Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich dem Kollegen Ulrich Heinrich,
der am 11. Dezember seinen 65. Geburtstag feierte, und
dem Kollegen Michael Glos, der am 14. Dezember seinen 60. Geburtstag beging, nachträglich die besten
Glückwünsche aussprechen.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Neuverteilung der Sitze des Deutschen Bundestages im Ausschuss
nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({1}) vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2004
- Drucksache 15/4494 ({2})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: zu den
Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 bis 23
in Drucksache 15/4476
({3})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Deutsch-russischen Jugendaustausch ausweiten und stärken
- Drucksache 15/4530 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 30. September 2003 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten
und der schweren Kriminalität
- Drucksache 15/3880 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({7})
- Drucksache 15/4525 Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Erwin Marschewski ({8})
Silke Stokar von Neuforn
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 15/2252 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({10})
- Drucksache 15/4537 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder ({11})
Jörg van Essen
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 15/4509 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
- Drucksache 15/4510 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 15/4511 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 15/4512 ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Zwischenbilanz des nationalen Paktes für Ausbildung und
Fachkräftenachwuchs in Deutschland
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer,
Rolf Hempelmann, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Michaele Hustedt, Volker Beck ({16}), weiterer
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN: Nationales Energieforschungsprogramm vorlegen
- Drucksache 15/4514 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({17})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit für die Einwerbung von Drittmitteln an Hochschulen und Universitätskliniken für Forschung und Lehre
- Drucksache 15/4513 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Rechtsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
({19}), Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Flughafenkonzept für Deutschland
- Drucksache 15/4517 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Angela
Merkel, Michael Glos, Siegfried Kauder ({23}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ein-
setzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksachen 15/4285 -
ZP 10 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Selbstver-
pflichtung öffentlich-rechtlicher und privater Rund-
funksender zur Förderung von Vielfalt im Bereich
von Pop- und Rockmusik in Deutschland
- Drucksache 15/4521 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Kampeter, Günter Nooke, Bernd Neumann ({24}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Musik aus Deutschland fördern - Für eine freiwillige
Selbstverpflichtung der Hörfunksender zugunsten
deutschsprachiger Musik
- Drucksache 15/4495 -
ZP 11 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernhard
Brinkmann ({25}), Ernst Bahr ({26}),
Lothar Binding ({27}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Anja
Hajduk, Volker Beck ({28}), Alexander Bonde, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Bewältigung der Konversionslasten
durch gemeinsame Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen
- Drucksache 15/4520 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({29})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Steffen Kampeter, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konversionsregionen stärken - Verbilligte Abgabe von zu
Verteidigungszwecken nicht mehr benötigten Liegenschaften ermöglichen
- Drucksache 15/4531 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({30})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 12 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und
weiterer Gesetze
- Drucksache 15/4491 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({31})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 13 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu Berichten über eine drohende Unterfinanzierung der Rentenkassen in 2005
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Ferner soll am Freitag Tagesordnungspunkt 21 mit
Tagesordnungspunkt 20 getauscht werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 142. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht ({32})
- Drucksache 15/4228 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({33})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Der in der 138. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen
in der Justiz ({34})
- Drucksache 15/4067 -
überwiesen:
Rechtsausschuss
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({35}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Präsident Wolfgang Thierse
Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Friedbert Pflüger,
Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die
Türkei
- Drucksachen 15/3949, 15/4522 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Werner Hoyer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({36}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortsetzen
und den Weg für Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei freimachen
- Drucksachen 15/4031, 15/4523 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Werner Hoyer
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({37}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Zu der Empfehlung der EU-Kommission über
Beitrittsverhandlungen der Europäischen
Union mit der Türkei
- Drucksachen 15/4064, 15/4524 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Werner Hoyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({38})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage
es gleich zu Beginn und ohne jede Umschweife: Die
Union hat diese heutige Debatte nicht deshalb beantragt,
weil wir uns der Hoffnung hingeben, wir als Opposition
könnten die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler und
Herr Bundesaußenminister, noch von ihrer Haltung zum
EU-Beitritt der Türkei abbringen. Wir wissen, dass wir
sie nicht umstimmen werden. Wir machen uns da keine
Illusionen. Der EU-Rat der Staats- und Regierungschefs
- dazu gehören, das sage ich ganz klar, auch Staats- und
Regierungschefs der Parteienfamilie der Europäischen
Volkspartei - wird heute oder morgen aller Voraussicht
nach die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei
über den Beitritt zur Europäischen Union beschließen.
({0})
Wir haben die Debatte heute hier in diesem Hause aus
einem anderen Grund gewollt. Wir haben sie gewollt,
um mit den Menschen über die Folgen dieser Entscheidung zu sprechen. Ich glaube, darauf haben die Menschen am Vorabend einer für Europa historischen Entscheidung wirklich einen Anspruch.
({1})
Ich frage Sie: Wer, wenn nicht dieser Deutscher Bundestag, sollte diesen Anspruch einlösen? Deshalb haben wir
als Opposition beantragt, darüber zu debattieren, weil
wir aus vielen Umfragen und Gesprächen wissen, wie
sehr dieses Thema die Gemüter in Deutschland bewegt.
Ich glaube, wir alle sind uns darüber einig, dass wir
ein solches Thema nicht Rattenfängern und Hetzern
überlassen dürfen,
({2})
sondern diese Debatte verantwortlich führen müssen.
({3})
Meine Damen und Herren, wer denen, die diese
Debatte führen, Begriffe wie „Brandstifter“ entgegenhält, wer von „zynischem Spiel“ oder von „politischer
Hetze - hysterisch und schamlos“ redet, der will keine
offene, ehrliche Debatte über diese wichtige Frage,
({4})
der will anderen den Mund verbieten und nicht Argumente austauschen. Dieses Verhalten und diese Herangehensweise sprechen für mich dafür, dass man ein unerwünschtes Thema tabuisieren will, vielleicht weil man
glaubt, seiner eigenen Klientel irgendetwas schuldig zu
sein.
({5})
Aber, meine Damen und Herren, das ist ein Thema,
das die Menschen bewegt und das mit allergrößten Folgen für die deutsche und die europäische Politik verbunden ist. Deshalb, glaube ich, werden sich die Deutschen
auch ein eigenes Urteil darüber bilden, dass der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland in einer solchen Debatte nicht das Wort ergreift oder uns sogar, wie
man es erwarten müsste, in einer Regierungserklärung
heute hier seine Haltung darlegt.
({6})
Sie werden die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei beschließen und Sie werden unseren
Vorschlag eines dritten Weges, einer privilegierten
Partnerschaft, ausschlagen. Dies werden Sie auch damit begründen, dass alle Bundesregierungen seit Konrad
Adenauer der Türkei den Beitritt zur Europäischen
Union versprochen hatten. Deshalb möchte ich auf den
Historiker Professor Heinrich August Winkler verweisen, der immer wieder betont, dass bei der Beurteilung
von Entscheidungen stets auch die Umstände, unter denen sie getroffen wurden, zu berücksichtigen sind und
dass es aus diesem Grunde keinen Automatismus geben
kann.
Wenn wir uns einmal die Entwicklung der Europäischen Union vor Augen führen, erkennen wir, dass in
den 60er-, 70er-, 80er-Jahren die Ausgestaltung einer
Wirtschaftsgemeinschaft weit vorangekommen und
durch die Vollendung des Binnenmarktes sicherlich ein
qualitativer Sprung gemacht worden ist. Aber inzwischen ist die Entwicklung wesentlich über den Binnenmarkt hinausgegangen. Wir haben die Verträge von
Maastricht und Amsterdam, eine gemeinsame Währung
ist eingeführt worden, wir haben eine Unionsbürgerschaft - im Übrigen ein Punkt, der sehr wenig diskutiert
wird; diese Unionsbürgerschaft führt nämlich zum Kommunalwahlrecht für alle bei uns lebenden Bürger der Europäischen Union -, eine Erweiterung der Politik der Europäischen Union um die Innen- und Rechtspolitik, eine
Grundrechtscharta und einen Verfassungsvertrag. Das
heißt, es gibt eine Entwicklung von einer Freihandelszone hin zu einer politischen Union. Deshalb müssen wir
uns fragen: Was bedeutet es für diese politische Union,
wenn ein Land wie die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird?
Genau aus diesem Grund befassen sich die Kopenhagener Kriterien nicht nur mit dem beitrittswilligen
Land, sondern fragen - das wird in der Diskussion immer wieder unterschlagen - zu einem Teil auch: Ist die
Integrationsfähigkeit der Europäischen Union gefährdet, wenn ein weiteres Land aufgenommen wird? An
dieser Stelle sage ich: Wir müssen uns vor Augen führen, dass die Vertiefung der politischen Union mit der
Türkei als Vollmitglied nicht so erfolgen können wird,
wie wir uns das vorstellen. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt.
({7})
Deshalb möchte ich den ehemaligen Verfassungsrichter Böckenförde zitieren, der neulich in einer Danksagung anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises deutlich gesagt hat - Zitat -:
Die Türkei ist nach geographischer Ausdehnung,
Bevölkerungszahl, nationaler und kultureller Identität, ökonomischer und politischer Struktur von einer Bedeutung und Eigenart, die die Frage nach
dem Konzept, der finalité der europäischen Einigung unausweichlich macht.
Diese Frage, meine Damen und Herren, wird von der
Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen nicht
beantwortet: Ist es eine politische Union, ein geostrategisches Bündnis oder eine Freihandelszone, was wir uns
vorstellen? Ohne diese Frage zu beantworten, ist es nicht
verantwortlich, Beitrittsverhandlungen mit einem Land
zu beginnen, da nicht klar ist, wohin diese führen sollen.
Wir bekennen uns klar zu einer vertieften politischen
Union.
({8})
Sie werden weiterhin sagen, dass der Türkei die Zusage auch deshalb gegeben worden sei, weil sie historisch und politisch zu Europa gehöre. Tatsache ist, dass
- daran kommt man nach einem Blick auf die Landkarte
nicht vorbei - erstmals in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses Verhandlungen mit einem
Land begonnen werden, dessen Grenzen weit über
Europa hinausgehen; sie reichen bis zum Iran, zum Irak
und nach Syrien.
({9})
Meine Damen und Herren, es nützt doch nichts, so zu
tun, als ob die Menschen das nicht beschäftigt. Denken
Sie doch einmal an Konstruktionen wie das SchengenAbkommen und die Definition der Außengrenzen! Daher muss doch über eine solche Tatsache debattiert werden.
Man hilft der Türkei nicht, wenn man immer wieder
darüber hinwegsieht, dass die Kopenhagener Kriterien
von der Türkei nicht so erfüllt werden, wie wir uns das
vorstellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass es dort
Folter gibt. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass es
eine Religionsfreiheit nicht gibt. An dieser Tatsache
werden Sie nicht vorbeikommen, wenn Sie die Möglichkeiten betrachten, die christliche Kirchen in der Türkei
haben. Es kann für den türkischen Ministerpräsidenten
zu einem Eigentor werden - Wolfgang Schäuble hat dies
gestern bemerkt -, wenn er uns bezichtigt, ein Christenklub zu sein, aber gleichzeitig Religionsfreiheit in seinem Lande nicht ausreichend garantiert.
({10})
Der Herr Bundesaußenminister spricht - so auch in
den letzten Tagen - immer wieder von der geostrategischen Bedeutung, die der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union habe. Es ist richtig: Die Europäische
Union ist entstanden aufgrund der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus sowie der festen Überzeugung der europäischen Länder, nie wieder Krieg gegeneinander zu
führen.
Es ist auch richtig, dass der 11. September des Jahres
2001 die Welt verändert hat. Aber ich bezweifle, dass
man argumentieren kann, die dadurch entstandene Situation hinsichtlich der Beziehung zwischen der Europäischen Union und der Türkei sei vergleichbar mit der
Situation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir
haben ein gutes, freundschaftliches und enges Verhältnis
mit der Türkei in den letzten Jahrzehnten. Die Türkei ist
ein assoziiertes Mitglied der Europäischen Union.
Man kann nicht behaupten, dass die geostrategische
Frage, die sich nach dem 11. September 2001 natürlich
stellt, mit einem Beitritt der Türkei zur Europäischen
Union beantwortet werden kann. Es stellt sich eine ganz
andere Frage: Welche Kraft auf sicherheitspolitischem
Gebiet hat der Westen und insbesondere die Europäische
Union? Ich glaube, da handeln wir nach dem Prinzip
Hoffnung. Die Europäische Union ist keine sicherheitspolitisch global agierende Macht. Die globale Sicherheitsarchitektur des Westens beruht auf einer starken
NATO, in der die Türkei Mitglied ist.
({11})
- Meine Damen und Herren, wenn Sie den Unterschied
zwischen einem geostrategischen Bündnis, wie es die
NATO darstellt, und einer politischen Union, wie sie die
heutige Europäische Union ist, nicht erkennen, dann
wird es natürlich schwierig.
({12})
Der Bundesaußenminister spricht davon, dass nach
dem 11. September 2001 kleineuropäische Lösungen
nicht weiterhelfen würden, weil wir es mit großen Ländern wie Indien, China und den Vereinigten Staaten zu
tun hätten. Er suggeriert damit, dass durch den Beitritt
der Türkei aus einer kleineuropäischen Lösung eine
großeuropäische Lösung wird. Heinrich August
Winkler sagt dazu - wie ich finde, sehr zutreffend -:
Man darf Größe nicht mit Stärke verwechseln. Das ist
genau das Problem: Wenn es um die Verteidigung unserer westlichen Werte geht, sind wir nur stark innerhalb
der NATO. Daneben brauchen wir aber eine handlungsfähige politische Union, mit der die Ziele Europas verwirklicht werden können.
({13})
Über die geostrategische Bedeutung der Türkei wird
gesagt, die Türkei habe eine Brückenfunktion.
({14})
Eine Brücke ist immer ein Konstrukt - auch das ist hier
schon gesagt worden -, das niemals vollständig zu einer
Seite gehört. Das heißt, die Türkei kann ihre Brückenfunktion besser erfüllen, wenn sie nicht Vollmitglied der
Europäischen Union ist und Aufgaben in anderen Bereichen wahrnehmen kann.
({15})
Es wird argumentiert, wir müssten jetzt beweisen
- ich glaube, dass Europa dies nicht beweisen muss;
denn wir sind kein, wie uns manchmal vorgeworfen
wird, religiös ausgerichteter Klub -, dass die Europäische Union mit einem muslimischen Mitgliedstaat auskommen könne. Dieses Argument ließe sich, wenn man
konsequent zu Ende denkt, auch auf andere Länder übertragen, indem man sagt, die Türkei sei kein typisch arabisches und islamisches Land. Wo diese Beweiskette
enden soll, wird sich dann zeigen. Aber darüber diskutieren Sie einfach nicht, weil Sie sich mit dieser Frage nicht
auseinander setzen.
({16})
Meine Damen und Herren, Sie wissen natürlich, dass
das Argument der geostrategischen Bedeutung allein
nicht ausreicht. Das heißt, dass die Vollmitgliedschaft
der Türkei weiter gehend begründet werden muss. Deshalb weisen Sie dann, wenn es um die Aufnahme von
Verhandlungen geht, immer darauf hin, es sei ja noch ein
langer Zeitraum, es gehe eigentlich nur um die Aufnahme von Verhandlungen und es gebe keinen Beitrittsautomatismus.
Helmut Kohl hat gestern ganz deutlich gesagt - insofern können Sie ihn nicht als Kronzeugen nehmen -, er
sei immer der Auffassung gewesen, dass die Erfüllung
der Kopenhagener Kriterien - ich betone: aller Kriterien,
der des Beitrittslandes und der der Integrationsfähigkeit - die Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen sei und sich nicht das Prinzip Hoffnung, dass das
schon alles irgendwie gut gehen werde, durchsetzen
könne.
({17})
Deshalb sage ich jetzt eindeutig: Genau dies ist auch unsere Haltung.
Was heißt Beitrittsautomatismus? Ich glaube, hier
spielen Sie mit der Ernsthaftigkeit dieser Frage.
({18})
Denn es ist nicht redlich, so zu tun, als könne man fünf
oder zehn Jahre verhandeln, um dann entweder die Vollmitgliedschaft oder das totale Scheitern zu erreichen. Ich
sage Ihnen: Dies ist so unehrlich wie vieles in den letzten 40 Jahren im Umgang mit der Türkei.
({19})
Sie wissen genau, dass, wenn es keine Auffangposition
gibt, ein Scheitern eine Katastrophe für die Türkei und
gleichzeitig für die Politische Union Europas wäre. Deshalb halten wir diesen Weg für nicht richtig. Wir glauben, es muss eine Alternative bzw. eine weitere Option
geben.
({20})
Wir wissen, dass Sie, obwohl Sie von keinem Beitrittsautomatismus sprechen, eine Rückfallposition, eine
Option B, eine Alternative, wie es für uns die privilegierte Partnerschaft ist, ablehnen werden.
({21})
Das eigentlich Unredliche an der Argumentation ist,
dass Sie den Eindruck erwecken, dass das Konzept der
privilegierten Partnerschaft im Grunde nichts weiter als
ein glattes Nein gegenüber der Türkei ist.
({22})
Das ist nicht redlich, weil die privilegierte Partnerschaft
ein Konzept ist, das der Türkei einzigartige Beziehungen
intensivster Art mit der Europäischen Union in Aussicht
stellt.
({23})
Genau diesen Weg halten wir als Alternativweg für
wichtig, um ein Scheitern und eine Katastrophe zu verhindern. Deshalb ist Ihre Argumentation an dieser Stelle
nicht in Ordnung.
({24})
Meine Damen und Herren, es ist doch wahr - das wissen doch auch Sie -: Seitdem die privilegierte Partnerschaft als ein dritter Weg im Raum ist, ist die Diskussion
in Europa weitergegangen. Schauen Sie sich die Debatten in der französischen Nationalversammlung an!
Schauen Sie sich an, was selbst der französische Präsident auf dem deutsch-französischen Gipfel in Lübeck
gesagt hat! Alle wissen, dass es im Grunde richtig wäre,
eine Alternative, eine privilegierte Partnerschaft, die wir
für die richtige halten, als Option im Auge zu haben,
({25})
nicht von einem Beitrittsautomatismus zu sprechen und
ansonsten das Ganze, was da passiert, offen zu lassen.
({26})
Ich glaube, wir alle sind uns darüber im Klaren - egal
welche Haltung die einzelnen Kolleginnen und Kollegen
haben -, dass die Entscheidung des Rates zur Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und
Europa von historischer Bedeutung für die Europäische
Union ist. Wer das wegdrückt, wer sich dessen nicht bewusst ist und wer versucht, an einem solchen Vorabend
keine Debatte stattfinden zu lassen, dem sage ich, dass er
dieser Aufgabe nicht gerecht wird und den Menschen
Sand in die Augen streut.
({27})
Die Diskussion hat sich aus meiner Sicht völlig verengt.
({28})
Es wird so getan, als ginge es nur um die Türkei. Im Wesentlichen geht es aber um uns, um die Zukunft eines
jahrzehntelangen Aufbauwerks der Europäischen Union,
um seine Vertiefung, das mit der Abgabe von Souveränitätsrechten verbunden ist. Dass es um uns geht, dass es
um unsere Zukunft geht, muss in einer verantwortlichen
Weise und deutlich ausgesprochen werden. Darüber gehen Sie leichtfertig hinweg.
({29})
Ich möchte Giscard D’Estaing zitieren, der immerhin Präsident des Europäischen Verfassungskonvents
war. In der „FAZ“ vom 26. November sagte er:
Was mich am meisten überrascht, ist die Art und
Weise, in der sich die meisten europäischen Politiker in eine ideenlose Sackgasse haben zwingen lassen: Entweder man bejaht die Eröffnung von Verhandlungen, die in eine Aufnahme der Türkei in die
EU münden, oder man schlägt ihr die Tür vor der
Nase zu. Wie konnte es zu dieser Ideenarmut, zu
dieser extremen Vereinfachung kommen? Anderswo versteht man es besser, mit solchen Fragen
umzugehen …
Ich habe dem an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Ich
teile die Meinung von Giscard D’Estaing vollkommen.
({30})
- Es kann ja sein, dass Ihnen die Zitate nicht passen. Sie
müssen sich mit der Realität aber schon auseinandersetzen.
Es ist ja nicht schlimm, dass wir unterschiedlich argumentieren.
({31})
Ich sage es ganz nüchtern: Mit einer Entscheidung in der
Form, wie sie morgen aller Voraussicht nach getroffen
wird, ist ein Alles oder Nichts, ein Entweder-oder, ein
Scheitern oder eine Vollmitgliedschaft verbunden. Ich
glaube, dass dies der geostrategischen Aufgabe Europas
und der Politischen Union nicht gerecht wird. Deshalb
brauchen wir ein durchdachtes Konzept, das der Türkei
natürlich nicht die Tür vor der Nase zuschlägt.
Sie schlagen die Möglichkeit eines dritten Weges aus.
Als Opposition können wir diese Entscheidung nicht
verhindern; wir werden aber
({32})
mit der Bevölkerung in diesem Lande über die Folgen
einer solchen Entscheidung für Europa und für die Gesamtlage weiter sprechen.
Es ist für mich und für uns wichtig - das macht die
Bedeutung Europas aus -, dass die Politische Union der
Europäischen Union weitergeführt werden kann, dass sie
nicht in Gefahr gerät und dass wir trotzdem unseren geostrategischen Aufgaben gerecht werden, nicht als Europa
gegen Amerika, sondern in den gemeinsamen Bündnissen.
Deshalb werden wir diese Debatte 2005 und 2006
weiterführen. Anhand des Sachstandes, den wir 2006,
wenn wir an der Regierung sind, vorfinden,
({33})
werden wir prüfen, wie wir unsere Ideen, von denen wir
überzeugt sind, in die Tat umsetzen können,
({34})
und zwar genauso verantwortlich gegenüber unseren türkischen Freunden wie verantwortlich gegenüber dem
Friedenswerk der Europäischen Union. In diesem Sinne
werden wir weiterhin handeln.
Herzlichen Dank.
({35})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz
Müntefering, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dies ist eine wichtige Woche für Europa. Frau
Merkel, Sie haben gesagt, es ist eine Woche von historischer Bedeutung. An dieser Stelle sind wir uns einig.
Wir gehen im Bewusstsein um die große Verantwortung
an die Entscheidung, um die es jetzt geht, heran.
Gestern hat das Europäische Parlament mit großer
Mehrheit beschlossen, dass Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei aufgenommen werden sollen. Die SPD-Fraktion begrüßt diese Entscheidung des Europäischen Parlaments sehr.
({0})
Morgen entscheiden die Regierungschefs. Alles
spricht dafür, dass sie bei der bisherigen Linie bleiben:
Mit der Türkei werden Verhandlungen mit dem Ziel des
Beitritts aufgenommen. Die Bundesregierung bzw. der
Kanzler und der Vizekanzler haben für diese Entscheidung am morgigen Tag die klare Unterstützung der SPDFraktion.
({1})
Die gestrige Entscheidung im Europäischen Parlament hatte eine Besonderheit, die als Absonderlichkeit
in die Geschichtsbücher eingehen wird. Die Konservativen im Europäischen Parlament, voran die CDU/CSUAbgeordneten aus Deutschland, haben dort geheime Abstimmung verlangt.
({2})
In Deutschland kündigen Sie Unterschriftenlisten an,
wollen aber selbst geheim abstimmen - das ist ein seltsames Demokratieverständnis.
({3})
Das ist gewissermaßen die christdemokratische Leitkultur. Was sollen die Türken davon halten?
({4})
Auch heute haben Sie es nicht besser gemacht. Wir
waren ganz gespannt darauf, von Ihnen zu hören, was
eine privilegierte Partnerschaft ist.
({5})
Aber das halten Sie genauso geheim wie Ihre gestrige
Abstimmung. Sagen Sie doch einmal, was Sie damit eigentlich meinen!
({6})
Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Im Jahre 1963 ist
unter einer CDU/CSU-geführten Regierung von der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Abkommen mit der Türkei geschlossen worden, in dem die
Möglichkeit des Beitritts eröffnet wurde.
Mit Billigung von Kanzler Kohl ist der Türkei auf
dem Europäischen Rat in Luxemburg im Jahre 1997
ausdrücklich bescheinigt worden, dass sie „für einen
Beitritt zur Europäischen Union in Frage kommt“.
({7})
Herr Kohl hat anschließend eine Pressekonferenz
gegeben und bekräftigt, dass es dabei um eine Bestätigung der europäischen Berufung der Türkei und ihrer
Perspektive für einen späteren Beitritt zur EU geht.
({8})
Sie, Herr Glos, haben damals das deutsche Interesse bemüht und gesagt:
Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei
in Europa zu sehen.
({9})
Herr Glos, Sie hatten vorgestern Geburtstag und sind
60 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch von
Kollege zu Kollege! 60 ist ein schönes Alter.
({10})
Dann ist der jugendliche Leichtsinn vorbei und langsam
beginnt die Altersweisheit. Ich hoffe, man wird das auch
bei Ihnen ein bisschen merken. Ich jedenfalls wünsche
Ihnen alles Gute!
({11})
Die Geschichte mit Europa geht weiter. In der Kontinuität der früheren CDU/CSU-Politik ist der Türkei
1999 vom Europäischen Rat in Helsinki der Status eines
Beitrittskandidaten zuerkannt worden. Die Kopenhagener Kriterien müssen erfüllt werden. Dazu haben Sie,
Frau Merkel, einige Monate, bevor es die Kommission
getan hat, gesagt: „Die Türkei wird die Kopenhagener
Kriterien erfüllen.“ Lesen Sie einmal nach, was Sie
heute Morgen dazu gesagt haben.
Der Gipfel war, dass Sie, die Opposition, angekündigt
haben: Sollten Sie 2006 die Regierung übernehmen,
({12})
werden Sie versuchen, einen Beschluss der Staats- und
Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei aufzunehmen, rückgängig zu machen. Ich kann
Sie beruhigen: Das werden Sie 2006 nicht schaffen.
Trotzdem sollte man sich einmal ansehen, was Sie da eigentlich sagen.
({13})
Sie sagen: Wenn Sie die Chance dazu hätten, die Sie
aber nicht haben werden, würden Sie die Entscheidung
einer deutschen Bundesregierung, mit solchen Verhandlungen zu beginnen, aushebeln. Dadurch disqualifizieren
Sie sich für jedwede Aufgabe, sowohl außenpolitisch als
auch bundespolitisch;
({14})
denn Verträge müssen gehalten werden. Das Schlimmste,
was Sie als Opposition tun können, ist, ein solches Vorgehen anzukündigen.
({15})
Auch heute habe ich Sie nicht anders verstehen können.
Niemand behauptet, dass das, was wir vor uns haben,
leicht ist. Das werden schwierige Verhandlungen. Es
wird sicherlich auch Rempeleien und Schwierigkeiten
geben. Die Verhandlungen werden nicht automatisch zu
dem Ergebnis führen, das wir uns wünschen. Die Türkei
muss die Voraussetzungen schaffen, und zwar nicht nur
per Gesetz und verbal. Sie müssen vielmehr Lebenswirklichkeit werden. Darauf werden wir zu achten haben. Das tun wir auch.
Die Verhandlungen werden lange dauern und schwierig sein. Ihr Ausgang ist offen; das wissen Sie. Vor 2014
jedenfalls ist ein Beitritt der Türkei zur EU nicht zu erwarten.
({16})
- Es geht nicht um mich persönlich; die Sozialdemokraten möglicherweise doch, Herr Kauder, also seien Sie
mal nicht so mutig!
({17})
Die Türkei ist kein Beitrittskandidat wie jeder andere.
Wir wissen um die Sorgen und Bedenken, die es auch in
unserem Lande gibt: Die Türkei ist ein sehr großes Land,
ein Land mit einer Kultur, die nicht ohne weiteres in Europa Tradition hat, wenigstens nicht in der Dimension
wie andere Kulturen. Das bedeutet: Nicht nur die Türkei
muss beitrittsfähig sein, die EU muss auch aufnahmefähig sein.
({18})
- Ja, das sagen wir: Es liegt auch an uns. Mit uns wird
die EU aufnahmefähig sein; ob das mit Ihnen auch der
Fall sein wird, ist eine ganz andere Frage. Mit der Position, die Sie jetzt beziehen, sind Sie es sicher nicht.
({19})
Wer von vornherein sagt: „Wir wollen es nicht“, wie
kann der sich aufnahmefähig machen?
Die Verhandlungen können ausgesetzt werden, falls
die Türkei die politischen Kriterien ernsthaft und dauerhaft verletzt. Die EU muss dafür Sorge tragen, eine Aufnahme der Türkei finanziell verkraften zu können. Wir
lassen nichts aus: Die Sache wird schwierig. Für die ausgabenintensivsten Bereiche - die Agrarpolitik und die
Strukturpolitik - müssen in den Verhandlungen mit der
Türkei Regelungen gefunden werden. Was die Freizügigkeit der Personen angeht, wird in den Verhandlungen
zu entscheiden sein, ob es den Mitgliedstaaten erlaubt
werden soll, den Zuzug von Türkinnen und Türken dauerhaft zu begrenzen, oder wie lange die volle Freizügigkeit nicht gegeben ist.
Wir verkennen nicht: Die Türkei kann und muss noch
viel tun. Aber sie hat die Chance. Die Erfahrung, die wir
mit anderen Ländern gemacht haben, ist: Die Chance,
zur EU dazukommen zu können, ist der Ansporn für alle
Demokraten in diesen Ländern, dies auch zu versuchen.
Weshalb sind Sie so kleinmütig, zu glauben, dass das,
was an demokratischer Idee, an Freiheitsidee in der EU
steckt, sich nicht auch in andere Länder transportieren
lässt, sie nicht anspornt, dazugehören zu wollen?
({20})
Sie reden über die Risiken, wir reden über die Chancen, die es auch gibt. Sie reden kleinmütig und Sie reden
mutlos. Deutschland ist der größte Handelspartner der
Türkei. Der Zuwachs der deutschen Exporte war auch in
diesem Jahr wieder fulminant. Der BDI hat erklärt:
Für die deutsche Industrie ist die Türkei ein Wachstumsmarkt mit großem strategischem Potenzial.
Eine berechenbare europäische Perspektive und die
schrittweise Übernahme des europäischen Rechts
erhöht die Planungssicherheit für die Unternehmen.
Wo sie Recht haben, haben sie Recht: Die Perspektive
des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union liegt
auch im ökonomischen Interesse Deutschlands und der
EU. Das ist so und das darf man auch sagen.
({21})
Der Beitritt der Türkei zur EU hat auch eine sicherheitspolitische Komponente. Sie haben eben die Sache
mit der Brücke beschrieben, Frau Merkel. Dass Sie eine
gute Naturwissenschaftlerin sind, das weiß man ja - das
bezweifle ich auch nicht -, aber eine Architektin sind Sie
Gott sei Dank nicht geworden;
({22})
da wären Sie mit dieser ganzen Sache gescheitert. Denn
bei der Brücke ist das Entscheidende, dass man ein vernünftiges Widerlager hat: Sie muss gut aufliegen. Diese
wichtige Funktion kann dieses Land übernehmen. Denn
der NATO-Partner Türkei hat eine strategische Lage
zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten.
Es ist ein muslimisch geprägtes Land. Viele andere muslimisch geprägte Länder werden auf diese Türkei
schauen; sie tun das heute schon. Die Türkei leistet Friedensbeiträge und exportiert Stabilität. Es ist vernünftig
von Europa und von Deutschland, die Türkei unter Bedingungen einzuladen. Die Türkei wird für andere Länder ein gutes Beispiel sein, wenn sie die Werte verwirklicht, die Bedingung sind: Demokratie und Freiheit,
Pluralismus und Toleranz.
Wer Frieden und Freiheit, Wirtschaftlichkeit und
kulturelle Stärke für ganz Europa bewahren will,
muß sich auf diese Annäherung einlassen.
Das ist ein gutes, ein wichtiges Wort. Es stand in der
„Bild“-Zeitung, aber auch da gilt: Wo sie Recht haben,
haben sie Recht.
Wir sehen die Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nüchtern: Es werden schwierige Verhandlungen sein. Aber das Ziel lohnt solche Anstrengung. Deshalb gehen wir verantwortungsbewusst an
diese Aufgabe heran. Wir wünschen Europa, wir wünschen uns dabei eine gute und glückliche Hand und vor
allen Dingen eine klare Botschaft an die Türkei, in der
sich in den vergangenen Jahren so unglaublich viel verändert hat, und das unter einer konservativen Regierung.
Wir alle sind - das muss man doch zugeben - überrascht
von der Entwicklung in der Türkei, nicht nur in verbalen
Bekundungen, sondern auch in der Praxis. Heute von
hier aus im Deutschen Bundestag zu sagen: „Wir laden
euch ein, mit uns zusammen dieses Europa zu gestalten“,
das hat in der Tat, Frau Merkel, eine historische Dimension. Die Lösung liegt aber nicht in dem, was Sie sagen,
sondern in dem, was diese Bundesregierung und diese
Koalitionsmehrheit im Bundestag zu tun sich vorgenommen haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({23})
Ich erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Europäische Rat wird morgen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen. Vielen
kommt dieser Termin zu früh; auch mir geht es so, obwohl ich nicht zu denen gehöre, die auf ein Nein programmiert sind. Nicht zuletzt diese Bundesregierung hat
1999 vor und in Helsinki dazu beigetragen, dass wir jetzt
eine Entscheidung treffen müssen, hinter die es dann
auch kein Zurück mehr geben wird.
Dies gilt auch für die Zeit nach 2006. Spätestens
dann, wenn diese Regierung abgewählt sein wird, werden andere darüber zu entscheiden haben, wie es weitergehen wird. Für die FDP sage ich, dass es ein Zurück
hinter die Aufnahme von Verhandlungen dann nicht
mehr wird geben können.
({0})
Der bayerische Ministerpräsident überschätzt sich an
dieser Stelle; seine eigenen Parteifreunde im Europäischen Parlament, aber auch im Europäischen Rat werden
ihm da nicht folgen.
({1})
Dies steht für die FDP fest. Die FDP ist national wie international ein verlässlicher Partner; das gilt mit Sicherheit auch für die Außenpolitik nach 2006.
({2})
Im Übrigen halte ich nichts davon, bei diesem Thema
an den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger vorbeizugehen. Wir müssen uns dieser Sorgen ernsthaft annehmen, die übrigens tief in die sozialdemokratische Wählerschaft hineinreichen. Umgekehrt halte ich überhaupt
nichts davon, Emotionen und Ängste geradezu zu schüren.
({3})
Rot-Grün erweckt den Eindruck, als sei die Sicherheit
Europas nur zu gewährleisten und der Kampf gegen den
internationalen islamistischen Terrorismus nur zu gewinnen, wenn wir möglichst rasch die Europäische Union
bis tief nach Mittelasien hinein ausdehnen.
({4})
Es wird so getan, als sei jeder, der sorgfältig und vorsichtig, vielleicht auch skeptisch an das Thema herangeht,
von vornherein ein intoleranter Ausländerfeind oder zumindest jemand, der die strategischen Chancen nicht begreifen will, die im EU-Beitritt der Türkei stecken.
Umgekehrt ist auch die Art der Ablehnung der Verhandlungen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer; denn
es können sehr leicht Ressentiments geweckt werden.
Nebenbei bemerkt können auch völlig falsche Botschaften an die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in
Deutschland ausgesandt werden. Beides bringt uns nicht
weiter. Wir Liberalen kämpfen für eine Versachlichung
der Debatte.
({5})
Es wird am Freitag nicht um eine Entscheidung über
den Beitritt selbst, sondern um eine Entscheidung über
die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gehen. Erst
am Ende dieser Verhandlungen - in zehn, zwölf, 15 Jahren oder später - kann die Entscheidung über Aufnahme,
Ablehnung oder auch über eine differenzierte Position
stehen. Daran ist immer wieder zu erinnern; denn eines
ist klar: Heute wäre weder die Türkei beitrittsfähig noch
wäre die Europäische Union aufnahmefähig.
({6})
Richtig ist aber auch, dass die Türkei in den letzten
Jahren einen bemerkenswerten Aufhol- und Reformprozess begonnen hat und sich ernsthaft um die Implementierung der Reformen bemüht. Diese Bewegung, die die
Türkei vollzogen hat, ist eine Bewegung in die richtige
Richtung, nämlich in Richtung unserer Wertvorstellungen. Das ist das Entscheidende. Weder die Religion noch
die Frage der Geographie ist entscheidend, sondern die
Verständigung auf gemeinsame Werte wie Würde des
Menschen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Hier hat
die Türkei noch einen langen Weg vor sich. Aber sie hat
ihn eindeutig und klar eingeschlagen. Darin steckt für
Stabilität, Frieden und Wohlstand in Europa eine große
Chance.
({7})
Deshalb ist es wichtiger, jetzt über die Ausgestaltung
des Verhandlungsprozesses zu debattieren. Die Kommission macht hierzu durchaus kluge Vorschläge. Für uns
Liberale sind dabei drei Elemente von herausragender
Bedeutung. Die Stichworte lauten: Konditionierung,
Monitoring und Ergebnisoffenheit.
Konditionierung - was heißt das hier? Es muss der
Türkei vollkommen klar sein, dass an einer Fortsetzung
und Implementierung ihres Reformprozesses kein Weg
vorbeigehen kann. Wir müssen mit unseren türkischen
Kollegen dabei fair umgehen. Es kann auf unserer Seite
weder ein Draufsatteln geben - die Kopenhagener Kriterien gelten - noch kann es einen Rabatt gegenüber der
Türkei geben. Die EU muss sich ihrerseits durch die Ratifizierung des Verfassungsvertrages, durch die erfolgreiche Bewältigung der letzten Aufnahmerunde und nicht
zuletzt durch die Reform ihrer Gemeinschaftspolitiken
an Haupt und Gliedern aufnahmefähig machen.
Schließlich zu Zypern. Ich halte es für völlig undenkbar, dass ein Land Mitglied der Europäischen Union
wird, das in einem anderen Land der Europäischen
Union gegen dessen Willen militärisch präsent ist. Das
muss den Türken klar gesagt werden.
({8})
Als absolutes Minimum muss erwartet werden, dass die
Türkei das Zollunionsprotokoll unterzeichnet;
({9})
denn das würde zumindest inzidenter zum ersten Mal die
Anerkennung Zyperns durch die Türkei beinhalten. Es
ist absurd, sich vorzustellen, dass die Türkei in einer Regierungskonferenz Beitrittsverhandlungen mit 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union führt, von denen es
einen gar nicht anerkennt.
Beim Thema Monitoring bin ich von den Vorschlägen der Kommission schon weniger begeistert. Ich hätte
mir gewünscht, dass die nationalen Parlamente und das
Europäische Parlament in diesen Prozess einbezogen
wären. Wir werden jetzt wieder die übliche Kommissionsroutine mit jährlichen Fortschrittsberichten erleben.
Ich hätte mir einen breiteren Ansatz gewünscht, weil
dann am Ende des Prozesses Überraschungen unangenehmer Art möglicherweise hätten vermieden werden
können. Der Europäische Rat und die Kommission verpassen hier eine große Chance.
Schließlich das Thema Ergebnisoffenheit. Hier müssen und können wir die Kommission beim Wort nehmen.
Es ist richtig, als Ziel den Beitritt zu benennen. Von den
Türken jetzt irgendetwas anderes zu verlangen wäre völlig unrealistisch.
({10})
Auch die Türkei hat eine Innenpolitik. Auch die Türkei
will diesen Reformprozess mit Rückenwind aus Brüssel
fortsetzen. Aber ob das Ziel erreicht wird, kann niemand
vorhersagen und erst recht nicht garantieren. Wenn es
nicht erreicht wird, dann muss alles darangesetzt werden, dass sich die Türkei nicht von Europa abwendet.
Deshalb muss es Optionen geben dürfen - nicht im
Sinne einer als Diskriminierung empfundenen Reduzierung des Verhandlungsziels,
({11})
sondern im Sinne von möglicherweise eines Tages als
sinnvoll oder überlegen angesehenen Alternativen zum
ursprünglich angepeilten Verhandlungsergebnis.
Ich halte das für durchaus denkbar; übrigens weniger,
weil ich der Türkei nicht zutrauen würde, dass sie den
Reformprozess mutig fortsetzt oder dass sie in der Lage
ist, ihre Volkswirtschaft weiter erfolgreich zu modernisieren, sondern eher deshalb, weil ich zumindest Zweifel
habe, ob sich die türkischen Freunde voll darüber im
Klaren sind, dass die Europäische Union kein definierter
Endzustand ist, sondern ein Prozess, der auch in den
nächsten 15 Jahren rasant weitergehen wird. Eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union setzt die Bereitschaft voraus, sich in diesen Prozess aktiv gestaltend
einzubringen und in einem Umfang Souveränitätsrechte abzugeben und sich in die Innenpolitik hineinreden zu lassen, wie sich das manche in der Türkei gegenwärtig noch nicht vorstellen können. Wenn das allen am
Ende des Prozesses erst einmal bewusst ist, dann ist es
durchaus denkbar, dass im Konsens eher eine besondere
Partnerschaft als eine volle Mitgliedschaft herauskommt - im Konsens mit den Türken und nicht als Abwehrreaktion gegenüber den Türken.
Die Kommission baut hier ja schon vor. Ich glaube, es
ist klug, dass man vorsichtshalber darauf eingerichtet ist,
dass es nicht zu einer Vollmitgliedschaft kommt; denn
das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass das
Verhandlungsziel verfehlt würde und sich die Türkei von
Europa abwendet.
({12})
Deswegen hat die Türkei Vorschläge gemacht, die weitgehend eine dauerhafte Abweichung vom Prinzip der
Freizügigkeit möglich erscheinen lassen. Dann werden
die Grenzen zwischen Vollmitgliedschaft und einer besonderen Partnerschaft ohnehin schon sehr schnell verwischt. Nehmen wir das, was die Kommission als Ergebnisoffenheit benennt, ernst und nehmen wir es wörtlich!
Herzlichen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von allen
Rednerinnen und Rednern wurde zu Recht unterstrichen,
dass es sich um eine wichtige, ja sogar um eine historische Entscheidung nicht nur für Europa, sondern selbstverständlich auch für die Türkei handelt. Ich will versuchen, die Argumente im Einzelnen aufzunehmen, und
unsere Sicht dazu darstellen.
Lassen Sie mich zuerst unsere Erwartung zweifelsfrei
klarstellen. Wir gehen davon aus, dass der Europäische
Rat den Beschluss fassen wird, zu einem bestimmten
Datum im nächsten Jahr die Beitrittsverhandlungen
- und nichts anderes - mit der Türkei aufzunehmen. Die
Bundesregierung wird sich dafür mit allem Nachdruck
einsetzen.
({0})
Wir müssen doch sehen, dass das europäische Einigungsprojekt seit dem Ende des Kalten Krieges eine
unglaublich positive Wirkung ausstrahlt. Hier verstehe
ich ehrlich gesagt Ihren Kleinmut nicht. Frau Merkel,
wenn ich über Klein- bzw. Großeuropa spreche, dann
meine ich das Europa der 25, ein Europa, das um zehn
Mitgliedstaaten größer geworden ist. Es gab eine gewisse Skepsis. Man fragte sich, wie lang es dauern
werde, bis wir das verarbeiten könnten. Gerade die
Ukrainekrise hat doch gezeigt, dass wir in der 25erUnion keineswegs weniger handlungsfähig sind. Wir
konnten feststellen, dass die Zusammenarbeit der beiden
Präsidenten Kwasniewski aus Polen und Adamkus aus
Litauen mit dem Hohen Beauftragten der Europäischen
Union hervorragend war. Im Hintergrund haben viele,
auch die Bundesregierung und der Bundeskanzler, dazu
beigetragen, dass wir hier vorangekommen sind.
({1})
An diesem Punkt muss ich Ihnen ehrlich sagen - es
wird dauernd über Stolz geredet -, dass wir stolz darauf
sein sollten, dass diese erweiterte Union die Verfassung
zustande gebracht hat. In der gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik und in der gemeinsamen Außenpolitik kommen wir jetzt weiter. Wenn die Verfassung umgesetzt wird, dann wird die Verhandlungsfähigkeit weiter zunehmen. Dabei war die Türkei nicht nur in
der NATO, sondern auch in der Verbindung von EU und
NATO ein wichtiger Partner.
Frau Merkel, stellen Sie sich vor: Die privilegierte
Partnerschaft existiert bereits heute.
({2})
Die Türkei war bei der Unterzeichnung der Verfassung
im Kapitol dabei und an den Beratungen über die Verfassung hat sie durch ihre Repräsentanten nicht nur der Regierung, sondern auch des Parlaments von Anfang an
teilgenommen. In allen wichtigen Gremien der Europäischen Union sitzt sie beratend und sie nimmt an den Beratungen teil. Es gibt die Zollunion und inzwischen auch
enge wirtschaftliche Beziehungen. Das heißt: Das, was
Sie privilegierte Partnerschaft nennen und worüber Sie
verhandeln wollen, existiert bereits.
({3})
- Nein, ich widerspreche mir überhaupt nicht. Vielmehr
existieren diese engen Beziehungen.
Sie haben das große Problem, dass die Regierung
Erdogan bereits Fortschritte erreicht hat. Sie hat mit der
Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze, mit der Abschaffung der Todesstrafe und mit Rechtsstaatsreformen
Ernst gemacht, die wir seit Jahrzehnten gefordert haben,
die aber erst jetzt angegangen wurden und noch umgesetzt werden müssen. Frau Merkel, wenn Sie ehrlich
sind, dann müssen Sie sagen, dass Sie Schwierigkeiten
mit einer Regierung haben, die das tut, was auch die
CDU/CSU vier Jahrzehnte lang von der Türkei verlangt
hat.
({4})
Dahinter steckt etwas ganz anderes. Ich komme darauf nachher noch zu sprechen. Es geht nicht um Ihr Argument, dass Sie sich um Europa sorgen. Im Übrigen
teile ich Ihren Dreisatz nicht. Sie sprachen von der Freihandelszone. Die EU war von Anfang an mehr als eine
Freihandelszone.
({5})
Die EFTA war die Freihandelszone, die EU hat von Anfang an auf Integration gesetzt.
({6})
Das Wesen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
war schon damals die Idee der Integration. Deswegen
wurden der Gemeinsame Agrarmarkt und der Gemeinsame Markt für Industriegüter gleich am Anfang geschaffen. Das heißt, die Integration ist das wesentliche
Element der Europäischen Union.
({7})
Wenn Sie Ihr Argument ernst nehmen würden, dann
müssten Sie den damaligen Beitritt Großbritanniens und
von skandinavischen Ländern in der Tat sehr skeptisch
sehen. Ich tue das nicht. Wenn Sie sich die aktuelle Lage
der Europäischen Union anschauen, dann werden Sie erkennen, dass das offensichtlich richtig ist.
Ich komme zur Integration. Sie sprechen von der
Wirtschaftsgemeinschaft. Ich sehe hier keinen Widerspruch. Die Vertiefung und Herstellung des Gemeinsamen Marktes und die Wirtschafts- und Währungsunion
stehen in einem engen Zusammenhang mit einem vertieften politischen Zusammenwachsen. Das hat auch die
Erweiterung der Europäischen Union gezeigt. Ich frage
Sie: Woher wissen Sie, dass Ihre These, mit der Türkei
sei das nicht möglich, stimmt? Wir entscheiden heute
nicht über den Beitritt der Türkei, sondern wir entscheiden über die Modernisierung der Türkei. Die Entscheidung über die Unterstützung der bisher erfolgreichen
Modernisierung steht an.
({8})
Weder Sie noch ich wissen, was passieren wird. Es
geht um Folgendes: Wenn wir Ihre Position übernehmen,
wird das, ob Sie das intendieren oder nicht - ich meine
das jetzt nicht negativ -, in der Türkei als Nein gesehen.
Die Konsequenzen aus diesem Nein müssen wir dann
auch durchbuchstabieren. Wir haben der Türkei über
41 Jahre lang den Beitritt zugesagt. Franz Müntefering
hat noch einmal die Positionen und Zusagen, die auch
Ihre Partei und die von Ihnen gestellten Regierungen
vertreten haben, zitiert. Die Konsequenzen aus diesem
Nein - darin sind wir uns doch zumindest hinter verschlossenen Türen einig - wären extrem fatal.
Sie können uns heute nicht nachweisen, dass wir mit
einem Ja einen Automatismus in Gang setzen. Das tun
wir nicht, sondern wir sprechen uns expressis verbis gegen jeden Beitrittsautomatismus aus. Dann kann ich Sie
nur fragen: Warum ist es Ihnen nicht möglich, dass Sie
diesen Prozess, der - das wird so beschlossen - völlig
offen ist, weiterhin positiv oder meinetwegen auch skeptisch begleiten? Ich dachte, zwischen Ihnen und uns gibt
es in einem Punkt Einigkeit, nämlich dass wir ein großes
Interesse an der Modernisierung der Türkei haben. Ich
dachte auch, dass wir ebenso darin einig sind, dass diese
Modernisierungsperspektive der Türkei mit der europäischen Perspektive verbunden ist.
({9})
Ich sage Ihnen: Eine europäische Perspektive bedeutet
auch eine feste Verankerung.
Ich komme jetzt zu dem entscheidenden Punkt. Wir
wollen die Entscheidung über den Beitritt der Türkei
dann, wenn sie beitrittsfähig ist. Wir wissen, dass dieser
Prozess zehn, vielleicht sogar 15 Jahre dauern wird. Wir
wissen, dass es keinen Automatismus geben wird. Wir
wissen auch, dass mit entsprechenden Benchmarks Vorsorgeregelungen für den Fall getroffen werden, dass die
Entwicklung in der Türkei stagniert oder sie sich in die
völlig andere Richtung bewegt. Ich frage nochmals die
Union: Warum tun Sie so, als ob wir heute über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union entscheiden?
Warum sind Sie nicht in der Lage, auf den Prozess, den
Sie eigentlich weiter begleiten könnten, positiv zu reagieren? Sie wissen doch ganz genau, dass heute die
Entscheidung über die Modernisierung der Türkei und
nicht über den Beitritt ansteht.
Ich komme zu der strategischen Frage. Mich wundert,
wie Sie mit der Frage der Strategie umgehen. Es ist doch
nicht so, dass auf der einen Seite die Union die Gefühle
anspricht und auf der anderen Seite eine kalte Strategie
steht. Der entscheidende Punkt bei der Türkei ist, dass
die Modernisierung in diesem großen islamischen Land
am weitesten fortgeschritten ist.
Ich will hier noch einen anderen Punkt ansprechen.
Bei der Wahl des Generalsekretärs der Organisation der
Islamischen Konferenz bestand die Alternative zwischen
einem von Saudi-Arabien unterstützten Kandidaten und
einem türkischen Kandidaten. Ich habe von manchen
arabischen Kollegen und auch von Vertretern anderer islamischer Länder, die nicht Teil der arabischen Welt
sind, gehört, dass der Grund, warum sie sich für den türkischen Kandidaten entschieden haben - er hat am Ende
gewonnen -, war, dass sie den Reformprozess in der
Türkei als beispielhaft nicht nur für sich selbst, sondern
für die gesamte arabisch-islamische Welt sehen. Das ist
der eigentlich strategische Ansatz. Darum geht es.
({10})
Das ist nicht das alleinige Argument und für sich genommen noch nicht ausreichend. Aber es ist natürlich
ein sehr wichtiges Argument. Nach dem 11. September
geht es darum, dass wir in der islamisch-arabischen Welt
entweder die Transformation unterstützen oder in Kauf
nehmen, auf eine Explosion zuzusteuern, die dann irgendwann kommen wird. Das scheint mir ganz klar zu
sein. In dieser Situation ohne Not Nein zu sagen, halte
ich für dermaßen blind und gegen die Interessen Europas, der gesamten westlichen Welt und Deutschlands gerichtet, dass ich Sie noch einmal auffordern möchte, Ihre
Position im Lichte der Fakten grundsätzlich zu überprüfen.
({11})
Ich glaube, bei Ihnen ist es im Wesentlichen etwas anderes. Es geht nicht um die Argumente, die jetzt vorgetragen wurden. Vielmehr steckt eine tief sitzende Aversion
({12})
- gar nicht einmal bei Ihnen persönlich, aber bei Teilen
Ihrer Partei - dahinter. Sonst könnten wir diesen Prozess
auf der Grundlage der Vorschläge,
({13})
die die Präsidentschaft jetzt vorgelegt hat, gemeinsam
weiter verfolgen. Sie würden sich damit gar nichts vergeben. Sie könnten an Ihrer Skepsis festhalten, aber wir
könnten den Prozess der Modernisierung gemeinsam begleiten. Wir könnten den hier lebenden Menschen, die
aus der Türkei stammen oder noch türkische Staatsangehörige sind, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu uns geben,
was ich für ganz wichtig halte.
({14})
Frau Merkel, auch unter dem Gesichtspunkt des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus wäre es das
Dümmste, Kurzsichtigste und Gefährlichste, was wir
machen könnten, wenn wir die Mehrheit der Muslime in
die Ecke derer stellen würden, die meinen, uns mit Terror gefährden oder angreifen zu müssen.
({15})
Im Gegenteil: Die Mehrheit der Muslime muss auf unserer Seite stehen, wenn wir diese Auseinandersetzung gewinnen wollen.
({16})
Die Bundesregierung hat sich ihre Position nicht
leicht gemacht. Wir werden uns mit allem Nachdruck
dafür einsetzen, dass wir jetzt auf dem Europäischen Rat
eine Entscheidung auf der Grundlage bekommen, dass
der Prozess offen ist, es keinen Beitrittsautomatismus
gibt und die Umsetzung der notwendigen Reformen in
die gesellschaftliche Realität überprüft wird. Es muss
eindeutig sein, dass die Türkei einen Termin im nächsten
Jahr bekommt, an dem wir die Beitrittsverhandlungen
eröffnen. Dies ist im Interesse Europas und im Interesse
unseres Landes.
Ich danke Ihnen.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland und die Türkei verbindet eine historische Freundschaft. Nicht zuletzt CDU und CSU haben die Verwirklichung der Zollunion damals gegen die Stimmen von
Sozialisten und Grünen im Europäischen Parlament
durchgesetzt.
({0})
Wir lassen uns bei unseren Entscheidungen von niemandem unter Druck setzen. Wir sagen ein klares Nein zu
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wir sagen aber Ja
zur Zusammenarbeit mit einer starken, souveränen und
stolzen Türkei. Das Konzept der privilegierten Partnerschaft, wie es von Frau Dr. Merkel aufgezeigt
wurde, ist dazu der richtige Weg.
({1})
Es ist der richtige Weg für die Türkei, für Deutschland
und für Europa.
({2})
Herr Außenminister, wenn man Ihre Argumentation
logisch verfolgt, dann stellt man fest, dass das eigentlich
die Argumentation für den Weg der Union ist. Es ist unverantwortlich, heute zu sagen: Alles oder nichts. Wir
zeigen der Türkei den Weg auf: Ja oder nein. Wir verhandeln zehn bis 15 Jahre und am Schluss sagen wir: Ja
oder nein. - Das ist der falsche Weg. Wir von der Union
sagen: Wir wollen heute den Ausbau und die Vertiefung
der Partnerschaft und Freundschaft mit der Türkei, und
zwar schrittweise und stufenweise mit dem Konzept der
privilegierten Partnerschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Koalition, Sie sprechen von der Mehrheit der Muslime
im Land, die Sie brauchen. Ich frage Sie: Brauchen wir
für einen solchen historischen Schritt nicht die Mehrheit
der deutschen Bevölkerung hier in Deutschland?
({3})
Es ist beschämend, dass der Kanzler bei einer solchen
Debatte, vor einem solchen historischen Schritt in Europa nicht auf der Regierungsbank sitzt, geschweige
denn, dass er dem deutschen Parlament die Möglichkeit
gäbe, über einen solchen Schritt abzustimmen. Sie entscheiden gegen die Mehrheit des deutschen Volkes und
gegen das deutsche Parlament.
({4})
Das ist die Arroganz der Macht. Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, Herr Außenminister, haben Ihre Freunde
von der Industrie an Ihrer Seite, Herrn Breuer und Herrn
Rogowski. Ich aber sage Ihnen: Die deutsche Industrie
und die deutsche Wirtschaft profitieren heute schon von
der Partnerschaft und der Zollunion. Das ist kein qualitativer Sprung.
({5})
Fragen Sie doch einmal Herrn Vosseler! Fragen Sie einmal die Opel-Mitarbeiter! Fragen Sie den normalen Arbeitnehmer! Diese Menschen bangen um ihre Arbeitsplätze. Sie haben ein Stück weit Angst vor dieser
Entwicklung und sehen sie mit Sorge.
({6})
Ich komme auf die zentralen Punkte zu sprechen. Was
sind unsere Gründe gegen den EU-Beitritt der Türkei?
Wir sind überzeugt, dass die Aufnahme der Türkei das
Ende der Politischen Union Europas bedeutet. Europa
verliert dadurch seine Identität und seine Zustimmung
bei den Bürgern. Das können wir nicht anstreben.
({7})
Egon Bahr als Wegbereiter der Osterweiterungspolitik bringt seine Kritik an einer Vollmitgliedschaft auf
den Punkt, indem er feststellt:
Nimmt man die Türkei auf, dann ist das das Ende
der Vision von der politischen Union Europas.
({8})
Nicht nur die großen Sozialdemokraten Egon Bahr und
Helmut Schmidt, den man ebenfalls in diesem Zusammenhang anführen könnte, warnen davor. Herr
Müntefering, Sie haben vorhin von der geheimen Abstimmung gesprochen. Das hat auch einigen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament geholfen. Der Sozialdemokrat Klaus Hänsch, der frühere Präsident des
Europäischen Parlaments, hat sich vorgestern wie folgt
zu der Debatte geäußert:
Die Verhandlungen müssen beginnen, aber ein Tag
der Freude ist dies nicht. Es fehlt ein überzeugendes
Argument dafür, dass die Türkei den Zusammenhalt Europas stärkt und nicht schwächt.
Die politische Vertiefung wird der Euphorie über die
Größe und die Fläche geopfert. Das wissen Sie auch,
Herr Außenminister. Das ist im Übrigen auch der Grund,
warum die Briten für den Beitritt Ankaras stimmen und
warum es viele Ja-Stimmen aus unterschiedlichen Motiven gibt.
Frits Bolkestein, der frühere niederländische EUKommissar, spricht in aller Offenheit und Deutlichkeit
klar aus, dass Vertiefung und Erweiterung die Lebenslüge der Union seien. Die Erweiterung und Vertiefung
schafften in Brüssel ein Monster oder Chaos. Wahrscheinlich schafften sie beides. Denn Sie können nicht
auf der einen Seite den Weg zur Politischen Union und
die Handlungsfähigkeit Europas vertiefen - was wir alle
wollen - und auf der anderen Seite die Europäische
Union durch die Ausdehnung bzw. Erweiterung bis an
die Grenzen Syriens und Armeniens in eine Größenordnung bringen, in der wir den Weg der Politischen Union
nicht mehr gemeinsam gestalten können.
Für unseren Außenminister hat Europa noch nicht die
richtige Größe. Das hat er mehrfach betont. Nur mit der
Türkei kann die EU hinsichtlich der Größe mit Amerika,
Russland und China Schritt halten. Frau Merkel hat Sie
bereits darauf hingewiesen, Herr Fischer: Sie verwechseln in Ihrer Großmannssucht Größe und Stärke. Ein
Europa, das in der Welt eine Rolle spielt - das wäre entscheidend -, sollte und müsste mit einer Stimme sprechen. Das ist der Weg, den wir gehen müssen.
