den Ural, nach Usbekistan
oder nach Kasachstan - oft nur allein die Kinder, ohne
ihre Eltern. Wir haben versucht, dieses Leid zu mildern:
durch Hilfen im Ausland, aber auch durch die Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland gemäß Art. 116 des
Grundgesetzes.
Ich finde, die Eingliederung in unsere Gesellschaft
ist insbesondere in den Jahren des starken Zuzugs erfolgreich verlaufen. Die Spätaussiedler fanden eine neue
Heimat. Sie waren und sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft,
({0})
wobei der Zuzug vieler kinderreicher Familien insbesondere zu einer Verjüngung der Gesellschaft beigetragen
hat.
Aber für eine gute und schnelle Integration sind weitere Anstrengungen notwendig. In den Zeiten der unionsgeführten Bundesregierung haben wir zusammen mit
den Damen und Herren der FDP den Besuch von
Sprachkursen gefördert, Bildungs- und Ausbildungshilfen gewährt und vor allen Dingen Angebote zur sozialen
Beratung und Betreuung gemacht.
Wir wissen aus unseren Erfahrungen, dass sich die Integrationsanforderungen in den letzten Jahren erheblich
erhöht haben; denn junge Leute ohne Sprachkenntnisse
haben keine Chance, sich zu integrieren, haben keine
Chance auf dem Arbeitsmarkt und keine Chance in der
Gesellschaft. Das ist das Problem, das wir alle, Frau
Kollegin, aus unseren Wahlkreisen kennen. Deswegen
ist es meiner Meinung nach dringend vonnöten, sich dieser Aufgabe besonders anzunehmen.
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich etwas Kritik an
dem, was hier tatsächlich geschehen ist, üben. Leider hat
die Bundesregierung dies in der unmittelbaren Vergangenheit nicht getan; dies sage ich mit großer Besorgnis.
({2})
- Wenn Sie dies nicht glauben, Frau Kollegin, nenne ich
Ihnen einmal ein paar Fakten. Sie haben die Gelder für
die Projekte zur Integration und Eingliederung um
25 Prozent gekürzt. Sie haben die Gelder für Integrationsmaßnahmen für junge Spätaussiedler gestrichen.
Dies ist nicht gut. Wir wollen, dass die jungen Leute integriert werden.
({3})
Auch bei den Sprachfördermaßnahmen sind von Ihnen
Begrenzungen eingeführt worden.
({4})
Deswegen haben die jungen Spätaussiedler oftmals
keine Chance auf Ausbildung. Es ist sogar zu befürchten, dass sie auf Dauer auf die Sozialsysteme angewiesen sein werden.
Warum Sie außerdem bei den Unterstützungsmaßnahmen in den Herkunftsgebieten den Rotstift angesetzt haben, ist mir unverständlich. Unser Ziel muss es
doch sein, den Bleibewillen dieser Menschen in Russland und den anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu fördern.
({5})
- Warum Sie diese Mittel gestrichen haben, verstehe ich
nicht.
({6})
Deswegen appelliere ich an Sie, dass wir dies gemeinsam revidieren.
Meine Damen und Herren, Aussiedlerpolitik ist die
Aufgabe des gesamten Parlaments, es ist gemeinsame
Aufgabe aller Fraktionen. Dies haben wir, Max Stadler,
bei der Diskussion über das Zuwanderungsgesetz im
Vermittlungsverfahren positiv bewiesen. Ich halte es für
gut, dass wir in diesem Verfahren beschlossen haben,
dass es bei der Anerkennung des allgemeinen Kriegsfolgenschicksals bleibt. Ich halte es auch für gut, dass die
Regelung für das Führen des Abstammungsnachweises
unverändert geblieben ist. Es ist doch bekannt, dass
Eltern in den 40er- und 50er-Jahren aus Angst vor Repression ihre deutsche Abstammung verbargen. Des
Erwin Marschewski ({7})
Weiteren war es notwendig, den Ehegatten und Kindern
aufzugeben, Grundkenntnisse der deutschen Sprache
mitzubringen, um so bessere Voraussetzungen für Beruf
und Integration zu haben.
({8})
- Das haben wir gemeinsam beschlossen; ich halte dies
ja für gut.
Vereinbart wurde in den Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz - auch dies kann Herr Kollege Stadler
bezeugen -, den Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlingsund Aussiedlerfragen weiterzuführen. Die dort beteiligten Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen aus
Bund und Ländern sowie aus Städten und Gemeinden,
von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden können
konkrete Anregungen aus ihren praktischen Erfahrungen
vor Ort dem Bundesinnenminister unterbreiten. Deswegen sollte er, Frau Staatssekretärin, diesen Beirat bald
wieder einberufen. Bitte, auch eine nahezu unfehlbare
Bürokratie wie die des Herrn Bundesinnenministers
sollte bereit sein, entsprechende Ratschläge aufzunehmen.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Art. 116
des Grundgesetzes gilt und dies soll auch so bleiben. Die
Union steht nach wie vor zu einer Aufnahme von Spätaussiedlern in Deutschland, auch wenn es Probleme gibt
- ich sage dies ausdrücklich -, vor denen wir die Augen
nicht verschließen dürfen. Trotzdem kommt eine Änderung oder Abschaffung des Art. 116 Grundgesetz für uns
nicht in Frage. Das Schicksal dieser Menschen verbietet
dies.
({10})
Vielleicht nützt hier der Satz unseres ehemaligen
Außenministers Genscher: Ich bin doch nicht zu den
Diktatoren gefahren und habe mit ihnen darüber verhandelt, die Tür einen Spalt aufzubekommen, um jetzt, wo
sie offen ist, sie wieder zu schließen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Josef Winkler, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung soll das Gesetz geändert werden - es
wurde bereits gesagt -, mit dem Spätaussiedlern für einen vorübergehenden Zeitraum ein spezieller Wohnort
zugewiesen wird. Dieser Gesetzentwurf geht zurück auf
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. März
2004.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
nicht nur die Verfassungskonformität der mit dem
Wohnortzuweisungsgesetz einhergehenden Einschränkung des Grundrechts auf Freizügigkeit bestätigt. Karlsruhe kommt in seinem Urteil auch zu dem Schluss, dass
die im Gesetz vorgesehene Sanktion, also der Ausschluss vom Sozialhilfebezug, sofern ein Spätaussiedler
an einem anderen als dem ihm zugewiesenen Ort Aufenthalt nimmt, erforderlich, verhältnismäßig und zumutbar und damit im Ergebnis auch verfassungsgemäß sei.
Trotzdem hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgetragen, durch Änderung der gesetzlichen Grundlagen
unbillige Härten für Spätaussiedler bei der vorläufigen
Wohnortzuweisung zu vermeiden. Der Kollege
Marschewski hat das bereits angesprochen. Der Umsetzung dieses Auftrages des Bundesverfassungsgerichts
dient der vorliegende Gesetzentwurf. Ich werde zwei
Aspekte dieses Entwurfs kurz ansprechen.
Zum Ersten finde ich es sehr erfreulich, dass wir jetzt
eine Härtefallregelung geschaffen haben. Eine solche
Härtefallregelung sollte im Übrigen nicht nur bei Spätaussiedlern greifen, sondern auch bei anderen Zuwanderern.
({0})
- Ich weiß, wir haben das im Zuwanderungsgesetz geregelt; es gibt aber noch zwei unionsregierte Bundesländer, in denen es noch keine Härtefallkommission gibt,
Niedersachsen und Baden-Württemberg.
({1})
Das passt zwar nicht ganz zum Thema; trotzdem ergeht
der Appell an die Union, sich auch hier dafür einzusetzen, dass die Möglichkeiten des Gesetzes vollständig
ausgenutzt werden.
({2})
Die Härtefallregelung in diesem Gesetz soll es ermöglichen, dass Ehegatten bzw. solche Personen, die
eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen
sind, dann nachträglich einem anderen Wohnort zugewiesen werden können, wenn die zunächst erfolgte
Wohnortzuweisung dazu geführt hätte, dass die Ehebzw. Lebenspartner an getrennten Wohnorten hätten leben müssen. Man sollte von der Logik her eigentlich
meinen, dass das schon vorher so gewesen wäre. Es ist
aber gut, dass das Verfassungsgericht uns noch einmal
mit der Nase darauf gestoßen hat.
Auch der Änderungsantrag der Regierungskoalition,
die Lebenspartnerschaften nicht unter „Sonstiges“ abzuhandeln, sondern als eigenständigen Rechtsbegriff in das
Gesetz aufzunehmen, ist durchaus verständlich und hilfreich gewesen.
Zum Zweiten haben wir die Kostenerstattung zwischen den Ländern bei der Gewährung von Sozialhilfe
aufgehoben; denn mit dem In-Kraft-Treten des SGB XII
zum 1. Januar 2005 ist die Kostenerstattungsvorschrift
des alten § 107 Bundessozialhilfegesetz ersatzlos gestrichen worden.
Ich bin froh, dass wir diesen Gesetzentwurf heute mit
der Zustimmung der Opposition beschließen können.
Das kommt im innenpolitischen Bereich wirklich selten
vor. Dadurch, dass wir im Zuge der Ausschussberatungen den beiden Empfehlungen des Bundesrates gefolgt
sind, können wir uns hoffentlich auch der Zustimmung
der Länderkammer sicher sein. Ich freue mich auch, dass
die Union, vertreten durch Herrn Marschewski - wo ist
er denn? ({3})
- es ist gut, dass er nicht da ist, weil ich ihn zitiere -,
({4})
in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses die
Grundrechtsanliegen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, hier betreffend das Zusammenleben dieser Lebenspartner, ausdrücklich unterstützt hat.
({5})
- Leider zu spät, um zu widersprechen.
({6})
Ich bedanke mich ausdrücklich für diesen Sinneswandel der Union und bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Max Stadler, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es wäre sehr reizvoll gewesen, wenn wir vor der
heutigen Debatte eine kurze Pause hätten machen können, um ein kleines Experiment durchzuführen. Man
hätte die Zuhörer, auch wenn es zu dieser Abendstunde
nicht mehr allzu viele sind, fragen können, ob sie der
Meinung sind, dass jeder Bürger in Deutschland frei entscheiden darf, in welcher Stadt bzw. in welcher Kommune er wohnen möchte. Ich bin mir ziemlich sicher,
dass die Antwort in allen Fällen Ja gewesen wäre. Auch
wenn man nicht das Grundrecht auf Freizügigkeit,
verbrieft in Art. 11 des Grundgesetzes, kennt, entspricht
dies doch dem allgemeinen Rechtsbewusstsein. Es erscheint eher ein Merkmal eines anderen Staatswesens als
das einer freiheitlichen Demokratie, wenn der Staat befiehlt, wo man seine Wohnung zu nehmen hat.
Die Regelung, dass für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, nämlich für die Spätaussiedler, dieser selbstverständliche Grundsatz der freien Wohnsitzwahl nicht gilt,
war schon immer ein Fremdkörper in unserem Rechtssystem. Pro forma haben zwar auch diese das Recht, ihren Wohnsitz selbst zu wählen. Faktisch aber besteht für
sie der Zwang, den Wohnsitz zu wählen, der ihnen zugewiesen worden ist, weil ansonsten staatliche Leistungen,
auf die sie in der Anfangszeit angewiesen sind, nicht gezahlt werden würden.
Die FDP hatte immer Bedenken, einem solchen
grundrechtseinschränkenden Gesetz zuzustimmen. Wir
haben dies in der alten Koalition mit der CDU/CSU nur
auf ausdrücklichen Wunsch vieler Kommunen getan
- die SPD hat ebenfalls zugestimmt -, die der Meinung
waren, für eine Übergangszeit müsse man aus bestimmten Gründen eine solche Notlösung akzeptieren.
Nachdem Rot-Grün an die Regierung gekommen war,
ist die Übergangszeit abgelaufen. Trotzdem hat der
Bundestag dieses fragwürdige Gesetz noch einmal verlängert. Die FDP konnte da nicht mehr mitmachen, weil
es keine Gründe für eine Verlängerung gab.
({0})
Wir sind deswegen froh, dass uns das Bundesverfassungsgericht jetzt aufgegeben hat, einige Korrekturen
vorzunehmen, damit wenigstens Härtefälle beseitigt
werden können. In der Vergangenheit war es so, dass
aufgrund dieses Eingriffsgesetzes Familien und Ehepartner auseinander gerissen werden konnten. Kinder konnten nicht an dem Wohnort ihrer Eltern leben. Ich frage
mich daher, ob es wirklich ein Ruhmesblatt für den
Deutschen Bundestag ist, dass Karlsruhe uns aufgeben
muss, diesen Zustand zu beseitigen. Hätten wir nicht selber darauf kommen können?
({1})
Da nun aber aufgrund der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts diese Härten mit dem heutigen Gesetz beseitigt werden, stimmt die FDP dem selbstverständlich
zu. Denn es bewirkt eine Verbesserung der Situation der
Betroffenen. Ich mache aber noch einmal deutlich: In einem freiheitlichen Land sollte wirklich jeder die Möglichkeit haben, seinen Wohnsitz selber zu wählen.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Hildegard Wester, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für
meine Fraktion kann ich heute Abend nur meine Zufriedenheit darüber ausdrücken, dass es nach relativ kurzer
Zeit gelungen ist, den Empfehlungen des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen und heute dieses Gesetz
vorzulegen, das vielen Menschen in unserem Land
- nicht nur den Zuwanderern, sondern auch uns - Erleichterungen bringt.
Die Menschen, die als Spätaussiedler hierher kommen, müssen sich in einer Aufnahmestation, einem so
genannten Grenzdurchgangslager, registrieren lassen.
Von hier aus werden sie auf die Länder verteilt. Nun
müssen sie - wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht aus
eigenen Mitteln bestreiten können - eine neuerliche Zuweisung hinnehmen, und zwar zu ihrem dann jedenfalls
für drei Jahre festgelegten Wohnort. Dieser Wohnort
wird nicht etwa nach den Wünschen der Betroffenen
ausgesucht. Die Zuweisung erfolgt aus Kostenverteilungsgründen und soll verhindern, dass es zu einer zu
starken Konzentration zugewanderter Personen kommt.
Die Auffassung, dass eine solche Konzentration neben den hohen Kosten für die betroffenen Kommunen
auch eine geringere Integrationsbereitschaft seitens der
betroffenen Spätaussiedler bedeuten könnte, hat mit
dazu beigetragen, dass es seinerzeit bei Erlass des Gesetzes eine breite Zustimmung zu den wesentlichen Punkten dieses Wohnortzuweisungsgesetzes gegeben hat.
Versetzt man sich aber einmal in die Lage dieser
Menschen, die dieser Prozedur unterliegen - das wurde
eben schon angesprochen -, kann man sich allerdings
leicht vorstellen, dass diese mit anderen Hoffnungen und
Vorstellungen in die Bundesrepublik gekommen sind.
