Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen und uns gute Beratungen.
Wir beginnen mit dem Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Olaf
Scholz, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Volker Beck ({0}), Jutta DümpeKrüger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien
- Drucksache 15/4538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Olaf Scholz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor etwas
mehr als 200 Jahren haben die Menschen in Frankreich,
in England und in den späteren Vereinigten Staaten von
Amerika die Demokratie erkämpft und sich für Grundfreiheiten und Grundrechte eingesetzt. Viele der Dinge,
die damals gesehen worden sind, sind noch heute Bestandteil unserer Verfassungsordnung und der Verfassungsprinzipien. Dazu gehört auch und ganz zentral,
dass der Staat niemanden wegen seines Geschlechts, wegen seiner Behinderung, wegen seines Alters, wegen der
sexuellen Identität oder ethnischen Herkunft diskriminieren darf.
({0})
Heute, etwa 200 Jahre später, besteht eine Situation,
in der wir das so selbstverständlich finden, dass wir sagen: Solche Prinzipien sollen nicht nur gelten, wenn es
um die Beziehung zwischen Staat und Bürgern, wenn es
um Abwehrrechte geht, sondern auch dann, wenn es um
die Beziehung von Bürgerinnen und Bürgern, jedenfalls
mächtigeren Bürgerinnen und Bürgern, zu anderen geht.
Das heißt, solche Prinzipien, wie sie unsere Verfassungsordnung mittlerweile für jeden von uns selbstverständlich hat werden lassen, sollen auch im Zivilleben und in
der Zivilgesellschaft gelten.
Das ist die mittelbare Wirkung der Grundrechte, etwas, das wir unterstützen, das aber niemals oder fast nie
unmittelbar durchgesetzt wird; der Gesetzgeber muss
aber auch etwas tun, damit es dazu kommt. Die in manchem Kommentar gern geschriebene und an vielen Stellen wiederholte Behauptung, dass durch unsere Gesetzgebung bereits alles geregelt sei, ist nicht richtig.
Manche künstliche Aufregung wäre nicht erklärbar,
wenn sie richtig wäre. Was wir hier tun, ist also schon etwas Notwendiges.
({1})
Worum geht es? Wir als anständige Bürgerinnen und
Bürger wollen Folgendes einfach nicht mehr hinnehmen:
Eine Gruppe Behinderter hat ein Hotel gebucht, erscheint dort und dann wird ihr gesagt: Ihr könnt hier
nicht sein; wir wollen nicht, dass ihr als behinderte Menschen, als Rollstuhlfahrer die übrigen Gäste stört. - Das
ist die Situation, die unerträglich ist und die wir nicht
mehr hinnehmen wollen.
Redetext
({2})
Meine Damen und Herren, das ist die Situation, die
Sie immer vor Augen haben müssen, wenn Sie das, was
Sie hier vorhaben zu sagen, sagen,
({3})
wenn Sie aufschreiben, was Sie an verschiedenen Stellen
schon aufgeschrieben haben und was Sie auch anderswo
nachlesen können, nämlich dass es uns angeblich darum
gehe, in die Privatbeziehungen der Bürger hineinzugehen.
({4})
Wenn man sich klar macht, was die Gefühle eines behinderten Menschen sind, der dort nicht eingelassen wird,
({5})
dann kommt man zu dem Schluss, dass es zynisch ist,
wenn man liest und hört, dass es ein unangemessenes
Vorgehen des Staates wäre, sich in diese Angelegenheit
einzumischen. Wir wollen uns einmischen - im Sinne
des Anstands, den wir hier in diesem Land zu vertreten
haben.
({6})
Es ist auch so, dass wir ein sehr pragmatisches Gesetz
gemacht haben. Das wichtigste Kennzeichen für den
Pragmatismus, den wir in diesem Gesetz haben walten
lassen,
({7})
ist, dass man sich ohne besondere Lektüre dieses Gesetzes gesetzeskonform verhalten kann.
({8})
Wer so ist, wie wir alle sein wollen - trotz Ihrer Aufregung glaube ich, dass Sie persönlich etwas für das Gesetz übrig haben - und wie ein anständiger Bürger sein
sollte, der wird mit diesem Gesetz keine Probleme haben
und braucht auch keinen Rechtsanwalt.
({9})
Es ist auch nicht notwendig, dass jetzt viele Unternehmen die teuren Seminare besuchen, die überall angeboten werden: „Wie bereite ich mich auf das Antidiskriminierungsgesetz vor?“ Das ist verschwendetes Geld; das
sollten die sparen.
({10})
Wer sich schon angemeldet hat, sollte sich wieder abmelden. Das ist nicht notwendig. Wenn Sie einen
Rechtsanwalt gefunden haben, der sagt, man müsse vorsorgen und dokumentieren - was man überhaupt nicht
muss -,
({11})
dann sollten Sie ihn auf Schadenersatz verklagen, weil er
Sie falsch beraten hat. Das ist die Situation.
({12})
Ich glaube, dass wir uns in einer rechtlichen Kultur
befinden, die man folgendermaßen beschreiben kann:
Verbandsvertreter, Rechtsanwälte und alle, die einen beraten - auch Politiker -, handeln ganz marktwirtschaftlich: Wenn man laut schreit, gibt es mehr Geld. Sicherlich hat die Tatsache, dass wir unseren Gesetzentwurf
vor Weihnachten vorgestellt haben, auch dazu beigetragen, dass mancher Verbandsvertreter mehr an die Weihnachtsprämie und an die Zusatzvergütung gedacht hat,
als er gesagt hat: Ihr müsst noch einmal Geld an meinen
Verband überweisen, weil ich euch vor etwas warnen
muss. Das war aber falsch und nicht notwendig.
({13})
Insofern, glaube ich, ist hier eine angemessene Betrachtung angebracht.
Das beliebteste Beispiel zu diesem Thema - ich will
es gerne aufgreifen; jeder darf dabei etwas Falsches sagen und sich dennoch gut fühlen - ist immer wieder - in
verschiedenen Varianten falsch nacherzählt -, dass jemand, der sich um eine Wohnung beworben und sie
nicht bekommen habe, nur behaupten müsse, er werde
diskriminiert, weil er homosexuell sei; schon müsse der
Vermieter beweisen, dass das Gegenteil der Fall sei. Das
ist grober Unfug. Das steht nicht im Gesetz. Das Gesetz
wird auch niemals so ausgelegt werden können. Aber all
die, die das immer wieder behaupten, leben davon, dass
sie auf lauter Leute treffen, die erst einmal annehmen:
Ein Abgeordneter lügt nicht.
({14})
Diese Leute denken sich: Wenn er das sagt, wird das
wohl so im Gesetz stehen. - Es steht aber nicht im Gesetz. Deshalb sage ich Ihnen: Das werden Sie im Gesetz
nicht finden.
({15})
Damit Sie es nicht so leicht haben, haben wir uns bei
der Gesetzgebung einen ganz wichtigen Schritt überlegt.
Wir haben nämlich gesagt: In der Frage der Beweiserleichterung, die uns die EU in vielen Fällen vorgeschrieben hat und die wir auch gerne umsetzen wollen,
greifen wir das auf, was wir schon in unserer Rechtsordnung haben. In § 611 a BGB steht, dass es eine Beweiserleichterung gibt, wenn jemand im Arbeitsleben wegen
seines Geschlechts diskriminiert worden ist. Das ist eine
pragmatische Regelung, bei der man all die unwahren,
schrillen Töne abtesten kann, die jetzt erklungen sind. Es
gab wegen dieses Paragraphen nämlich keine Prozessflut. Es hat auch keine Dokumentationspflichten und
keinen strukturellen Missbrauch wegen dieser Regelung
gegeben. Ja, am Anfang haben sich fünf naseweise
männliche Jurastudenten auf Frauenjobs beworben, in
der Hoffnung, dass jemand sagt: Ich nehme keine Männer. Das hat halb geklappt, halb nicht. Nun hat die
Rechtsprechung das klargestellt. Sie können jedenfalls
an wenigen Händen abzählen, wie viele Verfahren es zu
diesem Thema gibt. Dann wissen Sie, dass es einfach die
Unwahrheit ist, zu sagen, hier drohe Bürokratie und hier
drohe eine Prozessflut. Das ist nichts weiter als Propaganda, die keine Rechtfertigung in diesem Gesetzesvorhaben hat.
({16})
Die letzte der beliebten falschen Behauptungen lautet,
wir gingen hier unglaublich über die Vorgaben der Europäischen Union hinaus. Zunächst einmal ist dazu zu sagen: Wir machen das Gesetz nicht, weil die EU uns dazu
zwingt, sondern deshalb, weil wir das für richtig halten.
Wir bekennen uns zu dem, was wir da machen.
({17})
Es ist auch richtig, dass es mittlerweile vier Richtlinien
gibt, die wir umsetzen müssen. Aber jeder, der den Satz
sagt oder schreibt, wir gingen über die Vorgaben hinaus,
hofft, dass ihn keiner fragt, was er eigentlich damit
meint. Denn dann müsste man antworten, dass damit
nicht gemeint ist, wir gingen bei der Ausgestaltung der
Rechte zu weit, etwa in Bezug auf Beweiserleichterung,
in Bezug auf die Unterstützung durch Antidiskriminierungsverbände oder in Bezug auf ähnliche Dinge - diese
sind ja vorgeschrieben; das sollen wir machen -, sondern
dass wir in dem Punkt darüber hinausgehen, dass wir
zum Beispiel Menschen mit Behinderungen einbeziehen. Wenn Sie der Meinung sind, wir sollten für die
Menschen mit Behinderungen nichts tun, dann sagen Sie
das auch, statt sich auf einen so abstrakten, nicht hinterfragbaren Satz wie den zurückzuziehen, wir gingen über
die Vorgaben hinaus.
({18})
Herr Kollege Scholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ich bin zwar fast am Ende meiner Rede, aber bitte.
Herr Scholz, vielleicht sind Sie gleich mit Ihrem Latein am Ende, wenn Sie auf meine Frage antworten sollen. Ich frage Sie, ob es richtig ist, dass Sie die Richtlinie
2000/78/EG vom 27. November 2000 nicht, wie die EU
es vorgeschrieben hat, bis zum Dezember 2003 umgesetzt haben. Sie sagten, dass Sie die Vorgaben der EU
gar nicht brauchten; aber bis 2003 haben Sie gar nichts
gemacht.
({0})
Es war fast ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig.
Vielleicht können Sie sich einmal dazu äußern.
Ich bedanke mich für Ihre Frage.
({0})
Es ist in der Tat so, dass mittlerweile eine ganze Reihe
von Richtlinien, die umgesetzt werden müssen, aufgelaufen ist, und manche davon hätten schon umgesetzt
sein müssen. Das ist gar nicht zu bestreiten.
({1})
Ein wenig müssen Sie sich - ich weiß nicht, wie Sie sich
hier einlassen wollen - oder wenigstens die Vertreter Ihrer Partei und von der Union schon darauf verständigen,
was Sie sagen wollen. Wollen Sie sagen, wir gingen zu
weit, oder wollen Sie sagen, wir seien nicht rechtzeitig
genug fertig geworden? Beides ist nicht dasselbe.
({2})
Deshalb will ich Ihnen gerne sagen, dass wir das sehr
bewusst so gemacht haben. Manchmal ist es nämlich so,
dass eine längere Beratungszeit dazu beiträgt, dass man
einen umfassenden und sorgfältig abgewogenen Gesetzentwurf zustande bringt, so wie wir es jetzt geschafft haben.
({3})
Deshalb glaube ich, dass sich die lange Beratungszeit in
einem guten Ergebnis niedergeschlagen hat.
({4})
Letzte Bemerkung: Wir hielten es für richtig, auf der
Ebene der Zivilgesellschaft und des Privatrechts zu bleiben.
({5})
Wir haben uns das, was die französischen konservativen
Juristen im Rechtsausschuss vorgetragen haben, nicht zu
Eigen gemacht. Diese haben vorgeschlagen, eine hohe
Behörde einzurichten, die in alle Privatbeziehungen intervenieren kann, und das Strafrecht zu verschärfen. Wir
haben gesagt, die Menschen sollen das untereinander regeln. Dabei helfen wir ihnen. Das ist ein Fortschritt für
dieses Land.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Maria Eichhorn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Scholz, wir sind zwar in der Faschingszeit, aber dieses
Gesetz ist so weit reichend, dass es es verdient hätte,
sich ernsthaft mit ihm auseinander zu setzen. Das werden wir tun.
({0})
Meine Damen und Herren, vor dem Gesetz sind alle
Menschen gleich. Art. 3 unseres Grundgesetzes und verschiedene Vorschriften schützen die Bürgerinnen und
Bürger vor Benachteiligungen aufgrund bestimmter
Merkmale wie Geschlecht, Abstammung, Religion, Behinderung usw. Dieses unbestrittene Grundrechtsprinzip
hat Konsequenzen: Einer Frau darf nicht deshalb ein Arbeitsplatz verweigert werden, weil sie eine Frau ist. Wie
lässt sich dieses nachweisen? Steht dem nicht das Prinzip der Vertragsfreiheit entgegen? Es sollte doch jeder
Verträge abschließen können, mit wem er will.
Die Umsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinien
durch das vorliegende Gesetz gibt der Politik der Antidiskriminierung in Deutschland einen völlig neuen Stellenwert. Der Gesetzentwurf geht weit über die von der
EU vorgeschriebenen notwendigen Regelungen hinaus.
({1})
Das gilt sowohl für die Diskriminierungstatbestände als
auch für die betroffenen Rechtsgebiete. Die EU verlangt
nur ein zivilrechtliches Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse und der ethnischen Herkunft.
({2})
Mit der Ausweitung der Diskriminierungstatbestände
auf Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter,
sexuelle Identität und Geschlecht verfolgen Sie eine bestimmte Ideologie
({3})
und ändern die Wertmaßstäbe.
({4})
Es drängt sich die Frage auf, ob das Ziel wirklich die Beseitigung von Diskriminierung ist oder bereits der Schritt
zur Bevorzugung von Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Merkmalen.
({5})
Diese Frage muss erlaubt sein.
So sucht man den Schutz der Familie bei den geschützten Gruppen vergeblich.
({6})
Sie bildet unverändert auch heute noch die Basis unserer
Gesellschaft und die Basis der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme. Es stellt sich daher die Frage,
ob nicht auch gesellschaftliche Gruppen ohne politische
und weltanschauliche Extrempositionen den Schutz unserer Gesellschaft verdienen.
({7})
Das Gesetz bringt weit gehende Einschnitte im arbeitsrechtlichen Bereich mit analoger Anwendung auf
Beamte. Im Zivilrecht sind das Versicherungs- und das
Mietrecht besonders betroffen. So schaffen Sie zusätzliche Bürokratie und sorgen für eine noch stärkere Überregulierung unserer Gesellschaft.
({8})
Kleine und mittelständische Betriebe werden besonders
darunter leiden. Das Gesetz ist ein Arbeitsplatzverhinderungsgesetz,
({9})
und das bei einer Rekordzahl von 4,4 Millionen Arbeitslosen. Das ist unverantwortlich.
({10})
Mit der Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle, die beim Familienministerium vorgesehen ist,
geht der Gesetzentwurf ebenfalls über die EU-Richtlinien hinaus. Diese Richtlinien sehen eine solche Stelle
nur für die Benachteiligung wegen Rasse, ethnischer
Herkunft und Geschlecht vor. Zusätzliche Bürokratie
entsteht bei dieser Stelle durch die detaillierte Regelung
der Rechtstellung des Leiters und durch einen 16-köpfigen Beirat, der Anspruch auf umfangreiche Geldleistungen hat.
Eine der Hauptaufgaben dieser Stelle ist die Öffentlichkeitsarbeit, und das für schätzungsweise 5,6 Millionen Euro jährlich. Aber bei unserer hervorragenden
Haushaltslage sind das ja nur Peanuts.
Wenn man die eigentlichen Aufgaben der Stelle nachliest, stellt sich zugleich die Frage nach der Wirksamkeit
dieser Einrichtung. Erfahrungen mit der Ombudsmannstelle in Schweden zeigen jedoch, dass diese Stelle
zwar vermittelt, aber faktisch nichts durchsetzen kann.
Also viel Wind, aber kein Erfolg.
({11})
Was ist Diskriminierung? Diskriminieren bedeutet
herabsetzen, herabwürdigen. Eine Rollstuhlfahrerin berichtet, ein Hotelbetreiber, der nach seinen eigenen Worten über einen barrierefreien Zugang verfügt und auch
Zimmer anbietet, die für Rollstuhlbenutzer geeignet
sind, habe ihr mitgeteilt, dass er nicht gerne Zimmer an
Rollstuhlfahrer vermiete. Weiter sagte er zu der daraufhin sprachlosen Frau, nebenan gebe es ein Altenheim;
sie solle doch dort nachfragen, ob ein Zimmer zur Anmietung frei sei.
({12})
Behinderte erfahren ebenso Diskriminierungen zum
Beispiel bei Reisen, bei Veranstaltungen, in der Gastronomie, beim Abschluss von Versicherungsverträgen.
Dies wurde bei einem Werkstattgespräch der CDU/CSUFraktion im Oktober bestätigt.
({13})
Diese Diskriminierungen müssen wir aufdecken und für
Abhilfe sorgen.
({14})
Die Behindertenverbände haben zum vorliegenden Gesetzentwurf bereits Verbesserungsvorschläge gemacht.
Diese werden wir aufgreifen und im Gesetzgebungsverfahren wohlwollend prüfen.
Ich will einen weiteren Fall schildern. Einem 70-jährigen Bankkunden wurde mit Hinweis auf sein Alter der
Dispositionskredit gekündigt, obwohl sich seine Vermögensverhältnisse nicht geändert hatten. Auch Jüngere
sind von Diskriminierung betroffen. Über 50-Jährige
- das wissen wir - haben kaum noch Chancen auf dem
Arbeitsmarkt.
({15})
Trotz aller Gleichstellungsbemühungen seit Jahrzehnten fließt das Merkmal „Geschlecht“ in die Bewertungspraxis der Arbeit, die überwiegend von Frauen verrichtet
wird, immer noch mit ein.
({16})
Frauenarbeit wird systematisch unterbewertet. Selbstverständlich gilt der Rechtsanspruch „gleiches Entgelt
für gleichwertige Arbeit“. Doch gibt es andere Möglichkeiten, Frauen- und Männerarbeit unterschiedlich zu bezahlen. Das gilt auch bei höherem Ausbildungsniveau.
So lag der durchschnittliche Nettoverdienst im
Jahre 2002 bei Männern in höheren Positionen bei
2 454 Euro und bei Frauen in gleicher Position bei
durchschnittlich nur 1 626 Euro.
Wir sind uns einig: Auch hier gibt es noch viel zu tun.
({17})
Aber gibt das Antidiskriminierungsgesetz darauf die
richtige Antwort? Das ist die Frage.
({18})
Die unklaren Definitionen im Gesetzentwurf werfen
viele Fragen auf. Die Formulierungen sind vielfach weder rechtlich noch fachlich durchdacht. Rechtsanwälte
und Gerichte können sich über viel zusätzliche Arbeit
freuen. Wer meint, diskriminiert worden zu sein, braucht
diesen Verdacht nur noch glaubhaft zu machen. Der Beschuldigte muss dann vor Gericht seine Unschuld beweisen. Dies führt zu langen und schwierigen Gerichtsverhandlungen.
Ein Vermieter wird danach künftig nachweisen müssen, dass er einen Mieter abgelehnt hat, weil er an seiner
Zahlungsfähigkeit zweifelt, und nicht etwa deswegen,
weil er zum Beispiel eine dunkle Hautfarbe hat. Die
Beweislastumkehr wird für viele zur Diskriminierungsfalle.
({19})
Das zeigen Erfahrungen in den USA und in Großbritannien.
Bereits in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass
Regelungen, die eigentlich schützen sollten, kontraproduktiv waren. Ich erinnere nur an die von Ihnen eingeführte gesetzliche Regelung zur Teilzeitarbeit.
Meine Damen und Herren, das Ziel des vorliegenden
Gesetzentwurfes, bestimmte Personenkreise umfassend
zu schützen, mag vielleicht juristisch erreicht werden. Es
ist jedoch äußerst zweifelhaft, ob der Schutz dieser Personen tatsächlich erreicht werden kann. Hinzu kommt,
dass das Risiko von Schadensersatzansprüchen dazu
führen kann, dass der Kontakt mit den Geschützten von
vornherein vermieden wird. So sagt der Haus- und
Grundbesitzerverein: Die geplanten gesetzlichen Veränderungen im Bereich des Mietrechts helfen nicht den geschützten Personen, sondern erschweren die Integration
von Minderheiten. Andere wiederum, die wie der Deutsche Juristinnenbund das Gesetz begrüßen, stellen fest,
dass die Verbesserungen gering ausfallen.
({20})
Nikolaus Piper warnt in einem Kommentar der „SZ“
vom 1. Dezember 2004 - Herr Scholz, die „Süddeutsche
Zeitung“ ist ja keine Zeitung, die Ihnen schlecht gesonnen ist - vor einer überzogenen Antidiskriminierungspolitik, die in eine Falle gerate. Ich zitiere:
Das gut Gemeinte richtet sich in der Überdosis gegen das eigentlich verfolgte Ziel. Nicht der Erfolg
der potenziell Diskriminierten ist das Ergebnis, sondern die ökonomische und gesellschaftliche Lähmung.
({21})
Er fährt fort:
Die Bundesregierung wäre gut beraten, die von
Brüssel verordnete Politik so behutsam wie möglich umzusetzen.
({22})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beitrag der Union lässt mich - das muss ich Ihnen gestehen - etwas ratlos zurück.
({0})
Man sollte sich schon entscheiden, ob man, wie es manche, insbesondere die betroffenen Verbände, tun, kritisieren will, dass man noch mehr hätte machen können und
wir nicht weit genug gegangen seien, oder ob man kritisieren will, dass wir viel zu weit gegangen seien. Da
sollte man sich schon entscheiden.
({1})
Die Tatsache aber, dass es in beide Richtungen Kritik
an unserem Gesetzentwurf gibt, zeigt, dass wir einen
ausgewogenen Kompromiss
({2})
zwischen einerseits einem wirksamen Diskriminierungsschutz und andererseits keiner unnötigen Belastung der
Wirtschaft und der Anbieter von Dienstleistungen gefunden haben.
Ziel dieses Gesetzes ist es, jedem Bürger und jeder
Bürgerin in unserem Land einen gleichberechtigten Zugang zum Markt, zum Handel mit Waren und Dienstleistungen und zum Arbeitsmarkt, zu verschaffen. Ziel dieses Gesetzes ist es nicht, den Bürgerinnen und Bürgern
vorzuschreiben, wie sie zu denken haben.
({3})
Ein gleichberechtigter Zugang zum Markt gewinnt in
Zeiten, in denen sich der Staat aus immer mehr Bereichen zurückzieht und das Angebot privaten Trägern
überlässt, zunehmend an Bedeutung. Wer heute keinen
gleichberechtigten Zugang zu Waren und Dienstleistungen und zum Arbeitsmarkt hat, hat keine Chance, sich in
dieser Gesellschaft frei zu entfalten und sich selbstverantwortlich zu engagieren, wie wir es aber bei der
Agenda 2010 von den Menschen erwarten. Deshalb ist
das, was wir mit diesem Gesetz bewirken wollen, nur
fair.
Man muss die Dinge auch zu Ende denken, Frau Kollegin Eichhorn. Es ist richtig: In diesem Gesetzentwurf
steht nicht das Verbot der Diskriminierung aufgrund des
Familienstandes. Würden wir dies aber in das Gesetz
aufnehmen, handelten wir mit Zitronen. Dann dürfte
nämlich niemand mehr Ehepaare und Familien bevorzugen, sie würden den Sanktionen dieses Gesetzes unterliegen.
({4})
Wir respektieren den verfassungsrechtlichen Schutz
von Ehe und Familie. Wir haben mit Interesse zur
Kenntnis genommen, dass dies offensichtlich nicht mehr
der Frauenpolitik der Union entspricht.
({5})
In der Tat gehen wir mit diesem Gesetz an einer Stelle
deutlich über das uns von der EU Vorgeschriebene hinaus: Wir wollen die Diskriminierung im Zivilrecht
nicht nur hinsichtlich Rasse, ethnischer Herkunft und,
wie wir dies neuerdings tun müssen, Geschlecht untersagen. Man soll auch Behinderte, alte Menschen, religiöse
Minderheiten wie Juden und Muslime sowie Homosexuelle nicht diskriminieren dürfen; das scheint Sie,
wenn ich das richtig vernommen habe, am meisten zu
stören.
Ich kann mir angesichts unserer Geschichte - wir
werden jetzt den 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus begehen - schlichtweg nicht vorstellen, dass
wir in Deutschland ein Antidiskriminierungsgesetz verabschieden, nach dem Behinderte und Juden nicht vor
Diskriminierung geschützt werden.
({6})
Die Werteordnung des Grundgesetzes erteilt der Diskriminierung und der Ausgrenzung aufgrund bestimmter
Persönlichkeitsmerkmale eine klare Absage. Das ist in
Art. 3 des Grundgesetzes geregelt. Art. 3 des Grundgesetzes bindet aber unmittelbar nur den Staat und seine
Organe. Das heißt: Der Staat darf den Bürger nicht diskriminieren. Wir wollen aber, dass die Bürger die gleichen Möglichkeiten haben, wenn es zum Beispiel darum
geht, Versicherungsverträge abzuschließen oder eine
Volker Beck ({7})
Wohnung zu mieten, und nicht aufgrund bestimmter
Merkmale, zum Beispiel weil sie zu alt sind, weil sie
eine Frau oder eben ein Mann sind, weil sie schwul oder
heterosexuell sind oder weil sie behindert sind, davon
ausgeschlossen sind. Wir wollen jedem die gleichen
Chancen und Möglichkeiten eröffnen.
Was ist heute Realität? Es ist zwar nicht flächendeckend der Fall, kommt aber immer wieder vor, dass
Frauen höhere Tarife bei Kranken- und Lebensversicherungen zahlen. Homosexuellen werden Lebensversicherungsverträge pauschal verweigert. Menschen nicht
deutscher Herkunft, Schwule und Lesben sowie Behinderte erfahren vergleichbare Diskriminierungen im Gastronomiebereich. Solche Leute will man nicht bedienen,
man will sie dort nicht haben. Ausländisch aussehenden
jungen Männern wird der Zugang zu einer Diskothek
verweigert. Behinderte Menschen werden oft in einem
Ferienhotel nicht aufgenommen, weil man unterstellt, sie
würden die anderen Gäste stören. Das wollen wir abstellen. Bislang ist dies durch unsere Rechtsprechung gedeckt. Es gibt Gerichtsurteile, nach denen der Wert der
Leistung eines Reiseveranstalters gemindert werden
kann, wenn Behinderte am Nebentisch ihre Mahlzeit
einnehmen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Sie können
doch nicht wollen, dass das so bleibt.
({8})
Besonders gravierend sind die Benachteiligungen im
Arbeitsleben, bei der Einstellung, beim beruflichen Aufstieg, bei den Arbeitsbedingungen und bei der Entlohnung. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass das abgestellt wird.
Lassen Sie mich kurz zum Schluss kommen.
Möchten Sie, bevor Sie zum Schluss kommen, eine
Zwischenfrage zulassen?
Aber selbstverständlich.
Der Kollege Scheuer hatte sich gemeldet. Bitte schön.
Herr Kollege Beck, Sie malen hier das Bild von einer
Gesellschaft in Deutschland, die voller diskriminierter
Gruppen und voller ekliger verschiedener Auffassungen
ist. Sind Sie allen Ernstes der Meinung, dass in Deutschland solch eine Gesellschaft voller Diskriminierung,
Neid und Hass vorherrscht?
Ich bin der Meinung, dass ich die Gesellschaft richtig
beschrieben habe und dass sie nicht voller Diskriminierung ist. Ich habe das eben in meiner Rede ausgeführt:
Solche Diskriminierungen kommen nicht flächendeckend vor, aber in bestimmten Bereichen immer wieder.
Kürzlich lief bei RTL eine Fernsehsendung, in der
zehn Versicherer befragt wurden, wie sie es mit Lebensversicherungen für Homosexuelle, die eine eingetragene Partnerschaft haben, halten. Das Ergebnis war:
Lebensversicherungen und Krankenversicherungen verweigern einen Vertrag, weil sie Homosexuelle offensichtlich für krank halten und deshalb ein höheres Risiko befürchten.
Wenn Sie einmal unsere Frauenpolitiker fragen, wie
die Konditionen für Versicherungsverträge aussehen,
dann werden sie Ihnen sagen, dass Frauen bei Verträgen
im Bereich der Lebensversicherung einfach überall mehr
zahlen als Männer. - Sie bleiben bitte stehen, bis ich Ihre
Frage beantwortet habe, Herr Scheuer. Wenn man eine
Frage stellt, muss man die Antwort aushalten. Das ist
unsere Regel hier.
({0})
Gibt es dafür, dass Frauen mehr zahlen als Männer, einen guten Grund? Wir wissen aus versicherungsmathematischen Berechnungen, dass es andere Kriterien gibt,
die für den Schadensverlauf und für das Risiko des Versicherers wesentlich relevanter sind.
Wir werden mit diesem Gesetz dafür sorgen, dass
Versicherer in Zukunft nur aufgrund von versicherungsmathematischen Kriterien unterschiedliche Tarife ausloben können. - Sie wollen nicht mehr lernen, deshalb erspare ich Ihnen den Rest. Bitte setzen Sie sich, Herr
Kollege!
({1})
Geschlechtergerechtigkeit und der Ausbau des Diskriminierungsschutzes sind keine Luxusartikel, sondern
notwendige Zutaten einer wirksamen Modernisierungspolitik. International kann keine Volkswirtschaft bestehen, die nur nach Altvätersitte geführt wird. Im Zeitalter
der Globalisierung ist die Anerkennung von Diversity
ein wichtiges Element für wirtschaftlichen Erfolg. Niemand hat die Illusion, dass Diskriminierung nun per
Knopfdruck über Nacht verschwindet. Ein Antidiskriminierungsgesetz ist aber ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal der Integration: ein Signal für das ernsthafte
Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit und ein Signal
gegen die Herabwürdigung und Ausgrenzung von Menschen, weil sie anders sind. Es wäre schön, wenn wir wenigstens darüber einer Meinung wären.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zu Beginn meiner Rede hier sehr deutlich und unmissverständlich sagen: Die FDP-Bundestagsfraktion
wendet sich wie schon bisher auch heute und in der Zukunft mit aller Entschiedenheit gegen Diskriminierung
und Intoleranz.
({0})
Wir treten dafür ein, bestehende Diskriminierungen zu
beseitigen und die Rechte von Minderheiten zu stärken.
Wir wollen die gleichen Rechte und auch die gleichen
Chancen für alle Menschen,
({1})
und das unabhängig von ihrer Rasse, ihrer ethnischen
Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion, ihrer Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer
sexuellen Identität.
({2})
Die FDP-Bundestagsfraktion steht auch für EU-Vertragstreue. Herr Kollege Beck, für uns folgt daraus unzweifelhaft, dass die geltenden EU-Antidiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht umzusetzen sind,
und zwar in einer Weise, die sicherstellt, dass die mit den
Richtlinien verbundenen Zielsetzungen erreicht werden.