({9})
Auch das Strategieargument wurde entkräftet.
({10})
Die Türkei ist weder eine Brücke zur arabischen Welt
noch ein Vorbild für sie.
({11})
Auch diese Wahrheit muss gesagt werden. Denken Sie
an das Verhältnis zwischen der Türkei und ihren arabischen Nachbarn! Es ist mehr als gespannt. Denken Sie
an die zwei Jahre zurückliegende syrisch-türkische
Krise!
({12})
Die Türkei ist weder Brücke noch Vorbild für die arabische Welt. Dies bestätigen Ihnen nicht nur Herr Winkler,
sondern auch viele andere Professoren, Wissenschaftler
und Fachleute.
Sie brechen mit der Aufnahme der Verhandlungen mit
einem Grundsatz. Sie nehmen Verhandlungen auf, ohne
dass die politischen Kopenhagener Kriterien erfüllt
sind. Ankara missachtet die Menschenrechte. Die Zypernfrage ist weiter offen. Das Völkerrecht wird verletzt. Ankara verletzt das Recht auf Religionsfreiheit. Die EUKommission stellt zum Thema Folter fest, dass es zwar
keine systematische, aber eine permanente Folter gibt.
Allein 2004 sind 600 Folterfälle dokumentiert worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Bundesinnenminister Schily, allein aus der Türkei sind in
den letzten zwölf Monaten 12 000 Asylbewerber nach
Deutschland gekommen. Dennoch stellen Sie fest, dass
alle Kriterien hinsichtlich der Demokratie und Menschenrechte erfüllt seien. Sie geben einen Freifahrtschein und brechen mit dem Grundsatz, Verhandlungen
erst dann aufzunehmen, wenn die politischen Kriterien
erfüllt sind.
({13})
Natürlich stellen sich die Menschen in unserem
Lande auch die - bislang völlig unbeantwortete - Frage
nach den Kosten. Wer soll angesichts leerer Staats- und
Rentenkassen den Beitritt der Türkei finanzieren?
25 Milliarden Euro im Jahr! Woher soll das Geld kommen? Diese Frage bleibt völlig offen. Die Menschen
stellen sich ebenfalls die Frage, was Freizügigkeit bedeutet. Das Osteuropa-Institut weist heute noch einmal
darauf hin, dass Freizügigkeit freier Zugang für alle
Menschen zu den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union und zu den europäischen Märkten bedeutet. Das
Osteuropa-Institut prognostiziert heute, dass 4 Millionen Türken über die Brücke nach Europa kommen werden; denn es gibt eine enorme Einkommensdifferenz
zwischen der Türkei und den europäischen Mitgliedstaaten.
({14})
Die Kaufkraft in der Türkei liegt bei 23 Prozent des EUDurchschnitts. 20 Millionen Türken leben von einem
Monatseinkommen in Höhe von unter 50 Euro. Wer
sollte es diesen Menschen verdenken, wenn sie hoffnungsfroh über die Brücke gehen und zu uns kommen?
Wer glaubt nicht, dass sie das tun werden?
Erdogan hat in dieser Woche in seiner Rede vor dem
türkischen Parlament ganz klar gemacht, er werde es
nicht hinnehmen, dass die Freizügigkeit langfristig ausgeschlossen wird. Wenn Sie aber die Freizügigkeit langfristig ausschließen, dann machen Sie sich genau unser
Konzept einer privilegierten Partnerschaft zu Eigen. Das
ist ein sinnvollerer Weg als derjenige, den Sie vorschlagen.
({15})
Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Die
Europäische Union ist nach der Osterweiterung überfordert, nun den Beitritt der Türkei zu schultern. Geben Sie
eine Antwort auf die Frage, wie die Aufnahme der Türkei institutionell erfolgen soll, die dann mit 80 Millionen
Einwohnern - das wären 15 Prozent der Bevölkerung
der Europäischen Union - Anspruch auf 96 Abgeordnete
im Europäischen Parlament und 15 Prozent der Ministerratsstimmen hätte. Weder sind die politischen Institutionen darauf vorbereitet noch sind die wirtschaftlichen Bedingungen dafür gegeben. Mit dem Beitritt der
Türkei würde sich der Anteil der Kohäsionsländer in der
EU auf 36 Prozent der Bevölkerung, 41 Prozent der Parlamentsstimmen und 43 Prozent der Ratsstimmen erhöhen, und das bei einem BIP-Anteil von 9 Prozent. Das
würde den politischen, den institutionellen und den wirtschaftlichen Rahmen der Europäischen Union sprengen.
({16})
Auch der Verfassungsvertrag gibt darauf keine Antwort.
Er ist kein Erweiterungsplan.
Ich komme zum Schluss. Ihre Alles-oder-nichts-Strategie ist falsch. Bei Ihnen heißt „ergebnisoffen“ Ja oder
Nein. Das ist falsch. Verhandlungen über zehn oder
15 Jahre mit dem Ziel eines Beitritts zu führen und am
Ende - möglicherweise - doch Nein zu sagen, das wäre
eine verheerende Katastrophe für beide Seiten. Deshalb
fordern wir Sie auf: Nehmen Sie die von uns, der Union,
vorgeschlagene Option einer privilegierten Partnerschaft
in die Verhandlungen auf!
Herzlichen Dank.
({17})
Ich erteile der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, dass die Rede von Herrn Müller eine Zusammenballung aller falschen Argumente in einem eigentlich rational zu führenden Diskurs darstellt. Das zeigt, auf welche Art und Weise Sie
({0})
- Herr Kollege, ich überlege mir das immer - vorgehen.
Frau Merkel hat gesagt, das Thema bewege - das ist
richtig - und wir müssten Argumente austauschen. Im
gleichen Atemzug hat sie aber von einer Katastrophe gesprochen, wenn nun die Verhandlungen eröffnet würden.
Das nenne ich nicht „Argumente austauschen“.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, wie inkonsistent Ihre
Aussagen in den vergangenen Wochen waren. Vor einigen Wochen haben Sie angekündigt, die Entscheidung
des Europäischen Rates zu respektieren. Ein paar Wochen später haben Sie gesagt: Wenn wir 2006 an die Regierung kommen, dann werden wir diese Entscheidung
rückgängig machen. Offensichtlich gibt es eine hübsche
Eskalation. Ich muss sagen: Ich bin dem Kollegen Rühe
sehr dankbar, dass er zu genau diesem Thema öffentlich
Stellung genommen hat. Er hat sowohl davor gewarnt,
diese Frage im Bundestagswahlkampf zu instrumentalisieren, als auch davor, den Verhandlungsprozess zu stoppen.
Herr Strauß - ich zitiere ihn ungern - hat immer gesagt: Pacta sunt servanda. Ich habe gehört, dass auch
Frau Merkel diese Worte gegenüber Herrn Erdogan geäußert hat. Heute hat sie genau das Gegenteil behauptet.
({2})
Die CDU/CSU behauptet, die Vollmitgliedschaft der
Türkei scheitere an den Menschen in Europa. Sie implementieren einen Diskurs, der darauf abzielt, den Menschen zu suggerieren, dass die Integration der Türkei
scheitern muss. In der letzten Diskussion hat Herr Glos
in einem Zwischenruf gesagt: Wir wollen Hilfe vom
deutschen Volk. Sie wollen nämlich, dass das deutsche
Volk eine Mitgliedschaft der Türkei ablehnt.
({3})
Im Moment sind Sie dabei - Sie führen keinen rationalen
Dialog -, diesen Dialog mit einer beispielhaften Verdrehung der Argumente - Herr Müller war ein Paradebeispiel dafür - zu verhindern.
({4})
Herr Pflüger hat erst kürzlich im Zusammenhang mit
dem Verzicht auf die geplante Unterschriftenaktion geprahlt, als er sagte: Wir hätten ja viel Unterstützung gehabt; trotzdem haben wir darauf verzichtet.
({5})
Die NPD hat das nämlich aufgegriffen. So treibt man
Wähler in die rechtsextremen Scheuern. Was Sie betreiben, ist nicht nur Populismus, sondern hat auch weit reichende Auswirkungen auf die Innen- wie auf die Außenpolitik. Es schert Sie in keiner Weise, dass Sie durch das
Schüren von Ängsten, das Sie hier betreiben, Schäden
anrichten.
Zum Beispiel hat Herr Pöttering vor einigen Tagen im
Deutschlandfunk gesagt: Zum Zeitpunkt des vermutlichen Beitritts wird die Türkei eine Bevölkerungszahl
von 100 Millionen haben. Kein Einziger von Ihnen hat
einmal einen Blick in die Geburtenstatistik der Türkei
geworfen; sonst hätten Sie nämlich festgestellt, dass es
dort ähnlich wie bei uns einen erheblichen Geburtenrückgang gibt, und das sowohl in den Metropolen als
auch in Südostanatolien. Das ist keine wirklich rationale
Diskussion, sondern eine Verkehrung der Tatsachen.
({6})
Dasselbe gilt im Hinblick auf die wirtschaftliche
Entwicklung. Herr Müller hat gerade das QuaisserGutachten erwähnt. Dieses Gutachten hat Herr Sinner,
der bayerische Europaminister, stolz vorgestellt.
({7})
- Ja, ich weiß; und das vorherige auch. - Ich habe selbst
mit Herrn Quaisser über seine Gutachten diskutiert.
Wenn Sie genau hingeschaut hätten, dann hätten Sie bemerkt, dass Herr Quaisser genauso wie Sie die Parameter des Jahres 2004 zugrunde legt und in keiner Weise
berücksichtigt, dass es während des gesamten Prozesses
der Verhandlungen über einen Beitritt eine Entwicklung
geben wird und dass es Prognosen gibt, die der Türkei
durchaus eine positive Wirtschaftsentwicklung attestieren. Heute früh hat Herr Sahin, der Vorsitzende der
Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer, die
entsprechenden Argumente sehr genau aufgeführt.
Wenn Sie mit diesem Thema wirklich fair und rational umgehen wollen, wenn Sie mit diesem Thema umgehen wollen, ohne Ängste zu schüren und ohne zu hetzen,
dann müssen Sie auch diese Dinge erwähnen und Sie
dürfen nichts vortragen, was schief ist und auf falschen
Annahmen basiert.
Wir begeben uns mit der Eröffnung der Verhandlungen doch in einen Prozess hinein. Diesen Prozess durchlaufen beide Seiten, sowohl die EU als auch die Türkei.
Beide Seiten werden sich in diesem Prozess verändern
und beiden Seiten wird dabei viel abverlangt. Innen- und
außenpolitisch verantwortliches Handeln bedeutet, dass
man mit den politischen Argumenten rational und ehrlich umgeht, dass man einen Beitrag zur politischen Willensbildung leistet und dass man in einem Abstimmungsprozess eine Entscheidung herbeiführt, so wie es
das Europäische Parlament gemacht hat.
({8})
Ich bin mir ganz sicher, dass der Rat morgen entsprechend entscheiden wird und dann dieser Prozess eröffnet
wird.
Ich möchte noch auf ein Argument eingehen, das Herr
Söder aufgegriffen hat und das auch Sie, Herr Müller,
haben anklingen lassen: das Argument des Terrorismus.
Herr Söder hat gesagt: Wenn wir jetzt Beitrittsverhandlungen beginnen, dann importieren wir den islamistischen Terror aus der Türkei nach Europa.
({9})
Die ist so falsch wie nur irgend möglich,
({10})
weil die Türkei in der Terrorbekämpfung einer unserer
besten Partner ist; sie ist selbst von diesem Terror betroffen. Fragen Sie doch bitte einmal das BKA danach, das
Ihnen mitteilen wird, welch hervorragende Zusammenarbeit es an dieser Stelle gibt! Mit solchen Horrorargumenten - wenn sie zuträfen, dann hätte Frau Merkel natürlich Recht; das wäre eine Katastrophe - zu hantieren
ist in der Tat völlig unverantwortlich.
({11})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt aufgreifen:
das sicherheitspolitische Argument. Das ist hier von
Ihrer Seite völlig zerpflückt worden. Herr Fischer, Sie
haben es sehr klar dargestellt. Ich bedanke mich dafür,
dass Sie das noch einmal so deutlich gemacht haben.
Den Partner Türkei werden Sie, meine Damen und Herren, vor den Kopf stoßen, wenn Sie so argumentieren.
Die Türkei ist jahrzehntelang Partner der NATO, ist als
Bollwerk gegen den Kommunismus wunderbar brauchbar, ist auch unerlässlich - das verdrängen Sie jetzt völlig - für den Ausbau der ESVP, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und nun wollen Sie
ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, obwohl richtig ist,
was Sie bestreiten, nämlich dass die Türkei in dieser Region mittlerweile ein Garant und ein Promoter für Sicherheit ist und sein wird, weil sie gute Beziehungen zu
ihren Nachbarn hat. Ja, sie hatte vor zwei Jahren einen
Streit mit Syrien. Aber heute gibt es einen intensiven
Annäherungsprozess mit Syrien. Es gibt einen Annäherungsprozess mit Iran. Dort ist die Türkei ein guter Vermittler. Vergessen Sie nicht, dass die Türkei das einzige
Land in dieser Region ist, das gute Beziehungen zu Israel hat!
({12})
Welches Pfund wir dort wegwerfen, wenn wir unseren
Partner Türkei so vor den Kopf stoßen, das vergessen
Sie hier völlig.
Leider ist meine Redezeit jetzt fast zu Ende. Ich wäre
gerade so richtig in Fahrt gekommen. - Wir sind gut beraten, glaube ich, wenn wir als Volksvertreter diesen
Prozess begleiten, wie Herr Hoyer das gesagt hat. Es
hindert uns niemand daran, diesen intensivierten europäisch-türkischen Dialog zu führen. Es hindert uns niemand daran, den deutsch-türkischen Dialog nicht nur in
der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe zu führen,
sondern generell unsere Kolleginnen und Kollegen im
türkischen Parlament zu beraten, wenn sie es wünschen
- das tun sie übrigens -, und sie bei diesem Prozess zu
unterstützen, der für die Türkei schwer ist, der in der
Türkei aber einen ganz hohen Akzeptanzgrad bei den
Menschen hat. Die Kurden gehen auf die Straße und demonstrieren für den Beitritt zu Europa, weil sie genau
wissen, dass ihre Menschenrechte, ihre bürgerlichen
Rechte und ihre sozialen Rechte nur mit diesem Beitrittsprozess gewahrt bleiben. Die zivile Gesellschaft in der
Türkei ist mittlerweile so stark und so gut, dass sie selbst
die Kontrolle über die Einhaltung und die Implementierung der Kriterien leisten wird. Schlagen wir der Türkei
die europäische Tür nicht vor der Nase zu! Das, aber
nicht die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen, wäre
eine Katastrophe.
Danke.
({13})
Ich erteile der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte doch noch einmal auf die
Beschlussfassung des Europäischen Parlaments von
gestern zu sprechen kommen, die für den heute Abend
beginnenden Europäischen Rat nicht bindend ist, aber
doch ein ganz wichtiges politisches Bild widerspiegelt.
Über 400 europäische Abgeordnete, Volksvertreter, haben sich für die Aufnahme von Verhandlungen mit der
Türkei ausgesprochen. Auch deutsche Liberale im Europaparlament haben Ja zu Verhandlungen gesagt, denn
ein Ja zu Verhandlungen bedeutet kein Ja zu einem Beitritt. Sie haben da deutlich unterschieden.
({0})
Aber natürlich fühlen sie sich dazu verpflichtet, das
einzuhalten, was in einem jahrzehntelangen Prozess der
Heranführung der Türkei an die Europäische Union gesagt und auf den Weg gebracht worden ist. Auch vor
1998 sind die Weichen nicht in Richtung einer privilegierten Partnerschaft gestellt worden. Nirgendwo, in
keinem Vertrag ist diese Alternative als eine Perspektive
aufgezeigt worden. Es ist zwar auch nicht der Beitritt
versprochen worden, aber er ist als eine Perspektive aufgezeigt worden. Auch in dieser heutigen Debatte muss
die Kontinuität wichtiger außenpolitischer Entscheidungen der EU gewahrt bleiben.
Man darf aber auch nicht die Augen vor dem verschließen, was in den nächsten Jahren, wenn die Verhandlungen aufgenommen werden - davon gehen wir
aus, auch dank der Unterstützung vieler konservativer
Regierungschefs im Europäischen Rat -, auf uns zukommt. Dann stehen wir vor der Aufgabe, offene und
transparente Verhandlungen zu führen und ehrlich zu
bewerten, welche Fortschritte erzielt worden sind, aber
zugleich auch deutlich zu machen, wo es noch Defizite
gibt. Dass gerade diejenigen, die in den letzten Jahren
häufig in der Türkei gewesen sind, die dort Prozesse beobachtet haben und miterleben mussten, wie Abgeordnete, weil sie die kurdische Sprache sprechen, zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, hoffen, dass sich hier in
der Türkei etwas ändert, ist doch klar. Die Menschenrechtler erhoffen sich von der Entscheidung über die
Aufnahme von Verhandlungen eine Verstärkung des
Druckes und damit einen weiteren Schub bei der Unterstützung ihrer Anliegen. Dass deren Vorstellungen
durchgesetzt werden, ist entscheidend. Zur Realität in
der Türkei muss in Zukunft gehören, dass Folter, Misshandlungen und körperliche Verletzungen im Gewahrsam der Polizei, die ja schon auf dem Papier verboten
sind, auch tatsächlich nicht mehr stattfinden bzw. bei
Vergehen dagegen diejenigen, die so etwas machen,
strafrechtlich verfolgt werden.
({1})
Auch beim Bild der Frau in der Gesellschaft muss es
zu Veränderungen kommen. Auch Frauen in der Türkei müssen an allen gesellschaftlichen Entwicklungen
teilhaben können. Angesichts der Größe und der starken
regionalen Unterschiede in der Türkei reicht es nicht,
dass so etwas irgendwo auf einem Papier steht. Vielmehr
muss alles getan werden, dass die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Realität so aussieht, dass Frauen an der
wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben und ihre Rechte
in einem nicht mehr autoritär geführten System auch tatsächlich wahrnehmen können. Das durchzusetzen wird
ein entscheidender Punkt bei den Verhandlungen in den
nächsten Jahren sein. Wir alle gehen davon aus, dass sie
auf mehr als zehn Jahre angelegt sein werden. Wenn erst
im Jahre 2014 über die Finanzen verhandelt werden soll,
ist klar, dass in dem gleichen Jahr die Verhandlungen
nicht auch schon abgeschlossen sein können. Vielmehr
wird man davon ausgehen müssen, dass dieser Prozess
sehr viel länger dauert.
Das Monitoring darf jedoch nicht zu einem bloßen
Beobachtungsritual verkommen, indem alle Jahre ein
Bericht vorgelegt wird, der von jedem anders interpretiert wird, weil er vielleicht Gespräche geführt hat oder
von Menschenrechtlern, die in den Ausschüssen des
Deutschen Bundestages angehört wurden, ein Bild vermittelt bekommen hat, sondern es müssen greifbare Ergebnisse erzielt werden. Es müssen andere Instanzen geschaffen werden, die Fortschritte einfordern und einmal
erzielte überwachen. Damit soll das erreicht werden, was
wir, die wir dieser Entwicklung positiv gegenüberstehen,
erwarten, nämlich dass sich die Türkei so verändert, dass
sie nach einem über längere Zeit laufenden Prozess beitrittsfähig sein wird.
({2})
Wenn das nicht der Fall sein wird, meine Damen und
Herren, dann ist für uns auch klar, dass es nicht aufgrund
der Tatsache, dass einmal die politische Entscheidung
über die Aufnahme von Verhandlungen getroffen wurde,
einen Automatismus nach dem Motto geben darf: Der
politische Druck ist so groß, wir können nicht mehr anders entscheiden. Ich bin deshalb der Meinung, wir sollten genau hinschauen, wie die Realität in den Staaten,
mit denen wir schon verhandeln und die demnächst Beitrittsverträge unterzeichnen wollen, aussieht und welche
Fortschritte dort bei der Umsetzung notwendiger Reformen erzielt wurden. Wir sollten uns nicht in die Lage
bringen, dass uns vorgehalten werden kann, dass wir bei
allen anderen Beitrittskandidaten die Augen vor vorhandenen Defiziten verschlossen hätten, bei der Türkei aber
die Augen ganz weit aufmachen würden. Die Türkei soll
so behandelt werden wie die anderen Staaten auch und
die anderen Staaten sollen an den Maßstäben gemessen
werden, die wir an die Türkei anlegen.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Claudia Roth, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Michel
Glos! - Die heutige Debatte markiert einen wichtigen
Schritt in der Einigungsgeschichte Europas, denn die
Türkei ist Teil Europas. Es ist wichtig, das am heutigen
Tage immer wieder zu sagen. Das Ziel der Vollmitgliedschaft wurde bereits 1963 mit dem Ankaraabkommen
besiegelt. Seit 41 Jahren haben alle Bundesregierungen,
auch die unionsgeführten, dieses Ziel unterstützt - zumindest offiziell, wie es heute erscheinen muss.
Der Europäische Rat von Luxemburg 1997 hat - das
hat Franz Müntefering deutlich gemacht - das Recht der
Türkei auf einen EU-Beitritt nicht infrage gestellt. 1999
wurde die Türkei offiziell zum Beitrittskandidaten erklärt. Im Oktober dieses Jahres hat die Kommission auf
der Basis der Kopenhagener Kriterien, die sie für hinlänglich erfüllt ansieht, die Beitrittsverhandlungen empfohlen. Gestern hat - das ist ein wichtiges Signal an den
Europäischen Rat - das Europäische Parlament mit großer Mehrheit gegen die privilegierte Partnerschaft und
für die unverzügliche Aufnahme der Verhandlungen gestimmt. Das ist ein Signal, das der Rat sicher ernst nehmen wird.
({0})
Wenn der Rat nun hoffentlich die Aufnahme der Verhandlungen beschließen wird, dann tritt das, was schon
seit über 40 Jahren auf dem Weg ist, in ein neues Stadium ein. Dieser Schritt ergibt sich doch nicht nur aus
der Logik der Beziehungen der Europäischen Union zur
Türkei, sondern er steht auch in einer ganz besonderen
Tradition der bundesdeutschen Politik: der Tradition
der Integration. Willy Brandts Ostpolitik war doch geprägt von Dialog und Integration und eben nicht von Zurückweisung. Es war genau diese Dialogbereitschaft,
diese Integrationsbereitschaft, die die Veränderungen in
Europa seit 1989 vorbereitet hat.
({1})
Integration und nicht Zurückweisung war doch wirksam bei der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Spanien, Portugal und Griechenland hatten ganz
schlimme Diktaturen hinter sich, als sie sich damals auf
den Weg in die Europäische Gemeinschaft gemacht haben. Es war doch genau der Prozess der europäischen Integration, der den Demokratisierungsprozess in diesen
Ländern unterstützt hat und der mit dafür gesorgt hat,
dass Spanien, Portugal und Griechenland heute stabile
Demokratien in der Mitte der Europäischen Union sind.
({2})
Ähnlich ist es bei der Osterweiterung. Es gibt noch
Probleme; aber die Erfolge sind unübersehbar. Die alten
und die neuen Mitgliedstaaten profitieren davon, allen
voran Deutschland.
Genau das erwarte ich auch mit Blick auf die Türkei.
Unser Ja zu der Aufnahme von Verhandlungen ist sehr
wohl abgewogen; es ist keinesfalls eine Augenblickseingebung. Klares Ziel ist, dass auf Erfolg verhandelt wird.
Aber der Verhandlungsbeginn setzt eben keinen Beitrittsautomatismus in Gang. Am Ende des Prozesses - das
wird ein langer und schwieriger Prozess sein, ein Prozess, der der Türkei viel an Wandel abverlangen wird ist die Entscheidung zu treffen. Ergebnisoffen heißt doch
eben nicht, werte Kollegen von der Union, auf der privilegierten Partnerschaft und nur auf der privilegierten
Partnerschaft zu bestehen, denn sie ist kein Angebot und
das wissen Sie auch; sie ist in Teilen sogar weniger als
der Status quo. Wenn Sie also von „ergebnisoffen“ sprechen, werte Kollegen, dann meinen Sie die rote Karte
und das ist ganz genau das Gegenteil von seriösem Verhandeln.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
einmal versuchen, zu begründen, warum wir so vehement für den Beginn von Verhandlungen mit der Türkei
sind. Wir sind dafür, weil wir ein vitales Interesse an einer demokratischen Türkei, an der Einhaltung von Menschenrechten, Minderheitenrechten und Rechtsstaatlichkeit haben. Mit der Frage, was wir dazu beitragen
können, dass es zu einem Demokratisierungsprozess und
zur stärkeren Beachtung der Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei kommt, beschäftige ich mich seit
18 Jahren. Die glaubwürdige Beitrittsperspektive seit
1999 hat diesen Reformprozess unterstützt und dafür gesorgt, dass es große Veränderungen in der Türkei gegeben hat. Diese Veränderungen sind der Beweis dafür,
wie wichtig diese Perspektive ist.
({4})
Frau Merkel, ich weiß, dass nicht die Papierform von
Gesetzen zählt, sondern dass es auf die Implementierung
ankommt. Ich weiß sehr genau, dass Defizite noch überwunden werden müssen. Ich weiß, dass es ein Folterverbot gibt. Aber ich weiß auch, dass dieses Folterverbot bis in die letzte Polizeistation in der Türkei
umgesetzt werden muss.
({5})
Ich weiß, dass es ein Gesetz von Verfassungsrang zur
Gleichstellung von Mann und Frau gibt. Aber es muss
jetzt noch in die Praxis umgesetzt werden, Gerd Müller.
Claudia Roth ({6})
Es darf keine Ehrenmorde und keine Zwangsverheiratungen mehr geben.
({7})
Ich weiß, dass sich die Situation der religiösen Minderheiten massiv verändert hat. Gleichwohl muss man sagen, dass es Defizite bei der Priesterausbildung und
beim Rechtsstatus dieser Minderheiten gibt.
({8})
Ich weiß, dass der Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten aufgehoben worden ist und dass damit
begonnen wurde, die kulturelle Realität anzuerkennen.
Das reicht aber noch nicht, dass die Kurden tatsächlich
akzeptiert werden.
({9})
Weil ich all das weiß, unterstütze ich diesen Integrationsprozess, der den Demokratisierungsprozess begleitet und
absichert.
({10})
Wenn Sie sich dafür interessieren würden, Gerd
Müller, dann wüssten Sie, dass alle - wirklich alle Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, entsprechende Stiftungen und Vereine, alle Vertreter der religiösen Gruppen, Vertreter der Kurden und der Armenier
und nicht zuletzt die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses der türkischen Nationalversammlung, die eine
enge Kooperation mit unserem Parlament wollen, der
Meinung sind: Bei der Demokratisierung in der Türkei
kommt es jetzt darauf an, die Dynamik der Veränderungen nicht zu unterbrechen und in den Anstrengungen
nicht nachzulassen. Der Beginn der Verhandlungen und
das begleitende Monitoring fördern den Demokratisierungsprozess, den wir alle wollen.
({11})
All diejenigen, die wirklich für die Menschenrechte
eintreten und die sie nicht nur dann einfordern, wenn es
ihnen politisch in den Kram passt, müssen für die EU-Integration der Türkei sein. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({12})
Ich möchte noch einmal auf das Argument hinsichtlich der Sicherheit zurückkommen. Seit jenem 11. September haben Tausende von Menschen ihr Leben verloren. Die Liste der von Terroranschlägen betroffenen
Städte wird traurigerweise immer länger: New York,
Bagdad, Riad und Madrid. Aber Uta Zapf hat Recht: Auf
dieser Liste steht auch Istanbul. Auch in Istanbul haben
Menschen ihr Leben verloren; auch die Türkei ist im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus.
Was will dieser Terrorismus? Er will den Clash of
Civilization; er will Unterschiede zwischen Kulturen zu
gewaltsamen Gegensätzen steigern. Dem müssen wir
entgegenwirken. Die Türkei ist dabei ein ganz besonders
wichtiger Verbündeter. Eine demokratische Türkei in der
Europäischen Union zeigt Integrationsbereitschaft und
Integrationsfähigkeit. Sie wäre ein Beweis dafür, dass
die Behauptung, Islam und Demokratie seien per se ein
Widerspruch, falsch ist. Außerdem wäre es ein sehr
wichtiges Signal in die islamische Welt, in die arabische
Welt und ein enormer Sicherheitszugewinn für uns alle.
Dieses Argument können Sie nicht vom Tisch wischen.
({13})
Herr Müller, ich gebe Ihnen Recht: Dieses Europa
muss von unten entstehen. Es muss von den Menschen
gewollt werden.
({14})
- Hören Sie mir doch einmal zu!
({15})
Dabei geht es um die Begegnung der Zivilgesellschaften, um kulturellen Austausch sowie um ein gestärktes
und vertieftes Verständnis füreinander. Dafür braucht es
aber die Bereitschaft zur Annäherung und zum Dialog.
Eine Ausgrenzung, das Schüren von Ängsten und das
Aufstellen von Bedrohungsszenarien, wie Sie es heute
Morgen exemplarisch vorgeführt haben, darf es nicht geben.
({16})
Bitte erinnern Sie sich, liebe christdemokratische
Kollegen: Sie haben dereinst die Entspannungspolitik
abgelehnt und sind damit für lange Jahre in das politische Abseits manövriert worden. Sie beginnen, mit der
Türkei genau die gleichen Fehler zu machen. Wieder setzen Sie auf Ab- und Ausgrenzung. Wieder erkennen Sie
nicht die Zeichen des Wandels und wieder einmal setzen
Sie auf innenpolitische Stimmungsmache.
({17})
Herr Müller, das haben Sie auch heute Morgen wieder
getan.
Sie wollen die Türkeifrage 2006 zum Wahlkampfthema machen. Daran kann Sie niemand hindern. Aber
Ihr Antrag, den Sie in der nächsten Sitzungswoche einbringen werden und in dem Sie einen Zusammenhang
zwischen Beitrittsverhandlungen und islamistischem
Terror und Bandenkriminalität herstellen, Ihr Brief, den
Sie einen Tag vor dem CDU-Parteitag an Bundeskanzler
Schröder geschrieben haben - das war doch kein ernst
gemeinter Brief an den Bundeskanzler; das war der Auftakt zu einer antitürkisch aufgeladenen Patriotismusdebatte -,
({18})
Claudia Roth ({19})
und das Spekulieren über Unterschriftenlisten, das ist
doch - ich bitte Sie von Herzen - keine differenzierte
Auseinandersetzung, sondern Wahlkampf. Den betreiben Sie auf dem Rücken von Migranten. Das ist genau
das Gegenteil von Integration.
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
mit der Ankündigung von Herrn Stoiber - die wird er
nicht einlösen, weil Sie 2006 nicht in der Regierung sein
werden - zerschlagen Sie außenpolitische Glaubwürdigkeit, indem Sie sagen: Wir werden mit allen Mitteln
versuchen, das, was der Europäische Rat morgen - hoffentlich - beschließen wird, wieder einzukassieren.
Damit zerschlagen Sie außenpolitisches Porzellan. Sie
zerschlagen die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik. Gut, dass Sie nicht in die Regierung kommen
werden!
({21})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja. - Sie haben sich von einer gestalterischen und verantwortlichen Europa- und Außenpolitik abgemeldet.
Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es wirklich schlimm,
dass Sie in dieser Frage eine Politik nach dem Motto
„Der Zweck heiligt die Mittel“ betreiben, um an die
Macht zu kommen.
({0})
Ich bin davon überzeugt, dass gerade in der Politik der
Zweck die Mittel nicht heiligt.
({1})
Das ist ein böses Beispiel für die politische Unkultur in
diesem Land.
Wir sagen heute Ja zur Türkei in Europa, Ja zu einer
demokratischen Türkei.
({2})
Wir werden diesen Verhandlungsprozess sehr ernsthaft
- im Sinne der Menschenrechte ({3})
begleiten.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Ja, Herr Präsident. - Aber lassen Sie mich noch eines
sagen:
({0})
Wenn es um Menschenrechte geht, muss ich mir von Ihrer Fraktion wirklich nichts vorhalten lassen.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollegin Roth, die Einzige, die in der bisher im
Ganzen eigentlich sachlichen Debatte auflädt, emotionalisiert und innenpolitisch instrumentalisiert, sind Sie und
nicht die Opposition.
({0})
Es muss möglich sein, mit einem Land gute Beziehungen zu unterhalten, den Dialog mit ihm zu pflegen
und Freund dieses Landes zu sein, ohne dass dieses Land
gleichzeitig ein Angebot zur Vollmitgliedschaft in der
Europäischen Union erhält.
({1})
Herr Erdogan hat in einem Interview in der „Bild am
Sonntag“ gesagt, dass, wer gegen die Vollmitgliedschaft
sei, dies aus antitürkischen Motiven tue, aus Motiven,
die damit zu tun hätten, dass man Europa als Christenklub verstehe. Ich glaube nicht, dass er damit seinem
Land und sich selbst einen großen Gefallen getan hat.
Denn es ist ein Fehler, das Bekenntnis zur EU-Mitgliedschaft der Türkei zum entscheidenden Maßstab für die
Türkenfreundlichkeit eines Menschen oder eines Landes
zu machen.
({2})
Helmut Kohl hat das gestern in einem, wie ich finde,
ganz ausgezeichneten Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auch für sich bekundet. Er hat davon
berichtet, wie er in der Vergangenheit mehrfach gegenüber der Türkei - übrigens auch in Washington - hilfreich gewesen ist. Er sagt, er finde es schon seltsam, dass
er wegen seiner ablehnenden Meinung zum EU-Beitritt
plötzlich in das Lager der Türkenfeinde gestellt werde.
Ich glaube, da können wir den früheren Bundeskanzler
gut verstehen.
({3})
Auch wir finden es seltsam, dass wir plötzlich ein Christenklub und antitürkisch sein sollen, nur weil wir sagen:
Die Vollmitgliedschaft ist nicht das richtige Instrument
für diese Freundschaft.
({4})
Giscard d’Estaing,
({5})
ehemaliger französischer Staatspräsident und ehemaliger
Präsident des europäischen Verfassungskonvents, hat
diesen Gedanken auf den Punkt gebracht. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat er gesagt: „Wenn die
einzig denkbare Lösung entweder der Beitritt der Türkei
zur Union oder das Zerwürfnis mit seinen Partnern sein
sollte, wäre die EU dazu verdammt, zu einer regionalen
Sektion der Vereinten Nationen abzugleiten, zu einem
Ort der Begegnung, des Dialogs …“
({6})
Dieses Argument sollten Sie ernst nehmen. Wer will bestreiten, dass der Dialog, eine Anbindung der Türkei an
Europa und ein gutes Verhältnis zu den hier lebenden
Türken notwendig sind; aber deshalb muss ich nicht für
die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen
Union sein.
({7})
Ein zweiter Gedanke. Im Vertrag zur Europäischen
Union heißt es:
Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied
der Union zu werden.
({8})
Ist die Türkei ein europäischer Staat?
({9})
Darüber wird eine intensive Debatte geführt. Ein entscheidendes Kriterium dafür ist die geographische Lage.
Es kann nun einmal nicht bestritten werden, dass die
Türkei zu weniger als 5 Prozent in Europa liegt und weniger als 10 Prozent der Bevölkerung im europäischen
Teil der Türkei leben. Die Türkei reicht 1 500 Kilometer
nach Asien hinein - das ist die anatolische Hochebene.
1 500 Kilometer beträgt in etwa die Entfernung von
Warschau nach London.
Wenn man die Europäische Union als mehr als eine
Freihandelsunion, nämlich als politische Union versteht,
muss die Frage legitim sein, ob wir sie beliebig auf andere Kontinente ausdehnen sollten.
({10})
Ich glaube, dass Ernst Wolfgang Bockenförde mit seiner Bemerkung Recht hat: Mit dem Beitritt der Türkei in
die EU würde geographisch aus der Europäischen Union
eine europäisch-kleinasiatische Union werden. Das ist
ein wesentlicher Punkt, den man in aller Ruhe diskutieren kann, ohne sich gleich so aufzuregen wie die Kollegin Roth.
Drittens. Ich möchte etwas zu der Brückenfunktion
sagen. Frau Merkel hat heute Morgen dazu etwas gesagt.
Herr Müntefering äußerte dagegen das Widerlagerargument. Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen,
dass Helmut Schmidt in einem Artikel in der Zeitung
„Die Zeit“ zu Recht darauf hingewiesen hat, dass die
Wirkung des Modells Türkei in der arabischen Welt, die
Wirkung einer Brückenfunktion, begrenzt ist, weil mit
der Türkei in der arabischen Welt eine Kolonialherrschaft, die Herrschaft der Sultane, verbunden wird. Aus
diesem Grund hätte die Türkei lediglich einen sehr begrenzten Modellcharakter für diese Region.
Kollege Pflüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Roth?
Ja, gerne.
Herr Pflüger, Sie haben Europa geographisch definiert. Ich möchte Sie fragen, wie Sie die Aussage im Ankaraabkommen einschätzen. Sie wissen, dass Walter
Hallstein, ein CDU-Mann, 1963 Kommissionspräsident
war. In dem Ankaraabkommen wird eindeutig definiert,
dass die Türkei Teil Europas ist. Das ist die wichtige
Aussage dieses Abkommens. Es wird deutlich gemacht,
dass sich Europa über Werte definiert und weder kulturell noch geographisch ausgrenzend wirkt. So in etwa
- ich habe nicht wortwörtlich zitiert - lautet die im Ankaraabkommen unterschriebene Formulierung.
Frau Kollegin Roth, ich habe gesagt, dass die Geographie ein Kriterium ist, wenn auch ein wesentliches. Ich
habe nicht bestritten, dass man Europa auch anders definieren kann.
({0})
Sie haben das Assoziationsabkommen von 1963 angesprochen. In diesem Assoziationsabkommen heißt es:
Ziel des Assoziationsabkommens ist eine beständige und
ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Damals gab es eine EWG und noch keine
politische Union. Es ging um das Versprechen, Teil der
EWG zu werden, und um nichts anderes.
({1})
Zurück zu dem Brückenargument. Der Kollege
Müntefering hat vom Widerlager gesprochen. Er wird
nicht bestreiten, dass eine Brückenfunktion die Selbstständigkeit beider Teile, die die Brücke verbindet, voraussetzt. Wenn der Westen bzw. die EU die Türkei
durch eine Vollmitgliedschaft völlig vereinnahmt, dann
ist sie nicht mehr Brücke, sondern Teil des Westens bzw.
der Europäischen Union.
({2})
Die geistige und politische Vermittlung zwischen Europa
und dem Orient, von der wir wollen, dass die Türkei sie
übernimmt,
({3})
kann sie nur dann leisten, wenn sie souverän und selbstständig bleibt, nicht aber, wenn sie vereinnahmt wird.
({4})
Viertens. Immer wieder hören wir das Argument, es
sei ungeheuer wichtig, die Türkei aufzunehmen, weil sie
sonst in den Islamismus abdrifte. Günter Verheugen,
der die Verhandlungen für die EU-Kommission geführt
hat, hat gesagt, es sei denkbar, dass die Türkei in einen
antieuropäischen, fundamentalistischen Islam abrutsche. Deshalb müsse man jetzt mit den Verhandlungen
über einen Beitritt zur EU beginnen.
Meine Damen und Herren, merken Sie gar nicht, was
in dieser Argumentation steckt? Wenn wirklich eine
reale Gefahr darin besteht, dass die Türkei ins fundamentalistische Lager abdriftet, dann soll die EU ihr also
helfen? Müsste es nicht umgekehrt sein? Müsste sich
nicht die Türkei zuerst ihrer selbst und ihres Weges sicher sein, die notwendigen Reformen durchgeführt und
dem Islamismus eine endgültige Absage erteilt haben,
bevor wir mit ihr verhandeln? Es kann doch nicht Aufgabe der EU sein, die Demokratie in der Türkei zu festigen. Dieses Argument ist aberwitzig.
({5})
Wenn es wirklich so wäre, dass die Türkei für ihre
Modernisierung, Verwestlichung und Europäisierung sowie für die Einhaltung der Werte die EU bräuchte, dann
wäre der innere Reformprozess der Türkei relativ oberflächlich.
({6})
Ich habe, wenn Sie so wollen, mehr Vertrauen in die Türkei. Ich glaube, die Türkei schafft das, und zwar auch im
Rahmen einer privilegierten Partnerschaft und ohne
Vollmitgliedschaft.
({7})
Ich möchte ein fünftes Argument, das in dieser Debatte angeführt wird und das sehr wichtig ist, aufgreifen.
Ich meine die Frage, ob sich ein Christenclub und der Islam vertragen. Meine Fraktion und ich würden nie sagen, dass Islam und EU nicht zusammenpassen; denn es
gibt zum Beispiel das Assoziationsabkommen mit Bosnien-Herzegowina. Es ist gar keine Frage, dass das möglich sein kann. Aber ich glaube, Europa hat auch mit
kultureller Identität, Geschichte und Traditionen, die
über Jahrhunderte gewachsen sind, zu tun.
({8})
Das hat mit Christentum und Christenclub erst einmal
gar nichts zu tun - das wäre sehr oberflächlich betrachtet -, sondern damit, dass gerade in der globalisierten
Welt jede Organisation bzw. jeder Zusammenschluss,
der eine politische Union sein will, so etwas wie ein
Wirgefühl benötigt. Dieses Wirgefühl ist mehr als das
Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten. Es
beruht auf jahrhundertealter Geschichte, die man gemeinsam durchlebt haben muss: die griechische Antike,
({9})
das römische Recht, der Investiturstreit, die Reformation, die Aufklärung, das alles prägt Europa. Man kann
zwar sagen, dass man trotzdem Möglichkeiten der Anbindung findet. Aber zu sagen, dass all das kein Problem
sei, das ist keine Lösung. Es ist ein Problem! Sie müssen
sich darum bemühen, die Menschen mitzunehmen, sie
nicht vor den Kopf zu stoßen und nicht von oben Entscheidungen zu treffen, denen die Menschen nicht zustimmen.
({10})
Meine Damen und Herren, schließlich wird - sechstens - argumentiert, dass die Türkei seit über 40 Jahren
ein Versprechen habe, vier Jahrzehnte lang gewartet
habe und die EU jetzt endlich zu ihrem Versprechen stehen müsse. Ich finde dieses Argument ziemlich absurd,
({11})
wenn ich mir die türkische Geschichte in den vier Jahrzehnten seit Anfang der 60er-Jahre ansehe. In der Türkei
hat es seit Anfang der 60er-Jahre drei Militärputsche
gegeben.
({12})
Noch in den 90er-Jahren musste durch die Einwirkung
und den Druck des Militärs die islamistische Heilspartei
von Herrn Erbakan verboten werden. Daran zeigt sich:
Es war doch nicht die EU, die der Türkei lange Zeit ein
Versprechen nicht erfüllt hat. Vielmehr war es so, dass
die Türkei über 40 Jahre hinweg nicht einmal ansatzweise die Kriterien erfüllt hat, deren Einhaltung für einen Beitritt oder auch nur für die Aufnahme von Verhandlungen notwendig gewesen wäre.
({13})
Jetzt haben wir gerade zwei Jahre Erdogan - mit beachtlichen Reformen,
({14})
die wir überhaupt nicht infrage stellen, zu denen wir ermutigen und bei denen wir unterstützen wollen. Aber der
Kollege Müller hat Recht: Ein großer Teil davon steht
nur auf dem Papier. Und wissen wir denn wirklich so genau, in welche Richtung sich die Türkei und die AKP
entwickeln?
({15})
Ich bin erst im Juni dieses Jahres in der Türkei gewesen
und habe viele gehört, die gesagt haben: „Wir wollen gerade deshalb in die EU, um dann eine islamische Demokratie zu bekommen, um dann die Grenzen, die das Militär im kemalistischen Staat zieht, aufzuweichen.“ Es
könnte also sogar der Fall eintreten, dass die Türkei im
Zuge der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft genau das verliert, was wir an ihr schätzen: die klare Trennung zwischen Religion und Staat.
({16})
- Ich bitte Sie, solche Bedenken ernst zu nehmen; sie
werden in Europa breit diskutiert.
({17})
Warum gehen Sie eigentlich nicht auf die Vorlage ein,
die Ihnen der Konvent für eine europäische Verfassung
ermöglicht hat?
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
({0})
Ich komme gern zum Schluss, Herr Präsident, ich darf
nur diesen Gedanken zum Ende bringen. - Der Verfassungskonvent hat in Art. I 57 ganz klar festgelegt, dass
es die Möglichkeit einer privilegierten Partnerschaft
mit der EU gibt.
({0})
Warum halten Sie sich das nicht zumindest als eine
Möglichkeit offen? Dann müssen wir die Türkei in zehn
oder 15 Jahren nicht vor die Alternative stellen: entweder totaler Abbruch - Sie sagen ja: „Es soll ergebnisoffen verhandelt werden“ - oder aber Vollmitgliedschaft.
Warum bauen wir nicht Möglichkeiten ein, wie wir die
Türkei in europäischen Strukturen auffangen können,
auch wenn dieser angeblich ergebnisoffene Prozess
scheitern sollte?
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen; Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.
Damit würden wir uns, der EU und der Türkei einen
großen Gefallen tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Christa Nickels.
Ich muss hier mein Unverständnis über weite Passagen Ihrer Rede äußern, Herr Pflüger. Man hat über
40 Jahre hinweg auf einen Beitrittsprozess gesetzt - unabhängig von der jeweiligen Regierung und auch seitens
der Europäischen Union. Nun haben wir diese unglaublich positive Entwicklung: Ich kenne weltweit keinen
zweiten Staat, der in einer derartigen Kraftanstrengung
von Regierung, Verwaltung und anderen staatlichen Organisationen in nur zwei Jahren die gesamte Gesetzeslage umgekrempelt hat und Wege zur Implementierung
geschaffen hat. Deshalb ist es für mich überhaupt nicht
nachvollziehbar und es leuchtet keinem ein, dass Sie gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Art von Bedenkenträgerei anfangen. Das ist die Beleidigung eines
Volkes, das wie kein anderes diese Anstrengung unternimmt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite ist folgender: Sie führen sich hier in einer
patronhaften Art als Sachwalter der Christen und der
Religionsvielfalt in der Türkei auf, verlangen aber genau
das Gegenteil von dem, was alle Religionsgemeinschaften und alle Menschenrechtsorganisationen in der Türkei
und auch die kurdischen Abgeordneten - von denen fünf
gerade aus jahrelanger Gefangenschaft entlassen worden
sind - verlangen. Sie alle wünschen, dass es eine ehrliche Beitrittsperspektive gibt und nicht das, was Sie jetzt
vorschlagen. Diese Gruppen sagen: „Das ist eine einzigartige Chance für uns, hier wirklich Maßstäbe zu setzen
und einen guten Beitrag für die Europäische Union insgesamt zu leisten.“
Sie argumentieren hier im Namen des christlichen
Abendlandes. Ich erinnere Sie nur an Ihr taktisches Spiel
im Zusammenhang mit der EU-Verfassung: Sie haben
ganz klar für die Aufnahme des Gottesbezuges in die
Verfassung gestritten. Dieses Ziel haben Sie aber für parteipolitische, für innenpolitische Mätzchen missbraucht.
Es war Bischof Homeyer, der vor zwei Jahren auf
dem Michaelsempfang hier in Berlin zum ersten Mal
Hannah Arendt zitiert und auf das Prinzip des „offenen
Stuhls“ verwiesen hat:
Unabhängig davon, ob man glaubt oder nicht
glaubt: Dass man sich an etwas bindet, was auch
oberhalb menschlicher Weisheit ist, ist wichtig.
Das haben Sie konterkariert, das haben Sie kaputt gemacht, indem Sie die Aufnahme des Gottesbezugs als
Angst vor einem mehrheitlich islamisch geprägten Land
parteipolitisch instrumentalisiert haben. Sie laufen jetzt
Gefahr, genau dasselbe zu machen. Mir kann kein
Mensch klar machen, warum Sie den Religionsgesellschaften, den Menschenrechtsvereinen und den Parteien
in der Türkei das, was sie als wichtig ansehen, ausreden
wollen und warum Sie im Namen dieser Organisationen
und Menschen das Gegenteil erklären.
({0})
Kollege Pflüger, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Frau Kollegin Nickels, ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich so aufregen.
({0})
Ich habe sehr ruhig und sehr sachlich argumentiert; von
Beleidigung der Türkei kann keine Rede sein. Ich habe
eben ganz deutlich gemacht, dass ich den großen Reformprozess der letzten zwei Jahre anerkenne. Allerdings habe ich auch gesagt, dass vieles nur auf dem Papier steht,
({1})
was vor Aufnahme von Verhandlungen eigentlich in die
Praxis umgesetzt sein sollte.
({2})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Ihr Parteivorsitzender, Herr Bütikofer, ist Anfang November in der Türkei gewesen und hat nach seiner Rückkehr gesagt, die
Folter sei in der Türkei noch verbreitet.
({3})
Darüber muss man einmal nachdenken: Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung hat immer erklärt, bevor man über Beitrittsverhandlungen diskutieren
könne, müsse erst die Folter ein Ende haben, und nun
sagt Herr Bütikofer, es werde nach wie vor gefoltert.
Frau Lochbieler, die Vorsitzende von Amnesty International, sagt, es gebe in der Türkei zwar eine Reihe begrüßenswerter Reformen, doch lasse die Umsetzung
mehr als zu wünschen übrig. Prälat Rainer Korten, der in
Antalya arbeitet, hat mehreren Kollegen von uns einen
Brief geschrieben, in dem es heißt, Religionsfreiheit
- davon haben Sie eben geredet - gebe es in der Türkei
nicht einmal in Ansätzen.
Frau Kollegin, über all diese Fragen müssen wir reden
können. Wir müssen auch auf Defizite hinweisen können, ohne dass es eine Beleidigung der Türkei ist. Wir
sind Freunde der Türkei.
({4})
Ich erteile Kollegin Lale Akgün, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe der Kollegin Akgün das Wort erteilt. Ich bitte Sie, ihr zuzuhören.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lassen Sie mich Folgendes von vornherein klarstellen:
Erstens. Ich wurde zwar vor vielen Jahren als Türkin
geboren, spreche hier heute aber als deutsche Bundestagsabgeordnete. Dies ist kein Widerspruch, sondern es
passt hervorragend zusammen.
Zweitens. Ich vertrete sozialdemokratische Positionen
und deutsche Interessen. Auch dies ist kein Widerspruch; vielmehr passt dies ganz hervorragend zusammen.
({0})
Ich betone dies, weil Sie, Kolleginnen und Kollegen
der Union, in den letzten Wochen und Monaten jedes
noch so hanebüchene Argument gegen den Beginn der
Verhandlungen der EU mit der Türkei, gegen die Position der SPD in dieser Frage und gegen die 2,6 Millionen
Menschen türkischer Herkunft in Deutschland eingesetzt
haben. Sie machen Stimmung im Lande, indem Sie
Gespenster an die Wand malen: Gespenster von politischer Legalisierung, Islamismus, Destabilisierung, steigender Kriminalität und Terrorismus.
Diese Argumentation ist nicht nur falsch, sie ist schäbig.
({1})
Sie ist schäbig, weil sie die Wahrheit verdreht. Sie ist
schäbig, weil sie zum Ziel hat, Wahlkampf auf dem Rücken von Zugewanderten zu machen. Schließlich ist sie
schäbig, weil sie die Leistungen und die Integrationskraft des europäischen Einigungsprozesses in ungeheuerlicher und unpatriotischer Weise diffamiert.
({2})
Sie tragen mit Ihren ausgrenzenden Argumenten die politische und die moralische Verantwortung dafür, dass
diese Gesellschaft immer weiter gespalten wird. Für ein
paar Stimmen am rechten Rand nehmen Sie die Explosion von Millionen von Menschen in Kauf.
({3})
Über den Beitritt selbst debattieren wir heute nicht.
Das werden wir in zehn bis 15 Jahren tun, wenn der
Bundestag den Beitritt ratifizieren wird. Heute geht es
um die Frage, ob ein Land wie die Türkei, überwiegend
von Muslimen bewohnt, Teil der europäischen Familie
werden kann, wenn es die Werte und Ziele Europas teilt.
({4})
Die sozialdemokratische Antwort auf die Frage danach
ist ein klares Ja. Europa ist für uns in erster Linie eine
große Bewegung für die Stärkung des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte.
Heute vernehmen wir aus der Türkei Dinge, die selbst
1999, in dem Jahr, in dem die EU der Türkei den Kandidatenstatus verliehen hat, noch schier unmöglich erschienen. Wie heute bereits erwähnt, demonstrieren im
Südosten der Türkei Zehntausende Kurden im Einklang
mit den Zielen der türkischen Regierung für einen Beitritt zur EU. Armenische und christliche Repräsentanten
werben gemeinsam mit der Regierung der Türkei für den
Beitritt. Dinge, die vor wenigen Jahren noch unter Strafe
standen, sind heute als Bürgerrechte im Gesetz verankert
und werden mehr und mehr auch implementiert.
An all dem zeigt sich: Europa schafft Stabilität; es
ist die Grundlage für Frieden und Freiheit. Das ist eine
Erkenntnis, die Ihre Partei zu anderen Zeiten nicht nur
geteilt, sondern unter Konrad Adenauer entscheidend
mitgeprägt hat. Das war einmal, leider. Heute schürt die
CDU/CSU Ressentiments. Unter Angela Merkel und
Edmund Stoiber ist es europäische Friedenspolitik genug, wenn sie ihren internen Streit über wirtschafts- und
sozialpolitische Fragen mit Debatten zum Thema Türkei
überdecken können. Das ist eine miese und durchsichtige Strategie.
({5})
Unsere Europapolitik hat einen anderen Anspruch.
Wir möchten Politik für das Europa von morgen machen. Wie ich erwähnt habe, ist der Türkei bereits 1999
der Kandidatenstatus verliehen worden. Seitdem hat sich
in der Türkei sehr viel zum Positiven verändert. Seitdem
hat sich aber auch Europa verändert. Es gab weit reichende strukturelle Reformen, eine Stärkung des Europäischen Parlaments und im Mai dieses Jahres den Beitritt von zehn neuen Mitgliedern. Wir sind auf dem
besten Weg, Europa eine Verfassung zu geben, die die
Werte und Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses klar beschreibt. Wir alle wissen: Ohne Reformen der EU und ihrer Institutionen funktioniert die Erweiterung der Union nicht. Aber wir wissen auch: Ohne
die Erweiterung, ohne die Impulse der neuen Mitgliedstaaten wären die Reformen nicht auf den Weg gebracht
worden. Das ist ein interaktiver Prozess, der für einen
künftigen Beitritt der Türkei ebenfalls gilt.
Ich stelle fest: Die EU wurde im Laufe der Zeit und
im Prozess der Erweiterung immer politischer. Erweiterung und Vertiefung sind also doch kein Widerspruch,
wie von Ihnen immer gern behauptet wird.
Das Argument, die EU werde sich mit der Aufnahme
der Türkei wirtschaftlich und finanziell übernehmen und
die Türkei werde den Strukturfonds und die Landwirtschaftspolitik der EU sprengen, ist nicht stichhaltig.
Wenn sich die Türkei noch zehn Jahre in gleichem Maße
weiterentwickelt und anschließend Mitglied der EU
wird, dann wird es eine dynamische Türkei sein, die die
EU wirtschaftlich und politisch voranbringen wird.
Aber nicht nur die Türkei wird sich weiterhin ändern,
auch die EU wird es tun. Die Landwirtschaftspolitik und
die Strukturförderung werden sich ändern. Sie müssen
sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Wenn wir die
Türkei als Chance begreifen, werden die Beitrittsverhandlungen diesen notwendigen Prozess sogar beschleunigen und beleben.
Die Erweiterungen der jüngsten Zeit und die anstehenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei haben
nicht nur die Strukturreform in Europa beschleunigt;
vielmehr haben sie auch eine Debatte über die Werte Europas und seine Identität in Gang gebracht und in die
breite Öffentlichkeit getragen. Hieran zeigt sich: Der
Geist Europas ist der Geist der Aufklärung, die Werte
Europas sind die Werte der Aufklärung.
Die Intensität, mit der über das Für und Wider einer
Vollmitgliedschaft der Türkei diskutiert wird, zeigt,
welch lebendiges Wesen dem Europagedanken innewohnt. Europa ist kein statischer Klub, dessen Mitglieder sich dadurch auszeichnen, dass sie sich auf ein
christlich-historisches Erbe oder auf das kulturelle Erbe
des antiken Griechenlands und Roms berufen, wie man
es in letzter Zeit häufiger von Leuten hört, denen alle anderen Argumente ausgegangen sind. Wer Europa als statisches Gebilde begreift und konservieren will, der hat
den Esprit Europas nicht verstanden; der hat nicht verstanden, dass die europäische Integration als dynamischer Prozess zu begreifen ist. Um mit den Worten des
spanischen Dichters Antonio Machado zu reden: „Wanderer, deine Spuren sind der Weg und nichts mehr. Es
gibt keinen Weg, man macht den Weg beim Gehen.“
Das hat nichts mit Wertelosigkeit und Beliebigkeit zu
tun. Es ist das Grundprinzip des Erfolgs der europäischen Einigung. Teilung von Souveränität und Verantwortung, Förderung der Vielfalt, eine offene Gesellschaft - das ist unsere sozialdemokratische Vision für
Europa und das ist auch die Vision der Menschen in der
Türkei, die all ihre Hoffnungen auf das Dazugehören zur
europäischen Wertegemeinschaft setzen.
({6})
Wenn unser Bundeskanzler morgen für die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stimmt, dann
ist das ein Stück ursozialdemokratischer Politik. Das ist
gut für die Türkei, gut für uns in Deutschland und gut für
Europa. Auch das ist kein Widerspruch, sondern passt
hervorragend zusammen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
PDS ist dafür, dass mit der Türkei Verhandlungen über
den Beitritt zur Europäischen Union aufgenommen
werden. Die PDS hat gestern im Europaparlament zugestimmt und wir werden das auch hier im Bundestag tun.
({0})
Im Gegensatz zur CDU/CSU stehen wir nicht im Wort
eines Kanzlers Adenauer oder Kanzlers Kohl. Wir stimmen zu, weil es politisch vernünftig ist und weil die EU
kein christlich-abendländischer Klub ist.
({1})
Nun kann man einen EU-Beitritt selbstverständlich
befördern oder auch ablehnen. Das muss jede Partei mit
sich selbst ausmachen. Mit Sorge verfolge ich allerdings,
dass bei diesem Thema in den letzten Tagen verbal aufgerüstet und das gesellschaftliche Klima damit vergiftet
wurde. Das ist aus meiner Sicht verantwortungslos und
weckt die falschen Geister.
({2})
Natürlich fühlen sich viele Türkinnen und Türken direkt angegriffen, wenn der CSU-Vorsitzende Edmund
Stoiber droht, er werde alles - wohlgemerkt: alles - dafür tun, dass die Türkei nie EU-Mitglied werde.
({3})
Die türkische Gemeinde in Berlin beispielsweise hat entsprechend harsch reagiert und erklärt - ich zitiere -:
„Wir nehmen die Kriegserklärung an.“ Ich finde das
falsch; denn das spielt Herrn Stoiber und den anderen,
die hier verbal aufrüsten, in die Hände, und das auf deren
Niveau. Das sollten auch die türkischen Gemeinden in
der Bundesrepublik bedenken und vermeiden.