Sehr häufig leben Verwandte schon in Deutschland. Sie
wollen natürlich gerne in deren Nähe ziehen. Sogar bei
sehr nahen Verwandten - etwa Kindern oder Eltern, aber
auch bei Eheleuten oder Lebenspartnern - kann es sein,
dass diese nicht unbedingt an denselben Ort gewiesen
werden. Gott sei Dank sind diese Fälle nicht massenhaft;
aber sie kommen leider vor.
Unser Grundgesetz, das die Familie in Art. 6 unter
den besonderen Schutz der staatlichen Gemeinschaft
stellt, gilt aber grundsätzlich für alle Bürgerinnen und
Bürger. Deshalb ist es für mich besonders wichtig, dass
in Zukunft Menschen einen Härtegrund geltend machen
können, wenn sie in der Situation sind, dass sie von ihren Kindern oder ihrem Lebens- bzw. Ehepartner getrennt sind.
({0})
Die Einführung dieser Härtefallregelung wird meiner Meinung nach auch die Möglichkeiten der Integration deutlich verbessern und letzten Endes Kosten sparen. Denn es ist davon auszugehen, dass diese
Menschen, die dann wieder in häuslicher Gemeinschaft
mit ihren Angehörigen leben, schneller Anstrengungen
unternehmen werden, in Arbeit zu kommen. Anders als
vorher können sie zum Beispiel unverzüglich darangehen, sich eine gemeinsame Perspektive aufzubauen, und
müssen nicht darauf warten, dass die Frist der Bindung
an den Wohnort - sie beträgt drei Jahre - abgelaufen ist.
Sie können dadurch, dass sie schon früher an den Wohnort ihrer Verwandten ziehen, Anstrengungen im Hinblick
darauf unternehmen, einen Arbeitsplatz zu finden, und
sitzen nicht, wie das vielfach der Fall ist, auf gepackten
Koffern, um ihren zugewiesenen Wohnort verlassen zu
können.
Dass es nicht die angestrebte gesellschaftliche, berufliche und schulische Integration fördert, wenn diese
Menschen in ihrem zugewiesenen Wohnort nur darauf
warten, dass sie von dort wegkommen, liegt auf der
Hand. Schlimmstenfalls handelt es sich bei diesen drei
Jahren um eine verlorene Zeit; denn sie werden, wie ich
eben schon ausführte, sicherlich nicht bereit sein, sich in
diesen drei Jahren in ihren neuen Wohnort zu integrieren.
Natürlich werden wir dieses abwartende Verhalten
durch die neue Härtefallregelung nicht vollends abstellen können; das liegt auf der Hand. Denn dieser Härtegrund bezieht sich nur auf die enge Familie und die Partnerschaft. So wird es leider weiter Menschen geben, die
darauf warten, sich nach diesen drei Jahren frei in unserem Land bewegen zu können. Die Notwendigkeit, die
bisherige Situation zu ändern, ist hinlänglich beschrieben worden. Letzten Endes stehen wir natürlich dazu.
Integrationswillen und Integrationsfähigkeit dieser
Menschen zu erreichen liegt natürlich nicht im Regelungsbereich dieses Gesetzes. Das ist Aufgabe der Kommunen und der Träger vor Ort. Hier geht es, wie ich
schon ausführte, hauptsächlich um die Kostenverteilung
zwischen Kommunen und Trägern.
Deswegen ist es besonders gut, dass wir einen weiteren Härtegrund einführen werden, nämlich den der
Erleichterung der Arbeitsaufnahme. Ich halte es für
besonders wichtig, dass wir den Menschen die Möglichkeit geben, eine Arbeit an einem anderen Ort auch dann
annehmen zu können, wenn diese ihren Lebensunterhalt
noch nicht voll abdeckt.
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
- Ja, noch einen Aspekt. - Es ist von zentraler Bedeutung - das weiß jeder hier im Hause -, dass man durch
Arbeit die Möglichkeit der Integration in unsere Gesellschaft hat.
Ich freue mich besonders, dass wir gemeinsam diese
Änderungen an diesem Gesetz vornehmen werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen
Wohnortes für Spätaussiedler, Drucksache 15/4486. Der
Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 15/4950, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({0}), Eduard Oswald, Dr. Klaus
W. Lippold ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Grünes Licht für gesetzlich normierte Fahrgastrechte
- Drucksache 15/4504
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({4}), Dirk Fischer ({5}), Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Rechte für Fahrgäste im öffentlichen
Personenverkehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Haftung der Deutschen Bahn AG für Verspätungen einführen
- Drucksachen 15/1236, 15/1711, 15/3233 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dass ich ausgerechnet dann sprechen muss,
wenn sich Alemannia Aachen im Schlussspurt befindet,
um im UEFA-Pokal eine Runde weiterzukommen, trifft
mich sehr hart.
({0})
- Ich hoffe, dass es weiter so bleibt und dass in den letzten Minuten nichts mehr anbrennt.
({1})
Dem Deutschen Bundestag liegen drei Anträge zu
den Fahrgastrechten im öffentlichen Personenverkehr
vor. Es ist klar: Der Verbraucherschutz ist ein wesentliches Anliegen dieser Bundesregierung, gerade auch im
Bereich der Eisenbahn und des gesamten öffentlichen
Personenverkehrs. Die Bundesregierung unterstützt dabei jede vernünftige Lösung, die auf gesicherten Kenntnissen beruht und den Interessen aller Beteiligten zugute
kommt. Zu den Beteiligten gehören zunächst die Reisenden, die einen Anspruch auf ein modernes Fahrgastrecht
haben und sicher, bequem und preiswert fahren wollen.
Dazu gehören aber auch die Verkehrsunternehmen, die
wissen müssen, welche Qualität sie bieten müssen, und
die uns dann sagen, was die Umsetzung eines entsprechenden Fahrgastrechts kostet. Um hierbei zu gesicherten Erkenntnissen zu kommen, hat dieses Haus den Antrag der Koalition „Qualitätsoffensive im öffentlichen
Personenverkehr - Verbraucherschutz und Kundenrechte
stärken“ angenommen.
Um eine umfassende neutrale Prüfung zu ermöglichen, hat die Bundesregierung in Umsetzung dieses Beschlusses ein Gutachten in Auftrag gegeben. Darin
wird, wie es eine ordentliche Recherche erfordert, zunächst einmal eine Bestandsaufnahme gemacht. Das
Gutachten soll Antwort auf die folgenden Fragen geben:
Welche Rechte gibt es bislang bei den einzelnen Verkehrsträgern? Kann man bessere Standards, zum Beispiel aus dem Luftverkehr, einfach übertragen oder sind
die Verhältnisse so unterschiedlich, dass man unterschiedliche Regelungen braucht? Welches Bild ergibt
sich im europäischen Vergleich? Was wird die Umsetzung von Fahrgastrechten kosten? Wie wirken sich gegebenenfalls verbesserte Haftungsregelungen auf die Fahrpreise aus?
Wir erwarten das Gutachten für den Sommer dieses
Jahres. Die Forschung wird, wie Sie vielleicht wissen,
von einem Ausschuss begleitet, in dem die Unternehmen
und die Verbraucherschützer, aber auch die so genannte
neutrale Bank zusammenkommen und der die Forscher
bei der Erarbeitung dieses Gutachtens unterstützt. Es
geht uns dabei um eine breite, solide, seriöse Basis.
Die Tatsache, dass ein Gutachten erstellt wird, führt
aber nicht dazu, dass wir die Hände in den Schoß legen.
Ich will Ihnen das an einigen Beispielen zeigen. Wir erwarten, dass in Kürze das Vertragsgesetz zur Änderung
des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr in Kraft tritt. Dann wird es international
und national eine Haftung für Verspätungen und für
Ausfälle von Zügen geben. Das heißt, es gibt dann nach
§ 17 der Eisenbahn-Verkehrsordnung einen Anspruch
auf Erstattung von Übernachtungs- und Benachrichtigungskosten. Ein großes Ärgernis jedes gestrandeten
Reisenden, nämlich den völligen Haftungsausschluss bei
Ausfall und Verspätung von Zügen, gibt es dann nicht
mehr.
Ein Weiteres: Auf Betreiben der Bundesregierung
gibt es nun bei der Deutschen Bahn AG eine Kundencharta Fernverkehr mit einem doppelten verbraucherschutzrechtlichen Gewinn: Zum einen gibt es dadurch
seit Oktober letzten Jahres Beförderungsbedingungen,
die einen einklagbaren Anspruch auf Entschädigung bei
einer Verspätung von mehr als 60 Minuten einführen.
Zum anderen ist die in der Kundencharta Fernverkehr
vereinbarte Schlichtungsstelle Mobilität ins Leben gerufen worden und hat ihre Arbeit aufgenommen.
({2})
Die DB AG hat sich zur Unterstützung dieser von der
Bundesregierung initiierten neutralen und verkehrsträgerübergreifenden Einrichtung verpflichtet. Diese
Schlichtungsstelle wird zunächst durch das Verbraucherschutzministerium als Projekt für drei Jahre gefördert
und erhält für seine Arbeit 1,5 Millionen Euro. Danach
soll sie sich durch Beiträge der Verkehrsunternehmen
tragen, die sich der Schlichtungsstelle freiwillig anschließen können. Sie fördert die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten. Der Schlichtungsvorschlag
lässt aber den Rechtsweg offen, sodass niemandem, der
sich hier beteiligt, Rechte verloren gehen. Zurzeit bietet
diese Schlichtungsstelle ihre Hilfe bei Problemen im
Bahn- und Flugverkehr an; später soll noch der Schiffsverkehr hinzukommen.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Dinge im Fluss
sind, ist Folgendes: Die Europäische Kommission hat im
Rahmen des dritten Eisenbahnpaketes einen Vorschlag
für eine Verordnung vorgelegt, in der die Fahrgastrechte
im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr geregelt
werden. Die Bundesregierung beteiligt sich intensiv an
diesen Diskussionen. Auch in diesem Paket müssen wir
sowohl die Chancen als auch die Risiken - darüber habe
ich eben schon gesprochen - berücksichtigen.
Beim Luftverkehr sind wir schon einen Schritt weiter. Mit dem In-Kraft-Treten der Denied-Boarding-Verordnung vom 17. Februar 2005 ist eine weitere Stärkung
der Fluggastrechte erreicht worden. Die Beträge für
Entschädigungen, die die Fluggesellschaften ihren Passagieren bei Nichtbeförderung zahlen müssen, sind angehoben worden. Außerdem werden Ansprüche auf Entschädigungen und die Unterstützung bei der Streichung
von Flügen und großen Verspätungen garantiert. Die zuständige Beschwerde- und Durchsetzungsstelle für
Deutschland ist das Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig. Es wertet die Beschwerden der Passagiere daraufhin aus, ob die Luftfahrtunternehmen die Bestimmungen der Verordnung korrekt umgesetzt haben, und
ergreift im Falle von Verstößen geeignete Maßnahmen
gegenüber den Unternehmen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Bundesregierung schreibt den Verbraucherschutz auch im Verkehrsbereich groß.
({3})
Aber, liebe Opposition - auch das sage ich ganz
deutlich -, ein Mehr an Anträgen bringt kein Mehr an
Verbraucherschutz. Deshalb sage ich noch einmal: Warten wir, bevor wir mit weiteren Aktivitäten beginnen,
das Gutachten und den anschließenden Bericht der Bundesregierung ab.
({4})
Erst auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob
und welche Änderungen des geltenden Personenbeförderungsrechts vorgeschlagen werden können. Ich bin sicher, dass Regelungen gefunden werden, die den Verbraucherschutz ausreichend berücksichtigen, ohne dass
die wirtschaftliche Betätigung der Verkehrsunternehmen
mit all den aufgezeigten negativen Folgen unangemessen beeinträchtigt oder die öffentliche Hand über Gebühr
belastet wird. Die Komplexität der Materie gebietet eine
seriöse und in allen Konsequenzen durchdachte Reform.
Ich denke, darüber sind wir uns alle einig.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Eduard Lintner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Staatssekretär Großmann, ich reibe mir
etwas verwundert die Augen; denn normalerweise überschlagen sich vor allem die Grünen, wenn es darum geht,
Haftungsregelungen zu schaffen, die der jeweiligen
Kundschaft - notfalls wider jede Praktikabilität und
ohne Rücksicht auf die Kosten - maximalen Schutz verleihen sollen. Wenn es aber um die Deutsche Bahn geht,
wollen die Damen und Herren von der Koalition von ihrer sonst an den Tag gelegten Strenge überhaupt nichts
mehr wissen.
({0})
Von Ihnen werden - die Rede, die Sie gerade gehalten
haben, war dafür ein gutes Beispiel - angebliche Verbesserungen gerühmt, obwohl sich materiell-rechtlich eigentlich nur sehr wenig geändert hat.
Meine Damen und Herren, zwar hat die Bahn zum
1. Oktober die ihren Fahrgästen ihrer Meinung nach
zustehenden Rechte schriftlich in einer ein wenig großspurig als Kundencharta bezeichneten Regelung fixiert.
Dabei handelt es sich allerdings lediglich um Geschäftsbedingungen, die die Bahn jederzeit einseitig ändern
kann.
({1})
Die Maxime lautet offenbar: Der Kunde soll nur so viele
Rechte haben, wie es die Bahn in Einschätzung der Gefechtslage für absolut unvermeidbar hält. Herausgekommen sind dabei alles andere als ausgewogene und die
Interessen der Kunden angemessen berücksichtigende
Schadenersatzregelungen.
({2})
So ist zum Beispiel auch das Urteil der Stiftung Warentest entsprechend drastisch und negativ. Ihr Fazit lautet wörtlich: „Die Kunden haben keine Rechte und können bestenfalls auf Kulanz hoffen.“
({3})
Auch im Vorschlag der Europäischen Kommission, auf
den Sie abgestellt haben, wird die Notwendigkeit gesehen, die Kundenrechte gesetzlich zu normieren, statt sie
nur in AGBs, also einseitig, zu regeln.
In Art. 10 des einschlägigen Ratsdokuments schlägt
die Kommission für den Fall von Verspätungen und Ausfällen eine Regelung vor, die weitaus großzügiger und
kundenfreundlicher als die Regelung ist, die in der Kundencharta der Deutschen Bahn vorgesehen ist.