Dabei fangen wir übrigens nicht bei null an; denn schon
bisher tragen viele Vorschriften unseres deutschen
Rechts dazu bei, Diskriminierung und Benachteiligung
zu verhindern und Chancengleichheit zu fördern.
({3})
Ich denke, die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert mit
Recht, dass die Bundesregierung ihrer Verpflichtung zur
Umsetzung der Richtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG
nicht rechtzeitig nachgekommen und erst nach Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens tätig geworden ist. Das steht doch in klarem Widerspruch dazu, dass
Sie, Herr Scholz, und Sie, Herr Beck, sich hier hinstellen
und sagen: Das ist uns ein wichtiges Anliegen. - Wenn
ich heute hier auf die Regierungsbank schaue, muss ich
feststellen: Nicht ein Minister Ihrer Regierung ist hier
vertreten! Das zeigt, wie ernst und wie wichtig Sie dieses Thema nehmen.
({4})
Wahrscheinlich sind Frau Renate Schmidt und Frau
Zypries gerade noch dabei, sich über die Zuständigkeit
zu streiten; sonst wären sie möglicherweise hierher gekommen. Die Besetzung der Regierungsbank ist ein
Skandal, Herr Beck.
({5})
Die FDP-Bundestagsfraktion - Herr Beck, das sage
ich, um Gemeinsamkeiten festzuhalten - will, dass die
geltenden EU-Antidiskriminierungsrichtlinien umgehend umgesetzt werden,
({6})
und zwar nicht nur diejenigen, die überfällig sind, weil
ihre Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist, sondern
auch die Richtlinien, deren Umsetzungsfrist noch läuft.
Es macht aus unserer Sicht keinen Sinn, jetzt nur das
Überfällige zu erledigen und in einem Jahr oder in zwei
Jahren wieder anzufangen.
({7})
Wir sagen Ja zur Umsetzung der Richtlinien aus einem
Guss.
({8})
Die FDP-Bundestagsfraktion - Herr Beck, das unterscheidet uns; ich bitte Sie, jetzt zuzuhören - will eine
Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinien - nicht weniger, aber auch nicht mehr.
({9})
Wir lehnen den Gesetzentwurf der Koalition ab, weil er
nach unserer Auffassung - das will ich in der Folge beleuchten - weit über die EU-Richtlinien hinausgeht. Dieser Gesetzentwurf ist für uns ein erneuter Ausdruck der
rot-grünen Staatsgläubigkeit. Er atmet den Geist der
Gutmenschen, die den widerspenstigen Bürger mit der
Keule des Gesetzes Mores lehren wollen.
({10})
Aber wir meinen: Der Abbau von Diskriminierungen
lässt sich nicht - jedenfalls nicht allein - per Gesetz verordnen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wir brauchen eine Veränderung des Bewusstseins, keine
Prozessflut; denn damit wäre niemandem, der diskriminiert wird, geholfen. Was wir brauchen und entwickeln
müssen, ist eine Kultur des Miteinanders, in der Diskriminierung und Vorurteile geächtet und Vielfalt und
Unterschiedlichkeit akzeptiert und toleriert werden.
({11})
- Ich will Ihnen ja sagen, was unserer Meinung nach getan werden kann und soll.
Bei der Umsetzung der Richtlinien muss man eines
sehen:
({12})
Nicht alles, was im Hinblick auf die EU-Richtlinien neu
zu regeln ist, muss in einem eigenen Gesetz geregelt
werden.
({13})
Wir glauben zum Beispiel, dass der zivilrechtliche Regelungsteil der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien - sowohl aus rechtssystematischer Sicht als auch um für die
Bürger die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des
Rechtssystems zu erhalten und zu vergrößern - besser
im BGB als in einem Antidiskriminierungsgesetz enthalten sein sollte.
({14})
- Herr Beck, am Schluss meiner Rede mache ich Ihnen
ein Angebot.
({15})
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den von der Koalition vorgelegten Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes insbesondere aufgrund folgender Regelungen des
Gesetzentwurfs ab:
({16})
Die nach § 24 des Entwurfs vorgesehene Unterstützung
durch Antidiskriminierungsverbände und die Ermöglichung der Abtretung der Forderung Benachteiligter auf
Schadensersatz oder Entschädigung in Geld an diese
Verbände führt zu einem modernen Ablasshandel in Sachen Antidiskriminierung.
({17})
Es mag sein - ich bin mir sogar sicher -, dass hier ein
neuer, blühender Wirtschaftszweig einstehen würde und
dass es in Antidiskriminierungsverbänden und in der
Folge auch in Rechtsanwaltskanzleien und bei Gerichten
zu Beschäftigungswundern käme. Aber die Wirkung der
Regelungen des § 24 auf weite Bereiche unseres Alltagsund Wirtschaftslebens wäre verheerend. Hier - das muss
man sagen - schütten Sie das Kind mit dem Bade aus.
Unsere Zustimmung bekommen Sie für diese Regelung
nicht.
({18})
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Umkehr der Beweislast geht nach unserer bisherigen Einschätzung zu
weit. Sie öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Hier müssen im Hinblick auf die im deutschen Rechtssystem ansonsten geltende Unschuldsvermutung die in den Richtlinien vorgesehenen Spielräume bei der Anpassung des
nationalen Rechts genutzt werden.
Mit dem § 18 des Gesetzentwurfs werden den Gewerkschaften neue Rechte im Betrieb zugewiesen. Dieser Vorschrift zufolge sollen sie, wenn ich das richtig
lese, quasi als arbeitsrechtlicher Antidiskriminierungsverband auch ohne den Willen oder die Zustimmung eines Benachteiligten tätig werden und vor Gericht Rechte
geltend machen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen - wahrscheinlich insbesondere von der SPD -, das
mag ja als ein Stärkungsmittel für die an Mitgliederschwund leidenden Gewerkschaften gedacht sein, ist
aber weder erforderlich noch sachgerecht.
({19})
Die Schaffung einer neuen Antidiskriminierungsstelle als eigener Behörde mit umfassendem bürokratischen Apparat und Stellenkegel ist wahrscheinlich der
Beitrag der Grünen zum Antidiskriminierungsgesetz.
Hier wird erneut - ich will sagen: ziemlich hemmungslos - die grüne Klientel bedient.
({20})
Frau Schewe-Gerigk hat, wie es heute Morgen in einer
Tickermeldung hieß, gesagt, dass sich die Grünen noch
mehr Stellen gewünscht hätten. Auch diese Aussage
spricht Bände.
Wir meinen, die EU-Richtlinien machen diese Bürokratie nicht erforderlich. Stattdessen wäre nach unserer
Auffassung die inhaltliche Stärkung der auch schon bisher vorhandenen Beauftragten sinnvoll; Frau Beck und
Herr Haack sind ja heute Morgen hier oder waren zumindest hier. Eventuell auftretende Lücken hinsichtlich
der nach EU-Recht notwendigen Kompetenzen und Zielgruppen können durch eine Stelle im Bundesministerium
für Familie, Frauen, Senioren und Jugend geschlossen
werden.
({21})
Aber wir brauchen kein neues bürokratisches Monstrum,
keine neue Behörde.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, will
ich an Sie appellieren - Herr Kollege Beck, wenn Sie
mir freundlicherweise Ihre Aufmerksamkeit schenken
würden -: Es wäre schön, wenn es gelingen könnte, für
das wichtige Vorhaben der Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien einen breiten Konsens in
diesem Hause herzustellen.
({22})
Wir sind dazu bereit, bisher wollen Sie das aber offensichtlich nicht. Jedenfalls ist der Entwurf, den Sie, ohne
auch nur ansatzweise Rücksprache mit der Opposition
zu halten, vorgelegt haben, hierfür keine Basis. Das ist
bedauerlich, weil wir in der Vergangenheit bei ähnlichen
Vorhaben, etwa bei der Verbesserung der Rechte behinderter Menschen, einen solchen Konsens immer haben
herstellen können.
({23})
Deswegen meine Bitte, bei den jetzt anstehenden
Ausschussberatungen den Versuch dazu zu unternehmen - auf der Basis des jetzt gültigen Rechts wird unsere Zustimmung zum ADG jedenfalls nicht möglich
sein.
Danke schön.
({24})
Ich hätte die Redezeit des Kollegen Kolb ja allzu gern
durch eine Zwischenfrage verlängert. Der Wunsch nach
einer Zwischenfrage hätte aber rechtzeitig angezeigt
werden müssen.
({0})
- Um Gottes Willen, diese Anregung habe ich nicht einmal gehört.
Nun hat die Kollegin Christel Humme für die SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich freue mich von ganzem Herzen, dass es uns gelungen ist - nach zähem Ringen; das gebe ich zu -, heute
endlich ein Antidiskriminierungsgesetz in der ersten Lesung im Bundestag zu haben. Ich danke beiden Fraktionen und allen Beteiligten recht herzlich dafür.
({0})
Denn ich weiß ganz genau, dass dieses Antidiskriminierungsgesetz von den Betroffenen wirklich sehr ungeduldig erwartet worden ist. Leider zeigt ein Blick in die
Wirklichkeit - Frau Eichhorn, Sie haben das ja schon
durch viele Beispiele beschrieben -, dass dieses Antidiskriminierungsgesetz dringender denn je vonnöten ist.
Erst im letzten Jahr wurde eine Studie von Professor
Heitmeyer von der Universität Bielefeld veröffentlicht,
die bestätigt hat, dass wir es in unserer Gesellschaft zunehmend mit Fremdenfeindlichkeit zu tun haben. Was
uns fehlt, ist eine Antidiskriminierungskultur, wie sie
in angelsächsischen Ländern und auch in nordeuropäischen Ländern in den letzten 30 bis 50 Jahren zu einer
Selbstverständlichkeit entwickelt worden ist. Darum
- das sage ich Ihnen ganz offen - habe ich überhaupt
kein Verständnis dafür, dass Sie, meine Herren und Damen von der Opposition, mit so einer Vehemenz und mit
viel Polemik gegen unser Gesetz agieren.
({1})
Denn Schutz vor Diskriminierung sollte unsere gemeinsame Aufgabe sein. Diesem Schutz haben wir uns verpflichtet - Sie in Ihrer Regierungszeit auch -: In den
letzten 50 Jahren haben wir die verschiedensten völkerrechtlichen Übereinkommen ratifiziert. Wir haben damit
den Schutz vor Diskriminierung als allgemeines Menschenrecht anerkannt und zu einem zentralen Wert unserer Gesellschaft gemacht. Auf der Grundlage internationaler Verpflichtungen haben wir Gott sei Dank schon
viele Vorschriften zur Antidiskriminierung entwickelt.
Die Richtlinien gehen aber darüber hinaus: Einen umfassenden arbeits-, sozial- und zivilrechtlichen Schutz,
wie ihn die europäischen Richtlinien jetzt vorschreiben,
gibt es bei uns in Deutschland noch nicht. Diesen schaffen wir jetzt mit diesem Antidiskriminierungsgesetz. Wir
wollen, dass es Diskriminierung wegen des Geschlechts,
der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, der sexuellen Identität, des Alters und der Behinderung künftig nicht mehr gibt. Dazu setzen wir die Richtlinien im Arbeitsrecht eins zu eins um. Im Zivilrecht
gehen wir über die Richtlinien hinaus: Wir nehmen die
Behinderung als Merkmal hinzu.
Ich frage Sie: Wollen Sie denn allen Ernstes, dass in
Zukunft ein Mensch mit Behinderung und weißer Hautfarbe weniger geschützt ist als ein Mensch mit Behinderung und dunkler Hautfarbe? Das wäre die Konsequenz
Ihres Vorschlages!
({2})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich habe gestern
mit Erstaunen in der „Welt“ gelesen, die Arbeitgeber
fühlen sich durch unser Antidiskriminierungsgesetz diskriminiert.
({3})
Diese Arbeitgeber sagen, wir brauchten kein neues Gesetz, unsere gesetzlichen Regelungen seien ausreichend.
Genau diese Arbeitgeber frage ich, warum Frauen - Frau
Eichhorn hat das bestätigt - für eine gleichwertige Arbeit heute noch immer im Durchschnitt 30 Prozent weniger Gehalt bekommen als Männer. Im europäischen Vergleich ist das übrigens ein Negativrekord. Warum
verdienen Frauen weniger, haben aber höhere Aufwendungen für die Kranken- und Rentenversicherung? Warum müssen Frauen aufgrund der Tatsache, dass sie Kinder bekommen, noch immer Benachteiligungen am
Arbeitsplatz befürchten?
Ich frage die Arbeitgeber, die so argumentieren, weiter: Wie erklären Sie den Menschen, die über 50 Jahre
alt sind, dass sie allein aufgrund ihres Lebensalters und
völlig unabhängig von ihrem Können, ihrer Erfahrung
und ihrer Einsatzbereitschaft aus dem Arbeitsleben ausgegrenzt werden? Welche Begründung geben Sie den
Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe als nicht
deutsch wahrgenommen werden und denen die Teilnahme am öffentlichen Leben - in Discos und Kneipen,
bei der Wohnungssuche, bei Auswahl- und Bewerbungsgesprächen - allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe erschwert wird? Ich denke, diese
Beispiele machen deutlich, dass wir unserer Verantwortung, die Menschen vor Diskriminierung zu schützen,
noch nicht ausreichend gerecht geworden sind.
Kritiker - vor allen Dingen Sie von der Opposition warnen davor, dass Unternehmen durch eine Klageflut,
durch Bürokratie und durch Verwaltungsaufwand belastet würden. Ich halte das für Horrorszenarien und vorgeschobene Argumente.
({4})
Ich möchte das anhand eines Beispiels belegen.
Am vergangenen Dienstag hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eine Veranstaltung zum Antidiskriminierungsgesetz durchgeführt.
Ziel war es natürlich, das Antidiskriminierungsgesetz in
wesentlichen Punkten zu kritisieren. Erstaunlich dabei
war, dass am Nachmittag, als die eingeladenen Unternehmer zu Wort kamen und ihr Unternehmenskonzept
vorstellten, ganz schnell klar wurde, dass sie sich vor
dem Gesetz nicht fürchten. Gerade die mittelständische
Industrie ist im Großen und Ganzen sehr gut vorbereitet;
denn viele Unternehmer haben bereits heute erkannt,
dass es ihnen auch ökonomisch nützt, wenn sie dazu beitragen, ein tolerantes, offenes und familienfreundliches
Arbeitsklima mit dem Blick auf Vielfalt zu schaffen.
Kurzum: Wer eine Personalpolitik betreibt, die den Pluspunkt Vielfalt in der Personalstruktur erkennt, der wird
bereits präventiv Benachteiligungen verhindern.
Lassen Sie uns das ganze Gesetz ein wenig unaufgeregter diskutieren. Ich glaube zwar, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit auf der einen Seite viel Diskriminierung widerspiegelt, auf der anderen Seite gibt es in
ihr aber bereits Entwicklungen, die sehr weit über das hinausgehen, was wir hier diskutieren. Es geht um Schutz
vor Diskriminierung. Dieses Ziel erreichen wir mit unserem Gesetz, wenn es nicht mehr zu Klagen und Schadensersatzprozessen kommt. Optimal wäre es deshalb,
wenn sich Arbeitgeber und Tarifparteien bereits im Vorfeld für Antidiskriminierung einsetzen würden, wie es
im Gesetz ja auch vorgesehen ist.
An dieser Stelle sage ich aber auch sehr deutlich:
Funktioniert das im Vorfeld, also präventiv, nicht, dann
nützt den Benachteiligten ein Gesetz als Papiertiger
überhaupt nichts.
({5})
In Konfliktsituationen brauchen sie Hilfe und Beistand
durch Verbände, um ihre Rechte durchzusetzen. Ich
denke, das ist von großer Bedeutung; denn Personen, die
sich, allein auf sich gestellt, gegen eine Benachteiligung
wehren müssen, schrecken zunächst einmal vor einer
Durchsetzung ihrer Rechte zurück, weil sie wiederum
persönliche Benachteiligungen erfahren bzw. befürchten. Das hat die jetzige Praxis gezeigt.
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist - das sage
ich hier noch einmal ganz deutlich -, mit dem Gesetz
auch die Verbände zu stärken, die sich seit Jahrzehnten
in verantwortungsbewusster und beeindruckender Weise
für die Verhinderung und Beseitigung von Diskriminierung eingesetzt haben. Diesen Verbänden, die die Diskussion des Antidiskriminierungsgesetzes positiv begleitet haben, sage ich auch an dieser Stelle noch einmal
herzlichen Dank.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zu einem wichtigen Baustein des Gesetzes kommen, nämlich der Einrichtung der nationalen Gleichstellungsstelle. Ich halte
diese Stelle wirklich für den wichtigsten Baustein; denn
dort werden die Betroffenen nicht nur beraten, sondern
dort wird auch Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Herr
Scheuer, Sie haben vorhin gesagt, dass unsere Gesellschaft umdenken muss und dass wir eine Antidiskriminierungskultur benötigen. Nur diese Stelle kann das erreichen. Dieser Stelle wird ein Beirat zugeordnet, in dem
Nichtregierungsorganisationen zusammen mit den Tarifparteien vertreten sind. Dadurch haben die Tarifparteien
Einflussmöglichkeiten und die Chance - das werden wir
mit dieser Stelle bewirken -, präventive Streitschlichtung zu erreichen. Darum geht es.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben es in
der Hand. Die Gleichbehandlung aller Menschen muss
selbstverständlich sein. Damit dies selbstverständlich
wird, brauchen wir dieses Gesetz.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort KarlJosef Laumann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass wir einvernehmlich der Debatte vorwegstellen dürfen, dass die Diskriminierung eines Menschen
wegen äußerer Merkmale oder Veranlagung für einen
anständigen Menschen schlicht und ergreifend etwas
Unanständiges ist.
({0})
Gerade für uns Unionsabgeordnete hängt das zutiefst
mit unserem christlichen Menschenbild zusammen;
denn das christliche Menschenbild ist immer von der unverletzbaren Würde eines jeden Menschen ausgegangen
und hat im Übrigen immer ein sehr tolerantes Menschenbild vertreten. Das wird es auch in Zukunft tun.
({1})
Ich halte es für völlig richtig, dass sich eine Gesellschaft Regeln gibt, die allen deutlich machen, dass Diskriminierung schlecht ist und geahndet werden muss. Ich
habe also im Grundsatz nichts gegen ein Antidiskriminierungsgesetz. Uns liegt heute ein Gesetzentwurf vor,
mit dem wieder einmal EU-Recht umgesetzt wird. Wir
wissen, dass Brüssel gerne und viel regelt. Das ist auch
hier passiert.
Es liegen uns drei EU-Richtlinien vor, die die Diskriminierung wegen des Geschlechtes, die Diskriminierung
wegen Rasse und ethnischer Herkunft und die Diskriminierung wegen Religion, Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexueller Ausrichtung verbieten und sanktionieren. Diese Richtlinien betreffen überwiegend den
Bereich des Arbeitsrechtes, also das Verhältnis zwischen
Arbeitgeber und Beschäftigten. Die Richtlinie zur Nichtdiskriminierung wegen Rasse und ethnischer Herkunft
betrifft darüber hinaus auch den zivil- und sozialrechtlichen Bereich. In einem vereinten Europa, in dem die nationalen Grenzen immer mehr an Gewicht verlieren, ist
es richtig und im Interesse aller, einheitliche Regelungen
festzuschreiben. Trotzdem betreffen die drei EU-Richtlinien Deutschland in anderer Weise als andere Länder.
So kennen zum Beispiel der angloamerikanische, aber
auch der skandinavische Rechtsraum kaum Arbeitnehmerschutzrechte. Sie haben den Arbeitnehmerschutz vorwiegend über Antidiskriminierungsgesetze
geregelt. Was hier bei uns passiert, ist, dass wir im
Grunde unserer Rechtstradition eines ausgeprägten Arbeitnehmerschutzes die Antidiskriminierungsgesetze an
die Seite stellen, die teilweise den gleichen Sachverhalt
regeln. Da haben jetzt die Arbeitgeber - das kann ich
auch nachvollziehen - das Gefühl, von zwei Rechtsräumen eingeschränkt zu werden. Ich finde, das hätten Sie
schlicht und ergreifend bedenken müssen.
({2})
Was ziehe ich daraus für eine Schlussfolgerung?
Wenn unsere Rechtstradition nun einmal so ist, dass sie
Schutzrechte vorsieht, dann hätten Sie bei der Umsetzung der EU-Richtlinie darauf achten müssen, dass Sie
sie restriktiv umsetzen. Dass die EU-Richtlinie umgesetzt wird, ist in Ordnung. Aber Sie hätten nicht über den
Standard der EU-Richtlinie hinausgehen müssen.
({3})
- Dazu komme ich gleich.
Ein weiterer Tatbestand: So wie die Bundesregierung
das EU-Recht umsetzen will, befürchte ich, dass sich das
Zusammenleben in den Betrieben in Deutschland verändern wird. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel. Ein vorsichtiger Arbeitgeber wird in Zukunft bei Einstellungen
immer darauf achten, sich an formale, objektiv nachweisbare Kriterien zu halten.
({4})
Das sind - das ist auch die Einstellungspraxis des öffentlichen Dienstes - vor allen Dingen Zeugnisnoten und
Benotungen von Abschlüssen. Auf der anderen Seite
wissen wir doch auch, dass bei jeder Einstellung neben
den Noten die Sympathie, Empfehlungen und die Frage,
ob der Bewerber ins Team passt, wichtig sind. Dieses
Gesetz wird in Wahrheit dazu führen, dass diejenigen,
die gemessen an den objektiven Kriterien vielleicht nicht
so gute Bewerbungsunterlagen haben, aber durch ihre
Persönlichkeit einiges wettmachen könnten, bei denjenigen, die jetzt nur noch formal entscheiden, den Kürzeren
ziehen. Glauben Sie bloß nicht, dass diese Regelung für
alle nur gut ist.
({5})
Der Mensch ist mehr als die Summe formaler Kriterien.
Er ist vielmehr - das wissen wir alle - auch eine Persönlichkeit. Ich finde, sie darf dabei nicht auf der Strecke
bleiben. Letzten Endes können Kriterien wie Persönlichkeit, Sympathie und Teamfähigkeit vor Gericht nicht so
eindeutig nachgewiesen werden wie Examensnoten,
Schulnoten oder Noten von Gesellenbriefen.
({6})
Deswegen geht damit ein gutes Stück Menschlichkeit in
der Arbeitswelt verloren.
({7})
Es gibt noch einen weiteren Punkt. Natürlich sieht die
EU-Richtlinie vor, dass Diskriminierung geahndet werden muss. Aber es wäre richtig gewesen, wenn wir, wie
es bisher in Deutschland in § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches geregelt ist, die Höhe des Schadenersatzanspruchs begrenzt hätten, damit das kalkulierbar ist.
({8})
Die unbegrenzte Höhe des Schadenersatzes schreibt die
EU-Richtlinie nicht zwingend vor.
({9})
Sie hätten sich an dem § 611 a orientieren und damit
mehr Kalkulierbarkeit und Rechtssicherheit in den Arbeitsbeziehungen erreichen können.
Ich will ein anderes Beispiel nennen. Ich meine die so
genannten Abmahnvereine. Sie wissen, dass ich immer
dafür war, dass Verbände ihre Mitglieder vor Gericht
vertreten können. Ich habe es immer für richtig gehalten,
dass Gewerkschaften, Behindertenverbände oder der
VdK ihre Klientel vor Sozialgerichten oder Verwaltungsgerichten in ihren sozialen Angelegenheiten vertreten, weil ich weiß, dass viele kleine Leute nicht vor Gericht gehen würden, wenn sie das Prozessrisiko tragen
müssten. Es ist völlig in Ordnung, dass das über einen
Beitrag beispielsweise zum VdK geschieht. Ich habe
auch nichts dagegen, dass Antidiskriminierungsverbände die Vertretung ihrer Leute vor Gericht übernehmen. Was aber machen Sie? Sie haben die neue Idee,
dass ein Mensch einem Verband seinen Schadenersatzanspruch abtreten kann, der Verband diesen Anspruch
vor Gericht geltend macht und unter Umständen das
Geld oder Teile des Geldes behält, das als Schadenersatz gezahlt wird. Das ist gegenüber dem bisherigen
Zustand eine ganz andere Qualität.
({10})
Damit tun Sie sich keinen Gefallen. Viele Antidiskriminierungsverbände werden in Zukunft geradezu für
Fälle werben. Sie werden medienwirksam Prozesse führen, um weitere Fälle zu finden. Sie werden sich daran
auch noch bereichern. Ich verstehe nicht, was an dieser
Politik sozial sein soll.
({11})
Ich befürchte, dass Sie auch noch auf die Idee kommen,
das Klagerecht im Sozialrecht und im Verwaltungsrecht
für den VdK und andere in dieser Weise zu ändern.
({12})
Sie sollten sich wegen dieser Denke wirklich schämen,
weil Sie das Kind mit dem Bade ausschütten.
({13})
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen. Die EURichtlinie sieht auch nicht die Haftung der Arbeitgeber
wegen des diskriminierenden Verhaltens Dritter vor.
({14})
In Ihrem Gesetzentwurf ist sie aber enthalten. Das hätten
Sie nicht zu tun brauchen. Unterstellt, in eine Bank, in
der viele weibliche Mitarbeiter beschäftigt sind, kommt
ein muslimischer Mitbürger - das ist ein sehr realer Fall,
den ich jetzt beschreibe -, der sich in Geldangelegenheiten nicht von einer Frau beraten lässt. Es ist völlig klar,
dass das eine Diskriminierung ist. Das ist nicht in Ordnung. Da sind wir uns völlig einig. Aber was soll jetzt
der arme Arbeitgeber machen? Er könnte die Frau auf
einen Arbeitsplatz ohne Kundenkontakt versetzen und
einen Mann mit ihrer Aufgabe betrauen, damit das Problem für diesen Kundenbereich - diese Kunden will man
ja behalten - gelöst wird. Wenn die Frau aber mit dieser
Versetzung nicht einverstanden ist und der Kunde sein
Verhalten nicht ändert, ist der Arbeitgeber dafür haftbar.
Er kann aber für diese Situation nichts. Es ist doch geradezu irrsinnig und weltfremd, was Sie hier vorschlagen.
Dafür werden wir Ihnen unsere Hand nicht reichen können.
({15})
Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf sehr deutlich
macht, dass Rot-Grün von unserer Gesellschaft ein völlig anderes Bild hat als wir von der Unionsfraktion und
wahrscheinlich auch die FDP-Fraktion.
({16})
Dieses Bild beruht auf der Vorstellung, dass man alles
bis in die letzte Kleinigkeit durch Gesetze regeln und
strafbewehren muss.
({17})
Das würde bedeuten, dass man den Menschen nicht
mehr traut.
Wir hingegen trauen den Menschen zunächst einmal
und setzen auf wenige Regelungen und Grundsätze, die
durchschaubar sind. Machen Sie sich klar, dass es bei
diesen Fragen nicht in jedem Punkt der Keule des Gesetzes bedarf! Das hat sich schon in der Vergangenheit gezeigt. Erforderlich ist vielmehr die Zivilcourage der
Menschen, die sich einmischen, wenn sie Diskriminierungen beobachten, und deutlich machen, dass ein solches Verhalten zu weit geht. Das ist viel wirksamer.
({18})
Wir trauen den Menschen in Deutschland etwas zu.
Wir wollen keinen Staat, der in jeden Lebensbereich hineinplant und mit der Gesetzeskeule kommt. Wir haben
Vertrauen zu unseren Bürgern und deswegen können wir
es uns auch erlauben, in vielen Punkten auf staatliche
Eingriffe zu verzichten. Das unterscheidet uns sehr von
Rot-Grün.
Schönen Dank.
({19})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Laumann, Sie haben sich heute nicht gerade als Vorsitzender des Arbeitnehmerflügels geoutet.
({0})
Es waren die Grünen, die vor 20 Jahren als erste ein
Antidiskriminierungsgesetz vorgelegt haben, das den
Schutz vor Ungleichbehandlung von Frauen zum Ziel
hatte. Heute beraten wir ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz,
({1})
das alle Diskriminierungsmerkmale erfasst und sowohl
für das Arbeits- als auch für das Zivilrecht gilt.
Ich frage Sie, Herr Laumann, welchen Sinn es machen soll, wenn man Frauen vor Diskriminierung
schützt, aber behinderte Menschen nicht.
({2})
- Weil das im Zivilrecht nicht zwingend vorgeschrieben
ist. Wir machen ein Gesetz, das Diskriminierung und
Ausgrenzung aufgrund bestimmter Persönlichkeitsmerkmale eine klare Absage erteilt. Es ist ein Gesetz mit
Augenmaß, das nicht jegliches unterschiedliches Handeln verbietet, sondern Differenzierung zulässt, wenn es
dafür eine sachliche Begründung gibt. Ich nenne nur die
Stichwörter Jugendtarife, Seniorenteller und Frauensauna. All dies wird noch möglich sein. Trotzdem
macht der von uns eingebrachte Gesetzentwurf deutlich,
dass Privatautonomie da endet, wo andere Menschen
diskriminiert werden. Das Gesetz wird zur Modernisierung der Gesellschaft beitragen.
Ich frage mich, was der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände und CDU-Abgeordnete Göhner - leider ist er heute nicht anwesend, aber wir wissen ja, dass
er sein Abgeordnetenmandat als Nebentätigkeit betreibt;
wenn es um die eigenen Angelegenheiten geht, kann
man wohl nicht immer hier sein - mit seinen Horrorszenarien über das Gesetz beabsichtigt. Ich halte das,
was in diesem Zusammenhang betrieben wird, für eine
ganz miese Stimmungsmache.
({3})
Selbstverständlich ist auch mit Klagen zu rechnen.
Blieben diese aus, dann wäre ein solches Gesetz gar
nicht notwendig; dann hätten wir uns die Arbeit sparen
können. Aber von einer Klagewelle zu sprechen soll nur
die Menschen im Lande verunsichern.
Gerade für die Geschlechtergerechtigkeit ist das Antidiskriminierungsgesetz ein wichtiger Baustein. Darum
war uns Grünen der horizontale Ansatz - das heißt, dass
alle Diskriminierungsmerkmale erfasst werden - besonders wichtig. Denn gerade Frauen sind häufig von Mehrfachdiskriminierung betroffen. Frauen mit Migrationshintergrund oder Behinderung sowie ältere Frauen
tragen das höchste Risiko, auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt zu werden.
Das schon bestehende arbeitsrechtliche Verbot der
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts werden
wir jetzt erweitern. Vor Benachteiligung im Arbeitsleben, bei der Einstellung, dem beruflichen Aufstieg, den
Arbeitsbedingungen, aber auch bei der Entlohnung, gibt
es jetzt einen wirksamen Schutz. Dieser ist gerade bei
der Entlohnung notwendig; denn heute, im
21. Jahrhundert, verdienen Frauen im Durchschnitt immer noch 30 Prozent weniger als Männer. Ich finde, es
ist an der Zeit, dies zu beenden.
({4})
Bei einem groben Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot können jetzt der Betriebsrat oder eine im
Betrieb vertretene Gewerkschaft vom Arbeitgeber verlangen, die Benachteiligung zu unterbinden. Das ist doch
wohl eine Selbstverständlichkeit. Anderenfalls können
sie auch dagegen klagen.