({4})
Das Ja der PDS zu den Beitrittsverhandlungen ist
nicht bedingungslos und auch nicht unumkehrbar. Der
Türkei werden Fortschritte bescheinigt, wenn es um
Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte geht - zu Recht. Es
bestehen aber weiterhin erhebliche Differenzen zwischen Wort und Tat, zwischen Gesetz und Praxis. Insbesondere der Alltag der 20 Millionen Kurdinnen und
Kurden in der Türkei wird noch immer von Diskriminierung, Unterdrückung und sogar Terror geprägt. Daher
wundere ich mich schon, dass die SPD und vor allem die
Grünen dies nicht hörbarer kritisieren und auf Änderung
drängen.
({5})
Im EU-Parlament haben Ihre Kolleginnen und Kollegen
gestern jedenfalls jeden Antrag, in dem es um die Rechte
der Kurdinnen und Kurden ging, abgelehnt und nicht in
die entsprechende Resolution aufgenommen.
Eine offene europäische Wunde ist nach wie vor auch
die Zypernfrage. Es wäre widersinnig, den Fall der deutschen Mauer zu bejubeln und die Mauern durch Zypern
zu dulden. Hier hat die Türkei eine Bringpflicht. Ich
finde, die EU ist verpflichtet, hier zu drängen.
Die Türkei hat noch weitere ungelöste Grenzfragen,
zum Beispiel mit dem Irak und mit Syrien. Auch die militär-strategische Allianz der Türkei mit Israel ist wenig
hilfreich für die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.
Deshalb wiederhole ich: Den Beitrittsverhandlungen
folgt nicht automatisch ein Beitritt. Die Verhandlungen
dürfen nicht bedingungslos sein, wie der türkische Ministerpräsident dieser Tage in einem Interview meinte.
Es geht um einen Prozess, der begonnen hat und weitergehen muss. Dieser Prozess muss im Interesse der Türkei, im Interesse der EU und auch im Interesse der Bundesrepublik weitergehen. Deshalb stimmen wir heute zu.
({6})
Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Gert
Weisskirchen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis
auf einige Entgleisungen fand ich die Debatte sehr aufschlussreich. Mich verwundert sehr, Dr. Pflüger, dass Sie
im Grunde genommen das bestätigen, was Sie ansonsten
kritisieren, nämlich dass die Gefahr einer solchen Debatte darin besteht - in Ihrem Beitrag konnte man das
sehr plastisch erkennen -, dass man sich auf der einen
Seite gegen eine Kulturalisierung der Politik wendet, auf
der anderen Seite aber genau diese Gefahr verstärkt,
wenn man den Islam in einer solchen Weise in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellt.
Wenn es richtig ist, dass die Europäische Union eben
kein religiöses Projekt ist, sondern eines, das der Aufklärung verpflichtet ist, dann kommt es doch darauf an,
dass wir die Kräfte innerhalb der Türkei stärken müssen
- viele Türken leben bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland; Markus Löning kann als Berliner Abgeordneter sicherlich einiges dazu sagen -, die sich von der
Islamisierung abwenden und versuchen, die Aufklärung
in ihre Religion hineinzubringen. Genau das zerstören
Sie mit Ihrem Argument, es gehe darum, die gefährlichen Triebkräfte, die es innerhalb des Islam gebe, zu
konterkarieren.
Lieber Herr Pflüger, ich glaube, dass Sie in noch einem Punkt missverstehen, was die Europäische Union
ist. Die Europäische Union ist auch kein geographisches
Projekt. Die Europäische Union ist ein Projekt der europäischen Werte. Es ist nicht ausgeschlossen und darf
auch nicht ausgeschlossen werden - das Beispiel Bosnien haben Sie selbst genannt -, dass sich der Islam so
entwickelt, dass er innerhalb der europäischen Werte
eine komplementäre Aufgabe übernimmt. Im Gegenteil:
Schauen Sie sich die Debatte in Frankreich an, die beispielsweise von Sarkozy angestoßen wurde! Es lohnt
sich, darüber nachzudenken, was Säkularismus heute bedeuten kann. Es kommt darauf an, den Islam zu europäiGert Weisskirchen ({0})
sieren. Das ist die zentrale Aufgabe der Europäischen
Union.
Wenn Sie schon dazu aufrufen, mit den Argumenten
und Problemen, die damit verbunden sind, rational umzugehen, dann sage ich Ihnen: Die große Aufgabe, die
uns bevorsteht, ist, den Islam gemeinsam mit den Türken, die bei uns leben, gemeinsam mit den Kräften der
Aufklärung in der Türkei zu europäisieren. Dafür
braucht die Türkei eine Perspektive. Diese darf aber
nicht, wie es die Union fordert, lauten: Ihr werdet nie
Vollmitglied der Europäischen Union. Diese schwierige,
harte Debatte, die auch in der Türkei geführt wird, lenken Sie in eine Bahn der inneren Radikalisierung. Das
müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.
({1})
Manchmal wird hier nicht genau beachtet, wie innerhalb der Türkei selber debattiert wird. Schauen wir uns
einmal den inneren Charakter der Türkischen Republik
an, die einen langen historischen Vorlauf hat. Die Türkische Republik - das ist besonders gut bei Kemal Atatürk
nachzulesen und zu erkennen - hat mit dem Osmanischen Imperium geradezu einen Bruch vollzogen. Das
ist im 20. Jahrhundert die entscheidende Wende gewesen, vorangetrieben durch ebenjene Kräfte, die
Anschluss an die europäische Aufklärung suchten.
Das Konzept, das Kemal Atatürk in den 20er-Jahren
entwickelt hat, ist der Versuch, die Türkei zu europäisieren und den Anschluss an Europa - das betrifft auch die
europäischen Werte - zu erreichen. Das ist ein schwieriger Prozess. Dieser Kampf innerhalb der Türkei ist - da
haben Sie, die Sie das kritisieren, Recht - noch längst
nicht beendet. Aber auch da gilt: Wenn wir heute die Tür
für eine mögliche Vollmitgliedschaft der Türkei schließen - und das wollen Sie -, dann heißt das, der Radikalisierungstendenz innerhalb der Türkei neue Nahrung zu
geben und die Türkei von Europa zu entfernen. Das wollen wir nicht. Deshalb ist das, was die EU morgen beschließen wird, im Interesse des aufklärerischen Islam
und im Interesse Europas. Das ist ein weiteres Argument, das, wenn wir schon miteinander offen und hart
debattieren, angeführt werden muss.
Schließlich: Lesen Sie einmal nach, was Frau Merkel
gesagt hat. Mir ist eines von ihrer Rede in Erinnerung
geblieben. Das war nichts Substanzielles. Sie hat gesagt:
Es geht nicht um die Türkei, sondern es geht um uns. Ja,
es geht um uns, es geht um Sie. Sie vollziehen einen
Bruch mit der Politik, an der Frau Merkel als Ministerin,
Herr Kollege Dr. Schäuble und die anderen Kolleginnen
und Kollegen der Union beteiligt waren. Sie vollziehen
einen Bruch mit der Politik, die eine lange Tradition in
Deutschland hat. Diese Politik bestand darin, verlässlich
zu sein und der Türkei eine Perspektive zu geben. Sie
brechen mit dieser Politik der Verlässlichkeit. Damit verabschiedet sich die Union aus dem europäischen Konzert. Das kann doch wahrlich nicht in Ihrem Interesse
sein. Ich bitte Sie, bei diesem Punkt wenigstens einmal
nachzudenken, ob das Ihr letztes Wort sein kann.
({2})
Herr Weisskirchen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kossendey?
Ja.
Bitte schön, Herr Kossendey.
Herr Kollege Weisskirchen, Sie beschwören gerade
den Bruch, den die CDU/CSU vollzogen haben soll. Wie
erklären Sie sich dann die Äußerungen von Frau
Schröder-Köpf in der Zeitung „Milliyet“ vom 19. April
1998, wonach die Türken die SPD wählen sollten, weil
die CDU/CSU nie zulassen würde, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird? Hat sich Frau
Schröder-Köpf damals geirrt?
({0})
Ich wusste gar nicht, dass die Frau des Bundeskanzlers als Kronzeugin genannt werden kann. Natürlich
kann Frau Schröder-Köpf ihre Meinung genauso wie Sie
und ich sagen.
Fragen Sie bitte die Aufgeschlossenen in der Türkei
und hier in Deutschland, die genau wissen, welchen inneren Kampf sie zu bestehen haben, wenn es darum
geht, die Türkei zu einem Mitglied der Europäischen
Union zu machen. Diesen inneren Kampf so zu begleiten, dass in der Türkei selbst ein fester innerer Wille entsteht, zu Europa zu gehören, ist die Aufgabe, die vor uns
steht. Ich bitte Sie herzlich darum, sich an dieser Auseinandersetzung so konstruktiv zu beteiligen, wie es Ihrer
eigenen Tradition entspricht, nicht aber so zu handeln,
wie Sie es heute hier getan haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4522 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3949 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der beiden fraktionslosen Abgeordneten bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4523 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen mit dem Titel „Die Türkeipolitik der EU verlässlich fortsetzen und den Weg für Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei freimachen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/4031 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen von CDU/CSU und der FDP-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 15/4524 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Zu der Empfehlung der EU-Kommission über Beitrittsverhandlungen der Europäischen
Union mit der Türkei“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/4064 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/
CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2003 ({1})
- Drucksachen 15/2600, 15/4475 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Merten
Anita Schäfer ({2})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Wehrbeauftrage des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried
Penner, das Wort. Herr Penner, bitte schön.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Aus aktuellem Anlass bemerke ich: Was Misshandlungen in der Bundeswehr angeht, so haben meine
Amtsvorgänger und ich immer wieder darüber berichten
müssen, und zwar klar und unmissverständlich auch anhand von Fallbeispielen. Aber auch dies ist wahr: Überwiegend hat die Bundeswehr angemessen reagiert, angefangen bei einfachen Disziplinarmaßnahmen bis hin zur
Entfernung aus dem Dienst und Einschaltung von Strafverfolgungsbehörden.
Gewiss wirkt dies nicht zu 100 Prozent generalpräventiv; sonst kämen solche Vorgänge nicht immer wieder vor. Aber ich kann nicht bekunden, dass sie generell
verharmlost oder vertuscht würden. Das gilt im Übrigen
auch für überkommene Soldatenrituale, die auch das
körperliche Wohlergehen beeinträchtigen können und
doch der männlichen Identitätsstiftung dienen sollen.
Aus aktuellem Anlass bemerke ich weiter: Die Bundeswehr ist keine Armee der Schleifer und Drangsalierer. Die Masse der 12 000 Ausbilder gibt dienstlich keinen Anlass zu Beanstandungen.
({3})
Sie haben es nicht verdient, unter Generalverdacht gestellt und damit gesellschaftlich geächtet zu werden.
Ganz im Gegenteil: Sie sind rechtstreu und versehen einen wichtigen Dienst für die Bundeswehr und die Soldaten.
({4})
Aus aktuellem Anlass darf ich aber auch Folgendes
bemerken: Die Bundeswehr ist nicht irgendein öffentlicher Dienstleister. Sie hat auch mit Gewalt bzw. mit
Anwendung von Gewalt und Abwendung derselben,
auch durch Gewalt, zu tun. Es ist staatlich legitimierte
Gewalt, die Gewalt von dritter Seite auch mithilfe der
Bundeswehr und der Soldaten unterbinden soll.
Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
haben durch sehr konkrete Entscheidungen - insgesamt
sind es über 40 - die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass die Bundeswehr und die Soldaten in solchen Fällen im Ausland eingesetzt werden können. Mittlerweile haben über 100 000 Soldaten an solchen
Einsätzen teilgenommen. Die Soldaten darauf richtig
vorzubereiten ist selbstverständliche Pflicht des Dienstherrn. Das geschieht auf vielfältige Weise, auch in der
Form, dass Soldaten auf Gefangennahme und Verhöre
eingestellt werden. Das kann und darf nicht in einer
Weise begrenzt sein, dass man nur über den Ernstfall redet. Nein, der Soldat muss auf den Eventualfall vorbereitet sein, und zwar auch mit vielen sehr konkreten Elementen der Gefangenschaft. Das geschieht in einem
genau festgelegten Rahmen mit Sicherungen bis hin zu
begleitender ärztlicher und psychologischer Hilfe.
Wenn denn Bundesregierung und Bundestag weiter
gehende Entscheidungen treffen, beispielsweise ein so
genanntes robustes Mandat beschließen, dann muss die
Bundeswehr ihre Soldaten darauf vorbereiten, dass sie
dem robusten Mandat auch gerecht werden können.
Wenn Bundesregierung und Bundestag - was bisher
Gott sei Dank nicht geschehen ist - die Beteiligung an
Kampfeinsätzen beispielsweise im Rahmen eines so bezeichneten asymmetrischen Kriegs beschließen, dann
muss klar sein, worum es gehen kann: um Zerstören,
Verwunden, Verwundetwerden, ja, auch um Sterben und
Töten. Darauf müssen die Soldaten ebenfalls vorbereitet
sein. Das ist dann nicht die Stunde der Rambos und der
Brutalos, sondern die Stunde der Bewährung für die
Tragfähigkeit der Inneren Führung. Wer dabei seine individuellen Quälgelüste auslebt, ist in der Bundeswehr
fehl am Platz.
({5})
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Aus aktuellem Anlass bemerke ich auch dies: In der
allgemeinen Grundausbildung für Wehrpflichtige, freiwillig länger dienende Zeitsoldaten und Bewerber für
die Ausbildung zu Berufssoldaten ist der Ausbildungsteil „Gefangennahme und Verhör“ nicht vorgesehen;
er ist untersagt. So hat es das Heeresführungskommando
im Februar 2004 bestätigt; so hat es der Führungsstab
der Streitkräfte verbindlich festgelegt. Wer dagegen
verstößt, macht sich eines Vergehens schuldig. Wer innerhalb eines solchen Ausbildungsvorhabens darüber hinausgehende Gewalthandlungen vornimmt, wird zusätzlich zur Verantwortung gezogen. Die Einhaltung dieser
Regeln muss die Dienstaufsicht sicherstellen. Sie steht
nicht nur auf dem Papier, sondern ist konkret gefordert,
nicht zuletzt und ganz besonders beim Schutz der Wehrpflichtigen.
Der Staat verlangt den Wehrpflichtigen eine tief greifende Pflicht ohnegleichen - gegebenenfalls bis zum
Einsatz von Leib und Leben - ab. Deshalb besteht staatlicherseits auch die selbstverständliche Pflicht und
Schuldigkeit, für einen umfassenden Schutz Sorge zu
tragen. Wenn es denn bei der Dienstaufsicht hapert, dann
muss das in Ordnung gebracht werden, und zwar umgehend.
({6})
Aus aktuellem Anlass bemerke ich zusätzlich: Es ist
zutreffend, dass das Echo betroffener Soldaten auf
Coesfeld unterschiedlich ausgefallen ist. War es für die
einen „cool“ oder ein „Highlight“, wurde es von anderen
erlitten, von wieder anderen als zum militärischen Betrieb gehörend akzeptiert und von weiteren Soldaten unter gruppendynamischen Zwängen hingenommen; so
wird jedenfalls berichtet. Das wird genau ermittelt werden müssen, und zwar von Staatsanwaltschaften genauso
wie von der Bundeswehr selbst. Ich selbst kann mitteilen, dass Eingaben Betroffener zu diesem Thema eher
karg sind. Die Zurückhaltung von Wehrpflichtigen bei
Eingaben ist im Übrigen auffällig. Sie machen nur unterproportional davon Gebrauch. In Zahlen heißt das für
2004: Knapp 19 Prozent beträgt der Anteil der Grundwehrdienstleistenden an der durchschnittlichen Truppenstärke. Ihr Anteil am Eingabeaufkommen liegt hingegen
bei knapp 7 Prozent, und dies bei proportional ständig
steigenden Zahlen der Eingaben insgesamt.
Außerdem bemerke ich aus aktuellem Anlass: Die beschuldigten Soldaten haben - wie auch andere - einen
Anspruch auf ein faires Verfahren. Mehrere Soldaten haben mich auch insoweit um Unterstützung gebeten. Dem
komme ich selbstverständlich nach; auch das gehört zu
meinen gesetzlichen Aufgaben. Vorverurteilungen helfen der Sache nicht, wohl aber zügige Verfahren nach
den Maßstäben des Rechts. Auch darauf werde ich ein
Auge haben.
Abweichend vom Vorherigen, aber auch aus aktuellem Anlass darf ich bemerken: Ausländerpolitik berührt ebenfalls die Bundeswehr. Nicht nur deutschstämmige Frauen und Männer leisten soldatischen Dienst in
der Bundeswehr. Es heißt, dass die Bundeswehr mittlerweile circa 80 unterschiedliche Ethnien umfasst. Gerade
die Soldatinnen und Soldaten mit fremder Abkunft können mit Fug und Recht erwarten, dass die Ausländerpolitik mit ihren Müttern und Vätern anständig verfährt.
({7})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich muss
darauf aufmerksam machen dürfen, dass die Bundeswehr und die Soldaten nach 15 Jahren stetiger tief greifender Veränderungen, die noch mindestens weitere fünf
Jahre währen sollen, Zeit zum Atemholen brauchen. Es
war und ist eine riesige Kraftanstrengung, die Bundeswehr zur Einsatzarmee umzubauen, den Umfang der
Bundeswehr von 520 000 Soldaten im Jahr 1990 auf
demnächst 250 000 schrittweise zu reduzieren, die Anzahl der Standorte nach und nach auf 405 zu verkleinern,
die Voraussetzungen für den uneingeschränkten Zugang
für Frauen in die Bundeswehr zu schaffen usw. usw.
Zusätzliche grundlegende Veränderungen werden zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Der diesbezügliche Leitbegriff Transformation wird nicht als Verheißung verstanden. Dieser Begriff kann vielmehr zum
Unwort in der Bundeswehr werden, wie zuvor die Begriffe „Kopfpauschale“ oder „Hartz IV“ auf anderen Politikfeldern. Bei allem Verständnis gerade der Soldaten
für Veränderungen: Innehalten braucht nicht immer ein
Fehler zu sein. Anders ausgedrückt, man darf das stolze
Selbstverständnis der Bundeswehr, wonach es keine Probleme, sondern nur Herausforderungen gibt, nicht überstrapazieren.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundeswehr, so wird vonseiten der politischen und militärischen Führung mehr oder minder uneingeschränkt betont, sei auch zu weiteren Einsätzen in der Lage, ohne
dass die bisherigen Engagements reduziert werden
müssten. Das hört sich in der Truppe gelegentlich anders
an. Immer wieder und verstärkt weisen Soldaten darauf
hin, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, namentlich
der Fernmelder, erschöpft seien, dass sachgerechte Ausbildung im Inland Not leide, weil gutes Material im Einsatz benötigt werde, und dass viele Ausbilder ebenfalls
wegen Einsatzverwendung ersetzt werden müssten.
Im Interesse der Soldaten ist zu hoffen, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen derselben Sache durch die
Truppe einerseits und die militärische und politische
Führung andererseits nicht „Weichspülprozessen“ zuzuschreiben sind, die umso mehr wirken, je weiter die Realität entfernt ist. Es wäre unverantwortlich, sich für Einsätze zu entscheiden, wenn die Fähigkeiten dafür nur
mit sprachlichen Kunstgriffen festgestellt werden können.
({8})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Personalangelegenheiten machen seit Jahren einen wichtigen
Anteil an den Eingaben aus. Dabei geht es in jüngster
Zeit namentlich um sich mehrende finanzielle Einbußen bei ständig zunehmenden Dienstbelastungen. Lebens- und dienstältere Offiziere mit Portepee sind mit ihrer persönlichen Beförderungssituation unzufrieden.
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Beim Blick in den Spiegel stellen sie sich selbst die
Frage - auch ihre Angehörigen stellen ihnen diese Frage -: Was hast du eigentlich verbrochen, dass die Soldaten, die du ausgebildet hast, in derselben Laufbahn an dir
vorbeigezogen sind?
Gewiss, das Attraktivitätsprogramm hat gegriffen.
Dabei sind vielfach diejenigen übersehen worden, die
mit ihrer militärischen Erfahrung und ihren unverzichtbaren Qualitäten in der Menschenführung das Rückgrat
der Armee ausmachen: die gestandenen Ober- und
Hauptfeldwebel. Immer wieder sind auch Klagen über
organisatorische und inhaltliche Mängel bei den Maßnahmen der zivilen Aus- und Weiterbildung zu vernehmen. Immer wieder wird die Undurchlässigkeit von
Laufbahnen beklagt.
Die Truppe wünscht sich erweiterte Möglichkeiten
der Personalgewinnung und der Stellenbesetzungshoheit
„aus sich heraus“. Die Zentren für Nachwuchsgewinnung werden teilweise herb kritisiert. Ich habe vier von
fünf dieser Einrichtungen besucht und mich davon überzeugen können, dass dort gute Arbeit geleistet wird.
Dennoch: Die Truppe muss sich darauf verlassen können, dass im Hinblick auf den Alltag in der Bundeswehr
weder Assoziationen mit „Marlboro-Romantik“ noch
solche mit Aufenthalten im „Streichelzoo“ geweckt werden dürfen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Schlussfolgerungen aus den von mir mit meinem Jahresbericht
2003 vorgelegten Befunden zu ziehen ist Sache des
Auftraggebers, nämlich des Parlaments. Für den Fall
allerdings, dass Sie den Beauftragten nach seiner Einschätzung fragen, gestatten Sie mir noch folgende Bemerkungen:
Die von mir festgestellten Mängel werden von der
politischen Führung der Bundeswehr weitestgehend bestätigt. Die Monita werden geteilt, Abhilfe wird jedoch
nicht überall oder nur in Ansätzen geleistet. Bei dieser
Reaktion darf es nicht bleiben. Die Fragen aus der
Truppe danach, wann denn nun endlich die allenthalben
bekannten Mängel, etwa bei der Infrastruktur, beim Material, beim Beförderungssystem für die älteren Feldwebel, abgestellt werden, werden drängender.
({9})
Einen Dissens in der Bewertung sehe ich beim Thema
Auslandseinsatz/Material. Ich habe kritisiert, dass Soldaten ohne absolvierte Ausbildung an ihren Spezialfahrzeugen - das meint: sondergeschützte Kfz von Personenschutzkommandos - in den Einsatz geschickt werden.
Das Ministerium hält dies bei der Feldjägertruppe und
dem Wolf für hinnehmbar. Ich bleibe dabei: Vorbereitende Einsatzausbildung muss im Inland stattfinden und
darf nicht erst im Einsatzland beginnen.
({10})
Ein Wort zu den aktuellen Eingabenzahlen. Stand
von gestern: 5 890 Eingaben. Das sind zehn mehr als im
selben Zeitraum des Vorjahres. Damit wird bis zum Jahresende ein ähnlich hohes Niveau wie im Vorjahr erreicht werden, insbesondere gemessen an einer sinkenden Truppenstärke auch in diesem Jahr. Der Staatsbürger
in Uniform nimmt seine Petitionsinstanz, den Wehrbeauftragten, knapp 90-mal so häufig in Anspruch wie der
Staatsbürger ohne Uniform den Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Unterstützung durch den Verteidigungsausschuss, deren ich jederzeit sicher sein konnte.
Ich bedanke mich für die durchgängig gute Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung,
was gelegentliche Unzulänglichkeiten bei den Stellungnahmen zu meinen Überprüfungsersuchen nicht umschließt.
({11})
Ich wünsche besonders den Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz von Herzen, dass sie wohlbehalten nach Hause
zurückkehren.
Schönen Dank für die Geduld.
({12})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich dem Wehrbeauftragten Dr. Willfried Penner
sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Amtes im Namen des ganzen Hauses für die verantwortungsvolle Arbeit sehr herzlich danken.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister Dr. Peter
Struck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Soldaten auf der Tribüne! Ich schließe
mich dem Dank an den Wehrbeauftragten Willfried
Penner auch für das Bundesministerium der Verteidigung an. Ich bedanke mich sehr dafür, Herr Penner, dass
Sie in Ihrem Bericht die Leistungen der Soldatinnen und
Soldaten im In- und Ausland besonders gewürdigt haben.
Unsere Streitkräfte haben sich national und vor allem
international einen hervorragenden Ruf erworben.
Grund dafür ist die hohe Motivation aller Männer und
Frauen in der Bundeswehr. Diese resultiert zum einen
aus der Gewissheit, dass Öffentlichkeit und Politik in einem breiten Konsens hinter ihnen stehen, und zum anderen aus dem Zusammenhalt untereinander, also aus dem
inneren Gefüge.
Lassen Sie uns an dieser Stelle an diejenigen denken,
die im Auftrag des Bundestages und dann im Dienst für
unser Land ihr Leben verloren haben, und den Verletzten
eine weitestgehende und baldige Genesung wünschen.
Ihr Jahresbericht, Herr Wehrbeauftragter, ist ein bewährter traditioneller Gradmesser für das innere Gefüge
der Bundeswehr. Unübersehbar ist, dass die derzeitigen
Rahmenbedingungen Probleme schaffen, die ihren Niederschlag auch in der Zahl der Eingaben bei Ihnen
finden. Herr Penner, Sie haben die Zahl für das Jahr
2004 eben genannt. 400 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bei der Bundeswehr beschäftigt. Da ist die
Eingabenzahl natürlich auch in der Relation zu sehen;
aber eine Zahl von circa 6 000 ist zweifellos immer noch
zu hoch.
Der Bericht ist ein Spiegelbild sowohl der Sorgen und
Ärgernisse der Soldatinnen und Soldaten als auch - natürlich - der Unzulänglichkeiten; Sie haben eben einige
angesprochen. Er ist jedoch genau wie die Berichte vorher ein Mängelbericht, kein Zustandsbericht. Solche
Unzulänglichkeiten können bei allen Anstrengungen in
einer Großorganisation wie der Bundeswehr nie ausgeschlossen werden. Wir arbeiten, wie gesagt, an der Beseitigung dieser aufgezeigten Mängel, die Sie eben noch
einmal genannt haben, vor allem in folgenden Schwerpunktbereichen: Transformation - hier geht es um den
daraus entstehenden Anpassungsdruck für die Soldatinnen und Soldaten -, Personal - hier geht es um die Umsetzung des Attraktivitätsprogramms und die Einführung
neuer Laufbahnen -, Frauen in der Bundeswehr - hier
geht es vor allem um die Laufbahnberatung unter besonderer Sicherstellung der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf - und Auslandseinsätze - hier geht es um die
Dauer und die Familienbetreuung. Zum letzten Punkt
will ich hinzufügen: Wir haben entschieden, dass wir die
Dauer der Auslandseinsätze in der Regel auf vier Monate reduzieren. Das ist ein Wunsch, der auch im Verteidigungsausschuss des Parlaments immer deutlich geäußert wurde.
({0})
Außerdem werden wir die Zahl der Familienbetreuungszentren auf 31 erhöhen. Das bringt eine weitere wesentliche Verbesserung für die Betroffenen mit sich.
Ich bin dem Parlament auch sehr dankbar, dass es aus
eigener Initiative heraus zusammen mit dem Verteidigungsministerium Abhilfe bei den Versorgungsfragen
geschaffen hat. Wir haben ein Einsatzversorgungsgesetz
beschlossen, das diejenigen gegenüber dem bisherigen
Rechtszustand besser stellt, die im Auslandseinsatz einen Unfall erleiden. Herzlichen Dank auch dafür; das ist
eine große Leistung.
Der Verteidigungsausschuss hat in der vergangenen
und in dieser Woche anhand eines Zwischenberichts
über die Zwischenfälle, die im Zusammenhang mit dem
Ort Coesfeld genannt wurden, gesprochen. Dabei
möchte ich die Bürgerinnen und Bürger von Coesfeld
meiner ausdrücklichen Sympathie versichern. Sie haben
im Grunde damit nichts zu tun.
({1})
- Das sage ich auch im Hinblick auf meinen Fraktionsund Parteivorsitzenden. - In diesem Bericht sind
18 Fälle aufgeführt, die in den letzten Wochen gemeldet
wurden und im weitesten Sinne mit den Vorgängen in
Coesfeld vergleichbar sind.
Einer dieser 18 Fälle kann nach dem Stand der Ermittlungen mittlerweile nicht mehr in irgendeinen Zusammenhang mit den dortigen Misshandlungen gebracht
werden. Es handelt sich dabei um eine Übung des Kommandos Spezialkräfte zur Geiselbefreiung in Calw im
September 2004. Bei dieser Übung wurde ein Soldat
durch Glassplitter verletzt. Ursache dafür war fehlerhaftes Material.
Die verbleibenden 17 Fälle lassen sich in drei Kategorien einteilen: Vorfälle der Kategorie 1, die zwar im Zusammenhang mit Coesfeld öffentlich genannt werden,
aber nicht dem Charakter der Fälle dort entsprechen, wie
etwa Gefangennahme, Geiselbefreiung und Ähnliches;
Vorfälle der Kategorie 2, wonach die Ausbildung außer
Kontrolle geriet; Vorfälle der Kategorie 3, nach der Gefangennahme, Geiselbefreiung und ähnliche Tatbestände
geübt wurden, obwohl dies nicht vorgesehen oder gar
ausdrücklich verboten war - wie etwa im Falle Coesfeld.
Der Herr Wehrbeauftragte hat uns auf vier weitere
Fälle hingewiesen. Denen wird derzeit nachgegangen.
Darauf ist auch in dem Zwischenbericht, der dem Verteidigungsausschuss vorliegt, hingewiesen worden.
Ich möchte Ihnen, Herr Präsident, meine Damen und
Herren, sagen, dass sich an meiner persönlichen Bestürzung über diese Vorgänge nichts geändert hat. Es wird
mit allem Nachdruck an der restlosen Aufklärung gearbeitet. Ungeachtet der Ergebnisse habe ich bereits eine
Reihe von Maßnahmen veranlasst: Prüfung durch den
Generalinspekteur, wie in Zukunft solche Vorfälle verhindert werden können, Integration eines Moduls „Innere Führung“ in die einsatzvorbereitende Ausbildung,
Anweisung an die Inspekteure, in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen eine verstärkte Dienstaufsicht
durchzusetzen, und eine Untersuchung darüber, welche
Auswirkungen die Auslandseinsätze auf das „Betriebsklima“ und auf die Gestaltung der Ausbildung haben. Es
ist aber falsch, dass - wie verschiedentlich behauptet
wurde - unsere Soldaten nach einem Auslandseinsatz
„roher“ wären als vor diesem Einsatz. Eher ist das Gegenteil der Fall. Das ergibt sich aus den Erfahrungen, die
ich selbst gemacht habe. Das wissen auch die Kolleginnen und Kollegen, die im Auslandseinsatz tätige Soldaten kennen.
Die Gründe, weswegen das Instrument der Dienstaufsicht die Vorfälle nicht verhindert hat und die Möglichkeit zu Beschwerden und Eingaben nicht wahrgenommen wurde, sind noch nicht bekannt. Allenfalls
können wir darüber spekulieren. Auch sind diese Zusammenhänge vorbehaltlos und sehr schnell aufzuklären. Bis dahin bleiben Mutmaßungen darüber, warum
beide Mechanismen nicht funktioniert haben, reine Spekulation.
Aus den Ergebnissen der Aufklärung werden dann die
entsprechenden Lehren zu ziehen sein. Eines ist jedenfalls ganz klar: Die Bindung an Recht und Gesetz
sowie die Vorschriftenlage sprechen eine unmissverständliche Sprache. Körperliche und psychische Misshandlungen werden in der Bundeswehr unter keinen
Umständen toleriert, meine Damen und Herren,
({2})
auch nicht während der vorbereitenden Ausbildung für
einen Auslandseinsatz am VN-Ausbildungszentrum in
Hammelburg oder bei den Gefechtsübungszentren. Um
bei solchen praktischen Ausbildungsabschnitten eine
physische und psychische Überforderung zu vermeiden,
sind stets auch ein Psychologe sowie Sanitäts- und Sicherheitspersonal zwingend anwesend.
Misshandlungen haben auch nichts mit einer einsatzorientierten, realitätsnahen Ausbildung zu tun. Realitätsnähe findet dort ihre Grenzen, wo Körper und Seele
vorsätzlich Schaden zugefügt wird.
({3})
Da gibt es eine scharfe Grenze zwischen militärischer
Ausbildung, die körperlich wie seelisch sehr anstrengend sein darf und zur bestmöglichen Vorbereitung auf
die Einsätze sogar sein muss, und dem Zufügen von
Schmerzen als Selbstzweck.
All dessen ungeachtet bin ich der Meinung, dass die
Innere Führung nicht das Geringste an Bedeutung verloren hat. Ob sie möglicherweise in Teilbereichen neu
belebt werden muss, wird zu prüfen sein. Klar ist: Es
darf nicht geduldet werden, dass sich in den Streitkräften
aus der Einsatzrealität heraus ein Selbstverständnis bildet, das einseitig einem „Kämpfertypus“ huldigt.
({4})
Im Allgemeinen besteht dieses Selbstverständnis nicht.
Die Soldatinnen und Soldaten verstehen sich nach wie
vor als Staatsbürger in Uniform. Ich weiß das aus eigener Anschauung. Das Parlament und die Öffentlichkeit,
die vor allem wegen der Wehrpflicht hoch sensibilisiert
ist, sorgen hier für ein Höchstmaß an Kontrolle.
Es steht völlig außer Zweifel - Herr Penner hat dankenswerterweise darauf hingewiesen -, dass die Bundeswehr in ihrer Gesamtheit über jeden pauschalen Verdacht erhaben ist.
({5})
Bei aller berechtigten Empörung will ich an dieser Stelle
an die vielen Tausend Ausbilder und Vorgesetzten erinnern, die ihrem Ausbildungsauftrag mit großem Engagement, vorschriftengerecht und sehr erfolgreich nachkommen.
({6})
Diese Soldatinnen und Soldaten haben es verdient, dass
zwischen ihnen und den wenigen Schuldigen klar unterschieden wird.
Abschließend noch ein persönliches Wort an den
Wehrbeauftragten: Dieser Bericht, Herr Dr. Penner, ist
Ihr vierter und zugleich letzter Bericht. Ich möchte mich
persönlich bei Ihnen für Ihre überaus wertvolle Arbeit
bedanken. Sie haben mit Ihrer partnerschaftlichen Zusammenarbeit, Ihrer Fairness und Ihrem großen persönlichen Engagement ein Beispiel gegeben.
({7})
Immer wenn Sie sich zu Wort gemeldet haben, ist überdeutlich geworden, dass Ihnen das Wohl der Bundeswehr und aller ihrer Angehörigen persönlich besonders
am Herzen gelegen hat. Für die „Zeit danach“, Herr Kollege Penner, darf ich Ihnen und Ihrer Familie schon jetzt
alles Gute, Glück und Gesundheit wünschen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich schließe mich gerne dem Dank an den
Wehrbeauftragten, Dr. Penner, an, der heute einen Bericht für das Jahr 2003 vorgelegt hat. Er wird uns auch
für das Jahr 2004 noch einen Bericht vorlegen, den wir
dann parlamentarisch zu behandeln haben werden. Ich
meine, er ist in einem Punkt seiner Verpflichtung besonders gerecht geworden. Er ist Hilfsorgan des Parlaments,
des Bundestages, und er muss den Begriff der Parlamentsarmee in die Realität umsetzen. Das hat er getan.
Er tut das unbequem, mit Worten und Hinweisen. Wenn
man seine Berichte der letzten Jahre, besonders den von
2003, liest, stellt man fest, dass bei der Bundeswehr vieles im Argen liegt. Wir bedanken uns bei dem Wehrbeauftragten, dass er dies auch so ausspricht.
({0})
Ein Hilfsorgan des Parlamentes wie der Wehrbeauftragte muss gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Dafür
ist noch manches zu tun. Der Wehrbeauftragte hat einen
Anspruch darauf, dass die Mitarbeiter, die ihm zur Verfügung stehen, effektiv arbeiten können.
({1})
Daher geht ein Auftrag auch an uns, an das Präsidium,
an den Präsidenten dieses Hauses, hier tätig zu werden.
Ich möchte darum bitten, dass darüber zügiger entschieden wird, als es bisher zu erkennen war.
({2})
Für uns ist dabei allein die Qualifikation und nichts anderes entscheidend. Gerade für den politisch so sensiblen Bereich des Wehrbeauftragten, der über die Einhaltung von Rahmenbedingungen zu berichten hat, spielt
das eine große Rolle.
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist natürlich
ein Mängelbericht. Dass er in seiner Rede auf die aktuellen Vorfälle eingegangen ist, begrüße ich besonders. Wir
Christian Schmidt ({3})
müssen aber einmal grundsätzlich darüber reden, dass
die Vorstellung, man könne die Bundeswehr mit vielen
Aufgaben belegen, die sie irgendwie schon bewältigen
werde, angesichts des Ausbildungsstandes nicht realistisch ist. Das viel beschworene Ende der Fahnenstange
ist erreicht.
An einem Tag, an dem die ersten Flüge zu einem
neuen Einsatz in Afrika stattfinden, muss man sagen:
Die vom Wehrbeauftragten angesprochene Diskrepanz
zwischen den Fähigkeiten der Bundeswehr und ihren
Aufgaben droht zu einem strukturellen und substanziellen Problem für unsere Truppe zu werden. Die Regierung darf der Truppe nicht Aufträge erteilen, ohne ihr
gleichzeitig das Geld und die Mittel zu geben, die sie für
deren Erledigung braucht.
({4})
Gemessen an der Stärke der Bundeswehr sind die
über 6 000 Eingaben in der Tat ein Alarmsignal. Man
kann auch sagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten so
viele Sorgen; denn die Bundeswehr hat den niedrigsten
Personalbestand seit 1961 erreicht. Eine der Ursachen
für die hohe Zahl an Eingaben liegt aber gerade in der
verminderten Truppenstärke begründet. Denn noch nie
hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu bewältigen. Gerade deshalb möchte ich unseren Soldatinnen
und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern für die vorbildliche Pflichterfüllung unter beständig schlechter
werdenden Rahmenbedingungen ganz besonders danken.
Der Alltag in der Bundeswehr ist entgegen rot-grüner
Lesart von tiefer Verunsicherung der Soldaten und ihrer
Familienangehörigen geprägt. Das schöne Wort Transformation vermag unseren Soldaten nicht das Gefühl zu
vermitteln, sie gingen einer gesicherten Zukunft entgegen. Im Gegenteil: Unsere Soldaten haben das Gefühl,
Manövriermasse und Lückenbüßer für finanzielle Engpässe zu sein.
({5})
Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich
durch den kurz- und mittelfristigen Aktionismus dieser
Bundesregierung und die sich gegenseitig überholenden
Reformen tief verunsichert. Ich bedanke mich beim
Wehrbeauftragten, dass er auf diese Probleme deutlich
hingewiesen und von der Notwendigkeit einer Atempause gesprochen hat.
({6})
Berechenbarkeit und Führungsverantwortung aufseiten der politischen Führung der Bundeswehr braucht
man, sucht man aber vergebens. Genau aus diesem
Klima heraus ergeben sich die handfesten Gründe, die zu
den vielen Eingaben an den Wehrbeauftragten führen.
Ich sage klar: Schikanen und Misshandlungen bei der
Ausbildung sind nicht hinnehmbar. Man darf jetzt aber
nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Einsatznahe
Ausbildung in der Bundeswehr bleibt notwendig. Pauschale Diskriminierungen der Ausbildung in der Bundeswehr sind fehl am Platz. Es ist nicht schlecht, wenn
in diesem Punkt ein Konsens in diesem Haus besteht.
Denn wir, die Mitglieder des Parlaments insgesamt,
müssen die Einsätze der Soldaten verantworten. Die
Ausbilder selbst müssen im Rahmen einer angepassten
Ausbildung das Rüstzeug erhalten, um die jungen Soldatinnen und Soldaten fordernd, aber gut und respektvoll
auf ihre Aufgaben vorzubereiten.
Dennoch finde ich es angesichts der Vorfälle an circa
20 Standorten etwas zu kurz gegriffen, wenn der Verteidigungsminister bei der Ursachenforschung auch den zu
geringen Frauenanteil in der Bundeswehr dafür verantwortlich machen will, zumal ich im Zusammenhang
mit der Verbesserung der Arbeit in der Bundeswehr eine
andere Quelle gefunden habe. Das Bundesfamilienministerium hat sich nämlich die Freude geleistet, die Studie „Gewalt gegen Männer“, die nicht pauschal und repräsentativ ist, wie dort dargestellt worden ist,
herauszugeben, in der steht: Drei von fünf Männern, die
Wehrdienst geleistet haben, haben Schikanen, Unterdrückungen, schwere Beleidigungen oder Demütigungen
erfahren. Ein Drittel gibt an, gezwungen worden zu sein,
etwas zu sagen oder zu tun, was sie absolut nicht wollten. Jeder Sechste sei schließlich eingesperrt, gefesselt
oder anderweitig in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden.
Das ist interessant. Wissen Sie, was die Bundesregierung dafür ausgegeben hat, das zu erforschen? Immerhin
stolze 259 281 Euro. Was ist die Konsequenz? Wenn
dem so ist, dass die Mehrzahl der Soldaten das Gefühl
hat, gedemütigt worden zu sein, dann verstehe ich nicht,
dass man hier nur von Einzelfällen spricht.
Damit wir uns klar verstehen: Ich halte diese Studie
für höchst zweifelhaft und für völlig nutzlos.
({7})
Es wundert einen schon, wenn für solche Fragen sinnlos
Geld in einer Größenordnung von Hunderttausenden von
Euro verschleudert wird, statt dass man sich darum kümmert, dass die innere Führung und die Ausbildung bei
der Bundeswehr verbessert werden.
({8})
- Wenn es keine repräsentative Studie ist, wieso erstelle
ich dann überhaupt eine Studie?
Sie, Herr Minister,
({9})
tragen die politische Verantwortung. In dem gerade dargestellten Fall betrifft es die Ministerin eines der anderen
Ressorts. - Aber bei dieser Gesamtproblematik fehlte es
schon an Dienstaufsicht und die beginnt bekanntlich
beim Minister.
({10})
Christian Schmidt ({11})
Es wurde gesagt, die Dienstaufsicht müsse durchgesetzt
werden. Da bin ich doch erstaunt. Die Dienstaufsicht
durchzusetzen ist eine der Grundlagen der Struktur eines
so großen Organs, wie es die Bundeswehr ist.
Auffällig ist, dass seit Februar 2004 mindestens fünf
verschiedene Stellen an nachgeordnete Dienststellen im
Heer Weisungen gegeben haben: Heeresamt, Heeresführungskommando, Generalinspekteur, FüS, Staatssekretär, Minister etc. Ich habe den Eindruck, dass hier die
Rechte nicht so genau weiß, was die Linke macht, bzw.
dass wir eine Straffung der Ausbildungsorganisation und
auch der politischen Vorgaben brauchen. Nicht der Oberfeldwebel oder der Feldwebel, der einmal danebengreift,
ist im Fokus unseres Interesses bei der Frage, welche
Ausbildungsstrukturen die Bundeswehr fähig ist anzubieten. Es scheint, viele Stäbe arbeiten an dieser Frage,
kommen aber zu keiner rechten Entscheidung. Da fällt
mir ein, was einmal Rainer Maria Rilke gedichtet hat:
„Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe“ - und hinter Tausend Stäben keinen Verantwortlichen, füge ich hinzu.
({12})
Eines wird in dem Bericht des Wehrbeauftragten
überdeutlich: die immer größer werdende Kluft zwischen der Einschätzung der inneren Lage der Bundeswehr auf der Ebene der politischen Leitung und militärischen Führung einerseits und vor Ort in unseren
Kasernen andererseits. Hier klafft so viel auseinander,
dass wir uns bei konkreten Vorfällen überlegen müssen,
wie wir die Funktion des Wehrbeauftragten als Frühwarnsystem des Parlaments stärken können. Ich denke,
allein die katastrophal danebengegangene Übung in
Stuttgart, von der über ein Jahr lang niemand - auch der
Wehrbeauftragte nicht, weil ihm keine entsprechenden
Beschwerden vorlagen - informiert worden war, zeigt,
dass wir eine Informationspflicht der Bundesregierung
gegenüber dem Parlament postulieren müssen. Wir müssen uns im Hinblick auf das Gesetz über den Wehrbeauftragten fragen, welche Mechanismen wir dafür finden
können. Es kann nicht sein, dass man von solchen hanebüchenen Fällen wie in Stuttgart, wo immerhin sieben
der Beteiligten - darunter waren auch Wehrpflichtige zu Schaden gekommen sind, nur en passant erfährt.
({13})
Die Motivation der Soldaten ist auf einem Nullpunkt
angekommen. Wir müssen deswegen die Truppe bei den
Reformen mitnehmen. Oft lohnt ein Blick zurück. Ich
habe gehört, es bestehe kein Generalverdacht. Das ist
richtig; das haben wir immer gesagt. Die heutige Regierungskoalition hat sich zwischen 1996 und 1998 allerdings ganz anders verhalten. Im Untersuchungsausschuss wurde über angeblichen Rechtsradikalismus in
der Bundeswehr diskutiert und die Bundeswehr insgesamt infrage gestellt. Einige Mängel und Defizite wurden moniert: Es gäbe eine Verschlechterung des Betriebsklimas. Es gäbe zu viele Vorkommnisse im Bereich
der Menschenführung. Es fehle an wirksamer und führender Dienstaufsicht. Die Grundsätze der Inneren Führung würden nicht beachtet. - Ich frage heute: Wie kann
es sein, dass Sie alles besser und anders machen wollten,
wir heute aber feststellen müssen, dass sich die Defizite
verstärkt haben? Im Abschlussbericht von 1998 stellten
die Sozialdemokraten in ihrem Minderheitenvotum fest:
Die Versäumnisse muss sich der Bundesminister
der Verteidigung persönlich zuschreiben lassen.
({14})
Was heißt das eigentlich heute?
Noch ein Wort zur Wehrpflicht. Frau Sager von den
Grünen konnte sich nicht zurückhalten, die aktuellen
Vorfälle als Nachweis der Gefahr der Wehrpflicht zu bezeichnen. Was für ein politischer Blödsinn.
({15})
Wenn man allerdings keine korrekte Aufgabenbeschreibung für Wehrpflichtige erstellt, weil man etwa die
Frage des Heimatschutzes negiert, dann braucht man
sich nicht zu wundern, wenn einige bei der Grundausbildung auf dumme Gedanken kommen.
Mir passt es nicht, dass sich unter den Kritikern zum
Fehlverhalten in der Bundeswehr auch solche befinden,
die sich klammheimlich darüber freuen, dass sie unsere
Soldaten pauschal verunglimpfen können. Beispielhaft
möchte ich Herrn Wiglaf Droste, einen besonders begnadeten Journalisten, nennen, der für eine nicht stubenreine Vorlesung an der Universität der Bundeswehr laut
„Spiegel“ 856 Euro kassiert hat. Ich darf Ihnen ein Zitat
von Herrn Droste vortragen - Herr Präsident, ich betone,
dass es sich um ein Zitat handelt -:
Mein Mitleid mit deutschen Soldaten, die, wenn
schon nicht im Leben, so doch wenigstens als Leiche zu etwas nütze sein können, hält sich stark in
Grenzen: Sie haben sich freiwillig gemeldet - weil
sie scharf darauf sind, ihr trainiertes Totmacherwissen im Ernstfall auszuprobieren … Soldaten sind
nicht nur Deutschländer-Würstchen, sondern eben
auch: Zinksargfüllmasse.
Da hört für mich jede Toleranz auf. Es ist schwer erträglich, dass dieser Mann dafür auch noch Geld von der
Bundeswehr kassiert.
Bei dem Festakt „40 Jahre Bundeswehr - 5 Jahre Armee der Einheit“ auf der Hofgartenwiese in Bonn hatten
wir die Parole „Soldaten sind Mörder“ im Ohr. Wir haben damals den Vorstoß unternommen, rechtlich klarzustellen, dass so etwas eine Beleidigung der Soldaten der
Bundeswehr ist. Ich vermisse, dass wir uns nicht nur in
Einzelfällen, sondern als Gesellschaft vor die Soldaten,
die wir als Dienstleister im Sinne unserer Sicherheit verstehen, stellen und die Verantwortung miteinander tragen. Hier muss vieles nachgearbeitet werden. Die Bundesregierung hat viel zu tun.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter, lieber Herr Penner! Das Kontrollorgan
Wehrbeauftragter ist weltweit einmalig. Von Soldaten
wird es intensiv in Anspruch genommen. Mit über
6 000 Eingaben im vorigen Jahr wurde die zweithöchste
Anzahl an Eingaben in Relation zum Umfang der Bundeswehr erreicht. Offenbar ist die Bundeswehr keine Armee von Duckmäusern. 30 Prozent dieser Eingaben, also
ungefähr 1800, bezogen sich auf Fragen der Menschenführung und des Wehrrechts. Interessant ist, dass sich
Grundwehrdienstleistende unterproportional oft an den
Wehrbeauftragten wandten.
Das Berichtsjahr 2003 war von dem ersten gezielten
Terrorangriff auf Bundeswehrsoldaten in Kabul, vom
Neustart der Bundeswehrreform - bekannt unter dem
Begriff „Transformation der Bundeswehr“ - und vor allem vom Irakkrieg geprägt. Es ist ein ausgesprochen gutes Zeichen - das wird vom Wehrbeauftragten auch so
bewertet -, dass die Rechtmäßigkeit von Einsätzen unter
Soldaten in diesem Jahr ein besonderes Gesprächsthema
war. Ich muss hierzu anmerken, dass eine Bundesregierung, die die Bundeswehr in den Irakkrieg geschickt
hätte, dem Staatsbürger in Uniform das Rückgrat gebrochen hätte.
Die Übungsexzesse in der Ausbildungskompanie in
Coesfeld und die anderen bekannt gewordenen Fälle widersprechen dem Rechtsverständnis der Bundeswehr,
der Inneren Führung, dem geltenden Recht und sind
auch ein Schlag ins Gesicht der Zehntausenden von Bundeswehrsoldaten, die ihren Dienst ausgezeichnet wahrnehmen.
({0})
Im Fall dieser Ausbildungskompanie kamen verschiedene Momente zusammen: mangelhaftes Unterscheidungsvermögen zwischen so genannter realitätsnaher
Ausbildung und der Grenze zur Verletzung der Menschenwürde, mangelnde Dienstaufsicht und schließlich
Gruppendruck. War das, was in dieser Ausbildungskompanie viermal geschah, die Spitze eines Eisbergs und die
brutalisierende Konsequenz von Auslandseinsätzen, wie
manche in den Medien sagen? Ich meine: Nein. Die anderen inzwischen bekannt gewordenen, gemeldeten
Fälle zeigen den Ausnahmecharakter der Vorfälle in dieser Ausbildungskompanie bezüglich ihres Ausmaßes, ihrer Intensität und der Art des Umgangs mit ihnen, des
langen Beschweigens.
Die Qualität der Ausbildung insgesamt ist am Einsatz der Bundeswehr abzulesen. Dazu stellt der Wehrbeauftragte fest: „In allen Einsatzgebieten wird der Dienst
der Soldatinnen und Soldaten hoch geschätzt.“ Das ist
ausdrücklich keine Höflichkeitsfloskel, sondern eine allgemeine Erfahrung, auch die Erfahrung derjenigen Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus, die diese Einsatzgebiete immer wieder besuchen.
Die aktuell diskutierten Fälle lenken den Blick auf
Probleme, die im Bericht des Wehrbeauftragten klar
benannt werden. Erfolgreiche Ausbildung setzt erforderliche Zeit, ausgebildetes Personal und einsetzbares
Ausbildungsmaterial voraus. Daran hat es, so der Wehrbeauftragte, in nicht wenigen Einheiten und Verbänden
gefehlt. Verursacht wurden diese Ausbildungsmängel
vor allem durch eine Überfrachtung mit verschiedenen
Aufgaben.
Im Hinblick auf die Diskussionen der letzten Wochen
stellt sich vor allen Dingen eine Frage: Was ist überhaupt
eine realitätsnahe Ausbildung angesichts diffuser Bedrohungen und eines sehr breiten Einsatzspektrums, angesichts der Einsatzmethoden von US-Streitkräften im
Irak und angesichts einer Rambowelt in Videos und Computerspielen? Bundeswehrsoldaten müssen ausgebildet
werden für das so genannte Gefecht der verbundenen
Waffen - sprich: für den massiven militärischen Gewalteinsatz im Rahmen des Völkerrechts -, für Friedenseinsätze mit polizeiähnlichen Gewaltfähigkeiten und für die
humanitäre Hilfe. Neben militärischen Fähigkeiten sind
also quasipolizeiliche Fähigkeiten, soziale und interkulturelle Kompetenz, schnelle Entscheidungsfähigkeit und
Verhaltenssicherheit gefordert, und das von Soldatinnen
und Soldaten mit immer niedrigeren Dienstgraden. Der
eindimensionale Kämpfertyp wäre hier völlig überfordert
und völlig fehl am Platz.
Deshalb gehört zur realitätsnahen Ausbildung in der
Tat auch die Vorbereitung auf den schlimmsten Fall, auf
Extremsituationen wie Verwundungen, Tod und Geiselnahme. Aber es ist klar - das konnten wir in der vorigen
Woche in Hammelburg erleben -, dass diese Situationen,
in denen man an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit stößt, nur von Professionellen geprobt werden dürfen, und zwar unter strengster Kontrolle, mit psychologischer Begleitung und in klaren Grenzen. Das hat sich
sehr deutlich gezeigt.
Zur so genannten realitätsnahen Ausbildung gehören
aber auch die Grundsätze der Inneren Führung, das Völkerrecht und die politische Bildung. Dies ist kein Luxusartikel, sondern für erfolgreiche Einsätze absolut notwendig. Hier benennt der Wehrbeauftragte seit Jahren
das zentrale Defizit, dass die politische Bildung immer
wieder anderen Diensterfordernissen hintangestellt
werde. Wir müssen uns darüber klar sein, dass es angesichts einer sehr heterogenen Klientel von Soldaten und
Rekruten und angesichts einer Politik, die von vielen
Bürgerinnen und Bürgern als unattraktiv und uninteressant wahrgenommen wird, besonders schwierig ist, zur
politischen Bildung beizutragen.
Im Falle von Coesfeld versagte auch die - ich will sie
einmal so nennen - erste Linie der Frühwarnung: das
System der Vertrauensleute und die Soldatenbeteiligung.
Das verweist auf eine Mängelanzeige des Wehrbeauftragten, die er bereits seit Jahren zum Ausdruck bringt:
Die Vielzahl der Fälle und die Schwere der Verstöße
gegen bestehende Bestimmungen geben Anlass zu
der Bemerkung: Soldatenbeteiligung ist gesetzlich
vorgeschrieben. Sie dient der sachgerechten Entscheidungsfindung und stärkt die Stellung des
Staatsbürgers in Uniform. Alle Vorgesetzten haben
die Beteiligungsrechte zu achten und dem Gesetz
Geltung zu verschaffen.
Das muss endlich ernst genommen werden.
Wie wirken sich schließlich Auslandseinsätze, die
Erfahrung von Macht, Stärke, aber auch Machtlosigkeit
auf Einstellung und Verhalten von Soldaten aus? Wir
Abgeordnete im Verteidigungsbereich kennen sehr viele
Soldaten, die ernsthafter, verantwortungsbewusster und
politisch überlegter aus dem Ausland zurückkommen.
Von einer pauschalen Brutalisierungswirkung kann
keine Rede sein. Trotzdem: Über latente und langfristige
Erfahrungs- und Lernprozesse wissen wir zu wenig,
brauchen wir wissenschaftliche Untersuchungen, die
Parlament und Öffentlichkeit zugänglich sind.
Seit September 2001 hat deutsche Sicherheitspolitik
eine enorme Entgrenzung erfahren. Wir brauchen in
nächster Zeit dringend eine Diskussion und Verständigung über neue Grenzen des Bundeswehrauftrages und
die Aufgaben der Soldaten. Wir haben uns vor einer
Überforderung der Soldaten vorzusehen. Sie sind keine
Alleskönner.
Zum Schluss: Der Wehrbeauftragte ist Hilfsorgan der
parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte. Er bedarf
selbstverständlich einer ausreichenden personellen Ausstattung. Wenn die Position des Leitenden Beamten im
Amt des Wehrbeauftragten seit drei Monaten unbesetzt
ist, dann ist das ausgesprochen unglücklich und sollte
schnell abgestellt werden.
({1})
Umso mehr danke ich Ihnen, lieber Herr Dr. Penner, und
Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen meiner Fraktion für die hervorragend geleistete Arbeit.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Daub von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Dr. Penner! Kollegen und Kolleginnen! Jährlich wird der Bericht des Wehrbeauftragten debattiert. Dennoch ist es dieses Mal nicht wie sonst, aber
darauf komme ich noch.
Der Jahresbericht 2003 zeigt Handlungsbedarf für die
Innere Führung, aber in hohem Maße auch für die Politik
auf. Eindeutig ist ein Motivationsrückgang bei den Soldatinnen und Soldaten zu beklagen. Die Bereitschaft,
Reformen mitzutragen, sinkt weiter, und das aus mehreren Gründen: Spezialisten werden zu häufig in Einsätze
geschickt. Die Beförderungspraxis wird beanstandet.
Wir haben noch immer keine Gleichsetzung der Besoldung in Ost und West, obwohl diese Forderung von uns
immer wieder erhoben wird. Die Unsicherheit, wie es
mit der Bundeswehr weitergehen wird, darf auch nicht
unterschätzt werden. - Die schwindende Zahl von Berufssoldat-Bewerbern sollte von uns als Alarmsignal begriffen werden. Wir dürfen es nicht auf die leichte Schulter nehmen, wenn gut ausgebildete Männer und Frauen
sich gegen die Bundeswehr entscheiden. Wir brauchen
sie, um eine Bundeswehr des Niveaus zu haben, das wir
uns wünschen.
({0})
Ein sehr zu Recht geäußerter Kritikpunkt bezüglich
der Auslandseinsätze ist die Kluft zwischen vorbereitender Ausbildung in Deutschland und der Wirklichkeit
im Einsatzland. Man kann nicht zu Hause an anderem
Gerät üben, als man es dann am Einsatzort vorfindet.
Noch einmal zur Besoldung. Die FDP fordert, wie
Sie wissen, seit langem eine eigene Besoldungsregelung
für Soldaten. Der Soldatenberuf ist eben nicht mit anderen Berufsfeldern des öffentlichen Dienstes vergleichbar.
Arbeits- und Gefahrenumfeld sind andere als bei Beamten oder Richtern. Deshalb hält die FDP die schnelle
Einführung einer eigenen Besoldungsordnung für Soldaten, die selbstverständlich an die Beamtenbesoldung anzulehnen ist, für wichtiger denn je.
({1})
So könnte auch die von der Bundesregierung veranlasste erneute Absenkung der Pensionen für Soldaten
und Soldatinnen unterer Dienstgrade zumindest erträglicher gestaltet werden.
({2})
Wir können nicht auf der einen Seite den Soldaten immer mehr abverlangen und auf der anderen Seite bei ihnen immer mehr kürzen.
Bedenklich stimmen muss uns der Anstieg der Eingaben zu Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch. Suchtberatung wird zwar angeboten - auch über das Internet -,
aber ein Mausklick ersetzt nicht die Hilfe von Kameraden und Vorgesetzten.