Die Bahn will mit ihren Formulierungen zugleich
sicherstellen, dass § 17 der Eisenbahn-Verkehrsordnung
weiterhin Gültigkeit hat, der bis heute jegliche Ansprüche von Bahnkunden bei Verspätung und Zugausfall ausschließt. Das heißt im Klartext: Über die von der Bahn
gewährten Entschädigungsansprüche hinaus wird es
auch künftig keine weiteren Verpflichtungen gegenüber
den Kunden geben. Besonders problematisch für die
Kunden - ich bitte Sie, sich das noch einmal zu überlegen - ist, dass die Bahn nur bei eigenem Verschulden
haften will. Was zunächst recht plausibel klingt, führt in
der Praxis in vielen Fällen zu einem Haftungsausschluss. Denn der Kunde muss der Bahn ihr eigenes Verschulden nachweisen. Einen solchen Beweis kann der
Kunde ohne die aktive Mitwirkung der Bahn aber meist
nicht führen. Der Kunde ist also überhaupt nicht in der
Lage, einen entsprechenden Einwand der Bahn zu widerlegen. Dies ist umso gravierender, als wir mittlerweile wissen, dass der größte Teil der Verspätungen eben
nicht, wie von der Bahn in der Vergangenheit oft behauptet, auf irgendwelche dem Einfluss der Bahn entzogene Ursachen zurückzuführen ist. Vielmehr liegt er im
Verantwortungsbereich der Bahn selbst; nur kann der
Kunde den Beweis dafür normalerweise nicht führen.
Auch die Höhe der vorgesehenen Entschädigung ist
eigentlich blamabel: Selbst bei mehreren Stunden Verspätung werden nur 20 Prozent des Fahrkartenwertes ersetzt - und auch das nicht in bar, sondern als Reisegutschein, der wiederum nur beim Erwerb einer neuen
Fahrkarte eingesetzt werden kann. Nur am Rande
möchte ich hier bemerken: Gerade die für die Bahn besonders attraktiven Kunden, nämlich die Netzkarteninhaber, gehen völlig leer aus: Sie haben nichts von einem
Reisegutschein.
({4})
Die Regelungen gelten im Übrigen nur für die Fernzüge
und nicht für Regionalzüge. Deshalb kann man das Urteil der Stiftung Warentest nur uneingeschränkt nachvollziehen.
Das Beispiel der Deutschen Bahn zeigt, wie berechtigt die Einschätzung der EU-Kommission ist - und
dem haben wir uns ja angeschlossen -, dass die Kundenrechte im Schienenpersonenverkehr vom Gesetzgeber
selbst geregelt werden müssen und nicht nur über Allgemeine Geschäftsbedingungen der Unternehmen.
({5})
Eine solche Regelung hätte im Übrigen den Vorteil, dass
sie für alle Schienenpersonenverkehr betreibenden Gesellschaften gelten würde und nicht nur, wie hier, für die
Deutsche Bahn AG allein. Jetzt muss sich der Kunde
- ich stelle mir das plastisch vor -, wenn er Züge von
verschiedenen Eisenbahnunternehmen benutzt, durch
voneinander abweichende Allgemeine Geschäftsbedingungen wühlen, wenn er zu seiner Entschädigung kommen will.
Es geht nicht darum, von der Bahn Unzumutbares zu
verlangen; dies zeigt bereits die Tatsache, dass eine
ganze Reihe anderer Unternehmen - im Ausland wie im
Inland, auch beim Schienenpersonennahverkehr - weitaus großzügigere Regelungen vorgesehen haben. Das
beweist wiederum, dass das Betreiben von Schienenpersonenverkehr auch unter kundenfreundlicheren Haftungsbedingungen durchaus möglich ist.
({6})
Dass die Bahn bei der von ihr selbst gestalteten Kundencharta vor allem ihre eigenen Interessen im Auge
hat, kann man ihr nicht vorwerfen: Der Vorstand hat die
Aufgabe, die Interessen des Unternehmens bestmöglich
zu vertreten; dazu gehört sicher auch die Abwehr von
Schadenersatzforderungen. Zu beklagen ist aber, dass
die Parteien der Regierungskoalition nicht für den im
Sinne des Bahnkunden nötigen Interessenausgleich sorgen. Politische Interessenvertretung ist hier gefragt und
nicht Verharmlosung und Wegschauen, wie Sie, Herr
Staatssekretär, es leider gerade praktiziert haben.
Meine Damen und Herren, die Chance, für einen optimalen Schutz der Bahnkunden zu sorgen, besteht immer
noch; es ist noch nicht zu spät. Ich darf Sie herzlich einladen, sich noch eines Besseren zu besinnen und mit uns
zusammen ein gerechtes und ausgewogenes Haftungsrecht für den Schienenpersonenverkehr zu schaffen,
auch damit Sie Ihrem eigenen Anspruch, den Sie so gern
plakativ vor sich hertragen, gerecht werden: eine kundenfreundliche Regierung zu sein.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sie hätten es fast angesprochen: Ein großes
Lob gebührt NRW, nämlich den Ministern Frau Höhn
und Herr Horstmann,
({0})
die im Gegensatz zur Opposition einen sehr guten und
konkreten Vorschlag zur Verbesserung der Fahrgastrechte vor allem im Nahverkehr vorgelegt haben. Auch
die Pauschalierung und Deckelung wurden übrigens berücksichtigt. Ich denke, Sie können nichts anderes tun,
als zur Wahl dieser Regierung in NRW aufzurufen.
({1})
Rot-Grün bearbeitet dieses Thema mit einer auch in
der Praxis wirksamen Doppelstrategie. Vieles ist gerade
auch Dank des Engagements unserer Verbraucherministerin, Frau Künast, erreicht worden.
({2})
Es gibt in der Praxis tatsächlich konkrete Verbesserungen - neben dem, was Herr Großmann schon vorgestellt hat -: kundenfreundliche Änderung der Bahntarife;
Erhalt der Speisewagen; Wiedereinführung der Bahncard 50. Sie haben im Übrigen Recht: Die Bahn könnte
natürlich auch noch ihr Image „aufhübschen“. Sie sucht
ja gerade nach einem neuen Namen und sollte versuchen, ihr Image durch einen besseren Kundenservice zu
verbessern.
Es gibt die bereits vorgestellte DB-Kundencharta und
die Schlichtungsstelle Mobilität, die, das möchte ich hier
einmal sagen, ihre Arbeit sehr erfolgreich aufgenommen
hat. Ich denke, unsere Überlegung war richtig, hier auch
den Flugverkehr einbeziehen zu wollen. Bei einem
Großteil der Anfragen bei der Schlichtungsstelle Mobilität geht es um den Flugverkehr. Eine Zusammenführung in diesem Bereich wäre sicher auch für die Zukunft
gut.
Wir warten nun auf die Entscheidungsgrundlagen,
also auf das bereits erwähnte Gutachten und die noch
eingehenden EU-Vorschläge. Ich bin davon überzeugt,
dass das eine gute Grundlage sein wird, auf der eine systematische Auswertung und Bewertung dessen, was notwendig ist, erfolgen kann.
Noch zu Ihrem Antrag: Das, was Sie einfordern, ist
schon längst erfüllt.
({3})
Ich nenne beispielsweise die Punkte betreffend die
Schlichtungsstelle und die Fahrplanauskunft. Ich denke,
dass wir auf der Grundlage der Gutachten, die uns vorliegen werden, weitere Maßnahmen diskutieren werden.
({4})
Ich möchte noch sagen, was mich an dem Beitrag der
CDU/CSU ganz besonders gefreut hat
({5})
- und ich nehme an, dass dieser Gedanke auch in dem
Beitrag der FDP zum Ausdruck kommen wird -: Sie treten in einem weit gefächerten Wirtschaftsbereich mit
sehr vielen Arbeitsplätzen für überaus weitgehende Haftungsregelungen im Sinne des Verbraucherschutzes ein.
Ich finde, das steht in einem erstaunlichen Gegensatz zu
Ihrem Agieren zum Beispiel im Bereich der Gentechnik.
Dort verteufeln Sie genau die Haftungsregelungen, die
Sie hier vehement einfordern. Das ist eine bemerkenswerte Angelegenheit.
({6})
Ich höre jetzt mit Freude, dass Sie die verschuldensunabhängige Haftung analog dem BGB hier eifrig vertreten. Ich erwarte, dass Sie das auch in allen anderen
Bereichen tun.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Die Deutsche Bahn AG kann es sich aussuchen:
Möchte sie ein normales Unternehmen sein oder möchte
sie ein gemeinwohlorientierter Staatsbetrieb sein?
({0})
Diese Bundesregierung gibt der Deutschen Bahn AG die
Möglichkeit, eine Sonderstellung einzunehmen und Sonderrechte als Monopolist für sich in Anspruch zu nehmen. Wir reiben uns die Augen: Die rot-grüne Bundesregierung stellt den Verbraucherschutz hier plötzlich sehr
weit hinten an. Ich nenne Ihnen drei Tatsachen, die dies
untermauern:
Erste Bevorzugung. Gemessen an der Verkehrsleistung wird die Infrastruktur der Deutschen Bahn AG,
also das Schienennetz, vom Staat in etwa viermal so
hoch bezuschusst wie alle anderen Verkehrsträger.
({1})
Die zweite Bevorzugung der Deutschen Bahn AG bezieht sich auf die Finanzierung des Schienennetzes. Dort
gewährt die Bundesregierung der Deutschen Bahn AG
verlorene Zuschüsse, also Zuschüsse, die nicht zurückbezahlt werden müssen.
({2})
Damit soll die Bahn von Abschreibungen entlastet und
ihr wirtschaftlich geholfen werden. Das ist Staatswirtschaft und hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun.
({3})
Dritte Bevorzugung. Im Nahverkehr werden der
Deutschen Bahn AG aus dem Mineralölsteueraufkommen pro Jahr 7 Milliarden Euro an Zuschüssen für die
Bereitstellung von Zügen gezahlt. Die Aufträge für diese
7 Milliarden Euro werden sogar zu 90 Prozent ohne jegliche Ausschreibung vergeben.
({4})
Die Verhandlungen sind meist geheim und die Mittel
werden entsprechend durchgereicht. Dies ist eine übermäßige Bevorzugung der Deutschen Bahn AG.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern eine Gleichstellung der Deutschen Bahn AG bei den Haftungsregelungen, wie sie für alle anderen Unternehmen auch gelten.
({5})
Wir möchten, dass die Verbraucher ein Recht auf Entschädigung haben. Sie sollen nicht wie jemand auftreten
müssen, der von der Kulanz der Bahn AG abhängig ist.
Wir fordern die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren
hehren Worten endlich Taten folgen zu lassen und diesen
Sonderstatus der Deutschen Bahn AG zum Wohle des
Verbraucherschutzes zu beenden. Mehr Rechte für Verbraucher - Sie sollten beweisen, dass es Ihnen damit
ernst ist.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Karin Rehbock-Zureich,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Kopp, ich möchte darauf hinweisen,
dass Investitionen sicherlich im Sinne der FDP sind,
({0})
weil wir durch Investitionen ins Schienennetz - so wie
durch Investitionen in Straßennetze - Arbeitsplätze erhalten und sichern. Aber das ist nicht Ihr Thema. Man
hat Ihnen angemerkt, dass Sie sich damit nicht beschäftigt haben.
({1})
Wir reden heute über die Verbesserung der Fahrgastrechte. Das ist im Verkehrsbereich ein wichtiges Thema.
Jede neue Regelung, die wir einführen wollen, muss den
Gesamtmarkt des öffentlichen Verkehrs regeln. Das
heißt, es geht um die gleichen Rechte für Bus, Straßenbahn, U-Bahn und S-Bahn; denn Regionalverkehr und
Fernverkehr müssen gleichgestellt werden. Wenn wir
Gesetze erlassen, brauchen wir einen einheitlichen
Rahmen. Selbstverständlich muss dies für alle Unternehmen gelten.
({2})
Sie suggerieren einfache und unkomplizierte Lösungen. Herr Kollege Lintner, ich bin enttäuscht: Sie fordern die Aufhebung des Haftungsausschlusses nach § 17
der EVO, der Eisenbahn-Verkehrsverordnung. Ich erinnere an die Vereinbarungen im COTIF-Abkommen.
Wenn dies von allen ratifiziert wird, wird der aktuell geltende § 17 EVO geändert. Die Bundesrepublik hat dieses Abkommen schon längst unterschrieben. Das heißt,
es gilt fortan die Haftung bei Ausfall, Verspätung und
Anschlussversäumnis auch für die Kunden der DB AG.
Dies ist richtig so.
Die Kollegin Höfken hat schon auf die Kundencharta
hingewiesen, die seit dem 1. Oktober des vergangenen
Jahres auf der Tagesordnung ist. Sie ist ein richtiger und
wichtiger Schritt. Aber mit dem Einstieg in die Verbesserung der Kundenrechte bei der DB AG sind wir sicher
nicht am Ende der Diskussion angelangt. Mit der neu
eingerichteten Schlichtungsstelle werden die Sorgen und
Nöte der Kunden aufgegriffen.
Wir müssen vor dem Hintergrund des Verkehrsmarktes immer Folgenutzen und -risiken abschätzen. Da
muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie das in Ihren Anträgen überhaupt nicht berücksichtigen. Selbstverständlich
ist die Verbesserung des Schutzes der Verbraucher. Darin
liegt der Nutzen für die Verbraucher.
Wir haben aber auch folgende Situation: Wenn das öffentliche Unternehmen versucht, das Haftungsrisiko zu
minimieren und dies nicht ausschließlich über Qualitätssteigerungen erreicht werden kann, dann kann das bedeuten, dass Taktverkehre gestrichen werden. Dann
stellt sich die Frage: Werden wir möglicherweise das
Kind mit dem Bade ausschütten? Wollen wir, dass der
Verbraucher aufgrund der starken Haftungsregelungen
zwar eine Ausfallentschädigung bekommt, der Zug aber
nicht mehr fährt, weil der Taktverkehr, der bisher in engem zeitlichem Abstand stattgefunden hat, nicht mehr
vorhanden ist? Das kann nicht im Interesse der Verkehrspolitik sein.
Wichtig ist, wie wir dieses für die Verbraucher wichtige Thema handhaben. Der richtige Schritt ist, dass wir
uns im Sommer das Gutachten anschauen, das von der
Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde. Daraus
müssen wir Schlussfolgerungen ziehen und dann müssen
wir entscheiden, wo wir noch Handlungsbedarf haben
und welche Folgen Veränderungen zeitigen. Dann haben
wir eine Entscheidung auf den Weg gebracht, die im
Sinne der Verbraucher ist, aber auch im Sinne des VerKarin Rehbock-Zureich
kehrsmarktes. Das bedeutet: weiterhin bezahlbare Preise
und gute Verbindungen.
Vielen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Berlin,
3. Februar 2004. Auf dem Spielplan steht großes Staatstheater. Der Titel des Stücks: „Der entrechtete Fahrgast“
oder „Die Kundencharta der Bahn“. Spielort: die Bundespressekonferenz. Hauptdarsteller: Ministerin Künast,
Minister Stolpe und der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn. Stimmung: traute
Eintracht. Alle drei sind sich einig, ein großes Werk zu
präsentieren.
({0})
Die Kritiker urteilen allerdings später „Drama“ bzw.
„Posse“. Ich zitiere insoweit den Fahrgastverband „Pro
Bahn“:
Das Getöse, mit dem diese Charta der Presse vorgestellt wurde, steht wieder einmal in umgekehrtem
Verhältnis zur wirklichen Leistung.