Das Benachteiligungsverbot gilt nun auch für privatrechtliche Versicherungen aller Art. Unisextarife werden damit zwar noch nicht automatisch durchgesetzt,
wenn Versicherungsunternehmen aber wegen des Geschlechts differenzieren, unterliegen sie einer gesteigerten Darlegungspflicht. Künftig können auch Frauenverbände benachteiligte Personen in zivilrechtlichen
Verfahren unterstützen oder eine Abtretung verlangen.
Von großer Bedeutung ist für uns die Einrichtung
einer Antidiskriminierungsstelle. Frau Eichhorn, Sie
haben gesagt, das alles sei aufgeblasen. Wir haben jedenfalls die bestehenden Strukturen mit den Behindertenbeauftragten und den Integrationsbeauftragten genutzt, damit das Modell möglichst klein bleibt.
30 Personen für das gesamte Bundesgebiet sind sicherlich nicht zu viel. Alle Opfer von Diskriminierung werden dort eine Anlaufstelle haben.
Wichtig ist uns Grünen auch ein wirksamer Schutz
vor Altersdiskriminierung. Frau Eichhorn, das haben
Sie ebenfalls aufgegriffen. Obwohl Sie vorhin Beispiele
für die Diskriminierung alter Menschen genannt haben,
wenden Sie sich gegen unser Gesetz. Sie sollten sich entscheiden, welche Linie Sie verfolgen wollen. Gerade bei
der Altersdiskriminierung belegt Deutschland einen
traurigen Spitzenplatz. 60 Prozent der Betriebe beschäftigen keine über 50-jährigen Menschen mehr. Ich finde,
das können wir nicht länger hinnehmen.
({5})
Für mich ist das Entscheidende an dem Gesetz der
Perspektivwechsel. Bisher waren Diskriminierte Opfer
und Bittsteller. Nun sind sie es nicht mehr. Sie können
mithilfe des Gesetzes ihre Rechte einfordern und durchsetzen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich möchte
nur noch darauf hinweisen, dass 2005 nicht nur das
Einstein-Jahr, sondern auch - das wird oft vergessen das Schiller-Jahr ist. Da wir in diesem Jahr den
200. Todestag Schillers begehen, haben wir darüber
nachgedacht, ob es nicht sinnvoll ist, einige seiner Zitate
hier im Bundestag zu verwenden.
({6})
- Nein, es ist ganz kurz. - Ich finde, zu unserer heutigen
Debatte passt nach 20-jähriger Diskussion über ein Antidiskriminierungsgesetz folgendes Schiller-Zitat ganz
gut: „Der Worte sind genug gewechselt, nun lasset Taten
folgen.“
({7})
- Doch, das ist das Original.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich habe keinen Zweifel, dass uns der gute Schiller in
diesem Jahr noch sehr oft begleiten wird.
({0})
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ich weise nur vorsichtshalber darauf hin, dass das innerhalb der Redezeit erfolgen sollte.
({1})
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
PDS im Bundestag begrüßt, dass endlich der Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes zur Beratung vorliegt;
denn ein solches Gesetz ist überfällig. Der Anspruch auf
Schutz vor Diskriminierung ergibt sich aus Art. 1 des
Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, und zwar die Würde jedes Menschen, und
aus Art. 3 des Grundgesetzes, wonach alle Menschen
vor dem Gesetz gleich sind. Der Anspruch auf rechtlichen Schutz ergibt sich aber vor allem aus dem täglichen Leben. Denn es gibt vielfach Diskriminierungen im
Alltag und im Arbeitsleben: Diskriminierung von
Frauen, Migranten, Juden sowie Menschen mit Behinderungen. Man könnte diese Liste ohne weiteres fortsetzen.
Wir begrüßen ebenfalls, dass SPD und Bündnis 90/
Die Grünen den umfassenden Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes vorgelegt haben. Das war nicht immer so beabsichtigt, obwohl es die PDS ständig gefordert hat. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht die
Ahndung von Diskriminierungen wegen der ethnischen
Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität vor. Diesem komplexen Ansatz stimmen wir zu, allemal weil es bereits hinreichend
Widerspruch dagegen gibt, und zwar nicht nur aus der
Wirtschaft.
({0})
Unsere grundsätzliche Zustimmung gilt dem Anliegen und dem Ansatz, nicht aber allen Details und vorgeschlagenen Lösungen. Der Entwurf lässt zum Beispiel
zu viele und zu vage formulierte Ausnahmen zu. Wir haben außerdem Fragen zur Berechnung und zur Wirksamkeit der Sanktionen, wenn wider das Gesetz diskriminiert wird. Wir haben des Weiteren Diskussionsbedarf
hinsichtlich der Ausgestaltung und der Arbeitsweise der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Darüber sollten
wir in den kommenden Wochen im Interesse der Menschen, deren Würde im Alltag durch das Gesetz geschützt werden soll, sachlich streiten.
Die PDS ist jedenfalls bereit, den Gesetzentwurf zu
verbessern. Deshalb werden wir uns zugleich gegen alle
Versuche wenden, den Entwurf zu verwässern.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Renate Gradistanac für
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich beginne nicht mit Schiller, sondern mit
Kant:
Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen
Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.
Das ist ein hartes Wort. Aber wir alle wissen, wie es ist,
wenn wir ungerecht behandelt werden, und wie sensibel
wir reagieren, wenn wir das Gefühl haben, einer Benachteiligung oder einer Diskriminierung ohnmächtig gegenüberzustehen. Mit der heutigen ersten Lesung unseres
Antidiskriminierungsgesetzes wollen wir erreichen, dass
die Antidiskriminierungskultur in Deutschland einen höheren Stellenwert erfährt.
({0})
Die Antidiskriminierungskultur muss als wesentlicher
gesellschaftlicher Wert gesehen werden. Dazu braucht es
eine breite öffentliche Unterstützung und auch Ihre Unterstützung, Herr Kolb.
Mit diesem Gesetz werden wir nicht nur vier EUGleichbehandlungsrichtlinien umsetzen; es steht darüber
hinaus in engem Zusammenhang mit der internationalen
Weiterentwicklung des Schutzes aller Menschen vor
Diskriminierungen. Das Gesetz verbietet - das ist heute
schon mehrmals angesprochen worden - die Benachteiligung von Menschen aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, des Alters, aufgrund einer Behinderung oder der
sexuellen Identität.
Als Sozialdemokratin bin ich stolz auf unser Lebenspartnerschaftsgesetz und das Ergänzungsgesetz mit Verbesserungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
({1})
Es geht doch darum, dass zwei erwachsene Menschen
füreinander Verantwortung übernehmen. Im Gegensatz
zu Frau Merkel bin ich der Meinung, dass auch hier
Treue, Verlässlichkeit, Bindung, Geborgenheit, Halt und
soziale Verantwortung weitergegeben werden.
Nach der Ermordung von Rudolph Moshammer geisterten Begriffe wie - ich zitiere - „Ermittlungen im Homosexuellenmilieu“ durch die Medien. Niemand titelte
später „Täter aus dem Heterosexuellenmilieu“. Dies
käme uns auch absurd vor. Dass Homosexualität dadurch in die Nähe von Kriminalität gerückt wurde, haben nur die Betroffenen, also die Schwulen und ihre Verbände, öffentlich kritisiert.
Der CSU-Kollege Norbert Geis bezeichnete Homosexualität gar als Perversion der Sexualität. Für andere
ist Homosexualität immer noch wider die Natur, eine
Sünde, eine Krankheit oder eine Krise der Identität.
Rückblickend auf meine sechs Jahre Abgeordnetentätigkeit muss ich feststellen: Ich habe bei keinem anderen
Thema so viele unangemessene und abstoßende E-Mails
und Briefe erhalten, vor allem von Männern.
({2})
Ich wünsche mir, dass sich die Menschen endlich mit
ihren eigenen Ängsten und Vorurteilen auseinander setzen und sie nicht auf andere projizieren. Und ich wünsche mir, dass zu guter Letzt auch die Kirchen ihre
Standpunkte überdenken.
({3})
Wir jedenfalls setzen mit unserem Antidiskriminierungsgesetz ein weiteres Zeichen zur Anerkennung unterschiedlicher sexueller Identitäten.
Lesben und Schwule, aber auch bisexuelle, transsexuelle und zwischengeschlechtliche Menschen
({4})
können künftig selbstbewusster und selbstverständlicher
ihre Identität leben und besser am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, so auch am Arbeitsplatz. Viele Schwule
und Lesben verheimlichen ihre sexuelle Identität, weil
sie Diskriminierungen durch Kollegen und Kolleginnen
oder auch durch Vorgesetzte befürchten. Eine Studie
kommt zu dem Ergebnis, dass nur 4 Prozent am Arbeitsplatz immer offen mit ihrer Homosexualität umgehen
konnten. Man könnte jetzt einwenden, dass die sexuelle
Identität etwas Privates ist. Dieser Einwand kann nicht
gelten, wenn Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität gegen Vorurteile und Benachteiligungen im Beruf zu
kämpfen haben, wenn sie in der Angst leben, den Arbeitsplatz zu verlieren oder erst gar nicht zu bekommen.
({5})
Lesben und Schwule sollen zukünftig auch weniger
Probleme bei der Wohnungssuche, beim Abschluss von
Versicherungen, bei der Hotelsuche und bei Restaurantbesuchen haben; da würde sich noch einiges mehr anführen lassen.
Als Feministin mit dem typisch schwäbischen Namen
Gradistanac
({6})
weiß ich, dass Gesetze Diskriminierungen, die Herabsetzung und Entwürdigung von Menschen nicht immer verhindern. Aber künftig können sich die Betroffenen besser und wirkungsvoller zur Wehr setzen. Unterstützung
erfahren sie einmal durch die Antidiskriminierungsstelle, die berät, informiert und vermittelt, und zum anderen durch die Verbände, die Diskriminierte ermutigen
- das wünsche ich mir jedenfalls -, damit Diskriminierte
zu ihrem Recht kommen.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Norbert Röttgen
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute in dieser Debatte der Sache nach
über ein Gesetz zur Bekämpfung der Vertragsfreiheit.
Das ist das Thema dieses Gesetzes.
({0})
- Das ist kein Unsinn. - Kollege Scholz, wenn sich in
Zukunft, nachdem dieses Gesetz in Kraft getreten sein
wird, die Vermieter in Deutschland nicht mehr den als
Mieter aussuchen können, den sie gern als Mieter hätten,
dann hat Vertragsfreiheit in unserem Land nicht mehr die
gleiche Qualität.
({1})
Sie legen die Axt an die Vertragsfreiheit in unserem
Land.
({2})
Einen vergleichbar massiven Angriff auf die Vertragsfreiheit in unserem Land hat es seit Jahren, selbst in Ihrer
Regierungszeit, nicht gegeben.
({3})
Vertragsfreiheit ist nicht irgendeine Petitesse. Vertragsfreiheit ist ein elementarer Bestandteil der Freiheit
der Person. Unsere Rechtsordnung basiert auf den
Grundrechten. Unser Grundgesetz nennt das Recht auf
die freie Entfaltung der Persönlichkeit gleich nach
Art. 1, ganz vorn. Das ist ein Basiswert unserer Grundrechtsordnung.
({4})
Unsere Gesellschaftsordnung, unsere Wirtschaftsverfassung sind ohne Freiheit nicht denkbar.
({5})
Darauf zielen Sie ab.
Die Freiheit ist Element der Menschenwürde.
({6})
Unsere Vorstellung vom Menschen ist die, dass er ein
freier Mensch ist.
({7})
- Ich komme gleich auf die Normierung im Grundgesetz
zum Thema Diskriminierung zu sprechen. - Weil das so
ist, weil Freiheit ein Fundamentalwert in unserer Gesellschaft ist, weil unsere Gesellschaft davon lebt, macht
dieser Gesetzentwurf die grundlegend unterschiedlichen
gesellschaftspolitischen Vorstellungen von CDU/CSU,
auch FDP, auf der einen Seite und Rot-Grün auf der anderen Seite deutlich.
({8})
Wir wollen diese Gesellschaft, die sich vom Einzelnen ableitet, die sich von der Autonomie des Einzelnen
ableitet, die auf die Freiheit des Einzelnen setzt,
({9})
auch auf die Verantwortungspflicht des Einzelnen setzt.
Wir wollen sie, weil wir dem Einzelnen etwas zutrauen.
Wir trauen ihm Leistung zu. Wir trauen ihm allerdings
auch Anstand zu. Dafür braucht er nicht einen Gesetzgeber, der ihn über das belehrt, was anständiges Verhalten ist.
({10})
Sie trauen dem Einzelnen offenbar nicht. Sie sind darin auch ganz offen. Herr Kollege Ströbele hat eben dazwischengerufen: Kontrolle ist besser als freie Entscheidung des Einzelnen. - Sie haben ein anderes
Staatsverständnis. Sie wollen den Staat, der den Einzelnen bevormundet, der den Einzelnen erzieht, der den
Einzelnen moralisch bewertet. Sie wollen sozusagen den
freien Menschen überwinden zu einem guten Menschen.
Was gut ist, bestimmt die rot-grüne Regierung. Darin
kommt Ihre politische Ideologie zum Ausdruck.
({11})
- Sie brauchen sich gar nicht zu bemühen. Sie sind in der
heutigen Debatte sehr offen gewesen - das begrüße ich
sehr -; damit werden die fundamentalen Unterschiede
deutlich.
Kollege Scholz hat hier wörtlich gesagt „Wir“ - also
Sie, der eine Teil des Hauses und der Bevölkerung - „als
anständige Bürgerinnen und Bürger“. Ihr Kollege Beck
sagte - ich habe das mitgeschrieben -: Wir wollen doch
den Menschen nicht vorschreiben, was sie denken. Welche Großzügigkeit spricht daraus, dass Sie den Menschen das Denken nicht vorschreiben können!
({12})
Ich möchte Sie als Kollege im Haus und als Bürger
dieses Landes fragen: Wer gibt Ihnen das Recht zu einer
derartigen Hybris und Arroganz, wissen zu wollen, was
für die Menschen gut ist und wie der Einzelne leben soll.
Wie können Sie wollen, dass es der Staat ihnen vorschreiben soll? Wer gibt Ihnen das Recht zu einer solchen Hybris und Arroganz?
({13})
Sie wollen nicht die Freiheit des Einzelnen.
({14})
Sie setzen den Einzelnen, der von seiner Freiheit Gebrauch macht, auf die Beklagtenbank des Gerichts.
Technisch heißt das Beweislastumkehr. Für die Nichtjuristen, die vielleicht zuhören, möchte ich erklären, was
das wirklich heißt. In der Realität heißt das, dass derjenige, mit dem kein Vertrag abgeschlossen wurde, der
also nicht durch einen Vertragsabschluss begünstigt
wurde, nur noch plausibel Tatsachen behaupten muss,
die für eine Diskriminierung sprechen. Er muss die Tatsachen nicht beweisen, er muss nur die Behauptung aufstellen, er sei diskriminiert worden. Danach muss sich
derjenige, der den Vertrag abgeschlossen hat, vor Gericht entlasten.
({15})
Er muss den Beweis führen, dass er sich nicht diskriminierend verhalten hat. Sie bringen den Bürger in eine Beklagtenposition, er muss sich für sein Verhalten rechtfertigen. Das ist das Gegenteil von Freiheit, wie wir sie
definieren.
({16})
Ich will noch einmal betonen: Wir führen heute eine
fachliche Debatte, aber es ist auch eine Grundsatzdebatte
gesellschaftspolitischer Art. Der intellektuelle Keim Ihres Gesetzentwurfs ist das Misstrauen. Wer die fachliche
Debatte verlässt und ideologisch anfängt, den Menschen
zu misstrauen, der handelt in dem Geist Ihres Gesetzentwurfs.
({17})
Wer anfängt, das Misstrauen zu organisieren, der endet
ganz zwangsläufig in Bürokratie,
({18})
in Regulierungswut, in Absurditäten und am Ende auch
in Ungerechtigkeiten, von denen ein paar schon dargestellt worden sind.
({19})
Dass kein einziges Mitglied der Bundesregierung an
dieser Debatte teilnimmt, unterstreicht die Bedeutung
des Gesetzentwurfs.
({20})
- Vielleicht schauen Sie einmal ins Grundgesetz. Die
Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und
den Bundesministern. Manche fühlen sich vielleicht wie
Mitglieder der Bundesregierung, sind es gleichwohl
nicht. Kein Mitglied der Bundesregierung ist bei dieser
Debatte anwesend. Sie sollten sich also überlegen, ob es
gerechtfertigt ist, die Abwesenheit einzelner Mitglieder
der CDU/CSU-Fraktion in denunziatorischer Weise zu
kritisieren, wie das die Kollegin getan hat.
({21})
Sie werden in Ungerechtigkeit landen und die Verlierer sind diejenigen, die unternehmerische Freiheit geltend machen wollen oder Mietverträge abschließen wollen. Die Bürger sind die Verlierer. Eine Familie, die sich
nicht auf eine diskriminierende Eigenschaft berufen
kann - Familien gehören in diesem Land nach Ihrer Auffassung nicht zu den Diskriminierten -, hat keinen
Schutz vor Ihnen. Normale Bürger, die nicht irgendeinen
Minderheitenstatus aufweisen, sind die Verlierer Ihres
Gesetzentwurfs. Die Mehrheit ist der Verlierer.
({22})
Nun sagen Sie, dagegen sei schon argumentiert worden.
Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rezzo Schlauch?
Ja, gern.
Herr Kollege Röttgen, ich gehe davon aus, dass Sie
mit mir der Meinung sind, dass ein Land, das wir alle
kennen, nämlich die USA - das von sich selber behauptet, es sei der Hort der Freiheit; ob das so ist, kann jeder
selber beurteilen -, und seine Repräsentanten den Gedanken der Antidiskriminierung in viel schärferem Maße
als wir gesetzlich festgelegt haben. Würden Sie daraus
den Schluss ziehen, dass dieses Land die Freiheit genauso missachtet, wie Sie es unserem Gesetzentwurf unterstellt haben?
({0})
Ich bedanke mich für die Frage, die Sie mir als Abgeordneter gestellt haben. Ich möchte sie Ihnen auch unter
Berücksichtigung Ihrer Eigenschaft als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium
beantworten. Ich will die Antwort offen gestanden nicht
selbst formulieren, sondern antworten, indem ich Ihnen
Teile eines Schreibens der amerikanischen Handelskammer in Deutschland, das an mich gerichtet ist, zitiere.
({0})
Ich glaube, dass die amerikanische Handelskammer
in Deutschland eine Vorstellung vom amerikanischen
Diskriminierungsrecht hat.
Ich zitiere nun aus dem Schreiben, das an mich und
sicherlich auch an viele andere gegangen ist - vielleicht
hören Sie zu, Herr Schlauch, während ich zitiere -:
Wir
- die amerikanische Handelskammer sind aber der Meinung, dass das deutsche Rechtssystem einen wirksamen Schutz gegen Diskriminierungen jeglicher Art bietet.
({1})
Wir befürchten, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung die Wirtschaft belasten wird. Das Gesetzgebungsvorhaben könnte eine massive Einschränkung der unternehmerischen Freiheit
bedeuten.
({2})
Diese Sorgen machen sich amerikanische Unternehmer
in Deutschland. Deren Interessen werden nämlich von
dieser Handelskammer vertreten.
({3})
Das ist also eine klare Aussage darüber, wie amerikanische Unternehmer in Deutschland dieses Gesetzgebungsvorhaben beurteilen. Es handelt sich völlig zutreffend um eine Einschränkung von Freiheit,
({4})
die es in Amerika in dieser Weise nicht gibt. Sie gibt es,
wie Kollege Laumann dargestellt hat
({5})
- vielleicht hören Sie einfach einmal zu -, in Form einer
Kumulation und Kombination eines hohen, detailorientierten Arbeitsschutz- und Kündigungsschutzrechts mit
einem Diskriminierungsrecht in den USA definitiv nicht.
Die Kombination beider Rechte gibt es nirgendwo. So
etwas wird es in Zukunft nur in Deutschland geben.
({6})
Herr Kollege Röttgen, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage zu?
Die lasse ich gerne zu.
Bitte schön.
Herr Kollege Röttgen, ich kann Ihnen in diesem
Punkt nicht folgen,
({0})
und zwar deswegen, weil das amerikanische Antidiskriminierungsgesetz, wie Sie genau wissen, viel schärfere
Normen vorsieht als unseres. Stimmen Sie mit mir überein, dass die amerikanische Handelskammer in Deutschland eine eindeutige Interessenvertretung der Industrie
ist und dass ihre Aussagen nicht mit den Intentionen eines amerikanischen oder deutschen Gesetzgebers zu vergleichen sind, der selbstverständlich die politische Aufgabe hat, unterschiedliche Interessen auszugleichen?
({1})
Ich stimme mit Ihnen völlig überein, dass die amerikanische Handelskammer in Deutschland die Interessen
amerikanischer Unternehmen und Investoren in
Deutschland repräsentiert. Darum ist dieses Gesetz, das
Sie heute einbringen, ein schlechtes Signal für den
Standort Deutschland, wenn es darum geht, für Investitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland zu
werben.
({0})
- Ja, meine Damen und Herren, so ist es.
Sie sagen immer, das Gesetz sei gut. Wir reden heute
aber nicht allein über einen innenpolitischen Tatbestand,
sondern auch über Wirtschaftspolitik, lieber Kollege
Schlauch aus dem Wirtschaftsministerium.
({1})
Wir sind eine exportorientierte Nation. Wir brauchen
ausländische Investitionen. Wir als CDU/CSU wollen,
dass Deutschland attraktiv für Investitionen ausländischer Unternehmen ist, weil diese Arbeitsplätze in
Deutschland schaffen. Deshalb dürfen wir sie nicht abschrecken.
({2})
Mit diesem Gesetz schrecken Sie aber Unternehmen,
insbesondere auch ausländische, von Investitionen in
Deutschland ab. Darum ist dieses Gesetzesvorhaben
falsch.
({3})
Ein weiterer Gesichtspunkt: Sie wollen dieses Gesetz
dadurch rechtfertigen, dass Sie auf die Bedeutung des
Schutzes vor Diskriminierung verweisen. Das war
durchgängig Ihr Argument. Gegen dieses Argument
muss ich Ihnen vortragen - Sie selber haben das zum
Teil ausgeführt -, dass im geltenden deutschen Recht,
vom Zivil- über das Arbeitsrecht bis hin zum Grundgesetz - die Vorschriften sind zitiert worden -, ein umfassender Diskriminierungsschutz gewährleistet ist. Dieser
reicht vom einfachen Recht bis hin zum Grundgesetz.
Art. 3 und Art. 1 des Grundgesetzes bilden schon die
Grundlage für einen umfassenden Diskriminierungsschutz.
Was es im geltenden Recht allerdings nicht gibt - insofern ist die Aussage richtig, dass Ihr Gesetz etwas
Neues bringt -, ist die so genannte Beweislastumkehr. Es
wurde ja schon darüber gesprochen, dass sich nun der
Einzelne rechtfertigen muss. Was es im geltenden Recht
nicht gibt, ist der so genannte Kontrahierungszwang mit
Schadensersatzfolge, dass also einem ein Vertragspartner durch ein Gerichtsurteil aufgezwungen werden kann.
Das gibt es bislang nicht. Was es im geltenden Recht
nicht gibt, ist die Möglichkeit zur Verbandsklage in der
Form, dass Ansprüche abgetreten werden können und
unter dem Vorwand des Diskriminierungsschutzes Geschäfte gemacht werden können. Es besteht die Gefahr,
dass sich hier ein eigener Geschäftszweig in Deutschland entwickelt.
({4})
All das haben wir nicht und es ist gut, dass wir das nicht
haben.
({5})
Ihr zweiter Vorwand lautet, dass Sie europäische
Richtlinien umsetzen müssen. Dazu will ich Ihnen zwei
Punkte sagen.
Erstens. Es gibt drei europäische Richtlinien, die fristgerecht umzusetzen Sie versäumt haben. Das lässt zumindest Rückschlüsse auf Ihre Motivation und Ihr Engagement zu. Wenn die CDU/CSU die Bundesregierung
gestellt hätte, dann hätte sie anders verhandelt. Die
Richtlinien hätten dann im Ergebnis anders ausgesehen.
Auch das wäre eine Einwirkungsmöglichkeit gewesen.
Zweitens. Sie setzen nicht nur diese Richtlinien um.
Sie gehen sogar weit über das hinaus, was das europäische Recht verlangt.
({6})
Nun mögen Sie nicht akzeptieren, dass wir es sind,
die das kritisieren. Darum möchte ich an dieser Stelle die
Bundesjustizministerin als Zeugin sprechen lassen.
({7})
Es ist ganz interessant, was sie zu diesem Thema gesagt
hat. Im Übrigen hätte ich es gut gefunden, wenn sie
heute an dieser Debatte teilgenommen hätte.
({8})
Denn die Minister haben auch Pflichten gegenüber dem
Parlament.
Die Bundesjustizministerin Zypries hat dieses Gesetz
von Anfang an und bis zum heutigen Tage abgelehnt.
Man stelle sich einmal vor: Die verantwortliche Ministerin der von Ihnen gestellten Bundesregierung lehnt dieses Gesetz dezidiert ab. Sie hat sich auch - das ist nichts
Neues - in vielen anderen Punkten in der Koalition nicht
durchgesetzt. Aber dieser Gesetzentwurf ist das wahrscheinlich wichtigste rechtspolitische Vorhaben in dieser
Legislaturperiode, das nicht von der Bundesjustizministerin getragen wird. Dass die Federführung vom Justizministerium auf das Familienministerium übertragen
wurde, dokumentiert ihre Niederlage und ihre Schwächung als politisches Führungsorgan in dieser Bundesregierung.
({9})
Da die Ministerin in dieser Debatte nicht anwesend
ist, möchte ich wenigstens zitieren, was sie in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 8. März 2003
geäußert hat.
({10})
Herr Kollege, Sie müssen jetzt gegebenenfalls die
Kurzfassung dieses Zitats vortragen. Sonst klappt es
auch bei großzügiger Interpretation Ihrer Redezeit nicht
mehr.
({0})
Ich denke, dass es alle - insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen - interessiert,
was die Justizministerin dazu sagt. Ich verkürze das Zitat
und führe nur die schönsten Passagen an. Sie wendet
sich gegen das Gesetz ihrer Amtsvorgängerin DäublerGmelin
({0})
mit dem Argument, es würde die Privatautonomie in
weiten Bereichen aushebeln.
({1})
Weiterhin sagt sie, dass zudem etliche Ausnahmeregelungen erforderlich seien, etwa um Frauenparkplätze
und Altenrabatte zu gestalten. Ohnehin glaube sie nicht,
dass es im Alltagsleben so viele Diskriminierungen
gebe, dass neue Vorschriften erforderlich seien. Sie
glaube ebenfalls nicht, dass man durch Rechtspolitik
eine Gesellschaft gestalten könne. Frau Zypries hat
Recht. Aber sie ist bei Ihnen zum Schweigen verurteilt.
({2})
Eine allerletzte Bemerkung.
({3})
Es ist eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Debatte, die wir führen werden. Ihr Gesetzentwurf ist eine
Kampfansage an die Freiheit in unserem Land. Dementsprechend werden wir diese Debatte mit Ihnen führen.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Edathy für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Röttgen, ich bin nicht ganz sicher,
was ich für schlimmer halten soll: Ihre unsägliche Rede
oder den starken Beifall, den Sie für diese Rede bekommen haben.
({0})
Wer sagt, wir wollen den Geist des Grundgesetzes auch
zur Grundlage für das Arbeits- und Zivilrecht nehmen,
der hat Recht. Aber wer sagt, das sei wider die Freiheit
gerichtet, der hat Unrecht. Der Freiheitsbegriff, den
Herr Röttgen hier für die CDU/CSU vorgetragen hat, beinhaltet die Freiheit, zu diskriminieren. Das ist aber nicht
die Freiheit, die wir meinen.
({1})
Ich finde die Rolle der Liberalen in diesem Bereich
besonders problematisch. Ich werde gleich noch darauf
eingehen.
({2})
- Frau Lenke, schreien Sie hier bitte nicht herum!
({3})
Wir sind der Gesetzgeber in diesem Land. Was wäre
eine zentralere Aufgabe des Gesetzgebers in Deutschland, als Bürgerrechte zu sichern und gerade denen beizustehen, die in einem freien Markt immer die Schwächeren sind? Es ist Aufgabe der Demokratie und des
sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik, für einen Ausgleich zu sorgen. Das kann man doch nicht ernsthaft infrage stellen.
({4})
Wir handeln übrigens - das sei in Richtung einiger
Kollegen gesagt, die gemeint haben, wir gingen zu
weit - lange nicht so weitgehend wie zum Beispiel
Großbritannien und die Niederlande. Auch die USA sind
in diesem Zusammenhang vom Kollegen Schlauch mit
Recht erwähnt worden.
Wir handeln mit Grund.
({5})
Wir tun gut daran, an einer Stelle über eine Eins-zu-einsUmsetzung der EU-Richtlinien hinauszugehen, nämlich
an der Stelle, wo es um die Frage geht: Schaffen wir
durch eine Beschränkung auf den Aspekt „Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft und Zugehörigkeit“ und
durch Ausblendung anderer Diskriminierungsmerkmale
eine Hierarchisierung von Diskriminierungsopfern
oder wollen wir das nicht? Wir wollen das nicht.
Frau Eichhorn, mich würde einmal interessieren, was
Sie der Behinderten antworten, die sich an Sie gewandt
und gesagt hat, es sei für sie verletzend, nicht nachzuvollziehen und empörend, dass sie von einem Hotel
nicht aufgenommen wurde. Was sagen Sie ihr denn? Sie
sehen zwar das Problem. Aber wie sieht Ihre Antwort
aus?
Rot-Grün gibt eine Antwort.
({6})
Es soll keine Selektion mehr in Diskotheken und keine
Abweisung von Behinderten und homosexuellen Paaren
in Hotels geben. Das alles, Herr Röttgen, ist nicht durch
das Grundgesetz gedeckt; das wissen Sie doch ganz genau.
({7})
Art. 3 des Grundgesetzes bindet die staatlichen Organe
bzw. staatliches Handeln.
({8})
Es ist aber so, dass das Zivilrecht kein grundrechtsfreier
Raum in diesem Land sein kann.
({9})
Ich will etwas zum Thema „Angriff auf die Freiheit“
sagen. Herr Röttgen hat gesagt, das, was wir machten,
sei ein Angriff auf die Freiheit. Er hat weiter ausgeführt,
die Vertragsfreiheit in diesem Land nehme, wenn der
Entwurf, den wir vorgelegt haben, beschlossen werde,
Schaden.
({10})
Herr Röttgen, dazu will ich sagen: Zur Vertragsfreiheit
gehören immer zwei Parteien. Wenn Sie sagen, Sie wollten die Vertragsfreiheit wahren, dann heißt das für mich,
dass Sie den Regelungen, die wir schaffen wollen und
die den Menschen die Gewährleistung geben, dass sie
nicht aufgrund eines bestimmten Merkmales willkürlich
von der Eingehung eines Vertrages ausgeschlossen werden dürfen, zustimmen müssten. Denn,
({11})
Herr Röttgen, auch sittenwidrige Verträge sind nicht zulässig.