Positiv zu vermerken war der Zuwachs an Bewerberinnen bei der Bundeswehr. Vielleicht kann hier das
Gleichstellungsgesetz weitere positive Auswirkungen
haben. In diesem Zusammenhang stelle ich erneut fest,
dass sich die FDP stets gegen jede Form der Quote aussprechen wird. Glauben Sie mir: Die Soldatinnen wollen
weder Quotenfrauen sein noch eine irgendwie geartete
Bevorzugung erfahren.
Im Plenum entsteht oft der Eindruck, dass sich Regierung und Opposition nur streiten. Oft ist dies so; umso
schöner ist es, dass es auch gegenteilige Beispiele gibt.
Hier nenne ich das Einsatzversorgungsgesetz, das von
allen Fraktionen gefordert und inzwischen durchgesetzt
wurde. Es beinhaltet Regelungen zugunsten von verletzten Soldatinnen und Soldaten sowie im schlimmsten Fall
zugunsten von Hinterbliebenen.
Die Bundeswehr ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wie in Betrieben und Konzernen mussten wir
auch hier von Mobbing sowie von Misshandlungsfällen
von Kameraden untereinander erfahren.
Wir können nicht über den Wehrbeauftragtenbericht
2003 sprechen, ohne auf die jüngsten Ereignisse einzugehen. Ich verzichte darauf, alle Einzelfälle aufzulisten;
davon war in der Debatte bereits die Rede. Angesichts
der erhobenen Vorwürfe ist allerdings die Frage zu
stellen, ob die Verfahrenswege zwischen Wehrbeauftragtem, Ministerium und Parlament nicht stark verbesserungswürdig sind. Macht es nicht Sinn, Zwischenberichte zu fordern, wenn Untersuchungen langwierig sind
und der Wehrbeauftragte noch keine endgültigen Antworten geben kann? Ich halte es für äußerst unbefriedigend und in die falsche Richtung weisend - ich drücke
mich hier vorsichtig aus -, dass wir nach Monaten aus
der Zeitung erfahren, was sich alles an Vorfällen angehäuft hat.
({3})
Auf jeden Fall zeigt sich, wie wichtig das Amt des
Wehrbeauftragten ist und wie wichtig es bleibt, egal in
welcher Wehrform. Die Ereignisse, die in den letzten
Wochen die Diskussion beherrscht haben, zeigen vor allem eines: Die Innere Führung ist gefragt. Natürlich
sind die bekannt gewordenen Beispiele nicht für die
Bundeswehr repräsentativ - dies ist hier sicherlich Konsens -; je früher man aber die Möglichkeit zu einer Reaktion erhält, desto eher kann man auch diejenigen
schützen, die das positive Bild der Bundeswehr in unsere
Gesellschaft tragen.
Die militärische Führung der Bundeswehr hat im
Rahmen der Inneren Führung nicht energisch genug gehandelt, wahrscheinlich aufgrund der seit über einem
Jahrzehnt andauernden Überforderung durch permanente Umstrukturierungen und durch eine erhebliche Zunahme der Auslandseinsätze. Und die politische Führung? Wird wirklich genug getan, um die Überlastung
aller Vorgesetzten durch eine sich immer weiter öffnende
Schere zwischen Auftrag und den zur Verfügung stehenden Mittel zu beenden oder wenigstens zu mildern?
Wir alle müssen uns ebenfalls ein wenig an die eigene
Nase fassen. Dass die jüngsten Vorfälle letztlich so überrascht haben, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir
uns zu sicher gefühlt und gedacht haben, so etwas könne
bei uns nicht passieren, wobei bei einigen wieder einmal
die Wehrpflicht als Grund herhalten musste, warum so
etwas bei uns nicht möglich sein sollte.
({4})
Schlimme Finger gibt es überall, sowohl in Freiwilligenals auch in Wehrpflichtarmeen. Dies sollten wir uns ständig vor Augen halten und deshalb sollten wir uns eine
entsprechende Kritikfähigkeit erhalten. Auch dafür ist
der Bericht des Wehrbeauftragten unerlässlich.
Herr Dr. Penner, die FDP-Fraktion dankt Ihnen und
Ihren Mitarbeitern für die Erstellung dieses sachlichen
und offenen Berichts.
({5})
Wir sprechen von Transformation der Bundeswehr,
wir sprechen über Zahlen, über Geld, über Beschaffungen und andere Projekte. Wir müssen aufpassen, dass
neben all diesen notwendigen betriebswirtschaftlichen
Aspekten der so wichtige Faktor „soziale Kompetenz“
von uns nicht übersehen wird.
({6})
Die Bundeswehr befindet sich im Wandel. Wir alle
wollen und müssen diesen Wandel in allen Bereichen
mittragen und unterstützen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir beraten heute zum letzten Mal über einen Jahresbericht, der in Verantwortung des Wehrbeauftragten
Dr. Willfried Penner vorgelegt wurde. Die Zahl der Eingaben ist sicherlich kein Maßstab für eine Bewertung,
aber über 6 000 Beschwernisse zeigen doch eines: Die
Soldaten vertrauen dem Wehrbeauftragten und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für die geleistete Arbeit bedanke ich mich an dieser Stelle recht herzlich bei
Herrn Dr. Penner und all seinen Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Selbstverständlich - Herr Kollege Schmidt hat das
Problem angesprochen - braucht der Wehrbeauftragte
auch das richtige Personal. Natürlich wollen wir alle,
dass offene Stellen zügig besetzt werden. Ich muss aber
noch einen Satz hinzufügen: Die Auswahl des Personals
liegt nicht in der Verantwortung und ist nicht Sache der
Parlamentarier. Wir tun gut daran, immer wieder zu berücksichtigen, dass jede öffentliche Erörterung den Beteiligten mehr schadet als Nutzen bringt. Entsprechend
bitte ich dies auch zu behandeln.
({1})
Wie in den vergangenen Jahren umfasst der Jahresbericht auch Misshandlungen von Untergebenen. Zur
Relation: Eine der 60 Seiten des Jahresberichtes befasst
sich mit Misshandlungen in der Truppe. Die Vorfälle von
Coesfeld haben dieser Passage in der öffentlichen wie
auch in der heutigen Debatte allerdings ein besonders
starkes Gewicht gegeben.
Eines kann ich nicht verstehen: Hier wird der Verteidigungsminister kritisiert, obwohl er dazu aufgerufen
hat, darüber hinausgehende Vorfälle zu melden. Der Verteidigungsminister hat uns Verteidigungspolitikern einen
Zwischenbericht über 18 Fälle vorgelegt. Wir werden
laufend unterrichtet.
({2})
Die Bundeswehr selbst arbeitet dies in einem sehr transparenten, offenen Verfahren ab, das in anderen Streitmächten beileibe nicht selbstverständlich ist. Wir werden gut unterrichtet. Dieses offensive Vorgehen des
Ministers begrüßen wir ausdrücklich.
({3})
Es gibt nämlich überhaupt nichts zu vertuschen. Vorfälle
werden strafrechtlich aufgearbeitet und disziplinarrechtlich geahndet.
Das ist aber nur die eine, die formale Seite. Wir sollten auch die andere Seite betrachten. Selbstverständlich
gibt es eine politische Diskussion und eine politische Bewertung. Eines möchte ich vorausschicken: Es ist klar
geworden, dass Coesfeld nicht überall ist. Keiner der anderen genannten Fälle ist hinsichtlich der Dimension mit
Coesfeld vergleichbar. Dort ging es nicht nur um unwürdige Behandlung, sondern um körperliche, aber auch
seelische Misshandlungen. Trotzdem hat dies nichts mit
Folter zu tun. In dieser Hinsicht sollte man in der Betrachtung sicherlich Acht geben.
Das macht Coesfeld natürlich nicht entschuldbar.
Wenn Ausbilder triumphierend über ihre Untergebenen
vor der Kamera posieren, dann ist dies selbstverständlich
ein ziemlich schlimmer Vorfall, der nicht hinnehmbar
ist. Deshalb ist es richtig, dass der Minister die Verfehlungen mit aller Konsequenz ahndet.
Eines sollte uns beschäftigen: In Coesfeld gibt es sehr
viele Beteiligte - Opfer, aber auch Täter. Wenn sich bei
über hundert Beteiligten niemand bei der Instanz des
Wehrbeauftragten meldet, so ist dies für mich durchaus
ein Grund zur Nachdenklichkeit. Wir müssen erforschen, warum dies so ist. Gruppendynamisches Verhalten mag eine Rolle spielen; möglicherweise will in einer
solchen Situation keiner als Weichling gelten. Möglicherweise wissen Rekruten auch nicht, was ihnen im
Sinne von harter Ausbildung, die sie an die Grenze ihrer
Leistungsfähigkeit führt, zugemutet werden darf und zugemutet werden muss. Vielleicht ist es auch ein Stück
weit ein Reflex auf gesellschaftliche Veränderungen. Ich
frage mich durchaus, inwieweit junge Leute noch bereit
sind, ihre Rechte in unserer Gesellschaft formal richtig
einzufordern. All dies sollten wir miteinander sehr sorgsam untersuchen; darüber sind wir uns auch einig.
Anders als in den vergangenen Jahren ist die Bundeswehr heute weltweit im Einsatz und es ist klar: Die Ausbildung muss dies widerspiegeln. Es gibt eine veränderte, eine härtere Einsatzrealität. Geiselnahmen und
das Üben dieser Situation, um den psychischen Stress
besser aushalten zu können, haben allerdings nicht die
Dimension, wie sie im Augenblick öffentlich wahrgenommen wird. Die Gefahr einer Geiselnahme ist nicht
das größte, sondern ein sehr kleines Risiko im Einsatz.
In der Ausbildung hat sie deshalb auch nur einen kleinen
Stellenwert; sie wird nur einige Stunden lang behandelt.
Ich glaube, das müssen wir im Bild wieder zurechtrücken. Das ist nicht der Schwerpunkt.
Im Rahmen der Ausbildung bezüglich des Verhaltens
bei einer Geiselnahme ist es auch in anderen Truppenteilen zu schlechtem Führungsverhalten und fachlichen
Fehlern gekommen. Individuelles Fehlverhalten sollte
sicherlich nicht vorkommen. Ich glaube, der entscheidende Punkt ist: Wir müssen schauen und die militärische Führung muss mit den Kommandeuren und den
Kompaniechefs darüber reden, wie Truppenführung und
Verantwortung ausgeübt werden. Arbeit kann man delegieren, die Verantwortung letztlich aber nicht. Ich erwarte schon, dass ein Kompaniechef im Truppenalltag
so dicht bei seinen Kameraden ist, dass er Veränderungen im Geist der Truppe sensibel wahrnehmen und sehr
frühzeitig reagieren kann. Die Vorfälle in Coesfeld sind
letztlich nicht über Nacht gekommen. Eine solche Dynamik entsteht über einen längeren Zeitraum. Ich glaube,
das ist ein ganz entscheidender Punkt. Hier werden die
Politik und die militärisch Verantwortlichen ansetzen.
Als Letztes hierzu: Bei aller Kritik und disziplinarrechtlicher Abwicklung haben auch die Soldaten, die
Fehler gemacht haben, eine zweite Chance verdient. Vergessen wir bei der Bewertung bitte nicht, dass wir von
jungen Männern zwischen 22 und 25 Jahren reden, die
Hilfe brauchen, um sich selbst in ihrer Rolle zurechtfinden und definieren zu können. Natürlich ist der Begriff
der Inneren Führung für den einen oder anderen eher
abstrakt und natürlich gab es eine von dem einen oder
anderen ausgeschiedenen General - ich bin froh, dass
manche ausgeschieden sind - angestoßene Debatte darüber, ob die Innere Führung noch ein zeitgemäßes
Instrument bei einer Armee im Einsatz ist. Ich sage eindeutig: Ja. Gerade im Bereich der Krisenbewältigung ist
die Innere Führung notwendig. Der Wehrbeauftragte hat
bereits in dem 42. Jahresbericht etwas ganz Wichtiges
festgestellt: Die Innere Führung bedeutet nichts Geringeres als die Verwirklichung staatlicher und gesellschaftlicher Normen in den Streitkräften. Ich glaube, besser
kann man diesen Begriff nicht definieren.
Man muss reflektieren, ob Auslandseinsätze Soldaten verändern. Ich denke, man sollte sich das genau anschauen. Eines stimmt: Krieg verändert Menschen. Die
Bundeswehr ist aber nicht im Krieg. Sie hat andere Aufgaben, zum Beispiel die Sicherung von Stabilität. Meine
Beobachtung ist: Wer eine Zivilgesellschaft implementieren will - das ist der Auftrag auf dem Balkan und in
Afghanistan -, der wird das letztlich nicht allein mit
Waffengewalt und Härte können. Er muss sich gelegentlich zwar durchsetzen, aber um eine Zivilgesellschaft
aufzubauen, sind genau die gesellschaftlichen Prinzipien
notwendig, die die Innere Führung der Bundeswehr beinhaltet. Nur wenn sich Soldaten auch im Auslandseinsatz entsprechend verhalten und die Bürgerinnen und
Bürger das merken, sind sie glaubhafte Partner beim
Aufbau von Nationen. Deshalb ist die Innere Führung
der Schlüssel für den Erfolg der Einsätze im Ausland.
All die schrecklichen Ereignisse im Irak zeigen, dass es
allein mit Waffen nicht funktionieren wird.
Meine Beobachtung ist: Die Soldaten, die aus dem
Einsatz zurückkommen, haben sich in der Tat verändert,
und zwar positiv. Sie haben einen erweiterten Horizont;
denn sie haben Menschen in Not und Bedrängnis und andere Situationen als in unserer wohlbehüteten deutschen
Gesellschaft kennen gelernt. Die Soldaten haben eine
positive Entwicklung durchgemacht und bringen ihre
Eindrücke in die Truppe ein.
Eines sollten wir allerdings nochmals miteinander besprechen: Vielleicht lassen wir die Soldaten im AuslandsRainer Arnold
einsatz politisch ein wenig allein. Früher war es sehr einfach: Zur Zeit des Kalten Krieges hat jeder Soldat
gewusst, wo der potenzielle Feind ist und auf was er vorbereitet wird. Es gab ein einfaches und klares Szenario.
Heute ist bei der Vorbereitung alles vielschichtiger und
viel komplexer. Jeder Soldat ist ein humanitärer Helfer,
der Brunnen baut, und ein Polizist. Daneben muss er
eine abgestufte militärische Reaktionsfähigkeit besitzen
und militärisch-robust auftreten. Für das ganze Spektrum muss er ausgebildet sein. Ich glaube, wir müssen
helfen, dass sich die Soldaten bei diesem Spagat richtig
definieren können, damit klar wird, dass ein militärischrobustes Auftreten und humanitäre Hilfe keine Gegensätze sind und für eine erfolgreiche Auftragserfüllung
beides zusammengehört. Erst wenn es uns gelingt, dass
sich Soldaten hier richtig einordnen, haben wir einen
wichtigen Schritt im Bereich der Inneren Führung getan,
sodass jeder sieht: Die Innere Führung ist der Alltag.
Das heißt für mich - ich komme zu meinen Folgerungen -: Natürlich ist es gut, dass der Generalinspekteur
jetzt in die Ausbildung das Modul der Inneren Führung
einbaut. Aber ich weiß, dass dem 18-jährigen Soldaten
ein rein intellektuelles Nähern an das Thema Innere Führung nicht helfen wird. Innere Führung muss er erleben
und erfahren, durch vorbildliches, beispielhaftes Verhalten seiner führenden Soldaten. Wenn er dies im Truppenalltag spürt, dann hat er etwas gelernt. Deshalb ist diese
Reflexion notwendig. Natürlich hat auch Weiterbildung
einen hohen Stellenwert, nicht nur militärfachliche,
sondern auch Weiterbildung in Menschenführung und
Persönlichkeitsentwicklung. Ebenso muss in Zukunft
Personalführung ein wichtiges Modul der Weiterbildung
werden.
Ich stimme dem Wehrbeauftragten in einem Punkt
ausdrücklich zu: Wir muten den Soldaten im Augenblick
viele Prozesse gleichzeitig zu: Auslandseinsätze und
eine interne Transformation mit tief greifenden Veränderungen in der Truppe. Gleichzeitig sollen sie ständig dazulernen. All dies soll parallel ablaufen. Dass dies auch
aufgrund der Zeitknappheit zu Verwerfungen führt, ist
für mich ganz normal. Dies darf Verfehlungen zwar
nicht entschuldigen, aber wir sollten diesen Rahmen sehr
wohl berücksichtigen. Wenn wir Kritik üben, sollten wir
den Soldaten gleichzeitig unseren Respekt davor zuteil
werden lassen, dass sie diese Aufgaben parallel zu bewältigen haben, und ihnen danken, dass sie nicht jammern.
Es ist aber nicht so, wie der Kollege Schmidt gesagt
hat, dass sie unter dieser Transformation leiden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Soldaten erklären: Ihr habt politisch richtig entschieden. Wir wollen diesen Wandel. Wir
wollen zum Schluss eine einsatzfähigere Armee werden. - Die Soldaten machen also durchaus mit. Ich habe
den allergrößten Respekt vor all denen, die das so bewerten. Ich bin sehr sicher, dass es der Truppe gelingen
wird, diesen komplizierten Transformationsprozess erfolgreich zu Ende zu führen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben heute im Plenum den Bericht des Wehrbeauftragten zu beraten, der, obwohl über ein halbes Jahr alt,
plötzlich ungeahnte Aktualität bekommen hat, eine Aktualität, auf die wir alle, die wir mit der Bundeswehr verbunden sind, gerne verzichtet hätten.
Coesfeld ist das Stichwort, an dem sich die Gemüter
erhitzen und an dem auch wir heute nicht vorbeikommen. Die Reaktion auf die Geschehnisse in Coesfeld und
anderen Orten zeigt, dass die Situation in den Streitkräften den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb der Kasernen nicht egal ist. Die Ereignisse, auf die ich hier nicht
noch einmal eingehen muss, haben Amt und Amtsführung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
sowie die Umsetzung des Prinzips der Inneren Führung
in die Schlagzeilen der Medien gehoben. Es ist nur natürlich, dass sich nun auch das Plenum des Bundestages
mit der inneren Lage der Bundeswehr beschäftigt.
Nun zum Bericht des Wehrbeauftragten. Viele altbekannte Probleme des Jahres 2002 sind auch 2003 relevant geblieben. Dazu gehören zum Beispiel die Eingaben zum Attraktivitätsprogramm, in dem sich viele
altgediente Unteroffiziere zu Recht benachteiligt sehen.
Die Wahrheit ist: Der Fachdienstunteroffizier wird in
den Kompanien oft als Belastung wahrgenommen, weil
er für den Wachdienst und die allgemeinmilitärische
Ausbildung nicht zur Verfügung steht.
Es gibt Eingaben zur Integration der Soldatinnen in
die Streitkräfte. Hier zeigt sich erfreulicherweise eine
zunehmende Normalität. Die von fast allen Soldatinnen
gewünschte Unaufgeregtheit setzt sich durch. Eine offene Wunde bleibt jedoch die Familienbetreuung - darauf hat auch der Minister hingewiesen -, bei der weiterhin erhebliche Defizite festzustellen sind. Mit der Umsetzung des neuen Stationierungskonzeptes muss die
Bundesregierung endlich ein neues, konzeptionell und
strukturell besseres, modernes Familienbetreuungskonzept vorlegen. Dieses Signal muss von der heutigen Debatte ausgehen. Ein intaktes Familienleben stärkt die Berufszufriedenheit der Soldatinnen und Soldaten und ist
zentrales Element der Inneren Führung. Der Antrag unserer Fraktion „Frauen und Familien in der Bundeswehr
stärken und fördern“ zeigt hier den richtigen Weg.
({0})
Die vielen Eingaben zur mangelhaften Bearbeitung
von Personalsachen und die permanenten Ärgernisse bei
Besoldung und Versorgung sind Beleg für eine gereizte
Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten. Die
unzureichende Einsatzversorgung - ebenfalls Inhalt
vieler Eingaben - konnte inzwischen verbessert werden.
Manche der genannten Probleme scheinen in der Natur
des Menschen zu liegen. Fehler lassen sich dort, wo
Menschen agieren, nie völlig abstellen. Aber es gibt
Anita Schäfer ({1})
auch eine Vielzahl hausgemachter Probleme, für die
diese Bundesregierung die Verantwortung trägt und die
mit dem Umbau der Streitkräfte zu tun haben. Wie in anderen Bereichen auch scheinen Reformen für die rotgrüne Bundesregierung zum Selbstzweck geworden zu
sein. Besonders schlimm dabei: Die Regierung hat im
selbst angerichteten Reformchaos den Überblick verloren. Wenn dies schon für die Regierung gilt, wie sollen
dann die betroffenen Menschen noch die Orientierung
behalten?
Besonders bedrücken mich die Aussagen des Wehrbeauftragten zur Stimmung in der Bundeswehr. So bemängeln die Soldatinnen und Soldaten seit Jahren erfolglos,
dass häufig klare Ausbildungsziele fehlen, dass es an
Material und Personal für die Ausbildung mangelt, dass
ihnen der politische Sinn ihres Dienstes nicht mehr vermittelt wird und dass Anspruch und Wirklichkeit immer
häufiger auseinander klaffen.
Es gibt zwei weitere Themen, bei denen die Bundesregierung offenbar unfähig oder nicht willens ist, offensichtliche Erkenntnisse umzusetzen. So findet sich ein
Kapitel im Bericht des Wehrbeauftragten, das sich erfreulich und unerfreulich zugleich heraushebt: die Eingabe zahlreicher Reservisten. Hier klagen in den meisten
Fällen Soldaten darüber, dass sie ihre Leistung nicht einbringen können. Bürokratie und schlechte Planung machen es oft unmöglich, dass ihre Einsatzbereitschaft und
hohe Motivation genutzt werden können. Wie wichtig
und geradezu unentbehrlich Reservisten sind, zeigt der
vorliegende Bericht sehr eindrucksvoll. Schauen Sie einmal in das Kapitel 1.5, „Bearbeitung von Eingaben“.
Das Sanitätsführungskommando bekommt massive Kritik zu hören, worauf das Ministerium entgegnet: Der Inspekteur des Sanitätsdienstes hat sich der Problematik
angenommen. - Eine solche Antwort ist, gelinde gesagt,
eine Frechheit, denn sie beinhaltet erstens eine Selbstverständlichkeit und ist zweitens auch noch nichtssagend. Herr Staatssekretär, wissen Sie eigentlich, wie der
Sanitätsdienst das Problem lösen will? Mit Reservisten.
Im Internet sucht das Sanitätsführungskommando händeringend Reservisten, die für diese Aufgabe geeignet
sind.
Zu einem weiteren Thema: Im Bericht finden sich
umfangreiche Passagen zur allgemeinen Wehrpflicht,
wenn auch die Anzahl der einschlägigen Petitionen zurückgegangen ist. Hier äußert sich das Ministerium sehr
ausführlich, aber wenig zielführend, während es sich zu
anderen Themen des Berichtes recht knapp äußert. Von
zentraler Bedeutung bei der Frage der Wehrpflicht ist die
Dienstgerechtigkeit. Ich wundere mich sehr, warum Ihr
Haus noch immer davon spricht, dass es kein großes
Problem mit der Dienstgerechtigkeit gebe. So auch in
dem vorliegenden Bericht. Warum glauben Sie eigentlich nicht dem bundeswehreigenen Sozialwissenschaftlichen Institut und beziehen dessen Erkenntnisse in Ihre
Argumentation ein? In einer SOWI-Studie heißt es beispielsweise:
Diese demografische Entwicklung wird sich auf die
Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr nachhaltig
auswirken: Zum einen wird das Bewerberpotential
insgesamt kleiner und zum anderen wird sich der
Wettbewerb um die besser gebildeten, höher motivierten und erfolgsorientierten Jugendlichen verschärfen.
Die Konsequenz kann doch nur lauten: Die Wehrpflicht
wird in Zukunft also wichtiger denn je.
({2})
Jeder innerhalb und außerhalb des Hauses kennt die
demographischen Entwicklungen, vor denen wir stehen,
und die entsprechenden Herausforderungen. Wir wissen,
dass sich in wenigen Jahren die Diskussion über die
Dienstgerechtigkeit erledigt haben wird. Herr Staatssekretär, warum benutzen Sie nicht offensiv diese Erkenntnisse? Der Minister redet der Wehrpflicht nur noch halbherzig das Wort, im Innersten hat er sich doch längst von
ihr verabschiedet.
({3})
Den größten Teil der Eingaben macht der Bereich
Innere Führung aus.
({4})
Im vorliegenden Bericht sind Misshandlungsfälle enthalten, die aber auch nicht nur andeutungsweise mit denen
in Coesfeld zu vergleichen sind.
Die aktuellen Vorfälle, die der Wehrbeauftragte
zwangsläufig noch nicht in seinen Jahresbericht aufnehmen konnte, sind jedoch nicht isoliert zu betrachten; sie
stehen vielmehr in einem größeren Zusammenhang. Das
Bundesministerium der Verteidigung bewertet in der
vorliegenden Stellungnahme zum Jahresbericht die innere Lage der Bundeswehr für das Jahr 2003 als „noch
stabil“. Diese Formulierung muss man sich auf der
Zunge zergehen lassen: „noch stabil“. Bedeutet dies,
dass das Ministerium bei der Abfassung seiner Antwort
schon Unheil ahnte, dass es am Erfolg der Inneren Führung bereits zweifelte und die Situation nur noch in
Sonntagsansprachen schönredete? Die Misshandlungen
zeigen deutlich: Die innere Lage der Bundeswehr ist
2004 leider nicht mehr stabil, wobei Coesfeld nur als Synonym gelten kann.
Herr Minister, im Frühjahr haben Sie und die gesamte
politische Führung Ihres Hauses immer wieder gesagt:
Die Ausbildung aller Soldaten muss auf die Einsatzerfordernisse ausgerichtet werden. Auf der Wehrpflichttagung des Beirats für Innere Führung im Mai dieses Jahres wurde dies ausdrücklich auch für die allgemeine
Grundausbildung festgestellt. Ich darf aus der Ausgabe
von „aktuell - Zeitung für die Bundeswehr“ vom 1. Juni
zitieren:
Den Wehrdienst attraktiver zu machen, ihn sinnvoll
zu gestalten und den neuen Herausforderungen an
Streitkräfte in der Transformation anzupassen, das
war Schwerpunkt des Beitrages des Generalinspekteurs …
Dann folgte ein Satz, den wohl so mancher Ausbilder
falsch verstanden hat:
Anita Schäfer ({5})
Einsatzrealität und Einsatzerfahrung sollen alsbald
die Ausbildung aller Mannschaftsdienstgrade bestimmen.
Für mich stellt sich nun die Frage, was die Truppe gelesen hat: die Bundeswehrzeitung „aktuell“ oder den Befehl, mit dem Geiselnahmen untersagt wurden?
Ich muss daran erinnern, dass die Grundausbildung
nach neuen Befehlen erst im Oktober aufgenommen
wurde. Einen Sommer lang blieb die Truppe im Ungewissen. Sie schwebte zwischen politischen Äußerungen
und fehlenden neuen Ausbildungsanweisungen. Dazu
kamen noch all die Probleme, die wir in den Berichten
des Wehrbeauftragten nachlesen können: zu wenig Personal, fehlendes Material und zu viele Aufträge. Bei einer solchen Mangelwirtschaft leiden Ausbildung und politische Bildung. Lesen Sie doch einmal Kapitel 3.12 des
Berichts!
({6})
Hier liegt das Problem, das durch die Einsätze erst
richtig ernst wird. Nicht von ungefähr hat daher der Verteidigungsausschuss den Unterausschuss „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ eingesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die politische Führung der Bundeswehr steht an dieser Stelle in der Verantwortung. Die bekannt gewordenen Misshandlungen
sind meiner Meinung nach dramatische Einzelfälle. Das
Umfeld dafür hat jedoch die politische Führung zu verantworten. Die mangelnde Bereitschaft vieler Soldatinnen und Soldaten, Schikanen, Demütigungen und Misshandlungen an den Wehrbeauftragten zu melden, muss
uns besonders zu denken geben.
Zum einen ist der Begriff „Innere Führung“ für viele
schwammig geworden und muss daher weiterentwickelt
werden. Zum anderen scheint die Wahrnehmung des
Amtes und der Aufgaben des Wehrbeauftragten unschärfer zu werden. Es ist schlimm, wenn in manchen Medien
immer häufiger vom „Wehrbeauftragten der Bundesregierung“ gesprochen wird. Dagegen sollte sich der
Wehrbeauftragte selbst wenden. Dagegen müssen wir
uns aber auch als Bundestag wehren. Innerparteiliche
Streitigkeiten schwächen nämlich die parlamentarische
Kontrolle.
An dieser Stelle muss ich Sie auffordern, Herr
Thierse: Werden Sie Ihrer Verantwortung als Bundestagspräsident gegenüber den Soldatinnen und Soldaten
unserer Parlamentsarmee gerecht! Auch wir als Parlament haben es in der Hand, einen größeren Beitrag zur
Inneren Führung zu leisten, indem wir den unmittelbaren
Kontakt zu den Soldatinnen und Soldaten suchen.
Frau Schäfer!
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Das heißt
aber auch: Der Wehrbeauftragte sollte häufiger und unangekündigt die Truppe besuchen und sich nicht von
Mitarbeitern vertreten lassen. Sein Personal muss eine
hohe fachliche Qualifikation aufweisen. Offene Stellen
müssen zügig nachbesetzt werden. Die Truppe muss die
Existenz des Wehrbeauftragten ebenso spüren wie die
Aufmerksamkeit des Parlaments - egal, wo sie sich befindet, und zu jeder Zeit.
Die CDU/CSU-Fraktion dankt dem Wehrbeauftragten
für den sachlichen Bericht.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
Abgeordnete der PDS.
Ich möchte auf die Foltervorwürfe und Foltervorfälle
eingehen. Ich verstehe, ehrlich gesagt, die Verwunderung von Bundesminister Struck und einigen Medien
über diese Vorfälle in der Bundeswehr nicht. Es wird der
Eindruck vermittelt, dass Rambos in der Etappe ihre
Kompetenz überschritten hätten.
Ich habe am 30. Juni 2004 die Bundesregierung Folgendes gefragt: Michael Wolffsohn ist Professor an der
Universität der Bundeswehr in München.
({0})
Anfang Mai hatte er in einem Fernsehinterview gesagt,
„als eines der Mittel gegen Terroristen“ halte er „Folter
oder die Androhung von Folter für legitim“. Ich fragte,
ob es zutrifft, dass es für Wolffsohn keine dienstrechtlichen Konsequenzen geben wird. Die Antwort der Bundesregierung war mehr als unbefriedigend. Es gab natürlich keine dienstrechtlichen Konsequenzen für den
Folterbefürworter. Professor Wolffsohn darf weiter unbehelligt an der Universität der Bundeswehr in München
unterrichten.
Wir alle kennen den weisen Spruch: Der Fisch fängt
immer am Kopf an zu stinken. Dieser Spruch gilt auch
für die Folterdebatte.
({1})
Ex-General Schönbohm hat sich für die Folter ausgesprochen und es gibt auch einige namhafte Grundgesetzkommentatoren, die den Einsatz der Folter in Extremsituationen für zulässig halten. Nun wird die
Bundesregierung erklären, dass sie damit nichts zu tun
hat, dass es sich hier um Einzelmeinungen handelt, die
nicht repräsentativ sind. Doch dem ist nicht so. Ich habe
die Bundesregierung bereits am 10. Juni 2003 gefragt,
was sie unternommen habe, um die Zustände im Gefangenenlager Guantanamo Bay, die die „New York Times“
als „Schandfleck für den amerikanischen Rechtsstaat“
bezeichnet hat, gegenüber der US-amerikanischen Regierung anzusprechen. Die Antwort lautete:
Der Regierung der USA ist die Auffassung der
Bundesregierung bekannt, dass der völkerrechtlich
umstrittene Status der Gefangenen einer Klärung
und raschen Lösung bedarf.
Mehr nicht! Diese Antwort gab die Bundesregierung im
Sommer 2003. Seitdem ist nichts passiert.
Schlimmer noch: Das Foltergefängnis von Guantanamo Bay ist die Folterausbildungsstätte schlechthin geworden. Die dort Ausgebildeten foltern jetzt im Irak. Ich
kann mir nur schwer vorstellen, dass die Bundesregierung gegenüber der US-amerikanischen Regierung in
den letzten 18 Monaten tatsächlich mit Nachdruck auf
die Einhaltung der Menschenrechte dort gedrängt hat.
Nun können SPD und Grüne die Verzagtheit gegenüber
der US-amerikanischen Regierung sicherlich begründen.
Die deutsche Regierung will die US-amerikanische Regierung nicht weiter verärgern; darüber haben wir hier
schon oft genug diskutiert.
Oder reden wir doch über die UN-Antifolterkonvention, die bereits Albanien, der Senegal, Serbien und andere Länder unterzeichnet haben, bisher aber nicht die
Bundesrepublik. Auch hier habe ich die Bundesregierung nach den Gründen gefragt. Die Antwort war wieder
unbefriedigend.
Professor Wolffsohn, Guantanamo Bay und die UNAntifolterkonvention sind nur drei Beispiele aus der aktuellen Folterdiskussion in unserem Land. Ich glaube,
die Botschaft ist bei den Unteroffizieren, die ihre Soldaten foltern, so angekommen, wie sie nur ankommen
kann. Es gibt kein Missverständnis. Die „Süddeutsche
Zeitung“ schreibt sogar von „Abu Coesfeld“. Die Ähnlichkeit der Bilder ist erschreckend, genauso wie die
Reaktionen seitens der militärischen und der politischen
Führung. Herr Struck erklärt - genauso wie Herr
Rumsfeld -, dass die Übergriffe im Widerspruch zu den
geltenden Ausbildungsmethoden und den Werten stehen.
Die Bundesregierung, insbesondere der Verteidigungsminister, hat in der Folterdebatte versagt. Es ist unredlich, wenn die Verantwortung auf einzelne Unteroffiziere
geschoben wird. Es ist ebenfalls unredlich und widersprüchlich, wenn man den Einsatz der Bundeswehr im
Ausland als Grund für die zunehmende Gewalt in der
Truppe heranzieht. Wenn ich die Bundesregierung richtig verstanden habe - zumindest das, was sie sagt und
schriftlich erklärt -, soll die Bundeswehr im Ausland zur
Konfliktprävention, zur Kriegsbeendigung und zur Friedenserhaltung eingesetzt werden. Hier liegt der Widerspruch. Friedenssicherung bedeutet die Zurückdrängung
des Bildes vom militärischen Kämpfer. Aber augenscheinlich lautet die stillschweigende Annahme, dass der
militärische Einsatz die Soldaten in Kampfsituationen
führt, die Brutalisierung zur Folge haben. Dies widerspricht eklatant den deklarierten Einsatzzielen.
({2})
Herr Struck, ich bin der Auffassung, dass es Zeit ist,
die Verantwortung nicht auf Einzelne abzuschieben, sondern persönlich Verantwortung zu übernehmen, den systematischen und komplexen Zusammenhang zu erkennen und einen anderen Typus von Bundeswehrsoldaten
anzustreben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrter Willfried Penner, auch
wenn ich als Vorletzte in dieser Debatte spreche, will ich
mich dem herzlichen Dank an den Wehrbeauftragten und
an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für diesen Bericht anschließen.
Jeder Soldat und jede Soldatin hat das Recht, sich mit
ihren persönlichen Anliegen an den Wehrbeauftragten zu
wenden. Wir haben mittlerweile mehrfach gehört, dass
dieses Recht im Berichtsjahr über 6 000 Soldaten und
Soldatinnen in Anspruch genommen haben. Aber im Zusammenhang mit den Vorfällen in Coesfeld haben wir
auch zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht alle Betroffenen dem Wehrbeauftragten wichtige Vorfälle, die sie bei
der Bundeswehr erlebt haben, gemeldet haben.
Betrachtet man die Fälle in der Bundeswehr, bei denen es um Misshandlungen von Untergebenen bzw. Kameraden ging, so stellt man fest, dass die Betroffenen die
Möglichkeit, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden,
aus unterschiedlichen Motiven nicht umgehend genutzt
haben. Das will ich niemandem vorwerfen. Aber ich
finde, die Motive sollten uns schon interessieren. Zum
Teil werden jetzt Vorfälle öffentlich - auch das haben
wir durch den Bericht, den wir im Verteidigungsausschuss diskutiert haben, erfahren -, die bereits Jahre
zurückliegen. Die Angaben dazu waren im Übrigen teilweise sehr diffus. Eine sofortige Meldung beim Wehrbeauftragten hätte den Schaden sicherlich wenn nicht abwenden, so doch begrenzen können.
Ich will auch ganz deutlich sagen: Nicht nur die Soldaten, die sich erst jetzt melden, haben sich falsch verhalten; in der Verantwortung stehen vor allem diejenigen, die damals für Ausbildung und Führung zuständig
waren. Ihnen ist möglicherweise Fehlverhalten anzulasten.
Der Bericht spiegelt die aktuellen Sorgen und Nöte
der Betroffenen wider. Ich finde, alle Betroffenen sollten
die Institution des Wehrbeauftragten - die so alt ist wie
die Bundeswehr - in Anspruch nehmen, für sich und
zum Wohle der gesamten Armee.
Motive wie fehlende Zivilcourage, Angst vor Repressalien und Angst vor zukünftiger Missachtung helfen in
diesem Fall niemandem. Deswegen glaube ich, es ist
richtig, dazu zu ermutigen, beobachtete Vorgänge - im
Übrigen nicht nur solche, die man selbst erlitten hat dem Wehrbeauftragten und damit dem Parlament zu
melden.
({0})
Der Bundesminister der Verteidigung hat daher alle Betroffenen zu Recht aufgefordert, dem Wehrbeauftragten
Fälle von Misshandlung mitzuteilen. Diese Fälle müssen
aufgeklärt werden und der Deutsche Bundestag muss
darüber unterrichtet werden.
Erst wenn alle Fälle auf dem Tisch liegen - nach dem
zu urteilen, was bis jetzt gemeldet worden ist, scheint es
sich ja nicht um ein Massenphänomen zu handeln -,
kann man zu einem abgewogenen Urteil kommen, das
dann die entsprechenden Maßnahmen nach sich ziehen
muss. Man kann allerdings schon jetzt sagen, dass der
Generalverdacht, den einige in Bezug auf die Bundeswehr geäußert haben, absolut nicht angebracht ist. Vielmehr haben wir es hier - Gott sei Dank - immer noch
mit einem Phänomen einzelner Verfehlungen zu tun.
An dieser Stelle müssen wir eher fragen: Wie konnte
es zu dem Fehlverhalten von Ausbildern kommen? Wie
konnte es dazu kommen, dass diejenigen, die von diesem
Fehlverhalten betroffen waren, sich nicht eher gemeldet
haben? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt. Krachende
Allwissenheit und die Einstellung „Wir haben es ja
schon immer gesagt“ sind überhaupt nicht angebracht.
Damit verbindet sich die Frage nach der Dienstaufsicht - darüber haben wir heute schon gesprochen -:
Wie kann und muss sie funktionieren? Zu fragen ist auch
nach der Erlasslage. Die Erlasslage ist eindeutig; darüber
wird gar nicht gestritten. Für mich stellt sich die Frage:
Ist die Erlasslage bei aller Eindeutigkeit für alle - auch
für diejenigen, die gut daran täten, sie zu kennen - wirklich nachvollziehbar und wird sie ihnen in der gebührenden Gründlichkeit nahe gebracht? Ich muss erwarten,
dass nicht nur der Bataillonskommandeur und der Kompaniechef, sondern wirklich alle, die mit Ausbildung befasst sind, über den Kern der Erlasslage in diesen Punkten nicht nur informiert sind, sondern sie auch präsent
haben.
Die andere Frage ist: Wie kann man Ausbildung gestalten, auch Ausbildung, die auf Auslandseinsätze ausgerichtet ist, um für den Ernstfall, aber nicht den Ernstfall zu proben? In den Zusammenhang gehört natürlich
auch die Frage: Welche Ausbilder brauchen wir eigentlich und wie müssen wir die Ausbilder vorbereiten, damit sie ihrer schwierigen Aufgabe gerecht werden können?
Ich will in diesem Zusammenhang auch noch ein
Wort zur Wehrpflicht sagen. Die Vorfälle von Coesfeld
bringen die einen zu dem Schluss: Die Wehrpflichtarmee
ist die einzig mögliche Wehrform, um sicherzustellen,
dass solche Vorfälle zumindest bekannt und transparent
werden. Nur sie gewährleistet die notwendige Sensibilität in der Gesellschaft. Die anderen sagen: Die Wehrpflichtarmee ist obsolet. Diese Vorfälle haben gezeigt,
dass das nicht die Wehrform der Zukunft sein kann. Beides, glaube ich, ist in dieser Pauschalität falsch.
({1})
Die Fragen, die sich damit verbinden, sind sehr viel
komplexer. Es geht eben nicht nur um Nachwuchsgewinnung, sondern es geht auch um Auftrag, um Finanzen und natürlich auch um Fragen der Wehrgerechtigkeit. Deswegen muss man sehr genau hinschauen, um
diese Frage dann abschließend beantworten zu können.
({2})
Ich will trotzdem mit aller Eindeutigkeit sagen, dass
die Wehrpflicht durch den Zugriff auf Rekruten aus Bevölkerungskreisen, die der Bundeswehr sonst nicht zur
Verfügung stünden, weitgehend sozial repräsentative
und aufgeschlossene Streitkräfte sicherstellt. Dadurch
kann - ich halte das nicht für widerlegt - das Leistungsund Bildungspotenzial der Bevölkerung für die Streitkräfte umfassend genutzt werden.
Die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft
- und damit bürgernahe Streitkräfte - ist zu einem Qualitätsmerkmal geworden. Dies ist ein wichtiger gesellschaftspolitischer Erfolg für unser Land, auf den wir zu
Recht stolz sein sollten und den wir nicht leichtfertig
aufs Spiel setzen sollten.
In den vergangenen Wochen ist im Zusammenhang
mit den Vorfällen in Coesfeld viel über Innere Führung
geredet worden. Der Soldat/die Soldatin soll den Sinn
und die Notwendigkeit des Dienstes erkennen. Dies ist
ein Baustein der Inneren Führung. Prägendes Merkmal
bleibt der Staatsbürger in Uniform. Der Staatsbürger in
Uniform ist eine freie Persönlichkeit, verantwortungsbewusster Staatsbürger und einsatzbereiter Soldat.
Gerade für Auslandseinsätze hat die Innere Führung
eine große Bedeutung. Dies wird jetzt im Unterausschuss sehr detailliert und wirklich auch in die Tiefe
gehend nachbearbeitet, damit dem Parlament im nächsten Jahr Vorschläge dazu gemacht werden können. Allen
Behauptungen zum Trotz ist man im BMVg natürlich
auch längst dabei, auf die Herausforderung „Auslandseinsätze und Innere Führung“ zu reagieren.
Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen, dass sich
die Bundeswehr seit der Zeitenwende 1989/1990 natürlich erheblich verändert hat. So weist der Wehrbeauftragte zu Recht auf die Probleme im gegenwärtigen
Transformationsprozess der Bundeswehr hin. Frau
Kollegin Schäfer, wenn wir schon über Reformen der
Bundesregierung reden,
({3})
dann will ich an dieser Stelle Folgendes sagen - Kollege
Arnold hat sich dazu schon ausführlich geäußert -:
Wenn ein schwieriger Reformprozess, in dem Fall
Transformationsprozess, von allen Beteiligten so getragen würde wie von der Bundeswehr, müssten wir uns
über das Reformklima und die Reformfähigkeit dieses
Landes keine Sorgen machen.
({4})
Frau Kollegin Merten, kommen Sie bitte zum
Schluss.
({0})
Ich will im Zusammenhang mit dem hier behandelten
Thema noch eines sagen: Der Bericht des Wehrbeauftragten ist natürlich ein Mängelbericht und kein vollständiger Bericht über den Zustand und das innere Gefüge
der Bundeswehr. Entscheidend ist, dass die Themen so
lange auf der Tagesordnung bleiben, bis sie abgearbeitet
sind, und nicht nur so lange, wie die Medien ihr Interesse und ihren Fokus auf ein Thema richten, weil sie
glauben, daraus Honig saugen zu können.
({0})
Garant dafür, dass das so bleibt, also dass die Themen
so lange auf der Tagesordnung bleiben, bis sie abgearbeitet sind, ist der jährliche Bericht des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiter. Dafür will ich noch einmal
herzlich Danke sagen.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lamers, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im 45. Jahresbericht eines
Wehrbeauftragten, der heute als Ihr vierter und letzter
Bericht im Plenum beraten wird, Herr Wehrbeauftragter,
haben Sie dankenswerterweise auch auf die Arbeit des
Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ Bezug genommen. Zunächst möchte ich Ihnen als
Vorsitzender dieses Unterausschusses und ganz persönlich für die als Wehrbeauftragter geleistete Arbeit für unseren Staat und unsere Bundeswehr danken.
({0})
Im Unterausschuss haben Sie uns im Dezember 2003
Rede und Antwort gestanden und wertvolle Hinweise
zum inneren Zustand der Bundeswehr gegeben. Wenn
es um den inneren Zustand der Bundeswehr geht, dann
gibt es so etwas wie einen Fiebermesser: Das sind Sie,
Herr Wehrbeauftragter. In den letzten Jahren haben Sie
immer wieder einen Anstieg der Beschwerden und Eingaben von Soldaten an Ihre Behörde gemeldet. Wenn die
Fieberkurve steigt, dann müssen sich die zuständigen
Gremien damit auseinander setzen. Das Parlament tut es
heute hier im Plenum und jede Woche im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. So muss es sein.
Nach Kempten und Coesfeld ist das umso dringlicher.
Wir alle spüren, das Land ist im Umbruch. Wir alle
spüren, die Bundeswehr befindet sich im Umbruch. Da
erwachsen große Unsicherheiten für unsere Soldaten: einerseits aus den Auslandseinsätzen und manchen Begleitumständen mit all ihren Auswirkungen auf die Familien, andererseits sicher auch aus der unübersichtlich
gewordenen Situation durch die Strukturreformen der
Bundeswehr. Für viele Soldaten kommen die einzelnen
so genannten Reformschritte zu schnell und zu hektisch;
sie sehen nicht mehr, wo eigentlich ihre Lebens- und
Dienstzeitplanung bleibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einer der Väter der
Inneren Führung, General Johann-Adolf Graf von
Kielmannsegg, hat einmal prägnant und treffend formuliert:
Der Erfolg, den die Innere Führung für und in der
Bundeswehr immer von neuem anzustreben hat,
kann nur dann errungen werden, wenn die drei Begriffe Soldat, Mensch, Führung so zusammenklingen, daß jeder Ton voll schwingt und alle drei doch
einen Akkord geben.
({1})
Er sagt weiter:
Das Soldatische darf nicht untergehen, der Mensch
muß in der Mitte sein, Führung muß wirklich Führung bleiben - dann wird Innere Führung das angestrebte Ziel erreichen.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: War das,
was wir in Coesfeld, in Kempten und an anderen Orten
erlebt haben, der von Kielmannsegg eingeforderte Akkord von Mensch, Soldat und Führung? Gewiss nicht.
Richtig ist: Mit den Auslandseinsätzen haben sich die
Anforderungen an unsere Soldaten grundlegend verändert. Die Ausbildung muss auf diese Veränderungen reagieren. Sie muss zweifellos Soldaten darauf vorbereiten, dass im Einsatz auch der Worst Case, der
schlimmste aller denkbaren Fälle, eintreten kann. Aber
hier geht es doch um die sach- und fachgerechte Vorbereitung von Soldaten vor einem konkreten Einsatz.
Coesfeld ist nicht Hammelburg. Was in Hammelburg erlaubt ist, ist in Coesfeld in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Rekruten noch lange nicht zulässig. Darum geht
es doch.
Innere Führung ist gewiss keine Bibel, kein Kodex
mit unveränderlichen Inhalten. Aber es gibt eben unverzichtbare Teile der Inneren Führung, die nicht aufgegeben werden dürfen, so genannte Konstanten. Es geht um
den Soldaten als Staatsbürger in Uniform, dessen
staatsbürgerliche Rechte so wenig wie möglich eingeschränkt werden sollen. Es geht um die Bindung des
Prinzips von Befehl und Gehorsam an Recht und Gesetz.
Es geht um die zwingende Beachtung der Menschenwürde im Dienst. Es geht um das grundsätzliche Verbot
von strafrechtlich bewehrten Handlungen im Bundeswehralltag. Innere Führung, so sagt General Ulrich de
Maizière, ist ein dynamisches Konzept, immer in Entwicklung; sie muss aktuell sein. Letztlich geht es um den
politisch gebildeten und sensibilisierten Soldaten, der im
Zeichen der Inneren Führung die Möglichkeiten und
Grenzen seines Handelns erkennt.
Innere Führung - das ist nicht nur, aber auch Menschenführung. Zweimal, Herr Wehrbeauftragter, sprechen Sie von Führungsverantwortung. Recht haben Sie;
genau darum geht es: um Führungsverantwortung. Wo
Dr. Karl A. Lamers ({2})
war diese Führungsverantwortung in Coesfeld, in Kempten und anderswo? Jeder Ausbilder kennt - oder sollte
kennen - seine Ausbildungsvorschriften, seine Handreichungen, seine Dienstpläne. Die Dienstaufsicht der Vorgesetzten - bis ganz nach oben in die militärische Führung hinein - muss sicherstellen, dass die Vorschriften
eingehalten werden und dass die Menschenführung und
die angewandten Methoden und Mittel in Ordnung sind.
Darum geht es, meine Damen und Herren.
({3})
Herr Wehrbeauftragter, wir sind uns einig: So sollte es
sein. Hätte da nicht die Alarmglocke schrillen müssen
bei diesen so genannten Ausbildungseinlagen? Mit dem
Grundgedanken des Staatsbürgers in Uniform, der Bindung des Befehls an Recht und Gesetz und der menschenwürdigen Behandlung von Untergebenen, mit all
den Themen, mit denen Sie sich tagtäglich befassen, sind
diese jedenfalls nicht in Einklang zu bringen.
Auch bei den Untergebenen hätte die Einsicht wachsen müssen, dass sie diese Befehle nicht ausführen
mussten, ja nicht durften. Vereinzelt hört man, da seien
einige „über das Ziel hinausgeschossen“. Die Tatsache,
dass von der Heeresführung seit Februar 2004 fünf verschiedene Weisungen bezüglich der Ausbildung ergingen, lässt aufhorchen. Hier wurde nachgesteuert, um
Auswüchse zu begrenzen.
Ich meine, wir müssen über die Ausbildung der Ausbilder neu nachdenken, insbesondere über die Führungsverantwortung. Aber bei allem, was wir heute besprechen, müssen wir wissen, dass von der ganz
überwältigenden Mehrheit unserer Soldatinnen und Soldaten, von Ausbildern und Auszubildenden schon heute
das Prinzip Innere Führung gelebt und verwirklicht wird.
Wir reden heute über die, die den Geist dieses Prinzips
immer noch nicht verstanden haben oder nicht verstehen
wollen. Das können wir nicht hinnehmen. Wir wollen,
dass die Bundeswehr insgesamt klar Schiff macht.
Meine Damen und Herren, die Ereignisse von Coesfeld, Kempten und anderswo führen in manchen Köpfen
zu erstaunlichen Schlussfolgerungen: Die Wehrpflicht
sei überholt; es müsse eine Berufsarmee eingeführt werden. Genau das Gegenteil ist der Fall.
({4})
Eine Wehrpflichtarmee steht viel stärker im Blickpunkt
der gesamten Öffentlichkeit, der Medien, des Parlaments
und vieler Familien in unserem Land als eine Berufsarmee.
({5})
Ich kann auch nicht erkennen, dass in den Fällen, über
die wir in den letzten Wochen diskutiert haben, Wehrpflichtige die Verantwortung trugen. Ich bin vielmehr
überzeugt: Weil die Bundeswehr durch die allgemeine
Wehrpflicht in der Gesellschaft verankert ist, sprechen
wir heute und seit Wochen leidenschaftlich über die „besonderen Vorkommnisse“.
Zu den Konsequenzen, meine Damen und Herren. Es
besteht Handlungsbedarf, der uns alle verpflichtet: Parlament, Regierung und Bundeswehr. Wir sind aufgefordert, das Rechtsempfinden unserer Soldaten zu stärken
und das Sensorium für einsatznahe Ausbildung unter Beachtung unserer Rechtsnormen zu schärfen. Das Prinzip
Innere Führung mit dem Menschen im Mittelpunkt setzt
Grenzen im Handeln. Das gilt für jeden.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Vertei-
digungsausschusses zu dem Jahresbericht 2003 des
Wehrbeauftragten. Es handelt sich um die Drucksachen
15/2600 und 15/4475. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und
zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgesetzes ({0})
- Drucksache 15/4485 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Siebzehnten Gesetzes
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 15/4492 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 15/4108 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des Bundesrechts für die Zusammenführung von
Gerichten der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit in den Ländern ({4})
- Drucksache 15/4109 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. April 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Polen und
der Tschechischen Republik über den Bau einer Straßenverbindung in der Euroregion
Neiße, im Raum zwischen den Städten Zittau
in der Bundesrepublik Deutschland, Reichenau ({6}) in der Republik Polen und
Hrádek nad Nisou/Grottau in der Tschechischen Republik
- Drucksache 15/4467 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nationales Sicherheitsforschungsprogramm vorlegen
- Drucksache 15/3810 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Markus Löning, Horst Friedrich
({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anhalter Bahn in die Dringlichkeitsliste für
die Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen aufnehmen
- Drucksache 15/4262 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP
Deutsch-russischen Jugendaustausch ausweiten und stärken
- Drucksache 15/4530 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4492 - das
ist Tagesordnungspunkt 25 b - soll an den Innenausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 26 a
bis 26 f sowie zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 f. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 26 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({12})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marion Seib,
Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung
im Hochschulbereich - der Bologna-Prozess
als Chance für den Wissenschaftsstandort
Deutschland
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ute Berg, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Grietje
Bettin, Hans-Josef Fell, Anna Lührmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundesregierung zu den Ergebnissen der
Europäischen Bildungsministerkonferenz am
18./19. September 2003 in Berlin
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({14}), Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundesregierung zu den Ergebnissen der
Europäischen Bildungsministerkonferenz am
18./19. September 2003 in Berlin
- Drucksachen 15/1787, 15/1579, 15/1582,
15/4490 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Berg
Grietje Bettin
Cornelia Pieper
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1787 mit dem Titel „Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im
Hochschulbereich - der Bologna-Prozess als Chance für
den Wissenschaftsstandort Deutschland“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, den Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf DruckVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
sache 15/1579 zu der Regierungserklärung zu den Ergebnissen der Europäischen Bildungsministerkonferenz
in Berlin anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der
FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1582 zu der genannten Regierungserklärung abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte
26 b bis 26 f.
Tagesordnungspunkt 26 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 168 zu Petitionen
- Drucksache 15/4422 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 169 zu Petitionen
- Drucksache 15/4423 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 169 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 170 zu Petitionen
- Drucksache 15/4424 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 170 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
- Drucksache 15/4425 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 171 ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 172 zu Petitionen
- Drucksache 15/4426 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 172 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
30. September 2003 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten und der schweren Kriminalität
- Drucksache 15/3880 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({20})
- Drucksache 15/4525 Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Erwin Marschewski ({21})
Silke Stokar von Neuforn
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4525, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 15/2252 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23})
- Drucksache 15/4537 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Siegfried Kauder ({24})
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4537, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 15/4509 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 173 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
- Drucksache 15/4510 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 174 ist ebenfalls mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 15/4511 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 175 ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 15/4512 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 176 ist mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP
gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Zwischenbilanz des nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Wolfgang Clement.
({29})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich denke, wir alle erinnern uns daran, dass wir mit dem Ausbildungspakt vom Juni dieses
Jahres erstmals für ganz Deutschland eine konkrete und
verbindliche Vereinbarung zwischen Wirtschaft und Politik haben abschließen können, die sowohl für auszubildende Jugendliche als auch für ausbildungswillige Unternehmen eine belastbare Grundlage bietet und die
zugleich die sehr vielfältigen und vielgestaltigen Probleme auf dem Ausbildungsstellenmarkt konkret angeht.
({0})
Heute, nach wenigen Monaten - dies betrifft den Zeitraum Juni bis Dezember; die letzten Zahlen, die wir haben, stammen von Ende November -, können wir in einer Zwischenbilanz sagen, dass die Vereinbarungen bzw.
Zusagen, die getroffen worden sind, eingehalten werden.
Der Ausbildungspakt greift ganz offensichtlich. Die bisherigen Erfolge widerlegen viele Skeptiker.
Der Ausbildungspakt hat in einem Umfang, wie wir
das bisher noch nicht erlebt haben, bei allen Partnern
dieses Paktes und darüber hinaus erhebliche zusätzliche
Ausbildungsaktivitäten, insbesondere in der Nachvermittlungsaktion, angestoßen und damit eine freiwillige
Selbstverpflichtung von Wirtschaft und Politik im politisch-wirtschaftlichen Raum in einer Weise realisiert,
wie jedenfalls mir das von anderen Selbstverpflichtungen bisher nicht bekannt war.
Ich möchte das ganz schlicht und trocken anhand des
Systems „Versprochen und gehalten“ vorführen. Die
Wirtschaft hat sich in dem Vertrag erstens das verbindliche Ziel gesetzt, während der dreijährigen Dauer dieses
Paktes im Jahresdurchschnitt 30 000 neue Ausbildungsplätze einzuwerben. Das ist das Versprechen.
Die Umsetzung: Bis Ende November haben die Industrie- und Handelskammern 38 000 neue Ausbildungsplätze eingeworben und die Handwerkskammern
bis Ende Oktober 15 600. Insgesamt sind also seit Jahresbeginn rund 54 000 neue Ausbildungsplätze eingeworben worden. Statt 30 000 zugesagten sind also
54 000 realisiert worden.
Gleichzeitig sind leider insbesondere im Handwerksbereich viele Unternehmen vom Markt gegangen, sodass
wir im Saldo 15 000 Ausbildungsverträge mehr haben
als im Jahr zuvor. In den alten Bundesländern sind es
14 129 zusätzliche Ausbildungsverträge und in den
neuen Ländern 1 217. Besonders erfreulich an dieser Bilanz ist, dass insgesamt bis Ende November ein Plus bei
den betrieblichen Ausbildungsplätzen von 22 562 festzustellen ist. Diese Zahl markiert aus meiner Sicht die
eigentliche Trendwende, die damit am Ausbildungsstellenmarkt erreicht worden ist.
({1})
Die Wirtschaft hat zweitens zugesagt, in diesen drei
Jahren jährlich, beginnend mit dem Jahr 2004, zusätzlich
25 000 Einstiegsqualifikationen einzurichten.
Die Realität: Von den Industrie- und Handelskammern wurden bis Ende November 24 000 Plätze und von
den Handwerkskammern bis Ende Oktober 5 500 Plätze
für Einstiegsqualifikationen angeworben. Das macht bis
zu diesem Zeitpunkt - wir sind noch nicht am Ende des
Jahres angekommen - 29 500 Plätze. Das sind wiederum
mehr als zugesagt.
({2})
- Ende November waren rund 6 000 dieser Plätze besetzt.