({1})
Der Inhalt des Stücks: Die Bahn verpflichtet sich, ihren
Kunden eine Entschädigung von 20 Prozent bei Verspätungen oder Zugausfällen zu zahlen, allerdings nur im
Fernverkehr, nicht bei verspäteten Anschlusszügen usw.
Die Liste der Fälle, in denen der Kunde nach wie vor mit
leeren Händen dasteht, ist außerordentlich lang.
Was sagt jetzt die selbst ernannte oberste Verbraucherschützerin dieses Landes?
({2})
Ich zitiere Ministerin Künast aus einer Pressemitteilung
vom 3. Februar 2004:
Die Kundencharta der Bahn hat für den Verbraucherschutz Vorbildcharakter … Gesetzliche Regelungen für die Bahn erscheinen deshalb nicht notwendig …
({3})
Das ist Hohn in den Ohren jedes Fahrgastes. Frau Ministerin Künast weiß doch selbst: Die Bahn kann das Wenige, das sie zugesteht, jederzeit ändern; denn es sind nur
Allgemeine Geschäftsbedingungen. Nach wie vor gilt
die Eisenbahn-Verkehrsordnung aus dem Jahre 1938, die
sämtliche Haftungen für den Reisenden ausschließt.
Nicht ohne Grund urteilt auch die Präsidentin des Verbraucherzentrale Bundesverbandes, Professor Edda
Müller, in einer Pressemitteilung vom 1. Dezember
2004:
Für Teile der Bundesregierung scheint es die Verbraucher als Fahrgäste … einfach nicht zu geben.
Sehr richtig.
So sieht es auch die Europäische Kommission. Sie
fordert in ihrem Verordnungsvorschlag vom 3. März
2004 - ich zitiere -:
… Fragen, beispielsweise zur Haftung des Eisenbahnunternehmens, zu Ausgleichszahlungen bei
Verspätungen und Zugausfällen … müssen jedoch
gesetzgeberisch statt durch freiwillige Vereinbarungen … geregelt werden, um die Durchsetzbarkeit
der Fahrgastrechte zu gewährleisten.
Die Bundesregierung hat nicht reagiert. Abwarten statt
Anpacken heißt einmal mehr die Devise, und zwar zulasten der Fahrgäste. Das ist eine unendliche Geschichte.
Denken Sie nur an das Kapitel mit der Überschrift
„Trennung von Netz und Betrieb“. Es geht um mehr
Wettbewerb auf der Schiene, und zwar zugunsten der
Fahrgäste.
({4})
Die Geschichte stockt. Es wird eine Taskforce eingesetzt.
Der Kanzler beruft dafür nur einen einzigen Eisenbahnunternehmer: Hartmut Mehdorn. Die Taskforce sprach sich
später - oh Wunder - für den Verbleib des Schienennetzes
unter dem Dach der Deutschen Bahn AG aus. Eine Posse!
({5})
Oder denken Sie an das Kapitel mit der Überschrift
„Den Bock zum Gärtner gemacht“. 2003 forderten wir,
die Mitglieder des Bundestages, die Bundesregierung
auf, endlich einen Gesetzentwurf für eine verbindliche
Regelung der Rechte von Fahrgästen vorzulegen. Die
Bundesregierung tat, was sie gerne tut: Sie schrieb ein
Gutachten aus, und zwar zu dem Thema: Wie können die
Kundenrechte gestärkt werden?
Wer aber erhielt den Auftrag? - Der ehemalige Chefjurist der Bahn, jetzt Geschäftsführer einer Bahntochter.
Damit wurde der Bock zum Gärtner gemacht.
({6})
Diese Posse war so offensichtlich, dass das Gutachten
neu ausgeschrieben werden musste. Das war übrigens
auch für Bundesminister Stolpe eine peinliche Situation.
Passiert ist in Sachen Stärkung der Fahrgastrechte seither nichts.
Das wird mittlerweile sogar den eigenen Parteifreunden zuviel. So fordert die nordrhein-westfälische Verbraucherschutzministerin Bärbel Höhn in einer Pressemitteilung vom 10. November 2004, dass „die veralteten
Haftungsprivilegien … in der Eisenbahn-Verkehrsordnung für die Anbieter von öffentlichen Verkehrsmitteln
gestrichen werden“ müssten.
({7})
Ich gratuliere zu dieser Erkenntnis. Genau das steht in
unseren Anträgen. Offensichtlich beginnt auch Rot-Grün
- jedenfalls auf Landesebene - langsam zu erkennen,
dass die Rechte der Fahrgäste verbessert werden müssen. Wir fordern dies schon lange.
Unsere Anträge für eine Stärkung der Rechte von
Fahrgästen liegen seit 2003 vor. Sie, meine Damen und
Herren von der Koalition, haben alle abgelehnt - und
zwar ohne Zögern -, unter anderem mit der dünnen Begründung, ein Gesetzgebungsverfahren dauere zu lang.
Meine Damen und Herren von der Koalition, das können Sie heute ändern. Stimmen Sie unseren Anträgen zu!
Sie haben ohnehin schon zuviel Zeit vertan. Es ist die
Aufgabe einer Bundesregierung, die Rechte der Verbraucher zu schützen - nicht mit schönen Worten, sondern
mit Taten. Kommen Sie endlich Ihrer Pflicht nach, damit, wenn im nächsten Jahr der Vorhang für Sie fällt, wenigstens einer klatscht: der Fahrgast!
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4504 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 12 b: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 15/3233. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/1236 mit dem Titel „Mehr
Rechte für Fahrgäste im öffentlichen Personenverkehr“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/1711 mit dem Titel „Haftung der Deutschen Bahn AG für Verspätungen einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen
der FDP und der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({0}), Heinz Schmitt ({1}), Jörg
Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Ursula Sowa,
Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
stärken
- Drucksache 15/4539 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Swen Schulz, SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute die Stärkung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften - endlich, möchte ich sagen. Denn wenn
wir im Parlament wie auch in der sonstigen politischen
Debatte über Wissenschaft und Forschung sprechen,
dann geht es oftmals in erster Linie um die Ingenieurund Naturwissenschaften und die Steigerung der technologischen Leistungsfähigkeit. Das ist ohne Zweifel von
zentraler Bedeutung.
Aber ich glaube, dass wir die Finanzierung der Wissenschaft gelegentlich zu einseitig mit ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung begründen.
({0})
Ohne Frage ist das ein Trend der Politik, ja der Gesellschaft: Alles muss effizient und effektiv sein.
Wir Bildungs- und Forschungspolitiker haben, wollten bzw. mussten uns auf diese Sprache und diese Kriterien einlassen. Wer Unterstützung für sein Politikfeld organisieren will und sogar mehr Geld dafür haben
möchte, muss deutlich machen, wofür es gut ist, besser
gesagt: welchen Gewinn es bringt.
Wenn wir aber Wissenschaft mit diesem Maßstab
messen, kommen Leute schnell auf die Idee, zwischen
ertragreichen und weniger lukrativen Wissenschaften zu
unterscheiden. Wissenschaftspolitik wird zum Investment der öffentlichen Hand, gemessen an Gewinnkategorien der Privatwirtschaft. Der Wissenschaftsminister
Hamburgs streicht dann eben ein Drittel der Geistes- und
Sozialwissenschaften und der Berliner Finanzsenator
fragt sich, wozu denn diese vielen Germanisten gut sein
sollen. Diese Klage könnte ich ausführlicher gestalten,
aber die Aufforderung ist klar: Wir dürfen keine kurzsichtige Ökonomisierung der Bildungs- sowie der Wissenschafts- und Forschungspolitik zulassen.
({1})
Swen Schulz ({2})
Wir müssen ebenfalls realisieren, dass die Wissenschaft kein leicht steuerbares System ist. Wir können
nicht einfach oben Geld hineinstecken und glauben, dass
unten Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze herauskommen. Wissenschaft ist ein komplexes System. Nicht
immer können wir vorher wissen, was hinterher nützlich
sein wird. Wir wissen aber im Grundsatz - das haben wir
auch in unserem Antrag festgehalten -, dass Geistes-,
Sozial- und Kulturwissenschaften einen spezifischen
und unverzichtbaren Beitrag zur Förderung von gesellschaftlichen Innovationen leisten, wobei das beschriebene Steuerungsproblem ebenfalls besteht. Auch die
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind nicht
einfach nach Nützlichkeitskriterien zu lenken. Man kann
nicht oben Geld hineinstecken und unten kommen Frieden, Integration und Gerechtigkeit heraus. Vielleicht
muss auch nicht alles auf den ersten Blick nützlich sein.
Reduzieren wir also dieses Gerede und beginnen wir
wieder, Bildung und Wissenschaft um ihrer selbst willen
mit Freude und ohne Hintergedanken zu fördern, zumindest ein bisschen.
({3})
Wenn man sich die Wissenschaftsgeschichte anschaut, dann ist ganz deutlich, dass Innovationen
schwerlich geplant werden können, sondern dass sie entstehen, wenn der Wissenschaft Raum, Zeit und Mittel
dafür gelassen werden. Es ist ebenfalls fraglich, inwieweit eine Steuerung vorgenommen werden sollte. Politik agiert tendenziell kurzatmig, bei den einen mehr, bei
den anderen weniger. Wer hat sich schon für die Bildungsforschung interessiert, bevor es die PISA-Studie
gab? Ich behaupte: Wenn es nach der Mehrheit der Politik und der Bevölkerung gegangen wäre, hätten wir die
Bildungsforschung möglicherweise eingestellt und das
Geld für andere Zwecke genutzt. Es gibt viele weitere
Beispiele dafür, von der Friedensforschung bis zu den Islamwissenschaften. Letztere haben heute Nachmittag in
der Debatte über die auswärtige Kulturpolitik eine Rolle
gespielt.
Gleichwohl kann mein Petitum hier kaum darauf abzielen, einfach nur den Wissenschaftlern mehr Geld zu
geben und uns auf das Warten und Hoffen zu beschränken. Die Freiheit der Wissenschaft darf nicht zum Alibi
für die Selbstverwirklichung von Wissenschaftlern werden. Die Öffentlichkeit hat das Recht, zu erfahren und zu
kontrollieren, was mit den eingesetzten staatlichen Mitteln geschieht. Die Politik muss sehr wohl Schwerpunkte
im öffentlichen Interesse setzen dürfen. Aber Politik
muss der Wissenschaft auch einen freien Raum lassen, in
dem nicht die Nützlichkeit von Forschung überprüft
wird, wohl aber ihre wissenschaftliche Exzellenz. Wir
haben das in dem Antrag von SPD und Grünen festgehalten. Qualitätskontrolle und ausgeprägter Wille zur
Veränderung sind für alle Wissenschaften wichtig, auch
für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Dabei sind Evaluierungen und der Wettbewerb als Steuerungsinstrumente hilfreich. Das ist aber etwas anderes
als eine kurzsichtige Ökonomisierung. Wir dürfen die
Wissenschaft nicht dem freien Spiel der Marktkräfte unterwerfen.
({4})
Wenn ich zu Beginn meiner Rede einen Dualismus
zwischen Ökonomie und Geist, zwischen Nützlichkeit
und Wissenschaftsfreiheit angedeutet habe, dann möchte
ich nun darauf hinweisen, dass dieser, wenn wir das Wissenschaftssystem gut organisieren, überwindbar ist. Die
spannendsten Entwicklungen entstehen an den Berührungspunkten von Disziplinen und in Teamarbeit. Ingenieure und Naturwissenschaftler treffen Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler, solche Projekte
benötigen wir dringend. Eine Stärkung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften führt somit letztlich doch
zur Stärkung der Leistungsfähigkeit Deutschlands, und
zwar sowohl in technologischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition
- von der CDU/CSU sind leider nur zwei Kollegen anwesend -, ich denke, dies ist ein Feld, auf dem wir
durchaus zusammenarbeiten können. - Nun ist Herr von
Klaeden, die Nummer drei, erschienen. Schönen Dank!
Ich biete Ihnen für die Regierungskoalition ausdrücklich
das Gespräch an. Wir wollen eine Anhörung zu dem
Thema Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
durchführen. Es wäre gut, wenn wir die Vorlage von
SPD und Grüne gemeinsam fortentwickeln könnten. Das
wäre bei allem Streit, den wir an anderen Stellen haben,
auch ein positives Signal für die politische Kultur.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Bernward Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Schulz, lassen Sie mich zunächst eine Vorbemerkung machen. Bei der Darstellung Ihres Antrags
ist deutlich geworden, dass man Ihnen in dem zustimmen kann, was Sie über die Rolle, die Wichtigkeit der
Geisteswissenschaften sagen,
({0})
dass es aber noch einen erheblichen Diskussionsbedarf
bezüglich des konkreten Inhalts Ihres Antrags gibt. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Genauso wie Sie freue ich mich darüber, dass wir uns
heute mit dem Thema Geisteswissenschaften befassen.
Ich bin allerdings nicht mit dem einverstanden, was in
Bernward Müller ({1})
Ihrem Antrag geschrieben steht. Dazu habe ich einige
kritische Anmerkungen zu machen.
Es ist wichtig, dass wir über die Situation der Geisteswissenschaften sprechen; denn von vielen Wissenschaftlern wird festgestellt, dass es seit etwa 15 Jahren einen
stetigen Abbau der Kapazitäten und der Mittel im Bereich der geisteswissenschaftlichen Forschung und
Lehre gibt. Scherzhafterweise könnte man sagen: Den
Universitäten geht der Geist aus.
({2})
- Ich habe betont: scherzhafterweise.
Kritisch zu erwähnen ist auch die Lage in den so
genannten kleinen Fächern wie Archäologie oder klassische Philosophie. Diese Fächer kämpfen um ihre Legitimation im Wettstreit mit einer zunehmend naturwissenschaftlich orientierten Gesellschaft.
Doch wer nun hofft - sicherlich gibt es viele Menschen, die darauf hoffen, meine sehr verehrten Damen
und Herren insbesondere von der Koalition -, dass Ihr
Antrag dazu geeignet ist, zur Verbesserung der Lage der
Geisteswissenschaften beizutragen, der wird angesichts
der Fassung Ihres Antrags, die uns heute vorliegt, enttäuscht sein.
({3})
Ihr so genannter Antrag geht allenfalls als Willensbekundung durch. Um es klar zu sagen: Der Antrag ist eine
Ansammlung vager, unbestimmter, globaler Aussagen.
Er enthält nichts, was von den Wissenschaftlern konkret
eingefordert werden könnte.
Schauen wir uns das noch genauer an. Wir beginnen
mit dem Titel. Darin heißt es: Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stärken. - Es ist schon ein Zeichen dafür, wie wenig Sie sich mit der Thematik befasst haben
müssen, wenn Sie gerade die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften einfach in einen Topf werfen. Die Sozialwissenschaften, die sich meist einer empirischen Methodik bedienen und somit den Naturwissenschaften
nahe sind, stehen zum Beispiel in einem ganz anderen
Kontext als die Geisteswissenschaften.