({12})
Wer für eine maximale Vertragsfreiheit ist, ist vielleicht
auch dafür, den Drogenhandel freizugeben; auch das
wollen wir nicht. Es ist doch vollkommen klar, dass die
Vertragsfreiheit in einem demokratischen Rechtsstaat
der Ausgestaltung bedarf. Das, was wir tun, ermöglicht
es erst ganz vielen Menschen, Vertragsfreiheit überhaupt
in Anspruch zu nehmen.
({13})
Was ist denn mit der Vertragsfreiheit der Behinderten,
die abgewiesen worden ist, des Jugendlichen, der ausländisch aussieht und nicht in die Diskothek kommt, und
des älteren Menschen, dem der Dispositionskredit gekündigt wird?
({14})
Herr Kollege Edathy, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Ja.
Lieber Kollege Edathy, man kann auch durch eine gewisse Lautstärke andere Leute diskriminieren. Auch das
ist eine Art Diskriminierung.
({0})
Ich frage Sie, ob Sie es vorhin wirklich ernst gemeint
haben, als Sie gesagt haben, dass das Zivilrecht der
Bundesrepublik Deutschland ein grundrechtsfreier
Raum sei. Ist es nicht vielmehr so, dass wir dahin gehend übereinstimmen, dass die Regelungen des Grundgesetzes in das Zivilrecht an sehr vielen Stellen dadurch
hineingekommen sind, dass wir dort Allgemeinklauseln
haben, in denen klar geregelt wird, dass das Grundrecht
Drittwirkung auch zwischen Zivilpersonen entfaltet?
({1})
Herr Kollege, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen; ich versuche, mich kurz zu fassen.
({0})
Ich habe zu Beginn dieser Wahlperiode in Berlin die
Wohnung wechseln wollen. Ich habe mir eine Wohnung
angesehen. Der Hausbesitzer wohnt in Frankfurt. Es
ging also nicht um eine Einliegerwohnung; ihm gehört
vielmehr ein ganzes Mietshaus. Ich habe dann ein entsprechendes Formular ausgefüllt und Angaben zu meinen Einkommensverhältnissen und zu dem, was ich beruflich tue, gemacht.
({1})
Ich dachte, es würde ein paar Tage dauern und dann bekäme ich den Mietvertrag zugeschickt. Stattdessen rief
der Hausbesitzer meine Mitarbeiterin in meinem Büro an
und sagte: Edathy, das klingt irgendwie ausländisch. Was
ist das denn für einer? Meine Mitarbeiterin hat am Telefon geantwortet: Der Vater ist gebürtiger Inder. Dann
kam die Nachfrage, ob auch ich Inder sei. Daraufhin
meinte meine Mitarbeiterin richtigerweise, dass man
deutscher Staatsbürger sein müsse, um Mitglied des
Bundestages werden zu können. Daraufhin sagte dieser
Vermieter: Wenn der Vater Inder ist, kocht der Sohn
doch bestimmt mit ganz scharfen Gewürzen. Den Gestank bekomme ich nicht mehr aus der Wohnung, vermutlich muss ich den Putz abklopfen. - Ich habe die
Wohnung nachher zwar angeboten bekommen - ich
habe sie aus Anstand nicht genommen -, aber eines kann
ich Ihnen sagen: Wäre ich nicht der Abgeordnete Edathy
gewesen, sondern der Schlossermeister oder der Student
Edathy, wäre mir die Wohnung nicht angeboten worden
und das ist eben keine schützenswerte Freiheit im Zivilrechtsverkehr, sondern diskriminierendes Handeln.
({2})
Wir sollten Diskriminierungsopfern die Möglichkeit in
die Hand geben, dagegen tätig werden zu können. Das
muss möglich sein.
Ich würde gar nicht in einem Land leben wollen, in
dem der reine Markt herrscht. Es kann doch nicht sein,
dass wir in diesem Hause grundsätzlich darüber diskutieren müssen, dass auch der Markt Regelungen braucht.
Ich persönlich halte es für überfällig - das hat auch etwas damit zu tun, dass wir im Gegensatz zu anderen
europäischen Ländern keine Kultur der Antidiskriminierungsgesetzgebung haben -, die Bestandteile des Grundgesetzes, die staatliches Handeln im Sinne einer fairen
demokratischen Gesellschaft binden, auf den Zivilrechtsverkehr zu übertragen. Ich verstehe nicht, was dagegen einzuwenden ist, es sei denn, Sie sagen, dass Sie
auch in Zukunft wollen, dass sich der Gastwirt aufgrund
bestimmter Merkmale wie Behinderung, ausländisches
Aussehen oder offensichtliche Homosexualität aussuchen kann, wen er bedient und wen nicht. Das kann aber
doch nicht ernsthaft die Position der Liberalen sein.
Lassen Sie mich als Abschluss der Beantwortung Ihrer Frage einen Satz von Hannah Arendt zitieren, der in
der Bibliothek des Bundestages im Marie-ElisabethLüders-Haus nachgelesen werden kann. Dieser Satz
- man kann ihn nur unterstreichen - lautet:
Freiheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns
unter Gleichen.
Sie wissen ganz genau, dass dies auch für Betriebe gilt,
auch für das Angebot und das Entgegennehmen von
Leistungen.
({3})
Diese Gleichheit bei der Wahrnehmung von Chancen
muss durch Spielregeln unterstützt werden, die der Gesetzgeber mit Augenmaß definiert. Genau dies machen
wir mit dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben.
({4})
Ich wünsche uns intensive Beratungen. Wir werden
uns natürlich in den Ausschüssen hinreichend Zeit nehmen, um mit den Vertreterinnen und Vertretern der Opposition darüber zu diskutieren. Eines aber müssen wir
im Auge behalten: Dieses Gesetz ist kein Selbstzweck.
Es wird, soll und muss einen Beitrag dazu leisten, dass
wir unserer Gesellschaft einen besseren Rahmen für ihr
Handeln geben.
Damit ist kein Misstrauen verbunden. Herr Röttgen,
es hat mich gewundert, dass Sie als Rechtspolitiker - das
war einer Ihrer zentralen Vorwürfe - gesagt haben, in
diesem Gesetz werde unterstellt, die Menschen verhielten sich falsch. Dass ein anständiger Mensch nicht Mord
und Totschlag verübt, ist klar. Trotzdem sind Mord und
Totschlag verboten. Dass man, wenn man eine Dienstleistung anbietet, einen Menschen mit Behinderung
nicht ablehnt, muss auch klar sein. Ebenso muss selbstverständlich sein, dass kein Mensch wegen seines Alters,
seiner sexuellen Orientierung oder seines Geschlechts
abgelehnt werden darf. In vielen Fällen ist dies auch
selbstverständlich. Ich bin ganz sicher, dass dieses Gesetz nur zur Anwendung kommen wird, dann aber eben
begründet, wo diese Selbstverständlichkeit im Handeln
verletzt wird. Ich glaube daher auch nicht, dass wir Prozesslawinen zu erwarten haben. Aber jedem Bürger in
diesem Lande, egal in welcher Eigenschaft er auftritt, ob
als Arbeitgeber, als Kneipenbesitzer oder als Wohnungsvermieter, muss klar sein, dass die Grundlagen des Zusammenlebens in diesem Land Respekt und Achtung
sind. Nichts anderes als die Erreichung von Respekt und
Achtung und die Durchsetzung von Bürgerrechten ist
Ziel dieses Gesetzes.
Noch einen Satz zum Schluss: Es ist mehrfach gesagt
worden, dass Ministerin Renate Schmidt heute nicht hier
ist. Sie ist erkrankt und daher entschuldigt.
({5})
Diese Diskriminierung gegenüber einem Mitglied der
Bundesregierung wollen wir Ihnen bis zur Verabschiedung des Gesetzes noch durchgehen lassen.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4538 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Probleme mit der Türkei nicht ausblenden
- Drucksache 15/4496 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 45 Minuten dauern. - Ich höre dazu keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mit Genehmigung des Herrn Präsidenten mit einem Zitat beginnen:
Die leitenden Staatsmänner der europäischen Nationen und die Mitglieder der bisherigen wie der
neuen EU-Kommission sind im Begriff, uns alle
leichtfertig zu überfordern. Überforderung und
Übereifer können zum Zerfall des Jahrhundert-Vorhabens der Integration Europas führen. Am Ende
könnte eine bloße Freihandelszone übrig bleiben.
Das war am 25. November vergangenen Jahres in einem
großen Artikel in der „Zeit“ nachzulesen. Der Artikel
stand unter der Überschrift: „Bitte keinen Größenwahn“.
Der Verfasser dieses Artikels ist kein Geringerer als Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der ja bekanntermaßen
der Sozialdemokratischen Partei angehört.
Nun, die SPD hat nicht immer auf Helmut Schmidt
gehört und auch in dieser Frage scheint sie es nicht zu
tun. Denn in dem Artikel warnt Helmut Schmidt eindringlich vor einem Beitritt der Türkei zur EU und am
Ende des Artikels lehnt er ihn mit guten Argumenten
rundweg ab. Ich zitiere nochmals aus demselben Artikel:
Monnet und Schuman, Adenauer und de Gaspari,
Churchill und de Gaulle waren Staatsmänner von
ungewöhnlichem Weitblick - keiner von ihnen hat
die europäische Integration bis über die kulturellen
Grenzen Europas ausdehnen wollen. Die heutigen
Epigonen sollten jedenfalls wissen: Nur dann, wenn
sie sorgfältig einen Schritt nach dem anderen tun,
können sie hoffen, ihre Nationen auf dem Wege
mitzunehmen.
Davon ist diese rot-grüne Bundesregierung allerdings
meilenweit entfernt.
({0})
Sie haben sich dafür entschieden, einen EU-Beitritt der
Türkei zu unterstützen.
({1})
Sie haben sich in der EU massiv dafür eingesetzt, Verhandlungen mit der Türkei zu führen, die einen Beitritt
dieses großen Landes in die EU zum Ziel haben. Beides
sind politische Entscheidungen, die diese Bundesregierung kraft ihres Mandates fällen kann. Sie wird sie allerdings 2006 vor den Wählerinnen und Wählern auch zu
verantworten haben.
({2})
Eigenartig mutet jedoch die Art und Weise an, mit der
diese Regierung einen EU-Beitritt offensichtlich erzwingen will. Während bei innenpolitischen Reformen zwischenzeitlich wieder des Kanzlers ruhige Hand zu spüren ist, wird der EU-Beitritt der Türkei mit großem
Druck und einer fast schon fahrlässigen Leichtfertigkeit
im Umgang mit den Problemen, die die Türkei nach wie
vor hat und macht, betrieben. Viel schlimmer noch: Es
scheint, als würden jegliche Bedenken und viele doch
tatsächlich vorhandenen Probleme mit der Türkei
schlicht unbeachtet beiseite geschoben. Es hat doch
wahrlich nichts mehr mit vernünftiger und verantwortlicher Politik zu tun, wenn Berichte und Fakten über massive Verletzungen von deutschem oder internationalem
Recht und internationalen Gepflogenheiten durch die
Türkei von der Bundesregierung offiziell nicht zur
Kenntnis genommen werden.
({3})
Manche solcher Vorgänge werden von der Bundesregierung regelrecht vertuscht und vor der deutschen Öffentlichkeit zurückgehalten.
({4})
Rot-grüne Politiker sprechen immer gern davon, man
müsse die Menschen mitnehmen, wenn man sie von etwas überzeugen wolle. Das ist wahr. Aber in Sachen
Türkei-Beitritt haben Sie sich offensichtlich dazu entschlossen, gar nicht erst zu versuchen, die Menschen von
Ihrer ja wahrlich falschen und unvernünftigen Politik zu
überzeugen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({5})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie müssen
sich den Problemen schon stellen und deswegen haben
wir heute diesen Antrag eingebracht.
Eines der genannten Probleme betrifft die Praxis
rechtsmissbräuchlicher Wiedereinbürgerungen ehemals Türkischer mit deutschem Pass. Was ist geschehen? - In § 25 des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes ist vorgesehen, dass ein Deutscher seine
Thomas Strobl ({6})
Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen
Staatsangehörigkeit verliert. Das heißt: Ein türkischstämmiger Deutscher, der sich in der Türkei wiedereinbürgern lässt, verliert kraft Gesetzes die deutsche Staatsangehörigkeit.
Diese Regelung hat ihren Grund. Wir haben immer
gesagt - und an diesem Standpunkt hat sich nichts
geändert -, dass wir keine doppelten Staatsbürgerschaften wollen. Wer Deutscher werden will, soll und muss
sich zu unserem Staat bekennen und dies dadurch dokumentieren, dass er sich für eine, nämlich die deutsche
Staatsbürgerschaft entscheidet. Nun war nachzulesen,
dass es von der türkischen Regierung einen Runderlass
gibt, in dem den Gouverneursämtern die Weisung erteilt
wird, die in Deutschland verlangten Registerauszüge zu
manipulieren
({7})
und so den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit gegenüber den deutschen Behörden zu vertuschen. Nach Angaben des türkischen Außenamtsstaatsekretärs handelt es sich um 40 000 bis 50 000 Fälle
- möglicherweise mehr - von türkischen Staatsangehörigen, die durch Verstoß gegen die Regeln des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechts illegal im Besitz eines deutschen Passes sind.
({8})
Meine Damen und Herren, verehrte Frau Staatssekretärin, ich frage Sie ganz konkret: Wie gehen Sie mit diesem schweren Verstoß gegen unser deutsches Recht um?
Haben Sie diesen Vorgang überhaupt zur Kenntnis genommen? Haben Sie das gegenüber der türkischen Regierung thematisiert?
({9})
Oder ist das ein Fall, der erneut beweist, dass es die Bundesregierung mit der Durchsetzung deutschen Rechts
nicht so genau nimmt, wenn es ihr politisch nicht in den
Kram passt,
({10})
wie wir es auch vom im Zusammenhang mit dem
Fischer/Volmer-Erlass entstanden Schleuserskandal um
die massenhafte und unkontrollierte Erteilung von
Schengen-Visa durch verschiedene deutsche Botschaften
kennen?
({11})
Diese und andere Fragen werden wir Ihnen heute und
in Zukunft stellen, bis die deutsche Öffentlichkeit von
Ihnen, meine Damen und Herren von der rot-grünen
Bundesregierung, eine zufrieden stellende Antwort bekommt. Es wäre wirklich unerträglich, wenn diese skandalöse Vertuschungsaktion der türkischen Regierung
nachträglich durch die Bundesregierung legalisiert
würde.
Wir fordern die Bundesregierung auf, mit der türkischen Regierung eine klare Vereinbarung zu treffen, um
diesen Vorgang aus der Welt zu schaffen. Wie glauben
Sie eigentlich, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
die deutsche Bevölkerung von einem Beitritt der Türkei
zur EU überzeugen zu können, wenn Sie bei solch eklatanten Verstößen der Türkei gegen elementare Regeln
des zwischenstaatlichen Zusammenlebens eine so laxe,
ja desinteressierte Haltung an den Tag legen? Solange
solche Vorgänge passieren können, ist die Türkei für einen Beitritt zur EU nicht bereit. Viel mehr noch: Das
Unterlassen solcher Rechtsverstöße ist eine elementare
Grundvoraussetzung, um überhaupt über einen Beitritt
der Türkei zur Europäischen Union verhandeln zu können.
Das gilt auch für einen anderen in der Presse dokumentierten Fall. Es gibt in der Türkei offensichtlich nach
wie vor eine Rechtspraxis, um missliebigen Staatsbürgern, die sich im Ausland aufhalten, die türkische Staatsbürgerschaft zu entziehen, um ihnen die Rückkehr in die
Türkei zu versperren. Dadurch werden auch Abschiebungen aus Deutschland in die Türkei unmöglich.
({12})
Von dieser Praxis profitieren nach Erkenntnissen der
Polizei auch Schwerstkriminelle, deren Abschiebung in
die Türkei durch die Ausbürgerung blockiert wurde.
Einschlägige Fälle sind in Berlin, Essen und anderswo
dokumentiert. Auch hier liegen einige Fragen auf der
Hand: Warum hat der Bundesinnenminister nicht nachhaltig gegenüber der Türkei interveniert? Warum ist
diese Frage nicht im Vorfeld der Entscheidung darüber,
ob Beitrittsgespräche mit der Türkei geführt werden,
thematisiert worden?
({13})
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um dieser völkerrechtswidrigen Praxis ein Ende zu setzen? Auch hier
gilt: Es reicht nicht aus, auf die anstehenden Beitrittsverhandlungen zu verweisen, wie es die Bundesregierung
immer gerne tut. Sie verfahren nach dem Motto: Das alles wird sich schon klären. Nein, die Beendigung solcher
Vorgänge ist erst die Voraussetzung dafür, dass man mit
der Türkei in Beitrittsverhandlungen eintritt.
Ich zitiere noch einmal Helmut Schmidt im bereits
genannten Artikel der „Zeit“:
... so kann es doch nicht Aufgabe der EU sein, ihren
Mitgliedsstaaten den Rechtsstaat, Demokratie und
persönliche Freiheit zu bringen. Alle bisherigen
Mitgliedsstaaten haben diese Grundwerte entscheidend aus eigenem Antrieb im eigenen Land verwirklicht, bevor sie sich der EU angeschlossen haben - und nicht etwa zum Zwecke des Beitritts.
Die Bundesregierung scheint angesichts der gravierenden Sicherheitsprobleme, die die Türkei mit sich
bringt, ganz ähnlich verfahren zu wollen. Dem jüngsten
Verfassungsschutzbericht zufolge sind in den aktiven
Thomas Strobl ({14})
islamistischen Organisationen, die eine Mitgliederzahl
von über 30 000 Personen aufweisen, 27 000 türkische
Staatsangehörige.
({15})
Daraus folgt zunächst einmal, dass Millionen Menschen
türkischer Herkunft in Deutschland friedlich leben.
({16})
Aber auch der Verweis auf die friedliebende und schweigende Mehrheit darf nicht dazu führen, dass man die
Augen vor den Problemen mit den extremistischen Islamisten unter der türkischen Bevölkerung verschließt,
wie es die rot-grüne Regierung bis heute tut.
({17})
Meine Damen und Herren, Sie verschließen die Augen
vor der „türkischen Realität“ in Deutschland.
({18})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit!
Das hat auch die öffentliche Anhörung des Deutschen
Bundestages zum Thema „Islamistische Einflüsse auf
die Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf Integration
und Sicherheit“ klar erbracht.
({0})
Herr Kollege!
- Ich komme sofort zum Ende.
Meine Damen und Herren, wir können nicht zulassen,
dass die Türkei auf diese Art und Weise ihre eigenen
Probleme nach Deutschland verlagert - übrigens insbesondere wegen der großen Mehrheit der hier lebenden
Türken: Auch deren Integration wird durch eine solche
Politik letztlich erschwert.
Besten Dank fürs Zuhören.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Ute
Vogt das Wort.
Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Strobl, Sie haben Fragen gestellt, die ich Ihnen gern
beantworten möchte. Ich kann Ihnen einen Blick ins Gesetz empfehlen; das erleichtert zuweilen die Rechtsfindung.
({0})
Wie mit dem Sachverhalt umzugehen ist, ist relativ klar.
Nach unserer Schätzung sind etwa 48 000 türkische
Staatsangehörige betroffen. Nach § 25 des Staatsangehörigkeitsgesetzes haben diese durch die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Ab dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme
dieser Tatsache durch den Betroffenen, zum Beispiel anlässlich der Verlängerung eines Passes oder wenn er heiraten möchte, hat der Betroffene nach dem neuen
Zuwanderungsgesetz bzw. nach dem neuen Aufenthaltsgesetz sechs Monate Zeit, eine Aufenthaltserlaubnis zu
beantragen. In diesen sechs Monaten besteht auf diese
Aufenthaltserlaubnis auch ein gewisser Anspruch. Die
deutsche Staatsbürgerschaft muss schlichtweg neu beantragt werden. Die Sache ist also nicht rückgängig zu machen, sondern der Betroffene muss ganz neu die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben, weil diese durch
Gesetzeskraft verloren gegangen ist.
Was die weitere Praxis angeht, so kann ich Ihnen sagen, dass es mit der jetzigen türkischen Regierung natürlich ein Übereinkommen gibt; die Praxis, die türkische
Staatsangehörigkeit, die zuvor entzogen wurde, unbemerkt erneut zu erteilen, wurde inzwischen abgestellt.
Zur Frage der Ausbürgerungen kann ich Ihnen sagen
- Sie können das ja nicht wissen, weil Sie nicht jedes
Mal dabei sind, wenn der Herr Innenminister mit seinem
türkischen Kollegen spricht -, dass diese sehr wohl auch
Inhalt der Gespräche sind. Wir hoffen, da sehr bald zu einer gemeinsamen Regelung zu kommen. Sie brauchen
also nicht zu befürchten, dass wir Themen, die in der Tat
problematisch sind, nicht mit entsprechender Klarheit
zum Ausdruck bringen.
Ich will darauf hinweisen, dass die positive Aussicht
auf einen Beitritt sicherlich sehr viel dazu beiträgt, die
Verhandlungen mit der Türkei zu beschleunigen und einfacher zu gemeinsamen Übereinkommen zu kommen,
als es noch vor ein paar Jahren der Fall war. In diesem
Sinne: Helfen Sie mit, dass zum Beispiel die Staatsbürger informiert werden. Diese Probleme betreffen übrigens nicht nur die Gruppe der Türken. Ähnliche Probleme gibt es bei Aussiedlern aus Russland, die deutsche
Staatsbürger sind: Sobald sie ihren russischen Pass verlängern lassen, haben sie genau dasselbe getan, nämlich
eine zweite Staatsbürgerschaft angenommen, ohne eine
Genehmigung dafür zu haben. Damit verlieren auch sie
ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Es liegt an uns allen
- insoweit kann ich nur appellieren -, die Folge eines
solchen Verhaltens, nämlich den Verlust der deutschen
Staatsbürgerschaft, publik zu machen, darüber zu informieren.
({1})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Strobl.
({0})
Herr Präsident! Ich bin dankbar, dass Frau Staatssekretärin Vogt hier einräumt - ich höre das im Übrigen
zum ersten Mal von einem Mitglied der Bundesregierung -, dass es ein handfestes Problem gibt. Vielleicht
sagen Sie auch zu anderen angesprochenen Problemen
etwas, zum Beispiel zu den Ausbürgerungen, die die
Türkei vornimmt und mit denen sie Abschiebungen aus
Deutschland verhindert, oder zu den 27 000 extremistischen, islamistischen Türken, die in der Bundesrepublik
Deutschland leben. Ich bin jedoch schon dankbar, dass
Sie zu dem einen Punkt konzedieren, dass es ein Problem gibt. I
Frau Staatssekretärin, ich möchte Ihnen dazu eine
Frage stellen. Am 5. Januar 2005 stand in der „Frankfurter Rundschau“ - das ist ja nicht gerade ein rechtsradikales, ausländerfeindliches Hetzblatt -:
Die Europäische Union ({0}) muss sich langfristig
auf den Zustrom von nahezu drei Millionen Zuwanderern einstellen, wenn sie den Türken nach einem
eventuellen Beitritt Freizügigkeit gewährt. Zu dieser Einschätzung kommt die Statistikbehörde DIE
in Ankara. Einer Studie des staatlichen Statistikamts der Türkei zufolge wollen 2,7 Millionen Türken in den ersten 15 Jahren nach einem EU-Beitritt
ihres Landes in eines der 25 Mitgliedsländer auswandern.
({1})
In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union leben
ungefähr 4 Millionen Türken, 2,5 Millionen davon in
Deutschland. Im gleichen Artikel ist davon die Rede,
dass bis zu 4 Millionen Türken nach Europa kommen
könnten. Ein Großteil davon wird wiederum nach
Deutschland kommen.
({2})
Schauen Sie sich diese Zahlen an! Das wird dazu führen,
dass die Anzahl der in Deutschland lebenden Türken
massiv zunehmen und sich möglicherweise verdoppeln
wird.
Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie, die Bundesregierung und die kommenden Redner der rot-grünen
Koalition fragen:
({3})
Glauben Sie wirklich, dass diese massiven Probleme
- ein Problem hat Frau Vogt gerade eben eingeräumt kleiner werden, wenn die Anzahl der aus der Türkei
nach Deutschland kommenden Menschen sehr viel größer wird und es durch die Freizügigkeit und den EU-Beitritt möglicherweise sogar zu einer Verdoppelung der in
Deutschland lebenden Türken kommen wird?
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lale Akgün, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Strobl, ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen; denn seit ich diesen Antrag gelesen habe, habe
ich mir wirklich Gedanken darüber gemacht, was Sie mit
diesem Bauchladenantrag „Probleme mit der Türkei
nicht ausblenden“ wollen. Sie haben nach dem Motto
gehandelt: immer rein in den Antrag.
Sie selbst haben jetzt gesagt, dass der Antrag vom
14. Dezember 2004 der vergebliche Versuch war, drei
Tage vor dem Europäischen Rat der Öffentlichkeit noch
einmal die letzten Argumente zu präsentieren, um in
Deutschland Stimmung gegen die Türkei zu machen. Ihr
Wunsch war es ja, die Türkei als nicht europatauglich
darzustellen und damit den Beschluss der EU zu torpedieren, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Wir alle wissen, dass sich der Europäische Rat
von Ihrem Papier nicht sonderlich hat beeindrucken lassen. Er hat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
beschlossen. Das ist gut so. Trotzdem müssen wir uns
heute mit Ihrem Gemischtwarenantrag beschäftigen.
({0})
- Es sind Gemischtwaren, weil Sie ganz unterschiedliche Probleme in einen Topf geworfen haben. Ich nenne
das Problem der Islamisten, das Problem der Staatsbürgerschaft usw. Ich will versuchen, Ordnung in diesen
Antrag zu bringen, und beginne mit dem ersten Punkt,
bei dem es um die Staatsangehörigkeit geht.
Sie behaupten, türkischstämmige Deutsche würden
sich mithilfe der türkischen Regierung heimlich und illegal eine zweite Staatsangehörigkeit aneignen.
({1})
- Hören Sie doch einmal zu. - Um es klarzustellen: Es
gibt keine rechtsmissbräuchliche Wiedereinbürgerung.
Jede und jeder Deutsche ist völlig frei darin, jede Staatsangehörigkeit jedes Staates anzunehmen, die ihm erteilt
wird.
({2})
Das Problem dabei ist, dass die Annahme einer ausländischen Staatsangehörigkeit den automatischen Verlust der
deutschen Staatsbürgerschaft zur Folge hat.
({3})
Das steht in § 25 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.
Diese Regelung gilt seit dem 1. Januar 2000, also seit
In-Kraft-Treten des von uns initiierten Staatsangehörigkeitsrechts. Bis dahin galt das alte Staatsangehörigkeitsrecht, durch das allen in Deutschland lebenden und eingebürgerten Türkischstämmigen und anderen sehr wohl
die Möglichkeit eingeräumt wurde, eine zweite Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, ohne die deutsche zu
verlieren.
Viele der jetzt Betroffenen haben die Wiedereinbürgerung übrigens schon lange vor dem 1. Januar 2000 beantragt.
({4})
Sie haben dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Diese
Menschen haben schlichtweg den Fehler begangen, die
Änderungen in einem Paragraphen des Staatsangehörigkeitsrechtes im Jahr 2000 nicht verfolgt zu haben und
die Rechtsfolge des Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit nicht zu kennen.
({5})
Dies betrifft die Wiedereinbürgerung in die Türkei,
wie die Staatssekretärin eben ausgeführt hat, aber auch
ehemalige sowjetische Staatsbürger, die die Staatsangehörigkeit eines der Nachfolgestaaten der Sowjetunion
beantragt haben. Diese Menschen werden für ihr fehlendes Wissen sanktioniert, und zwar mit dem Verlust der
deutschen Staatsbürgerschaft. Sie hingegen, Kolleginnen
und Kollegen von der Union, dürfen Ihr geballtes juristisches Unwissen sogar in Form eines Antrages in die
Welt hinausposaunen. Ich frage Sie: Sind Sie wirklich
nicht in der Lage, zwischen einer Rechtsfolge und einem
Rechtsmissbrauch zu unterscheiden? Das kann ich nicht
glauben. Ich fürchte, Sie vertauschen die Begriffe absichtlich, weil sich der Ausdruck Rechtsmissbrauch
leichter dazu benutzen lässt, Menschen in die Nähe krimineller Handlungen zu rücken und einen ganzen Staat
als nicht rechtsstaatlich zu diskreditieren.
({6})
In der Tat gibt es in diesem Themenbereich einen Problemdruck.
({7})
Es geht aber nicht etwa darum, die Handlungsweise türkischer Behörden infrage zu stellen, sondern darum, dass
wir uns der etwa 50 000 betroffenen Menschen in
Deutschland annehmen. Wir müssen sie dabei unterstützen, wieder einen sicheren Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsstatus zu erlangen. Unser Anliegen ist es, die
Betroffenen zu beraten und ihnen Wege aufzuzeigen,
wie sie ihre eigene Rechtsunsicherheit beenden können,
wie sie eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis und eine erneute Erlangung der deutschen
Staatsbürgerschaft erreichen können.
In dieser Sache sind wir intensiv tätig, seitdem das
Problem auf dem Tisch ist. Das geschieht nicht, wie Sie
wieder unterstellen, indem wir Gesetzeserleichterungen
schaffen, Sondervereinbarungen, Geheimabkommen
oder Ähnliches anstreben. Nein, wir beraten die betroffenen Menschen in diesem Land, wie sie im Rahmen der
bestehenden Gesetze vorgehen können, um möglichst
unbürokratisch ihren Status zu verbessern. Ich halte das
nicht für rechtsmissbräuchlich oder falsch, sondern für
die Pflicht einer verantwortungsvollen Regierung.
({8})
Wir sind dabei, eine Broschüre in deutscher, türkischer
und russischer Sprache herauszubringen, um die Betroffenen aufzuklären und ihnen Wege aufzuzeigen, im Rahmen der bestehenden Gesetze wieder einen sicheren
Aufenthaltsstatus zu erlangen.
Im zweiten Punkt Ihres Antrages geht es um eine Anzahl von circa 300 bis 400 Personen, die der türkische
Staat ausgebürgert hat - in der Regel wegen Nichtableistung des Wehrdienstes -, und zwar unabhängig davon,
ob diese Leute kriminell sind oder nicht, und auch unabhängig davon, ob sie durch die Ausbürgerung staatenlos
werden oder nicht. Diese Praxis ist ein Problem. Wir
sind damit überhaupt nicht einverstanden.
({9})
Im Gegensatz zum Titel Ihres Antrages jedoch blenden wir diese Probleme nicht aus, sondern gehen sie seit
langem und nachdrücklich an. Besonders Bundesminister Schily hat dies in den vergangenen Monaten bei der
türkischen Seite nachdrücklich angemahnt. Dies betrifft
insbesondere die Reform des türkischen Staatsangehörigkeitsrechts und die Harmonisierung im Rahmen der
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Dieser Prozess ist
auf dem Weg und wir werden ihn kritisch begleiten.
Der dritte Punkt Ihres Antrages hat nun wirklich
nichts mehr mit Unwissenheit zu tun. Entschuldigen Sie,
aber er ist schlicht eine Unverschämtheit, weil Sie erneut
die Anwesenheit türkischstämmiger Menschen als ein
Sicherheitsrisiko darstellen.