Drittens. Die Bundesagentur hat zugesagt, für die
Einstiegsqualifikationen einen Zuschuss zu zahlen. Tatsächlich zahlt die Bundesagentur eine Pratikumsvergütung in Höhe von 192 Euro monatlich pro Jugendlichen
und einen Sozialversicherungsbeitrag in Höhe von
102 Euro. Auch dieses Versprechen wird eingehalten.
Das wird durch ein auf drei Jahre angelegtes Bundesprogramm mit einem Volumen von insgesamt 270 Millionen Euro finanziert.
Vierte Zusage. Die Bundesregierung hat zugesagt, die
Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesverwaltung im
Jahr 2004 um rund 20 Prozent zu erhöhen. Darüber hinaus wollte sie ihren Einfluss geltend machen, damit
auch die selbstständigen Einrichtungen des Bundes ihre
Ausbildungsleistung noch einmal deutlich erhöhen.
Die Realisierung sieht folgendermaßen aus: Die unmittelbare Bundesverwaltung, also die Bundesregierung, hat die Anzahl der Ausbildungsplätze um 34 Prozent, also um genau 2 639 Ausbildungsplätze, erhöht und
die mittelbare Bundesverwaltung um 1 285 Plätze. Die
Steigerung lag also statt bei den versprochenen 20 Prozent bei 34 Prozent.
({3})
Die fünfte Zusage im Vertrag war, dass wir das Bund/
Länder-Ausbildungsprogramm Ost mit 14 000 Plätzen
im Jahr 2004 fortführen. Diese Zusage ist durch eine
Vereinbarung zwischen dem Bund und den ostdeutschen
Ländern bereits am 15. Juli, also rund einen Monat nach
Abschluss des Paktes, realisiert worden.
Die sechste Zusage war, dass die Bundesagentur ausbildungsfördernde Maßnahmen für Arbeit mindestens
im gleichen Umfang wie im Jahr 2003 fortsetzen wird.
Das gilt insbesondere für die berufsvorbereitenden Maßnahmen.
Umsetzung: Ende November hatten wir 237 000 Teilnehmer. Das sind 29 000 weniger als 2003. Nach den
Planungen der Agentur wird die Teilnehmerzahl bis
Ende Dezember aber um insgesamt 15 300 - das sind
6,1 Prozent - über der Teilnehmerzahl des Vorjahres liegen. Im Einzelnen sieht das folgendermaßen aus: plus
7 800 bei den berufsvorbereitenden Maßnahmen, plus
5 300 bei den ausbildungsbegleitenden Hilfen, plus
1 800 bei den außerbetrieblichen Maßnahmen.
Siebtens wurde die Optimierung des Vermittlungsprozesses zugesagt. Unzweifelhaft haben wir eine in dieser
Form noch nie da gewesene gute Zusammenarbeit zwischen den beiden Kammernsystemen und den Arbeitsagenturen, was sich insbesondere bei der Nachvermittlung ausgewirkt hat. Die Anzahl der unvermittelten Ausbildungsbewerber ist von September bis November fast
halbiert worden. Gleichzeitig haben in Deutschland
16 000 Kompetenzchecks für Jugendliche stattgefunden.
({4})
Ich möchte ganz ruhig, trocken und klar deutlich machen: Alle im Ausbildungspakt getroffenen Vereinbarungen sind nicht nur auf Punkt und Komma eingehalten,
sondern durch die Bank besser realisiert worden als zugesagt.
({5})
Das bedeutet gleichzeitig - das sage ich an die
Adresse der Jugendlichen und derer, die für die Jugendlichen mitverantwortlich sind -, dass sich diejenigen, die
in Deutschland jetzt noch keinen Ausbildungsplatz haben, obwohl sie sich um einen Ausbildungsplatz oder,
sofern sie eine Ausbildung noch nicht erfolgversprechend absolvieren können, um eine Einstiegsqualifikation beworben haben, bei ihrer Kammer, bei ihrer Arbeitsagentur melden sollen. Jedem und jeder wird dort
eine Qualifikationsmöglichkeit, ein Ausbildungsplatz
oder eine Einstiegsqualifikation angeboten. Rechnerisch
gibt es in Deutschland für jeden mindestens ein Angebot. Meine Bitte an die Jugendlichen ist, dass sie davon
auch Gebrauch machen. Sie sollen uns - das können wir
so sagen - beim Wort nehmen. Das sollte so geschehen.
Am 15. Februar wird der Lenkungsausschuss des
Paktes erneut zusammentreffen. Im nächsten Jahr werden wir schon im Februar und nicht erst im Juni mit den
Vermittlungsaktivitäten beginnen. Daher gehe ich davon
aus, dass sich die Situation verbessern wird.
All das ist das Positive an diesem Pakt. Jetzt muss ich
Ihnen aber auch die ziemlich ernsten Schattenseiten, an
denen wir erheblich zu arbeiten haben werden, nennen.
Bisher habe ich von den Jugendlichen berichtet, die
sich in diesem Jahr für eine Ausbildung in Deutschland
gemeldet haben und denen jetzt Angebote gemacht werden können. Wie gesagt, Angebote können jedem und
jeder gemacht werden.
Schauen wir uns die Situation genauer an: Tatsächlich
hat sich in den letzten Jahren die Situation in Deutschland so entwickelt, dass sich zum Beispiel in Maßnahmen der Bundesagentur 491 000 Jugendliche befinden,
die zumeist nicht in der Lage sind, eine Ausbildung erfolgversprechend wahrzunehmen, die irgendwelche anderen Qualifikationsmaßnahmen, Sprachunterricht oder
Ähnliches, brauchen, um erfolgversprechend in eine
Ausbildung gehen zu können.
Zu diesen 491 000 Jugendlichen kommen - teilweise
überschneiden sich diese Größenordnungen allerdings etwa 500 000 Jugendliche unter 25 Jahren hinzu, die in
Deutschland gegenwärtig arbeitslos sind. Die Zahlen,
die ich gerade genannt habe, sind mehr als nur eine
Schattenseite. Vielmehr sind sie eine Mahnung an uns.
Das dürfen wir nicht ignorieren; denn diese Zahl erhöht
sich von Jahr zu Jahr.
({6})
Es kann für die Jugendlichen nicht sinnvoll sein, dass
beispielsweise durch die Maßnahmen der Bundesagentur
für Arbeit das, was eigentlich die Schule leisten sollte,
nachgeholt wird. Ob man das als Nachsitzen oder Nachbessern bezeichnet - es ist für die Jugendlichen nicht
sinnvoll. Zumeist ist es auch schwierig, durch diese
Maßnahmen einen konkreten Erfolg zu erzielen; denn es
ist nun einmal nicht die Aufgabe der Bundesagentur für
Arbeit, Schulunterricht zu geben.
Die Bundesagentur kann und muss Jugendliche, die
eine Ausbildung machen, parallel dazu unterstützen, vor
allen Dingen bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen. Sie
kann aber nicht das nacharbeiten, was die Schule leisten
sollte. Das ist weder für die Jugendlichen noch für die
Beitragszahler noch für die Steuerzahler gut; denn diese
Maßnahmen sind in administrativer und finanzieller
Hinsicht unglaublich aufwendig und nicht erfolgreich
genug.
Darüber wird zurzeit in der Bundesstaatskommission
und ihren Gremien diskutiert. Dazu will ich eines deutlich sagen: Trotz aller Zuständigkeitsfragen müssen wir
in Deutschland die Situation beseitigen, dass das, was
die Schulen leisten sollten, von der Bundesagentur geleistet wird. Wir müssen die Jugendlichen bereits in den
Schulen auf das Wirtschafts-, das Arbeits- und das Berufsleben vorbereiten. Daran müssen Eltern, Lehrerinnen
und Lehrer und diejenigen, die in den Ländern für die
Schulen verantwortlich sind, mitwirken.
Wir müssen die Jugendlichen auf das vorbereiten,
was im Anschluss an ihre Schulzeit auf sie zukommt;
denn im Durchschnitt gehen 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschland ohne jeden Schulabschluss ins Berufsleben. Viele von ihnen sind nicht ausreichend auf
eine Ausbildung oder das Arbeits- und Berufsleben vorbereitet. Wir müssen dieses Manko beseitigen. Dazu
müssen wir die so genannte Schnittstelle zwischen
Schule und Betrieb verbessern. Das ist der Vorsatz, den
wir unter den Verantwortlichen für diesen Pakt gefasst
haben.
({7})
Wir müssen bereits ab etwa dem siebten Schuljahr damit beginnen - auch das ist immer noch eine Hilfsmaßnahme -, die Jugendlichen auf das, was im Wirtschaftsund Berufsleben auf sie zukommt, vorzubereiten. Wenn
sie darauf nicht vorbereitet werden, spricht vieles dafür,
dass zahlreiche Jugendliche den Umstieg von der Schule
in den Betrieb nicht schaffen. Das können und wollen
wir nicht länger zulassen. Vonseiten der Wirtschaft, insbesondere vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag, von Herrn Präsidenten Braun, und vonseiten des
Handwerks ist die Zusage gemacht worden, sich im
nächsten Jahr, wenn die Arbeit an diesem Pakt fortgesetzt wird, dieses Themas ganz konkret anzunehmen.
Ich sage von hier aus - das gilt für Eltern, Schulen
und diejenigen, die in den Ländern die Verantwortung
für die Schulen tragen, in gleicher Weise -: Hier müssen
wir trotz aller Kompetenzstreitigkeiten endlich zu Lösungen kommen. Die bisherige Entwicklung ist bedrohlich. Sie wird dazu führen, dass eine viel zu hohe Zahl
von Jugendlichen in ihrem späteren Arbeitsleben kaum
eine Chance haben wird. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Wir müssen diese Situation ändern. Das gilt nicht
nur für diejenigen, die den Pakt unterschrieben haben,
sondern für alle, die Mitverantwortung tragen.
Deshalb ist die Zwischenbilanz, die ich heute ziehe,
zweischneidig: Der Pakt und die Zahlen werden eingehalten; unter quantitativen Gesichtspunkten stimmen sie.
Was aber die Qualität der schulischen Ausbildung und
ihre Verbindung mit der beruflichen Ausbildung angeht,
müssen wir erheblich besser werden und unsere Anstrengungen deutlich erhöhen. Meine Bitte ist, dies im nächsten Jahr mit allem Nachdruck zu tun.
Ich danke Ihnen sehr.
({8})
Das Wort hat der Kollege Werner Lensing, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Clement, die Ausbildungsvereinbarung, gegen den Missmut einiger rot-grüner Ideologen
ertrotzt, hat sich in der Tat zu einem Erfolg entwickelt.
Erstmalig seit 1999 wurde, was die Anzahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge betrifft, wieder ein Zuwachs erzielt.
({0})
Dazu sage auch ich: Das ist wunderbar. Glückwunsch!
Meinen Glückwunsch richte ich vor allem an Sie, Herr
Clement. Wir sind froh, dass Sie seinerzeit viele
Anregungen der CDU/CSU übernommen haben. Diese
Anerkennung gebührt Ihrer Person, Bildungsministerin
Bulmahn allerdings in keiner Weise.
({1})
Der Zuwachs an betrieblichen Ausbildungsplätzen
um 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreswert ist
ebenfalls erfreulich. Die Jugendlichen werden es Ihnen,
so hoffe ich, zu Recht danken. Allerdings hat das lange
Fordern nach einer Ausbildungszwangsabgabe
({2})
kostbare Zeit gekostet, Zeit, die die rot-grüne Regierung
besser darauf verwendet hätte, schneller einen Entwurf
zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes vorzulegen,
({3})
so wie es die Union mit ihrem konkreten und guten Gesetzentwurf vorgemacht hat.
({4})
Zur objektiven Beurteilung der Anerkennung gehören
allerdings auch kritische Anmerkungen: Genauso wenig,
wie der Staat die Erfüllung des Paktes von den unterzeichnenden Verbänden einfordern kann, können die
Verbände die Arbeitgeber zur Erfüllung im Einzelfall
zwingen. Das gilt natürlich systemimmanent immer
noch. Die Auseinandersetzung um die Ausbildungsplatzabgabe war seinerzeit ein Klamaukstück mit billigen Drohungen, absurden Scheingefechten und so manchem total frustrierten Sozialdemokraten.
({5})
Unternehmen können nur so viele Lehrstellen anbieten,
wie es die ökonomische Lage erlaubt
({6})
und Jugendliche können nicht in bestimmte Berufsbilder
gezwungen werden.
Für die SPD bleibt der wachsweiche Kompromiss ein
Ausweg aus einer Sackgasse, in die sich seinerzeit die
Partei hineinmanövriert hatte, vor allen Dingen die Fraktion. Allen Experten war damals natürlich schnell klar,
dass jede Behörde mit der zusätzlichen Bürokratie, die
mit Verwaltung und Kontrolle einer erzwungenen
Abgabe verbunden gewesen wäre, überfordert worden
wäre. Deshalb hatten am Ende selbst frühere Befürworter Angst, das Gesetz über die Abgabe könnte wirklich
in Kraft treten. Was lehrt uns dies? Die Situation, in der
wir uns heute befinden, ist uns allen hier bewusst: Neue
Konzepte entstehen immer nur durch Freiheit, niemals
durch Zwang.
({7})
Was die berufliche Bildung betrifft, so denke ich,
wäre auch - wir fordern das - die regelmäßige Vorlage
einer Vergleichsstudie unter den Auszubildenden anzustreben. Herr Minister Clement, Sie haben vorhin beklagt, wie es in vielen Fällen mit der Ausbildungsfähigkeit aussieht, und gesagt, welche Sorgen wir uns machen
müssen. Sie haben das mit Zahlen belegt, die wir leider
zu bestätigen haben. Die Zahlen beschreiben tatsächlich,
wie Sie sie objektiv dargestellt haben, die Schattenseiten
der heutigen Situation. Deswegen müssen wir gerade
hier mit unseren pädagogischen Maßnahmen einsetzen.
Ich finde es ist fatal - ich wäre Ihnen dankbar,
Herr Clement, wenn Sie Einfluss auf Ihre Kollegin, Frau
Bundesministerin Bulmahn, nehmen könnten -, wenn
man gerade in einer solch schwierigen Bildungssituation
diejenige Schulform in Misskredit bringen will - um sie
schließlich abschaffen zu können -, die wir Hauptschule
nennen.
({8})
Wir müssen die Hauptschule in stärkerem Umfang als
bisher befähigen, die notwendigen Grundkenntnisse zu
vermitteln. Mit einer Gesamtschule allein schaffen wir
das nicht. Im Gegenteil: Wie die PISA-Ergebnisse zeigen, ist gerade das Ergebnis in den integrierten Gesamtschulen traurig.
({9})
Herr Minister Clement, ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie sich seinerzeit als Ministerpräsident
meines Landes stärker dafür eingesetzt hätten, die Vielfalt des gegliederten Schulwesens zu fördern, um die
verschiedenen Begabungen, die man nicht ideologisch
einebnen kann, zu unterstützen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
({0})
Ich respektiere das und erlaube mir einen letzten Satz:
Meine Argumente stützen sich im Wesentlichen auf
Ausführungen der bisherigen Kultusministerin von
Nordrhein-Westfalen, Frau Gabriele Behler, und ihrer
Nachfolgerin, Frau Ute Schäfer.
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Keine Frage, der Ausbildungspakt hat Bewegung
in die duale Berufsausbildung gebracht. Allerdings kann
ich die Erfolge bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur mit
halbem Herzen feiern.
Immerhin steht in absoluten Zahlen ein Plus an Ausbildungsplätzen im Saldo. Die Wirtschaft hat sich angestrengt, die Zahlen vom letzten Jahr zu übertreffen; dies
begrüße ich ausdrücklich. Ich erkenne auch an, dass die
aktuellen Bemühungen von Politik und Wirtschaft die
Bedeutung und den Wert der dualen Ausbildung wie
keine andere Maßnahme der letzten Jahrzehnte in diesem Bereich ins öffentliche Bewusstsein gebracht haben.
Sieben von zehn jungen Leuten in Deutschland
durchlaufen unser Berufsbildungssystem. Trotz dieser
hohen Zahl ist ihre Lobby schwächer und viel weniger
laut als manche andere Interessengruppe. Hier hat das
gemeinsame Handeln von Bundesregierung und Wirtschaft doch einiges bewegen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ebenso klar sage ich
aber Folgendes: Die Zahlen vom letzten Jahr waren so
schlecht, dass wir nicht mehr nur mit einer Ausbildungsplatzumlage gedroht haben, sondern einen Gesetzentwurf für eine Umlage erarbeitet haben, der fix und fertig
in der Schublade liegt.
({0})
Letztendlich hat wohl nur diese Tatsache die Wirtschaft
dazu bewegt, mit uns diesen Pakt auf halb freiwilliger
Basis zu schließen.
({1})
Vor diesem Hintergrund sind die Zahlen des Paktes
auch durchaus kritisch zu hinterfragen. So ist zum Beispiel die Zahl der nicht vermittelten Bewerberinnen und
Bewerber trotzdem angestiegen. 30 000 neue Ausbildungsplätze pro Jahr und zusätzliche Praktikumsplätze
waren vereinbart. Von dieser Zielmarke sind wir nach
unserer Zahlendefinition derzeit noch entfernt, obwohl
der Staat massiv nachhilft. Mit dem so genannten Einstiegsqualifikationsjahr sollen die Betriebe wichtige
Qualifizierungsschritte übernehmen; aber der Staat
finanziert den Lebensunterhalt der Auszubildenden. Das
ist noch nicht ganz das, was wir uns unter „Die Wirtschaft übernimmt ihre Verantwortung für die duale Ausbildung“ vorstellen.
({2})
Auch die Zahl derjenigen, die sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen der Bundesagentur befinden, ist deutlich gestiegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder hört
man, viel zu viele junge Menschen seien gar nicht ausbildungsfähig, wenn sie von der Schule kommen.
({3})
Dieses Argument kann ich aus mindestens zwei Gründen
nicht gelten lassen:
Erstens übersteigt immer noch die Anzahl der nachfragenden Jugendlichen die Anzahl der angebotenen
Ausbildungsplätze. Es wird wohl niemand behaupten
wollen, es würden erst gar keine Ausbildungsplätze angeboten, weil die Jugendlichen nicht ausbildungsfähig
seien. Das wäre nach meiner Einschätzung wirklich absurd.
({4})
Zweitens muss die Wirtschaft als Ganze ein entschiedenes Interesse daran haben, die Bewerbungsreserven
aller jungen Menschen zu erschließen und diese in qualitativ hochwertiger Ausbildung zu sehen. In absehbarer
Zeit droht uns ein riesengroßer Fachkräftemangel, der in
einigen Bereichen heute schon sichtbar wird. Jeder
ausgebildete Jugendliche trägt zur Behebung dieses
Mangels bei. Jeder ausgebildete Jugendliche ist ein
potenzieller Konsument und Steuerzahler mehr. Jeder
ausgebildete Jugendliche ist einer weniger, der soziale
Transferzahlungen in Anspruch nehmen muss. Dies
senkt schon mittelfristig die Lohnnebenkosten und die
Steuerbelastung, also genau die Kosten, über die sich die
Wirtschaft selbst so oft - auch zu Recht - beschwert.
Dafür kann man durchaus in Kauf nehmen, in die
Ausbildung eines jungen Menschen etwas zu investieren, anstatt ihn als angeblich nicht ausbildungsfähig abzustempeln, nur weil das gegliederte Schulsystem bei
seiner Schulbildung eklatant versagt hat. Den Link zu
den im Bildungsbereich zu erwartenden Ergebnissen der
Föderalismuskommission spare ich mir an dieser Stelle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in bildungspolitischer Hinsicht gibt es mir derzeit in und von der Wirtschaft zu wenige Ideen. In anderen politischen Bereichen nehme ich eine wesentlich stärkere Lobbyarbeit
von Wirtschaftsvertretern wahr. Dort geht es aber wohl
meist um bares Geld. Statt des ewigen Lamentos um die
Rahmenbedingungen und das Schlechtreden der Jugendlichen hätte ich gern gehört, welche Angebote die Verbände für die Risikogruppen unter den Jugendlichen machen, auch weil es sich für sie selbst mittelfristig
wirklich auszahlt.
({5})
Es wird wieder einmal nach dem Staat gerufen, der kräftig Steuergelder in den Pakt hineinpumpt, damit sich
überhaupt etwas bewegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole es:
Der Pakt hat Bewegung in die Diskussion um das duale
System gebracht. Diese Diskussion wirkt sich auch auf
die anstehende Reform des BBiG positiv aus, die wir, so
wie es aussieht, zügig und gut voranbringen können,
damit sie im nächsten Ausbildungsjahr in Kraft treten
kann. Wenn wir darin die Flexibilität für Auszubildende
und Betriebe groß schreiben, ohne von voll gültigen
Berufsbildern abzurücken, können wir hier in diesem
Haus auch damit zur Verbesserung der Lage beitragen.
Abschließend: Die gemeinsamen Anstrengungen von
Bund und Ländern, von Wirtschafts- und Bildungsministerseite beim Pakt und bei der BBiG-Reform sind sicherlich positiv zu bewerten. Trotz alledem ist die Kuh noch
nicht vom Eis. Der Pakt muss seine Wirksamkeit in den
nächsten Jahren erst noch beweisen. Wir müssen den
jungen Menschen im Land zeigen, dass wir sie brauchen,
dass wir wichtige Aufgaben für sie haben und dass wir
ihnen auch zutrauen, unser Land voranzubringen.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Ausbildungspakt kann die in einem Betrieb
vorhandene Bereitschaft zur Ausbildung zwar steigern,
aber er kann die betriebliche Situation nicht verbessern.
Deswegen besteht das entscheidende Kriterium, auf das
wir Einfluss nehmen müssen, in den Rahmenbedingungen, unter denen die Wirtschaft in diesem Land heute
überhaupt handelt. Für Arbeits- wie für Ausbildungsplätze gilt gleichermaßen: Sie werden nur geschaffen,
wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
({0})
Ich bin meiner grünen Kollegin Grietje Bettin sehr
dankbar, dass sie noch einmal auf den vorliegenden fertigen Gesetzentwurf zur Ausbildungsplatzumlage hingewiesen hat.
({1})
Ich freue mich, dass gerade Grietje Bettin dies gesagt
hat, denn es erinnert mich noch einmal an die Äußerung
der grünen Fraktionsvorsitzenden Krista Sager, man
müsse der Wirtschaft mal die Folterwerkzeuge zeigen.
Folterwerkzeuge führen nicht zur Ausbildungsbereitschaft, sondern höchstens dazu, dass man sich da, wo
eine Ausbildungsplatzumlage besteht, aus der Ausbildung freikauft und dieser Verpflichtung nicht mehr nachkommt. Dies lässt sich auch belegen.
({2})
- Selbstverständlich haben Sie Recht, Herr Kollege.
Diese ganze Bundesregierung ist ein Folterwerkzeug.
Aber hier geht es um die Zukunftschancen kommender
Generationen.
In Deutschland lagen die Ausbildungsquote im letzten Jahr bei 6,4 Prozent und die Arbeitslosenquote bei
den Jugendlichen bei 11,5 Prozent; es gab keine Ausbildungsplatzabgabe. In Dänemark, wo Ausbildungsplatzabgaben zu zahlen sind, lagen die Ausbildungsquote bei
3 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bei 10,6 Prozent. In Frankreich betrugen die Ausbildungsquote
1,2 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit 20,1 Prozent;
auch dort sind Ausbildungsplatzabgaben zu zahlen.
An diesen Zahlen erkennen Sie Folgendes: Auch
wenn eine Ausbildungsplatzabgabe oder - wie Sie sie
gerne nennen - Ausbildungsplatzumlage erhoben wird,
führt dies noch lange nicht dazu, dass tatsächlich mehr
ausgebildet wird, sondern eher dazu, dass gezahlt wird
und man sich damit von der Verpflichtung befreit.
({3})
Eine Ihrer ehemaligen Kolleginnen, Herr Tauss als
Lautsprecher der SPD-Fraktion in diesem Themenbereich,
({4})
die jetzt hauptamtliche Funktionärin bei der IG Metall
ist, hat wiederholt gesagt: Wer nicht ausbildet, wird umgelegt. Andersherum wird ein Schuh daraus: Wer umgelegt worden ist, kann nicht mehr ausbilden. Das ist das
Problem.
({5})
Wollen wir noch einen Moment bei den Kollegen der
IG Metall bleiben. Die IG Metall hatte im letzten Jahr
eine Ausbildungsquote von 0,9 Prozent, der DGB von
nur 0,3 Prozent und Verdi von 0,4 Prozent. Wenn man
versucht, den Anspruch mit der Wirklichkeit zu vergleichen, so stellt man fest: Viel heiße Luft, viel intellektuelles Gerede, aber im Endeffekt werden die eigenen Hausaufgaben nicht gemacht.
({6})
Ich will einmal verdeutlichen, was die Ausbildungsplatzumlage brächte, wenn Sie von den Grünen dieses
Folterwerkzeug wieder einmal herausholten. Als wir
über das entsprechende Gesetz berieten, rief mich am
Tag vor der Verabschiedung durch Rot-Grün ein mittelständisches Zeitarbeitsunternehmen an. Sie beschäftigen 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - natürlich
alles Fachkräfte -, die alle bis auf zehn Beschäftigte in
der internen Verwaltung verliehen werden; Auszubildende darf man gar nicht verleihen. Auf diese Mitarbeiter in der Verwaltung kommen zwei Ausbildungsplätze.
Dieses Unternehmen liegt also deutlich über der Quote,
die Sie anrechnen. In dem anderen Bereich dürfen sie
gar nicht ausbilden.
Diese Umlage, die Sie als Folterwerkzeug für die
deutsche Wirtschaft in der Schublade liegen haben,
würde dazu führen, dass dieses Unternehmen bei zehn
Stammkräften entweder 40 neue Auszubildende einstellen müsste oder 240 000 Euro Ausbildungsplatzumlage
zu zahlen hätte. Es werden für die Quote nämlich alle
600 Mitarbeiter zugrunde gelegt. Das ist die Politik, mit
der Rot-Grün Ausbildungsplätze schaffen will. Vielen
Dank!
({7})
Stattdessen müssen die Betriebe wieder die Chance
bekommen, Auszubildende einzustellen. Bei 40 000 Betriebsinsolvenzen im Jahr gibt es nun einmal Menschen,
die zuerst an das Überleben des Unternehmens und nicht
in erster Linie an die Ausbildung denken. Erst später
einmal, irgendwann, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so sind, dass man für sein Unternehmen
auch Zukunftschancen sieht, stellt man wieder jemanden
ein.
Wir müssen natürlich die Frage beantworten, wie die
Berufsbildung insgesamt gestaltet wird. Herr Clement
hat es völlig richtig gesagt: 10 Prozent der Schülerinnen
und Schüler kommen ohne Abschluss aus der Schule
und haben kaum eine Chance, in den Arbeitsmarkt zu
kommen. Noch nicht einmal 10 Prozent aller Ausbildungsberufe in Deutschland sind theoriegemindert.
Warum sollen wir in einem modualen System nicht mehr
Menschen die Chance geben, aufgrund ihrer praktischen
Fähigkeiten in das Erwerbsleben einzutreten, sodass sie
nicht von vornherein als ungelernt ausgegrenzt werden
und dauerhaft auf der Straße bleiben, was natürlich zulasten aller Steuer- und Beitragszahler ginge?
({8})
Wir müssen auch die Frage beantworten, warum die
Ausbildungsvergütungen überproportional stärker als
die Lohnentwicklung gestiegen sind. Kann es nicht vielleicht sein, dass der Kostenfaktor für viele Betriebe auch
in der Phase wichtig ist, wenn während der Ausbildung
noch kein entsprechender Wert erwirtschaftet werden
kann, sodass sie sich fragen müssen, ob sie es sich leisten können, jemanden einzustellen oder nicht? Ich kenne
genügend junge Menschen, die lieber einen Arbeitsoder Ausbildungsplatz mit einer geringeren Vergütung
hätten, als dass sie bei hohen Ausbildungsvergütungen
auf der Straße stehen.
({9})
Man sollte vielleicht einmal darüber nachdenken, ob
man entsprechend der Produktivität und der wirtschaftlichen Situation der Betriebe neue Wege geht.
({10})
Insgesamt ist es gut, dass die Wirtschaft mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt hat. Dadurch soll
auch das duale Bildungssystem gesichert werden, das
wir durch Rot-Grün gefährdet sehen, weil wesentlich
mehr Aufgaben auf den Staat verlagert werden. Es reicht
aber noch nicht aus, um die Probleme der jüngeren Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Wolfgang
Clement hat zu Recht gesagt, dass das der große Punkt
ist, an dem wir ansetzen müssen.
Ich hoffe sehr, dass der Bundesagentur der versprochene Betreuungsschlüssel von einem Mitarbeiter pro
75 arbeitssuchende Jugendliche möglichst schnell zugewiesen wird und dass sie dann auch die Zeit hat, sich um
diese Menschen zu kümmern.
Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, ich bin beim letzten Satz. - Hier ist
es nämlich besonders wichtig, sie individuell an die
Hand zu nehmen, zum Vorstellungsgespräch zu begleiten und nachgehend zu betreuen, damit sie nicht gleich
wieder arbeitslos werden. Dafür brauchen wir die Kapazitäten. Meiner Meinung nach ist die BA dafür nicht geeignet.
Herr Kollege Niebel, in der Aktuellen Stunde beträgt
Ihre Redezeit nur fünf Minuten.
Wir werden über diesen Punkt in Zukunft noch recht
häufig miteinander reden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vielleicht können wir uns jetzt wieder dem Problem zuwenden. Die
FDP will den Jugendlichen die Ausbildungsvergütungen
wegnehmen. Das war die wesentliche Botschaft.
({0})
Darüber können wir nachher noch ein wenig reden.
Der Wirtschaftsminister hat Recht: Trotz vieler Unkenrufe haben wir heute ein erfreuliches Ergebnis zu
vermelden. In den Dank für das Zustandekommen
schließe ich Wolfgang Clement und die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, ausdrücklich mit ein.
({1})
Die Regierung hat hier vieles getan. Die Ministerpräsidentin und die Ministerpräsidenten waren unterwegs und
haben für aussichtsreiche Ausbildungsplätze gekämpft.
Allen Beteiligten ist hier Dank zu sagen. Dies gilt im
Übrigen auch für die Seite der Wirtschaft, auf die ich
gleich noch zu sprechen komme.
Innerhalb von sechs Monaten haben wir es mit dem
Pakt geschafft, einen negativen Trend zu brechen. Lieber
Kollege Lensing, weil Ihr Erinnerungsvermögen hier gering ist, sage ich Ihnen, dass dieser Trend 1991 begonnen hat. 1991 gab es für 100 Bewerber noch 120 angebotene Ausbildungsplätze. 1996 gab es nur 96 Stellen.
2000 und 2001 haben wir diesen negativen Trend nach
unten durch den massiven Einsatz öffentlicher Mittel
stoppen können. Dieser durch öffentliche Mittel herbeigeführte Stopp war in den Jahren 2002 und 2003 nicht
mehr möglich.
Lieber Herr Kollege Niebel, wie falsch Ihre Behauptungen sind, zeigt die Tatsache, dass in dieser Zeit die
Zahl der Ausbildungsplätze auch in Betrieben mit glänzenden Geschäftsergebnissen massiv zurückgefahren
worden ist.
({2})
In der Region, aus der ich komme, Bruchsal, hat die
Firma Siemens, die weiß Gott nicht zu den Armen gehört, ihre Lehrwerkstatt geschlossen.
({3})
Sie sagen, das hat mit Rahmenbedingungen zu tun.
Schauen Sie sich einfach die Bilanzen in diesem Bereich
an und Sie werden erkennen, dass das nicht wahr ist.
Auch Ihre Behauptung, die Umlage habe zur Verschärfung der Lage beigetragen, ist nicht wahr. Das Gegenteil ist richtig. Seit einem halben Jahr gibt es eine
Trendwende. Wir können feststellen, dass diese Trendwende in dem Moment eingesetzt hat, in dem in diesem
Lande eine ernsthafte Diskussion darüber geführt worden ist, ob eine Umlage eingeführt wird, um die Wirtschaft an ihre Verantwortung für die jungen Menschen
zu erinnern, oder nicht.
({4})
Die Betriebe, die sich dieser Aufgabe entziehen, sollten
ein Stück weit an den Ausgaben derer beteiligt werden,
die, wie es sich gehört, seit Jahren die Kosten für die Berufsausbildung tragen. Das war die Umlagedebatte.
({5})
Aus diesem Grunde freue ich mich in der Tat, dass das
Gesetz, das wir verabschiedet haben, Erfolg hat. In § 1
dieses Gesetzes steht deutlich: Dieses Gesetz tritt nicht
in Kraft, wenn mit der Wirtschaft ein freiwilliger Pakt
zustande kommt. Für den Erfolg des Paktes sollen die
Leistungen des Wirtschaftsministers ausdrücklich gewürdigt werden.
Ich sage ganz deutlich: Ich freue mich sehr über das,
was die Wirtschaft zustande gebracht hat, insbesondere
die Bemühungen der Kammern. Ich rede hier von den
Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern. Ich rede nicht von den Kammern der freien
Berufe. In diesem Bereich ist unverändert eine negative
Entwicklung festzustellen. Wenn sich diese Kammern
auch nur vergleichsweise so angestrengt hätten wie die
Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern, hätten wir auch hier ein besseres Ergebnis.
({6})
Dass es allerdings erst im Jahr 2004 möglich war, dass
sich die Kammern aus Handwerk und Industrie überhaupt zusammengesetzt haben - dies wissen wir von den
Kammern selbst -, ist ein zusätzlicher Beweis dafür,
dass es eines gewissen Drucks staatlicherseits bedurft
hatte, um hier weiterzukommen.
Sie haben hier wieder einmal die Mär von sinkenden
Ausbildungszahlen in irgendwelchen Organisationen erzählt. Ich nehme an, die FDP würde eine junge Frau, die
bei der IG Metall ausgebildet worden ist, sofort als Sekretärin einstellen. Das kann ich mir bei Herrn
Westerwelle lebhaft vorstellen. Ich kann Ihnen nur sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion bildet 22 junge Menschen aus. Frau Kressl und ich - darüber freue ich mich
besonders - haben heute Morgen nach einigen Gesprächen eine Auszubildende für die Landesgruppe der SPD
Baden-Württemberg eingestellt.
({7})
Es hat uns sehr gefreut, dass sich sieben Frauen beworben haben. Vor Weihnachten werden wir einer jungen
Frau die frohe Botschaft überbringen können, dass sie
einen Ausbildungsplatz hat.
Wir hatten am Schluss die Wahl zwischen drei
Frauen. Alle diese drei jungen Frauen hatten gute Zeugnisse, und zwar von der Realschule bis zum Fachhochschulabschluss. Also hören Sie, von der FDP und der
Union, auf, die jungen Menschen zu beschimpfen.
({8})
Wir wissen, dass es Menschen mit einem weniger guten
Schulabschluss gibt. Aber auch denen muss man eine
Chance geben. Selbst wenn man sich nur um diejenigen
kümmern würde, die einen ordentlichen Abschluss haben, wäre schon viel gewonnen. Auch hier hat also der
Pakt sein Ziel erreicht.
Herr Göhner, ich spreche Sie nun nicht als Kollegen,
sondern als Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände an. Herr
Hundt hat mir kürzlich in einem nicht ganz freundlichen
Schreiben vorgeworfen,
({9})
ich würde die Leistungen der Arbeitgeber nicht würdigen. Ich würdige sie in allen Fällen. Aber was ich mir
von der BDA wünsche - da haben Sie als Hauptgeschäftsführer Einfluss -, sind zusätzliche Tarifverträge.
Mich hat es im abgelaufenen Jahr sehr enttäuscht, dass
es keinen einzigen neuen Tarifvertrag gegeben hat. Die
Tarifverträge in der Chemie- und Bauindustrie gelten unverändert. Herr Göhner, es ist die Aufgabe der Arbeitgeberverbände, sich mit den Gewerkschaften zusammenzusetzen, um auf dem Weg, den wir hier beschritten
haben und der den jungen Menschen weiterhilft, über tarifvertragliche Vereinbarungen voranzukommen. Diese
Bitte möchte ich an Sie in diesem Zusammenhang richten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als Allererstes meinen Dank an die Vielzahl von Unternehmen
und Betrieben aussprechen, die mit großen Anstrengungen dafür gesorgt haben, dass die Situation am Ausbildungsmarkt deutlich verbessert worden ist.
({0})
Damit haben sie klar zum Ausdruck gebracht, dass sie
ihrer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen in
unserem Land nachkommen wollen und ihre Aufgabe,
jedem ausbildungswilligen und ausbildungsfähigen Jugendlichen eine Lehrstelle anzubieten, sehr ernst nehmen.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie werfen
den Oppositionsparteien regelmäßig vor, wir würden das
Land schlechtreden, wenn wir auf die Missstände Ihrer
Politik hinweisen. Aber wir respektieren und anerkennen
die Leistungen der Wirtschaft in diesem Land, die es
trotz der verheerenden Rahmenbedingungen mit nahezu
40 000 Unternehmenspleiten auch dieses Jahr geschafft
haben, dass die Zahl der Ausbildungsverträge zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder steigt. 573 000 Ausbildungsverträge sind bis Ende September geschlossen
worden, also 3 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.
Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage in
Deutschland ist das meines Erachtens eine beachtliche
Leistung.
In der Nachvermittlungsphase ist die rechnerische
Lehrstellenlücke halbiert worden. Das heißt, die Nachvermittlung ist in diesem Jahr schon doppelt so erfolgreich wie die im letzten Jahr. Das ist das Ergebnis der
freiwilligen Kraftanstrengung Tausender von Betrieben,
die ihrer Verantwortung nachkommen, und zwar ohne
staatliche Zwangsregulierung durch Ihre Ausbildungsplatzabgabe.
Die Einzigen, die heute den Ausbildungspakt als gescheitert ansehen, sind die Gewerkschaften.
({1})
Ich zitiere aus einer Pressemeldung der IG Metall vom
3. Dezember dieses Jahres. Darin steht wörtlich:
Die IG Metall geht nicht mehr von einer Trendwende für das Ausbildungsjahr 2004 aus. … die
Nachvermittlungsaktionen der Bundesagentur für
Arbeit zeigten kaum Wirkung. „Der Ausbildungspakt hat sich als Mogelpackung entpuppt.
({2})
Es ist Zeit, dass die Verantwortlichen sich dieser
Wahrheit stellen“, …
Meine Damen und Herren, Sie philosophieren so
gerne über das Schlechtreden unseres Landes. Nehmen
Sie hier Ihre Verantwortung wahr und erklären Sie den
Gewerkschaften, wie unverantwortlich es ist, wenn es
um die Existenz junger Menschen geht, unser Land und
die Leistungen der Wirtschaft so schlechtzureden. Da
liegt Ihre Verantwortung.
({3})
Ich bedauere, dass nicht alle Jugendlichen die Nachvermittlungsangebote annehmen. 13 Prozent der registrierten Jugendlichen lassen sich nicht vermitteln, zeigen
kein Interesse oder haben zwischenzeitlich andere Alternativen gefunden. Festzustellen ist, dass es sich hier
nicht um mangelndes Engagement der Wirtschaft handelt, sondern dass es andere Gründe gibt, warum keine
Nachvermittlung stattfindet. Insgesamt bin ich der Überzeugung, dass wir nach wie vor ausreichend Potenzial
auf dem Ausbildungsmarkt in Deutschland haben, dass
wir noch eine deutliche Verbesserung der Situation für
die jungen Menschen in unserem Land erreichen und die
verbleibende Ausbildungslücke schließen können.
Dies kann aber in keiner Weise bedeuten, dass das
Problem der Zukunft der Berufsausbildung in Deutschland damit gelöst ist. Darüber müssen wir uns im Klaren
sein. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung,
die Rahmenbedingungen für die Unternehmen und die
Betriebe zu verbessern, weil unsere Betriebe nicht ausbilden werden, wenn sie keine Zukunftsperspektive haben. Über ein Drittel der Betriebe im Land machen keinen Gewinn mehr. 50 Prozent der Mittelständler haben
nahezu ihr Eigenkapital aufgebraucht. Jedes zweite Unternehmen will innerhalb der nächsten drei Jahre Arbeitsplätze oder Produktionsstätten teilweise oder komplett ins Ausland verlagern. Gerade der Mittelstand kann
keine 30 000 Euro in eine dreijährige Ausbildung eines
Lehrlings investieren, wenn er keine Chance sieht, den
Auszubildenden anschließend weiterzubeschäftigen.
Diese sich zunehmend verschärfende Misere lösen
Sie durch den Ausbildungspakt alleine nicht. Herr Minister Clement, Sie selber haben bestätigt, dass der Ausbildungspakt als Erfolg zu bewerten ist. Ich teile Ihre
Einschätzung, was das Ergebnis, nicht aber was die Vorgehensweise betrifft. Der IG-Metall-Chef Jürgen Peters
spricht von einem gescheiterten Ausbildungspakt und
fordert für 2005 die Ausbildungsplatzabgabe. Einsicht
war allerdings bei den Gewerkschaften ohnehin nicht zu
erwarten. Die angeführten Zahlen belegen aber eindeutig, dass eine freiwillige Lösung erfolgreicher ist als eine
zentral gesteuerte Zwangsverpflichtung in Form einer
Ausbildungsplatzabgabe,
({4})
die lediglich zu mehr Bürokratie und zu weniger Ausbildungsplätzen geführt hätte. Herr Minister, ich appelliere
an Sie: Verunsichern Sie die Wirtschaft nicht weiter!
Sorgen Sie dafür, dass Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze weiter in Deutschland entstehen! Werfen Sie das
Gesetz zur Ausbildungsplatzabgabe in den Müll! Da gehört es hin.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dobrindt, Sie sind, wie mir scheint, bei der Auswahl Ihrer Bündnispartner, wenn es darum geht, das
Land schlechtzureden, nicht sonderlich wählerisch.
({0})
Auch die IG Metall kann sich irren.
({1})
Tatsache ist: Mit dem Ausbildungspakt hat der Lehrstellenmarkt einen ganz neuen Schub bekommen. Ich
möchte an vorderster Stelle den Handwerksmeistern und
den Handwerkskammern danken, die durch ihren großen
persönlichen Einsatz, durch Klinkenputzen ungeheuer
viel getan haben, um zusätzliche Ausbildungsplätze für
Jugendliche zu suchen. Es ist deutlich geworden, dass jeder Einzelne und jede Einzelne dazu beitragen kann,
dass es auch unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen - die wollen wir nicht leugnen - möglich ist, Betriebe für die Berufsausbildung zu gewinnen.
Besonders interessant finde ich, dass Kleinbetriebe
überdurchschnittlich viele benachteiligte Jugendliche
ausbilden. Wirtschaftsminister Clement hat das Problem
angesprochen, dass ein großer Teil eines jeden Jahrgangs
durch vielfache Fehlleistungen der Schule, des Umfelds
und der Familie erhebliche Schwierigkeiten am Ausbildungsmarkt hat. Erst kürzlich hat eine Studie des Deutschen Jugendinstitutes unterstrichen und nachgewiesen,
dass benachteiligte Jugendliche die Ausbildung gerade
in kleinen Betrieben besonders erfolgreich absolvieren.
Denn das Näheverhältnis zum Ausbilder ist der entscheidende Faktor, der diesen jungen Menschen, die leider
von vielen Großunternehmen als ausbildungsunfähig abgestempelt werden, eine Chance bietet.
Während wir auf der einen Seite Kleinbetriebe und
Handwerksunternehmen loben können und müssen,
müssen wir auf der anderen Seite Großunternehmen, die
nicht selber ausbilden, obwohl sie profitabel wirtschaften, kritisieren. Herr Tauss hat zutreffend festgestellt,
Herr Niebel, dass es eine Reihe sehr profitabler Großunternehmen gibt, die leider nicht ausbilden. Das ist das
Problem.
Problematisch ist auch, dass das für alle anderen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben geltende Prinzip, dass
diese vorrangig von denjenigen mit den stärksten Schultern getragen werden müssen, für die gesamtwirtschaftliche Aufgabe Ausbildung nicht gilt. Dieses Problem
muss auch benannt werden. Angesichts der Tatsache,
dass profitable Großunternehmen nicht ausbilden, sollte
man nicht so tun, als ob die Ausbildungsvergütungen das
zentrale Problem darstellten.
Sagen Sie doch den jungen Menschen, was Auszubildende tatsächlich verdienen! So betrug 2003 die tarifliche Ausbildungsvergütung für einen Bäcker in den
neuen Ländern im ersten Ausbildungsjahr 325 Euro. Ist
das etwa viel? Sagen Sie den jungen Bäckerlehrlingen
auch, dass Sie diesen Betrag noch senken wollen!
({2})
Zum Vergleich - ich will schließlich fair sein - ziehe
ich noch ein Beispiel aus einer Branche heran, der es
besser geht, nämlich der Chemieindustrie. Der Tariflohn
eines Chemikanten im vierten Ausbildungsjahr beträgt
in Westdeutschland 800 Euro. Ein Auszubildender im
vierten Ausbildungsjahr ist in der Regel 20 Jahre alt.
Aus meiner Sicht sind 800 Euro für ihn eine angemessene Entlohnung in einem technisierten Beruf. Diese
Entlohnung wird zwischen den Tarifpartnern vereinbart.
Wenn Sie sie antasten wollen, dann teilen Sie das den
Menschen auch mit! Ich werde das jedenfalls tun und
den Menschen vor Ort sagen, was Sie im Deutschen
Bundestag als Patentrezept empfehlen.
({3})
Ich kann meine Kritik nicht pauschal auf die Großunternehmen beziehen. Ein Blick auf die Situation von
Menschen mit Behinderungen macht deutlich, dass es
auch Großunternehmen gibt, die zeigen, dass es anders
geht. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, will ich
- ohne Schleichwerbung betreiben zu wollen - ein hervorragendes Beispiel anführen, nämlich den Metro-Konzern, der sich in vorbildlicher Weise der Instrumente der
Bundesregierung bedient, wenn es um die Förderung
und Ausbildung von schwerbehinderten Jugendlichen
geht
({4})
- Sie können sich ruhig darüber lustig machen -, und
sehr erfolgreich zeigt, dass man gleichzeitig Geld verdienen und junge Menschen mit Benachteiligungen in
Ausbildung bringen kann.
({5})
Denn eines ist richtig: Wenn 10 bis 15 Prozent eines
Jahrgangs Schwierigkeiten am Ausbildungsmarkt haben,
weil sie über keine oder nur eine sehr schlechte Schulbildung verfügen, und wenn 40 000 bis 50 000 der Abgänger aus berufsvorbereitenden Maßnahmen trotz aller Anstrengungen und Qualitäten leider nicht weitervermittelt
werden können - diese Zahl akkumuliert sich innerhalb
von zehn Jahren auf eine halbe Million Menschen -,
dann heißt das, dass wir ein Riesenproblem haben und
eine entsprechende Initiative brauchen.
Die Ausbildungsplatzumlage hat uns auf die Sprünge
geholfen, den Ausbildungspakt in Gang zu bringen. Ich
glaube, das war eine Initialzündung, von der wir noch
einige Jahre profitieren werden. Wir jedenfalls werden
daran arbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bundesminister Clement, Sie waren gegen die Abgabe
und für den Pakt. Es ist gut, dass Sie heute anwesend
sind. Frau Bulmahn war für die Abgabe und zunächst
gegen den Pakt. Es ist bezeichnend, dass sie heute nicht
anwesend ist.
({0})
Die Beschäftigungskrise, die Schröder mit initiiert
hat, liegt nach wie vor wie Blei auf dem Ausbildungspakt. Ohne statistische Tricks müsste Rot-Grün heute die
höchste Arbeitslosigkeit vorweisen, die seit der deutschen Wiedervereinigung in einem November gemessen
wurde. Zum zehnten Mal in Folge steigen die saisonbereinigten Arbeitslosenzahlen. Seit Juni 2001 sind über
1,2 Millionen Jobs in Deutschland abgebaut worden.
Fast 80 000 Betriebe sind vom Markt verschwunden.
Hier zeigt sich die wahre Bedeutung der von Herrn
Schröder neu entdeckten Politik der ruhigen Hand, die
ich wie folgt skizzieren möchte: Es ist besser, nichts zu
tun, als mit viel Mühe nichts zu schaffen.
Erst auf Umwegen haben Sie zum Ausbildungspakt
gefunden. Es ist gut, dass er ansatzweise wirkt, dass sich
die rechnerische Ausbildungsplatzlücke seit September
dieses Jahres auf 17 500 halbiert hat und dass im neuen
Ausbildungsjahr 520 000 betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen wurden. Das sind 22 556 mehr als im
Vorjahr, ein Plus von 4,5 Prozent. Ein Dank allen Unternehmern, Ausbildern, Kammervertretern sowie Betriebs- und Personalräten, dass dies mit ihrem Einsatz
möglich war!
Wir haben zwar 23 000 Praktikumsplätze für Minderqualifizierte,
({1})
aber bundesweit nur 3 800 abgeschlossene Verträge.
({2})
- Vollkommen richtig, „wir haben“. Herr Tauss, der
liebe Gott hat Ihnen zwei Ohren und einen Mund gegeben und will Ihnen damit sagen: Zweimal hinhören und
einmal dazwischenrufen!
({3})
Bedenklich ist allerdings, dass unter den 3 800, die einen Vertrag für einen Praktikumsplatz abgeschlossen haben, 1 200 Schulabgänger sind, die eine höhere Schule
besucht und mindestens die mittlere Reife haben. Es besteht zumindest die Gefahr, dass hier keine Einstiegsqualifizierung für Benachteiligte, sondern auf Dauer eine
Warteschleife für Qualifizierte geschaffen worden ist.
Des Weiteren ist ein Zeitverlust durch den Irrweg zu
beklagen, den Sie mit der Ausbildungsplatzabgabe beschritten haben. Dadurch wurde ein halbes Jahr verloren.
Die Zahlen wären besser, wenn früher umgesteuert worden wäre. Betriebliche Ausbildung findet natürlich in
den Betrieben statt. Hier sind aber Reformen, die Sie bereits vor sechs Jahren angekündigt haben, offenkundig
verschlafen worden. Sie haben außerdem einen Abgabendoppelbeschluss gefasst: Sie haben ein Bürokratiemonster geschaffen und damit die Betriebe zunächst
bedroht. Wenn es Ihnen passt, holen Sie das Monster
Abgabe wieder hervor. Doppelbeschlüsse sind aber Relikte eines kalten Krieges, den Sie mit der Wirtschaft
führen. Hier müssen Sie erst einmal mental abrüsten.
({4})
Wenn Sie sehen wollen, welche Früchte Ihre Mentalität trägt, dann sollten Sie beispielsweise die Berufsschule in Nürtingen besuchen, an der Jungsozialisten,
Sozialdemokraten und Gewerkschafter auf Flugblättern
und Käppis den Ausbildungsmarkt als „Sklavenmarkt“
bezeichnen und an der Ausbildungsbetriebe als „Sklavenhalter“ diffamiert werden. Das ist sicherlich alles andere als förderlich für die Ausbildungsmotivation. Ich
habe Ihnen eines der Käppis zur Ansicht mitgebracht,
die von Ihren Parteikollegen derzeit an den Berufsschulen verteilt werden. Mit der Bezeichnung „Sklavenhalter“ werden alle Ausbildungsbetriebe in Deutschland
diffamiert.
({5})
Die Schattenseite des Ausbildungspaktes ist die Bundesregierung, die sich verpflichtet hat, die Finanzierung
der Ausbildungshilfen auf dem Niveau des Vorjahres zu
belassen. Die Arbeitsämter meldeten Ende November
dieses Jahres - im Gegensatz zu den Zahlen, die der Minister vorgetragen hat - bei den ausbildungsbegleitenden
Maßnahmen ein Minus von 12,3 Prozent und bei den außerbetrieblichen Plätzen ein Minus von 4 Prozent. Sie
haben außerdem 80 000 Arbeitslose, die sich in Trainingsmaßnahmen befinden, durch einen Federstrich aus
der Statistik entfernt.
Das Erreichen des Paktzieles, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz oder zumindest eine Qualifizierung anzubieten, ist auch in diesem Jahr - zum sechsten
Mal in Folge - gefährdet. Der Pakt bedarf der Ergänzung, und zwar - sie ist längst überfällig - durch eine
Modernisierung der Berufsausbildung und insbesondere
des Berufsausbildungsgesetzes.
({6})
Ein Beispiel: Es gibt 1,3 Millionen Schulabgänger bis
29 Jahre ohne eine berufliche Ausbildung - hierüber
führen wir zwar bislang gute Gespräche; diese mussten
aber vertagt werden, weil sich zuvor das Klima verbessern soll - und 55 000 Auszubildende, die derzeit in einer zweijährigen Berufsausbildung oder in einer gestuften Ausbildung sind. Von den 360 Berufsbildern sind
aber nur 8 Prozent stufenweise organisiert. Gelänge es
uns, den Anteil der Stufenausbildung auf 30 oder 40 Prozent aller Berufsbilder durch eine Novellierung des Berufsausbildungsgesetzes zu erhöhen, hätten zusätzlich
50 000 Schulabgänger eine berufliche Perspektive und
wären nicht mehr in einer Warteschleife oder auf der
Straße.
({7})
Unsere Vorschläge zur Novellierung des Berufsausbildungsgesetzes liegen Ihnen vor.
Ich wünsche Ihnen allen - es ist meine letzte Rede in
diesem Jahr - ein gesegnetes Weihnachtsfest und der
Bundesregierung im neuen Jahr die Einsicht: Es ist besser, mit der Opposition etwas zu machen, als mit ruhiger
Hand die Dinge weiter treiben zu lassen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Wend, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Beginn möchte ich gerne versuchen, deutlich zu machen,
worüber wir heute streiten. Leider ist es so, dass einige
Zehntausend Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren bis
jetzt noch immer keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Was bedeutet das für die Jugendlichen? Ihnen wird
signalisiert, dass ihr Wissen, ihre Talente und ihre Fähigkeiten in unserer Gesellschaft nicht gefordert sind. Es
gibt für junge Menschen nichts Schlimmeres, als in dieser Lebensphase ein solches Signal zu bekommen.
({0})
Deswegen ist es unser aller Aufgabe, alles zu tun, um
diesen Missstand zu beseitigen.
({1})
Jenseits aller inhaltlichen Differenzen bitte ich Sie,
folgende Punkte zur Kenntnis zu nehmen:
Erstens. Lassen Sie uns - das sage ich gerade an meinen Vorredner gerichtet - ideologisch abrüsten! In Bezug auf die möglichen Ursachen dieses Problems, die
hier von links bis rechts in diesem Haus benannt wurden,
hat jeder ein Stück weit Recht. Man hat erst dann Unrecht, wenn man meint, dass der von einem selbst genannte Punkt die einzige Ursache dieser Problematik ist.
Ich will das erläutern. Jörg Tauss hat völlig zu Recht
gesagt: Es ist eine Zumutung, dass Unternehmen, die in
unserem Land Milliardengewinne machen, gleichzeitig
die Zahl der Ausbildungsplätze zurückführen. Dafür gibt
es keine legitime Begründung. Das ist untragbar. Das
muss man auch so benennen.
({2})
Das heißt aber doch nicht, dass das die einzige Ursache
dafür ist, warum es in unserem Land zu wenige Ausbildungsplätze gibt. Man muss nach weiteren Ursachen suchen.
Zweitens. Die Union hat auf die fehlende Ausbildungsfähigkeit vieler Jugendlicher hingewiesen. Diese
Behauptung ist zutreffend. Die Fertigkeiten im Hinblick
auf Rechtschreibung, Rechnen und Sonstiges mancher
Jugendlicher sind schlichtweg nicht akzeptabel.
({3})
Das Ganze wird dann problematisch, wenn der Eindruck
entsteht, das sei der einzige Grund dafür, warum es zu
wenige Ausbildungsplätze gebe.
({4})
Das ist nicht der Fall. Dieser Grund ist einer von mehreren Gründen dieses Problems.
Drittens. Herr Niebel hat ausnahmsweise einmal
Recht, wenn er sagt, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Bedeutung sind. Wer leugnet denn,
dass sich ein mittelständisches oder ein kleines Unternehmen, das sich fragen muss, wie es in den nächsten
Monaten über die Runden kommt, zwangsläufig weniger
Gedanken über die Schaffung von Ausbildungsplätzen
macht? Das ist wahr. Aber auch das kann eben nicht der
einzige Grund für das Fehlen von Ausbildungsplätzen
sein. Wenn das der einzige Grund wäre, dann wäre es
verwunderlich, dass auch diejenigen Unternehmen, die
glänzend verdienen, Ausbildungsplätze abbauen.
Damit will ich Folgendes sagen: Jeder von uns sollte
das, was er für die Ursache der Jugendarbeitslosigkeit
hält, nicht für die einzige Ursache halten; vielmehr sollte
man sämtliche Ursachen sehen. Inzwischen liegen die
Ursachen dieser Probleme ja fast auf der Hand. Wenn
uns das gelingt, dann kommen wir weiter. Wir erkennen
dann, dass wir einen Pakt, eine noch bessere Bildungspolitik und verbesserte wirtschaftliche Rahmenbedingungen brauchen. Wir dürfen das eine nicht gegen das
andere ausspielen.
({5})
Bei einigen Ihrer Reden hat mich auch gestört, dass
immer „Man müsste doch einmal …“ und „Die anderen
tun doch nichts; Verdi, DGB, IG Metall bilden nicht aus;
man müsste doch dieses und jenes tun“ durchklang. Ich
frage Sie: Was tun Sie eigentlich persönlich, um die Situation zu verändern? Sie können einiges tun!
Ich persönlich mache glänzende Erfahrungen damit,
dass ich seit Oktober 2004 eine 16-Jährige im Rahmen
des EQJ-Programmes im Wahlkreisbüro beschäftige. Es
handelt sich dabei um eine Hauptschülerin, die über
60 Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz verschickt
hat, ohne einen Ausbildungsplatz in diesem Land zu finden. Ich glaube, wenn wir neben der Wirtschaft Ausbildungs- oder Qualifizierungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen würden, dann wäre das eine Hilfe. Der
überwiegende Teil der Landesgruppen unserer Fraktion
macht das. Ich wiederhole: Nicht, man müsste sich fragen, sondern wir alle können und müssen uns fragen,
was unsere Beiträge dazu sind, dass wir vorankommen.
({6})
Ein zweites Beispiel bezieht sich auf meinen Wahlkreis Bielefeld. Dort wurde der Verein „Wir werden ausbildungsfähig“ gegründet. Vorsitzender ist übrigens ein
FDP-Ratsherr, ein ehemaliger Geschäftsführer eines Unternehmens, der die Zeit, die er nun hat, hervorragend
verwendet. Der Verein hat Paten angeworben. Das sind
Betriebsräte, ehemalige Unternehmer, pensionierte Richter. Diese ehrenamtlichen Paten begleiten junge Auszubildende und Praktikanten, die Schwierigkeiten haben,
mit der Situation klarzukommen, die - um es deutlich zu
sagen - Schwierigkeiten haben, morgens pünktlich aufzustehen, oder die Schwierigkeiten in der Schule haben.
Dieser Verein begleitet also mit ehrenamtlichen Paten
diese jungen Menschen, um sie an die Ausbildungsfähigkeit heranzuführen und ihnen eine Chance für das
Leben zu geben.