Ihre Initiative differenziert nicht ausreichend und
führt zu einer unscharfen Benennung aller drei Wissenschaftszweige und damit im Ergebnis zu einer diffusen
Zielsetzung des gesamten Antrags. Damit ist niemandem
geholfen, zuletzt den Geisteswissenschaften, die, anders
als die in unsere Gesellschaftskultur gut integrierten Sozialwissenschaften, unter erheblichen Legitimationsproblemen leiden. Ich plädiere daher für eine klare und
deutliche Definition dessen, was gemeint ist und was
besser als bisher gefördert werden soll.
Somit leidet Ihre begrüßenswerte Initiative schon an
der Grundkonzeption. Ihrem Antrag fehlen Klarheit und
konkrete Zielsetzung.
Es fehlt noch mehr. Man fragt sich: Wo findet sich in
Abschnitt II die Substanz? Oder wollen Sie etwa - ich
gebrauche dieses Wort jetzt einfach einmal - die Lobhudelei, die Sie bezüglich der Politik der Bundesregierung
betreiben, als substanziellen Beitrag zur Förderung der
Geisteswissenschaften bezeichnen? Das reicht nicht. Die
Geisteswissenschaften brauchen mehr als eine Beweihräucherung der Bundesregierung und Ihre Sonntagsreden.
Kommen wir also zum Herz des Antrags, zum Forderungskatalog im Abschnitt III. Im Grundsatz kann ich
Ihren Vorschlägen hinsichtlich der Forschungskollegs
und der Förderung des Akademieprogramms zur Grundlagenforschung zustimmen.
({4})
- Jawohl, das kann ja auch eine Basis sein. - Das sind
wirksame Instrumente zur Stärkung der Geisteswissenschaften in Deutschland.
({5})
Hier sollten wir in der weiteren Diskussion ansetzen und
deutlich herausarbeiten, wie diese Instrumente konkret
aussehen und produktiv eingesetzt werden können.
({6})
Doch dann enthalten Ihre Forderungen auch Aspekte,
die nicht nur mich, sondern auch andere in Staunen versetzen. Bitte erklären Sie mir: Wie kommen Sie gerade
in diesem Zusammenhang dazu, ein besonderes Gewicht
auf die Förderung in Ostdeutschland zu legen? Um Ostdeutschland zu helfen, gibt es eine ganze Reihe anderer
Felder, auf denen Sie sich betätigen können. Haben Sie
fundierte Hinweise darauf, dass es besondere Defizite in
den Geisteswissenschaften in den neuen Bundesländern
gibt? Ich komme aus einem neuen Bundesland und das
würde mich sehr interessieren. Mir ist kein spezifischer
Bedarf bekannt.
Ist es nicht eher so, dass in den Geisteswissenschaften
an den Universitäten und Hochschulen der neuen Länder
gerade seit der Wende ein frischer Wind mit jungen, ehrgeizigen Professoren weht? Ich habe den Eindruck, dass
Ihre Forderungen in dieser Hinsicht schematisch in jedem Antrag auftauchen müssen.
({7})
Ich möchte mich noch kurz der Finanzierungsfrage
zuwenden. Wichtig ist: Wir brauchen eine solide Finanzierung, natürlich auf der Basis des Haushalts. Aber
wenn man so etwas in Ihrem Antrag konkret sucht: Fehlanzeige! Fehlanzeige gilt auch, was die Finanzierung der
Umsetzung der Vorschläge angeht.
({8})
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Schauen Sie bitte auf die Uhr!
Fehlanzeige gilt darüber hinaus in Bezug auf Umschichtungsmöglichkeiten. Sie haben den Antrag verfasst. Das hätte da sicherlich hineingehört. Wenn man
sich die einzelnen Punkte dieses Antrags etwas genauer
anschaut, dann sieht man: Sie wollen auch hier hineinregieren. Sie sprechen von „Autonomie“.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Danke, Frau Präsidentin. - Aber in Wahrheit geht es
Ihnen um das Hineinregieren. Sie bestellen die Musik;
Sie wollen sie aber nicht bezahlen. Das kann so nicht
weitergehen.
Ich komme zum Schluss. Sie haben die Anhörung angesprochen. Wir als Union werden Ihnen geeignete Vorschläge unterbreiten, die zur Weiterentwicklung dieser
Frage beitragen. Ich kann Sie nur auffordern, mit uns zusammenzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Nichtgeisteswissenschaftlerin stehe ich voll und
ganz hinter diesem Antrag. Ich habe recherchieren lassen, welche Berufsgruppen hier im Bundestag vertreten
sind. Abgesehen von der überraschenden Erkenntnis
- ich habe keine Aufsplitterung nach Fraktionen vornehmen lassen -, dass gut 75 Prozent über eine abgeschlossene Hochschulbildung verfügen, war ich auch über die
Fächeraufteilung erstaunt, die sich - bei allen Unschärfen - abgezeichnet hat. Der Anteil der Geistes-, Sozialund Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen
unter ihnen überflügelt sogar den der Juristen, die fast
genauso stark sind wie die Naturwissenschaftler und die
Ingenieure; das ist doch erstaunlich. So gesehen, müsste
in diesem Hause eigentlich eine sehr starke Lobby für
die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vorhanden sein.
Um mit Professor Böckenförde aus Freiburg zu sprechen:
Was betreiben und vermitteln denn die Geisteswissenschaften? Sie bewahren, erweitern und vermitteln je von Neuem das Wissen über die eigene Sprache, Geschichte, Literatur und Kunst; über die
Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens und Zusammenwirkens von Menschen in einer
Gesellschaft ({0}); über
die Selbstvergewisserung und die Beantwortung
der Sinn- und Identitätsfrage der Menschen ({1}). Sie sind damit
Grundlage für das Verständnis der Welt, …
Mit einem Wort: Besonders wir hier im Bundestag sollten von der wichtigen Funktion der Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaften für unsere Gesellschaft überzeugt
sein.
Wir sind heute mit komplexen Prozessen wie der Erweiterung und dem Zusammenwachsen des europäischen Raums oder der Globalisierung konfrontiert und
müssen deren Folgen bewältigen. Die Geistes-, Sozialund Kulturwissenschaften stellen Methoden bereit, um
diese politischen und kulturellen Entwicklungen und
Prozesse zu reflektieren und zu analysieren.
({2})
Vielleicht brauchen wir sie auch des Öfteren in der Politik.
Was heißt das nun konkret für einzelne Fächer, zum
Beispiel die Islamwissenschaft? Vor den Ereignissen
des 11. September 2001 galt sie als ein klassisches Beispiel für ein so genanntes exotisches oder Orchideenfach. Die Islamwissenschaft beschäftigt sich mit historischen und gegenwärtigen islamischen Gesellschaften.
Eine ihre Aufgaben besteht meines Erachtens darin, fundierte Kenntnisse über eine Weltkultur und wichtige
Nachbarkultur Europas zu erarbeiten und an uns zu vermitteln. Im besten Falle stellt besseres gegenseitiges
Verstehen einen entscheidenden Beitrag zur Konfliktprävention dar.
Kurzum: Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stehen wie die Kunst schnell unter dem Generalverdacht des L’art pour l’art und des Luxus, den sich
eine Gesellschaft gleichsam leisten können muss. Angesichts der aktuell schwierigen ökonomischen Situation
geraten, wie auch meine Vorredner gesagt haben, gerade
die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in Bedrängnis. Um den Fokus der Innovationsinitiative der
Bundesregierung, die ich für richtig und wichtig halte,
auch auf die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
zu richten, haben wir aus den Regierungsfraktionen diesen Antrag eingebracht.
({3})
- Ich danke Ihnen. Der Geist ist manchmal unsichtbar.
Der Punkt, der mir darin am allerwichtigsten ist, ist
die Beförderung eines neuen strukturellen Förderkonzepts für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
in Form von themenzentrierten interdisziplinär arbeitenden Forschungskollegs. Sie bieten die Chance, die Stärken der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu
befördern, die beispielsweise in transdisziplinären und
auch interkulturellen Perspektiven bestehen. Wie ich
hoffe, bietet der aufgrund der Blockadehaltung der
CDU-geführten Bundesländer bisher leider auf Eis
liegende Exzellenzwettbewerb - 500 Millionen Euro
liegen hier auf Eis, lieber Herr Müller; ich bin davon
überzeugt, dass man sich eines Besseren belehren lässt die Gelegenheit zur Errichtung solcher Forschungskollegs.
({4})
Wir unterstreichen die Bedeutung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften allerdings nicht nur mit
wohlfeilen Worten, sondern haben gleichzeitig dafür gesorgt, dass im Haushalt 2005 für die Geisteswissenschaften sage und schreibe 1,5 Millionen Euro mehr zur
Verfügung stehen,
({5})
während die CDU/CSU in den Haushaltsverhandlungen
um 1,9 Millionen Euro kürzen wollte.
({6})
Ich möchte mit Folgendem schließen: Die Geistes-,
Sozial- und Kulturwissenschaften sind nicht das Aschenputtel der Wissenschaft, das in Dreck und in Lumpen gehüllt sein Leben fristen und sich seiner Existenz schämen muss. Allerdings lässt sich das grimmsche Märchen
nicht nur als Überwindung von sozialen Grenzen durch
Bescheidenheit, Fleiß und Unterwürfigkeit lesen.
Aschenputtel war in der Lage, die sozialen und kulturellen Differenzen zum Königshof und vor allem zum Königssohn zu überwinden. Oder denken Sie etwa, dass sie
an drei Abenden schweigend mit ihm getanzt hat und er
allein dadurch von ihr so hingerissen war? Mit einer Portion Ungehorsam, Klugheit und kulturwissenschaftlichem Wissen lässt sich sogar ein Prinz gewinnen.
In diesem Sinne danke ich Ihnen.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schulz, Frau Sowa, dass die FDP die Bedeutung
der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sehr
hoch einschätzt, dürfte Ihnen genauso bekannt sein wie
uns.
({0})
Trotzdem, so muss ich sagen, haben wir große Probleme
mit dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben.
({1})
Herr Schulz, wir sind gern bereit - Sie wissen das -, im
Ausschuss Anträge zu unterstützen; wir tun das auch
häufiger. Aber der Antrag, den Sie uns vorgelegt haben,
spiegelt so ungefähr alles wider, was sich nach unserem
Dafürhalten eine rot-grüne Mannschaft so an Gutem in
dieser Welt vorstellen kann. Das ist uns entschieden zu
wenig.
({2})
Überlegen Sie einmal, was alles darin ist! Es ist die
Geschlechterforschung darin. Es ist die Friedens- und
Konfliktforschung darin. Es sind die Migrations- und die
Integrationsforschung darin. Es sind natürlich der gesellschaftliche Diskurs, die Humanisierung der Arbeitswelt,
das kontextbezogene Studium und die interkulturelle
Bildung darin. Es ist sozusagen ein Stakkato all der Vokabeln, die man bei Ihnen natürlich auch sofort vermutet. Wir werden im Laufe dieser Debatte einen eigenen
Antrag einbringen. Dann können wir vergleichen, wer in
diesem Lande mehr für die Geisteswissenschaften tut:
Sie oder wir.
({3})
Nun lassen Sie uns etwas zur Realität zurückkehren.
Erstens. Sie haben gerade gesagt, im Haushalt spiegele sich die von Ihnen geforderte Schwerpunktsetzung
wider. Einen Schwerpunkt legen Sie in Ihrem Antrag auf
Ostdeutschland. Angesichts dessen frage ich mich natürlich, warum Sie die geistes- und bildungswissenschaftlichen Einrichtungen der Blauen Liste seit Jahren so
merkwürdig behandeln. Im Jahre 2003 begann die Unterstützung mit einem Etat in Höhe von 21,4 Millionen,
inzwischen liegt er bei 18,1 Millionen. Das ist die Realität. Sie steht im Gegensatz zu dem Antrag, in dem so getan wird, als ob Geistes- und Sozialwissenschaften vor
allen Dingen im ostdeutschen Raum besonders gestärkt
würden.
({4})
Zweitens. Ihr Hätschelkind, die Deutsche Stiftung
Friedensforschung: Sie haben Mittel in Höhe von derzeit 1 Million Euro eingestellt, um das Stiftungskapital
zu erhöhen. Unabhängig von der Tatsache, ob diese Stiftung es wert ist, dem Volk weitere Schulden aufzubürden, frage ich mich natürlich, ob Sie sich wirklich einmal ernsthaft überlegt haben, ob diese Stiftung auch das
bringt, was wir uns alle erhoffen. Die paar Männeken,
die dort arbeiten, sollen jetzt erneut mehr Mittel bekommen, um sie dann weiterzugeben.
({5})
Sie ziehen damit eine Zwischenebene ein, während andere
Stiftungen in diesem Land, die sich seit vielen Jahren intensiv mit Friedens- und Konfliktforschung befassen, sozusagen draußen im Regen stehen. Diesen Einsatz von
Geld kann die FDP so mit Sicherheit nicht unterstützen.
({6})
Nun wissen wir natürlich, dass bei so kurzen Debattenpunkten der FDP nur drei Minuten zustehen. So
möchte ich zum Schluss noch auf einen Punkt hinweisen: Nach der Debatte, die wir heute Mittag alle zusammen gegen die Kollegen von CDU/CSU geführt haben,
finde ich es sehr grotesk, dass Sie uns heute Abend einen
Antrag vorlegen, in dem Sie so tun, als ob Sie gemeinsam mit den Ländern etwas stemmen könnten.
({7})
Dies ist angesichts der derzeitigen Situation - so könnte
man fast sagen - eine Verdummdeubelung dieses Themas. Sie haben so viele Kühe auf dem Eis, die Sie nicht
herunterbekommen, weil die Länder blockieren.
({8})
Jetzt aber stellen Sie eine neue Kuh dazu. Das wird
nichts werden, Herr Schulz. Warten wir also lieber, bis
unser Antrag kommt. Der wird besser sein.
({9})
Das Wort hat der Kollege Heinz Schmitt von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Flach,
leider kommt von der FDP nichts Neues außer den üblichen Standardvorurteilen, dass Friedensforschung nichts
tauge, 1 Million dafür zu viel sei usw. Sie hätten gestern
Nachmittag mit mir zu einer Veranstaltung gehen sollen,
an der Friedensforscherinnen und Friedensforscher aus
der ganzen Republik teilgenommen haben. Da ging es
nicht um Geld, sondern um Inhalte.
({0})
Schade, dass Sie nicht dabei waren, denn dann würden
Sie sich heute nicht so unqualifiziert äußern.
({1})
Das war gestern eine sehr wichtige Erfahrung. Das Geld
ist dort sehr wohl gut angelegt.