({10})
Sie schüren Ängste, um politisch Stimmung zu machen,
indem Sie die Begriffe Kriminalität, Islamismus, Extremismus, Türken, Mitgliedschaft der Türkei in der EU,
Bildungsferne und Einbürgerung einfach aneinanderreihen, muslimische Jugendliche als tickende Zeitbomben
bezeichnen und alle Bemühungen um eine Integration
gezielt torpedieren.
({11})
Sie fragen nach dem Gesamtkonzept dieser Bundesregierung zur Bewältigung von Sicherheitsrisiken. Wenn
Sie sich anschauen, was diese Regierung im Bund tut,
und wenn Sie sich einmal vor Augen führen, was sozialdemokratisch geführte Landesregierungen in Deutschland tun, dann werden Sie ein Gesamtkonzept erkennen.
Unser Gesamtkonzept besteht aber eben nicht nur aus sicherheitspolitischen Maßnahmen. Ein Gesamtkonzept
zur gesellschaftlichen Integration besteht aus vielen politischen Bereichen. Dazu gehören das Bekämpfen von
Extremismus, das Fördern des demokratischen Islam in
Deutschland, aber auch eine gezielte Förderung von Arbeit, Bildung und Ausbildung. Ihr Gesamtkonzept lautet
hingegen: Bildung kürzen, Schüler früher selektieren,
bundesweite Studiengebühren, die Politik aus dem Bemühen um Ausbildungsplätze heraushalten, Gelder für
Integration in den von Ihnen regierten Bundesländern
kürzen, Turbokapitalismus und Entsolidarisierung. Ihr
politisches Konzept ist ein Risiko für Integration und Sicherheit in unserem Land.
({12})
Der Berliner „Tagesspiegel“ schrieb am 7. Januar dieses Jahres zu Ihrer ratlosen Programmatik:
In CDU und CSU geht Angst um. Es ist die Angst
vor der eigenen Schwäche.
Ihre Schwäche soll nicht unsere Sorge sein. Aber wir
können es nicht tolerieren, wenn Sie versuchen, Ihre eigene Angst vor Bedeutungslosigkeit zu bekämpfen, indem Sie in der Gesellschaft Vorurteile gegenüber anderen Menschen schüren, indem Sie Angst vor
notwendigen politischen Veränderungen schüren. Das
können wir nicht zulassen. Ich werde Ihnen bei jedem
Versuch dieser Art immer ganz deutlich sagen: Ihre Politik ist schäbig.
({13})
Ich würde mir wünschen, Sie würden in den Zugewanderten, vor allem in den muslimischen Zugewanderten, nicht nur Gewalt und Terrorismus sehen.
({14})
Ich würde mir wünschen, Sie würden auch die Bereicherung durch die Zuwanderung sehen.
({15})
Auch positive Annäherungen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, sind möglich. Ich möchte ein
Beispiel geben. Heute ist Opferfest. Das ist der höchste
islamische Feiertag. Ich möchte daher allen Muslimen in
Deutschland ein gesegnetes und friedliches Opferfest
wünschen. Das tue ich auch in Ihrem Namen.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Vorbemerkung will ich jetzt doch machen. Ich bin
seit 9 Uhr im Plenum. Es wurde heute Morgen - auch
zur Kernzeit - noch kein Minister der Bundesregierung
hier gesehen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, ich fordere auch Sie auf, diese Brüskierung
des Parlaments durch die Bundesregierung nicht hinzunehmen. Wir dürfen das nicht mitmachen!
({1})
Zur Sache: Dieser Antrag muss unter zwei verschiedenen Aspekten behandelt werden, einmal in Bezug auf
die Zielrichtung, zum anderen in Bezug auf die konkreten Punkte. Zunächst zur Zielrichtung, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union. Sie haben diesen Antrag
am 14. Dezember im Zusammenhang mit der EU-Entscheidung eingebracht. Die Entscheidung, Verhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, ist gefallen. Es ist
doch keine Frage, dass sich auch eine Nachfolgeregierung im Jahr 2006 an diese Entscheidung halten müsste.
Deshalb müssen Sie zumindest den Punkt des Antrages
ändern, damit er wirklich ernst genommen werden kann.
Kein Mensch kann davon ausgehen, dass eine Regierung
die Verhandlungen nicht weiterführen würde. Das sollte
man hier klarstellen.
({2})
Was die Einzelfragen, die Sie hier aufgelistet haben,
betrifft, muss ich sagen, dass es sicherlich richtig ist,
dass der Runderlass der türkischen Regierung bezüglich
der Staatsangehörigkeit aus dem Jahr 2001 im
März 2004 aufgehoben wurde. Aber, Frau Staatssekretärin Vogt, es kommt jetzt darauf an, wie die Durchführung aussieht. Es ist völlig richtig, Frau Akgün, wir müssen auch an die Betroffenen denken und daran, wie wir
denen, die zum Teil aus Unwissenheit gehandelt haben,
helfen können. Wir müssen uns aber auch fragen, wie
wir eigentlich darüber informiert werden,
({3})
ob diese deutschen Staatsbürger wieder die türkische
Staatsangehörigkeit angenommen haben oder nicht.
Diese Frage müssen Sie uns schon noch genauer beantworten. Das Problem ist da und das müssen wir lösen.
({4})
Wir müssen auch bei den Ausbürgerungen nicht nur
auf das Recht schauen, sondern auch auf die Rechtspraxis. Es kann nicht sein, dass Menschen, die bei uns kriminell werden, ausgebürgert werden und damit nicht
mehr abgeschoben werden dürfen. Das werden wir nicht
mittragen.
({5})
Auch das ist in der Praxis zu behandeln.
Es ist richtig, dass wir ein Gesamtkonzept zur Bewältigung aktueller und künftiger Sicherheitsrisiken brauchen. Ich warne allerdings auch hier vor Verallgemeinerungen und davor, den Islam pauschal zu verurteilen.
({6})
Wir müssen sehr differenziert vorgehen. Darüber, dass
wir Sicherheitskonzepte brauchen, sind wir uns, glaube
ich, in diesem Hohen Haus alle einig.
({7})
In Wirklichkeit geht es doch um eine andere Frage.
Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei werden aufgenommen. Tatsache ist, dass heute weder die Türkei
beitrittsfähig noch die EU fähig ist, die Türkei aufzunehmen.
({8})
Deshalb gibt es - das hat die FDP in der damaligen Debatte auch deutlich gemacht - für uns zwei unverrückbare Grundsätze. Der eine Grundsatz lautet: Die Verhandlungen werden sehr lange dauern. Ein Zeitraum
von zehn bis 15 Jahren ist realistisch. Wir werden uns
gegen alles zur Wehr setzen, was zu einem Automatismus der Beschleunigung führt. Die Verhandlungen werden, wie gesagt, sehr lange dauern.
({9})
Der zweite Grundsatz lautet: Die Verhandlungen
müssen ergebnisoffen sein. Es geht nicht an, mit der
Aufnahme der Verhandlungen das Ergebnis vorwegzunehmen;
({10})
es muss völlig klar sein, dass am Ende der Verhandlungen ein Ja oder ein Nein stehen kann.
({11})
Dabei ist sowohl die Situation in der Türkei als auch die
innerhalb der Europäischen Union zu berücksichtigen.
Es gibt vieles, was die Türkei selbst leisten muss.
({12})
Der Schutz von Minderheiten ist in der Türkei nach wie
vor bei weitem nicht gewährleistet.
({13})
Die Religionsfreiheit ist dort bis heute nicht gegeben.
Der Vorrang des Zivilen vor dem Militärischen ist in der
Türkei nicht garantiert. Es ist noch nicht zu einer Einstellung jeglicher Art von Folter gekommen. In diesen
Punkten muss in den Verhandlungen eine Lösung erzielt
werden;
({14})
andernfalls ist der Beitritt der Türkei nicht möglich.
Zu berücksichtigen sind auch die von Ihnen angesprochenen Punkte, Herr Strobl. Notwendig sind nicht nur
rechtliche Regelungen, sondern es geht auch um die
Umsetzung in der Rechtspraxis.
Insofern stelle ich abschließend fest: Wenn Ihr Antrag
ernsthaft weiter beraten werden soll, dann muss er geändert werden. Wir werden an unseren Prinzipien festhalten. Die Entscheidung ist gefallen. Sie ist auch von einer
Nachfolgeregierung 2006 mitzutragen. Aber die beiden
Grundsätze - lange Dauer und ergebnisoffene Verhandlungen - müssen gelten und Bestand haben.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin immer wieder beeindruckt, wie stark
der Einfluss der rot-grünen Bundesregierung auf euro-
päischer Ebene aus Sicht der Opposition sein muss.
Denn Sie gehen offenbar davon aus, dass wir es mit un-
seren verqueren Ansichten schaffen, alle Staats- und Re-
gierungschefs der gesamten Europäischen Union von
Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer
überzeugen zu lassen, wider besseres Wissen Beitritts-
verhandlungen mit der Türkei aufzunehmen.
Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]:
Wenn sie sich in anderen Fragen in Europa
auch so einbringen würden, wäre es gut!)
- Vielleicht sollten Sie sich zukünftig mit Ihren Außenpolitikern abstimmen, Herr Strobl. - Dieses Lob für die
Bundesregierung nehmen wir gerne an.
Allerdings sind die Vorschusslorbeeren, die Sie uns
gewähren, nicht ganz angemessen. Denn alle Bedenken,
die Herr Burgbacher vorgebracht hat, sind in dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs berücksichtigt
worden. Es trifft nicht zu, dass beschlossen wurde oder
von Rot-Grün in irgendeiner Form befürwortet würde,
dass die Türkei der EU um jeden Preis beitreten sollte.
Die von Ihnen vorgebrachten Bedenken sind Scheinargumente gegen von uns gar nicht vorgebrachte Argumente. Insoweit weise ich es zurück, dass wir uns an einer solchen Diskussion überhaupt beteiligen müssten.
Ich komme jetzt zu dem Staatsangehörigkeitsrecht,
das Sie angesprochen haben, Herr Strobl. Die von Ihnen
aufgeworfene Frage wurde seitens der Bundesregierung
schon einmal dem Kollegen Jüttner beantwortet. Das
liegt allerdings schon etwas zurück und ist Ihnen vielleicht entgangen, weil er kein Innenpolitiker ist. Aber
dass der Erlass im März 2004 aufgehoben wurde, ist
schon seit November bekannt und wurde in einer Bundestagsdrucksache schriftlich dokumentiert.
Sie haben von einem gewissen Ruch der Illegalität
gesprochen. Eines ist sicher: Vor der Reform war es
deutschen Staatsbürgern möglich, durch eine Einbürgerung im Ausland bei gewöhnlichem Aufenthalt ganz legal eine doppelte Staatsbürgerschaft zu erhalten. Es handelt sich dabei um eine Gruppe, die ihre Anträge zum
Teil weit vor dem In-Kraft-Treten der Reform gestellt
hat. Da nicht jeder eine so gute juristische Bildung aufweist wie Sie, konnten nicht alle Betroffenen wissen,
dass die Reform mit ihrem In-Kraft-Treten auch rückwirkend für früher gestellte Anträge gilt.
({0})
Die Betroffenen sind jetzt zum Teil in einer sehr miserablen Situation, weil sie aufgrund des Erlasses der türkischen Regierung die deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben. Sie sind aber keine Kriminellen. Wir sind
uns sicherlich einig, dass die Erlasslage in der Türkei inakzeptabel war. Dies ist inzwischen auch aufgrund der
Intervention der Bundesregierung abgestellt worden.
Nun muss es darum gehen - wie bereits die Kollegin
Dr. Akgün ausgeführt hat -, in Dialog mit den Betroffenen zu treten und ihnen zu helfen, wieder Deutsche zu
werden, wenn sie es möchten. - An dieser Stelle wäre
ein bisschen Applaus durchaus angemessen, Herr Kollege Ströbele.
({1})
- Ich bin völlig überrascht, dass es keinen spontanen
Beifall gab; denn ich finde, dass ich es schlüssig vorgetragen habe.
({2})
- Ich merke es.
Von offizieller türkischer Seite ist bestätigt worden,
dass es sich um etwa 50 000 Anträge handelt. Ich habe ja
bereits ausgeführt, dass die entsprechende Regelung von
uns abgelehnt wird. Wenn ich einmal von den aktuellen
Fällen absehe und mir die Altfälle anschaue, bin ich dennoch der Meinung, dass wir mehr als 40 Jahre nach der
Anwerbevereinbarung mit der Türkei noch einmal darüber nachdenken sollten - ich weiß, dass Sie das nicht
gerne hören -, ob nicht zumindest für die erste Generation der Einwanderer, die enorme Hilfe beim Aufbau der
Bundesrepublik Deutschland geleistet haben, eine
doppelte Staatsbürgerschaft ein gutes Angebot der
Bundesrepublik wäre, um ihre Leistungen zu würdigen.
({3})
Ich kann jedenfalls für meine Fraktion sagen, dass wir
das nicht für alle Zeiten ausschließen.
({4})
- Herr Strobl, ich gebe es zu: Sie haben mich entlarvt.
({5})
Unsere Beschlusslage dazu ist immer klar gewesen. Ich
bleibe dabei, dass auch die Migranten enorme Leistungen beim Aufbau Deutschlands erbracht haben.
({6})
Ich weiß, dass das nicht die Zustimmung des ganzen
Hauses findet. Aber wir bleiben dabei, dass das durchaus
angemessen wäre.
Abschließend möchte ich noch etwas zu Punkt 4 Ihres
Antrags sagen, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU. Sie vermischen ständig Extremismus, türkische
Mitbürger, Islamismus, Zuwanderung und „Verdoppelung der Türken in Deutschland“ miteinander. Ich bin
übrigens der Meinung, dass sich nur die Zahl der Türken
verdoppeln kann, dass sich aber die Türken selber nicht
verdoppeln können. Bei deutschen Mitbürgern sind Sie
vielleicht ein bisschen genauer in der Idiomatik. Ihre
Vermischung von Begriffen aus dem Staatsbürgerschaftsrecht mit den eben genannten lehnen wir jedenfalls ab.
({7})
Man kann es schon als schäbig bezeichnen, wenn Sie
Dinge, die völlig legal sind, und Mitbürger, die hier bei
uns friedlich ihrer Arbeit nachgehen, mit einer extremen
Minderheit, die sich prozentual kaum beziffern lässt, in
Zusammenhang bringen und fordern, dass man dagegen
etwas tun müsse.
({8})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ihren Versuch, sich politisch auf Kosten
der türkischstämmigen Migranten in Deutschland zu
profilieren, weisen wir entschieden zurück. Das, was getan werden muss, damit die Abkommen mit der Türkei
so eingehalten werden, wie wir das als gleichberechtigter Partner erwarten können, wird die rot-grüne Bundesregierung tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Hartmut Koschyk, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Winkler, Frau Kollegin Akgün, man merkt
an Ihren Ausführungen sehr deutlich, dass die Bundesregierung die Probleme, die im Vorfeld einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union bestehen,
viel offensiver hätte aufgreifen müssen. Aber dazu sind
Sie nicht bereit. Sie versuchen vielmehr, diese Probleme
entweder auszublenden oder zu bagatellisieren.
({0})
Herr Kollege Winkler, Sie müssen sich schon entscheiden: Halten Sie es für ein Problem, dass deutsche
Staatsangehörige türkischer Herkunft durch zahlreiche
Aufrufe türkischer Behörden auch die türkische Staatsangehörigkeit im Sinne einer doppelten Staatsangehörigkeit angenommen haben, und sollte die Bundesregierung
Ihrer Meinung nach dagegen vorgehen? Oder sind Sie
eigentlich doch für die doppelte Staatsbürgerschaft
- Sie haben sich in diesem Sinne geäußert -, und zwar
nicht nur von Türken in Deutschland mit deutscher
Staatsangehörigkeit, sondern auch von anderen Zuwanderern?
({1})
Sie müssen sich schon entscheiden.
Der türkische Staat hat durch Runderlass aktiv für ein
Aushöhlen unseres Staatsangehörigkeitsrechts geworben. Das haben Sie quasi als Kavaliersdelikt bezeichnet.
({2})
Sie sagen, dieser Missstand sei beseitigt worden und
stelle jetzt kein Problem mehr da. Sie bagatellisieren,
was das auch für die Berechenbarkeit der türkischen Politik im Hinblick auf ihre Zusagen auch im Zuge des
Beitrittsverfahrens bedeutet. Wir sind nicht bereit, das
hinzunehmen.
({3})
Liebe Frau Kollegin Akgün, Sie haben sich über die
Formulierung „tickende Zeitbombe“ in unserem Antrag
künstlich aufgeregt. Liebe Frau Kollegin Akgün, ich will
Sie darauf hinweisen, dass diese Formulierung ein Experte bei der Anhörung des Bundestagsinnenausschusses
zum Thema „Probleme des Islamismus in Deutschland“
benutzt hat. Von den rund 30 000 vom Bundesamt für
Verfassungsschutz festgestellten Islamisten in Deutschland sind 27 000 türkischer Herkunft.
Hinzu kommt all das, was wir bei der Anhörung des
Bundestagsinnenausschusses gerade im Hinblick auf die
türkische Gemeinschaft in Deutschland von Fachleuten
- auch von einem türkischen Journalisten; was er dazu
gesagt hat, war sehr beeindruckend - gehört haben. Das
blenden Sie hier einfach aus. Daran merkt man, dass Sie
in Bezug auf Probleme im Zusammenhang mit der Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union
Scheuklappen angelegt haben und dass Sie nicht wollen,
dass hier die wirklichen Probleme debattiert werden.
({4})
Es gibt doch ernst zu nehmende Warnungen. Der Kollege Strobl hat Helmut Schmidt zitiert. Ich möchte den
sehr bemerkenswerten Aufsatz von Valéry Giscard
d’Estaing in der „FAZ“ erwähnen. Ich verweise auf
den Historiker Heinrich August Winkler, Mitglied der
SPD, und den Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang
Böckenförde. Außerdem verweise ich auf die klare Position - dafür bin ich dankbar -, die die beiden großen
Kirchen in Deutschland in dieser Frage eingenommen
haben. Ich erinnere an das, was Kardinal Lehmann und
Bischof Huber dazu gesagt haben. Sie haben auf die ungelösten Probleme in den Bereichen der Religionsfreiheit, der Gleichstellung von Mann und Frau und der
Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei verwiesen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gloser?
Herr Kollege Gloser, bitte.
Herr Kollege Koschyk, Sie haben aufgegriffen, was
Ihr Kollege Strobl vorhin ausführlich dargelegt hat. Auf
dem Europäischen Rat 1997 haben die Mitglieder der
schwarz-gelben Bundesregierung der Türkei die Perspektive gegeben, der Europäischen Union beizutreten,
obwohl die Türkei damals, was Demokratie, innere
Strukturen und anderes angeht, weit hinter dem zurücklag, was sie heute aufgrund des eingeleiteten positiven
Prozesses erreicht hat.
({0})
1997 war die Europäische Union der 15 von der Perspektive einer europäischen Verfassung und der damit
verbundenen Handlungsfähigkeit weit entfernt. Warum
hat die schwarz-gelbe Regierung dann diese Beitrittsperspektive gegeben? Diese Position ist durch den
CSU-Landesgruppenvorsitzenden Michael Glos im Dezember 1997 nachdrücklich bekräftigt worden. Wie erklären Sie diesen Widerspruch? Müssten Sie heute nicht
wenigstens „Das war zumindest grob fahrlässig“ sagen?
({1})
Herr Kollege Gloser, die Union hat sich immer für
enge und über die jetzigen Bindungen hinausgehende
Bindungen der Türkei an die Europäische Union ausgesprochen, ganz im Sinne einer privilegierten Partnerschaft,
({0})
wie wir, die Union, und übrigens auch der österreichische Bundeskanzler Schüssel - in Österreich wird es
eine Volksbefragung zu diesem Thema geben - sie in
dieser Frage vertreten.
Eines ist doch interessant, Herr Gloser.
({1})
Sie von der Koalition von SPD und Grünen, die sich immer so offen für plebiszitäre Elemente im Grundgesetz
zeigen, haben eines doch schon sehr deutlich gemacht:
Es könnte in Deutschland über alles eine Volksabstimmung geben, aber über das Thema Türkei - das haben
die Verantwortlichen Fischer und Müntefering klargestellt - würden Sie nie eine Volksbefragung zulassen.
({2})
Das zeigt, Herr Kollege Gloser, dass Sie unsicher geworden sind.
Ich möchte in Erinnerung rufen, dass wir vom Innenausschuss im Juni letzten Jahres unter Ihrem Vorsitz,
Frau Kollegin Akgün, eine Reise in die Türkei durchgeführt haben, bei der wir sehr deutlich gespürt haben, wie
vieles im Hinblick auf die Rechtssituation der Kirchen
völlig ungeklärt ist. Wir haben erfahren, dass die Nutzung von Eigentum für religiöse und karitative Zwecke
systematisch behindert wird und dass zudem eine ganze
Reihe von faktischen Problemen besteht, nicht so sehr
- das will ich einräumen - bei den deutschen evangelischen und deutschen katholischen Kirchengemeinden
dort, aber - liebe Frau Kollegin Akgün, das haben wir
sehr deutlich gehört - bei den assyrischen Christen, bei
den orthodoxen Christen und bei den aramäischen Christen.
Ich will noch etwas ansprechen, liebe Frau Kollegin
Akgün, nämlich die völlig unbefriedigende Situation
von Deutschen, die auf Dauer in der Türkei leben, die
Probleme, die uns bei unserem Besuch Frauen, die mit
türkischen Partnern verheiratet sind, geschildert haben,
Fragen des Aufenthaltsrechts, Fragen der Berufsausübung. Beispielsweise können deutsche Frauen manche
Berufe nicht ergreifen. All die Probleme sind in unserem
Bericht über die Türkeireise sehr eindeutig dokumentiert
worden. Ich habe bis jetzt aber keine Initiative der Bundesregierung feststellen können, die darauf abzielt, zum
Beispiel die unbefriedigende Rechtssituation von Deutschen zu verbessern, besonders die von deutschen
Frauen, die mit türkischen Partnern verheiratet waren,
dann geschieden wurden oder verwitwet sind.
Professor Böckenförde hat die Entscheidung vom
17. Dezember zu Recht als Stunde der Wahrheit und als
Scheideweg für die EU bezeichnet. Die Türkei ist nach
geographischer Ausdehnung, Bevölkerungszahl, nationaler und kultureller Identität, ökonomischer und politischer Struktur von einer Bedeutung und Eigenart, dass
die Frage nach dem Konzept der europäischen Einigung unausweichlich ist.
Wir wollen, dass die Debatte in Deutschland so ernst
geführt wird, auch im Parlament, wie sie dankenswerterweise gerade von den Verantwortlichen der großen Kirchen in Deutschland geführt wird. Ich bin sehr dankbar
dafür, dass Bischof Huber in einem Interview im Berliner „Tagesspiegel“ vor wenigen Tagen deutlich gemacht
hat,
({3})
er habe die große Sorge, dass die Vollmitgliedschaft der
Türkei in der Europäischen Union die Gefahr in sich
birgt, dass sich die Europäische Union nicht mehr zu einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft entwickelt, sondern zu einer Freihandelszone auseinander
strebt.
Ich mache mir auch die Worte von Kardinal Lehmann
zu Eigen, der die Probleme durch einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, durch eine Vollmitgliedschaft, in eine Frage gekleidet hat: Die Frage ist doch, ob
Europa eine Identität hat, die stark auf Christentum und
Judentum, auf Antike und Aufklärung gründet. Ergeben
sich da nicht Abgrenzungen? - Ich meine, da ergeben
sich Abgrenzungen.
Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben auf die Äußerungen von Bischof Huber im „Tagesspiegel“ mit der
Bemerkung reagiert, Sie setzten sich dafür ein, dass
Europa Wertegemeinschaft und nicht Christenclub wird.
({4})
Damit haben Sie sich dieses unsägliche Wort von Herrn
Erdogan von Europa als Christenclub zu Eigen gemacht - und dies in einer Auseinandersetzung mit dem
Vorsitzenden des Rates der EKD. Dies zeigt, welch traurige Wertvorstellungen Sie von Europa als Wertegemeinschaft auf dem christlich-jüdischen Fundament haben.
({5})
Diese Debatte - wir haben die Probleme in unserem Antrag aufgezeigt - muss geführt werden.
Der Kollege Winkler hat an einer Stelle seiner Rede
schon sehr deutlich auf den Teil des Beschlusses des Europäischen Rates verwiesen, der derzeit in der Türkei
Katzenjammer auslöst, nämlich dass die Verhandlungen
in der Tat - das ist der große Erfolg der Union beim Beschluss des Europäischen Rates - ergebnisoffen geführt
werden
({6})
und dass diese Verhandlungen abgebrochen werden können, wenn zum Beispiel eine bestimmte Zahl von Mitgliedstaaten der Europäischen Union dies will. Das zeigt
doch, wie unsicher sich die Staats- und Regierungschefs
bei der Entscheidung des Europäischen Rates am
17. Dezember gewesen sind. Es zeigt übrigens auch,
dass hier Politik über die Köpfe der Mehrheit der Bevölkerung in den europäischen Ländern hinweg gemacht
wird.
Sie wissen auch - zumindest spüren Sie es -, dass Sie
für Ihre Position in dieser Frage in der deutschen Bevölkerung keine Mehrheit haben. Wir werden nicht zulassen, dass die bestehenden Probleme von Ihnen einfach
weggedrückt, ausgeblendet oder bagatellisiert werden.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koschyk! Meine verehrten Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion, offenbar können Sie es nicht lassen. Sie
wissen doch, dass die Zeit über Sie hinweggegangen ist,
dass die EU am 17. Dezember den Auftakt der Beitrittsverhandlungen beschlossen hat. Sie wissen darüber hinaus, dass Sie sich europäisch isoliert haben. Jetzt spielen Sie die schlechten Verlierer und gerade der letzte
Beitrag hat bewiesen:
({0})
Sie müssen stören und sticheln, Sie wollen Angst und
Misstrauen säen
({1})
und Sie vermengen in unzulässiger Weise Islamismus
mit Türkei. Das geht nicht.
({2})
Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Wir werden, wie Gott
sei Dank auch die Mehrheit der Bürger, Ihnen auf diesem Weg nicht folgen.
Gerade weil die europäische Einigung ein schwieriger
Prozess ist, ist es nötig, damit in aufklärerischer und
sachlicher Atmosphäre umzugehen. Er verträgt keine
pauschale Verunglimpfung und Hetzerei. Genau das tun
Sie. Das ist unzulässig und fahrlässig.
({3})
Frau Kollegin, Sie wissen, dass Sie mit diesem Begriff sehr unparlamentarisch argumentiert haben. Ich
bitte Sie, den Begriff zurückzunehmen.
Ich nehme ihn zurück. Ich glaube, es ist im Beitrag
des Kollegen deutlich geworden, was er damit bezweckt.
({0})
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen
Strobl?
Ja.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, was veranlasst Sie
zu solch schwerwiegenden Vorwürfen gegen die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, die lediglich darauf hingewiesen hat, dass von den 30 000 extremistischen Islamisten,
die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt und von
denen eine erhebliche Gefahr für unser Land ausgeht ({0})
- das können Sie mit mir gemeinsam im aktuellen
Verfassungsschutzbericht nachlesen, Herr Kollege
Ströbele -, eben 27 000 aus der Türkei kommen? Was ist
daran eine unzulässige Vermengung? Was ist daran
Hetze?
({1})
Die unzulässige Vermengung geht aus dem Gesamttenor eindeutig hervor. Ich beziehe mich auf die Wortwahl
Ihres Antrags. Darin wird gehäuft von „rechtsmissbräuchlicher Wiedereinbürgerung“, von „Schwerkriminellen“, von „Drogen- und Gewaltdelikten“, von „Sicherheitsrisiken“, von „Rechtfertigung von Gewalt“, von
„terroristischer Bedrohung“ und von „geistig-politischem Einfluss von Islamisten“ gesprochen. Das ist der
Grund dafür, dass ich dies in aller Schärfe anprangern
muss.
({0})
- Ich gehe von der Wortwahl Ihres Antrags und vor allem vom Beitrag des Kollegen Koschyk aus.
({1})
- Ich komme jetzt dazu, wenn Sie mir die Gelegenheit
geben. Keiner behauptet, Herr Kollege, dass der Beitrittsprozess ein Spaziergang bei schönem Wetter sein wird.
Niemand blendet Probleme mit der Türkei aus. Genauso
wenig sollten übrigens die Probleme mit anderen Beitrittskandidaten ausgeblendet werden. Es stimmt, dass es
Schwierigkeiten bei der Wiedereinbürgerung oder bei
der Ausbürgerung gibt.
({2})
Die Türkei ist - auch das muss ich sagen - für ihre
Staatsbürger verantwortlich. Sie hat die anstehenden
Probleme zu lösen und darf sie nicht bei uns abladen, vor
allen Dingen nicht bei den hier lebenden Migranten türkischer Herkunft, aber ebenso wenig bei den in der Türkei lebenden Bürgern aus anderen Staaten. Das ist völlig
unstrittig. Um dies zu verdeutlichen, ist die Bundesregierung, wie wir gehört haben, seit langer Zeit tätig.
Die bestehenden Konflikte etwa bei der Frage, was
mit den Anträgen von Menschen türkischer Abstammung auf Einbürgerung geschieht, die die Anträge schon
vor dem 1. Januar 2000 gestellt haben, aber von der Türkei die entsprechenden Bescheide noch nicht bekommen
haben, und, da sie sich auf altes Recht bezogen, noch mit
ihrer Wiedereinbürgerung rechneten, müssen auf der soliden aktuellen rechtlichen Grundlage gelöst werden,
und zwar human. Das ist doch völlig klar.
({3})
All diese Bemühungen haben aber doch viel größere
Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit der Perspektive eines
EU-Beitritts verbunden sind - man kann ruhig sagen,
dass das ein permanentes, willkommenes Druckmittel
darstellt -, als dann, wenn sie mit einer Politik der Abweisung und des Misstrauens verbunden werden, wie
Sie sie betreiben.
Das ist ganz offensichtlich. Wir sind uns doch hoffentlich darüber einig, dass es darum gehen muss, dass
sich möglichst viele der dauerhaft hier bei uns lebenden
Ausländer einbürgern lassen. Dafür haben wir die Bemühungen im neuen Gesetz klar und einfach gefasst.
Wir haben Anforderungen an die Sprachkenntnisse und
an die Hinwendung zu unserer Verfassung aufgestellt.
Wir wollen eben diese Menschen mit vollen Rechten
und Pflichten auf gleiche Augenhöhe und mit voller politischer Teilhabe hier bei uns integrieren.
Es stimmt schon, dass Mehrstaatigkeit in der Regel
vermieden werden soll. Das besagt ja auch das reformierte Staatsangehörigkeitsgesetz. Es stimmt aber nicht,
dass generell keine doppelten Staatsangehörigkeiten
existieren können. Mehrfachstaatsangehörigkeiten, die
nach dem Abstammungsprinzip oder als Folge von binationalen Ehen zustande gekommen sind, bleiben unangetastet.