Was ich - abschließend - damit meine: Wenn wir ideologisch abrüsten, nicht mit dem Finger auf andere zeigen, sondern die Sache gemeinsam anpacken und optimistisch in die Zukunft schauen, dann werden wir dieses
Problem wie übrigens auch viele andere Probleme in unserem Land lösen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Bernward Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidenten! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich ein bisschen
darüber gewundert, dass die SPD für heute eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema eingefordert hat. Sie wissen,
dass die Union andere Vorstellungen dazu hatte. Wir
wollten uns mit Ihnen über die prekäre Situation der
Rentenkassen unterhalten. Nach Ihren Redebeiträgen
und etwas Nachdenken ist mir klar geworden: Sie brauchen für Ihren Weihnachtsfrieden noch ein paar Zahlen,
die optimistisch stimmen. Die sind von meinen Vorrednern aus der SPD auch geliefert worden.
({0})
Sicher, das Thema ist wichtig.
({1})
- Das Thema ist wichtig. Herr Tauss, denken Sie daran:
ein Mund, zwei Ohren.
({2})
Darüber, wie es mit der Aktualität aussieht, ließe sich
streiten.
Wenn wir dieser Aktuellen Stunde gerecht werden
wollen, dürfen wir uns nicht nur auf die Zahlen beziehen, die durchaus einen Erfolg zeigen, sondern wir müssen uns die Frage stellen: Wie ändern wir die Situation
zukünftig? Ich habe in der Debatte den Eindruck gewonnen, als sei dieser Pakt, dieser Vertrag zwischen Wirtschaft und Politik, ein Dauerbrenner, als gäbe es gar
keine Lösungen für die Zukunft. Wir müssen aber doch
etwas dafür tun - das ist entscheidend für die Politik -,
dass wir solche Pakte nicht mehr brauchen.
({3})
Dazu ist mir in der Debatte so viel noch nicht zu Ohren
gekommen, jedenfalls nicht von denen, die heute die
Verantwortung tragen.
({4})
Es ist richtig - darin stimme ich Ihnen voll und ganz
zu -: Eine Ausbildung ist besser als gar keine Ausbildung. Aber es ist noch nichts zu den Fragen gesagt worden: Wie ist es eigentlich mit dem Ausbildungsverlauf?
Wie ist es mit der Motivation der Auszubildenden?
Wenn heute jemand eine Ausbildung in einem Betrieb
vermittelt bekommt, aber für den Betreffenden von
vornherein klar ist, dass eine Übernahme nach Abschluss der Ausbildung nicht möglich ist, auch die
Chance auf eine Beschäftigung nach der Ausbildung in
seiner Region, ja vielleicht sogar in ganz Deutschland
nicht besteht, dann ist doch zu fragen: Was ist angesichts
dessen für eine Motivation zu erwarten?
Da müssen wir ansetzen. Wir müssen in der Politik
dafür Sorge tragen, dass die Nachfrage nach Auszubildenden und die Nachfrage nach Arbeitskräften steigen.
Das ist die Forderung, die Sie in Ihrer Wirtschaftspolitik
umsetzen müssen. Daran fehlt es, seit Sie die Verantwortung tragen. Das ist das wahre Dilemma.
({5})
- Meinen Beitrag zur Lösung werde ich zum Schluss
nennen, wenn ich es nicht vergesse und noch die Zeit
dazu habe.
Sie haben in Ihren Reden immer darauf hingewiesen,
dass gerade die mittelständischen Unternehmen die Träger der Ausbildung sind. Zugleich haben Sie hier Ihre
Busenfreunde, nämlich die großen Unternehmen, gegeißelt. Das sind doch die, die nicht ausbilden und die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern.
({6})
Bernward Müller ({7})
Das haben Sie doch vorhin in Ihren Beiträgen gesagt.
Wenn Sie das ernst meinen, sollten Sie durch Ihre Politik
doch auch die unterstützen, die die Hauptlast der Ausbildung in Deutschland tragen. Genau das vermisse ich
aber bei Ihrer Wirtschaftspolitik.
({8})
Sie geißeln den Mittelstand, erwarten aber, dass der Mittelstand Ihnen entgegenkommt und mehr ausbildet. Das
geht für mich nicht zusammen.
({9})
Die Doppelzüngigkeit, Herr Tauss, ist in den Reden
von Ihrer Seite doch deutlich geworden. Sie loben Ihre
Politik, Sie loben Ihre Regierung, aber beim Lob für die
Wirtschaft ist Ihnen doch schon die Spucke im Hals hängen geblieben. Dieses haben Sie doch gar nicht mehr
über Ihre Lippen bringen können. Das ist doch das
wahre Problem.
({10})
Nun mein Tipp: Weihnachten ist die Zeit der guten
Wünsche.
({11})
Insgesamt sollte man sich etwas mehr Zeit nehmen. Ich
empfehle Ihnen: Lesen Sie unsere Anträge zur Entwicklung der Wirtschaft in Deutschland, die wir bereits vorgelegt haben. Ziehen Sie die richtigen Schlüsse. Ich
wünsche Ihnen ganz einfach, dass Sie dadurch die Einsicht gewinnen, um die Dinge zu ändern, die Sie noch
ändern können.
({12})
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die fünf Minuten, die einem in der
Aktuellen Stunde bleiben, dafür nutzen, das Augenmerk
des Hauses auf eine besondere Gruppe von Jugendlichen
zu richten, nämlich auf Jugendliche ausländischer Herkunft oder zugewanderte Jugendliche.
Die Versorgung mit Ausbildungsplätzen ist ja insgesamt schlecht, aber in Bezug auf ausländische Jugendliche ist sie besonders schlecht. Jugendliche mit ausländischem Pass machen zwar 10 Prozent der Jugendlichen
aus, besetzen aber nur 6 Prozent der Ausbildungsplätze.
Man kann es anders sagen: Die Ausbildungsquote junger
Menschen deutscher Herkunft liegt durchschnittlich bei
60 Prozent, zurzeit bei etwas über 50 Prozent, die Ausbildungsquote Jugendlicher ausländischer Herkunft liegt
20 Prozentpunkte darunter. Diese Schere geht immer
weiter auseinander. Auch wenn hier eher eine Generaldebatte über das Thema Ausbildung geführt wird,
möchte ich jetzt trotzdem das Augenmerk besonders auf
diese Gruppe junger Menschen richten.
Wir können noch so viele hochheilige Debatten über
Patriotismus, Leitkultur und anderes führen; an einer
solchen Frage jedoch - das wissen wir alle - entscheidet
sich, welches Bild junge Menschen von unserem Land
erhalten und ob sie eher positive oder negative Eindrücke mitbekommen.
({0})
Deshalb halten wir es für richtig und erkennen es an,
dass beim Pakt für Ausbildung auch diese Frage aufgegriffen wurde. Wir sind in dieser Frage auch noch einmal
dadurch sensibilisiert worden, dass unser Wirtschaftsminister berichtet hat, dass die Zahl der Jugendlichen mit
Migrationshintergrund bzw. ausländischer Herkunft
noch zunehmen wird. Er hat Zahlen aus NordrheinWestfalen genannt, die deutlich machen, welch große
Verantwortung wir hier tragen.
Ausgehend von dieser Analyse möchte ich drei
Punkte ableiten:
Der erste Punkt ist, dass wir nicht erwarten dürfen,
dass ausländische Jugendliche bzw. solche mit Migrationshintergrund vor allem in Betrieben ausgebildet werden, die von ausländischen Unternehmern geführt werden. Nichtsdestotrotz müssen wir uns darum bemühen,
dass die zunehmende Zahl ausländischer Unternehmer
dafür gewonnen wird, sich in ihren Betrieben stärker für
Ausbildung zu engagieren. Dieses ist Bestandteil des
Ausbildungspaktes. Die Reserven, die hier vorhanden
sind, werden an folgendem Vergleich deutlich: Insgesamt ist nur die Hälfte der Betriebe, die theoretisch ausbilden könnten, bereit, auch auszubilden. Bei Betrieben
jedoch, die von ausländischen Unternehmern geführt
werden, liegt diese Quote deutlich niedriger. Hierfür gibt
es Gründe: die Vertrautheit mit dem dualen Berufsbildungssystem in Deutschland, die Struktur in diesen Betrieben usw. Das darf uns aber nicht ruhen lassen. Deshalb ist ein Beitrag, den wir gemeinsam leisten können,
die Potenziale in diesen Betrieben zu mobilisieren, sodass in ihnen deutlich mehr ausgebildet wird. 50 000 von
insgesamt 280 000 solcher Betriebe könnten aktiver
werden. Es ist gut, dass das im Ausbildungspakt vorgesehen ist. Es ist gut, dass die Regierung das mit dem Projekt KAUSA macht. Es ist auch gut, wenn wir alle in unseren Bereichen dafür antichambrieren, werben, Mut
machen und motivieren.
({1})
Der zweite Punkt: Kollege Niebel hatte angesprochen, dass sich durch die Betreuungsrelation von eins zu
75, die sich durch die Hartz-Reformen in den Arbeitsagenturen für Jugendliche ergeben wird, die große
Chance besteht, zu einer ganz anderen Qualität des Betreuungsverhältnisses zu kommen. Das betrifft dann
tatsächlich auch sehr viele Jugendliche ausländischer
Herkunft, die keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben.
Ich möchte zu bedenken geben, ob es uns eigentlich
ruhen lassen kann, dass wir - so vermute ich nach meinen Recherchen jedenfalls - mehr junge Polizisten ausländischer Herkunft - aus guten Gründen - als qualifizierte Menschen bei der BA oder bei den Kommunen
haben, die die jungen Leute mit ansprechen könnten.
Mein direkter Wunsch an die Regierung, auch zu diesem
Zeitpunkt, ist, einmal bei der Agentur nachzufragen, ob
man angesichts des Kooperationskorridors, der sich auftut, nicht mehr Menschen gewinnen könnte, die speziell
diese Jugendlichen nicht unbedingt auf Türkisch ansprechen, aber mitnehmen, animieren können, dicht an ihnen
dranbleiben können, sogar bis in ihr familiäres Milieu
hinein. Es wäre gut, wenn wir das nicht nur in Bezug auf
junge Polizisten, sondern auch in Bezug auf junge Menschen, die in Arbeit gebracht werden sollen, in Erwägung ziehen würden und die BA sich entsprechend organisierte.
Ich will einen anderen Gedanken dazu vortragen. Es
ist gut, dass es 1 500 ehrenamtliche Ausbildungsplatzakquisiteure gegeben hat. Meine Gespräche mit den Industrie- und Handelskammern haben allerdings eher ergeben, dass durch sie nicht so viel bewegt wird, sondern
eher durch die Hauptamtlichen. Wie wäre es, wenn wir
in Deutschland 5 000 ehrenamtliche Ausbildungsbegleiter für Jugendliche ausländischer Herkunft oder auch für
solche Personen, deren Migration möglicherweise etwas
länger zurückliegt, gewinnen könnten? Ich glaube, da
liegen ganz große Chancen.
Der Kollege Wend hat das Thema angesprochen, was
Sie und was wir selbst machen. Ich habe eine Ausbildungspatenschaft für einen ausländischen Jugendlichen
in einem ausländischen Betrieb übernommen, der erstmals ausbildet; das war eine besondere Kombination.
Ich muss sagen, dass es kein leichter Zugang war. Ich
habe immens viel gelernt. Wenn wir das alle täten, wäre
das ein Integrationszeichen, das unserem Haus gut anstehen würde.
({2})
Der dritte Punkt bezieht sich auf den größeren Rahmen. So friedlich, wie es bisher war, muss ich doch an
dieser Stelle eine Anmerkung zum Kollegen Lensing
machen, damit wir die Situation in anderen Ländern
möglichst ideologiefrei auf uns wirken lassen können.
Schweden und Deutschland haben, wie man bei einem
Vergleich feststellen kann, einen ziemlich gleichen Zuwanderungsanteil. Aber die Schweden haben einen ganz
anderen Integrationsanteil, auch was junge Menschen in
Ausbildung angeht. Wir holen das - mit dem Zuwanderungsgesetz und der Sprachenverpflichtung - erst nach
und nach auf. Im Bereich Bildung haben wir unseren
Rückstand noch nicht aufgeholt.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deshalb möchte ich den Kollegen Lensing ausdrücklich bitten, die alleinige Konzentration auf die Bewahrung der Hauptschule etwas zu relativieren und das Interesse von jungen Menschen, nicht diskriminiert und in
eine Schulform abgeschoben zu werden, und die Förderung dieser jungen Menschen in den Vordergrund zu
stellen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
Das funktioniert in einem anderen Bildungssystem
besser. Deshalb führen wir diese Debatte weiter, hoffentlich auch zwischen Bund und Ländern. Kämpfen Sie
auch für die gemeinsame Bildungsverantwortung von
Bund und Ländern, liebe Kollegen!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Herr Tauss, dass Sie des Öfteren
unqualifizierte Bemerkungen machen,
({0})
sind wir ja schon gewöhnt. Aber dass Sie sich jetzt auch
noch mit fremden Federn schmücken, das ist mir neu.
Die Ausbildungsinitiative in Bezug auf die Büros der
Bundestagsabgeordneten kommt aus den Reihen der
CDU/CSU, nämlich von unserem Kollegen Herrn von
Stetten. Das wollte ich nur zur Klarstellung sagen.
({1})
Es gibt einen guten Spruch, Herr Tauss; er trifft zwar
nicht ganz auf Sie zu, aber man kann ihn durchaus ummünzen: Hätten Sie geschwiegen, wären Sie wenigstens
ein ehrlicher Gewerkschafter geblieben!
({2})
Nun zum Ausbildungspakt. Der Ausbildungspakt ist
Gott sei Dank nicht gescheitert. Gescheitert ist wieder
einmal die rot-grüne Wirtschaftspolitik, weil Sie viel lieber die Ausbildungsplatzumlage installiert hätten. Was
diese Bundesregierung zu bieten hat, sind zusätzliche
Abgaben, ein bürokratisches Monstrum und immense
Kosten, die sie der Allgemeinheit aufhalst. Jeder weiß,
dass Wirtschaftspolitik zu einem großen Teil Psychologie ist. Wer sein Ziel mit Drohungen zu erreichen glaubt,
wird allenfalls kurzfristig Erfolg erzielen. Mittelfristig
aber braucht die Wirtschaft Verlässlichkeit, Vertrauen
und Kontinuität. Dann investieren auch die Unternehmen wieder in die Zukunft und in den Fachkräftenachwuchs.
Worin liegen nun die Probleme im Ausbildungsmarkt? Wir haben sie hier schon öfter aufgezählt: die
schwierige wirtschaftliche Lage, der nachhaltige Beschäftigungsabbau, die ungebremste Entwicklung bei
den Firmenpleiten, hohe Ausbildungskosten, aber auch
mangelnde Ausbildungsreife. All das liegt mittelbar in
der Verantwortung der Bundesregierung.
({3})
Der Ausbildungspakt lindert diese Schmerzen, aber er
beseitigt sie nicht. Probleme müssen durch wirtschafts-,
sozial- und schulpolitische Reformen gelöst werden.
Die CDU/CSU hat umfangreiche Initiativen vorgelegt. Was setzt Rot-Grün dagegen? Das Damoklesschwert der Ausbildungsabgabe - sie wurde von Ihnen
heute öfter erwähnt - schwebt immer noch über uns. Allein die Ankündigung einer Ausbildungsabgabe hat seit
dem letzten Sommer die Ausbildungsbereitschaft gedämpft. Schauen wir uns einmal beispielsweise die hoch
innovativen Unternehmen an. Diese Unternehmen haben
eins und eins zusammengezählt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Ausbildung mehr kostet als
eine Ausbildungsabgabe. Außerdem können sie den
Fachkräftemangel zur Not dadurch beheben, dass sie
Fachkräfte mit einer Greencard einstellen. Diese Unternehmen müssen also nicht unbedingt ausbilden. So
schafft man keine Zukunftsperspektiven.
({4})
Die Zukunft der Landeskinder sieht eher trübe aus.
Nehmen wir einmal nur die Kompetenzchecks. Sie sind
eigentlich ein gutes Instrument, um die Ausbildungsfähigkeit der jungen Leute zu bewerten. Das Ergebnis ist,
dass nur 40 Prozent der Jugendlichen ausbildungsfähig
sind. Angesichts der Tatsache, dass der Rest aus der Statistik herausfällt, muss ich dem Bildungsexperten des
DGB, Volker Scharlowsky, leider zustimmen, der davon
spricht, dass die Kompetenzchecks nur ein Selektionsmittel sind, um Jugendliche aus der Statistik zu streichen.
Gleiches gilt für die Nachvermittlung. Kommen Jugendliche trotz Nachfrage einer entsprechenden Einladung nicht nach, dürfen ihre Namen aus der Statistik gestrichen werden. Aber damit ist den Jugendlichen nicht
geholfen. Das Ergebnis ist nur, dass sie in keiner Statistik mehr auftauchen.
Ein weiteres Problem ist die Warteschleife. Dieses
Problem hat der Bundesminister dankenswerterweise angesprochen. Wir schieben eine Bugwelle von ungefähr
200 000 nicht ausbildungsfähigen bzw. nicht vermittelbaren Jugendlichen vor uns her.
({5})
Der Sprecher der Landesagentur für Arbeit in Nordrhein-Westfalen sagt: „Jugendliche und Wirtschaft müssen sich bewegen.“ Das mag zu einem gewissen Teil
richtig sein; denn die Jugendlichen müssen mobiler und
flexibler werden. Aber ich sage auch: Zuerst muss sich
die Politik bewegen. Da sind in erster Linie Sie von der
Koalition gefragt, da Sie die Mehrheit im Parlament haben.
({6})
Natürlich ist hier nicht nur die Politik angesprochen,
sondern die gesamte Gesellschaft. Ich nenne beispielsweise die Tarifpartner, die Schulen und die Eltern. Aber
in allererster Linie ist die Bundesregierung angesprochen. Sie muss die Debatte um die Ausbildungsabgabe
endlich beenden.
({7})
Denn der Faktor Arbeit darf nicht weiter belastet werden. Neue Jobs entstehen nicht durch Regulierungswut
oder planwirtschaftliche Gewaltkeulen, sondern nur
durch Wirtschaftswachstum.
({8})
Ich wiederhole: Wenn die Lehrstellenlücke nicht zu
schließen ist, dann liegt das nicht an der fehlenden Motivation der Unternehmen oder an dem Ausbildungspakt.
Es ist geradezu eine Verhöhnung der Leistungen insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen
und von Handwerksbetrieben, wenn man sie mit Drohungen unter Druck setzt. Sie von Rot-Grün haben Ihren
wirtschaftspolitischen Laden nicht im Griff. Ich fordere
Sie auf: Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben!
Der Kanzler hätte kürzlich in China nicht nur deutsche Markenautos präsentieren sollen. Er hätte sich auch
einmal mit chinesischen Weisheiten beschäftigen sollen.
({9})
Eine davon lautet: Bevor du dich auf den Weg machst,
die Welt zu verändern, gehe erst dreimal durch dein eigenes Haus.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Werner Bertl von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Diese
Diskussion - das ist typisch für Deutschland - bewegt
sich zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Die Opposition staunt, dass - entgegen ihren Prognosen - der Ausbildungspakt funktioniert.
({0})
Zumindest Herr Lensing lobt den Minister. Die Wirtschaft und die Regierung feiern - vielleicht etwas zu
früh - und die Gewerkschaften sagen ein Scheitern voraus.
Ich möchte einmal an die Tatsachen erinnern. Wir haben am 7. Mai im Bundestag über die Umlagefinanzierung und über die Chancen für einen konzertierten Ausbildungspakt diskutiert.
Wir haben dann etwas für mich Einmaliges in dieser
Republik erfahren. Dabei müssen wir uns verdeutlichen:
Es geht hier um die Lebenschancen junger Menschen.
({1})
Nach dieser Diskussion haben sich am 16. Juni dieses
Jahres im Rahmen einer Sondervollversammlung des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages die Präsidenten mit dem Wirtschaftsminister zusammengefunden und Unterschriften unter diesen Ausbildungspakt
geleistet.
Wir haben dann am 17. Juni im Bundestag über den
Wert von Selbstverpflichtungen der deutschen Wirtschaft diskutiert. Wir haben darüber sehr kritisch diskutiert. Ich will Ihnen sagen, warum dieses Umlagegesetz
für uns keine Drohung war. Ich habe es damals sinngemäß als eine Notwehrmaßnahme zugunsten der Lebenschancen junger Menschen bezeichnet.
({2})
- Ich glaube nicht, dass das damals falsch war. Wir haben immer gesagt: Wir wollen keine Drohung, sondern
Kooperation.
({3})
Wir haben in den letzten 20 Jahren in Deutschland
mit einer Tatsache leben müssen: Die Ausbildung wurde
im Dezember 1980 auf ausdrücklichen Wunsch der deutschen Wirtschaft vom Bundesverfassungsgericht mit Urteilsspruch in die Verantwortung der deutschen Wirtschaft übertragen. Dieser Urteilsspruch hat nie einen
Bezug zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehabt.
Das heißt, wir müssen uns als Parlament und auch als
Gesellschaft darüber im Klaren sein: Wenn wir das
Schicksal junger Menschen in ihrer betrieblichen Ausbildung in die Verantwortung der Wirtschaft legen, wenn
wir das duale System wollen, dann müssen wir die vonseiten der Wirtschaft eingegangene Verpflichtung auch
einfordern. Dabei können nicht Ausbildungsvergütungen
die entscheidende Rolle spielen
({4})
und da kann nicht die derzeitige, möglicherweise zukünftige oder vergangene wirtschaftliche Situation entscheidend sein. Hier ist vielmehr eine Verpflichtung
wahrzunehmen. Ich glaube, das ist das Entscheidende.
Es hat sich gezeigt, dass das Umlagegesetz sowohl
auf die Politik als auch auf die Wirtschaft sehr motivierend dahin gehend gewirkt hat, sich mit der vernünftigen
Ausgestaltung eines ausreichenden Angebotes auseinander zu setzen.
({5})
Die Wirklichkeit ist doch: Wir können noch nicht zufrieden sein. Es gibt in Deutschland eine deutliche Zunahme
der Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze. In der
Wirtschaft ist ein Plus von 6,7 Prozent und im Handwerk
ein Plus von 3 Prozent zu verzeichnen.
Dabei zeigt sich - dies müsste Sie nachdenklich machen - eine Entwicklung gegen den bisherigen Trend.
Wir hatten bisher immer nur dann einen Anstieg der
Zahl der Ausbildungsplätze im Bereich der Wirtschaft,
des Handwerks und des Handels, wenn zu erwarten war,
dass die Wirtschaft spürbar wächst. Wir haben das immer kritisiert und haben gesagt: Das kann nicht das Kriterium sein. Jetzt gibt es zum ersten Mal - auch unter
den derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze. Das zeigt
deutlich, dass auch die Wirtschaft begriffen hat: Bis zum
Jahr 2007 wird es noch einen dramatischen Anstieg der
Zahl der jungen Menschen geben, die die Schulen verlassen. Dann wird es knapp.
Wir alle sollten uns vor Augen führen, wie lange eine
Ausbildung dauert - drei bis dreieinhalb Jahre - und wie
viele Jahre Berufserfahrung junge Menschen sammeln
müssen, um in dem System einer komplexen und komplizierten Wirtschaftswelt als Arbeitnehmer zur Verfügung zu stehen. Nicht nur bei uns, sondern auch im Bereich der Wirtschaft müssten die Alarmglocken
schrillen; denn man sollte deutlich sehen, wie schnell der
Fachkräftemangel kommen wird. Das heißt, ab dem Jahr
2007 werden wir hier im Deutschen Bundestag möglicherweise ganz andere Diskussionen führen, Diskussionen, die ich übrigens schon in den 70er-Jahren erlebt
habe. Da hat dann der Staat die Ausbildung von Facharbeitern, die die Wirtschaft dringend gebraucht hat, damit
überhaupt noch Wachstum möglich war, übernehmen
und finanzieren müssen.
Mein Dank geht an diejenigen, die sich am 16. Juni
dieses Jahres hier in Berlin getroffen und diesen Ausbildungspakt unterzeichnet haben;
({6})
denn er zeigt tatsächlich Wirkung. Dieser Dank ist in
Richtung Politik und in Richtung Wirtschaft und Handwerk angebracht. Da ist eine grandiose Leistung erbracht
worden.
Mein Appell ist, deutlich zu machen und festzustellen: Dies reicht zurzeit nicht aus. Wir brauchen mehr
Ausbildungsstellen. Wir brauchen übrigens keine Diskussion darüber, ob die jungen Menschen Schuld an ihrem möglichen Versagen haben. Ausbildung beinhaltet
immer auch einen pädagogischen Auftrag an diejenigen,
die ausbilden. Das heißt, hier ist auch eine pädagogische
Leistung zu erbringen. Das relativiert die Diskussion
über die Frage, wer ausbildungsfähig ist oder nicht, etwas. Ich glaube, wir sollten mit dieser These nicht leichtfertig umgehen und nicht vorschnell einen großen Teil
der jungen Menschen als nicht mehr ausbildungsfähig
deklarieren.
({7})
Ich halte das für eine ganz wichtige Sache.
Mein Appell ist also: Wir können mit dem bisherigen
Ergebnis des Ausbildungspaktes nicht zufrieden sein.
Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bitte alle, weiterzumachen und mehr Ausbildungsstellen für diejenigen zur Verfügung zu stellen, die wir wenige Jahre später in die Solidarität für die Generationen in unserem
Land holen müssen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
Monaten haben sich SPD und Grüne für einen freiwilligen Ausbildungspakt entschieden und dafür auf eine verbindliche Ausbildungsumlage verzichtet. Die PDS im
Bundestag hielt das für falsch. Ich werde auch heute
Wasser in den Freudenwein gießen müssen.
({0})
Dabei spreche ich der Regierung und den Unternehmerverbänden gar nicht ab, dass sie sich bemüht haben.
Ich selbst habe mich in Berlin auf Ausbildungsmessen,
auf der Nachvermittlungsbörse und ähnlichen Veranstaltungen informiert und gesehen, wie versucht wurde, die
Lehrstellenmisere zu mildern. Aber die Misere ist nicht
gelöst. Die Schere zwischen Jugendlichen, die einen
Ausbildungsplatz suchen, und Ausbildungsplätzen klafft
nach wie vor weit auseinander. Noch schlimmer ist: Das
betrifft viele Jugendliche, denen der Start ins Berufsleben schon über mehrere Jahre verbaut bleibt.
Sie kennen die Meinung der PDS. Wir streiten seit
langem für eine Ausbildungsumlage.
({1})
Wir wollen dadurch die Betriebe entlasten, die ausbilden, obwohl es ihnen schwer fällt, und jene Konzerne
zur Kasse bitten, die nicht ausbilden, obwohl sie es sehr
wohl könnten. Denn es ist seit Jahren Brauch, dass Großkonzerne immer weniger ausbilden und dass die betriebliche Ausbildung vor allem von kleinen Unternehmen
gemeistert wird. Diese ungerechte Schieflage hat Ihr
Ausbildungspakt nicht beseitigt. Sie begünstigen wieder
die Großen und belasten die Kleinen. Die PDS im Bundestag wollte es umgekehrt. Wir wollten es gerechter.
({2})
Aber auch die nackten Zahlen sprechen nicht für den
Ausbildungspakt. IG-Metall-Chef Peters hat es so beschrieben: Die Unternehmen hätten zwar formal ihre Zusage eingehalten, aber die Entwicklung laufe ihnen davon. Die Zahl der Bewerber übersteigt erneut die Zahl
zusätzlicher Ausbildungsverträge. Der DGB in BerlinBrandenburg hat noch schärfer nachgerechnet. Demnach
sank das Ausbildungsangebot über alle Kammern hinweg. Der DGB spricht vom schlechtesten Vermittlungsjahr seit 1992.
Das lässt sich mit weiteren Zahlen und Vergleichen
belegen. Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung
und Jugendberufshilfe hat zum Stichtag 30. September
- das war der von Rot-Grün selbst gewählte Stichtag gerechnet. Das Ergebnis: Im Vergleich zu 1999 war das
Lehrstellenangebot in allen Bundesländern rückläufig.
In den neuen Bundesländern werden in diesem Jahr sogar fast 17 Prozent weniger Ausbildungsverträge geschlossen als vor fünf Jahren.
Das nennt der Bundeswirtschaftsminister eine Erfolgsstory. Er will den Pakt nun erst einmal drei Jahre
wirken lassen. Die PDS hat andere Maßstäbe. Das mag
auch daran liegen, dass wir häufiger mit Jugendlichen zu
tun haben, die sich abgehängt fühlen und daher mit der
Erfolgspropaganda zum Ausbildungspakt nichts anfangen können. Wenn Rot-Grün wirklich eine Bildungsoffensive will, dann sollten sie nicht länger den Paktweg
beschreiten. Er ist aus unserer Sicht eine Sackgasse.
({3})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
Ausbildungsplätze für junge Leute zu schaffen gehört zu
den wichtigsten Aufgaben, die Politik und Gesellschaft
miteinander haben. Man hat dafür unterschiedliche Instrumente. Eines der wichtigsten neuen Instrumente, die
wir miteinander versuchen, ist ein Bündnis zwischen allen gesellschaftlichen Kräften. Denn es kann nicht nur
Aufgabe der Politik sein, sich um Ausbildungsplätze zu
kümmern. Wir merken, dass die Wirtschaft alleine es offensichtlich nicht schafft. Wir müssen uns zusammentun.
Das ist der Ansatz des Ausbildungspaktes.
Sie wissen: Der Ausbildungspakt ist auf drei Jahre angelegt. Heute ist Gelegenheit, eine Zwischenbilanz für
das erste halbe Jahr zu ziehen. Wir sehen, dass das Instrument greift. Das ist gut für die jungen Leute. Das ist
ein wichtiger Impuls für die gesamte Gesellschaft.
Allmählich spricht sich herum, dass wir in Deutschland
Reformbedarf haben und dass man das Lösen der Aufgaben nicht nur den jeweils anderen zuweisen kann, sondern dass man es gemeinsam tun muss. Wirtschaft, Verbände, Kammern und Politik müssen das gemeinsam
anpacken. Der Ausbildungspakt ist in meinen Augen
übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass sich Kooperationen zwischen Bund, Ländern und Wirtschaft lohnen.
Ich bin mir nicht sicher, dass es schon auf allen Feldern
der beruflichen Bildung gelungen ist, den Kooperationsgedanken in dem Maße aufzugreifen, wie er in diesem
Pakt deutlich geworden ist.
Bundesminister Clement hat die Zahlen genannt. In
diesem Zusammenhang ist Frau Ministerin Bulmahn von
zwei Abgeordneten angesprochen worden. Herr
Schummer hat beklagt, dass sie heute nicht anwesend ist.
Deswegen sage ich zu Ihrer Information: Zurzeit findet
im Bundeskanzleramt eine Konferenz mit den Ministerpräsidenten der Länder statt. Dabei geht es um die Frage,
wie die Aufgaben zwischen Bund und Ländern neu verteilt werden. Dabei spielt das Thema Bildung eine ganz
zentrale Rolle. Deswegen ist Frau Bundesministerin
Bulmahn an diesem Gespräch beteiligt.
({0})
Herr Werner Lensing hat gesagt, dass sich zwar das
Bundeswirtschaftsministerium, was den Pakt betrifft,
engagiert habe. Aber er hat bemängelt, dass das, was
vonseiten des Bundesforschungsministeriums geleistet
wurde, unzureichend sei. Deswegen erlaube ich mir, Ihnen ein paar Zahlen vorzutragen. Wir haben in der Zuständigkeit des Bundesbildungsministeriums die Mittel
für das STARegio-Programm von 25 Millionen Euro auf
37 Millionen Euro erhöht.
Worum geht es bei STARegio? Es geht darum, regionale Ausbildungsbündnisse zu stärken. Wir kommen
nämlich mit den betrieblichen und überbetrieblichen
Ausbildungsplätzen nur voran, wenn wir mit den Akteuren vor Ort kooperieren. Wir müssen auf diesem Feld
besser werden. Dafür hat der Bund ein Extraprogramm,
das sehr erfolgreich läuft, aufgelegt. Wer sich mit den
Akteuren zusammensetzt - kürzlich haben wir dazu eine
bundesweite Konferenz in Berlin durchgeführt -, der
kann sich kundig machen, dass dies ein sehr hilfreicher
Ansatz ist, der aus dem Haushalt des BMBF finanziert
wird.
({1})
Im Haushalt des BMBF haben wir die Mittel für das
Ausbildungsplatzprogramm Ost nochmals auf insgesamt
95 Millionen Euro erhöht, um 14 000 Ausbildungsplätze
zur Verfügung zu stellen.
({2})
Wer sich ein wenig in Ostdeutschland auskennt - ich
weiß, dass das beim Kollegen Lensing, der Ostdeutschland aus vergangenen Jahren kennt, der Fall ist -, der
weiß, dass es dort schlicht an Betrieben fehlt, die Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen könnten. Deswegen
ist dieses Engagement des Bundesforschungsministeriums besonders wichtig und hilfreich.
Es geht aber nicht nur darum, dass sich die Ministerien verbünden und Geld bereitstellen, sondern es geht
auch um privates Engagement. Deswegen sage ich an
dieser Stelle all denen, die in zum Teil sehr mühseliger
Arbeit von Betrieb zu Betrieb gegangen sind - den Vertretern der Kammern und Verbände -, meinen ganz herzlichen Dank dafür, dass wir diese Zahlen jetzt vorlegen
können. Wir wollen aber mehr. Denn wir wissen: Wenn
wir im bisherigen Reformtempo weitermachen, werden
in zehn Jahren etwa 3,5 Millionen Facharbeiter fehlen.
Das gegenwärtige Tempo reicht nicht. Wir müssen
das Reformtempo in der gesamten Gesellschaft erhöhen.
Deswegen brauchen wir die Reform des Berufsbildungsgesetzes. Wir müssen unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und insbesondere die Schnittstelle zwischen Schule und Wirtschaft verbessern.
({3})
Daher wundert es mich sehr, wieso ein so „reiches“ Bundesland wie Sachsen-Anhalt vom Bundesprogramm
„Schule - Wirtschaft/Arbeitsleben“ nach wie vor keinen
Gebrauch macht.
({4})
Davon bin ich sehr überrascht. Offensichtlich muss man
aufgrund der dortigen wirtschaftlichen Situation eine
solche Bundeshilfe nicht in Anspruch nehmen.
({5})
Wir brauchen neue Förderstrukturen, unterschiedliche
Einstiegswege und eine stufenweise Qualifizierung. Wir
müssen den vielen hunderttausend Jugendlichen, die im
bisherigen Bildungssystem durch das Raster fallen, eine
Chance geben. Damit wollen wir auf dem nächsten Treffen zum Ausbildungspakt am 15. Februar 2005 beginnen. Dann wird auch die Vermittlungsrunde für das
nächste Ausbildungsjahr beginnen. Minister Clement hat
das angekündigt. Wir wollen noch früher als in diesem
Jahr starten. Wir müssen in unserem System noch mehr
Anstrengungen unternehmen, weil wir mit den Ergebnissen, die uns vorgelegt wurden, noch nicht zufrieden sind.
In diesem Zusammenhang hat Herr Schummer, wenn ich
seinen Beitrag richtig verfolgt habe, am Ende seiner
Rede ein deutliches Gesprächsangebot gemacht. Dafür
sind wir ausgesprochen dankbar, weil nicht zuletzt der
Pakt selbst zeigt: Kooperationen lohnen sich.
Ich danke Ihnen.
({6})
Letzter Redner dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man hört in diesen
Debatten immer wieder die gleichen Vorwürfe, was die
Bundesregierung angeblich oder tatsächlich falsch gemacht hat, unter anderem, wir würden die Rahmenbedingungen nicht richtig setzen. Ich kann darauf eigentlich
nur mit zwei Zahlen antworten: 15 Prozent Eingangssteuersatz, 42 Prozent Spitzensteuersatz. Sie haben jahrelang davon geträumt und das bis heute nicht erreicht.
({0})
Wir haben immer wieder über die Ausbildungsvergütungen diskutiert. Wenn wir uns diese in den jeweiligen
Berufsbildungsberichten genau anschauen, müssen wir,
glaube ich, zugeben, dass sich manches relativiert: In
den alten Ländern haben 58 Prozent der Auszubildenden
Vergütungen zwischen 500 und 700 Euro im Monat. Weniger als 500 Euro erhielten 15 Prozent der Auszubildenden; Vergütungen von 400 Euro und darunter waren dabei eher die Ausnahme. In den neuen Ländern hatten
6 Prozent der Auszubildenden mehr als 700 Euro, 46 Prozent hatten Vergütungen zwischen 300 und 500 Euro;
um nur einige Zahlen zu nennen.
Wir erleben in der Debatte nicht zum ersten Mal, dass
gesagt wird: „Wir müssen die Ausbildungsvergütungen
kürzen.“ Gleichzeitig sagt die FDP: „Lasst uns jeden
Ausbildungsplatz mit bis zu 400 Euro staatlicher Knete
unterstützen.“
({1})
Wie das zusammenpassen soll, ist mir nicht erklärlich.
Ich halte es für falsch. Die jungen Leute, die sich in der
Ausbildung befinden, sind heute im Durchschnitt über
19 Jahre alt und wohnen teilweise allein. Wie können
wir da sagen: „Wir kürzen die Ausbildungsvergütung
und geben den Unternehmen für Ausbildungsplätze zusätzlich Geld“?
Das ist der absolut falsche Weg. Den werden wir nicht
mitgehen.
({2})
Es ist ja für einige Mode geworden, Gewerkschaften
und gewerkschaftliche Funktionsträger zu kritisieren.
Deswegen will ich heute ausdrücklich sagen, dass wir
das derzeitige Angebot an Ausbildungsplätzen nur deshalb haben - das weiß ich aus meiner Praxis im örtlichen
Berufsbildungsausschuss -, weil Betriebsräte, Vertrauensleute und Personalräte gemeinsam mit uns in ihren
Unternehmen vor Ort ganz konkret dafür sorgen, dass
zusätzliche und mehr Ausbildungsplätze geschaffen
werden.
({3})
Sie sind bereit, Leistungen der Belegschaften zum Nutzen von Jugendlichen, nämlich um sie in den Betrieb zu
holen, zu verwenden. Ich finde, dafür haben sie ein ausdrückliches Lob verdient.
({4})
- Das machen wir selber auch, Herr Niebel; beruhigen
Sie sich!
Ich will etwas zur Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen sagen und beziehe mich dabei auf den Berufsbildungsbericht. In den alten Bundesländern bilden
22,7 Prozent aller Unternehmen mit einem bis neun
Beschäftigten aus, in den neuen Bundesländern sind es
17,4 Prozent. Von den Unternehmen mit zehn bis 49 Beschäftigten sind es 50,1 Prozent bzw. 50,2 Prozent. Der
Anteil bei Unternehmen mit 50 bis 499 Beschäftigten
liegt bei 74 Prozent bzw. 70,4 Prozent. Von den Unternehmen mit über 500 Beschäftigten sind es 91,6 Prozent
bzw. 92,6 Prozent. Das heißt, wir haben hier noch jede
Menge Reserven.
({5})
Wenn man sich anschaut, wie viele Betriebe wir haben,
die ausbildungsfähig sind, aber nicht ausbilden, dann
muss man doch den Ansatz der Kooperation, den Uli
Kasparick hier dargestellt hat, als richtig erkennen. Hier
müssen und hier wollen und hier werden wir mehr tun,
um die Betriebe, die ausbilden könnten, tatsächlich zur
Ausbildung heranzuziehen.
({6})
Die Bundesregierung hat dieses durch das STARegioProgramm unterstützt. Wir Koalitionsfraktionen haben
die Mittel für dieses Programm noch einmal erhöht, weil
wir dauerhafte Strukturen wollen, weil wir auch kleine
Unternehmen dazu bringen wollen, auszubilden. Dafür
ist dieses Programm eines der erfolgreichsten, das in dieser Republik je umgesetzt wurde.
({7})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich stimme all denjenigen zu, die sagen: „Wir
müssen zukünftig noch mehr machen.“ Ich glaube, wir
werden gar nicht umhinkommen, dieses miteinander zu
diskutieren und auf den Weg zu bringen. In wenigen Tagen werden alle Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren
einen Anspruch auf eine Beschäftigung, eine Arbeitsgelegenheit oder einen Ausbildungsplatz haben. Der Wirtschaftsminister hat von knapp 500 000 arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren gesprochen. Hier stellt sich
eine gewaltige Aufgabe, die wir nicht allein durch öffentlich finanzierte Aktivitäten erfolgreich werden bewältigen können. Ebenso brauchen wir mehr ausbildungswillige Betriebe. Deshalb werden wir auch im
nächsten und übernächsten Jahr das STARegio-Programm und andere Maßnahmen fortsetzen. Nur so wird
für die jungen Leute ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen gewährleistet werden
können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich hätte
zum Schluss gern den Sachverständigenrat zitiert, der in
seinem Gutachten, das uns seit wenigen Wochen vorliegt, eindeutig darauf hingewiesen hat -
Herr Kollege, Sie hätten ihn gern zitiert.
({0})
Ich hätte gern, Frau Präsidentin, ja.
Die Zeit lässt es nicht mehr zu.
Ich komme zum Schluss. Der Sachverständigenrat hat
Recht: Es rächt sich für die Unternehmen, wenn sie nicht
rechtzeitig ausbilden. Deshalb werden wir in wenigen
Jahren in diesem Hause anders diskutieren. Wir Sozialdemokraten werden unseren Kurs fortsetzen.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a) bis 5 d) sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
5 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Jörg Tauss, Rainer Arnold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje
Bettin, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Aufbruch in den Nanokosmos - Chancen
nutzen, Risiken abschätzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Axel E.
Fischer ({2}), Katherina Reiche,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Nanotechnologische Forschung und Anwendungen in Deutschland stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Forschung und Entwicklung in der Nanotechnologie voranbringen
- zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt - Nanotechnologie
- Drucksachen 15/3051, 15/2650, 15/3074,
15/2713, 15/3754 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Burchardt
Axel E. Fischer ({4})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Perspektiven schaffen für das Jahr der
Technik 2004
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann
({6}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Jahr der Technik zur Stärkung der For-
schungslandschaft und des Innovationskli-
mas in Deutschland nutzen
- Drucksachen 15/2161, 15/2594, 15/3692 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Hans-Josef Fell
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({7})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Helmut Heiderich, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Helmut Heiderich, Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Biotechnologie als Schlüsseltechnologie stärken
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss:
Biowissenschaften und Biotechnologie - eine
Strategie für Europa - Fortschrittsbericht
und künftige Ausrichtung
KOM ({8}) 96 endg.; Ratsdok. 7473/03
- Drucksachen 15/423, 15/2160, 15/858 Nr. 2.9,
15/3893 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
René Röspel
Hans-Josef Fell
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Peter H. Carstensen ({9}),
Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Grundlegende Überarbeitung des Gesetzes zur
Neuordnung des Gentechnikrechts
- Drucksache 15/4143 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Scheer, Rolf Hempelmann, Dr. Axel
Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Michaele Hustedt, Volker Beck ({11}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nationales Energieforschungsprogramm vorlegen
- Drucksache 15/4514 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({12})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Wissenschaft live“ kommt an: Weit mehr als
1 Million Menschen haben an dem überaus gelungenen
Jahr der Technik 2004 teilgenommen; sie haben sich faszinieren lassen und selber experimentiert. Dies zeigt
zweierlei: Erstens ist der Weg der Bundesregierung, des
Forschungsminsteriums, richtig, die Technik direkt an
die Menschen heranzubringen und sie zum Dialog einzuladen. Zweitens sind die Menschen in Deutschland für
Technik und Innovationen zu begeistern.
Deswegen geht es völlig an der Wirklichkeit vorbei,
den Technik- und Innovationsstandort Deutschland
schlechtzureden.
({0})
Die vorliegenden Anträge der Opposition sind nicht auf
der Höhe der Zeit und werden den Notwendigkeiten einer umfassenden, auf Innovationen ausgerichteten Forschungs- und Technologiepolitik nicht gerecht.
({1})
Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren
der Opposition, ist Forschungspolitik für uns nicht das
Synonym für Wirtschaftsförderung und Subventionen.
Unser Ansatz heißt: Technik- und Innovationsförderung
aus Steuermitteln muss Nutzen für den Einzelnen wie für
die Gesellschaft als Ganze stiften. Technischer Fortschritt muss den Menschen dienen und zu mehr Lebensqualität, besseren Arbeitsbedingungen und einer intakten
Umwelt beitragen. Solche Innovationen sind die Basis
für mehr Wachstum und Beschäftigung.
({2})
Deswegen macht es Sinn, sich frühzeitig mit den
Chancen, den Anwendungspotenzialen und den unerwünschten Nebenfolgen von Technikentwicklung zu befassen. Ein Beispiel dafür ist der vorliegende Bericht des
Büros für Technikfolgenabschätzung, der eine umfassende Bestandsaufnahme dessen enthält, was Nanotechnologie ist, kann und - im Guten wie im Schlechten möglich machen könnte. Der Forschungsausschuss hat
diesen Bericht in Auftrag gegeben, der uns wichtige
Empfehlungen für eine Strategie der Förderung der Nanotechnologie gibt. In unserem Antrag haben wir im Gegensatz zur Opposition diese Empfehlungen aufgegriffen.
({3})
Alle Experten sind sich einig: Die Nanotechnologie
wird die nächste technische Revolution bringen. Ihr Potenzial für Wachstum und Beschäftigung ist immens. Die
Nanotechnologie birgt ein riesiges Innovationspotenzial
für mehr Lebensqualität. So scheint die ökologische Effizienzrevolution zum Greifen nah: durch radikale Verbesserungen bei der Katalysatorenentwicklung, bei der
Brennstoffzellentechnologie oder bei der Solartechnik.
Ähnlich faszinierende Möglichkeiten tun sich im Hinblick auf die Gesundheitsfürsorge auf, zum Beispiel bei
der Bekämpfung von Krebs.
({4})
- Genau, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir das Stichwort „etwas tun“ zugerufen haben. Rot-Grün redet nicht
nur über Chancen der Nanotechnologie.
({5})
Vielmehr fördern wir sie massiv und sind deshalb auch
international an der Spitze.
({6})
Seit 1998 haben wir die Mittel für die Projektförderung
mehr als vervierfacht. Die öffentliche Förderung in
Deutschland ist mit 300 Millionen Euro fast so hoch wie
in allen anderen EU-Staaten zusammen. Gemessen am
Bruttoinlandsprodukt - ich habe schon einmal etwas zu
den seriösen Vergleichsmaßstäben gesagt - ist sie in
Deutschland sogar höher als in den USA. - So viel zur
Antwort auf Ihre Frage, was wir an dieser Stelle tun.
({7})
Damit haben wir 1998 begonnen. Mit dem neuen
Rahmenkonzept des Forschungsministeriums, das wir in
der ersten Debatte zu diesem Thema ausführlicher erläutert haben, werden, basierend auf der exzellenten Grundlagenforschung, innovative Anwendungen in aller Breite
gefördert und damit die Potenziale für neue Lösungen
sowie für mehr Wachstum und Beschäftigung erschlossen. Das ist der richtige Weg.
Darüber hinaus - nun komme ich auf unseren Antrag
zu sprechen - gibt es einige Punkte, die wir im Hinblick
auf die Weiterentwicklung einer Förderkonzeption für
wesentlich halten, die mehr Bereiche als nur das BMBF
und den Bund betreffen; ich kann jetzt aufgrund der Zeit
nur drei stichwortartig herausgreifen. Erster Punkt: Bildung. Die Innovationspotenziale der Nanotechnologie
können nur dann realisiert werden, wenn es genügend
gut ausgebildete Menschen gibt, die dieses neue Wissen
auch anwenden können. Deswegen ist eine gemeinsame
Nanostrategie, eine gemeinsame Nanobildungsinitiative
von Bund und Ländern absolut notwendig. Daran zeigt
sich, wie wichtig es für den Standort ist, dass es in Bezug
auf Bildung auch weiterhin eine gemeinsame Planung
von Bund und Ländern gibt. Wir laden Sie herzlich
ein: Kämpfen Sie in den letzten Stunden, bevor in der
Föderalismuskommission Entscheidungen fallen, zusammen mit uns darum, dass diese gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern auch weiterhin
möglich ist.
({8})
Zweiter Punkt: Begleitforschung. Wie jeder technische Fortschritt ist auch der nanotechnologische Fortschritt janusköpfig. So weiß zum Beispiel heute noch
niemand ganz genau, wie freigesetzte Nanopartikel auf
Mensch und Umwelt wirken. Nach Expertenmeinung
mehren sich die Anzeichen für ähnlich gesundheitsschädigende Wirkungen wie bei Asbestfasern. Wer die
traurige Geschichte der Auswirkungen von Asbest noch
in Erinnerung hat, weiß, dass uns gerade dies ein warnendes Beispiel sein sollte. Tausendfaches Leid wäre zu
vermeiden gewesen, hätte man damals die Warnungen
aus der Wissenschaft frühzeitig ernst genommen. Deswegen haben wir darauf gedrungen, dass 5 Prozent der
Fördermittel für die Nanoforschung für die integrale Begleitforschung ausgegeben werden, denn frühzeitige
Technikfolgenabschätzung hilft, später große Schäden
und hohe Kosten zu vermeiden.
({9})
Dritter Punkt: Überprüfung des Rechtsrahmens. In
Anlehnung an die Empfehlungen der Wissenschaftler
halten wir diese Überprüfung für notwendig, um etwaige
Hindernisse für menschen- und gesellschaftsverträgliche
Innovationen durch und mit Nanotechnologie aus dem
Weg zu räumen. Dazu erwarten wir im Herbst 2005 einen Bericht der Bundesregierung. Auf dessen Basis werden wir etwaigen Handlungsbedarf hier im Hause seriös
beraten können.
Zum Schluss kann man eines feststellen: Mit ideologischer Sturheit, mit dem Schlechtreden von Leistungen,
die am Standort erbracht werden, und mit dem Beschimpfen von Bürgern als Technikfeinden
({10})
kann man tatsächlich kein innovationsfreundliches
Klima schaffen. Dies schafft man nur mit einer Haltung,
die Technikfaszination mit Verantwortung paart, und indem man den Dialog mit den Bürgern sucht. Das ist das
Markenzeichen rot-grüner Forschungs- und Innovationspolitik. Wie man am Jahr der Technik und der Resonanz
darauf gesehen hat, kommt diese Politik bei den Menschen an.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Katherina Reiche, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2004 wurde von Frau Bulmahn zum Jahr
der Technik und vom Bundeskanzler gar zum Jahr der
Innovation hochstilisiert. Es geht zu Ende und niemand
hat etwas gemerkt.
({0})
Für die Bundesministerin war es ein kompletter Erfolg: Immerhin gab es 1 111 Veranstaltungen. 3 Millionen Euro wurden für PR ausgegeben. Der „Nano-Truck“
rollte durchs Land.
Der Kanzler freut sich ebenfalls. Er hat sich wieder
einmal mit seinen „Partnern für Innovation“ getroffen ist ja auch schön, so kurz vor Weihnachten. Er hat sich
berichten lassen, welche „Horizontpapiere“ und „Pionieraktivitäten“ sich die 13 Impulskreise und noch weit
mehr Working-Groups ausgedacht haben. Da kam dann
die Idee vom digitalen Krankenhaus oder ganz praktisch
sollten zunächst 200 Schulen energieeffizient ausgestattet werden; außerdem gibt es einen neuen Radiosender.
Abgesehen davon, dass Sie als Bundesregierung den
forschenden Mittelstand erst auf Druck hin eingebunden
haben, haben Sie tatsächlich Heerscharen von Menschen
beschäftigt. Nach all dem Rummel machte sich dann Ernüchterung breit. Selbst der Cheforganisator der Kanzlerinitiative, der Fraunhofer-Chef Bullinger, beklagt,
dass bislang nichts geschehen sei. Es gab und gibt kein
klares Regierungsprogramm und es gibt keine Strategie
zum Lissabon-Prozess. Im Gegenteil: Es begann mit der
Mautpleite, auf EU-Ebene lassen Sie die chemische Industrie hängen und die Grüne Gentechnik hungern Sie
aus.
({1})
Bei uns wird kein technisches Großprojekt mehr gebaut, wenn man einmal vom Forschungsreaktor München II in Bayern absieht. In Frankreich dagegen wird
mit viel Pomp und Stolz die Brücke über den Tarn als
das Vorzeigeobjekt französischer Ingenieurskunst gefeiert. Dort ist Technik eben auch Teil der Kultur.
Frau Burchardt, mehr Geld für Forschung gibt es eben
nicht; denn die mageren Steigerungen unterliegen schon
jetzt wieder so vielen Sparauflagen, Minderausgaben
und dauerhaften Sperrungen, dass der Haushalt 2005 im
Endeffekt auch wieder ein Minus zeigen wird.
({2})
Kurz vor Weihnachten gab es eine schöne Bescherung. In dem Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit, den Sie quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit präsentiert haben, wurde es auf den Punkt gebracht
- ich zitiere -:
Die Aufholjagd auf dem Gebiet der Spitzentechnik
in Deutschland ist zum Erliegen gekommen.
Das ist nicht unsere Analyse, sondern die der Experten.
({3})
Die Bundesregierung sagt sich, dass so etwas nicht noch
einmal passieren darf. Statt aber die Ärmel hochzukrempeln, sich an die Arbeit zu machen und Innovationshemmnisse wegzuräumen, will die Bundesregierung die
Berichterstattung zur technologischen Leistungsfähigkeit einfach einstellen. Wie ist die Situation im Land?
Zum Ersten haben wir seit Ende der 90er-Jahre mehr als
2 Millionen Industriearbeitsplätze verloren, was deshalb
so verheerend ist, weil die gesamte innovative und technologische Entwicklung natürlich an die Industrieproduktion gebunden ist. Zum Zweiten forcieren Sie den
Ausstieg aus Zukunftstechnologien. Die Pflanzen der
Zukunft sollen überall, nur nicht in Deutschland wachsen. Ich kann an dieser Stelle Jens Katzek zitieren, den
Geschäftsführer von „Bio Mitteldeutschland“, der sagt:
Widersinnig ist, dass die Bundesregierung die
Pflanzenbiotechnologie seit 1998 mit über 100 Millionen Euro allein aus Projektmitteln unterstützt
hat, Geld, das jetzt teilweise wirkungslos verpufft,
weil der Gesetzgeber agrarische Gentechnik unmöglich macht.
({4})
Natürlich waren wir auch nicht an der Entwicklung
neuer Kernreaktoren beteiligt. - Die letzte Diplomarbeit aus dem Bereich der Kerntechnik stammt übrigens
aus dem Jahre 2001. Seit dieser Zeit kam auf diesem Gebiet nichts mehr. Es zeichnet sich ein eklatanter Mangel
an Nachwuchswissenschaftlern ab. 33 000 Ingenieure
werden jährlich fertig. Diese ersetzen gerade einmal die
neuen Ruheständler.
({5})
Herr Kasparick - Frau Bulmahn ist heute nicht da; die
Bilanz des Jahres der Technik scheint ihr nicht wichtig
zu sein -,
({6})
unsere Antwort lautet: viermal K - Köpfe, Konzepte,
Kapital und Klima.
Fangen wir mit den Köpfen an. Der Wettbewerb der
Zukunft ist auch ein Wettbewerb um Köpfe. Die PISAErgebnisse werden wieder einmal durchgestochen. Der
Parteifreund von Frau Bulmahn auf OECD-Ebene,
Andreas Schleicher, propagiert die Einheitsschule quasi
reflexartig.
({7})
Frau Bulmahn sekundiert als sein braves Echo hierzulande.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum das nicht funktioniert, können Sie auch bei Ihrer
Parteifreundin nachlesen.
({8})
Frau Behler schrieb in der „FAZ“ vom 9. Dezember 2004 nämlich:
Daß die deutsche Gesamtschule mit ihren Leistungsergebnissen und ihrem gescheiterten Versuch,
den Zusammenhang von sozialer Herkunft und
Kompetenz zu verringern, nicht gerade ein attraktives Gegenmodell zum gegliederten Schulsystem
ist, wird verschwiegen, eine Analyse ihrer Schwächen geradezu verweigert.
({9})
Unter K wie Köpfe fallen auch die Studenten, Naturwissenschaftler und Nachwuchswissenschaftler. Unsere
Hochschulen müssen die besten Köpfe halten und die
Eliten weltweit gewinnen. Mit dieser Bundesregierung
kann man aber nicht einmal rational über Studienbeiträge diskutieren. Offensichtlich braucht diese Bundesregierung immer ein vernichtendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts, bevor die Dinge anders werden.
({10})
Wir finden, das humboldtsche Ideal „Forschung aus
Lehre“ ist so aktuell wie eh und je. Also muss die Forschung zurück an die Hochschulen. Unser Vorschlag, an
den Hochschulen in den neuen Bundesländern Innovationsgruppen einzurichten, liegt auf dem Tisch. Sie müssen nur noch handeln.
Die Bedingungen in Deutschland für junge Forscher
sind wenig attraktiv. Unter anderem hat das noch einmal
Michael Pragnell festgestellt, der Vorstandsvorsitzende
von Syngenta: „Jeder Wissenschaftler wird doch in Europa depressiv, wenn er sich in unerwünschter Umgebung fühlt oder ihm ständig Steine in den Weg gelegt
werden.“
({11})
Genau das passiert hier in Deutschland.
({12})
Wir brauchen Konzepte. Vorsprung durch Innovation
muss erarbeitet werden. Dazu braucht man einen Plan
und ein Ziel. Sie haben nichts von beidem. Stattdessen
wird die Eigenheimzulage als Vergangenheitssubvention
bezeichnet.
({13})
Wieso aber Familien mit Kindern die Vergangenheit und
Steinkohle die Zukunft darstellen soll, kann in diesem
Haus keiner erklären.
({14})
Bei der strategischen Forschungsförderung braucht
man mehr als nur ein neues Wording. Das, wo heute Nanotechnologie draufsteht, hieß vor zwei bis drei Jahren
noch Chiptechnologie oder Mikrosystemtechnik. Bei der
Energieforschung wird Frau Bulmahn zwischen Herrn
Trittin und Herrn Clement völlig zerrieben. Da hat sie
gar nichts zu sagen.
({15})
Aber ich sage Ihnen: Ohne Kerntechnik wird es in
Deutschland nicht gehen. Es dauert zehn Jahre, bis wir
das eingeholt haben, was wir jetzt im Bereich der Kernforschung verpassen. Finnland baut mit deutscher Expertise neue Reaktoren und Deutschland steht am Gartenzaun.
({16})
Ich komme zum Thema Kapital.
({17})
Ob der Mittelstand oder Start-ups innovieren können,
hängt von den Möglichkeiten der Finanzierung ab. Diese
sind in Deutschland schlecht - siehe Beteiligungskapital.
Ein Dachfonds für Risikokapital ist seit Anfang des Jahres angekündigt. Bisher ist kein einziger Euro geflossen.
Im Haushalt des BMWA findet sich doch tatsächlich ein
Hightech-Gründerfonds. Aber dieser ist von vornherein
gesperrt.
Last, but not least möchte ich etwas zum Klima sagen. Das Innovationsklima ist wichtig; denn es ist letztendlich die halbe Miete. Es ist in Ordnung, wenn im
Kanzleramt Gespräche zwischen Wissenschaft und Wirtschaft moderiert werden. Doch muss sich der Bundeskanzler schon fragen lassen, ob er den Johannes B.