Natürlich müssen wir als Politiker auch die richtigen
Schlüsse aus den Forschungsergebnissen ziehen, also für
eine bessere Verzahnung der Erkenntnisse mit unserer
Arbeit sorgen. Das Geld ist dort viel besser investiert als
in Rüstungsprojekten. Darüber sollten wir uns einig sein.
({2})
Herr Müller, Sie haben erfreulicherweise das Signal
gegeben, dass wir gemeinsam etwas machen können.
Das haben wir wohlwollend aufgenommen. Lassen Sie
uns in den nächsten Wochen daran arbeiten! Vielleicht
bekommen wir da etwas hin.
Wir machen uns also heute stark für Geistes-, Sozialund Kulturwissenschaften, also für Wissenschaften, die
eigentlich nicht so - wir haben es ja schon mehrfach gehört - im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, insbesondere im Vergleich zu den Naturwissenschaften. Wir
verfolgen jährlich die Verleihung der Nobelpreise, die
insbesondere für wissenschaftliche Höchstleistungen in
den Naturwissenschaften vergeben werden. Mit Naturwissenschaften verbinden wir Innovation, technischen
Fortschritt, neue Märkte, wirtschaftliches Wachstum,
Arbeitsplätze und vor allen Dingen Gewinne. Es braucht
daher umso mehr Überzeugungskraft, um Investitionen
in Gesellschaftswissenschaften zu begründen. Wir sind
zwar als Entscheidungsträger tagtäglich mit den Ergebnissen - Frau Flach, das ist wichtig - der Geistes- und
Sozialwissenschaften befasst, die Beurteilung dieser
Forschungen und deren Stellenwert hängen aber oft von
der politischen Einstellung ab.
Wir erinnern uns doch - Sie haben es gerade bestätigt -, wie schwer sich manche bei der Friedens- und
Konfliktforschung tun. Weil diese einer politischen
Bewertung unterliegt, ist nicht selten die Neigung zu
beobachten, gesellschaftswissenschaftliche Forschung
geringer als die so genannten exakten Naturwissenschaften zu schätzen.
({3})
Die Gesellschaftswissenschaften sind dennoch von
herausragender Bedeutung, auch wenn ihre Beurteilung
durchaus unterschiedlich ausfällt. Sie sind Korrektiv,
Ideengeber und Wegweiser für künftige Entwicklungen
und versetzen uns in die Lage, den technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt mit humanen Gesichtspunkten, mit sozialen Werten und mit Orientierung zu
verbinden und zu begleiten. Ohne diese Orientierung
wäre der technische Fortschritt blind und damit fragwürdig. Außerdem werfen Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften interdisziplinäre und interkulturelle
Fragestellungen auf und bringen fachübergreifende Forschungsprojekte in Gang.
Gerade den politischen Entscheidungen müssen künftig vermehrt ganzheitliche Betrachtungen zugrunde
liegen. Als ein Beispiel nenne ich die demographische
Entwicklung: Warum kommen in unserem Land mit seinem nach wie vor sehr hohen Wohlstand immer weniger
Kinder zur Welt? Warum entscheiden sich gerade junge
Akademikerinnen nicht für Kinder und Familie?
({4})
- Wenn Sie das so schnell beurteilen können, dann bewundere ich Ihre Weitsicht.
({5})
Zwei weitere Beispiele: Was bedeuten die Veränderungen in der modernen Arbeitswelt oder die rasante
Heinz Schmitt ({6})
Entwicklung der IuK-Technologien für die Menschen im
Allgemeinen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Speziellen? Gibt es Zusammenhänge zwischen bestimmten Krankheiten und Lebensereignissen
der Menschen? Es gibt Zusammenhänge; diese müssen
aber noch aufbereitet werden.
Ich trete mit Überzeugung für starke Gesellschaftswissenschaften ein, weil, wie wir eben schon gehört haben, gegenwärtig tief greifende Umstrukturierungen in
der Wissenschaftslandschaft und an den Universitäten
stattfinden.
({7})
Auch die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
stehen damit vor neuen Herausforderungen. Es ist uns
deshalb besonders wichtig, diese Disziplinen im Wandlungsprozess zu unterstützen und ihnen auch in Zukunft
einen gebührenden Platz in der Wissenschaftslandschaft
zu sichern.
Die Veränderungen in der Wissenschafts- und Forschungslandschaft dürfen nicht zulasten der Gesellschaftswissenschaften insgesamt gehen. Geistes- und
Sozialwissenschaften brauchen auch in Zukunft unsere
besondere Wertschätzung und müssen weiterhin bei politischen Entscheidungen Berücksichtigung finden.
Mit unserem Antrag haben wir Vorschläge gemacht,
wie dies zu erreichen ist. Frau Flach, Sie haben die
Schwerpunkte aufgezeigt. Ich danke Ihnen herzlich, dass
Sie unseren Antrag so schön wiedergegeben und seine
Schwerpunkte betont haben. Ich bitte Sie alle um Zustimmung zu unserem wichtigen und richtungweisenden
Antrag. Es wäre gut - Zeichen dafür gibt es -, wenn wir
bei diesem Thema parteienübergreifend zusammenkommen könnten.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marion Seib von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Wissenschaftslandschaft in
Deutschland befindet sich im Umbruch; dies wissen wir
alle. Forschungsprojekte, die hohe Drittmittel und eine
schnelle Verwertung versprechen, haben in solchen Zeiten oftmals sehr viel bessere Karten als die langfristigen
Projekte der Geisteswissenschaften. Deshalb stehen die
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften unter einem
enormen Rechtfertigungsdruck.
({0})
Diese Entwicklung kann nicht kommentarlos hingenommen werden. Hier sind wir mit Ihnen allen einer Meinung.
Die Geisteswissenschaften spielen eine zu wichtige
Rolle, als dass sie an den Rand gedrängt werden dürften.
Die geisteswissenschaftlichen Fächer sind in ihrer Breite
und Vielfalt absolut notwendig, um in der Gesellschaft
verantwortungsvolle Debatten über ethische Fragen
führen zu können. Der Streit um das therapeutische Klonen hat eindrucksvoll gezeigt, dass Geisteswissenschaften dort Antworten geben können, wo die Naturwissenschaften schweigen müssen.
({1})
Die Geisteswissenschaften hinterfragen den technischen Fortschritt, bieten Lösungen abseits ausgetretener
Pfade an und entwickeln Visionen, von denen auch die
Naturwissenschaften profitieren. Die Geisteswissenschaften sind aber wie die Naturwissenschaften gefordert, mit den gewaltigen Veränderungen in Wissenschaft
und Forschung Schritt zu halten. Den gegenwärtigen
Prozess der Umgestaltung müssen sie als eine besondere
Chance zum Herausstreichen ihres Stellenwertes begreifen.
Momentan sind die Geisteswissenschaften durch eine
breite Vielfalt eng definierter wissenschaftlicher Spezialdisziplinen geprägt. Die Zersplitterung der Fächer hat
dabei ein oftmals nicht mehr sinnvolles Maß erreicht.
Ein wichtiger Beitrag der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler zur Stärkung ihrer eigenen Disziplinen
muss darin liegen, sich zu vernetzen, interdisziplinär zu
arbeiten und Schwerpunkte zu bilden.
Aufgabe der Politik ist es, darauf zu achten, dass
diese Neuordnung nicht zu einer Schwächung, sondern
zu einer Stärkung der Ressourcen führt. Damit diese
Aufgabe erfolgreich bewältigt werden kann, müssen
Schwerpunkte gesetzt werden. Ein erster Schwerpunkt
liegt in der Betonung des Elitebewusstseins auch und gerade in den Geisteswissenschaften. Hier agieren die betroffenen Wissenschaftler oftmals noch viel zu zaghaft.
Die Naturwissenschaften haben es geschafft, sich in
der Öffentlichkeit als Schrittmacher, als Elite zu positionieren. Gleiches müssen wir bei den Geisteswissenschaften erreichen.
({2})
In Bayern sind die ersten Schritte in diese Richtung bereits mit der Gründung des Elitenetzwerks getan worden.
Hier sind Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
gleichberechtigt mit Natur- und Ingenieurwissenschaften
in einen optimalen Förderrahmen eingebunden. Hier
kann interdisziplinär und überuniversitär geforscht werden.
In Ihrem Antrag haben Sie die Bedeutung des Forschungskollegs für die Profilierung der geisteswissenschaftlichen Forschung hervorgehoben. Gerne werden
wir diesen Ball aufnehmen. Denn Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaftler benötigen derzeit zwei Dinge in
ganz besonderem Maße: Zeit für die Forschung, das
heißt Entlastung von zeitintensiven Prüfungs- und Lehrverpflichtungen, sowie Orte für das grenzüberschreitende, interdisziplinäre Gespräch. Derartige Orte können
wichtige Impulse für weitere Forschungsprojekte geben.
Institute in den Vereinigten Staaten haben dies erfolgreich vorgemacht.
Wir müssen daneben einen öffentlichen Prozess der
Verständigung über die Rolle und die Funktion der
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften anstoßen.
Das Interesse junger Menschen, ein geisteswissenschaftliches Fach zu studieren, ist erfreulich groß. Leider spiegelt sich dieses große Interesse nicht auf dem Arbeitsmarkt aufseiten der Arbeitgeber wider. Für die Mehrheit
der Geisteswissenschaftler gibt es jenseits der Universitäten und Forschungseinrichtungen kaum adäquate Arbeitsmöglichkeiten.
Wenn wir die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stärken wollen, so kommt es gerade jetzt darauf
an, dass die Politologen, Soziologen und Islamwissenschaftler in der Wirtschaft nicht nur als Exoten wahrgenommen werden. Geisteswissenschaftler, die den rauen
Wind der Wirtschaft gespürt haben,
({3})
können dazu beitragen, neue Perspektiven in die Wissenschaft einzubringen. Sie bringen während dieser Zeit
aber auch neue Impulse und Sichtweisen in die Wirtschaft ein.
Die Chancen, dass die Firmen und Wirtschaftsverbände diesem Anliegen Gehör schenken, stehen zurzeit
nicht schlecht. Der Mangel an jungen, gut ausgebildeten
Arbeitnehmern wird in den nächsten Jahren zunehmen.
Die deutsche Wirtschaft wird nicht mehr ausreichend
Betriebswirte und Ingenieure in Deutschland finden. Die
Firmen werden gezwungen sein, in Bereichen wie Marketing, Kommunikationsmanagement und Personalführung stärker als bisher auf die vermeintlichen Exoten
zurückzugreifen, zumal die Geisteswissenschaftler in
besonderem Maße über Fähigkeiten verfügen, auf die es
in Zukunft ganz besonders ankommt, zum Beispiel die
interkulturelle Kommunikationsfähigkeit.
Wenn wir über die Rolle der Geisteswissenschaften
diskutieren, müssen wir aber aufpassen, dass wir nicht in
die Ideologiefalle hineingehen. Ihr Antrag macht dies
deutlich. Zitat:
Gestärkt werden müssen insbesondere die Frauenund Geschlechterforschung, die Friedens- und Konfliktforschung, die Migrations- und Integrationsforschung sowie die Bildungsforschung …
({4})
So wichtig einzelne Aspekte der genannten Gebiete auch
sein mögen, eine einseitige Betonung dieser Bereiche
führt uns bei der Förderung der Geisteswissenschaften
eher in eine Sackgasse als auf eine Autobahn. Hier muss
auch bei Ihnen, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen,
noch ein Umdenkungsprozess einsetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 2007 feiern
wir ein Jahr der Geisteswissenschaften. Bis dahin können wir entscheidende Schritte in die Wege leiten, um
die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften fit zu
machen für den globalen Wissenschaftswettbewerb.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4539 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,
Peter Letzgus, Norbert Barthle, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Internationale sportliche Großveranstaltun-
gen gleichermaßen fördern
- Drucksachen 15/544, 15/4088 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Freitag
Klaus Riegert
Detlef Parr
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
den der Kollegin Dagmar Freitag und des Kollegen Axel
Schäfer von der SPD sowie der Kollegen Klaus Riegert
und Eberhard Gienger von der CDU/CSU, des Kollegen
Winfried Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen und des
Kollegen Detlef Parr von der FDP.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 15/4088 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Internationale sportliche Großveranstaltungen gleichermaßen fördern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 15/544 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Deregulierung aus den Regionen
und zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/4231 ({1})
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/4673 Berichterstattung:
Abgeordneter Walter Hoffmann ({3})
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden von Hubertus Heil, SPD, Dr. Michael Fuchs,
CDU/CSU, Birgit Homburger, FDP,
({4})
und Rezzo Schlauch für die Bundesregierung.1)
Zu diesem Tagesordnungspunkt sind einige Erklärun-
gen nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben wor-
den.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung
von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Deregulierung
aus den Regionen und zur Änderung wohnungsrechtlicher
Vorschriften auf Drucksache 15/4231. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4673, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/4938? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme eines
Änderungsantrags in der zweiten Beratung unmittelbar
in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Mortler, Peter H. Carstensen ({5}), Gerda
1) Anlage 5
2) Anlage 2 und 3
Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Das deutsche Biosiegel erfolgreich umsetzen
- Drucksache 15/4840 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Reinhold Hemker und Gustav Herzog von der SPD, der
Kollegin Marlene Mortler, CDU/CSU, sowie der Kolle-
gen Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, und
Hans-Michael Goldmann, FDP.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4840 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung bestimmter Altforderungen
({7})
- Drucksache 15/4640 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 15/4963 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
sehe gerade, dass viele von Ihnen fluchtartig den Saal
verlassen. Ich hoffe, das hängt nicht mit mir, sondern
eher mit der Materie zusammen.
({0})
Das kann ich verstehen. Wenn es nach mir gegangen
wäre, hätten wir heute Abend nicht zu reden brauchen.
Dass wir das jetzt tun, hängt mit der in einer Demokratie
immer wieder vorkommenden mangelnden Übereinstim-
mung zwischen Opposition und Regierung zusammen,
3) Anlage 6
was ich aber in diesem spezifischen Fall des Altforderungsregelungsgesetzes nicht verstehe.
Es gibt bestimmte Vorwürfe gegen das Altforderungsregelungsgesetz; ich will daher zwei Vorbemerkungen
machen. Ihm wird zum einen vorgeworfen, es befördere
Bürokratie. Das Gegenteil ist der Fall. Durch dieses Gesetz wird die durch das Ausufern langwieriger Rechtsstreite entstehende Bürokratie verhindert. Es wird dem
Gesetz zum anderen vorgeworfen, es bringe zu wenig
Geld in die Kassen des Entschädigungsfonds. Das Gegenteil ist der Fall. Durch dieses Gesetz werden Rückforderungen in zweistelliger Millionenhöhe geradezu
verhindert. Beide Sachverhalte sind vernünftig und sehr
richtig.