({4})
Ich darf an die deutsch-türkische Enkeltochter des Altbundeskanzlers Helmut Kohl, an Otto von Habsburg und
andere erinnern. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.
Natürlich gilt auch das Prinzip der Gegenseitigkeit.
({5})
- Ich rede von Ihrer Neigung, schon wieder die doppelte
Staatsbürgerschaft zu verteufeln.
Viele Menschen streben nun einmal danach - das
können Sie doch gar nicht leugnen -, ihre jetzige Staatsangehörigkeit mit der ihres Herkunftslandes zu verknüpfen.
({6})
Dabei müssen sie - das muss man ihnen klar machen die aktuelle Gesetzeslage beachten; ebenso muss das
auch der Herkunftsstaat tun. Es ist aber falsch, sie zu
Kriminellen abzustempeln. Das tun Sie aber praktisch
mit Ihrem Antrag. Dagegen wehren wir uns.
({7})
Es ist, wie ich finde, nicht nur falsch, sondern direkt
gefährlich, wenn Sie aus Mängeln der türkischen
Rechtspraxis - die, um das noch einmal zu betonen, behoben werden müssen - eine terroristische Bedrohung
ableiten. Das haben Sie heute Vormittag getan. Was soll
denn in diesem Zusammenhang diese unselige Verquickung mit Kriminalität und islamistischem Extremismus?
({8})
Was soll in Ihrem Antrag der Schwenk zu „Zahlen und
Aktivitäten radikaler Islam-Anhänger“ in Deutschland
bei Freizeitaktivitäten und in Ferienlagern?
({9})
Ich habe da wahrhaftig nichts zu beschönigen. Es gilt
aber schon festzuhalten, Herr Kollege, dass nach jüngeren Untersuchungen die türkischen Zuwanderer, die, wie
wir wissen, überwiegend muslimisch geprägt sind, die
deutsche Gesellschaftsordnung in hohem Maße akzeptieren und dass lediglich 1 Prozent - das muss ich jetzt
einmal Ihren Behauptungen entgegenhalten - der Muslime in Deutschland islamistischen Organisationen zuzurechnen sind. Diese sind aber fest im Blick der Sicherheitsbehörden.
({10})
Was soll also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
Brunnenvergifterei, die offenbar mit diesem Antrag bezweckt wird?
({11})
Ihre Haltung ist sonnenklar, Herr Kollege Strobl: Die
Europapolitik der Bundesregierung muss verunglimpft
werden, das Klima zwischen Türken und Deutschen
muss verschlechtert werden und es muss Stimmungsmache betrieben werden - das alles im Hinblick auf die
Landtagswahlen.
({12})
Das ist doch der Sinn Ihres Antrages. Ich prophezeie Ihnen, Sie werden damit Schiffbruch erleiden. Für mein
Land Schleswig-Holstein kann ich sagen:
({13})
Wir wollen friedlich mit diesen Menschen leben; wir lassen uns nicht in irgendeiner Weise in eine feindselige
Ecke stellen, Herr Kollege Koppelin. Wir pflegen gute
Partnerschaft mit den bei uns lebenden Migranten und
anderen - nationalen - Minderheiten. In NordrheinWestfalen werden Sie mit solchen Methoden ebenso wenig punkten.
Die Zeiten, in denen Doppelpasskampagnen gegen
doppelte Staatsangehörigkeit wie in Hessen noch funktionierten, sind vorbei. Das funktioniert jetzt nicht mehr.
Schon bei der Kampagne „Kinder statt Inder“ von Herrn
Rüttgers hat sich herausgestellt, dass dies nicht mehr
zieht. Lassen Sie also solche Manöver bleiben!
Eine letzte Anmerkung. Sie fordern wieder einmal
schnell ein neues Gesamtkonzept „zur Wahrung der inneren Sicherheit und zum Kampf gegen den islamistisch
geprägten Terrorismus“.
({14})
Es gibt aber längst ein Gesamtkonzept. Ich nenne die
Anti-Terror-Pakete I und II, die demnächst evaluiert
werden. Ich nenne ferner die umfassenden Gepäck- und
Sicherheitskontrollen an den Flughäfen, die Verbote islamistischer Organisationen - vom Kalifatsstaat bis alAqsa -, die Maßnahmen gegen Hassprediger, die im
neuen Zuwanderungsgesetz enthalten sind. Aber vor allem gilt unser Prinzip: erhöhte Wachsamkeit, hoher Ermittlungsdruck auf der notwendigen gesetzlichen Basis,
aber auch verstärkte Bemühungen um Integration und
Prävention. Dabei müssen wir - in diesem Punkt unterscheiden wir uns - die Balance zwischen konsequentem
Vorgehen gegen islamistischen Terror einerseits und der
Wahrung bürgerlicher Freiheitsrechte andererseits halten.
Panikmache und Verängstigung gehören allerdings
nicht zu unserem Konzept. Das haben Sie sich auf die
Fahnen geschrieben. Ihr Ansatz ist offenbar, wie auch
Ihr Antrag zeigt: Polarisierung und Desintegration. Machen Sie sich bitte keine Hoffnungen, dass wir Ihnen darin folgen!
Danke schön.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4496 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
vom 3. März 2004 ({0})
- Drucksache 15/4533 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Justizministerin Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die akustische Wohnraumüberwachung hat von
ihrer Einführung im Jahre 1998 bis heute für Diskussionen in der Öffentlichkeit und in der Politik gesorgt wie
kaum ein anderes Gesetzgebungsvorhaben im Bereich
des Strafprozesses. Dabei wird die Wohnraumüberwachung tatsächlich nur in ganz wenigen Fällen angeordnet. Im Jahre 2003 waren es ganze 37 Fälle und damit
sogar etwas mehr als der bis dahin vorhandene Jahresdurchschnitt von 30 Fällen.
Die akustische Wohnraumüberwachung stellt in jeder
Hinsicht eine Ausnahme dar. Durch kein anderes Ermittlungsinstrument ist es möglich, derartig weit in den privaten Bereich der Bürgerinnen und Bürger einzudringen.
Andererseits ist die akustische Wohnraumüberwachung
- wenn alle anderen Mittel versagen - das letzte Mittel,
um schwer zugängliche Kriminalitätsstrukturen zu erforschen, schwerste Straftaten aufzuklären und für die Zukunft zu verhindern.
Seit der Einführung dieses Instruments 1998 sind die
Gefahren für die Sicherheit in Deutschland nicht weniger geworden. Die Aufhebung der Grenzen, der verstärkte Reiseverkehr und der verstärkte Tourismus haben
zur Folge, dass Hindernisse für international operierende
Formen der Kriminalität wegfallen. Das sehen wir zum
Beispiel an der Betäubungsmittelkriminalität. Dort wurden in fast 90 Prozent aller Verfahren, in denen man die
akustische Wohnraumüberwachung durchgeführt hat,
Bezüge zur international organisierten Kriminalität festgestellt. Es ging jeweils um sehr massive Taten. Bei den
Drogendelikten wurde pro Verfahren durchschnittlich
wegen 62 Kilogramm Heroin bzw. 47 Kilogramm Kokain ermittelt. In Einzelfällen ging es um Rauschgift in
einer Menge von 1 000 Kilogramm.
Auch die Ereignisse von Madrid haben gezeigt, dass
Deutschland Ziel von terroristischen Anschlägen sein
kann und dass die Wohnraumüberwachung auch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Terrorismus ein
wichtiges Mittel ist und bleiben muss.
Nun darf aber das Ziel, Straftaten zu bekämpfen und
die Rechtsordnung zu schützen, nicht dazu führen, dass
der Schutz des Einzelnen vor der staatlichen Kontrolle
völlig aufgegeben wird.
({0})
Der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit zeigt sich
hier in zugespitzter Form. Denn die Menschen fürchten
sich nicht nur vor terroristischen Anschlägen, sie fürchten sich auch davor, dass sie am Ende keine Rückzugsmöglichkeiten ins Private mehr haben, dass sie am Ende
keine Räumlichkeiten mehr haben, wo sie ungeschützt
mit nahen Angehörigen oder Freunden sprechen können,
ohne dass sie Gefahr laufen müssen, diese Gespräche
später einmal ausgebreitet zu sehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht zuletzt deshalb in der Entscheidung vom 3. März 2004 deutlich gemacht, dass der Staat durch die akustische Wohnraumüberwachung nicht in den unantastbaren Kernbereich
privater Lebensgestaltung eingreifen darf. Der absolut
geschützte Kernbereich privater Lebensgestaltung ist vor
Abhörmaßnahmen zu schützen.
Die Vorgaben der Entscheidung aus Karlsruhe hat die
Bundesregierung in dem Ihnen jetzt vorliegenden Entwurf umgesetzt. Mit diesem Entwurf werden sowohl ein
umfassender Schutz der Menschenwürde als auch die
Praktikabilität der Maßnahme der Wohnraumüberwachung gewährleistet, soweit sie mit den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts vereinbar ist.
Lassen Sie mich kurz auf die Eckpunkte zu sprechen
kommen. Abhören wird künftig überhaupt nur dann zulässig sein, wenn es um den Verdacht einer besonders
schweren Straftat geht, einer Straftat also, für die das
Gesetz eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren vorsieht. Ich nenne Mord, Totschlag, schwere Betäubungsmitteldelikte oder die Bildung einer terroristischen Vereinigung.
Die Wohnraumüberwachung darf künftig nur dann
angeordnet werden, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass keine Äußerungen aus
dem absolut geschützten Bereich der privaten Lebensgestaltung erfasst werden. Das kann man natürlich nur garantieren, wenn man quasi live mithört, um sich dann gegebenenfalls auszuschalten. Wir sehen, dass das in der
Praxis zu Schwierigkeiten führen wird. Aber dies entspricht den Vorgaben des Gerichts und ist deshalb eins
zu eins umzusetzen.
Das Abhören von Gesprächen mit Berufsgeheimnisträgern, mit Rechtsanwälten, Notaren, Abgeordneten
oder Ärzten, wird generell unzulässig sein.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf einen zusätzlichen Schutz durch Verfahren vor. Es können künftig
nur noch eigens dafür eingerichtete, spezialisierte Kammern bestimmter Landgerichte eine Wohnraumüberwachung anordnen. Sie müssen regelmäßig von Polizei und
Staatsanwaltschaft unterrichtet werden. Die Betroffenen
müssen nach Beendigung der Maßnahme unterrichtet
werden. Sie erhalten damit die Möglichkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes.
Auch die Interessen des Parlaments will die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf weiter stärken. Die
Berichtspflicht wird ausgebaut. Künftig wird jährlich zu
zwölf verschiedenen Punkten berichtet werden, um die
parlamentarische Kontrolle nach Art. 13 Abs. 6 des
Grundgesetzes zu stärken.
Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass über
diesen Gesetzentwurf bzw. dieses Verfahren so viel diskutiert wurde, zeigt, dass unsere Demokratie nach wie
vor eine Streitkultur im positiven Sinne ist. Das ist gut
so. Ich gehe davon aus, dass die Anhörung, die, wie ich
gehört habe, beschlossen werden soll, die Diskussion bereichern wird. Ich bin sehr optimistisch, dass wir bis Juni
dieses Jahres - zu diesem Zeitpunkt läuft die Frist ab, in
der wir eine Regelung getroffen haben müssen; insofern
möchte ich die wenigen Augen, die hier sind, darauf
richten - einen Gesetzentwurf verabschiedet haben werden, der nicht nur die verfassungsmäßigen Rechte wahrt,
sondern auch die staatlichen Interessen im Hinblick auf
die Strafverfolgung zum Zuge bringt.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
die Sie sich fraktionsübergreifend zu dieser Mittagsstunde tapfer - ich finde das sehr löblich - zu diesem
Thema eingefunden haben! In seinem Urteil vom
3. März 2004 hat das Bundesverfassungsgericht Art. 13
Abs. 3 unseres Grundgesetzes als verfassungsrechtliche
Grundlage für die akustische Wohnraumüberwachung
für verfassungsgemäß erklärt. Das ist zwar erfreulich,
aber für uns alle sicherlich wenig überraschend.
Allerdings kommt das Gericht zu dem Schluss, dass
die einfachgesetzlichen Regelungen des so genannten
großen Lauschangriffs in der Strafprozessordnung zum
Teil nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Gericht geht von einem bereits erwähnten absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung aus. Dieser Kernbereich bezieht sich überwiegend auf die
Privatwohnung. Ein Abhören des gesprochenen Wortes
soll dort in Zukunft nur unter sehr strengen Voraussetzungen möglich sein. Das Gericht verlangt deshalb von
den strafverfolgenden Behörden vor Beginn der Abhörmaßnahme eine Prognose, inwieweit die Gefahr besteht,
dass in diesen Kernbereich unzulässigerweise eingegriffen wird. Wird das Abhören nach dieser Prognose durchgeführt, hat es sich auf strafverfahrensrelevante Inhalte
zu beschränken. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der akustischen Wohnraumüberwachung sollen also umso strenger sein, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass Gespräche mit höchstpersönlichem
Inhalt abgehört werden. Deshalb sollen Überwachungsmaßnahmen auch hier nur dann ergriffen werden dürfen,
wenn schon vor der Maßnahme keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass geschützte Gesprächsinhalte zu erwarten sind. Sollten sich diese Gesprächsinhalte dennoch
während des Abhörens ergeben - die Frau Ministerin hat
das erwähnt -, muss die Abhöraktion sofort abgebrochen
werden. - So weit in aller Kürze die Forderungen des
Bundesverfassungsgerichts.
Ich möchte wirklich keine Majestätsbeleidigung betreiben, aber doch gerne anmerken, dass ich persönlich
nicht erkennen kann, weshalb weitere Einschränkungen
bei der akustischen Wohnraumüberwachung überhaupt
notwendig waren,
({0})
gerade wenn man weiß, dass mit diesem Instrument in
der Praxis höchst sensibel umgegangen wird und sein
Einsatz immer nur letztes Mittel ist, um Ermittlungen
voranzutreiben oder zum Ende zu bringen; die Frau
Ministerin hat das bereits angesprochen. Jedem Richter,
jedem Staatsanwalt, jedem Polizisten und jedem von uns
ist selbstverständlich klar, dass beim Abhören von Privaträumen in Persönlichkeitsrechte eingegriffen wird.
Deshalb gibt es ja auch diesen sensiblen Umgang damit.
Liegen jedoch Anhaltspunkte vor, dass eine Person
schwere Verbrechen begangen haben könnte oder konkret vorhat, sie zu begehen, muss das Schutzbedürfnis
unserer Bevölkerung gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Tatverdächtigen klar überwiegen.
({1})
Bisher wurde diese Abwägung immer in verantwortlicher Weise getroffen. Anzeichen für eine leichtfertige
Anordnungspraxis gibt es nicht. Leider hat dies das Bundesverfassungsgericht etwas anders gesehen.
Die Bundesregierung hat nun versucht, die betreffenden Vorschriften der Strafprozessordnung dem Urteil anzupassen. Man muss zugeben, dass das nicht leicht war.
Nun liegt uns dieser wirklich nicht begeisternde Entwurf
vor. Besonders bedenklich stimmt meine Fraktion die
Neuregelung von § 100 c der Strafprozessordnung, der
die konkrete Durchführung einer Abhörmaßnahme regeln soll. Nehmen Sie dessen Abs. 4 in diesem Entwurf:
Dieser besagt bekanntlich, dass eine Abhörmaßnahme
nur dann angeordnet werden darf, wenn im Vorfeld bereits davon ausgegangen werden kann, dass keine Äußerungen erfasst werden, die dem schon viel zitierten
Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallen könnten.
({2})
Dem anordnenden Richter werden hier hellseherische
Fähigkeiten abverlangt. Woher soll er das denn wissen?
({3})
Um das Überwachungsverbot für Gespräche im unantastbaren Kernbereich überhaupt einhalten zu können,
sind nun bereits vor der Beantragung der Abhörung umfangreiche Ermittlungen nötig; das bestätigen uns die
Praktiker. In der Praxis wird man also zunächst feststellen müssen, wie die Wohnung tatsächlich genutzt wird,
wer dort wie regelmäßig verkehrt, ob die betreffenden
Personen Tatbeteiligte sind oder nicht und wie hoch die
Wahrscheinlichkeit ist, dass tatrelevante Gespräche geführt werden.
({4})
Die Praktiker werden ihre reine Freude damit haben.
({5})
- Richtig, das erfordert Wahrsagerei.
({6})
Der akustischen Wohnraumüberwachung werden so
bereits in der Anordnungsphase massive Hindernisse in
den Weg gestellt. Warum eigentlich?
({7})
Eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts, die von
der Ministerin bereits zitiert worden ist, hat ausdrücklich
ergeben, dass das Abhören von Wohnräumen im Rahmen von Ermittlungen immer letztes Mittel ist und nur
sehr restriktiv angewandt wurde. Im Jahr 2003 wurden
bundesweit nur 37 Überwachungsverfahren registriert.
Zwar ist die Tendenz seit 2001 steigend. Dies hat aber
nichts mit leichtfertiger Anwendung zu tun, sondern
schlicht und ergreifend damit, dass die Kriminalität in
unserem Lande nun einmal nicht zurückgeht.
Besonders häufig wird in Betäubungsmittelverfahren
und bei Tötungsdelikten abgehört, auch bei Drogendelikten, um teilweise hochprofessionelle Strukturen zu ergründen, und bei Verdacht auf Totschlag oder Mord, um
in einem letzten Versuch die Beweislage zu verbessern
oder überhaupt erst in eine beweiswürdige Situation zu
kommen. In letzter Zeit geht es natürlich auch sehr häufig darum, Terrorakte zu verhindern oder aufzuklären.
In der Studie wird ausdrücklich betont, dass eine Abhörmaßnahme in jedem Verfahren, in dem sie bisher
durchgeführt wurde, Einzelfallcharakter hat und immer
subsidiär zu anderen Ermittlungsmethoden erfolgt.
Noch einmal von mir also die Frage: Warum bereits
bei Beantragung diese immensen Hindernisse, die mit
zügigen Ermittlungen und Praktikabilität nichts, aber
auch gar nichts zu tun haben?
({8})
- Ich habe das Urteil vorhin zitiert und angemerkt, dass
ich das sehr kritisch sehe.
({9})
- Das muss man ja auch einmal sagen dürfen.
({10})
- Das sehe ich auch so.
Eine weitere Problematik bietet § 100 c Abs. 5 StPO.
Entsprechend der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist eine Maßnahme sofort zu unterbrechen, wenn
höchstpersönliche Unterhaltungen beginnen. Die Ermittlungsbeamten dürfen vom weiteren Gesprächsverlauf keine Kenntnis mehr nehmen; das heißt, die Geräte
werden sofort abgeschaltet. Die Abhörmaßnahme kann
nur unter den bereits ausführlich erläuterten Voraussetzungen wieder aufgenommen werden. Auch das halten
wir für deutlich zu umständlich und zu kompliziert.
({11})
- Und so wird es vom Bundesverfassungsgericht, Herr
Ströbele, auch nicht gefordert. Ich empfehle die Lektüre
des Urteils.
({12})
Ganz abgesehen davon, dass ein erhöhter Zeit- und Personalaufwand vorprogrammiert ist, was nicht in unserem
Sinne sein kann. Ich werde Ihnen gleich sagen, wie wir
es regeln würden. Wir sind ja in der ersten Lesung; das
heißt, wir können uns nachher gern darüber unterhalten.
Der Bundesrat hat zu diesem Gesetzentwurf bereits
Stellung genommen und ich möchte erläutern, was der
Bundesrat zu § 100 c Abs. 5 StPO vorschlägt. Ich halte
diesen Vorschlag für nicht allzu schlecht. Der Bundesrat
sagt: Die Aufzeichnungsgeräte dürfen weiter laufen, sobald höchstpersönliche Gespräche beginnen, nur, die Ermittlungsbeamten müssen den Raum verlassen und dürfen nicht mehr weiter zuhören.
({13})
Dem zuständigen Gericht werden dann die kompletten
Aufzeichnungen vorgelegt. Der Richter kann dann über
die Zulässigkeit dieser Aufzeichnungen und womöglich
über den Fortgang der Maßnahme entscheiden. Der Vorteil dieses Vorschlags liegt für mich auf der Hand: Mit
der alleinigen Sichtung durch das Gericht, durch einen
einzigen Richter, bleibt der Schutz der Privatsphäre erhalten und es gehen dennoch keine Informationen verloren. Denn diese Gefahr besteht schlicht und ergreifend,
wenn Sie die Maßnahme abbrechen. Überdies nimmt
man den Ermittlungsbeamten vor Ort den enormen Entscheidungsdruck. Denn wie sollen die wissen, wann sie
lauschen dürfen und wann nicht mehr?
({14})
Ich denke, diese Lösung widerspricht auch nicht den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Der vorgeschriebene Grundrechtsschutz bleibt genauso, wenn
nicht noch besser, erhalten.
Unser Ziel muss es schließlich sein, trotz des engen
Korsetts, das uns das Bundesverfassungsgericht aufgezwungen hat, den immer noch verbleibenden gesetzgeberischen Spielraum zu nutzen.
Was den Straftatenkatalog angeht, regen wir, wie
auch der Bundesrat, an, Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung gemäß den §§ 177 ff. StGB ebenfalls
aufzunehmen. Auch bei solchen Straftaten - denken Sie
bitte nur an die Kinderschänderringe! - besteht das Bedürfnis, oft wirklich hochprofessionelle kriminelle
Strukturen durch eine Wohnraumüberwachung aufzudecken. Warum diese Straftaten bisher nicht in den Straftatenkatalog aufgenommen worden sind, erschließt sich
uns nicht ganz.
({15})
Aber ich denke, auch bei dieser Frage gibt es Verhandlungsspielraum.
Ich bin der Meinung: Wir tragen die Verantwortung
dafür, dass die akustische Wohnraumüberwachung kein
zahnloser Papiertiger wird, den keiner mehr anwenden
kann, weil er die Voraussetzungen nicht erfüllen kann.
Vielleicht ist es möglich, in diesem Fall eine einvernehmliche Lösung zu finden. An uns soll es nicht scheitern. Wir sind selbstverständlich zu Verhandlungen bereit.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Ein Wort zur Vorgeschichte. 1997 haben die CDU/CSU,
die FDP und auch die SPD eine Verfassungsänderung
zur Ermöglichung der akustischen Wohnraumüberwachung in diesem Hause durchgesetzt. Die FDP hat bei
dieser Auseinandersetzung eine Bundesjustizministerin
verloren. Die Grünen haben aus verfassungsrechtlichen
Bedenken heraus gegen eine solche Regelung gestimmt.
Im März letzten Jahres erging eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts. In ihr hält das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Verfassungsänderung, der
neue Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes, nicht verfassungswidrig ist und dass eben nicht jede akustische
Überwachung von Wohnraum gegen die in Art. 1 des
Grundgesetzes garantierte Menschenwürde verstößt.
Dieser Entscheidung können wir entnehmen, dass
darüber auch beim Bundesverfassungsgericht keine Einigkeit bestand. Die Minderheit, zwei Richterinnen, hat
eine andere Position vertreten, konnte sich aber nicht
durchsetzen. Frau Kollegin Raab, die Mehrheit gilt, auch
für uns, die Grünen. Ich persönlich halte an meiner Position fest, dass wir mit der akustischen Wohnraumüberwachung zu weit gegangen sind und dass sie mit der
Verfassung nicht vereinbar ist. Das ist meine Position
und vielleicht die meiner Fraktionskolleginnen und -kollegen. Vielleicht haben auch Kolleginnen und Kollegen
aus anderen Fraktionen diese Auffassung.
({0})
Aber die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts gilt
auch für Sie. Sie können mosern, so viel Sie wollen,
Frau Kollegin Raab: Das Bundesverfassungsgericht hat
gesagt, dass wir einen engsten Rahmen setzen müssen.
Diesen engsten Rahmen haben wir, so gut es geht, praktisch wortgleich in unseren Gesetzentwurf übernommen.
({1})
Meine Damen und Herren, die akustische Wohnraumüberwachung ist erlaubt, sofern sie den absoluten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht verletzt.
Wann das der Fall ist, hängt nicht von den Örtlichkeiten
ab. Es kommt nicht darauf an, ob die Küche oder das
Schlafzimmer betroffen ist, sondern es kommt auf den
Inhalt der Kommunikation und auf das Verhältnis der
miteinander kommunizierenden Menschen an. Wenn die
Gefahr besteht, dass bei einer solchen polizeilichen
Maßnahme Gespräche mit höchstpersönlichem Inhalt
betroffen werden, dann darf nicht abgehört werden. Das
Bundesverfassungsgericht sagt, dass ein solches Risiko,
das zum Ausschluss der Abhörung führt, typischerweise
beim Abhören von Kommunikation in privilegierten
Verhältnissen besteht: in Ehe und Partnerschaft, mit nahen Familienangehörigen, engsten Freunden und Vertrauten.
Mit unserem Gesetzentwurf haben wir den Polizeibehörden und den Richtern die Aufgabe übertragen - Frau
Kollegin Raab, hier haben Sie völlig Recht -, im Voraus
abzuklären und prognostisch zu bewerten, ob bei der geplanten Maßnahme in den höchstpersönlichen Bereich
eingegriffen wird. Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht klar und knapp in einem Satz: Das geht auch. Tatsächlich geht es auch. Man muss genau die Bedingungen
abklären, von denen Sie gesprochen haben. Das ist keine
Kaffeesatzleserei. Diese Bedingungen müssen im Voraus
so intensiv wie möglich abgeklärt werden.
({2})
Das ist auch handhabbar; denn dann kann die Polizei
dem Gericht nach bestem Wissen und Gewissen einen
Bericht vorlegen, in dem sie ihre Prognose tatsachengestützt offen legt. Dann kommt es darauf an, was in diesem Bericht steht.
Wenn die geplante Abhörung der Aufdeckung von
schwersten Straftaten dient, dann darf sie erfolgen. Die
Polizei muss dafür Sorge tragen, dass nicht in den intimen Bereich eingegriffen wird. Das führt in Fällen, in
denen man befürchten muss, sowohl Verfahrensrelevantes wie auch Intimes zu hören - das ist in vielen Fällen
so -, dazu, dass in Echtzeit abgehört werden muss. Dann
muss abgeschaltet werden. In anderen Fällen kann die
Polizei prognostisch davon ausgehen, dass keine intimen
Gespräche geführt werden. Ich finde, dass dann aufgezeichnet werden könnte; denn das Bundesverfassungsgericht spricht in solchen Fällen von einer Grobsichtung
des Materials, um im Nachhinein etwas feststellen zu
können.
Meine Damen und Herren, die weiteren Kautelen sind
in einem Satz rasch gesagt: Durch die akustische Wohnraumüberwachung dürfen nur schwerste Straftaten verfolgt werden. Dieses Gebot dürfen wir nicht umgehen,
indem wir Straftaten willkürlich hochsetzen. Und es
bleibt dabei: Der absolute Schutz von Berufsgeheimnisträgern bleibt in unserem Gesetzentwurf in vollem Umfang erhalten. Wir laden Sie ein, in den Ausschüssen gemeinsam mit uns über diesen Gesetzentwurf weiter zu
diskutieren.
Danke.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch das Jahr 2004 war für die Bürgerrechte aus meiner
Sicht ein verlorenes. Seit 2001 sind sie verstärkt im
staatlichen Visier von Rot-Grün, bei der CDU/CSU ohnehin. Der Trend zum autoritären Staat ist leider ungebrochen.
({0})
Einen der wenigen Lichtblicke für verbriefte Grundrechte gab es im März des vergangenen Jahres in Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht kritisierte wesentliche Teile des so genannten großen Lauschangriffs. Ich
habe das für die PDS im Bundestag ausdrücklich
begrüßt. Der große Lauschangriff wurde mit den
Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der Mehrheit der
FDP eingeführt. Ich danke Ihnen, Frau Kollegin
Schnarrenberger, und auch Herrn Burkhard Hirsch
- beide FDP -, dass Sie sich der Mehrheitsmeinung Ihrer
Fraktion damals nicht angeschlossen haben und die
Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht beantragt haben; Sie bekamen in wesentlichen Punkten
Recht. Deshalb diskutieren wir heute über ein modifiziertes Gesetz zum großen Lauschangriff. Das ist aber
nur die kleine Lösung. Das Karlsruher Urteil hätte auch
eine große Lösung ermöglicht: die Chance zur Umkehr.
Seit Jahren werden immer mehr Bürgerrechte einer
vorgeblichen Sicherheit geopfert und der Staat dringt
immer tiefer in die Privatsphäre der Bürgerinnen und
Bürger ein. Die PDS lehnt das ab, so wie wir 1998 gegen
den großen Lauschangriff und 2001 gegen die so genannten Otto-Pakete waren.
({1})
Trotz des Urteils gibt es kein Umdenken. Die tiefer gehende Botschaft des Karlsruher Urteils, nämlich den
Staat abzurüsten und die Bürgerrechte bewusst zu stärken, wird mit diesem Gesetzentwurf weiter in den Wind
geschlagen, im Übrigen auch von den Grünen. Und natürlich in Bayern: Das Urteil war kaum verkündet, da
forderte Innenminister Beckstein mehr statt weniger
Überwachung. Auch hier im Bundestag werden Grundrechte weiter angegriffen. Das zeigt sich leider auch im
heute vorliegenden Gesetzentwurf. Kommentar der
Strafverteidigervereinigung: Der Wille der Bundesregierung zum großen Lauschangriff ist ungebrochen. Selbst
dort, wo das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich
gegen das Lauschen und Spähen ist, also in der absoluten Privatsphäre, öffnet der vorliegende Gesetzentwurf
Hintertüren und weitere Einstiegstore.
Zur Bürgerrechtskritik kommt aber auch die Effizienzfrage: Das Max-Planck-Institut Freiburg hat sie gestellt und kam zu dem Ergebnis: Der große Lauschangriff nützt wenig. Ich füge hinzu: Er schadet aber sehr
viel.
({2})
Deshalb teilt die PDS im Bundestag den Standpunkt
zahlreicher Kritiker: Der große Lauschangriff ist nicht
neu zu regeln, er ist schlicht abzuschaffen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, aber vielleicht sollte
ich auch selber darauf hinweisen: Die großen Schlachten
zum Thema der akustischen Wohnraumüberwachung
- oder dem „Lauschangriff“, wie wir es frei übersetzt
immer genannt haben - sind mit dem Karlsruher Urteil
vom März letzten Jahres geschlagen. Auch ich gehöre zu
den Bekennenden wie Herr Montag, die eher dem Minderheitenvotum gefolgt wären.
Nun hat Karlsruhe entschieden - das ist Gesetz und
daran haben wir uns zu halten, Frau Kollegin Raab -,
dass die untergesetzlichen Regelungen in der Strafprozessordnung den Anforderungen des Art. 13 Abs. 3 des
Grundgesetzes eben nicht entsprechen. Von daher wird
Ihre Kritik an dem Karlsruher Urteil, wie Herr
Bachmaier vorhin zu Recht zwischengerufen hat, kein
Erdbeben in Karlsruhe herbeiführen, Frau Raab.