Kerner der Innovationsshows geben will oder ob endlich
gehandelt wird.
({18})
Davon ist nichts zu sehen; denn er überlässt jedes Innovationsfeld, ob Grüne Gentechnik, Chemie oder Energie,
der Ökopartei als Spielwiese.
Ist Ihnen eigentlich die energieeffiziente Schule oder
ein Radiosender am Ende dieses Jahres der Technik
nicht selbst peinlich?
({19})
Die Aufgabe von Frau Bulmahn wäre es, dort dagegenzuhalten, wo es gegenüber neuen Technologien Skepsis
gibt. Sie müsste die Forschungsbegeisterung ins Land
tragen. Aber dafür müsste sie von ihrer Sache überzeugt
sein. Ich habe meine Zweifel, ob sie das ist.
Das Jahr der Technik endet ohne Perspektive. Aber
- gottlob - es ist schon wieder Neues geplant; denn im
nächsten Jahr werden wir das Einstein-Jahr begehen. Mit
gigantischen 10 Millionen Euro werden teure PR-Schlachten gestartet. Man wird zum Beispiel Einstein-Sprüche
auf öffentlichen Gebäuden anbringen. Es gibt Konzerte
und Lesungen. Albert Einstein wird quasi zur Popikone.
Der Rummel geht also weiter, aber die Probleme lösen
Sie nicht.
Ich möchte Ihnen ein Zitat von Albert Einstein mit
auf den Weg geben. Es heißt:
Persönlichkeiten werden nicht durch schöne Reden
geformt, sondern durch Arbeit und eigene Leistung.
Das erwarten wir von der Bundesregierung.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Josef Fell,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Innovationspolitik hat für uns eine große
Bedeutung. Sie ist die Grundlage für eine nachhaltige
Wirtschaftspolitik, die eine materialeffiziente und schadstoffarme Wirtschaft und viele neue Arbeitsplätze
gleichzeitig hervorbringen kann.
Frau Reiche, ich will Ihnen einmal Fakten nennen, die
zeigen, wie falsch Ihre Analyse war.
({0})
Im Haushalt des Bildungs- und Forschungsministeriums
haben wir im Vergleich zum Vorjahr einen Mittelaufwuchs von über 200 Millionen Euro erreicht. Das ist der
höchste Etat für Bildung und Forschung, den Deutschland in einem Bundeshaushalt je gesehen hat. Wie können Sie dann davon sprechen, dass diese Mittel zurückgefahren würden?
({1})
Auch die Rahmenbedingungen für Forschung und
Entwicklung haben wir gestärkt. Ich nenne nur die Verbesserungen der steuerlichen Rahmenbedingungen für
den Carried Interest, den Dachfonds für Venture Capital
und den ERP-Startfonds. Übrigens könnte bald auch der
Hightech-Gründerfonds hinzukommen, wenn Sie Ihre
Blockade zur Abschaffung der Eigenheimzulage endlich
aufgeben würden; denn genau diese Mittel sind daran
gebunden.
({2})
Neben den finanziellen haben wir auch die strukturellen Rahmenbedingungen deutlich verbessert. Der Pakt
für Forschung und Innovation gibt den institutionell geförderten Großforschungseinrichtungen Planungssicherheit für die nächsten Jahre.
Nachdem wir das Hochschulrahmengesetz novelliert
haben, steht nun ein weiterer Schritt an: die Arbeitsbedingungen der Angestellten in der Wissenschaft zu verbessern. Sie reden davon. Wir stehen dazu. Deswegen
steht der Wissenschaftstarif morgen hier auf unserem
Programm. Das ist ein wichtiger Bereich, unter anderem
auch deswegen, um die öffentliche und die private Forschung besser zu vernetzen. Wir, die Bundestagsfraktion
und die Partei der Grünen, werden alles dazu beitragen,
um zusammen mit unserem Koalitionspartner endlich zu
einem wissenschaftsspezifischen Tarifvertrag für die
Hochschulen und die Forschungseinrichtungen zu kommen.
Zu den Rahmenbedingungen gehört für uns aber auch
die gesellschaftliche Akzeptanz durch soziale und demokratische Reflexion von Forschung und Entwicklung.
Zum Vorwurf, wir seien forschungsfeindlich, möchte ich
Folgendes sagen: Wer beim Gentechnikgesetz am Verursacherprinzip festhält, ist nicht forschungsfeindlich,
sondern handelt verantwortungsvoll.
({3})
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Warum beharren Sie ausdrücklich auf der Agrogentechnik, die weiterhin von 80 Prozent der Menschen abgelehnt wird?
({4})
Warum unterstützen Sie nicht politisch das, was gesellschaftlich akzeptiert wird?
({5})
Zur Weißen Biotechnologie, zu Biokraftstoffen oder
auch zu Farben und Lacken, die aus der Natur gewonnen
werden, gibt es viel Zustimmung in der Bevölkerung.
Aber durch Ihr stures Beharren auf einem einzigen, winzigen Forschungsbereich, der gesellschaftlich nicht akzeptiert wird, übersehen Sie die vielen Chancen, die in
der Biotechnologie stecken.
({6})
Damit behindern Sie den Ausbau der Biotechnologie in
Deutschland. Sie sind die wahren Blockierer in diesem
Forschungsbereich.
({7})
Auch in der Nanotechnologie werden wir die Chancen nutzen. Die Forscherinnen und Forscher sagen uns
ganz klar, dass es Chancen, aber auch Risiken gibt. Der
Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung hat uns
aufgezeigt, wie wir damit umgehen können. Wenn Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, in
Ihrem Antrag die Risiken völlig ignorieren, dann schadet
das doch nur der Akzeptanz der gesamten Technologie
in der Bevölkerung. Es gibt Ängste in der Bevölkerung.
Mit denen müssen wir verantwortlich umgehen. Sie
müssen doch endlich akzeptieren und zur Kenntnis nehmen, dass mehr Bürgerinnen und Bürger das Buch „Die
Beute“ von Michael Crichton als den Bericht des Büros
für Technikfolgenabschätzung gelesen haben und deshalb die Details nicht so abwägen können, wie wir das
tun. Wir sehen die Chancen, machen aber auch eine verantwortungsvolle Risikoabschätzung. Herr Fischer, wir
haben oft darüber diskutiert, dass wir diese Risikoabschätzung in unseren Programmen haben. Die Nanotechnologie wird eine Schlüsseltechnologie für eine schadstofffreie solare Energie- und Stoffwirtschaft sein. Diese
Chancen rücken wir in den Mittelpunkt.
Damit bin ich bei der Energieforschung. Sie wissen
genau, wohin die Mittel in den vergangenen Jahren geflossen sind. 50 Jahre lang sind OECD-weit 80 Prozent
der Energieforschungsmittel in die Erforschung der
Kernenergie geflossen. Das Ergebnis ist: 3 oder 5 Prozent, je nach Berechnungsbasis, des Weltenergiebedarfs
werden durch Kernenergie gedeckt. Es gibt keinen größeren Misserfolg für aufgewandte Forschungsmittel als
den in diesem Bereich. Die Mittel sind völlig deplatziert.
({8})
Sie halten weiterhin daran fest. Sie nennen einen finnischen Atomreaktor als Beispiel für eine sinnvolle
Energietechnologie. Sie sollten zur Kenntnis nehmen,
dass dieses Projekt nur möglich wird, wenn es massive
Subventionen gibt. So hat zum Beispiel die Bayerische
Landesbank eine nicht notifizierte Beihilfe für den finnischen Reaktor gegeben. Für den Kredit in Höhe von
2 Milliarden Euro werden nur 2,6 Prozent Zinsen verlangt.
({9})
Das ist unglaublich. Und dann ist er noch nicht einmal
bei der Europäischen Union notifiziert. Nur mit solchen
Aktionen wird Ihre angeblich billige Atomtechnologie in
Finnland möglich. Dies lehnen wir ab.
({10})
Nehmen wir die Kernfusion. Wir wissen, dass wir
jahrzehntelang nicht einen einzigen Beitrag dazu sehen
konnten und das auch in den nächsten 50 Jahren nicht
der Fall sein wird. Kein Forscher sagt, dass in den nächsten 50 Jahren auch nur eine Kilowattstunde Strom durch
Kernfusion erzeugt werden könnte. Warum also das
Geld in großem Maße aus dem Fenster werfen? Wir wollen, dass das Geld in Forschungsprojekte investiert wird,
die schon in wenigen Jahren Klimaschäden vermeiden
helfen und Energieversorgungssicherheit bringen.
Wir wollen, dass sich damit auch unsere Unternehmen im globalen Wettbewerb durchsetzen können. Daher werden wir heute den Antrag, ein nationales Energieforschungsprogramm vorzulegen, verabschieden. Wir
setzen auf die Priorität erneuerbarer Energien und auf
Energieeinsparung. Damit schaffen wir eine verantwortungsvolle Energiepolitik für die Zukunft.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Burchardt hat eben festgestellt, es liege viel Papier auf
dem Tisch, das zum Teil veraltet sei. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Zuhörer davon in Kenntnis setzen, dass wir seit einem Jahr auf Ihre Anträge warten.
({0})
Was die Kernfusion angeht, dauerte es sogar noch länger, bis Sie sich zu einer Entscheidung durchringen
konnten, lieber Herr Fell. Ich wäre froh gewesen, wenn
Sie früher mit uns darüber diskutiert hätten.
({1})
Dann hätten wir vielleicht deutlich schneller Bewegung
in dieses Land gebracht.
({2})
Lassen Sie mich etwas zur Bilanz des so genannten
Jahres der Innovation anmerken. Ich kann Ihnen gratulieren: In rein sprachlicher Hinsicht haben Sie einen Erfolg erzielt. Das Wort Innovation scheint wieder in die
Köpfe der Deutschen zurückgekehrt zu sein.
({3})
- Aber bezüglich der Gebiete, auf die es wirklich ankommt, Herr Tauss, die aber Herr Fell eben als marginal
bezeichnete - nämlich große Teile der Lebenswissenschaft, die Grüne Gentechnik und vor allen Dingen auch
die Energieforschung -, liegt kein Jahr der Innovation
hinter uns, sondern ein Jahr der Isolation und der Irritation.
({4})
Innovativ war der mediale Einsatz des Kanzlers und
des Wirtschaftsministers für die Anwendung der Biound Gentechnik. Aber bewegt hat sich dank Ihrer beiden
Fraktionen in dieser Hinsicht wenig. Im Gegenteil: Sie
haben das Gentechnikgesetz durchgepaukt, das die
Grüne Gentechnik in Deutschland in Zukunft verhindern
wird. Sie haben eine Biopatentrichtlinie beschlossen, die
den Stoffschutz aushöhlt und die Patentierung einschränkt. Sie schaden unseren Unternehmen im Wettbewerb und Sie haben - trotz lauter Forderungen aus der
Wissenschaft, die auch in Deutschland auf diesem Forschungsgebiet ein internationales Niveau erreichen wollen - erneut das Stammzellgesetz betoniert.
({5})
Heute legen Sie obendrein einen Antrag vor, zu dem
ich nur feststellen kann: Jetzt soll auch noch die Energieforschung in das ideologische Joch Ihrer rot-grünen
Vorstellungen gepresst werden, lieber Herr Fell.
({6})
Ihre Hätschelkinder, die erneuerbaren Energien, werden bevorzugt und die Mittel für die Fusionsforschung
drastisch gekürzt. Ich frage mich - insofern wäre es interessant gewesen, wenn die Ministerin heute anwesend
wäre, Herr Kasparick -, was eine Forschungsministerin,
die zurzeit auf EU-Ebene für den Forschungsreaktor
ITER kämpft, dazu sagt. Wie reagiert eine Ministerin,
die auf EU-Ebene so tut, als ob alles in trockenen Tüchern wäre, darauf, dass in Deutschland die nationalen
Mittel gekürzt werden?
({7})
Offensichtlich fesseln die Regierungsfraktionen ihrer zuständigen Ministerin auch auf diesem Gebiet die Hände.
({8})
Das ist ein Schlag in das Gesicht von Frau Bulmahn.
Wie Sie sich vorstellen können, bedauert die FDP das
zutiefst.
({9})
Wie sieht es mit den Rahmenbedingungen aus? Frau
Reiche hat eben schon das Venture Capital angesproUlrike Flach
chen. Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen
Anfrage gefragt, was aus dem Masterplan geworden ist.
Was haben Sie erreicht?
({10})
Aus der Antwort geht hervor, dass sich hinsichtlich des
großen Themas Kapital, Risikokapital, Venture Capital
und Seed Capital nichts bewegt hat, zum Teil mit Hinweis darauf, dass die Börse leider nicht so innovativ sei,
wie es sich die Bundesregierung vorstellt. Der Masterplan ist also offensichtlich im Jahr der Innovation verpufft.
({11})
Das bedaure ich gerade für die FDP besonders; denn
das ist doch der Grund, warum es in diesem Lande mit
jungen und innovativen Unternehmen nicht vorangeht.
Sie haben kein Kapital und die Produkte bleiben sozusagen im Flaschenhals stecken.
Frau Bulmahn forscht zwar munter vor sich hin - wobei wir sie ausdrücklich unterstützen, Herr Kasparick -,
aber was kommt schließlich dabei heraus? In diesem
Jahr sind letztlich genauso wenig neue Produkte auf den
Markt gekommen wie in den Vorjahren. Das heißt, das
eigentliche Grundproblem, dass neue Unternehmen in
Deutschland nicht Fuß fassen können, haben Sie auch im
Jahr 2004 nicht lösen können.
Das Jahr der Innovation hat aus unserer Sicht für die
Bio-, die Nano- und die Energieforschung zwar viel
Rhetorik, aber kein schlüssiges, ressortübergreifendes
Konzept gebracht. Wir sind weiter in einem Geflecht aus
Ideologie, Technikskepsis und Koalitionsblockade gefangen.
({12})
Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Immer.
({0})
- Das wird Ihnen nicht gelingen.
Herr Fell, bitte.
Frau Kollegin Flach, Sie haben behauptet, die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen
hätten keine neuen Erfolge im Bereich des Venture Capitals vorzuweisen. Ist Ihnen bekannt, dass erst letzte und
vorletzte Woche über den Dachfonds, den wir gemeinsam mit der Bundesregierung auf den Weg gebracht haben, zwei große Fonds mithilfe der zur Verfügung gestellten Mittel geschlossen wurden, und zwar erstmals
wieder im Bereich des Venture Capitals für Biotechnologie und im Bereich der Informationstechnologie? Ist das
kein Ergebnis?
Herr Fell, ich bin zwar erfreut, dass dies am Ende dieses Jahres erfolgt ist. Aber mit welch großen Versprechungen sind Sie denn gestartet? Nun weisen Sie auf
zwei kümmerliche Projekte hin,
({0})
begleitet von einer riesengroßen Wolke aus Rhetorik, die
wir uns zwölf Monate lang angehört haben.
({1})
Wenn Sie zehn, zwölf Projekte vorzuweisen hätten, dann
hätte ich beschämt meine Sachen gepackt und wäre an
den Rhein zurückgekehrt. Aber angesichts von zwei Projekten sollten Sie nicht versuchen, uns weiszumachen,
dass der Masterplan gezogen hat.
({2})
In den uns vorliegenden Anträgen wird die Situation
in unserem Land genauso dargestellt, wie sie tatsächlich
ist.
({3})
Durch den Konflikt zwischen Bundesregierung und Koalitionsfraktionen gibt es leider eine Blockade, weswegen wir nicht vorangekommen sind. Das Land hat diese
Lage, in der es sich zurzeit befindet, wirklich nicht verdient. Lieber Herr Tauss, ich würde mich sehr freuen,
wenn wir die jetzige Situation endlich hinter uns lassen
könnten, und zwar mit Ihrer Hilfe, nicht gegen die Bundesregierung, gegen Ihren Kanzler und Ihren Wirtschaftsminister, sondern zum Beispiel zusammen mit
uns.
({4})
Bringen Sie doch zusammen mit uns die Grüne Gentechnik, die Stammzellforschung und die Förderung kleiner
und mittelständischer Unternehmen voran, wie wir es Ihnen seit Jahren vorschlagen! Ich glaube, Sie wären in
diesem Fall besser bedient als mit dem, was wir zurzeit
haben.
({5})
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst die Pressemitteilung, die mich gerade aus dem
Ministerbüro erreicht hat und die mit „Innovationsfähigkeit Deutschlands steht auf dem Spiel“ überschrieben ist:
Der Bund hatte einen Pakt für Forschung und einen
Wettbewerb um mehr Exzellenz angeboten, weil
Deutschland im internationalen Wettbewerb - das ist
zwingend notwendig - deutlich besser werden muss.
({0})
Schon für das kommende Jahr hatten wir ein Volumen
von 150 Millionen Euro eingeplant. Bis 2011 sollten zusätzlich 1,9 Milliarden Euro bereitgestellt werden.
({1})
- Herr Rachel, wenn Sie aufhörten, nebenbei zu lesen,
könnten Sie noch etwas lernen. ({2})
Ihre Länder haben aber die Entscheidung erneut vertagt, und zwar mit dem zarten Hinweis, man müsse in
der Föderalismuskommission über Zuständigkeiten sprechen.
({3})
Wenn Sie uns angesichts eines Mittelaufwuchses bei
Bildung und Forschung um über 30 Prozent darüber belehren wollen, wer etwas für Innovationen in diesem
Lande tut, dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Kommen
Sie ganz langsam auf den Teppich und den Boden der
Realität zurück! Wir wollen ja mehr für Bildung und
Forschung tun. Aber Ihre Länder blockieren. Das ist der
Punkt.
({4})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Koppelin?
Jederzeit.
Herr Koppelin, bitte.
Herr Staatssekretär, da Sie gerade von den Mitteln
sprechen, die Ihnen in Ihrem Etat zur Verfügung stehen:
Können Sie bestätigen, dass die Haushälter der Koalition
Ihren Etat mit einer globalen Minderausgabe von
145 Millionen Euro belegt haben und dass Sie aufgrund
einer allgemeinen globalen Minderausgabe, die alle
Haushalte betrifft, zusätzlich 168 Millionen Euro aus Ihrem Etat aufbringen müssen? Das ergibt nach meiner
Rechnung eine globale Minderausgabe in Höhe von insgesamt 313 Millionen Euro, die Sie aus Ihrem Etat aufbringen müssen. Können Sie uns bei dieser Gelegenheit
auch sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen?
Ja. Diesen Vorschlag machen wir nun schon seit längerem, verehrter Herr Koppelin. Wir schlagen vor, den
ganzen Haushalt um 10 Milliarden Euro zu erhöhen. Die
Beträge, über die Sie hier reden, reichen bei weitem
nicht aus, um die Herausforderung, vor der wir in
Deutschland stehen, zu bewältigen.
({0})
Es geht darum, dass wir von alten Subventionstatbeständen Abschied nehmen.
({1})
Wir wollen durch die Abschaffung der Eigenheimzulage zusätzlich 10 Milliarden Euro ins System investieren. Das wissen Sie doch.
({2})
Das ist die Antwort auf Ihre Frage.
({3})
Ich möchte ganz gern noch etwas zu den vorhin vorgetragenen Zahlen zur Qualität des Standorts Deutschland sagen. Stichwort Nanoelektronik: Auf diesem Gebiet ist Deutschland Nummer eins in Europa. Allein im
Raum Dresden gibt es in diesem Bereich 20 000 Beschäftigte. Was Patentanmeldungen auf dem Gebiet der
Nanotechnologie angeht, sind wir im weltweiten Ranking hinter den Vereinigten Staaten auf Platz zwei. In der
Biotechnologie sind wir mit 350 Firmen in Europa an
der Spitze.
({4})
Es ist eben nicht so, wie vorhin dargestellt worden ist.
Wir haben die Zahl der Beschäftigten seit 1997 von
4 000 auf 13 000 erhöht und damit mehr als verdreifacht.
Wir orientieren uns insbesondere an denjenigen Technologiefeldern, die Arbeitsplätze schaffen.
Aber nicht jede Entwicklung - Entscheidungen über
strittige Fragen trifft im Parlament die Mehrheit - bedeutet Fortschritt. Deswegen braucht man einen gesellschaftspolitischen Diskurs, also das Gespräch miteinander.
({5})
- Ich sehe, dass das in Ihren Reihen Heiterkeit auslöst.
Uns ist diese Sache sehr ernst.
({6})
Wir brauchen das Gespräch mit dem Bürger über die
Frage, welche technologische Entwicklung wir in einem gesellschaftlichen Konsens miteinander als Ziel
festlegen wollen.
({7})
Beispielsweise im Bereich der Nanotechnologie gibt
es sehr viele offene Fragen. Frau Kollegin Burchardt hat
ein paar davon angesprochen. Wir haben deswegen gesagt: Wir wollen die Forschung vorantreiben. Aber es
muss Begleitforschung geben, damit wir zu einem verantwortbaren Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Positionen kommen.
Ich sehe, dass der Kollege Tauss eine Zwischenfrage
stellen möchte.
({8})
Herr Staatssekretär, wenn Sie diese Zwischenfrage
genehmigen, dann kann der Kollege Tauss sie auch stellen.
Ja.
Lieber Kollege Kasparick, Sie sind gerade dabei, die
wichtigen Punkte Revue passieren zu lassen. Darf ich
Sie bitten, einen Satz zum Thema Fusionsforschung zu
sagen.
({0})
Hier ist versucht worden, einen Dissens zwischen den
Fraktionen der Regierungskoalition und Ihrem Haus zu
konstruieren. Können Sie mir bestätigen, dass das, was
Bundesministerin Bulmahn - auch in dem Bemühen, die
Beiträge für dieses Projekt zu deckeln - in Europa tut,
({1})
in vollem Einklang mit dem steht, was diese Fraktionen
in den letzten Jahren immer gesagt haben?
Können Sie mir darüber hinaus bestätigen, dass die
Absenkung der Mittel, von der geredet worden ist, in
dieser Form nicht stattfinden wird, sondern dass es eine
kontinuierliche Fortschreibung geben wird? Vieles von
dem, was die Fusionstechnologie angeht, ist in Wahrheit
Grundlagenforschung in anderen Bereichen. Ich denke
da beispielsweise an die Materialforschung.
({2})
Herr Koppelin, wenn ich Ihnen einen Gefallen tun
wollte, dann würde ich schlicht Ja sagen. Alles, was Herr
Tauss vorgetragen hat, ist zutreffend. Wichtig ist insbesondere, was auf europäischer Ebene versucht wird: Wir
müssen - das entspricht dem deutschen Interesse; dementsprechend verhandeln wir im internationalen Rahmen - die Kosten des Fusionsprojekts begrenzen.
({0})
Deutschland hat sich dafür immer eingesetzt. EURATOM darf maximal 40 Prozent der Baukosten finanzieren. Das ist angesichts der Situation auf dem europäischen Finanzmarkt eine sehr vernünftige Position. Wir
müssen dafür sorgen, dass wir diese Kosten weiterhin im
Griff haben.
Wie Sie wissen, haben Forschungsprojekte von dieser
Dimension eine unangenehme Eigenschaft: Die veranschlagten Mittel reichen meist nicht aus. Deswegen sieht
die nationale Position - sie ist zwischen den beteiligten
Häusern abgestimmt - vor, zu einer Kostenbegrenzung
zu kommen.
Dem, was Sie im Anschluss an Ihre Frage gesagt haben, stimme ich im Übrigen durchaus zu: Das Fusionsexperiment hat eine ganze Fülle von Implikationen.
Dazu gehören unter anderem die Materialwissenschaften. Dazu gehört die Stärkung der Grundlagenforschung,
die wir in Europa insgesamt voranbringen wollen. Von
dem angesprochenen Dissens zwischen verschiedenen
Ressorts kann gerade in dieser Frage keine Rede sein.
({1})
Ich möchte noch etwas zu dem Thema Innovationstreiber sagen, und zwar im Rahmen dessen, was wir dem
Parlament unter der Überschrift Innovationsstrategie
mehrfach vorgetragen haben. Wir konzentrieren uns insbesondere auf Informations- und Kommunikationstechnologien, auf die Biotechnologien und auf die Nanotechnologien. Wenn Sie sich die Umsatzzahlen in der
Biotechnologie anschauen, stellen Sie fest: Wir sind
1997 mit 300 Millionen Euro im Jahr gestartet und liegen mittlerweile bei weit über 1 Milliarde Euro; auch
hier eine Verdreifachung.
({2})
Die rote Biotechnologie ist in der Gesellschaft durchgängig akzeptiert. Die weiße Biotechnologie ist in der
Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Die Pharmaindustrie
und die chemische Industrie in Deutschland wissen ein
Lied davon zu singen. Ich komme aus dem Chemiedreieck. Da profitieren die Unternehmen sehr von dem, was
wir „weiße Biotechnologie“ nennen.
Zu den grünen Technologien gibt es in der Gesellschaft verschiedene Grundpositionen; das wissen auch
alle. Diese Positionen muss man in einem Dialogprozess
aushandeln. Es ist Aufgabe der Politik, für einen
Ausgleich von Interessen zu sorgen. Ich bin der festen
Überzeugung, dass das, was wir in den vergangenen Monaten gesetzgeberisch getan haben, genau diesem Interessenausgleich dient.
({3})
Wir polarisieren nicht, sondern führen die verschiedenen
Interessen so zueinander, dass man Forschung betreiben
kann. Im Übrigen: Auch Stammzellforschung wird in
Deutschland betrieben.
({4})
Ich weiß nicht, ob Sie das wussten. Stammzellforschung
wird in Deutschland betrieben - entgegen den Behauptungen, die man immer hört, dass es diese Forschung in
Deutschland nicht gäbe.
({5})
Sie wird betrieben, aber - das ist der entscheidende
Punkt - sie wird in einer verantwortlichen Art und Weise
betrieben.
({6})
In der Nanotechnologie sind wir weltweit ganz vorn.
Wir wollen diese Poleposition - um einmal im Jargon
des Sportes zu reden - ausbauen. Wir wollen die guten
Startbedingungen nutzen. Wir sind in der Welt ganz vorn
und wir wollen ganz vorn bleiben, aber wir wollen dabei
verantwortlich handeln.
Insbesondere erhoffen wir uns von den Nanotechnologien Effizienzgewinne. Ich will nur einen Bereich ansprechen. Neue Materialien haben völlig neue Eigenschaften, was das physikalische Verhalten angeht. Wir
brauchen eine Effizienzrevolution im Mix der Technologien von der Produktion bis zum Verbrauch von Energien. Insbesondere in dem Bereich erhoffen wir uns sehr
große Zuwächse. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir
im Bündnis mit der Wissenschaft in diesem Land in dem
wichtigen Feld von Nano- und Biotechnologien weiter
vorankommen, wenn Sie mit Ihrer Blockade aufhören.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Heiderich für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Damit Sie wissen, wo Frau Reiche ist, sage ich Ihnen
zunächst einmal Folgendes: Sie ist bei ihrem Kind. Ihr
Kind wirkt heute an der Aufführung eines Krippenspiels
mit. Für eine Mutter ist es vielleicht ganz sinnvoll, in
solch einem Fall dorthin zu gehen und seinem Kind zuzuschauen.
({1})
Ehe Sie hier solche albernen Bemerkungen machen,
sollten Sie sich erkundigen.
({2})
Jahr der Technik. Jahr der Innovation. Jahr der Elite.
An beeindruckenden Begriffen herrscht bei Ihnen kein
Mangel.
({3})
Herr Kollege Heiderich, möchten Sie gleich zu Beginn eine Zwischenfrage zulassen?
Wenn ich noch einen Satz sagen darf! - Doch schaut
man hinter diese schöngefärbten Kulissen, dann erkennt
man: Die Realitäten im Land sehen ganz anders aus.
Dazu, denke ich, wird Herr Tauss gern fragen wollen.
({0})
Ich finde es in der Tat sehr familienfreundlich, wenn
Frau Reiche die Aufführung eines Krippenspiels verfolgen kann. Aber halten Sie vor diesem Hintergrund die
Attacken für gerechtfertigt, die Sie gegen die Bundesministerin für Bildung und Forschung geritten haben? Sie
verhandelt heute in einer zentralen Frage von Bildung
und Forschung in Deutschland. Es geht darum, was wir
künftig noch an Innovationen finanzieren können. Wenn
Sie dies attackieren, die Aufführung eines Krippenspiels
aber als selbstverständliche Entschuldigung hinnehmen,
dann werden hier von Ihrer Seite bei den Attacken auf
Frau Bulmahn wirklich die Verhältnisse auf den Kopf
gestellt.
({0})
Verehrter Kollege Tauss, ich weiß nicht, ob Sie Familienvater sind; so weit kenne ich Ihre persönlichen Verhältnisse nicht.
({0})
Es ist schon ein ziemlich erheblicher Vorwurf, finde ich,
den man hier erhebt. Es geht doch darum, dass sich eine
Mutter eine Aufführung anschauen kann, an der ihr Kind
mitwirkt. Wenn Sie da Vorwürfe erheben - ({1})
- Hören Sie mir doch einfach einmal zu!
({2})
- Ich beantworte gerade die Frage in der Art und Weise,
dass ich eine solche Unterstellung, wie sie von Ihrer
Seite erhoben wurde, einfach nur als schäbig betrachte.
So etwas sagt man nicht gegenüber anderen.
({3})
Sie sollten hier nicht nur über Familien und ihre Zukunft
reden, sondern Kompetenz in dieser Frage auch den Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause attestieren, die
Kinder haben, statt sie zu attackieren.
({4})
Wenn Ihre Ministerin heute hier nicht anwesend sein
kann, weil sie, wie Sie behaupten, erfolgreiche Verhandlungen führt, dann hoffe ich im Interesse unseres Landes, dass dabei auch wirklich etwas Positives herauskommt.
({5})
Damit ist dieser Punkt geklärt. Ich denke aber, man darf
doch wohl nach wie vor noch anmerken, wenn die zuständige Ministerin bei einer so wichtigen Debatte mit
entscheidenden Punkten wie heute nicht anwesend ist.
Das muss man, wie ich glaube, hier doch erwähnen dürfen.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es wäre ganz
schön, wenn wir nach diesem wechselseitigen Scharmützel nun zur Sache zurückkehren könnten.
Das will ich gerne tun, Herr Präsident. - In dem einen
Jahr kürzt die Bundesregierung - es wäre schön, wenn
auch Sie zuhörten, Herr Tauss - die Mittel für die deutschen Forschungseinrichtungen.
({0})
Nachdem sich diese dann zu Recht über diese Kürzungen beschweren, kürzt die Bundesregierung in dem anderen Jahr die Mittel der Projektförderung. Dabei sind
doch gerade Projekte ein Arbeitsfeld für junge Forscher,
ein Feld für neue Ideen und der Nährboden, aus dem sich
große Forschungserfolge entwickeln und, nicht zu vergessen, später auch Arbeitsplätze für dieses Land entstehen sollen.
({1})
Ihrer Darstellung von vorhin, was Sie angeblich tun,
will ich aus einem Bericht einige Fakten entgegenhalten.
Anhand dieser Skizze, die ich hier hochhalte, können
Sie, auch wenn Sie etwas weiter weg sitzen, erkennen,
was Sie tun.
({2})
Die schwarze Linie, die an der x-Achse entlangdümpelt
- das kann Herr Tauss, der diese Grafik gerade näher in
Augenschein nimmt, bestätigen -, steht für die Entwicklung der Forschungsförderung in der Bundesrepublik
Deutschland. Es ist deutlich erkennbar, dass die Forschungsförderung in der Bundesrepublik Deutschland
seit Jahren vor sich hindümpelt.
({3})
Damit Sie nicht meinen, ich würde mich hier auf irgendeine unbekannte Quelle berufen, will ich Ihnen
auch die Quelle nennen. Es handelt sich um den Bericht
des BMBF zu Technologie und Qualifikation in
Deutschland und zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, das von Ihnen geführte Ministerium
selbst stellt fest, Deutschland dümpelt bei der Forschungsförderung vor sich hin. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({5})
- Durch das ständige Erzeugen von Unruhe wird Ihre
Politik auch nicht besser. Durch solch ein Verhalten erzeugen Sie auch kein gutes Bild von Ihrer Fraktion.
Während in anderen Ländern die Etats für Forschungsförderung um 20 bis 40 Prozent angehoben wurden, ist die Entwicklung in Deutschland gegenteilig verlaufen. Zu den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs
ist zu sagen: Die Zahl der Start-ups hat sich in den letzten Jahren verringert, nicht erhöht. Sie haben auch den
Umsatz in diesem Bereich angesprochen: Er beträgt bei
uns 1 Milliarde, in der Schweiz macht er 2 Milliarden
aus, in Großbritannien sogar 4 Milliarden. Daran können
Sie sehen, welcher Abstand zwischen uns und anderen
besteht.
({6})
Deswegen haben wir ja auch während der Haushaltsberatungen beantragt, die Ansätze im Bereich der
Biotechnologie um 40 Millionen zu erhöhen. Eine
Erhöhung haben Sie abgelehnt, und zwar gerade für die
Bereiche, auf die Sie eben eingegangen sind, nämlich für
die Nano- und Biotechnologie, für die Proteomik, die
Nutrigenomik und ähnliche Felder.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Ihre
Politik hat negative Auswirkungen auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Das können Sie auch in dem
schon erwähnten Bericht nachlesen. Hier steht - ich zitiere das BMBF -:
Nachdenklich sollte stimmen, dass deutsche FuEStandorte im internationalen … Wettbewerb nicht
immer die besten Karten hatten.
({7})
Dies gilt nicht in der Breite, sondern eher für die
sensiblen Bereiche der Spitzentechnologie ({8}).
({9})
Das verbreiten Sie selber in Ihrem Bericht, uns aber sagen Sie, Sie hätten genug für die Innovationsförderung
in Deutschland getan.
({10})
Hier muss tatsächlich mehr kommen. Sie müssen endlich auch zu einer Linie finden. Doch Sie streiten seit
Jahren in diesem Parlament und zwischen Ihren Fraktionen herum, statt auf der Basis eines geschlossenen Konzeptes Deutschland nach vorne zu bringen.
Hierzu will ich Ihnen noch ein Zitat bringen. Vor gerade sechs Wochen war es Ihr Bundeskanzler, der hier in
Berlin bei dem Kongress von Acatech Folgendes gesagt
hat:
Wenn ich mir die politische Situation anschaue,
dann stelle ich fest, dass es im deutschen Parlament
eine Zurückhaltung bezüglich aller Fragen der Gentechnologie und deren Entwicklung gibt
({11})
und dass sie
- damit meint er die Zurückhaltung; nun passen Sie genau auf! von einem Bündnis von Menschen kommt, die auf
der einen Seite aus der Umweltbewegung kommen,
({12})
auf der anderen Seite eine gewisse Skepsis gegenüber technologischem Fortschritt haben - auch in
meiner Partei …
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sagt Ihr
Bundeskanzler! Kommen Sie dem doch einmal nach; tun
Sie das, was der Bundeskanzler von Ihnen verlangt!
({14})
Stattdessen haben Sie hier im Hause ein Gentechnikgesetz verabschiedet, das einen Sturmlauf wirklich aller
wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland - von
Max Planck bis Leibniz, von der DFG bis zur Akademie
der Wissenschaften - zur Folge gehabt hat.
Weil Sie immer meinen, es würde nur eine kleine
Technologie behindert, noch ein Zitat von Herrn Professor Winnacker.
({15})
Er sagt:
Da die Biotechnologie als Forschungsbereich letztlich nicht teilbar ist, wird dies gravierende Rückwirkungen auf die Biotechnologie in unserem Land
insgesamt haben. Ich habe für dieses Gesetz kein
Verständnis …
Da kann ich nur sagen: Ich auch nicht!
({16})
Wie es besser geht und wie man es richtig machen
müsste, zeigen wir Ihnen hier doch seit Jahren. Mit den
heute vorliegenden Anträgen zeigen wir Ihnen wieder,
wohin die Reise gehen müsste. Wir haben als Erste dem
Parlament eine umfassende Biotechnologiestrategie
vorgelegt, die dem Konzept von Lissabon aus dem
Jahre 2002 folgt; das können Sie nachlesen.
({17})
Wir haben als Erste einen konkreten Lösungsvorschlag
zur Biopatentierung hier vorgelegt. Jetzt, zwei Jahre
später, sind Sie unserem Lösungsvorschlag gefolgt zum Glück für dieses Land. Wir haben als Erste schon
2001 die Kennzeichnung von gentechnisch verbesserten Lebensmitteln mit einem Grenzwert von 1 Prozent
hier gefordert, um damit das Vertrauen der Bürger, über
das vorhin gesprochen worden ist, zu erreichen. Aber
Ihre Ministerin Künast tut ständig das Gegenteil. Sie
hysterisiert die Öffentlichkeit mit der Behauptung, es
würden ständig irgendwo Gefahren lauern, die aber alle
Wissenschaftler nicht erkennen könnten.
Wir haben damals als Wegweisung - ich erinnere an
die zweite Änderung des Gentechnikgesetzes, die „Inhouse-Richtlinie“ - Vorschläge eingebracht, die Sie hier
abgelehnt haben, die Sie aber jetzt plötzlich in den neuen
Entwurf des Gentechnikgesetzes als Ihre Erkenntnis hineinbringen, wofür Sie sich dann auch noch belobigen.
Wir freuen uns ja, dass Sie endlich unseren Vorschlägen
folgen, aber wenn Sie ihnen früher gefolgt wären, wäre
Deutschland längst ein ganzes Stück weiter. Deswegen
ist es Zeit, dass Sie die Vorschläge, die wir hier einbringen, und die Strategie, die wir für die Bio- und Gentechnik in Deutschland verfolgen, in das Regierungskonzept
aufnehmen, damit Deutschland technologisch vorankommt.
Vielen Dank.
({18})
Herr Kollege Heiderich, Ihnen ist hoffentlich bewusst, wie knapp Sie dem Risiko ausgewichen sind, dass
der Kollege Tauss eine seiner berühmten Zwischenfragen gleich vom Rednerpult des Deutschen Bundestages
aus stellt.
({0})
Ich möchte das ungerne als Präjudizierung einer künftigen Verdrängung der Reden durch die Zwischenfragen
bewertet wissen und hoffe, dass wir in der Geschäftsordnung ohne einen Bannkreis von 3 Kilometern um das
Rednerpult auskommen können.
({1})
Nun hat der Kollege Loske für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
sind ja jetzt einige lustige Dinge hier gesagt worden.
Dass die Kollegin Reiche gegangen ist, weil sie dem
Krippenspiel beiwohnen will, wirft ihr natürlich niemand vor. Aber der Hochmut, mit dem sie hier bestimmte Dinge vorgetragen hat,
({0})
zum Beispiel die Behauptung, Experimente wie energieeffiziente Schulen seien eine peinliche Angelegenheit
und Kinkerlitzchen, passt einfach nicht. Der Ton macht
die Musik!
({1})
Denn natürlich - das wissen doch auch Sie - ist es eine
elementare Lebenserfahrung, wenn Kinder möglichst
früh lernen, was erneuerbare Energien sind, was Energieeinsparung bedeutet, was es mit dem CO2-Problem
und mit der Klimaveränderung auf sich hat. Das ist doch
vernünftig. So etwas als lächerliche Kinkerlitzchen zu
denunzieren finde ich ziemlich dreist und ganz unangemessen.
({2})
Zweitens zu der Lesestunde - Gott sei Dank waren es
nur Minuten - von Herrn Heiderich. Sie haben ja offenbar gar keine eigene Meinung, sondern lesen hier nur
Ansichten von anderen Leuten vor.
({3})
Zwei Punkte dazu.
Erstens. Wenn eine Regierung, wie in dem BMBFBericht geschehen, auf Probleme in bestimmten Bereichen hinweist, dann gehört das zu einer realistischen und
notwendigen Problemanalyse. Denn Dinge, die man verbessern will, muss man erst einmal beim Namen nennen.
({4})
Es wäre Realitätsverweigerung, wenn man die Probleme
nur schönreden würde.
Zweitens. Zu dem, was ich aus Ihrem Munde gehört
habe, Herr Heiderich, kann ich nur sagen: Ihre Partei hat
in puncto Biotechnologie zwei Meinungen. In Wahrheit
sind Sie doch zwei Parteien! Sie sind doch gar nicht eine
Partei!
({5})
Ihre Kollegen, die beim Stammzellgesetz die restriktivsten Positionen eingenommen haben, sind nicht anwesend. Sie tun aber so, als sei die Regierungskoalition das
Haupthindernis im Bereich der Biotechnologie. Das
passt hinten und vorne nicht.
({6})
Frau Flach, Sie haben gesagt, unser Gesetz zur Biopatentierung sei falsch, weil es den Stoffschutz beschränke. Andererseits haben Sie, Herr Kollege
Heiderich, die Chuzpe, dazu zu klatschen, obwohl die
Union in der letzten Sitzungswoche mit uns gestimmt
hat. Dazu kann ich nur sagen: Das ist galoppierende
Schizophrenie. Das passt absolut nicht zusammen.
({7})
Frau Flach, ich möchte Ihnen einmal sagen, warum
wir den Stoffschutz bei Biopatenten eingeschränkt haben. Gene sind mehr als nur Stoffe; sie sind auch Informationsträger. Wir wollen keine Biomonopole, die letzten Endes forschungsfeindlich wirken. Deshalb haben
wir entsprechende Regelungen in das Gesetz aufgenommen.
({8})
Ich komme jetzt zu dem Thema, über das ich eigentlich sprechen wollte, nämlich zur Biotechnologie. Ich
glaube, dass wir nicht den Fehler machen dürfen, sie auf
die Gentechnik zu beschränken. Biotechnologie ist mehr.
({9})
Sie ist mehrere Tausend Jahre alt. Ich will gar nicht auf
die Hefe im Bier und im Brot oder auf die Bakterienkulturen im Joghurt eingehen. Ich will aber auf bestimmte
Bereiche zu sprechen kommen, die von der Regierung
- in Zukunft könnte dies noch verstärkt werden - gefördert werden.
Ein wichtiges Thema ist die Bionik. Da geht es um
die Frage, was wir von der Natur lernen können. Es gibt
ein entsprechendes Kompetenznetzwerk, das unterstützt
wird. Das ist gut so.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Biokatalyse, die
Sie, Herr Staatssekretär, als Weiße Biotechnologie - es
geht ja, wie gesagt, nicht nur um Gentechnik - bezeichnet haben. Ich glaube, darin liegt ein sehr großes Potenzial. Wenn man es mithilfe von Enzymen schafft, bei der
Produktion energieintensive chemische Prozesse durch
biologische Prozesse, also sozusagen durch eine sanfte
Biotechnologie, zu ersetzen, können wir enorm viele
Ressourcen wie auch Energie und Wasser einsparen. Das
ist genau die Form von Biotechnologie, die wir brauchen, um die Probleme der Menschheit zu lösen. Diese
Technologie sollten wir auf der ganzen Linie fördern.
({10})
- Ja, nicht ausschließlich. Da stimme ich Ihnen zu.
Von mehreren Kollegen wurde schon die Akzeptanz
angesprochen. Die Akzeptanz von geschlossenen Systemen - Stichwort: contained use - ist höher, weil die
Menschen zum einen unmittelbar den Nutzen erkennen
können und weil sie zum anderen relativ - nicht absolut - sicher sein können, dass gefährliche Stoffe nicht
nach außen dringen. Wir haben nämlich Gott sei Dank
relativ hohe Standards in Deutschland. Wenn man den
Menschen plausibel erklären kann, welchen Beitrag zur
Problemlösung diese Technologie liefert, dann ist die
Akzeptanz hoch. Bei der Weißen Biotechnologie ist das
der Fall.
Bei der Grünen Gentechnik ist die Akzeptanz nicht so
hoch. Die entsprechenden Zahlen wurden schon genannt: 70 bis 80 Prozent der Menschen sind skeptisch.
Auch Sie, Frau Flach, kommen deshalb nicht umhin,
eine Balance zwischen dem Innovationspotenzial auf der
einen Seite und der Einstellung und den berechtigten
Sorgen der Bevölkerung auf der anderen Seite zu finden.
Die Kombination kann nur heißen: Chancen nutzen
und Risiken begrenzen. Das ist genau unser Weg. Es
wäre gut, wenn Sie uns da folgen würden.
Danke.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
die Debatte verfolgt, dann kann man gut verstehen, dass
die Kollegin Reiche der weiteren Erörterung ein Krippenspiel vorgezogen hat.
({0})
- Es ist etwas völlig anderes, wenn die Ministerin, die
dem Parlament verantwortlich ist, nicht anwesend ist.
({1})
Wenn der Kollege Tauss, dessen Ansprüche nicht
allzu hoch sind,
({2})
ein Koreferat halten muss, um den Beitrag des Staatssekretärs zur näheren Erläuterung der Regierungspolitik zu
retten, dann können Sie sich in etwa vorstellen, wie es
um die Regierungspolitik bestellt ist.
({3})
- Regen Sie sich nicht so auf, sondern stellen Sie eine
Zwischenfrage! Dann habe ich mehr Zeit, auf dieses
Thema einzugehen.
Die Arbeitsteilung, die in dieser Bundesregierung
herrscht - sie erkennt man auch, wenn man sich die Ergebnisse des Jahres der Technik, das so großartig angekündigt wurde, betrachtet -, ist doch die: Der Bundeskanzler, gelegentlich auch Frau Bulmahn und Herr
Clement, machen wohlfeile Ankündigungen. Anschließend kommen Herr Trittin und Frau Künast und wischen
alle Vorschläge vom Tisch und blockieren. Das ist die
Arbeitsteilung.
({4})
Genau deshalb kommt auch die Weiterentwicklung unseres Standorts und unserer Wirtschaft nicht voran.
Kollege Loske hat hier gerade eben wieder ein Beispiel dafür geliefert, wo bei uns das eigentliche Problem
liegt: Überall werden immer nur Risiken beschrieben
- das wird dann auch noch als verantwortungsvolles Herangehen betrachtet - und nirgendwo werden Chancen
betrachtet.
({5})
Diese technikfeindliche Grundstimmung überträgt
sich leider Gottes auf die Jugend und auf die Heranwachsenden.
({6})
Deshalb haben wir einen so geringen Anteil an Studierenden im Bereich der Naturwissenschaften und im Bereich der Ingenieurwissenschaften.
({7})
- Ich lebe hier. - In Finnland würde ich sehen, dass der
Anteil doppelt so hoch ist wie bei uns. Das ist eben der
Unterschied: Dort wird dieser Bereich gefördert und
nicht immer nur Risikobetrachtung und Nabelschau betrieben.
({8})
Gerade weil wir diesen Unterschied sehen, möchten
wir Sie wirklich dringend auffordern, doch einmal zu
den eigentlichen Themen zurückzukehren: Wo liegen eigentlich für unseren Standort jetzt die Chancen? Wo
müssen wir weiter ansetzen? Die Themenfelder sind hier
ja eben beschrieben worden. Ich habe von Ihnen nichts
dazu gehört, was Sie sich an weiteren Förderungsmöglichkeiten vorstellen.
({9})
- Wenn das nur so wäre! Die Biotechnologie fördern Sie
ja nicht unbedingt; jedenfalls haben Sie bisher nicht den
Eindruck erweckt.
Das Einzige, was Sie im Bereich der Energieforschung tun, ist, die Leute mit Ihren Windenergieprogrammen und Ähnlichem zu veranlassen, den Nachbarn
in die Tasche zu fassen und sich über die Stromrechnung
die Subventionen abzuholen, und dann zu behaupten,
das sei nicht gefördert worden.
({10})
Deshalb haben wir in Deutschland eine ganz andere
Grundstimmung und deshalb müssen wir uns wieder
darauf besinnen, wie wir vorankommen, und dürfen
nicht nur stehen bleiben. Wir stellen fest, dass Sie Ihre
ideologischen Vorbehalte verteidigen wie die Dänen die
Düppeler Schanzen. Hier geht es aber nicht um Schanzen, hier geht es um Chancen für unseren Standort. Deshalb fordere ich Sie auf, wirklich wieder konstruktiv mit
uns zusammenzuarbeiten.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Carola Reimann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne zur Sache zurückkommen.
({0})
Wir haben zwei Anträge zur Bio- und Nanotechnologie
vorgelegt. Wir sind uns eigentlich einig, dass es sich bei
beiden Technologien um echte Schlüsseltechnologien
handelt, die gefördert werden sollen.
Die Rede von Herrn Heiderich hat bei mir den Eindruck erweckt, Biotechnologie fände in Deutschland gar
nicht mehr statt. Deswegen will ich die Zahlen kurz in
Erinnerung rufen: 1998 haben wir die Biotechnologie
mit 119 Millionen Euro gefördert, 2003 mit 143 Millionen Euro. Wenn das keine Steigerung ist! 2003 war auch
der Zeitpunkt, zu dem Sie Ihren Antrag gestellt haben,
der ja - lassen Sie mich das sagen - ein müder Aufguss
eines alten Antrages aus der 14. Legislaturperiode ist.
Dieser Antrag ist jetzt als Aufguss des Aufgusses noch
einmal gestellt worden und liegt kürzer, aber auch nicht
gehaltvoller vor, wie das mit Aufgüssen nun einmal so
ist.
Einen Punkt aus Ihrem Antrag will ich dennoch ansprechen, weil hier gerade der Bereich der Genom- und
Proteomforschung das Thema war. Sie fordern in Ihrem Antrag eine Fokussierung auf diesen Bereich. Wenn
Sie einmal ein bisschen zugehört oder sich kundig gemacht hätten, dann wüssten Sie, dass das seit 2001 einer
der zentralen Förderschwerpunkte im biowissenschaftlichen Bereich ist.
({1})
Seit 2001 fördert das BMBF die Genomforschung im
Nationalen Genomforschungsnetz, das Ihnen vielleicht besser unter der Abkürzung NGFN bekannt ist,
mit 180 Millionen Euro. Aus diesem Netz sind
80 Patente, 1 500 Publikationen und - ich erwähne das,
weil hierzu ein Vorwurf gemacht wurde - 90 Produkte
erwachsen, die in Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelt wurden.
({2})
Erst letzte Woche ist die zweite Runde vorgestellt worden; dafür werden 135 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt. Diese Projekte werden sich auf krankheitsbezogene Genomnetze und systematisch-methodische
Plattformen fokussieren, damit es eine entsprechende
Konzentrierung gibt. Auch daran sind wieder über
300 Arbeitsgruppen an Universitäten, Max-Planck-Instituten, Helmholtz-Zentren, Leibniz-Zentren und auch
Biotechnologieunternehmen beteiligt. Ich bin sicher,
dass auch das wieder ein großer Erfolg wird.
({3})
Mit dem Nationalen Genomforschungsnetz konnte
sich Deutschland den Spitzenplatz in Europa sichern und
sich auch weltweit wieder an die Spitze setzen: auf
Platz 2 hinter den Vereinigten Staaten.
Einer, der ganz unverdächtig ist, der Vorsitzende des
NGFN-Lenkungsgremiums, Andreas Barner, der zugleich den Bereich „Forschung und Entwicklung“ bei
Boehringer Ingelheim betreut und Vorsitzender eines
großen Arzneimittelverbandes ist, hat der „Welt“ ein Interview gegeben und darin gesagt, dass es mit dem
NGFN gelungen sei, Deutschland in den Spitzenbereich
der internationalen Genomforschung zurückzuführen.
Für Biowissenschaftler sei es wieder attraktiv geworden,
hier zu arbeiten und zu forschen. - Das zum Wettbewerb
der Köpfe und zum Standort Deutschland.
({4})
Auch auf den Bereich der Nanotechnologie möchte
ich kurz eingehen.
Darf die Kollegin Flach Ihnen zwischendurch eine
Frage stellen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Reimann, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze
und dass wir an vielen Stellen gemeinsamer Meinung
sind. Ich habe kein Wort zum Nationalen Genomforschungsnetz gesagt. Sie wissen, dass die FDP es immer
unterstützt hat. Meine Aussage war: In Deutschland ist
die Lücke zwischen der Forschung und den Produkten, die zu Arbeitsplätzen führen, nach wie vor nicht geschlossen.
({0})
Sicherlich waren auch Sie letzte oder vorletzte Woche
bei der Biotechkonferenz der Bundesregierung. Dort
wird immer wieder die Frage gestellt: Wie lösen wir dieses Problem?
({1})
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie am Ende des Jahres der Innovation eine schlüssige Antwort darauf geben
könnten.
Frau Kollegin, ich wollte gerade mit der Nanotechnologie fortfahren. Ich nehme dieses Beispiel auf. Die Förderung ist massiv hochgefahren worden. Deutschland
war eines der ersten Länder, die Nanotechnologie gefördert haben. 1998 standen dafür 27,6 Millionen Euro zur
Verfügung. Jetzt sind es 123 Millionen Euro.
({0})
Die Förderung ist an so genannten Leitinnovationen
ausgerichtet, um den Technologietransfer in die kleinen
Unternehmen zu stärken. Gerade im Bereich Nano sind
es vor allen Dingen kleine und mittelständische Unternehmen, die mit den Kompetenznetzen zusammenarbeiten und so zu Anwendungen kommen.
({1})
- Ich habe die Zahlen zu den einzelnen Kompetenzzentren nicht hier. Ich kann aber zu dem Kompetenzzentrum, das bei mir vor Ort ansässig ist, sagen, dass mit
ihm 30, 40 kleine oder mittelständische Unternehmen
kooperieren. Sie bringen Dinge zur Anwendung, die in
den Kompetenznetzen gefunden werden. Das ist, glaube
ich, ein sehr wichtiger Weg.
Gucken Sie sich den ganzen Bereich Nanofab an!
Die Firmen, die sich um Dresden herum ansiedeln, nutzen genau das für die Chipherstellung, was im Nanotechnologiebereich entwickelt wird. Das sind sehr hoffnungsvolle Ansätze und damit sind auch Arbeitsplätze
verbunden.
({2})
Es geht nicht immer nur um Geld; auch das muss ich
an dieser Stelle sagen. Hier ist vorhin schon angeklungen: Es muss auch um den Dialog mit der Bevölkerung, mit den Bürgerinnen und Bürgern gehen;
({3})
denn nur mit einem reflektierten Dialog über Chancen,
Nutzen und Risiken kann man Verständnis und Akzeptanz gewinnen und damit den wirtschaftlichen Erfolg
neuer Technologien gewährleisten.
Die Akzeptanzprobleme, die wir jetzt im Bereich der
Grünen Gentechnologie beklagen, sind meiner Ansicht
nach zum Teil darauf zurückzuführen, dass dieser Dialog
in der Anfangszeit gar nicht geführt wurde. Schon gar
nicht wurde über die Risiken gesprochen. Jetzt ist das
Misstrauen sehr groß. Ein eventueller Nutzen wird wahrscheinlich kaum erkannt werden oder durch das Misstrauen einfach überkompensiert werden, was ich im Übrigen durchaus verständlich finde.
Ich will ein erfolgreiches Beispiel nennen. Letzte Woche war zufällig der Nanotruck in meinem Wahlkreis in
Braunschweig. Er ist ein sehr gutes Beispiel für einen
Dialog mit der Bevölkerung, er ist ein niederschwelliges
Angebot für Bürgerinnen und Bürger. Es waren wirklich
alle da: Schulklassen, Einzelpersonen, Jüngere, Ältere.
Der Nanotruck will über Grundlagen und Anwendungsgebiete, über Zukunftspotenziale und auch über Risiken
informieren. Dieser Dialog mit der Öffentlichkeit wird
geführt und sehr gefördert.
Ich habe ein Exponat aus dem Nanotruck mitgebracht. Sie sehen, dass darin eine schwarze Flüssigkeit
enthalten ist.
Herr Tauss, sehen Sie sich das freundlicherweise von
Ihrem Platz aus an.
({0})
In dieser Flüssigkeit sind Nanoeisenpartikel gelöst,
die dieser Flüssigkeit nicht nur ihre schwarze Farbe geben, sondern ihr auch magnetische Eigenschaften verleihen. Wenn Sie sie - viele erinnern sich vielleicht an Magnetversuche mit Eisenspänen - mit einem Magneten
hochziehen, dann können Sie eine Igelstruktur erkennen,
die sehr schön nach dem Magnetfeld ausgerichtet ist.
Das ist ein schönes Spielzeug, Herr Präsident. - Bitte
sehr.
({0})
Dieses Spielzeug ist allerdings kein parlamentarisches Spielzeug, sondern wird für eine sehr reale Anwendung genutzt. Diese Flüssigkeiten werden benutzt,
um - Frau Burchardt hat es schon erwähnt - Tumore zu
bekämpfen; Tumore werden mit einem solchen Fluid behandelt. Dafür wird am Kopf des Patienten ein Wechselfeld angebracht. Die Nanopartikel bewegen sich und
durch diese Bewegung entsteht Wärme. Diese Hyperthermie - so nennt man das - schädigt und zerstört den
Tumor sehr selektiv. Die ersten Versuche, die dazu in der
Charité durchgeführt wurden, sind sehr hoffnungsvoll
und erfreulich verlaufen. An diesem Beispiel wird deutlich, in welchen Bereichen Nanotechnologie sehr gut angewandt werden kann.
({1})
Die Entwicklung und Anwendung von Ferrofluiden wird
von der DFG als einer der Schwerpunktbereiche gefördert. Dies ist quasi ein Abfallprodukt eines BMBF-Programms.
Ich denke, es ist klar geworden, dass es sehr faszinierende Potenziale der Nano- und Biotechnologie gibt. Die
Bundesregierung hat das erkannt und diese Bereiche seit
Jahren intensiv gefördert. Hoffentlich macht sie so weiter.
Danke.
({2})
Frau Kollegin Reimann, mit dem Hinweis auf das Abfallprodukt des BMBF haben Sie sicherlich nicht das
Präsidium, sondern Ihr Demonstrationsobjekt gemeint.
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es mitgenommen und sofort dem Kollegen Tauss ausgehändigt haben; denn ich
kann mir nicht vorstellen, dass er bis zum Ende der Plenarsitzung abgewartet hätte, um es persönlich in Augenschein zu nehmen.
({0})
Nun hat der Kollege Axel Fischer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Bilanz des Jahres der Technik 2004.
Wenn man sich diese Bilanz, die wir aktuell zu beklagen
haben, anschaut, muss man folgende Stichworte nennen:
steigende Arbeitslosigkeit, immer mehr Unternehmensverlagerungen ins Ausland und das Sterben des Mittelstandes in Deutschland. Im Forschungsbereich - das haben wir im Forschungsausschuss immer wieder
debattiert - ist die Situation ähnlich: Immer mehr junge
Forscher versuchen ihr Glück nicht in Deutschland, sondern im Ausland.
Man muss sich die Frage stellen, warum die Situation in
unserem Land so ist. Wenn man sich die Forschungspolitik
anschaut, stellt man fest, dass unsere Bundesforschungsministerin in den Medien eher als Bundesbildungs- denn
als Bundesforschungsministerin wahrgenommen wird.
({0})
Wenn man das genau betrachtet, muss man ganz klar sagen: Es wäre wichtig, dass wir uns mehr um die Forschung kümmern und dass sich die Bundesforschungsministerin mehr um das kümmert, weswegen sie im Amt
ist. Sie sollte nicht versuchen, den Ländern ihre Bildungskompetenz zu entziehen, sondern Forschungspolitik betreiben und in diesem Bereich neue Ansätze entwickeln.