Es handelt sich um eine komplizierte Materie. Wir haben im Ausschuss lange darüber geredet. Nur diejenigen,
die sich intensiv damit beschäftigen, haben den Genuss,
richtig in die Thematik hineinzukommen. Das hängt mit
der Materie an sich zusammen.
Wir befinden uns im Entschädigungsrecht auf einem
Rechtsgebiet, in dem der Deutsche Bundestag bereits
1990/1991, als darüber entschieden wurde, aber auch
Anfang der 50er-Jahre bei Entschädigungen in Vermögensfragen infolge von NS-Unrecht einen Weg beschritten hat, auf dem er versuchte, so viel Vermögen wie
möglich zurückzugeben, so viel wie möglich zu entschädigen, ohne gleichzeitig die Rechte Dritter zu tangieren.
Das führt zu ausgesprochen komplizierten Rechtsfragen
und Rechtsentscheidungen.
Wenn man diesen Weg einmal eingeschlagen hat,
dann muss man ihn zu Ende gehen. Das ist auch hier der
Fall. Dann hat man immer wieder einmal - auch
60 Jahre nach den entsprechenden Fällen, die da zu regeln sind - Regelungsbedarf, damit das, was ursprünglich intendiert war, auch tatsächlich umgesetzt werden
kann. Um nichts anderes geht es. Das mag kompliziert
sein. Aber dann redet man eben nachts um 21.30 Uhr
noch einmal darüber; ich bin gerne bereit dazu. Man
lernt ja auch durch dieses Gesetz hinzu. Das ist vielleicht
nicht schlecht. Dann kommt man etwas häufiger in der
Redeliste des Bundestages vor; manche brauchen das.
Worum geht es im Einzelnen? Zwei Punkte sind zu
regeln. Das Gesetz beinhaltet drei Artikel. Art. 1 beschäftigt sich mit der Behandlung von alten Krediten,
bei denen der Kreditgeber in den 50er-Jahren seinen Sitz
in der alten Bundesrepublik hatte. Die entsprechenden
Vermögenswerte, um die es da geht, haben in der damaligen sowjetischen Besatzungszone bzw. in der ehemaligen DDR gelegen. Darum gab es eine Auseinandersetzung vor Gericht. Die hat dazu geführt, dass berechtigte
Entschädigungsforderungen nicht eingeholt werden können. Das regeln wir heute. Das hat im Fachgespräch völlige Übereinstimmung gefunden; da gab es keine Probleme.
Der zweite Fall betrifft das Gebiet der so genannten
fehlgeschlagenen Entschädigungen. Worum geht es
bei fehlgeschlagenen Entschädigungen? Folgender Fall:
Jemand erhält ein altes Grundstück zurück, das er einmal
besessen hat. Gleichzeitig wird er für ein ehemaliges
Unternehmen entschädigt, das nicht mehr existiert.
Wenn jetzt der Wert des Grundstückes eine deutliche
Wertsteigerung erfahren hat, dann ist es völlig legitim,
dass diese Wertsteigerung mit der Entschädigung verrechnet wird. Denn warum soll der Betreffende zum
Schluss Nutznießer des Entschädigungsprozesses sein?
Das zahlt dann nämlich der Steuerzahler, das heißt die
Allgemeinheit. Wenn das eintritt, dann spricht man von
fehlgeschlagener Entschädigung.
Jetzt gibt es dabei noch einen weiteren Punkt; das
macht die spezifische Fallgruppe aus. Die Fachleute haben uns gesagt: Es sind vielleicht 20 Leute, die das insgesamt betrifft. Mehr sind das gar nicht. Deshalb reden
wir heute darüber; das muss aber sein.
({1})
- Ja, das muss sein. Ich habe es am Anfang gesagt, Herr
Kolbe: Wenn wir das nicht machen würden, würden im
Umkehrschluss Forderungen auf Entschädigungen entstehen, die bereits nach dem gleichen Prinzip getätigt
wurden. Da geht es um eine Forderungssumme in zweistelliger Millionenhöhe. Das können wir uns nicht leisten. Das hat auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.
Es geht also auch noch um die fehlgeschlagenen Entschädigungen für den Fall, dass gleichzeitig Altkreditforderungen zu Buche schlagen. Ich will das an dieser
Stelle beenden.
Wir schaffen Rechtsklarheit und weniger Bürokratie.
({2})
Wir verhindern mit diesem Gesetz - ich sage das ganz
klar und deutlich -, dass es zu unendlichen Prozessen
kommt. Wir müssen diesen Weg gehen. Dies ist gerecht.
Es wird keiner begünstigt. Vielmehr muss jeder, der eine
entsprechende Entschädigung bekommt, alte Kredite dagegen aufrechnen. Das ist nur recht und billig so.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Zustimmung.
({3})
Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch
nach Auffassung meiner Fraktion hätte diese Debatte unterbleiben können. Wir wollen dieses Gesetz nicht. Wir
werden dieses Gesetz ablehnen. Herr Kollege Hilsberg,
wir werden sehen, wer zustimmt. Sie werden diesem Gesetz zustimmen. Von uns aus hätte das Ganze unterbleiben können; denn dieses Gesetz ist überflüssig.
({0})
Herr Kollege Hilsberg, es ist nicht in Ordnung, dass Sie
klammheimlich so etwas beschließen wollen. Wenn Sie
schon solch ein Machwerk einbringen, dann müssen Sie
auch in öffentlicher Debatte dazu stehen.
({1})
Worum geht es? Es geht um mehr als 100 Jahre alte
Darlehensforderungen, die hypothekarisch gesichert
sind, also um Darlehensforderungen aus der Kaiserzeit.
Nachdem in diesem Zusammenhang zehn Jahre lang
nichts passiert ist, fällt dem Bundesfinanzminister Eichel
jetzt auf einmal ein, dass hier vielleicht noch einige Hunderttausend, vielleicht auch ein paar Millionen Euro zu
holen sind. Das ist ein Stück aus dem Tollhaus, ein
Schildbürgerstreich, den wir nicht mitmachen, zumal er
Leute trifft, die im Osten investiert haben und keinesfalls
von Grundstückswertsteigerungen profitieren. Herr
Hilsberg, ich weiß nicht, wo Sie leben. Unsere Wahlkreise liegen recht nah beieinander. In meinem Wahlkreis gibt es einen Verfall des Immobilienmarktes und in
Ihrem Wahlkreis, in der brandenburgischen Provinz,
sieht es auch nicht besser aus.
Art. 1 dieses Gesetzes soll die Rechtsinhaberschaft
hinsichtlich dieser Forderungen regeln. Es sind Altdarlehensforderungen, die aus der Kaiserzeit stammen und
die Kreditinstitute in den westlichen Besatzungszonen
gegenüber Unternehmen aus der sowjetischen Besatzungszone hatten. Die Unternehmen im Osten wurden
enteignet. Deshalb gingen die Forderungen ins Leere.
Die Institute haben deswegen im Zuge der Währungsreform von 1948 Ausgleichszahlungen erhalten: Der Bund
hat die entsprechenden Ausgleichsforderungen getilgt
und ist deshalb jetzt Berechtigter. So ist es bisher gewesen und es hätte auch so weitergehen können. Keiner
hätte etwas dagegen.
({2})
Die KfW hat jetzt einen Prozess verloren, bei dem
wegen einer Sonderkonstellation - Unternehmenssitz im
Westsektor Berlins, besichertes Grundstück in BerlinMitte, also im sowjetischen Besatzungssektor - damals
Ausgleichsforderungen fehlerhaft zugewiesen worden
sind, obwohl die Enteignung fehlging. In diesem einen
Sonderfall hat der Bund, der Entschädigungsfonds, nun
verloren. Was machen Sie? Sie legen ein Gesetz vor, um
diesen Sonderfall zu regeln. Ich halte das für ein Musterbeispiel dafür, wie wir als Gesetzgeber nicht handeln
sollten. Wir sind als Gesetzgeber nicht dafür zuständig,
Einzelfallurteile zu korrigieren. So etwas zu tun, hat immer ein Geschmäckle. Ich halte es ferner für überflüssig.
Wir alle beklagen die Gesetzesflut; aber wenn es einmal
konkret wird, handeln wir nicht entsprechend.
({3})
Der von Ihnen eingebrachte Gesetzentwurf greift in
Art. 2 ins Entschädigungsrecht ein, und das mehr als
zehn Jahre, nachdem wir 1994 ein sehr schwieriges Gesetzgebungsverfahren in diesem Bereich nach zwei Vermittlungsverfahren abgeschlossen hatten. Wer damals
dabei war, weiß, dass es eines der schwierigsten Gesetzgebungsverfahren war. Mit Ihrem Gesetzentwurf möchten Sie jetzt einen Anspruch gegenüber dem Grundstückseigentümer bei so genannten fehlgeschlagenen
Anrechnungen begründen, den es bisher bei der Unternehmensrestitution nicht gab.
Sie wissen, es gibt die Singularrestitution nach § 3
Vermögensgesetz. Dort wurde die Grundschuld über den
Ablösebetrag berücksichtigt. Es gibt die Unternehmensrestitution nach § 6 Vermögensgesetz. Bei der Unternehmensrestitution und ebenso bei der Restitution einzelner
Betriebsteile nach § 6 Abs. 6 a Vermögensgesetz kam es
nie zur Eintragung des Ablösebetrages. Vielmehr wurde
die Grundschuld immer nur im Wege der Anrechnung
berücksichtigt. Der Unternehmer bekam einen Entschädigungsbetrag für die Unternehmensteile, die er nicht
zurückbekam, zugesprochen. Den Wert der Grundstücke, die er zurückbekam, musste er sich auf die Entschädigung anrechnen lassen. Da der Wert der Grundstücke in den Jahren 1991 bis 1993 angerechnet wurde
- damals war er hoch -, ist der Entschädigungsfonds
nicht schlecht gefahren. Im Regelfall sind diejenigen
schlecht gefahren, die sich diese Werte anrechnen lassen
mussten. Zusätzlich wurden ehemalige Belastungen angerechnet.
Das Modell ist - so weit, so gut - in Ordnung; nur
kam es teilweise zu so genannten fehlgeschlagenen Anrechnungen, wenn nämlich der Wert der anzurechnenden
Grundstücke und die Belastungen höher waren als die
Entschädigungssumme. Der Gesetzgeber war sich 1994
einig darüber, dass dann der zu zahlende Betrag bei null
bleibt: Derjenige, der die Unternehmensteile zurückbekam, der dort investierte - wir alle wollten, dass 1992,
1993 und 1994 investiert wurde -, musste nichts zahlen,
sondern erhielt einen so genannten Nullbescheid. Darauf
vertraute er. Zehn Jahre lang ist nichts passiert. Auch Ihnen ist 1998 nicht eingefallen, hier etwas zu ändern.
Wir haben diese Gesetze 1994 gemeinsam beschlossen. Jetzt wollen Sie bei den fehlgeschlagenen
Anrechnungen überall dort, wo Sie wegen so genannter
fehlgeschlagener Anrechnungen noch Luft sehen, neue
Ansprüche gegen die Grundstückseigentümer begründen. Das halte ich für verfehlt; denn damit treffen wir
genau die falsche Gruppe: diejenigen - es gibt in Ost
und West Betroffene -, die ihre Grundstücke 1994 nicht
verkauft haben, sondern teilweise unter schwierigsten
Bedingungen investiert haben. Ich sage Ihnen: Wenn wir
pro Bundesland nur einen treffen
({4})
- Sie sagen ja, es handele sich insgesamt um nur 20 bis
25 Fälle -, wenn pro Fall nur zehn Arbeitsplätze verloren gehen, dann war das Ganze ein Schuss in den Ofen.
({5})
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie müssen nicht alles mitmachen, was Ihnen das
Bundesfinanzministerium vorlegt.
({6})
Sie sind als Parlamentarier frei. Denken Sie bitte darüber
nach, ob dieser Gesetzentwurf sinnvoll oder investorenund mittelstandsfeindlich ist. Wenn pro Land nur ein
Unternehmen betroffen ist, war das Gesetz ein Fehlschlag. Das Ganze wird Prozesse, Widersprüche und
rechtliche Gutachten nach sich ziehen.
({7})
Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfs wäre bestenfalls
in einem Sinne wirtschaftsfördernd: als Wirtschaftsförderungsprogramm für Juristen.
({8})
Das ist aber nicht das, was wir im Osten am Notwendigsten brauchen.
({9})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und appelliere an die Vernunft der Mitglieder dieses Hauses.
Danke.
({10})
Die Rede der Kollegin Jutta Krüger-Jacob,
Bündnis 90/Die Grünen, wird zu Protokoll genommen.1)
Damit kommen wir zur Rede des Kollegen Dr. Volker
Wissing von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Finanzministerium muss wirklich Endzeitstimmung
herrschen:
({0})
Die Telekom-Aktien sind verkauft, die Post-Aktien sind
weg und sogar die Sparschweine auf Hans Eichels Tisch
sind geschlachtet. Sie treibt offenbar nur noch eine Frage
um: Wie kommt man an den letzten Cent? Schließlich ist
jemand fündig geworden. Es wurden ein paar offene
Forderungen gefunden, die zum Teil schon über
100 Jahre alt sind. Aber was interessiert das eine Bundesregierung, die auf jeden Cent angewiesen ist?
({1})
Meine Damen und Herren, halten Sie es wirklich für
angemessen, diese alten Forderungen aus dem Schreib-
tisch zu kramen und uns ernsthaft zuzumuten, einen spe-
ziellen Gesetzentwurf zu verabschieden, um sie geltend
machen zu können? Sie von Rot-Grün haben es mit dem
Bürokratieabbau nie wirklich ernst genommen. Was Sie
aber jetzt vorhaben, ist bis ins kleinste Detail ein Parade-
1) Anlage 7
beispiel für Ihre Liebe zur deutschen Bürokratie. Was
diesen Gesetzentwurf betrifft, steht sein Vollzugsaufwand in keinem Verhältnis zu den Einnahmen, die wir
daraus erzielen würden. Im Fachgespräch, das wir in der
vergangenen Woche geführt haben, wurde das eindeutig
bestätigt.
({2})
Ich möchte nicht veranschlagen, was allein die Formulierung des Gesetzentwurfes, die Durchführung der
Anhörung und die Arbeitszeit der damit beschäftigten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gekostet haben.
({3})
Der Präsident des Sächsischen Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen hat Ihnen klar bescheinigt: Unter dem Strich kostet dieses Gesetz mehr, als es
einbringt.
({4})
Ich sage Ihnen voraus: Mit diesem Gesetz schaffen
Sie in Ostdeutschland ohne Not Unfrieden und Unsicherheit. Sie werden damit nichts Positives erreichen.
Allerdings gehen Sie bewusst das Risiko ein, mittelständische Unternehmen in einer schwierigen Zeit hart zu
treffen und dadurch Arbeitsplätze zu gefährden. Dieses
Risiko können Sie nicht mit dem lapidaren Hinweis beiseite schieben, dass das Ministerium, wie uns in der Anhörung gesagt wurde, in Härtefällen ein Stundungsangebot machen wird. Darauf lässt sich die FDP nicht ein.