({0})
Wir müssen uns wohl an die Realitäten halten. Die Realität ist ganz einfach, Herr Kollege Röttgen: Das, was
1998 noch unter der Kohl-Regierung verfassungswidrig
in der Strafprozessordnung geregelt worden ist, haben
wir jetzt verfassungsgemäß zu gestalten. Ich denke, wir
haben deutlich gemacht, dass wir die Ausgestaltung jetzt
so vornehmen müssen, dass wir sie in den Bereichen, wo
wir die Wohnraumüberwachung für unverzichtbar halten, nämlich in den Bereichen der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und bei besonders schweren
Formen der Kriminalität, zu verbessern haben. Dabei
geht es insbesondere darum, mit diesem Ermittlungsinstrument die Hauptverantwortlichen für Straftaten
zu erreichen, nämlich die Organisatoren, die Finanziers,
sprich die Drahtzieher, die nicht so sehr im Vordergrund
stehen, die Hintermänner, die die eigentlichen Täter
sind. Vor diesem Hintergrund haben wir den Gesetzentwurf im letzten Sommer erarbeitet. Wir haben uns dabei
an den Leitgedanken gehalten, den das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat: Vorkehrungen dafür zu
treffen, dass Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung unzulässig sind.
Damit komme ich zu Art. 1 des Grundgesetzes, in
dem es um die Würde des Menschen geht. Das Gericht
hat uns gesagt, dass wir hier Vorkehrungen treffen müssen. Ich meine, von diesem Leitgedanken haben wir uns
in dem Gesetzentwurf stringent leiten lassen. Wir haben
diesen Gedanken präzise und rechtsstaatlich umgesetzt.
Das heißt, es muss eine Prognose erstellt werden, möglicherweise muss das Gerät abgeschaltet werden und man
muss mit den Erkenntnissen, die man dabei gewonnen
hat, in einer bestimmten rechtsstaatlichen Weise umgehen.
Frau Justizministerin, ich bin Ihnen sehr dankbar,
dass die Bundesregierung in der Gegenäußerung zur
Stellungnahme des Bundesrates genau diesen Leitgedanken des Urteils präzise herausgearbeitet und den insgesamt zwölf Vorschlägen des Bundesrates, die zu einer
weiteren Aufweichung dieses Leitgedankens vorgetragen worden sind, wie ich meine, zu Recht nicht zugestimmt hat. Ich denke, sie konnte auch gar nicht zustimmen; denn in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
- wir werden das bei den weiteren Beratungen sehen wurden dezidierte Vorgaben dafür gemacht, wie die unterverfassungsrechtliche Ausgestaltung der Wohnraumüberwachung in der Strafprozessordnung letzten Endes
aussehen soll. Daran werden wir nicht vorbeikommen,
wenn wir hier eine verfassungskonforme Regelung verabschieden wollen.
Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass das zukünftig mit einem höheren Aufwand für die Ermittlungsbehörden verbunden sein wird. Das ist eine der in dem Urteil angelegten Konsequenzen, die so gewollt waren. Ich
meine, dieser Mehraufwand ist in der Praxis leistbar. Es
ist bereits darauf hingewiesen worden, dass in diesem
Bereich der Kriminalitätsbekämpfung Männer, Frauen
und Gerichte arbeiten, die jahrzehntelange Erfahrungen
haben. Diese werden die notwendigen Grundlagenermittlungen durchführen und Prognosen stellen, um Entscheidungen treffen zu können. Das gilt insbesondere für
die Gerichte. Einer erfahrenen Strafkammer, die eine
Entscheidung zu treffen hat, ist genau bekannt, welche
Prognosen, Kautelen und Voraussetzungen sie dabei zu
prüfen hat. Wie ich schon sagte: Das Gericht hat diesen
Mehraufwand zu Recht bewusst in Kauf genommen, um
einen der obersten Werte unserer Verfassung, nämlich
die Menschenwürde, zu wahren.
Die Menschenwürde ist der letzte schützbare Raum
des Menschen im privaten, intimen Bereich. Hier ist die
sonst übliche Abwägung des öffentlichen Interesses an
einer Strafverfolgung oder das Einbauen der einen oder
anderen Kautele oder Öffnung absolut unzulässig. Von
daher kann man das nur so regeln, wie wir das hier getan
haben.
Ich lade Sie - auch Sie, Frau Kollegin Raab, von der
CDU/CSU-Fraktion - ein, mit uns gemeinsam im
Rechtsausschuss zu beraten. Wir werden eine Anhörung
durchführen. Sollten noch Verbesserungsvorschläge vorhanden sein, so hören wir sie uns gerne an. Den Gestaltungsspielraum, den uns das Gericht vorgeben hat, haben wir aber bis an die Grenzen ausgenutzt. Darüber
hinaus wird es nichts geben können. Von daher meine
ich, dass wir zügig zu einem Ergebnis kommen können.
Somit könnten ab dem 1. Juli 2005 verfassungskonforme
Regelungen in der Strafprozessordnung stehen, sodass
wir die Geräte nicht abschalten müssen, weil es keine
gesetzliche Regelung gibt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der
Diskussion über die akustische Wohnraumüberwachung
stehen wir vor der schwierigen Abwägung zwischen der
Sicherung und Wahrung der Grundrechte der Bürger auf
der einen Seite und der Freiheitsbedrohung durch die organisierte Kriminalität und deren Bekämpfung auf der
anderen Seite.
Unabdingbar war und ist es für die FDP, dass zum
Schutz der Grundrechte der Bürger strenge rechtsstaatliche Kontrollen gewährleistet sein müssen. Vieles
konnten wir in den parlamentarischen Verhandlungen im
Jahre 1997 - Kollege Montag hat das bereits erwähnt erreichen, einiges ist am Widerstand der großen Koalition aus SPD und CDU/CSU gescheitert. Das ist den
Grünen genauso ergangen.
Für die FDP war immer wichtig, dass die Anordnung
der Wohnraumüberwachung auf einer verfassungsfesten
Grundlage beruht. Das Bundesverfassungsgericht hat
dem Gesetzgeber klar und eindeutig aufgezeigt, welche
Grenzen die Verfassung bei der Wohnraumüberwachung
zieht. Die Verwunderung war daher sehr groß, Frau Ministerin, als das Bundesjustizministerium im Juni letzten
Jahres einen ersten Referentenentwurf zur Umsetzung
des Urteils vorgelegt hat. Darin wurden unter anderem
die Überwachungsmöglichkeiten bei Personen, die ein
Zeugnisverweigerungsrecht haben, verschärft. Im September letzten Jahres allerdings hat die Bundesregierung
daraufhin einen neuen Entwurf vorgelegt. Hier ist anzuerkennen, dass sich das Bundesjustizministerium erstmals ernsthaft mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auseinander gesetzt hat.
Der Entwurf bleibt jedoch kritikwürdig. An vielen
Stellen werden im Gesetzentwurf unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln benutzt, die die Praktikabilität der novellierten Vorschriften in der Praxis äußerst
schwierig gestalten werden. Eine Konkretisierung der
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ist im Gesetzentwurf an entscheidenden Stellen wenigstens bislang
nicht vorgenommen worden. Da müssen wir in der Tat in
den Beratungen nachbessern.
({0})
Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts kommt
zu dem Ergebnis, dass die Praxis - das ist bereits erwähnt worden - ausgesprochen zurückhaltend und behutsam mit diesem Instrument umgeht. Für die FDP ist
klar, dass die Regelungen in dem Gesetzentwurf nicht
hinter die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurücktreten dürfen. Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung dieser Auffassung anschließen wird.
Die heutige Debatte gibt mir jedoch auch Gelegenheit, von der Bundesregierung erneut ein politisches Gesamtkonzept für alle Überwachungsmaßnahmen einzufordern. Die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts
zur akustischen Wohnraumüberwachung haben auch für
andere Überwachungsmaßnahmen weit reichende Bedeutung.
({1})
Die FDP lehnt es daher ab, immer nur einzelne Ermächtigungsgrundlagen für Überwachungsmaßnahmen zu
überarbeiten. Auf der Grundlage der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts und der Erkenntnisse aus
der Wissenschaft ist die Bundesregierung daher aufgefordert, ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4533 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel E.
Fischer ({0}), Katherina Reiche,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Energieforschung zukunftsfähig gestalten
- Drucksache 15/4507 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Axel Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht darum, Energieforschung zukunftsfähig zu gestalten. Das ist überaus wichtig; denn das, was die rotgrüne Bundesregierung im Bereich Energieforschung
bisher vorgelegt hat, kann man weder als zukunftsfähig
noch als nachhaltig bezeichnen. Wenn man es genau betrachtet, herrscht Fehlanzeige. Bis heute gibt es kein
Energieforschungsprogramm.
({0})
Wer sich im Vorfeld dieser Debatte mit der Tagesordnung beschäftigt hat, war - das muss man ehrlich sagen - ein wenig irritiert; denn vor zwei Tagen hieß es
noch, heute ständen zwei Anträge zur Debatte. Jetzt aber
ist nur noch der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion übrig geblieben; denn der Antrag „Nationales Energieforschungsprogramm vorlegen“, der von Rot-Grün
vor Weihnachten eingebracht worden war, ist von der
Tagesordnung genommen worden.
An diesem Antrag von Rot-Grün war besonders interessant, dass dieser Antrag federführend im Wirtschaftsausschuss behandelt werden sollte. Ich frage
mich schon, warum ein solches Forschungsthema nicht
im Forschungsausschuss federführend behandelt werden soll, sondern im Wirtschaftsausschuss. Da hat die
Bundesforschungsministerin - das muss man klar
sagen - auf ganzer Linie versagt. Diese Kritik möchten
wir hier ganz deutlich anbringen.
({1})
Frau Bulmahn scheint sich mehr in Bildungsdiskussionen zu gefallen, als sich um das Thema Forschung, das
ihr zusteht, zu kümmern. Sie regiert lieber in die Kompetenz von Bundesländern hinein, als das zu tun, was ihre
Aufgabe im Ministerium ist, nämlich ein entsprechendes
Programm zu erarbeiten. Das ist keine angemessene Forschungspolitik. Die Ministerin sollte sich einmal überlegen, was eigentlich ihre Aufgaben sind.
Mit diesem Antrag von Rot-Grün, der eigentlich auch
im Ausschuss für Bildung und Forschung am Mittwoch
hätte beraten werden sollen, dann aber kurzfristig von
der Tagesordnung abgesetzt wurde, verhält es sich wie
mit der aktuellen Netzstudie der dena. Da gab es in den
letzten Tagen ebenfalls bemerkenswerte Vorgänge. Die
dena ist ein Institut, das zur Hälfte von der Bundesregierung getragen wird. Dieses Institut hat eine Studie über
die weitere Nutzung der Windenergie erstellt, die am
vergangenen Mittwoch hätte veröffentlicht werden sollen. Da die Medien in diesem Zusammenhang von schier
unglaublichen Kosten sprechen, die der weitere Ausbau
der Windenergie mit sich bringen soll, muss man die
Frage stellen, was eigentlich in dieser Studie steht.
Laut Aussage der Medien sei in der Studie die Rede
von Anschlusskosten in Höhe von 15 Milliarden Euro
für Offshore-Windkraftprojekte in Nord- und Ostsee,
von weiteren 3 Milliarden Euro Investitionen für den
windkraftbedingten Netzausbau und erheblichen Zusatzkosten durch die notwendige Vorhaltung einer wachsenden Zahl von Ersatzkraftwerken. Bundeswirtschaftsminister Clement spricht dieser Tage von einer erwarteten
Einspeisevergütung von 5,4 Milliarden Euro, die ab
2015 jährlich hinzukomme. Im Gegensatz dazu spricht
die energiepolitische Sprecherin der Grünen, Frau
Hustedt, von 1,15 Milliarden Euro Kosten für den Netzausbau, Regel- und Reserveenergie bis 2015 und kritisiert die Äußerung von Bundesminister Clement. Sie
sagt, die Angabe über die Einspeisevergütung von
5,4 Milliarden Euro sei zu hoch, so viel werde es nicht
sein. Was stimmt denn nun eigentlich? Es ist richtig,
dass der Kollege Feibel die Frage an die Bundesregierung gestellt hat. Wir brauchen Aufklärung und müssen
wissen, was hier passiert; denn nur mit klaren Zahlen
können wir offen vor die Wählerinnen und Wähler treten. Sie sind es, die im Endeffekt für die Politik, die Sie
hier machen, bezahlen müssen. Es gibt also in diesem
Bereich ohne Zweifel Forschungsbedarf.
Die Energieforschung in Deutschland war in der Vergangenheit ein tragender Grundpfeiler für eine zukunftsgerichtete und zukunftsverträgliche Energiepolitik in
Deutschland.
({2})
Wichtige Beiträge zum Aufbau, Betrieb und zur Fortentwicklung eines sicheren und kostengünstigen Systems
der Energieversorgung sind dringend notwendig. Von
dem, was bisher geleistet wurde, zehren wir noch heute,
wie übrigens in vielen anderen Forschungsbereichen
auch. Wir sind aber schlecht für die Zukunft gewappnet.
Axel E. Fischer ({3})
Die Qualität der Energieforschung in Deutschland ist in
ernster Gefahr.
({4})
Die Mittel für die Energieforschung des Bundes sinken
von 700 Millionen Euro im Jahr 1991 auf etwa
400 Millionen Euro im Jahr 2004. Das ist weniger als
die humanitäre Hilfe, die der Bundeskanzler jetzt den
Tsunamiopfern zugesagt hat.
({5})
Das ist zudem weit weniger als die 2 200 Millionen
Euro, die die Verbraucher mit ihrer Stromrechnung im
Jahr 2004 zusätzlich für so genannten Ökostrom zahlen
mussten. Zukunftsträchtige Forschungsbereiche werden
von Ihnen gezielt ausgedünnt und viel versprechende
Entwicklungen abgewürgt.
({6})
Meine Feststellung ist: Diese Entwicklung darf so nicht
weitergehen.
({7})
Wir haben derzeit ein grobes Missverhältnis zwischen
Forschungsförderung und Markteinführung. Sie sagen, wie wichtig Wissenschaft und Forschung seien, fördern jedoch den Einsatz unrentabler Techniken um ein
Mehrfaches stärker als die Forschung zur Verbesserung
dieser Techniken. Impulse in der Grundlagenforschung
fehlen. Stattdessen setzen Sie auf Markteinführung. Ein
Beispiel ist die Förderung der Einführung erneuerbarer
Energien. Die Gesamtkosten steigen stark, ohne riesige
Subventionen sind sie auf absehbare Zeit nicht marktfähig und mit der geplanten Verteuerung der Energieversorgung durch die Erstellung und den Betrieb unrentabler Anlagen wird von Ihnen gezielt Wohlstand
vernichtet.
({8})
Wenn bei einem Auto, das fährt, die Handbremse angezogen wird, braucht man sich nicht zu wundern, wenn
die Bremse heiß wird und der Motor zu stottern anfängt.
So sieht es aus, meine Damen und Herren. Die langfristige Wirkung dieser Politik ist eine Schädigung der
Volkswirtschaft in unserem Land.
Gleichzeitig erklärt Umweltminister Trittin, bei der
Fotovoltaik fehlten immer noch Entsorgungskonzepte.
Was soll denn mit den defekten Solarkollektoren passieren?
({9})
Wo sollen diese entsorgt werden? Auch dafür haben Sie
kein Konzept, predigen aber ständig die angeblich umweltfreundliche Energie, ohne dass bisher untersucht
wurde, welcher Forschungsbedarf besteht. Auch in diesem Bereich ist Forschung dringend notwendig.
({10})
Bundesumweltminister Trittin mag durchaus Recht
gehabt haben, als er am vergangenen Wochenende festgestellt hat: Die Fotovoltaik kann in Regionen ohne
Stromnetz schon heute mit Dieselaggregaten konkurrieren.
({11})
Aber in Deutschland gibt es nun einmal ein Stromnetz.
Bei unserem bestehenden Stromnetz ist die Fotovoltaik
eben nicht rentabel und konkurrenzfähig. Bei Taschenrechnern ist das etwas anderes. Würden die Milliarden in
die Forschung statt in die Markteinführung fließen, dann
würde das dazu beitragen, dass wir in diesem Bereich
entsprechend vorankommen.
({12})
Heute aber werden dank Rot-Grün Investitionen in erkennbar unrentable Anlagen gefördert, in denen auf
Jahrzehnte hin das Geld von Stromkunden und Steuerzahlern verbrannt und damit Wohlstand und Volksvermögen vernichtet wird.
Ein anderes Beispiel ist die Kernenergie. Die Bedeutung der Kernkraft nimmt weltweit zu.
({13})
Mehr als 30 Kernkraftwerke sind in Bau. Weltweit ist
ein Vielfaches davon projektiert. Länder wie China und
Südafrika entwickeln in Deutschland stillgelegte Reaktortypen weiter
({14})
und werden diese Reaktoren betreiben und verkaufen.
Rot-Grün aber vermittelt ein völlig anderes Bild und vernebelt die Realitäten. Aber es ist eine Tatsache: Die
Kernenergie ist weltweit auf dem Vormarsch, auch wenn
Ihnen das nicht passen mag.
({15})
Mit dem rot-grünen Ausstieg aus der Kernenergie und
der Kernforschung ist es wie mit dem Fahrer auf der Autobahn, der im Radio hört: „Auf der Autobahn kommt
Ihnen ein Falschfahrer entgegen. Fahren Sie äußerst
rechts und überholen Sie nicht! Wir melden uns, wenn
die Gefahr vorüber ist.“ Daraufhin sagt sich der Autofahrer: „Einer? - Tausende!“
({16})
Ähnlich ist es mit Ihrer Politik, meine Damen und Herren!
Axel E. Fischer ({17})
Wie sieht es aktuell in Deutschland aus? In der Sicherheitsforschung war Deutschland früher führend. Der
europäische Druckwasserreaktor wird ständig weiterentwickelt und verbessert. Mit dem ITER entwickeln Staaten der EU gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von
Amerika, Russland, Südkorea, Japan und China einen
Kernfusionsreaktor, der im Erfolgsfall sicher verfügbaren Strom an praktisch jedem Ort der Erde erschwinglich
machen wird.
({18})
Mit der industriellen Umsetzung der Transmutation
wird die Voraussetzung geschaffen, die hoch strahlenden
radioaktiven Abfälle bzw. Kernwaffenplutonium zur
Stromproduktion zu nutzen. Das Ergebnis sind kurzlebige Spaltprodukte. Das würde in Fragen der Entsorgung
radioaktiven Abfalls völlig neue Perspektiven bieten.
({19})
Die Endlagerproblematik würde entsprechend entschärft. Aber dieser Bereich wird von Ihnen stiefmütterlich behandelt.
({20})
In all diesen Bereichen zeichnen sich viel versprechende Entwicklungen ab, an denen sich deutsche Forscher und die Forschung in Deutschland beteiligen sollten. Der Forschungsstandort Deutschland - in der
Kerntechnik einst führend - soll hierbei jedoch nach
dem Willen von Rot-Grün außen vor bleiben. Sie wollen
aus rational nicht nachvollziehbaren, rein ideologischen
Gründen nach dem Ausstiegsbeschluss hinsichtlich der
Stromproduktion in Kernkraftwerken auch noch aus der
Kernforschung aussteigen. Das ist eine einäugige Politik, die wir so nicht mittragen.
({21})
Was sind nun die Ziele einer zukunftsweisenden
Energieforschung? Wir müssen eine schlüssige Perspektive für die langfristige Energieversorgung in Deutschland eröffnen. Wir müssen den Zielen der Versorgungssicherheit, der Wirtschaftlichkeit, der Kostengünstigkeit
und der Umweltverträglichkeit gleichermaßen Rechnung
tragen. Für zukünftige Generationen brauchen wir deshalb Know-how in allen Bereichen. Wir brauchen keine
Denkverbote, sondern Freiheit der Forschung. Das muss
zu unserer Maxime in diesem Bereich werden.
({22})
Angesichts der Unübersichtlichkeit und der offenkundigen Abstimmungsprobleme zwischen den Ministerien
auf Bundesebene wäre die Bündelung der Kompetenzen
in einem Ministerium von entscheidender Bedeutung.
Energieforschung aus einer Hand! Deshalb fordere ich
- genauso wie in unserem Antrag -, die Energieforschung beim Bundesministerium für Bildung und Forschung anzusiedeln. Dorthin gehört sie.
({23})
Wir brauchen wieder Verlässlichkeit und eine positive
Sicht des technischen Fortschritts. Wir brauchen eine
Chancendebatte und keine Risikodebatte in unserem
Land. Nicht 0 : 0 spielen, sondern siegen wollen, das
muss unsere Maxime sein. Das ist eine notwendige Voraussetzung für motivierte junge Wissenschaftler und
Forscher in Deutschland, die die Grundlagen für unseren
Wohlstand von morgen legen.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Berg, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der CDU/CSUAntrag, über den wir heute diskutieren, beinhaltet einige
Feststellungen, mit denen meine Fraktion durchaus übereinstimmt. Lieber Axel Fischer, was ich aber nicht ganz
verstanden habe, ist, warum Sie so viel über die Netzausbaustudie der dena gesprochen haben. Das ist zwar ein
wichtiges Thema. Aber nun geht es um die Forschung.
Sie haben ein bisschen wenig zu dem Antrag Ihrer Fraktion gesagt. Insofern fällt es mir nicht leicht, auf Ihre
Ausführungen einzugehen.
Wir freuen uns jedenfalls, dass viele Erkenntnisse zu
Ihnen durchgedrungen sind, zum Beispiel - ich zitiere
aus Ihrem Antrag - dass die „energetischen Ressourcen
knapp sind“, dass die „Energieforschung in besonderer
Weise überlebenswichtig“ für Deutschland ist und dass
die „erneuerbaren Energien einen zunehmend wichtigen
Beitrag leisten“ sollten. Solche Aussagen kann ich voll
und ganz unterstützen. Aber mit dem Erkenntnisgewinn
allein ist es noch nicht getan. Wir müssen auch die richtigen Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen ziehen.
Hier hapert es bei Ihnen noch ein bisschen.
Wie Sie eben zu Recht ausgeführt haben - so steht es
auch in Ihrem Antrag -, wollen Sie bei der für Deutschland überlebenswichtigen Energieforschung die Schwerpunkte auf Kernfusion und Kernenergie legen. Sie scheinen Folgendes vergessen zu haben: Trotz 50-jähriger
Forschung liegt der Energieversorgungsbeitrag der
Kernfusion heute bei 0 Prozent. Zum Thema Kernenergie muss ich Ihnen ebenfalls mitteilen, dass in
Deutschland die Stilllegung aller Kernkraftwerke beschlossen wurde, und zwar aus mehreren guten Gründen.
Wir wissen nicht, wohin mit dem atomaren Abfall.
({0})
Es gibt nach wie vor noch kein Konzept dafür. Außerdem sind diese Technologien schlichtweg zu teuer. Aus
guten Gründen gibt es in der Bevölkerung keinerlei Akzeptanz für ihren Einsatz.
Letztlich sprechen noch sicherheitspolitische Gründe
dagegen. Seit dem 11. September 2001 ist uns die Gefahr zunehmend bewusst geworden, dass Kernkraftwerke zum Ziel terroristischer Anschläge werden können. Dagegen können wir nichts, aber auch gar nichts
tun.
Sie mogeln sich ebenfalls um die Beantwortung der
Frage nach der Finanzierbarkeit herum. Natürlich wäre
es prima, flächendeckend Forschung in allen Bereichen
zu betreiben. Doch den Goldesel, der das alles bezahlen
soll, haben wir trotz aller Forschung bisher noch nicht
züchten können. Insbesondere gilt das für die Kerntechnik. Nach meinem Wissen ist das Verhältnis von Forschungsaufwand zu Energieausbeute auf keinem Gebiet
so schlecht wie bei der Atomkraft.
Wir müssen sicherlich Schwerpunkte bei der Forschung setzen. Diese dürfen - jedenfalls nach meiner
Auffassung - aber nicht auf der Kernfusions- und der
Kernenergieforschung liegen. In Deutschland müssen
wir Entscheidungen zugunsten bestimmter Forschungsfelder fällen, die sich an unserer langfristigen Energiepolitik orientieren. Priorität sollten dabei die Felder erhalten, die die größten Chancen haben, Innovationen von
morgen zu liefern, und die als Wachstumstreiber neue
Beschäftigung schaffen. Doch Entschlusskraft bei der
Prioritätensetzung vermisse ich leider bei der Union. Sie
wollen gerne, dass überall ein bisschen geforscht wird.
Ich fürchte, dass uns das letztlich gar nichts bringen
wird.
In Ihrem Antrag fordern Sie mehr Versorgungssicherheit durch „die Entwicklung hin zu einer dezentralen Energieversorgung“. Aber „die heutige Struktur der
Stromversorgung mit Großkraftwerken“ soll erhalten
bleiben. Was wollen Sie denn nun? Entscheiden Sie sich
doch, ob Sie eine dezentrale oder eine zentrale Stromversorgung wollen. Wie heißt es so schön: Ein entschlossener Mensch kann mit einem Schraubenschlüssel mehr
anfangen als ein unentschlossener mit einem ganzen
Werkzeugladen.
Unser Ziel ist eine am Leitbild der Nachhaltigkeit
ausgerichtete, qualitativ hochwertige und umweltverträgliche Energieversorgung. Das erfordert den Einsatz
modernster Technologien und natürlich den Ausbau der
erneuerbaren Energien.
Deutschland ist heute Europas führender Energiestandort in Bezug auf Produktion, Verbrauch und Technologie. Nur mit Spitzenleistungen bei Forschung, Entwicklung und modernsten Energieerzeugungsanlagen
wird der Energie- und Industriestandort Deutschland
auch weiterhin für hochwertige Dienstleistungen und
Produkte international attraktiv und wettbewerbsfähig
bleiben.
({1})
Das gilt für die Versorgung in unserem Land genauso
wie für den Export. Was brauchen wir dafür? Ich denke,
wir brauchen dafür eine optimierte Verknüpfung von privater und öffentlicher Forschung und Entwicklung.
Lasst uns bitte auch den Wettbewerb zwischen den
Forschungseinrichtungen stärken! Das Ringen um die
besten Konzepte und die besten Ergebnisse ist mir noch
zu wenig ausgeprägt. Große Fortschritte werden wir nur
dann erzielen, wenn das entscheidende Kriterium für die
Mittelvergabe die Qualität der Forschung ist. Gut fände
ich eine Mittelzuteilung nach Exzellenzen. Wer exzellent
forscht, bekommt mehr Mittel und umgekehrt. Die reine
Grundlagenforschung müssen wir davon natürlich ausnehmen. Aber lasst uns das Einstein-Jahr als Auftakt für
die Änderung mancher Spielregeln nehmen!
({2})
Des Weiteren brauchen wir Markteinführungs- und
Modernisierungsanreize. Damit stärken wir wieder die
Innovationseffizienz. Damit schaffen wir Wertschöpfung, Investitionen und Beschäftigung in Deutschland.
Durch die Liberalisierung ist der Wettbewerbsdruck bereits angestiegen. Deutschland steht unter Handlungsdruck. Da geht es uns nicht viel anders als unseren Nachbarn in der Europäischen Union. Rund 80 Prozent aller
Kraftwerke in Europa sind älter als 30 Jahre. Man nimmt
an, dass ab 2010 der europaweite Neubaubedarf eine
Größenordnung von rund 200 000 Megawatt haben
wird. Das ist ungefähr das Doppelte des derzeitigen
deutschen Kraftwerkbestandes.
Weltweit wird die nachholende Industrialisierung der
Entwicklungsländer und der Schwellenländer zu einer
ordentlichen Steigerung der Nachfrage nach sicherer,
nach umweltverträglicher und nach bezahlbarer Energie
führen. Diese Entwicklungen sehen wir alle ganz deutlich in China und in Indien. Der Energiehunger ist enorm
und er wird noch steigen. Wir müssen also ohnehin investieren. Bei diesen ohnehin notwendigen Investitionen
in Deutschland und im internationalen Kraftwerkspark
ergeben sich riesige Chancen, auch für den Klimaschutz.
Wir wollen eine Initiative „Hightech für Effizienz und
erneuerbare Energien“, deren Früchte wir natürlich auch
beim Export ernten werden.
Mir ist der Punkt wichtig, wie wir die Ergebnisse bei
Forschung und Entwicklung zeitnah in ganz konkrete
Investitionsvorhaben umsetzen. Dabei müssen wir
Potenziale ausschöpfen, aber auch politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigen. Als
Stichworte nenne ich: Emissionshandel, Regulierung,
Finanzierung in Bezug auf Binnenmarkt und Steuern.
All das müssen wir zusammenbringen.
Das Ziel dabei sollte sein: die Stärkung der deutschen
Kompetenz im Anlagenbau, bei Forschung und Entwicklung sowie bei IT im Sinne eines Forschungsverbundes. Lasst uns die Komponenten Anlagenbau, Systemtechnik und Netzintegration zusammenführen!
Das Erringen der Marktführerschaft auf dem Gebiet
der fossilen Kraftwerke bildet die Grundlage für einen
hohen deutschen Wertschöpfungsanteil. Was die Modernisierung von deutschen, aber auch von ausländischen
Kraftwerken, insbesondere ab 2010, angeht: Pro Kraftwerksblock - nehmen wir einmal, Pi mal Daumen, einen
Wert von 600 Megawatt an - können Modernisierungsmaßnahmen im Anlagenbau inklusive Zulieferer, Ingenieure etc. einen Beschäftigungseffekt von über
6 000 Arbeitsplätzen ausmachen. Das ist doch etwas.
Hinzu kommt der substanzielle Klimaschutzeffekt.
Allein die konsequente Umsetzung auf der Grundlage
des heutigen Standes der Technik und eine Steigerung
der Effizienz bei deutschen Kraftwerken von 35 Prozent
auf 47 Prozent könnte eine Kohlendioxidreduzierung
von 2,5 Milliarden Tonnen bis 2020 möglich machen.
Das bedeutete bis 2020 eine CO2-Reduktion von
40 Prozent und entspräche damit den Zielen der „Energieagenda 2010“.
Wir müssen die Energieforschungsmittel also verstärkt in Technologieforschung auf dem Erneuerbare-Energien-Sektor und in den Sektor der Effizienztechnologien umleiten und die Ergebnisse müssen wir
auch den mittelständischen Unternehmen zugänglich
machen.
({3})
Public-Private-Partnership-Modelle sind bei diesen Forschungsprojekten unter Beteiligung der Industrie besonders zu fördern.
Deswegen schließe ich mich Ihrer Forderung nach einem nationalen ressortübergreifenden Energieforschungsprogramm an. Wir wissen, dass die Zeit des
preiswerten, stets verfügbaren Erdöls zu Ende geht. Wir
müssen jetzt die Weichen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland stellen. Die Energieforschung gehört genauso wie die Bildungs- und die Wissenschaftspolitik insgesamt zu den Grundpfeilern
unserer Vorsorge.
({4})
Inhalte eines solchen Programms müssen sein: Die
Verringerung des Energiebedarfs ist anzustreben. Die Effizienz muss mindestens um den Faktor 4 erhöht werden.
Erneuerbare Energien und Effizienztechnologien sollten
höchste Priorität haben - bei der Grundlagen- und bei
der Projektforschung. Die Zusammenarbeit der Forschungseinrichtungen mit dem Forschungsverbund Sonnenenergie und anderen Wissenschaftsbereichen, die etwas mit Energie zu tun haben, muss besser vernetzt
werden. Außerdem müssen wir natürlich an die Speichertechnologien denken. Sie sind in Deutschland bisher
etwas stiefmütterlich behandelt worden, was auch verständlich ist. Man hat ja kein Problem, Kohle oder Erdöl
jahrelang zu lagern; es funktioniert danach genauso gut
wie vorher. Aber die Energiespeicherung in dezentralen
Systemen und die Mehrfachverwertung von Energie
müssen wir jetzt richtig angehen.
Wir haben hier Potenziale von bisher nicht vorstellbaren Quellen. Denken Sie an Geothermie! Denken Sie an
die Meere, die Wellen-, Strömungs- und Gezeitenkraftwerke! Es gibt viele spannende und schöne Sachen. Ich
denke auch an die biogenen Kraftstoffe.
Die Großforschungseinrichtungen müssen - auch
das ist noch ein sehr wichtiger Punkt - in Zukunft ihre
Schwerpunkte verlagern.
({5})
Durch die Aufstockung der Mittel gemäß der LissabonStrategie müsste das locker zu machen sein.
Wir haben unseren Antrag mit dem Titel „Nationales
Energieforschungsprogramm vorlegen“ im letzten Dezember eingebracht. Nach der politischen Dynamik und
auch marketingtechnisch ist es verständlich, dass Sie
von der CDU/CSU einen eigenen Antrag vorlegen müssen.
({6})
- Lieber Axel Fischer, Ihre Aufregung darüber, dass
heute nicht über den SPD-Antrag beraten wird, ist etwas
künstlich. In der sich anschließenden Beratung wird Ihr
Antrag einbezogen. In der zweiten und dritten Lesung
werden die beiden Anträge gemeinsam behandelt. Vielleicht ist das auch wieder einmal eine Chance, von den
üblichen Ritualen entsprechend den herrschenden Mehrheiten abzugehen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Danke. Ich komme zu meinem letzten Satz. - Nach
den üblichen Ritualen kommt im Zweifelsfall natürlich
unser Antrag durch. Deswegen - das wirklich als letzten
Satz - bitte ich Ihre Energiepolitiker und Forschungspolitiker, die wirklich eine konstruktive Arbeitshaltung
haben, ihre Vorstellungen einfach in unseren Antrag einzubringen. Es gibt jede Menge Überschneidungen - außer halt bei der Atomkraft.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat, es gibt viele Überschneidungen - das kann man immer wieder feststellen -, es gibt aber auch viele Unterschiede. Wir haben beispielsweise schon 2003 die Bundesregierung aufgefordert - insofern stimmen wir,
glaube ich, mit der CDU/CSU überein -, uns doch endlich einmal ein aktualisiertes Energieforschungsprogramm vorzulegen. Da müssen nicht immer nur die
Fraktionen tätig werden; wir haben auch eine Bundesregierung. Eine solche Aktualisierung haben wir immer
noch nicht. Obwohl der Bundesregierung eine riesige
Schar von Experten im eigenen Apparat sowie auch von
vermeintlichen und tatsächlichen Experten aus ihrem politischen Milieu zur Verfügung steht, ist dazu bisher
noch nichts gekommen. Alle Ihre Redner tun immer so,
als könne man Ihre Parteitagsbeschlüsse eins zu eins umsetzen. Was ist denn nun? Wann kommen Sie da endlich
aus dem Knick? Muss die Opposition alles machen
({0})
oder können wir damit rechnen, dass hier auch einmal
die Bundesregierung aktiv wird?
({1})
Es geht hierbei schließlich um eine existenzielle Frage
für unser Land; denn wir brauchen wirklich neue
Energien. Das meine ich jetzt ausnahmsweise einmal
({2})
- auf Sie komme ich gleich zu sprechen - nicht nur im
übertragenen Sinn.
Energieforschung ist wirklich eine der entscheidenden Herausforderungen unserer Zeit. Noch, trotz der rotgrünen Eskapaden, besitzt Deutschland die Fähigkeiten,
die wirtschaftliche Kraft sowie das wissenschaftliche
und technische Potenzial, sich den künftigen Herausforderungen und insbesondere der eben schon angesprochenen Verknappung der herkömmlichen Energieträger zu
stellen. Aber Sie müssen die Mittel dann natürlich auch
zielgerichtet dafür einsetzen.
Heute importieren wir bereits über zwei Drittel der
Primärenergie und wir befinden uns demzufolge in einer
extremen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit
von anderen. Diese Abhängigkeit - das ist völlig klar wird sich noch weiter verschärfen.
({3})
- Ich gehe gleich auf Sie ein.
Für Deutschland steht also sehr viel auf dem Spiel.
Wir müssen deshalb bei der Lösung der energiepolitischen Aufgaben ohne ideologische Scheuklappen, dafür
mit Verlässlichkeit und Berechenbarkeit vorangehen.
({4})
Rot-Grün tut das, wie wir wissen, nicht.
({5})
Wir reden über die Energieforschung. In der Lehre
muss aber ebenfalls Kontinuität gewahrt bleiben; auch
das passiert nur zu selten. Denn auch dort, wo es Ihnen
nicht in den Kram passt, müssen wir weiterforschen,
etwa in der Kernforschung. Ich meine - das habe ich
auch in Ihren Beiträgen gehört -, dass es nach wie vor
eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen, den Forschungsinstituten und der Wirtschaft in der
Energieforschung gibt. Diese müssen wir stärken.
70 Prozent der Forschung werden von der Wirtschaft getragen. Die Wirtschaft braucht aber eine zeitnahe Amortisation; sie kann nicht einfach in die Welt hineinforschen. Sie braucht Verlässlichkeit.
Wir können die Rahmenbedingungen nicht beliebig
verändern, wie wir das in der Vergangenheit immer wieder erleben mussten. Die Wirtschaft braucht die Möglichkeit, die Ergebnisse ihrer Energieforschung rascher
aufzunehmen und umzusetzen. Wir können der Wirtschaft nicht den Schwung nehmen, indem wir sie Ihren
grünen Parteitagsbeschlüssen ausliefern.
Dabei kommt insbesondere der Weiterentwicklung
der konventionellen Kraftwerkstechnik eine entscheidende Bedeutung zu. Sie führen uns regelmäßig die
Windenergie vor. 1 000 Windenergieanlagen könnten
wir ersetzen, wenn der Wirkungsgrad der herkömmlichen Kraftwerke um 1 Prozent erhöht würde.
({6})
Das ist der entscheidende Weg. Dass Sie ihn nicht gehen
wollen, verstehen wir, seit wir wissen, wie in SchleswigHolstein der Windenergieverband argumentiert und sich
verhält. Sie haben es gerade nötig, mit dem Finger auf
andere zu zeigen.
({7})
Schon heute zeigt sich zudem, dass der Abschied von
der Kernenergie als nationaler Alleingang ein Irrweg ist.
Sie müssten zumindest für die Sicherheitsforschung in
den bestehenden Kraftwerken eintreten. Sie können
doch nicht einfach alles abbrechen.
({8})
- Natürlich tun Sie das.
({9})
- Nein, ich höre nicht auf. Auch wenn Sie es nicht gerne
hören, müssen wir es Ihnen sagen.
Die Bundesregierung geht einen sehr gefährlichen
Weg der Abkopplung, den wir uns international überhaupt nicht leisten können. Wir sind jedoch nicht so einseitig wie Sie. Wir haben nie gesagt, dass alles, was Sie
machen, falsch sei. Unbestreitbar spielen die erneuerbaren Energien im Gesamtkontext eine bedeutende Rolle.
Das wollen wir überhaupt nicht in Abrede stellen.
({10})
Aber sie müssen für einen breiten Einsatz in ein Gesamtkonzept eingebunden sein, insbesondere bei den Energiespeichertechnologien oder beim Wasserstoff.
({11})
Wir wollen zu rationellen Energieübertragungstechnologien kommen. Wir wissen, dass das viel Geld
kostet. Wir müssen dieses Geld aber aufbringen, weil
uns Sparsamkeit am falschen Ende nach aller Erfahrung
teurer zu stehen kommt. Deshalb wollen wir mit Ihnen
zusammenarbeiten. Schließlich handelt es sich um Zukunftsinvestitionen in den Standort Deutschland. Wir
sind zur Kooperation bereit.
Ich danke Ihnen.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Josef Fell,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will ein paar Worte zu Herrn Fischer sagen.
Ein großer Teil Ihrer Rede hat das Thema verfehlt;
({0})
denn wir reden heute über Energieforschung und nicht
über Markteinführung, über dena-Studien oder sonst etwas. Ich denke, es hätte Ihnen gut getan, wenn Sie sich
darauf konzentriert hätten.
Dass Sie die Energieforschungsmittel, die auch aus
unserer Sicht zu gering angesetzt sind, mit den Mitteln
aufrechnen, die wir als Soforthilfe für die Tsunamiopfer
zur Verfügung stellen ({1})
- Sie haben das in Ihrer Rede aufgerechnet -, ist für
mich ganz schlimm; denn die Opfer brauchen diese Mittel ganz dringend, und zwar unabhängig davon, wie hoch
die Mittel für die Energieforschung sind. Ich muss schon
sagen: Das hat mich sehr entsetzt.
({2})
Energie - da stimme ich all meinen Vorrednern zu,
ausdrücklich auch denen von der Opposition - ist das
Fundament der Weltwirtschaft. 80 Prozent unserer Energie wird aus fossilen und atomaren Ressourcen erzeugt.
Dabei muss man wissen, dass dieses Fundament der
Weltwirtschaft und das Fundament für unseren Wohlstand selbst die größte Bedrohung für unseren Wohlstand und die Weltwirtschaft darstellt. Warum?
Zum einen kommen 80 Prozent aller Klimagasemissionen aus der Verbrennung von Erdöl, Kohle und Erdgas. Wie stark die Klimaveränderungen in dieser Welt
bereits unsere Wirtschaft und die Menschen bedrohen,
das wissen wir seit einigen Jahren; denn seitdem nehmen
die Schäden immer mehr zu. Das hat die Münchner
Rück aufschlussreich zusammengestellt.
Zum anderen müssen wir feststellen, dass dieses
Energiesystem zu fast 90 Prozent auf begrenzten und zur
Neige gehenden Ressourcen, einschließlich der atomaren, begründet ist. Dies muss uns doch noch mehr erschrecken. Es stellt sich nicht nur, Herr Königshaus, die
Frage, ob Energie aus anderen Ländern geliefert werden
kann. Es ist auch die Frage zu stellen, ob in anderen Ländern genügend Energie zur Deckung des Weltenergiebedarfs erzeugt werden kann. Genau dies ist bei einem
Rückgriff auf fossile und atomare Ressourcen nicht der
Fall.
Die neuesten Studien des Geologennetzwerks der Association for the Study of Peak Oil and Gas zeigen uns
auf, dass unsere Energieversorgung in den nächsten Jahren in eine Krise kommen wird, insbesondere hinsichtlich Erdöl, aber auch Erdgas. Diese Gefährdung der
Energieversorgungssicherheit müssen wir doch viel
ernster nehmen, als es in dem Antrag der Union der Fall
ist, der ausschließlich vom Tenor getragen ist: Lasst uns
bei der Energieforschung so weitermachen wie bisher.
Sie setzen damit auf alte Verfahren, für die die Ressourcen nicht ausreichen und die uns viele Probleme bereiten.
({3})
Sie sprechen hauptsächlich von Kernenergie und von
fossilen Energien.
({4})
Erneuerbare Energien spielen für Sie nur eine ganz
kleine Rolle. Den Aspekt der Energieeinsparung haben
Sie übrigens völlig vergessen. Das ist nicht unsere Intention in Bezug auf den Umgang mit Energie.
Auch die Energieforschung muss sich anderen Gebieten zuwenden. Es reicht nicht alleine ein Beharren auf
der Kernenergie. Das wird schon deutlich, wenn man
sich anschaut, wie viele Mittel für die Kernenergieforschung ausgegeben wurden. Mein Kollege Axel Berg ist
schon darauf eingegangen. Ich will Ihnen aber die Zahlen noch einmal genau nennen: In den letzten 50 Jahren
wurden in der gesamten OECD etwa 80 Prozent aller
Mittel für Energieforschung für die Erforschung von
Kernspaltung und Kernfusion ausgegeben. Herausgekommen ist dabei ein minimales Ergebnis: Nur
5 Prozent des Weltenergiebedarfs werden so gedeckt.
Dieses stellt also den größten Forschungsflop der Welt
dar; dem hohen Aufwand an Forschungsmitteln steht ein
beschämendes Ergebnis gegenüber.
({5})
Dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass mithilfe
der Kernfusion, in die riesige Geldbeträge gesteckt wurden, noch nicht eine einzige Kilowattstunde Strom erzeugt wurde und auch in den nächsten 50 Jahren kein
entsprechender Reaktor zu erwarten ist.
({6})
Man redet davon, dass man den ITER implementieren
will. 7 Milliarden Euro Forschungsgelder sollen allein in
den Bau gesteckt werden. Aber auch dann werden wir
erst in 30 Jahren wissen, ob wir in 50 Jahren einen entsprechenden Reaktor zur Stromerzeugung bauen können. Ich halte solche Pläne für absurd.
Wir müssen also die Mittel konzentrieren. Vor diesem
Hintergrund will ich etwas zur Kohleforschung sagen.
Das CO2-freie Kohlekraftwerk rückt ja immer mehr in
den Blick. Von der Kohleindustrie werden große Geldbeträge für die Forschung daran angemahnt. Ich kann
mich gut erinnern: Letzte Woche hat der Präsident des
Worldwatch Institute, Christopher Flavin, angeregt, dass
doch die Energiewirtschaft selbst, die in den letzten
Jahrzehnten mit ihren Kohlekraftwerken Dutzende,
wenn nicht Hunderte Milliarden Euro verdient hat und
zugleich die Atmosphäre mit Kohlendioxid vollgepumpt
hat, die Mittel für die Finanzierung der Forschung an der
Clean-Coal-Technik aufbringen sollte. Ich halte diesen
Vorschlag des Präsidenten des Worldwatch Institute für
gut.
Ich möchte noch einen Vorschlag unterbreiten. Wir
sollten heute festlegen - das würde ich gerne mit dem
Koalitionspartner diskutieren -, dass ab 2020 kein Kohlekraftwerk mehr CO2 emittieren darf.
({7})
Daraus würde sich eine enorme Dynamik für die Erforschung dieser Technologie ergeben. Dann werden wir
sehen, ob sie sich am Markt etablieren kann und ob sie
kostengünstig umgesetzt werden kann. Ich glaube aber,
dass das nicht der Fall sein wird.
Die Enquete-Kommission hat uns vorgerechnet, dass
die Zusatzkosten für CO2-Sequestrierung zwischen
3,5 und 9 Cent im Jahr 2020 liegen werden. Diese Kosten kommen zu den Kosten der Stromerzeugung hinzu.
Damit würden die CO2-freien Kohlekraftwerke höhere
Stromerzeugungskosten haben, als sie heute bei einem
großen Teil der erneuerbaren Energien anfallen. Dies
kann nicht das Ziel sein.
Ich denke, wir sollten uns - so wie wir das vorschlagen - auf erneuerbare Energien und Energieeinsparungen konzentrieren. Im Gegensatz zu den Aussagen
von Herrn Axel Fischer ist klar: Hier hat die Bundesregierung bereits neue und effektive Maßnahmen ergriffen. Wir haben beispielsweise bei der solarthermischen
Stromerzeugung, bei der Geothermie, bei der Wind- und
Wasserkraft herausragende Erfolge zu verzeichnen, die
jetzt in unternehmerisches Handeln umgesetzt werden.
Auf diesem Weg werden wir weitermachen. Wir werden die Forschungsförderung im Bereich der Energieeinsparung und der erneuerbaren Energien weiter ausbauen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fell, Sie
haben von dem Zusammenhang zwischen Wohlstand
und Energie gesprochen. In der Tat zeigt die Wirtschaftsgeschichte: Der Aufstieg aller westlichen Industrienationen und der Wohlstand für alle sind immer von der
Verfügbarkeit der Energie abhängig gewesen. Die Wirtschaftsmacht China ist ein Beispiel für eine Nation, die
einen ungeheuren Energiebedarf hat. Die wichtigste
Aufgabe der Energieforschung wird sein, Antworten auf
die entscheidende Frage zu finden: Wie können wir die
benötigte Energiemenge zur Verfügung stellen, ohne unsere Umwelt zu zerstören?
({0})
Wenn Sie diese Frage mithilfe der exzellenten deutschen Wissenschaftler beantworten wollen, dann müssen Sie optimale Rahmenbedingungen für ihre Arbeit
schaffen. Sie von Rot-Grün machen aber genau das Gegenteil. Sie schaffen keine optimalen Rahmenbedingungen, sondern Sie zerstören sie.
({1})
Zum einen kürzen Sie in unverantwortlicher Weise die
Forschungsmittel im Energiebereich. Zum anderen verengen Sie das Spektrum der Forschung, indem Sie bestimmte Bereiche von vornherein aus ideologischen
Gründen ausblenden. Ich nenne beispielsweise die Kernenergie.
({2})
Sie sind mit dieser Politik dabei, deutsche wissenschaftliche Exzellenzen auf dem Gebiet der Kernenergie,
der Sicherheitstechnik und im Bereich des Ingenieurwesens zu gefährden. Nachwuchsforscher verlassen dieses
Land - ich sage das, lieber Herr Küster, weil Sie sich
vorhin so echauffiert haben -, da sie unter der rot-grünen
Regierung in ihrem Forschungsbereich Kernkraft keine
Perspektive mehr sehen.
({3})
Sie zerstören damit das volkswirtschaftliche Gut Wissen
und Sie schädigen damit das wissenschaftliche Potenzial
dieses Landes in unverantwortlicher Weise.
({4})
Herr Berg, Sie haben vorhin Ihren Antrag vom Dezember erwähnt. Darin stellen Sie fest, dass Sie eine
nachhaltige Energiegewinnung wollen.
({5})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({6})
Daneben wollen Sie eine größere Unabhängigkeit von
den fossilen Energieträgern. Aber Sie ziehen die falschen Schlussfolgerungen. Wenn wir nämlich unabhängig von Öl oder Gas werden wollen, dann dürfen Sie die
Kernenergie als alternative Energie zu Öl und Gas nicht
ausblenden, sondern müssen sie in den Fokus Ihrer Betrachtungen stellen.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Dr. Friedrich, Sie haben gesagt, dass die
Wissenschaftler und auch die Unternehmen aus
Deutschland abwandern würden, weil hier entsprechende Rahmenbedingungen nicht vorhanden wären. Ist
Ihnen bekannt, dass in Garching bei München der große
Weltkonzern General Electric ein neues Forschungszentrum in Deutschland aufgebaut hat?
({0})
Die Begründung dafür war, dass am Wirtschaftsstandort
Deutschland - nicht am Wirtschaftsstandort Bayern die Forschungsaktivitäten herausragend sind und dass
die rot-grüne Bundesregierung und das Parlament politische Rahmenbedingungen geschaffen haben, die das
Fundament in der Energieforschung in Bezug auf erneuerbare Energien sind, worauf das Unternehmen seine
Aktivitäten besonders konzentrieren will.
Lieber Herr Kollege Fell, das ist der entscheidende
Punkt. Nicht zufällig sind nämlich diese Unternehmer
bzw. Investoren nach München gegangen.
({0})
Dort hat die Bayerische Staatsregierung das Thema
Garching seit vielen Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt
der bayerischen Forschungspolitik gemacht. Es ist
Bayern gewesen, das die Rahmenbedingungen in dieser
Frage sehr exzellent herausgearbeitet hat.
({1})
Darauf sind wir - das sage ich hier als Bayer - stolz.
({2})
Ihre Politik hilft uns nicht weiter. Die Politik des Ausstiegs aus der Kernenergie, liebe Kollegen von RotGrün, macht uns abhängiger von Öl und Gas als jemals
zuvor. Wir brauchen deshalb einen Energiemix, einen
Mix aus allen Energieträgern, und eine Energieforschung, die innerhalb dieses Mix die Nutzung laufend
verbessert und optimiert.
Jetzt komme ich auf das Thema Nachhaltigkeit zu
sprechen. Nachhaltig heißt, eine Balance zwischen ökologischer, ökonomischer und sozialer Tragfähigkeit herzustellen. Nicht umsonst haben diejenigen Länder in der
Welt, die die größten ökonomischen Probleme haben,
auch die größten ökologischen Probleme. Diesen Zusammenhang sollten Sie immer sehen.
Deswegen ist die Politik von Rot-Grün seit 1998, die
Energiepreise in Deutschland um 50 Prozent zu erhöhen, ein Irrweg.
({3})
Diese falsche Politik ist mit dafür verantwortlich, dass
täglich Hunderte von Arbeitsplätzen im verarbeitenden
Gewerbe ins Ausland verlagert werden.
({4})
Die Energieforschung muss die Wettbewerbsfähigkeit
der Energieträger verbessern, selbstverständlich auch die
der regenerativen Energien. Aber es ist ein Denkfehler,
wenn Sie glauben, die Wettbewerbsfähigkeit der regenerativen Energien dadurch stärken zu müssen, dass Sie
die anderen Energieträger sozusagen künstlich verteuern. Die Konsequenz ist nämlich, dass die Industrie und
damit Arbeitsplätze aus unserem Land verschwinden
und Sie in Deutschland sozusagen künstlich eine Energiekrise schaffen, von der wir wissen, dass sie die Konjunktur abwürgt und Möglichkeiten eines konjunkturellen Aufschwungs vernichtet.
({5})
Die Energieforschung findet - das ist vom Kollegen
Berg angesprochen worden - auch in der Wirtschaft in
großem Umfang statt, aber leider nicht mehr in dem Umfang, wie es noch vor zehn Jahren der Fall war. Wenn Sie
Energieforschung wollen - das hat Kollege Königshaus
angesprochen -, dann müssen Sie den Unternehmen die
Möglichkeit geben, ihre Kapitalbasis zu verbreitern.
Jede Entlastung der Unternehmen ermöglicht es ihnen,
mehr - auch in die Energieforschung - zu investieren.
({6})
Deswegen appelliere ich an die Forschungspolitiker:
Überlassen Sie die Umsetzung von Forschungsergebnissen den Unternehmen! Denn sie wissen am besten, wie
man das, was in der Grundlagenforschung erarbeitet
worden ist, in marktfähige Produkte umarbeitet. Dazu
brauchen sie keine politischen Ratschläge.
({7})
Letzter Punkt. Es gibt in der Bevölkerung ein Grundbedürfnis nach individueller Mobilität. Das ist ein
Stück Freiheit; das brauchen unsere Bürger. Die Energieforschung muss diesen Bereich schwerpunktmäßig
einbeziehen; denn die Lebensqualität auch in den ländlichen Räumen in unserem Land hängt davon ab, wie wir
diese Mobilitätsmöglichkeiten in der Zukunft absichern.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({8})
Es wäre gut, wenn wir als Land der Automobilindustrie
unsere führende Rolle gerade in der Antriebstechnik behalten würden.
Die Energieforschung ist einer der Schlüsselbereiche
in der Forschungspolitik. Sie ist ökonomisch, ökologisch
und sozial von größter Relevanz. Schaffen Sie in der
Energieforschung endlich ein Klima der Vielfalt, der
Freiheit, der Innovationen und der Offenheit nach allen
Richtungen und hören Sie auf, rot-grüne Ideologie zum
Maßstab für die Forschungspolitik in Deutschland zu
machen! Nur so können Sie den weiteren Absturz dieses
Landes verhindern.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dieter Grasedieck, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Dr. Friedrich, wir müssen aus dem Jammertal heraus. Das, was Sie hier dargestellt haben, ist
nicht die Realität in Deutschland.
({0})
Ich muss Ihnen sagen: Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie Ihre eigenen Anträge nicht richtig durchlesen. Denn in vielen Bereichen stimmen wir - das muss
man feststellen - absolut überein. In einem Kernbereich
unterscheiden wir uns natürlich; aber in vielen Bereichen
sind wir einer Meinung. Ich will gleich einige Punkte anführen.
Herr Königshaus, Sie sprachen von der Sicherheit
der Nuklearenergie. Schauen Sie sich doch einmal unseren Haushalt an! Die Bundesregierung fördert schon
seit Jahren die Sicherheitsforschung im Bereich der Nuklearenergie, und zwar konstant mit rund 120 Millionen.
Sie sollten sich unseren Haushalt einmal etwas genauer
ansehen.
Wir wollen eine zukunftsfähige und zukunftssichere
Energieforschung, die in den kommenden Jahren verantwortungsvoll gestaltet werden kann. Sie fordern von
der Bundesregierung mehr Geld für erneuerbare Energien. Wir stellen dafür schon seit 1998 mehr Mittel zur
Verfügung und dies bauen wir immer weiter aus. Auch
hier ist es wichtig, sich einmal den Haushalt etwas detaillierter anzusehen.
({1})
Sie stellen unter anderem fest - das ist ganz
interessant -, dass die Förderung der erneuerbaren Energien zu mehr Arbeitsplätzen führt. Das ist eine völlig
neue Erkenntnis seitens der CDU/CSU.
({2})
Schauen Sie sich einmal die Situation in diesem Bereich
an! Seit 1998 haben wir eine Steigerung der Zahl der Arbeitsplätze zu verzeichnen.
({3})
- Sie können gleich eine Zwischenfrage stellen, wenn
Sie Lust haben. Das ist ja möglich.
({4})
1998 gab es 60 000 qualifizierte Arbeitsplätze, heute
sind es über 120 000 Arbeitsplätze im Bereich des Maschinenbaus und der Windenergie. Ich könnte noch andere Punkte aufführen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie
fordern auch mehr Forschungsmittel für Biomasse. Das
wird bereits seit 1998 gemacht. Außerdem fordern Sie
mehr Mittel für Kompetenznetzwerke. Wir fördern
Kompetenznetzwerke bzw. Clusterbildungen bereits
seit 2000 sehr intensiv. Wir legen Wert darauf, dass die
Industrie mit den Universitäten und den Instituten zusammenarbeitet. 94 Clusterbildungen sind dort entstanden.
Sie sehen also, dass die Bundesregierung viele Forderungen erfüllt hat. Ich kann nur sagen: Das ist späte
CDU/CSU-Erkenntnis. Abschreiben ist wahrlich ein gutes Kompliment für die Politik der Koalition.
Die CDU/CSU fordert allerdings auch mehr Forschungsmittel für den Bau von Kernkraftwerken. An
dieser Stelle sagen wir: Nein, wir brauchen eine sichere
und verantwortungsvolle Forschung. Herr Fischer, Sie
haben Nachhaltigkeit in der Forschung gefordert. Ist es
nachhaltig, wenn man weiß, dass es keine Lösung für die
Endlagerung des radioaktiven Abfalls gibt?
({5})
Nein, wir glauben, dass unsere Kinder eine zukunftssichere und zukunftsfähige Energieerzeugung brauchen.
Wir setzen deshalb auf erneuerbare Energien sowie auf
effiziente Gas- und Kohlekraftwerke und auf Einsparungen.
Die CDU/CSU schreibt in ihrem Antrag, dass wir
Kernenergie für die heimische Anwendung brauchen.
Wer baut denn Kernkraftwerke und wo werden sie gebaut? Wenn Sie sich einmal mit Vertretern der Industrie
unterhalten, werden Sie feststellen, dass niemand ein
Kernkraftwerk bauen will. Vor zehn Jahren hat der VebaChef in einer Diskussion in Bonn darauf hingewiesen,
dass es sich nicht lohne, Kernkraftwerke zu bauen. Erstens seien sie zu teuer - das ist ein wichtiger Faktor; im
Moment kostet es 2 Milliarden - und zweitens sei das
Uranvorkommen begrenzt. Seine Aussage war, dass die
Uranvorräte in 25 Jahren erschöpft sein werden. Interessant ist auch der Bericht der „Financial Times“, in dem
darauf hingewiesen wird, dass die Uranpreise enorm gestiegen sind. Im Januar 2004 kostete ein Pfund Uran
noch 7 Dollar, heute müssen 21 Dollar dafür gezahlt
werden. Mit weiteren Preissteigerungen ist zu rechnen.
So schreibt die „Financial Times Deutschland“.
Ferner muss man berücksichtigen: Fast die Hälfte der
Uranvorräte stammt aus Militärbeständen. Diese Vorräte
werden aber in 15 Jahren zu Ende gehen; das kann man
berechnen. Deshalb sagen die Vertreter der Energiewirtschaft: Ein Kernkraftwerk ist nicht wirtschaftlich. Nein, wir brauchen eine zukunftsfähige und sichere
Energieforschung.
Deshalb setzen wir erstens auf erneuerbare Energien.
({6})
Kollege Fell sprach schon davon, dass dadurch viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. 60 000 Arbeitsplätze
sind im Bereich der Windenergie entstanden. Sie fordern
das doch auch in Ihrem Antrag, Herr Fischer. Lesen Sie
sich doch Ihren Antrag einmal durch! Auf diesem Gebiet
sind die Bundesregierung und die Koalition erfolgreich.
Wir sind bei den erneuerbaren Energien Weltmeister.
Zweitens brauchen wir von der Industrie, aber auch
von der Bundesregierung Mittel zur Erforschung effizienter Techniken bei der Erzeugung von Strom aus
Braun- und Steinkohle. Wir brauchen die Clean Coal
Technology, die uns hilft, die Wirkungsgrade erheblich
zu verbessern. Wir sind auf diesem Sektor weltweit führend. Da müssen wir weitermachen, weil unser Ziel das
CO2-freie Kraftwerk ist. Das wäre zudem auch noch ein
Exportschlager für unsere Industrie.
Drittens wollen wir auch noch weitere Potenziale bei
der Energieeinsparung ausschöpfen.
Wir Sozialdemokraten sind für eine sichere, zukunftsfähige und verantwortungsvolle Forschung. Machen Sie
einfach dabei mit und lesen Sie sich Ihren Antrag etwas
genauer durch! Wir haben ja noch Zeit; wir werden das
beraten.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/4507 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen, wobei die Federfüh-
rung, abweichend von der Tagesordnung, beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Arbeit liegen soll. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika
Bellmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verlängerung der Übergangsfrist
bei der Weiterbildungsförderung im Falle gesetzlich festgelegter Ausbildungsdauer
- Drucksache 15/4385 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Niebel, Daniel Bahr ({1}), Rainer Brüderle,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Weiterbildungsförderung bei gesetzlich festgelegter Ausbildungsdauer
- Drucksache 15/4147 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Die Rednerinnen und Redner Hans-Werner Bertl,
Alexander Dobrindt, Markus Kurth und Gudrun Kopp
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deshalb kommen wir gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird
Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksachen 15/4385 und 15/4147 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({3}), Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Transparenz und Wettbewerb im öffentlichen
Schienenpersonennahverkehr
- Drucksache 15/2752 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Haushaltsausschuss
Die Rednerinnen und Redner Karin RehbockZureich, Enak Ferlemann, Albert Schmidt ({6}),
Horst Friedrich ({7}) und die Parlamentarische
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Staatssekretärin Angelika Mertens haben ihre Reden
ebenfalls zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2752 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
1) Anlage 3
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Januar 2005, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch unseren
Zuhörern auf der Besuchertribüne ein schönes Wochenende.
({8})
Die Sitzung ist geschlossen.