Wir machen dieses Spiel nicht mit, bei dem ostdeutsche
Mittelständler mit uralten Forderungen überzogen werden und am Ende auf die Großzügigkeit der rot-grünen
Bundesregierung angewiesen sind.
({5})
Der Mittelstand hat es mit Ihnen, meine Damen und
Herren von Rot-Grün, schwer genug. Hören Sie endlich
auf, den Menschen, die in unserem Land anpacken wollen, immer neue Steine in den Weg zu legen. Sie haben
das Ziel einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik längst
verfehlt. Was Sie uns vorlegen, sind kleinkarierte Gesetzentwürfe. Das ist Bürokratieaufbau in Reinkultur.
Sie müssen die finanziellen Probleme, die Sie gegenwärtig haben, lösen. Bringen Sie endlich Ihren Schuldenhaushalt in Ordnung. Ein entschlossener Sparwille
und eine solide Haushaltspolitik würden zur Lösung der
rot-grünen Finanzmisere beitragen. Wenn Sie in Zukunft
eine solide Finanzsituation erreichen wollen, müssen Sie
Ihre Schuldenpolitik beenden. Mit der Geltendmachung
historischer Forderungen kommen Sie nicht weiter. Verschonen Sie uns in Zukunft bitte mit solchen Gesetzentwürfen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Hier ist eben mehrfach die Frage gestellt worden, ob der Bundesgesetzgeber für jeden Einzelfall ein
Gesetz zur Verabschiedung bringen müsse, ob ein Gesetz also notwendig ist. Für einen Einzelfall sicherlich
nicht, Herr Kollege Kolbe. Aber wenn sich beim Vollzug
bestehender gesetzlicher Regelungen herausstellt, dass
etwas nicht funktioniert, dass für bestimmte Fallgruppen
Ungerechtigkeiten entstehen, dann besteht nicht nur die
Möglichkeit, dann ist es die Pflicht des Gesetzgebers,
entsprechend tätig zu werden.
({0})
Genau das ist beim vorliegenden Gesetzentwurf der Fall.
Worum geht es? Der Entwurf, der Ihnen vorliegt, soll
- bei einer in der Tat komplexen Materie - die Geltendmachung von Altforderungen aus der Zeit vor 1945 im
Interesse der Rechtssicherheit einfach, klar und gerecht
regeln. Es geht um vor der Enteignung von Grundstücken im Beitrittsgebiet gesicherte Forderungen von
Kreditinstituten. Die Kreditinstitute wurden wie auch
die landwirtschaftlichen Betriebe, zu denen die Grundstücke gehörten, enteignet. Heute, nach Rückgabe der
Grundstücke, ist unklar, wem die alten, seinerzeit begründeten Forderungen zustehen. Durch diesen Gesetzentwurf wird für bestimmte Fälle klargestellt, dass auch
Forderungen von Kreditinstituten, die in der sowjetischen Besatzungszone als enteignet galten, tatsächlich
aber nicht enteignet werden konnten, heute dem Entschädigungsfonds zustehen. Der Entschädigungsfonds
leistet die Entschädigung für Vermögenswerte, die zwischen der Zeit des Nationalsozialismus und der Wende
im Beitrittsgebiet entzogen wurden und nicht zurückgegeben werden können.
Diese Aktivlegitimation des Entschädigungsfonds
ist im Übrigen auch dadurch gerechtfertigt, dass die Kreditinstitute in der Bundesrepublik bereits früher durch
Gewährung von Ausgleichszahlungen für ihre Forderungen entschädigt worden sind.
({1})
Diese Institute hatten sich seinerzeit im Zusammenhang
damit verpflichtet, ihre diesbezüglichen Forderungen an
den Fiskus abzutreten.
Träfen wir diese Regelung nicht, müsste in einer unbestimmten Zahl von Fällen aufwendig recherchiert werden, ob die besondere Fallkonstellation, wie sie auch der
höchstrichterlichen Rechtsprechung vorgelegt worden
ist - nämlich Belegenheit der Forderung im Westen -,
vorliegt. Bereits geleistete Zahlungen müssten rückabgewickelt, die Forderungen von den Kreditinstituten erneut
geltend gemacht und entsprechende Eingänge dann wieder an die öffentliche Hand abgeführt werden. Dies
würde einen erheblichen Rechercheaufwand und einen
unnötigen Verwaltungsaufwand, unnötige Bürokratie bedeuten. Dem betroffenen Schuldner, der die Verbindlichkeiten einmal eingegangen ist und sie nach wie vor erfüllen muss, letztendlich egal, wer nun sein Gläubiger ist.
Die Regelung, wie wir sie jetzt vorschlagen, ist sachgerecht und systematisch notwendig. Das gilt auch für
Art. 2 des Gesetzentwurfs. Auch hier wird für eine bestimmte Fallgruppe klargestellt, dass ursprüngliche Belastungen, also die heute bestehenden Forderungen, noch
zu erfüllen sind. Es geht um die sachgerechte Entschädigung entzogener landwirtschaftlicher Betriebe, die heute
als solche nicht mehr bestehen und daher nicht mehr zurückgegeben werden können, bei denen aber oft die
Grundstücke zurückgegeben werden können. Dabei werden die alten Verbindlichkeiten grundsätzlich nicht wie
in den übrigen Fällen der Einzelrestitution schon bei der
Rückgabe der Grundstücke berücksichtigt, sondern erst
bei der Entschädigung.
Die vorgeschlagene Regelung entspricht daher der
seit jeher im Entschädigungsgesetz niedergelegten Konzeption. Dort ist eine Anrechnung der Verbindlichkeiten auf die Entschädigung vorgesehen. Diese Anrechnung schlägt aber wegen des übersteigenden Wertes der
zurückgegebenen Grundstücke in vielen Fällen fehl. Die
Berechtigten erhielten also einerseits - das wird von Ihnen infrage gestellt, aber es ist so - wertvolle Grundstücke zurück und andererseits zusätzlich eine Schuldenbefreiung. Diese Personen wären also im Vergleich zu
denjenigen, die nur eine Entschädigung erhielten, bevorteilt.
Daher haben wir die Pflicht wahrgenommen und mit
der Regelung für eine ausgewogene und gerechte Behandlung all dieser Fälle „hoher Grundstückswert niedrige Entschädigung“ gesorgt. Wir haben die erforderliche Klarstellung vorgenommen und auch dafür gesorgt, dass bei der Abwicklung der einzelnen Fälle - es
geht durchschnittlich lediglich um 6 000 Euro - niemand
befürchten muss, dass der von Ihnen so häufig beschriebene Mittelstand substanziell gefährdet wird.
Die Länder sind der Meinung, dass dieses Verfahren
zutreffend und in Ordnung ist. Dies haben auch die
Sachverständigen im Fachgespräch so gesehen. Ich bitte
Sie daher: Schließen Sie sich diesem fachgerechten Votum der Länder und der Sachverständigen an.
Schönen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Peter Jahr von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mein Wortbeitrag zum so genannten Altforderungsregelungsgesetz wird sich mit den Wirkungen auf
restituierte landwirtschaftliche Unternehmen in den
neuen Bundesländern beschäftigen.
Dass auch landwirtschaftliche Betriebe von diesem
Gesetz betroffen sind, ist nicht weiter verwunderlich.
Hier geht es ja im Wesentlichen auch um landwirtschaftliche Schuldverschreibungen. Grund und Boden waren
bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine
bankübliche Sicherheit. Im Übrigen bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie exakt und detailliert verfügbar
diese alten Schuldverschreibungen heute noch in Papierform vorhanden sind. Eine nicht ganz ernst gemeinte
Schlussfolgerung könnte deshalb sein: Gib alle Akten
deiner Bank, da geht nichts verloren, vor allen Dingen
nicht, wenn es sich um das Geld der Bank handelt.
Wenn man etwas genauer hinschaut, wollen Sie mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf zwei Probleme lösen.
Zum einen wird noch einmal eindeutig geklärt, wer nun
eigentlich Eigentümer dieser alten Schuldverschreibungen ist. Eigentlich ist es ganz logisch: Die Banken erhielten in den langen Jahren des Bestehens der Bundesrepublik für die enteigneten Kredite von der
Bundesrepublik Deutschland eine Entschädigung. Damit
gehören die Altforderungen jetzt dem Bund. Gerade weil
es noch Banken geben soll, die das nicht einsehen wollen, ist eine Klarstellung richtig und notwendig. In welcher Form dies geschieht und ob hier eine Verwaltungsvorschrift ausreicht, ist strittig. Wir sind der Meinung,
die bestehende gesetzliche Lage hätte ausgereicht. Diese
Frage hätte man im Ausschuss diskutieren müssen, sie
allein begründet keinen eigenen Gesetzentwurf.
({0})
Der zweite Punkt, um den es geht, ist natürlich auch
logisch und schließt sich an. Was wird nun mit diesen
Schuldverschreibungen? Der Bund ist wild entschlossen,
dieses Geld einzutreiben. Daraus ergeben sich weitere
Fragen: Lohnt der gesetzgeberische Aufwand und was
ist mit dem Vertrauensschutz für die Betroffenen?
Zur ersten Frage. Hier gibt es unterschiedliche Zahlen. Die KfW erwartet Einnahmen in Höhe von etwa
6 Millionen Euro, während andere bereits von
12 Millionen Euro gesprochen haben. Die KfW geht von
1 000 Einzelfällen aus, während Sie von wenigen Einzelfällen gesprochen haben.
({1})
Auch wenn es nur wenige Betroffene sind, wollen Sie
ein neues Gesetz erlassen. Ich erwarte natürlich, dass
Schuldverschreibungen aus der Kaiserzeit dreimal umgerubelt und noch einmal verändert wurden. Hier dürften keine großen Einzelzahlen zu erwarten sein.
({2})
- Sehen Sie. - Wenn das Gesetz erlassen wird, muss dafür ein flächendeckendes Verwaltungsverfahren mit Widerspruchsrecht in Gang gesetzt werden. Es drohen
mehrjährige Prozesse. Das zu erwartende finanzielle Ergebnis rechtfertigt damit in keiner Weise den notwendigen Aufwand.
({3})
Das einzige, was entsteht, sind gut bezahlte Arbeitsplätze in warmen Amtsstuben. Das kann aber nicht unser
Ziel sein. Ich weiß auch nicht, ob das dann bereits
Hartz V ist.
({4})
Zur zweiten Frage, dem Vertrauensschutz. Für die
Betroffenen wird die Zahlungsaufforderung, für einen
Kredit zum Beispiel aus dem Jahre 1901 zu zahlen, wie
ein schlechter Witz klingen. Gerade für landwirtschaftliche Betriebe gilt: Nach der Wende wurde die Hofstelle
in einem erbärmlichen Zustand übernommen. Der ehemalige Vierseitenhof war nur noch in Ansätzen erkennbar. Gerade deshalb lag in den meisten Fällen eine so
genannte fehlgeschlagene Anrechnung vor. Meine Vorredner sind darauf schon eingegangen.
Weil der restituierte Verkehrswert einschließlich der
Hypothek die Entschädigungssumme überstieg, hat der
Gesetzgeber im Jahre 1994 mit dem Hinweis auf die anstehenden Investitionen für Unternehmen auf eine Nachzahlung verzichtet. Ich denke, das war richtig so. Was
damals Recht war, ist heute billig. Ich denke, es wäre
einfach unanständig, die neu gegründeten Unternehmen
heute, nach über zehn Jahren, mit finanziellen Forderungen zu belasten, obwohl man früher zumindest den Eindruck erweckt hat, alle Verbindlichkeiten seien beglichen.
({5})
Wie schlecht muss es dieser Regierung eigentlich gehen, dass sie heute noch Hypotheken von vor dem Ersten
Weltkrieg eintreiben muss? Aus dieser Sicht ist es nicht
ganz unwahrscheinlich, wenn das Eichel-Ministerium
noch weiter recherchiert und vielleicht noch Schuldverschreibungen aus dem Dreißigjährigen Krieg überprüft.
({6})
- Wahrscheinlich sind sie dabei, nachzugucken; denn es
sind sicherlich noch Schuldverschreibungen aus dem
Dreißigjährigen Krieg vorhanden. Das wäre noch eine
Finanzierungsquelle.
Zusammenfassend stelle ich fest: Die CDU/CSUFraktion wird dieses Gesetz aus drei Gründen ablehnen:
Erstens: im Sinne der Klarstellung. Dass die Altverbindlichkeiten dem Bund gehören, ist als Klarstellung regelbar und somit ist kein Gesetz notwendig. Zweitens: im
Sinne des Verwaltungsaufwandes. Wegen einer möglicherweise einzunehmenden Summe von vielleicht 6 Millionen Euro und wegen des unangemessenen Verwaltungsaufwandes ist dieses Gesetz volkswirtschaftlicher
Unsinn.
({7})
Drittens: im Sinne des Vertrauensschutzes.
Ich danke Ihnen, dass Sie zugehört haben.
({8})
Ich sage Ihnen: Uns regt so ein Gesetzentwurf noch auf.
Im Gegensatz zu Ihnen sind wir noch erregbar, was nicht
nur Freude bereitet. Das spricht auch für uns Menschen
in den neuen Bundesländern.
Danke schön.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Altforderungsregelungsgesetzes, Drucksache 15/4640. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4963, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo
Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Abziehbarkeit von Aufwendungen zur Altersvorsorge
- Drucksache 15/4843 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Horst
Schild von der SPD, Klaus-Peter Flosbach von der
CDU/CSU, Christine Scheel1) vom Bündnis 90/Die Grü-
nen und Carl-Ludwig Thiele von der FDP. 2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4843 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
1) Redebeitrag wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt
2) Anlage 8
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Pflanzenschutzgesetzes
- Drucksache 15/4737 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Gustav Herzog, SPD, Dr. Peter Jahr, CDU/CSU,
Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen,
Dr. Christel Happach-Kasan, FDP, und des Parlamenta-
rischen Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4737 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/4736 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen.
Es handelt sich um die Reden der Kollegen Dr. Wilhelm
Priesmeier, SPD, Julia Klöckner und Peter Bleser, CDU/
CSU, Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen,
Hans-Michael Goldmann, FDP, und wiederum des Parla-
mentarischen Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim.4)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4736 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisationsstruktur der Telematik im Gesundheitswesen
- Drucksache 15/4924 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
3) Anlage 9
4) Anlage 10
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Eike
Hovermann und Dr. Carola Reimann von der SPD,
Matthias Sehling, CDU/CSU, Birgitt Bender vom Bünd-
nis 90/Die Grünen und Detlef Parr von der FDP-Frak-
tion.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/4924 an die in der Tagesord-
1) Anlage 11
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Februar 2005,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.