({1})
Vor einiger Zeit hat die Bundesforschungsministerin
eine deutsche Zukunftsinitiative für Nanotechnologie
auf den Weg gebracht. Ich muss sagen: Herzlichen Glückwunsch! Das ist immerhin ein Lichtblick. Für unsere
Fraktion ist der Ansatz zwar immer noch zu planwirtschaftlich, aber immerhin. Eigentlich habe ich erwartet,
dass vonseiten der rot-grünen Regierungskoalition Anträge eingebracht werden, um die Forschungsministerin
in diesem Bereich zu unterstützen und anzutreiben.
({2})
Doch: weit gefehlt. Im vorliegenden Antrag von RotGrün - Frau Burchardt hat vorhin schon über ihn gesprochen - wird deutlich mehr über die Risiken als über die
Chancen der Nanotechnologie diskutiert.
Ich habe mir den Spaß gemacht, durchzuzählen, wie
häufig die Wörter „Risiko“ und „Chance“ in Ihrem Antrag stehen. Das mag zwar nicht direkt etwas mit der
Qualität Ihres Antrags zu tun haben, aber es fällt auf,
dass das Wort „Risiko“ 40 Prozent häufiger verwendet
wird als das Wort „Chance“.
({3})
Das zeigt, wes Geistes Kind die Autoren Ihres Antrags
sind.
({4})
In Ihrem Antrag - das ist besonders interessant - monieren Sie das fehlende Wissen über die Gefahren der
Nanotechnologie. Ich glaube, wir brauchen mehr Wissen
über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen
Potenziale der Nanotechnik, die wir durch Forschung
und Anwendung dieser Technik nutzbar machen können,
um den Wohlstand für unser Volk zu mehren und dafür
zu sorgen, dass wir wieder Wirtschaftswachstum in
Deutschland bekommen, dass es uns in unserem Land
wieder gut geht, dass wir mehr Arbeitsplätze haben und
Unternehmen hier in Deutschland wieder eine Chance
haben. Dann müssen die Menschen nicht mehr die große
Axel E. Fischer ({5})
Sorge haben, immer weniger Geld im eigenen Geldbeutel zu behalten.
({6})
Wenn man den Wohlstand mehren will, muss man
Chancen ergreifen. Ich will zitieren, was unsere Fraktionsvorsitzende Angela Merkel hier am 8. September
gesagt hat:
Sie müssen Chancen eröffnen und nicht Risiken betrachten. Aber Rot-Grün betrachtet an viel zu vielen
Stellen zuerst das Risiko und vergeudet damit
Chancen. Genau das ist der Unterschied zwischen
uns und Ihnen.
({7})
Wenn man dieses Zitat von Angela Merkel liest, könnte
man meinen, sie ist aufgrund Ihres Antrages zur Nanotechnik zu diesem Urteil gekommen. Aber wenn man es
genau betrachtet, ist das bei Ihnen nichts Besonderes, es
hat ja schon System.
Ich erinnere an die Debatte über den Transrapid,
über den wir uns in diesem Haus viele Jahre gestritten
haben. Der Kollege Dirk Fischer hat mehrfach darauf
hingewiesen - andere Kollegen auch -, dass wir den
Transrapid in Deutschland brauchen.
({8})
Was ist das Ergebnis Ihrer Verhinderungspolitik? Der
Transrapid fährt in China, die deutsche Technik ist in
China
({9})
und unser Bundeskanzler sitzt vorn im Führerhaus und
lächelt in die Kameras. Dieses Fahrzeug könnte bei uns
fahren, wir könnten diese Technik hier weiterentwickeln.
({10})
Ein weiteres Beispiel ist die Gentechnik - Kollege
Heiderich hat es schon ausführlich dargelegt -: Auch
hier diskutieren Sie deutlich mehr über die Risiken; vor
allem die Grünen sind hier die Bremser. Wir müssen
wieder zu einer Diskussion über die Chancen kommen,
um unser Land voranzubringen. Darum geht es hier!
Jetzt haben Sie einen Antrag zur Energieforschung
eingebracht. Ich muss sagen, es wundert mich schon,
dass der Wirtschaftsminister und die Bildungsministerin
gegen diesen Antrag nicht Sturm laufen.
({11})
Dieser Antrag hat doch überhaupt nichts mit Forschungspolitik zu tun. Das ist ein Subventionsantrag, mit
dem regenerative Energien gefördert werden sollen, mit
dem sie den Menschen über die EEG-Einspeisevergütung zur Förderung solcher Anlagen das Geld aus der
Tasche ziehen wollen. Das ist keine Forschungspolitik,
meine Damen und Herren. Was Sie damit erzeugen - das
muss man einmal sagen -, ist eine technikfeindliche
Grundstimmung.
({12})
Es ist wie mit einem Glas Wasser: Das Glas kann halb
voll oder halb leer sein.
({13})
- Herr Tauss, bitte bleiben Sie sitzen, Sie brauchen jetzt
nicht herzukommen, Sie können es sehen. - Sie diskutieren über Risiken, das heißt, Sie machen sich Gedanken,
dass ja kein Tropfen Wasser aus diesem Glas entweicht.
({14})
Sie beachten nicht, dass dauernd etwas verdunstet, dass
es immer weniger wird. Wir von der Regierungskoalition machen uns Gedanken, wie wir dieses Glas wieder
füllen können, damit wir wieder mehr haben.
({15})
- Jawohl, wir von der Regierungskoalition - ab 2006,
wenn wir die Verantwortung wieder übernehmen werden!
({16})
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Antrag zur Nanotechnologie eingebracht. In diesem Antrag haben wir
die Punkte aufgeführt, die wichtig sind, um die Nanotechnik in Deutschland voranzubringen:
({17})
Wir müssen die zentralistische Feinsteuerung unterbinden. Wir brauchen dringend eine Entbürokratisierung.
Wir brauchen eine Stärkung des Mittelstands
({18})
und wir müssen von der Grundlagenforschung zur Anwendung kommen. Dieser Weg muss erleichtert werden.
Deutschland muss in der Nanotechnologie möglichst
bald auf breiter Front den Sprung von der Forschung
in die Anwendung schaffen.
Frau Merkel hat hier am 8. September auch gesagt:
({19})
Innovationen haben einen ganz besonderen Charakter. Sie kommen nicht, wenn man einfach nur ihren
Namen laut ruft. Innovationen brauchen ein bestimmtes Klima. Dieses Klima hat nicht etwas mit
politischer Vorbestimmung, sondern mit Freiheit zu
tun.
Katherina Reiche hat am 10. September gesagt:
Axel E. Fischer ({20})
Bildung und Wissenschaft brauchen Freiheit. Aber
Ihnen erscheint der Wert der Freiheit suspekt. Sie
wollen reglementieren. Sie wollen kontrollieren.
({21})
Man kann es auf den Punkt bringen: Sie finanzieren
Forschung für Bedenkenträger, die Innovationen bremsen und den Wohlstand verringern. Stattdessen wollen
wir - hierin beziehe ich die FDP-Fraktion ein - Forschungsmittel für Leistungsträger, die Innovationen voranbringen und den Wohlstand mehren. So einfach ist es!
({22})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegenstand der
heutigen Debatte ist unter anderem ein Antrag, mit dem
die CDU/CSU eine „grundlegende Überarbeitung des
Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts“ fordert. Es handelt sich, um es kurz zu sagen, um einen Antrag, der weniger durch Argumentation und mehr durch
Polemik gekennzeichnet ist.
({0})
Uns wird wieder einmal eine „Blockadehaltung gegenüber der Gentechnik“ vorgeworfen, nicht zu vergessen die Behinderung der Forschung - das haben wir auch
eben wieder gehört - und die Schwächung des Standortes Deutschland.
Ich zitiere:
… Schröder und Künast haben dieser Richtlinie
- gemeint ist die EU-Freisetzungsrichtlinie zugestimmt und damit erstmals die Voraussetzung
geschaffen, dass in Europa, in Deutschland,
… künftig gentechnisch veränderte Organismen
ausgebracht werden können.
Wissen Sie, wer das gesagt hat? Stefan Mörsdorf, Minister des CDU-regierten Saarlands, am 24. November
2004 in einer Landtagsdebatte, in der es unter anderem
um GVO-Verunreinigungen im Raps auf saarländischen Äckern ging.
({1})
In solchen Fällen - nämlich dann, wenn etwas schief gegangen ist - wird die Verantwortung gern auf den Bund
geschoben.
Tatsache ist, dass Deutschland bisher als einziges EULand die Richtlinie umgesetzt und damit überhaupt die
Voraussetzung für die Koexistenz von GVO-nutzender
und GVO-freier Landwirtschaft geschaffen hat.
({2})
Sie behaupten, die Forschung werde insbesondere
durch die unangemessene Haftungsregelung behindert.
Den Beweis für diese Behauptung aber ist man uns bisher schuldig geblieben. Vielmehr haben wir aus Forschungskreisen auch Unterstützung für das Gesetz erfahren, zum Beispiel von der Vereinigung Deutscher
Wissenschaftler. Möglicherweise ist sie bei dem von
Herrn Heiderich genannten „Sturmlauf“ verloren gegangen. Laut VDW behindert die Haftungsregelung eine
sorgfältig geplante Forschung nicht; vielmehr stehe „ein
Bündel von Sicherheitsvorkehrungen zur Verfügung,
deren kluge und konsequente Nutzung durch die neue
Haftungsregelung ganz im Sinne des Gesetzes befördert“ werde. Auskreuzungsbeschränkungen sind im
Übrigen schon in der jetzigen Genehmigungspraxis die
Regel, ohne dass dadurch Freisetzungen unmöglich
wären.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, man
kann einen Standort auch schlechtreden, wie wir es
heute wieder vielfach gehört haben.
({3})
Die Behauptung, aufgrund einer viel zu restriktiven Gesetzgebung in Deutschland werde hier nicht mehr
geforscht und es würden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden, vermittelt den Eindruck, einzig in
Deutschland sei die Bevölkerung kritisch eingestellt.
Das trifft nicht zu. Nicht nur innerhalb der EU, sondern
in zunehmendem Maße auch in Nicht-EU-Ländern gibt
es Vorbehalte.
Deutschland hat keine Standortnachteile; allerdings
hat die Agrogentechnik ein Akzeptanzproblem bei den
Verbrauchern. Eine strikt auf Vorsorge, Gesundheitsund Umweltschutz sowie Sicherheit und Transparenz
ausgerichtete Gesetzgebung wie in Deutschland bietet
für die Branche dagegen die Chance, Vertrauen zu gewinnen und damit auch den Markt zu erschließen.
({4})
Die Mehrheit der Verbraucher und auch der Landwirte will keine Gentechnik im Lebensmittelbereich.
Das zeigen die Umfragen - dies wissen Sie selbst -,
({5})
das zeigt aber beispielsweise auch die wachsende Zahl
gentechnikfreier Regionen, die mittlerweile bei weit
über 50 liegt.
Zu Ihren Forderungen gehe ich im Folgenden nur
noch auf zwei Punkte ein:
Erstens. Sie stimmen mir sicherlich zu, dass gerade
bei Freisetzungsversuchen die Vermeidung von Auskreuzungen oberste Priorität haben muss.
Die Gentechnik birgt zweifelsfrei gewisse Risiken
in sich.
Bevor Sie mir jetzt Ideologie vorwerfen, meine Damen
und Herren von der Opposition: Auch dies ist ein Zitat
von Umweltminister Mörsdorf, Mitglied der CDURegierung im Saarland.
Erzeugnisse aus Freisetzungsversuchen dürfen nicht
in Verkehr gebracht werden, wenn keine entsprechende
Inverkehrbringensgenehmigung vorliegt. Es wäre ein
Widerspruch, wenn einerseits die Erzeugnisse, die auf
der Freisetzungsfläche selbst erzeugt wurden, nicht in
Verkehr gebracht werden dürfen, andererseits aber Auskreuzungsprodukte aus Freisetzungsversuchen ohne eine
solche Genehmigung vermarktet werden könnten. Übrigens hat die EU-Kommission diese Position nach sorgfältiger Prüfung bestätigt.
Zweitens zur Haftungsregelung: Sie fordern eine verschuldensabhängige Haftung. Die Haftungsregelung
im Gentechnikneuordnungsgesetz, § 36 a, basiert auf
dem Nachbarschaftsrecht und dort gibt es kein Verschulden. Die Geschädigten haben einen Anspruch auf Schadenersatz, auch wenn der Verursacher keinen Verstoß
begangen hat. Ein Fonds, der die allgemeinen zivilrechtlichen Abwehr- und Ausgleichsregeln nicht lediglich
ergänzt, sondern bei Einhaltung der guten fachlichen
Praxis eine Inanspruchnahme des GVO anbauenden
Landwirts ausschließt, wäre eine Abkehr vom Nachbarschaftsrecht.
Grundsätzlich schließt das Gesetz zur Neuordnung
des Gentechnikrechts nicht aus, dass auf freiwilliger
Basis zwischen den Wirtschaftspartnern ein Haftungsfonds für den Ausgleich von Beeinträchtigungen eingerichtet wird. So etwas ist aber nur als Ergänzung zur
gesetzlich vorgesehenen Haftungsregelung anzusehen,
nicht als Alternative.
Sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU,
Ihren Antrag lehnen wir ab. Wenn es Ihnen wirklich um
eine zügige Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie
und um die Schaffung von verlässlichen Rahmenbedingungen für den GVO-Anbau in Deutschland geht, dann
unterstützen Sie uns bei der weiteren Konkretisierung
und Umsetzung des vorliegenden Gesetzes.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man möchte sagen: Hurra, wir leben noch!
Wir leben nämlich noch von früheren innovativen Produkten und Investitionen, aber das ist schlicht zu wenig.
({0})
Offensichtlich hat die Bundesregierung die in unserem Antrag erhobene Forderung nach einer Initialzündung für mehr Innovation in Deutschland missverstanden; denn sie hat dies mit einem verbalen Innovationsfeuerwerk beantwortet. Meines Erachtens hat der
Bundeskanzler höchstpersönlich das Feuerwerk gezündet, als er Ende des Jahres 2003 im Düsseldorfer „Handelsblatt“ eine neue Innovationskultur für unser Land
anmahnte.
({1})
Dann ging es Schlag auf Schlag. Jede Woche überbrachte die Bundesregierung eine neue Innovationsidee,
die sich später, mit Verlaub, als Windei herausstellte.
({2})
Da ist es kein Wunder, dass bereits die Studie der
Fraunhofer-Gesellschaft mit dem Titel „Deutschland
innovativ“ im März 2004 mahnte - auch ich zitiere -:
Der Begriff Innovation gerät in Gefahr, zum Unwort des Jahres 2004 zu werden. Damit dies nicht
geschieht, muss die Innovationsoffensive für
Deutschland, müssen die Impulse, die die Partner
für Innovation setzen können, von Bürgerinnen und
Bürgern mit verständlichen Leitbildern, klaren Inhalten und Zielen sowie kommunizierbaren Inhalten in Verbindung gebracht werden.
({3})
Diesem Anspruch ist die Bundesregierung im Jahr der
Technik und Innovationen nicht gerecht geworden.
Wortschöpfungen wie „Brain Up“, „Germany powered
by innovation“ oder „Mind the Gap“ haben die Bürger
eher verwirrt als aufgeklärt. Auch die harten Fakten
sprechen nicht für einen Erfolg. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.
Bei Gerhard Schröder hieß es zum Beispiel in der
Ausgabe des „Handelsblattes“ vom 30. Dezember 2003,
also von vor knapp einem Jahr:
Auch die zunehmende Mobilität in unserer Gesellschaft ist ein Zukunftsmarkt … Solche Zukunftsmärkte können sich in Deutschland umso stärker
herausbilden, je produktiver unsere … international
anerkannte und qualitativ hochwertige Spitzenforschung wird.
Tatsache ist: In dem so genannten Jahr der Innovation
hat die Bundesregierung die Mittel für Verkehrs- und
Mobilitätsforschung nicht erhöht, sondern um
10 Prozent gekürzt.
({4})
Ebenso verhält es sich beim Mittelstand. Bei allen Gelegenheiten preist die Bundesregierung den Mittelstand,
seine Leistungsfähigkeit und seine Innovationskraft.
Hier handelt es sich aber um bloße Lippenbekenntnisse.
Tatkräftige Hilfe kann der Mittelstand von der Bundesregierung leider nicht erwarten.
Symptomatisch hierfür steht zum Beispiel die Webseite der Bundesregierung zum Jahr der Technik. Gibt
man als Suchbegriff das Wort „Mittelstand“ ein, so erhält man die Information, dass es keine entsprechenden
Einträge gibt.
({5})
Ich glaube kaum, dass der Mittelstand nichts zum Jahr
der Technik zu sagen hat.
Mit großem Tamtam wurde Anfang des Jahres der
High-Tech-Masterplan Mittelstand aus der Taufe gehoben. Wie wir jedoch bereits in der Debatte Anfang des
Jahres festgestellt haben, wurde hier alter Wein in neue
Schläuche umgefüllt, damit auch dem Mittelstand im
Jahr der Innovation Blendwerk vor die Augen geführt
werden konnte.
({6})
Die Realität sieht leider etwas anders aus: Wir verzeichnen steigende Insolvenzzahlen. Allein in diesem Jahr
werden circa 40 000 Betriebe in die Pleite rutschen bzw.,
wie der Herr Wirtschaftsminister Clement das heute
Nachmittag hier so schön formuliert hat, „vom Markt
gehen“. Die fehlenden Eigenkapitalausstattungen und
die überbordende Bürokratie schaffen den Rest. Angesichts dieser Probleme verliert der Mittelstand allmählich die Kraft, neue innovative Produkte zu entwickeln
und auf den Markt zu bringen. Frau Kollegin Flach, das
ist auch im Ausschuss unser zentrales Problem.
({7})
Einen schweren Rückschlag für die Forschung im
Mittelstand stellt daher die schleppende Mittelvergabe
an die Arbeitsgemeinschaft für industrielle Forschung dar. Normalerweise ist die AiF eine der Hauptstützen für die Forschung im Mittelstand. In den vergangenen zwei Jahren konnten von den jeweils in Aussicht
gestellten Mitteln in Höhe von 97 Millionen Euro jedoch
nur gut 90 Millionen Euro abgerufen werden. Diese Art
der Mittelvergabe führte dazu, dass die AiF 2004 - es
geht also um das Jahr der Innovation - die Finanzierung
neuer Vorhaben in großem Umfang zurückfahren
musste. Wenn man bedenkt, dass für ein innovatives
Produkt durchschnittlich 170 Ideen formuliert und überprüft werden müssen, dann können Sie sich vorstellen,
was das für den Innovationsstandort Deutschland bedeutet.
Wegweisende Forschungsvorhaben werden be- oder
sogar verhindert, weil die betroffenen Firmen den fehlenden Finanzierungsanteil für Forschung und Entwicklung nicht überbrücken können. Davon sind Projekte aus
vielen Fachbereichen betroffen. Ich nenne zum Beispiel
den Maschinenbau. Dort kann ein allgemein gültiges
thermodynamisches Zylindermodul für alle bekannten
Brennverfahren nicht entwickelt werden. In der Lebensmitteltechnologie warten wir auf Energie sparende und
schonende Verfahren zum Beispiel für die Homogenisierung von Milch. Bei der Forschung und Entwicklung in
der Holzverarbeitung warten wir auf Sanierungsverfahren für geruchsbelastete Holzhäuser und die Verbesserung von Oberflächeneigenschaften von Holzfensterprofilen mittels Ultraschallglättung. In der angewandten
Informatik warten wir ganz dringend auf DIN-gerechte
Röntgenfilmauswertungen von Schweißverbindungen
mittels digitaler Bildverarbeitung. Das sind nur einige
Beispiele.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal
auf die zersplitterten Zuständigkeiten für die Forschung in der Bundesregierung hinweisen. Gerade im
Jahr der Innovation wäre es ein positives Signal gewesen, die Forschungsaktivitäten in den Bundesministerien
in einem Ministerium zusammenzuführen, wodurch endlich eine effektive und reibungslose Forschungsförderung hätte sichergestellt werden können.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das nächste
Jahr bietet Chancen. Eine wegweisende Physikerpersönlichkeit des vergangenen Jahrhunderts wird nämlich im
Mittelpunkt stehen: Albert Einstein. Wir dürfen gespannt
sein, was sich die Bundesregierung dazu einfallen lässt.
Vielleicht überrascht sie uns ja mit einer „allgemeinen
Relativitätsoffensive“ im Hinblick auf ihr eigenes Handeln.
Vielen Dank und viel Vergnügen noch.
({9})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hermann Scheer für die SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Ich möchte mich auf den
Antrag der Koalitionsfraktionen konzentrieren, in dem
es um die Energieforschung geht. Da aber meine Vorrednerin von dem Einstein-Jahr gesprochen hat, möchte ich
mit einem Einstein-Zitat beginnen: Die Methoden, die
die Probleme hervorgerufen haben, sind ungeeignet, die
Probleme zu lösen.
({0})
Das gilt in einem ganz starken Maße für die Energieforschung. Wir müssen uns einmal vor Augen führen, welche Schwerpunkte der Energieforschung in den
vergangenen Jahrzehnten gesetzt und mit einem unglaublichen Aufwand verfolgt worden sind, nicht nur in
Deutschland, sondern in ganz Europa, in allen führenden
Industrieländern von Ost bis West, von den USA bis zur
Sowjetunion. Über viele Jahrzehnte hat man sich dabei
fast ausschließlich auf die Atomforschung konzentriert.
({1})
Es ist überfällig, einmal eine Forschungskostenfolgenbewertung vorzunehmen.
({2})
Eine solche Forschungskostenfolgenbewertung kann
nicht mehr ignorieren, dass in der Summe - wenn man in
dem ganzen Spektrum derjenigen, die das versucht haben, alles zusammennimmt - über 1 Billion Dollar für
die Atomforschung einschließlich der Fusionsforschung
ausgegeben worden sind. Demgegenüber hat eine geradezu atemberaubende Vernachlässigung der erneuerbaren Energien stattgefunden.
Wenn nun in diesem Antrag endlich die Konsequenz
daraus gezogen wird, dann ist das absolut überfällig und
eine Umsetzung dessen, was der Bundestag bereits im
Jahr 1990 beschlossen hat.
({3})
Wir waren in dieser Frage schon einmal erheblich weiter.
Ich kann mich noch gut erinnern, im Jahr 1989 einen
SPD-Antrag lanciert zu haben, der dann in ein Allparteiengespräch mündete und im Jahr 1990 zu einer einstimmig verabschiedeten Entschließung des Deutschen Bundestages führte, in der in der Energieforschung für die
erneuerbaren Energien eine absolute Priorität eingefordert worden ist. Leider ist diese Entschließung nie umgesetzt worden.
Herr Kollege Scheer, darf Ihnen Frau Kollegin Flach
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, bitte schön. Das können Sie gerne tun.
Herr Scheer, ich möchte Sie fragen, ob Sie sich daran
erinnern, dass Sie 1990 zwar einen einstimmig verabschiedeten Entschließungsantrag des Parlamentes erreicht haben, aber der Antrag der SPD damals von den
anderen in keiner Weise unterstützt wurde?
Das kann ich so nicht ganz bestätigen.
({0})
- Es war ein Entwurf der SPD-Fraktion. Danach hat ein
Allparteiengespräch stattgefunden. Von der CDU/CSU
waren der Kollege Engelsberger und der Kollege Maaß,
von der FDP der Kollege Laermann, von den Grünen
Wolfgang Daniels und von der SPD war ich dabei.
({1})
Wenn Sie den Ausgangstext mit dem Endtext vergleichen, so finden Sie darin etwa 90 Prozent wieder. Dass
dabei Abstriche gemacht worden sind, ist klar. Ihre Kollegen waren nicht ganz so weit wie wir. Das macht aber
nichts. Sie waren jedoch schon viel weiter als Ihre heute
vorgetragene Position. Wenn Sie diesen Antrag zur
Kenntnis nehmen, werden Sie das feststellen. Das ist ein
klarer Tatbestand.
({2})
Diese absolut makabere Prioritätensetzung muss korrigiert werden. Es ist nicht nur so, dass unglaubliche
Summen für wenig Effekt ausgegeben worden sind. Zur
Forschung gehört selbstverständlich auch - Stichwort
Technikpessimismus - die Risikoabschätzung. Wenn
sie in der Forschung vernachlässigt wird, dann rennt
man - Beispiele dafür gibt es in zahllosen Fällen - in
Risikosituationen hinein, die am Schluss niemand mehr
verantworten kann und höchstens wieder neue Forschungsaufgaben zur Verminderung der Risiken nach
sich ziehen. Es sind Institutionen gebildet worden - es
gibt die Euratom; in allen Ländern haben sich Großforschungszentren gebildet -, die ein Eigenleben entwickelt
haben. Natürlich kann man dort nicht ohne weiteres auf
erneuerbare Energieträger umschalten - schließlich hat
man ganz anderes gelernt -, auch wenn es mittlerweile
zum Weltbewusstsein gehört, dass diese wesentlich zukunftsträchtiger sind.
({3})
Ich erinnere an Max Planck, den zweiten ganz großen
Physiker neben Albert Einstein, der in den 20er-Jahren
in seiner Autobiografie geschrieben hat - ungefähr wörtlich -: Eine neue Erkenntnis pflegt sich nicht dadurch
durchzusetzen, dass die Vertreter der alten Erkenntnisse
sich als belehrt erklären und dazulernen, sondern in der
Regel nur dadurch, dass die Vertreter der alten Erkenntnisse allmählich aussterben.
({4})
Dieses allmähliche Aussterben dauert seine Zeit. Aber
darauf können wir leider nicht warten. Wir müssen, was
die Umschichtung der Forschungsmittel und die Änderung der Prioritäten betrifft, nachhelfen, und zwar
kräftig. Mit unserem Antrag machen wir einen großen
Schritt. Wir sind zuversichtlich, dass die Umsetzung
durch das zuständige Ministerium erfolgen wird.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/3754 und zum Bericht
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung auf DruckVizepräsident Dr. Norbert Lammert
sache 15/2713 zum TA-Projekt Nanotechnologie. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des genannten Berichts die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3051 mit
dem Titel „Aufbruch in den Nanokosmos - Chancen
nutzen, Risiken abschätzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
genannten Berichts die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2650 mit dem Titel „Nanotechnologische Forschung und Anwendungen
in Deutschland stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen gibt es offenkundig nicht. Auch diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
genannten Berichts die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3074 mit dem Titel
„Forschung und Entwicklung in der Nanotechnologie
voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Wiederum mit gleicher Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 b: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/3692. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2161 mit
dem Titel „Perspektiven schaffen für das Jahr der Technik 2004“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der FDP auf Drucksache 15/2594 mit dem
Titel „Jahr der Technik zur Stärkung der Forschungslandschaft und des Innovationsklimas in Deutschland nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme? Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 c: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/3893 und zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Mitteilung der Kommission mit dem
Titel „Eine Strategie für Europa - Fortschrittsbericht und
künftige Ausrichtung“. Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis der genannten Unterrichtung die Ablehnung des Antrags der
CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/423 mit dem Titel „Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie für
den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland“.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/2160 mit dem Titel „Biotechnologie als Schlüsseltechnologie stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit
Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 d sowie Zusatzpunkt 6: Hier
wird interfraktionell die Überweisung von Vorlagen auf
Drucksachen 15/4143 und 15/4514 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht dazu Einvernehmen? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Abschiebehindernisse beseitigen
- Drucksache 15/3804 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
einer glaubwürdigen Zuwanderungspolitik gehört eine
glaubwürdige Rückführungspolitik. Der Asylkompromiss von 1993 war von der Grundüberlegung geprägt,
dass es für die Integration der in Deutschland lebenden
Ausländer nicht gut ist, wenn die Zahl derjenigen Zuwanderer zu groß wird, deren Aufenthalt nicht auf Dauer
angelegt ist, die also gar nicht die Absicht haben, sich
hier zu integrieren, sondern die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen.
Die Zahl der Asylbewerber sinkt auf der einen Seite
zwar kontinuierlich - übrigens bei einer gleich bleibend
niedrigen Anerkennungsquote -, aber auf der anderen
Seite bleibt die Zahl der ausreisepflichtigen Ausländer
konstant hoch: 453 000 Ende 2003, davon allein
227 000 geduldete Personen. Das heißt, trotz zurückgehender Asylbewerberzahlen sinkt die Zahl der Ausländer, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben, gerade nicht.
Ich möchte ein Beispiel anführen, das auch unseren
Zuhörern die Situation plastisch illustriert. In der Zeit
zwischen 2000 und 2003 sind insgesamt 3 777 ablehnende Asylbescheide an Asylbewerber aus Kamerun
ergangen. In demselben Zeitraum sind aber nur
267 Personen tatsächlich abgeschoben worden. Das
heißt, über 90 Prozent der Asylbewerber aus Kamerun
sind hier geblieben, obwohl ihre Asylbegehren abgelehnt worden sind.
Um unsere Anstrengungen auf die Integration von
Migranten konzentrieren zu können, ist es notwendig,
unsere Bemühungen zu verstärken, diejenigen in ihre
Heimatländer zurückzuführen, die kein Recht haben, in
Deutschland zu leben. Unser Antrag dient gerade auch
der Integration derjenigen, die auf Dauer bei uns leben
werden.
({0})
Es geht vor allem um Personen, deren Asylanträge
abgelehnt wurden oder die illegal in Deutschland leben
und die ihre Lage in vorwerfbarer Weise selbst verschuldet haben, indem sie etwa ihre Ausweisdokumente vernichtet und über ihre Herkunft und Identität getäuscht
haben. Ein konsequentes Vorgehen gegenüber diesem
Personenkreis ist auch deshalb gerechtfertigt, weil die
Aufenthaltssituation für geduldete Ausländer, denen in
ihrer Heimat Menschenrechtsverletzungen drohen, durch
das Zuwanderungsgesetz erheblich verbessert wurde.
Eine differenzierte Verfahrensweise ist auch für eine
weitere Stärkung der Integrationsbereitschaft der deutschen Bevölkerung unbedingt notwendig.
Ich sage mit Bedacht: Wir werden in Deutschland keinen gesellschaftlichen Konsens über notwendige Sparmaßnahmen bei Sozialleistungen hinbekommen, wenn
die Bürger immer wieder sehen, dass zigtausendfach
Ausländer in unserem Land Sozialleistungen abkassieren, nur weil wir nicht in der Lage sind, das geltende
Recht durchzusetzen und sie in ihre Heimatländer zurückzubringen. Das verstehen die Menschen nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ich will auch darauf verweisen, dass wir uns als politisch Verantwortliche lächerlich machen,
({2})
wenn wir schnellere Entscheidungen über Asylanträge fordern - wenn wir etwa von den Gerichten verlangen, Asylgerichtsverfahren beschleunigt durchzuführen -,
({3})
aber dann, wenn rechtskräftig und eindeutig festgestellt
wird, dass ein abgelehnter Asylbewerber unser Land zu
verlassen hat, die Hände in den Schoß legen müssen,
weil wir die Ausreisepflicht nicht durchsetzen können.
({4})
Wir müssen aufpassen, dass sich der Rechtsstaat nicht
lächerlich macht.
({5})
Wenn verstärkt darauf hingewiesen wird, dass in diesem Zusammenhang die Länder eine Rolle spielen, dann
will ich auch darauf hinweisen, liebe Kollegin SonntagWolgast, dass nahezu alle Vorschläge, die wir mit unserem Antrag unterbreiten, auf Beratungen der Arbeitsgruppe „Rückführung“ des Bundes und der Länder zurückzuführen sind. Das alles sind Vorschläge, die eben
nicht nur von CDU/CSU-geführten Ländern gemacht
wurden, sondern die auch und gerade von Ländern stammen, die von der SPD und den Grünen regiert werden.
Wir haben dies übernommen, weil wir der Auffassung
sind, dass es weniger um Parteipolitik geht als vielmehr
darum, Schwierigkeiten zu lösen.
Da Sie jetzt verstärkt auf die Bundesländer hingewiesen haben, will ich Ihnen entgegenhalten, dass es sich
nicht nur um ein Problem der Bundesländer handelt; es
geht sehr wohl auch darum, dass der Bund hilft, dass es
zu einer Rückführungspolitik kommt.
Das größte Problem ist - so sagen uns die Bundesländer - die mangelnde Kooperationsbereitschaft ausländischer diplomatischer Vertretungen bei der Beschaffung
von Passersatzpapieren. Das ist keine Geste des guten
Willens, sondern sie sind völkerrechtlich dazu verpflichtet. Wir wissen aus den Beratungen der AG „Rückführung“, welche Probleme es gibt: Äthiopien stellt überzogene formalistische Forderungen. Ghana: Botschaft ist
unkooperativ, verhält sich willkürlich. Kamerun: unlösbare Fälle, weil unerfüllbare Anforderungen gestellt
werden. Syrien wird eine unkooperative Haltung seiner
Botschaft vorgeworfen, genauso wie Indien. Der Senegal lehnt Rücknahmeabkommen definitiv ab.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Angesichts dessen sind die Bundesländer alleine aufgeschmissen. Hier
muss der Bund helfen. Ich sage Ihnen mit Hinweis auf
die fortwährenden Begehren der Landesinnenministerien
ebenfalls: Ich verstehe nicht, warum das Auswärtige
Amt nicht verstärkt mit Botschaftereinbestellungen arbeitet und deutlich macht, dass es hier um die Erfüllung
von Völkerrecht geht, wenn Staatsangehörige von den
eben genannten Ländern zurückgenommen werden müssen.
({6})
In dieser Frage haben wir durchaus Gemeinsamkeiten
mit dem Bundesinnenministerium. Wir wissen, dass das
Bundesinnenministerium zum Beispiel beim BMZ im
Falle Äthiopiens immer wieder vorstellig geworden ist,
um Druck zu machen, damit sich das Verhalten dieses
Landes verändert. Insofern will ich sagen: Wir müssen
auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf den
Prüfstand stellen, wenn Völkerrecht so nachhaltig missachtet wird, wie das hier der Fall ist. Wir müssen aber
gleichzeitig die Hilfe für diejenigen Länder verstärken,
die sich in besonderer Weise um die Wiedereingliederung ihrer Staatsbürger bemühen und sogar bereit sind,
Drittstaatsangehörige - zumindest auf Zeit - auf ihrem
Territorium zu versorgen. Auch solche Beispiele gibt es.
Diese Länder müssen unterstützt werden.
Herr Kollege Veit, ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen, dass uns der Bundesinnenminister im Kampf
gegen menschenverachtende Schleusungen, vor allem
von Schwarzafrikanern, die Einrichtung von Anlaufstellen in Nordafrika vorgeschlagen hat. Es gibt viele
rechtliche und praktische Probleme im Zusammenhang
mit der Einrichtung solcher Anlaufstellen. Wir haben
darüber mit dem Bundesinnenminister im Innenausschuss ausführlich diskutiert. Er hat uns immer wieder
gefragt: Wo sind denn eure Alternativen? Darauf kann
ich nur antworten: Wir weisen in unserem vorliegenden
Antrag auf Alternativen hin. Die Alternative heißt: konsequente Rückführungspolitik!
Es gibt Beispiele, wie das funktioniert. In den Jahren
1992 und 1993 gab es eine erhebliche Zuwanderung von
Asylbewerbern aus Rumänien und Bulgarien nach
Deutschland. Damals sind pro Jahr 102 000 aus Rumänien und 28 000 aus Bulgarien gekommen. Wir haben
dann mit Rumänien ein Rücknahmeabkommen geschlossen, was dazu geführt hat, dass binnen weniger
Tage Asylbewerber, die zum Beispiel an der Grenze zu
Polen aufgegriffen wurden, sofort in ihr Heimatland zurückgeführt worden sind. Davon haben sie vor Ort berichtet: Es mache keinen Sinn, Schleusern Tausende von
Dollar zu zahlen, wenn man trotzdem nach wenigen Tagen oder Wochen wieder dorthin zurückgeführt wird,
von wo aus man sich mithilfe der Schleuser auf den Weg
gemacht hat. Genau dieses Signal müssen wir deutlich
setzen. Nur wenn sich in den Herkunftsländern der Asylbewerber herumspricht, dass es nichts bringt, Tausende
von Dollar an Schleuser zu zahlen, weil man trotzdem
schnell wieder in der Heimat zurück ist, kann man den
Sumpf der Schleusung austrocknen.
({7})
Das setzt eine konsequente Rückführung voraus. Auch
das ist eine Antwort auf die vielen Entwicklungen, die es
leider in den letzten Wochen und Monaten in der Mittelmeerregion gibt.
Das Ganze ist aber nicht nur ein Problem einiger
schwarzafrikanischer oder arabischer Länder. Wir haben
auch erhebliche Probleme bei der Rückführung von
Asylbewerbern und illegal Zugewanderten aus Russland. Russland stellt hohe Anforderungen, was die Bereitschaft der freiwilligen Rückkehr angeht. Unzweifelhafte Beweise der Staatsangehörigkeit werden verlangt,
was zum Beispiel in Tschetschenenfällen schwierig ist.
Die drittgrößte Gruppe der Asylbewerber, die in diesem
Jahr zu uns gekommen sind, kommt aus Russland. Es
sind immerhin über 2 500 Personen. Die Bundesregierung tut aber nichts, um die russische Seite zu einer
Rücknahme ihrer Staatsangehörigen zu bewegen. Es ist
sicherlich ein riesengroßes Problem, dass man Leisetreterei gegenüber Herrn Putin betreibt, wenn es um die
Wahrung von Demokratie und Menschenrechten wie in
der Ukraine geht. Es ist aber skandalös, dass sich die
Bundesregierung und der Putin-Freund Schröder damit
abfinden, dass auch Russland in diesem Fall das Völkerrecht bricht und nicht seine Staatsangehörigen zurücknimmt. Das darf nicht so weitergehen.
({8})
Am Tag, an dem auf dem EU-Gipfel über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entschieden wird, wird man auch darauf hinweisen dürfen,
dass die Ausbürgerungspraxis der türkischen Regierung
unvermindert anhält und dass wir dadurch eine Vielzahl
von ausreisepflichtigen ehemals türkischen Staatsangehörigen, vor allem kurdischer Herkunft, haben, die wir
nicht abschieben können, weil sie staatenlos geworden
sind. Seit März 2003 liegt in der Türkei der Entwurf der
EU für ein Rückübernahmeabkommen vor. Die Türkei
hat darauf bis heute nicht reagiert. Von dem, der ernsthaft in die EU will, kann man zumindest erwarten, dass
er das Völkerrecht einhält. Wir erwarten, dass die Bundesregierung das der türkischen Seite endlich unmissverständlich klar macht.
({9})
Aber auch wir, genauer gesagt: der Bund, können eine
ganze Menge tun. Wir sollten etwa bei der Vergabe von
Visa an Angehörige derjenigen Länder, die bei der Rücknahme ihrer Staatsangehörigen unkooperativ sind - ich
habe sie hier erwähnt -, grundsätzlich einen Fingerabdruck oder ein anderes biometrisches Kennzeichen vorsehen, damit später eine eindeutige Identifizierung möglich ist.
Der BGS sollte endlich auf Flugreisetauglichkeitsbescheinigungen verzichten
({10})
- lieber Josef Winkler, du weißt aus der Praxis ganz genau, wieso -,
({11})
die von abzuschiebenden Personen geradezu als Einladung verstanden werden, irgendwelche Krankheitsbilder
zu simulieren. Wie wir wissen, gibt es auf den Flughäfen
Ärzte, die sich über den Gesundheitszustand der Abzuschiebenden informieren. Es bedarf dieser besonderen
Bescheinigungen nicht. Sie führen nur zu erheblichen
Problemen bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber und Illegaler.
Wir sollten grundsätzlich darauf verzichten, Abschiebemaßnahmen anzukündigen, weil das in aller Regel als
Signal verstanden wird, entweder abzutauchen, einzelne
Familienmitglieder an geheime Orte zu bringen oder
plötzliche Erkrankungen vorzutäuschen.
Wir müssen - übrigens ist auch das ein Vorschlag, der
nicht nur aus unionsgeführten, sondern auch aus SPDgeführten Ländern kommt - im Falle einer Verweigerung von Mitwirkungspflichten Kürzungen von Sozialleistungen vorsehen, wenn es um die Rückführung in
den Heimatstaat geht.
Wir haben einen ganzen Katalog von Maßnahmen
vorgelegt, der den Forderungen der Praxis entspricht.
Wenn wir die Mittel, die wir für Ausländer, die kein
Recht haben, in unserem Land zu leben, für diejenigen,
die auf Dauer bei uns bleiben sollen, als Integrationsmaßnahme einsetzen,
({12})
dann würden wir, lieber Kollege Schmidt, eine ganze
Menge für ein besseres Zusammenleben von Deutschen
und Ausländern in unserem Land tun.
Mit der Beseitigung von Abschiebehindernissen sorgen wir für sozialen Frieden. Wir bekämpfen das Schleusertum und wir zeigen, dass der Rechtsstaat wehrhaft ist,
gerade gegenüber denjenigen, die ihn missbrauchen wollen.
({13})
- Das ist kein Populismus, Herr Kollege Schmidt. - Das
erwarten diejenigen Leute von uns, die daran verzweifeln, dass es viele Probleme mit Ausländern gibt.
({14})
Diese Probleme kann man zwar nicht mit dem Strafrecht, aber vielleicht mit dem Ausländerrecht bekämpfen. Im Augenblick haben wir zu wenige Möglichkeiten,
uns von denjenigen, die kein Recht haben, auf Dauer bei
uns zu leben, zu trennen. Gerade Sie, Herr Schmidt, sollten aufgrund Ihrer Erfahrung im Wahlkreis wissen, dass
hier Handlungsbedarf besteht.
({15})
Was zu tun ist, kann man in unserem Antrag sehr nachvollziehbar nachlesen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Rüdiger Veit, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Antrag der CDU/CSU ist, wenn man es ganz
freundlich formuliert, ähnlich wie Ihr Redebeitrag, Herr
Kollege Grindel, bestenfalls überflüssig.
({0})
Er ist zum Beispiel deswegen überflüssig, weil das, was
Sie fordern, längst im Gesetz steht. Übrigens, was das
Zuwanderungsrecht angeht, waren Sie höchstselbst am
Zustandekommen dieses Gesetzes bis zuletzt beteiligt.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang daran,
dass, als ich im zweiten Semester Jura studiert habe - ich
glaube, Sie haben sieben Jahre Jura studiert -,
({1})
ein Juraprofessor gesagt hat: Gesetzeskenntnis erleichtert die Rechtsfindung ungeheuer.
({2})
Außerdem halte ich diesen Antrag für überflüssig,
weil ganz viele Menschen - nicht nur diejenigen, die
hier sitzen - wissen, dass das, was Sie verlangen, längst
gängige Praxis ist. Es wird von der Bundesregierung,
wie auch auf europäischer Ebene, praktiziert. Ich werde
Ihnen das an ein paar Beispielen auch noch zeigen.
Der Antrag ist im Übrigen auch deswegen überflüssig, weil wir der völlig falsche Adressat sind. Wie eben
schon einmal in einem Zwischenruf deutlich wurde: Die
Durchführung von Abschiebungen ist Länderangelegenheit. Wenn Sie Verzögerungen und Versäumnisse dabei beklagen, dann wenden Sie sich an die Bundesländer! Die Länder sind übrigens auch dafür verantwortlich,
dass die Gerichte, deren Verfahren bedauerlicherweise
manchmal sehr lange dauern, personell vielleicht nicht
ausreichend ausgestattet sind.
({3})
Schließlich ist der Antrag deswegen überflüssig, weil
er eine Reihe regelrechter Absurditäten enthält; ich
komme auch darauf noch zu sprechen.
Ich habe eben schon gesagt: Das Beste, was man in
Bezug auf diesen Antrag sagen kann, ist: Er ist überflüssig. Wenn man es richtig nimmt, handelt es sich hierbei
- auch Ihr Beitrag ging in diese Richtung - um eine populistische Stimmungsmache gegen Ausländer, undifferenziert, mit den üblichen Unterstellungen, die wir von
Ihrer Seite schon kennen.
({4})
Deswegen ist das, was Sie hier betreiben, eigentlich sogar verwerflich. Herr Kollege, ich werde gleich versuchen, Ihnen das vor Augen zu führen.
Das beginnt schon mit der Analyse der Ausgangssituation in Ihrem Antrag. Der erste Satz lautet:
In der Bundesrepublik Deutschland lebten Ende des
Jahres 2003 453 000 ausreisepflichtige Personen.
Das ist falsch. Es kann sein, dass es eine statistische
Kennzahl dieser Größenordnung gibt, aber diese Zahl
umfasst Zehntausende, vielleicht Hunderttausende, die
längst nicht mehr in Deutschland sind. Oder glauben Sie
- in dem Fall müsste ich als ehemaliger Praktiker Sie
vielleicht doch ein bisschen aufklären -, dass jeder Ausländer, der ausreisepflichtig ist und dieses Land verlässt,
vorher zum Mitarbeiter seiner Ausländerbehörde geht
und sagt: „Schönen Dank für die gute Betreuung; ich
habe mich entschlossen, jetzt auszureisen“? Das heißt,
wir haben es hier mit einer ganz großen Anzahl von Fällen zu tun, in denen die Menschen längst nicht mehr hier
sind.
({5})
In dieser Zahl sind aber auch sehr viele Menschen,
vorzugsweise Familien mit vielen Kindern, enthalten,
die schon seit fünf, zehn oder sogar 20 Jahren in
Deutschland leben und für die ich glaube sagen zu dürfen: Es wäre gut, wenn sie auch weiter hier bei uns leben
könnten.
({6})
Deswegen kommen wir spätestens morgen bei der erneuten Debatte um die Verbesserungen und Veränderungen des Zuwanderungsrechts auf die Frage der Bleiberechtsregelung zurück.
({7})
Ich bin froh darüber, dass sich in diesem Haus die Unterstützung für eine angemessene Bleiberechts- und Altfallregelung verbreitert. Ich war leider in dem Augenblick nicht da, in dem der Kollege Dr. Stadler in der
vorletzten Woche in der Integrationsdebatte hierauf hingewiesen hat. Wie gesagt, wir werden das morgen noch
eingehender erörtern. Bei Ihnen geht das alles durcheinander.
Sie schreiben in dem Antrag weiter:
Davon besaßen nur 227 000 aus verschiedenen
rechtlichen und tatsächlichen Gründen eine Duldung. Trotz deutlich zurückgehender Asylbewerberzahlen reduziert sich die Zahl der ausreisepflichtigen Ausländer nicht.
Auch das ist falsch. - Jetzt kommt es:
Die Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer
wird vor allem dadurch erschwert, dass die Betreffenden
- die Betreffenden! in aller Regel keine oder falsche Angaben über ihre
Identität machen und sämtliche Pässe oder sonstigen Ausweispapiere vernichten …
Was soll diese Aussage? Diese Aussage, so wie sie
von Ihnen hier niedergelegt worden ist - das war auch
der Schwerpunkt Ihrer Ausführungen -, bedeutet: Alle
Ausreisepflichtigen, die noch nicht ausgereist sind, können deswegen nicht abgeschoben werden, weil sie ihre
Pässe weggeworfen haben. - Wenn Sie dazu noch einmal die Statistik bemühen, dann werden Sie feststellen,
dass lediglich 12 000 eine Duldung erhalten haben, weil
sie keinen Pass haben oder weil ihre Identität ungeklärt
ist. Deswegen sind Ihre Ausführungen völlig daneben.
Herr Kollege Grindel, Sie haben vorhin mit Blick auf
die Türkei behauptet, das Problem der Ausbürgerung sei
dort besonders groß. Wissen Sie eigentlich - für den
Fall, dass Sie es nicht wissen, sage ich es Ihnen jetzt -,
dass es nach der Statistik insgesamt 904 Personen in
Deutschland gibt, die staatenlos sind und die sich im
rechtlichen Status der Duldung befinden oder aber sonst
ausreisepflichtig sind? Ganze 904!
({8})
Es ist also kein massenhaftes Phänomen.
Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grindel?
Wenn ich jetzt „Gern!“ sagen würde, wäre das übertrieben; aber bitte.
({0})
Darauf kommt es auch nicht an. Sie müssen nur Ja
oder Nein sagen.
Ich will auf die anderen Punkte, die zwischendurch
noch angesprochen worden sind, nicht eingehen. Ich
habe mich zu dem Zeitpunkt gemeldet, zu dem Sie auf
die Debatte morgen über Ihren neuerlichen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes hingewiesen
haben. Weil Sie uns vorgeworfen haben, wir würden alles miteinander vermengen, will ich Ihnen Folgendes sagen: Sie haben darauf hingewiesen, dass das für Sie ein
Anhaltspunkt für eine Bleiberechts- und Altfallregelung
ist, und damit selbst das Stichwort genannt. Deshalb
würde ich gerne von Ihnen wissen, ob Ihr Gesetzentwurf, über den wir morgen beraten, so zu verstehen ist,
dass er einen Beitrag zu dem Ziel darstellt, eine Altfallund Bleiberechtsregelung zu erreichen.
Herr Kollege Grindel, da Sie auch das nicht verstanden haben - ({0})
- Nein, das habe ich so nicht gesagt.
({1})
Vielmehr habe ich gesagt: Anlass für eine Bleiberechtsregelung ist das Schicksal derjenigen vollziehbar ausreisepflichtigen Menschen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten hier aufhalten, deren Kinder zum Teil hier geboren
und jedenfalls zum großen Teil hier ausgebildet worden
sind.
({2})
Gerade diese erfassen wir mit dem Zuwanderungsrecht
nicht. Ihnen können wir deshalb keine Perspektive bieten.
Sehen Sie, Sie bringen das immer durcheinander, zuletzt in der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 15. Dezember. Sie können nicht unterscheiden zwischen Illegalen,
Menschen mit Duldung, Ausreisepflichtigen im Übrigen
und solchen, die eine Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis nach neuem Recht bekommen. Das geht bei
Ihnen alles munter durcheinander.
({3})
Deswegen erkläre ich es Ihnen jetzt noch einmal in aller
Ruhe und ganz freundlich: Es geht um die vollziehbar
ausreisepflichtigen vormaligen Asylbewerber, die weder
eine Duldung haben noch mit einer Aufenthaltserlaubnis
nach neuem Recht rechnen können. Einige von uns sind
der Auffassung, dass es aus humanitären Gründen, aber
auch für das Land, das bekanntlich über Geburtenmangel klagt, sinnvoll wäre, wenn die betroffenen, bereits in
diesem Land ausgebildeten jungen Menschen hier bleiben könnten, anstatt in die Herkunftsländer ihrer Eltern
zurückkehren zu müssen, zu denen sie überhaupt keine
Beziehungen haben. Genau um diese Personengruppe
geht es. Das hat mit den anderen Sachverhalten, die Sie
genannt haben, nichts zu tun.
({4})
Nun geht es ja mit den Unterstellungen in Ihrem Antrag munter weiter.
({5})
Bevor Sie zu Ihren Forderungen im Einzelnen kommen,
schreiben Sie auf Seite 2:
Ferner ist es nicht zu bestreiten, dass die Kriminalitätsrate unter ausreisepflichtigen Ausländern deutlich höher ist als unter der sonstigen ausländischen
Wohnbevölkerung.
Woher wissen Sie das eigentlich? Es gibt überhaupt
keine Statistik darüber.
({6})
- Nein, gibt es nicht.
({7})
Ich wiederhole meinen Vorwurf: Sie gehen außerordentlich undifferenziert vor, arbeiten auch hier mit pauschalen Unterstellungen und sind nicht in der Lage, die
Problembereiche Illegale und Ausreisepflichtige ohne
jeden Titel auseinander zu halten. Ebenso wenig wollen
Sie wahrhaben, dass es verschiedene Gründe für die
Duldung der Betreffenden gibt;
({8})
denn nur ein ganz kleiner Teil der Betroffenen hat nach
§ 55 Abs. 2 des derzeit geltenden Ausländergesetzes
eine Duldung deswegen bekommen, weil sie keinen Pass
haben oder weil ihre Identität unklar ist.
({9})
Von daher gesehen geht Ihr Antrag schon im Ansatz von
völlig falschen Voraussetzungen aus.
Ich habe nicht die Zeit und möglicherweise auch nur
bedingt die Neigung,
({10})
auf all Ihre Punkte und Forderungen einzugehen und hier
für die, wie ich glaube, notwendige Aufklärung zu sorgen. Dennoch gehe ich zunächst auf ein paar Punkte ein,
die die EU-Ebene betreffen:
Das Problem in Bezug auf Russland, das Sie eben benannt haben, wird auf europäischer Ebene in derselben
Form wie andere Rückübernahmefragen bearbeitet. Hier
liegt das Mandat in erster Linie - in diesem Punkt ist Ihr
Antrag deswegen weitgehend überflüssig - bei der EU.
Die Bundesregierung wirkt dabei entsprechend mit.
Auch den Beleg dafür, warum ich von Absurditäten
gesprochen habe, will ich nicht schuldig bleiben. Ihre
Forderung, doch diejenigen Drittstaaten zu belohnen, die
freundlicherweise auch Staatsangehörige aus Nachbarstaaten aufnehmen, würde ich gerne in den Bereich des
Absurden einordnen.
({11})
Zunächst einmal eine Klarstellung: Gerade einmal ein
Fünftel von den vielen Millionen Flüchtlingen auf dieser
Welt befindet sich auf europäischem Boden. Der Rest
hält sich überwiegend in Afrika und Asien auf. Wie stellen Sie sich das nun vor? Wollen Sie sozusagen mit einer
Art Kopfgeld oder einer sonstigen Pauschale pro übernommenen Drittstaatsangehörigen Dritte-Welt-Länder
dafür belohnen, dass sie Menschen, die hier bei uns
Schutz suchen, aufnehmen? Ich jedenfalls halte das für
absurd.
({12})
Genauso interessant ist, dass Sie im Rahmen der Föderalismusdebatte und auch sonst mehr Kompetenzen
für die Länder fordern, in Ihrem Antrag aber geschrieben
haben, ausgerechnet der Bund müsse sich stärker um die
Frage der Passbeschaffung bemühen.
Bemerkenswert ist auch Ihre Forderung nach einer
zentralen Passabgleichstelle. Dazu kann ich nur sagen:
Wir haben ja gerade bei dem ersten Versuch, das ZuwanRüdiger Veit
derungsgesetz anzupassen, eine Fundpapierdatenbank
gesetzlich verankert.
({13})
- Wir haben, lieber Herr Grindel, nachdem Ihre Seite im
Rahmen des Vermittlungsverfahrens nicht in der Lage
war, sich auf vernünftige Kompromisse einzulassen, diesen Teil deswegen aus unserem morgen einzubringenden
Gesetzentwurf herausgelassen, weil zumindest dieser
Teil die Mitwirkung des Bundesrates hervorrufen
würde - möglicherweise auch andere Dinge, aber darüber werden wir noch reden. Sie können sich also nicht
darüber beschweren, dass die Fundpapierdatenbank unter Umständen nicht kommt.
({14})
Sie fordern des Weiteren biometrische Merkmale.
Auch dieser Punkt ist in unseren Gesetzen schon enthalten; hier gilt der Spruch zur Rechtsfindung von vorhin.
Im Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2002 haben wir
die Voraussetzungen dafür geschaffen. Ihre Umsetzung
wird auf europäischer Ebene durch das Visumsinformationssystem vorbereitet bzw. erfolgt bereits jetzt.
Ein bisschen eigenartig, vielleicht sogar zynisch
- womöglich sogar menschenverachtend - mutet Ihre
Forderung Nummer zwölf an, keine Überprüfung der
Flugreisetauglichkeit mehr durchzuführen und keine
Bescheinigung mehr zu verlangen. Vor dem Hintergrund
der Praxis, wie ich sie kenne, sage ich Ihnen, dass solche
Untersuchungen nur dann erfolgen und sich daraus ergebende Bescheinigungen nur dann ausgestellt werden
- aber dann auch notwendigerweise -, wenn aus gesundheitlichen Gründen eine Veranlassung dazu besteht. Ich
wüsste nicht, wie man es zum Beispiel mit dem christlichen Menschenbild vereinbaren könnte, zu sagen:
Mich kümmert nicht, ob jemand reisefähig ist, Hauptsache, ich führe ihn - in welcher Form auch immer, möglicherweise geknebelt - zurück.
({15})
In die Kategorie der nur beschränkt - da bin ich noch
höflich - vorhandenen Gesetzeskenntnis gehört es
sicherlich, wenn Sie unter anderem verlangen, dass
Asylfolgeanträge nicht die Durchführung einer Abschiebung verhindern können sollen. Sie sollten wissen, Herr
Kollege - jedenfalls ist diese Einschätzung bei Gesetzeskenntnis durchaus gewinnbar -, dass ein Asylfolgeantrag nicht per se und schlechthin jede Abschiebungsmaßnahme verhindert, sondern nur insoweit, als
tatsächlich relevante Nachfluchtgründe vorgetragen werden, die einer intensiven Überprüfung unterzogen werden müssen. Nur dann - und dann zu Recht - kann eine
Abschiebung nicht vollzogen werden.
Insgesamt also, meine sehr verehrten Damen und
Herren, hätte ich mir gewünscht, dieser Antrag wäre hier
nicht eingebracht worden. Er ist - ich wiederhole es zumindest überflüssig. Ich würde ihn allerdings der allgemeinen Tendenz zuordnen, mit Ausländerpolitik,
Fremdenfeindlichkeit, wie hier zutage getreten, und falscher Anlastung von Verantwortung bei der Bundesregierung billig Stimmung zu machen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Soweit die Frage der Gesetzeskenntnis von Relevanz
war, kann ich nur empfehlen: Es gibt eine sehr aktuelle,
lesenswerte Textausgabe
Herr Kollege!
- das ist mein letzter Satz
Gut, letzter Satz ist okay.
- zum Zuwanderungsgesetz - das ist noch Bestandteil
des Anfangs des letzten Satzes ({0})
mit vielen Nebengesetzen von dem sicher auch von Ihnen geschätzten Mitarbeiter im Innenministerium Herrn
Dr. Maaßen. Das Exemplar kostet zwar 34,80 Euro,
Ich glaube, das ist jetzt ein bisschen zu viel für einen
letzten Satz!
- was viel ist für einen Gesetzestext; aber Sie sind sicherlich in der Lage, sich diesen zu Weihnachten schenken zu lassen.
({0})
Ich würde Ihnen das jedenfalls herzlich wünschen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es gibt auch eine kommentierte Textausgabe
von dem Mitarbeiter in Baden-Württemberg, Herrn
Storr, der am Zuwanderungsgesetz mitgearbeitet hat.
Auch diese erweitert die Rechtskenntnisse.
Lieber Herr Kollege Grindel, angesichts des etwas
aufgeregten Tons, den Sie aufgrund Ihres Temperaments
in solche Debatten bringen,
({0})
fällt es mir ein wenig schwer, zu sagen - aber ich sage es
doch -: Ihr Antrag hat in der Tat einen richtigen Grundgedanken, eine Grundposition, die auch die FDP-Bundestagsfraktion immer vertreten hat. Wir haben einerseits immer gesagt, wir halten am Asylgrundrecht und an
den humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber Flüchtlingen, zum Beispiel aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention, fest. Andererseits sind wir aber auch dafür, dass bei denjenigen Personen, die in Deutschland kein Bleiberecht haben und
keine Duldung erfahren, konsequent die Abschiebungsregeln angewandt werden. Ich glaube, das ist völlig
selbstverständlich.
({1})
Sie listen nun in Ihrem Antrag etliche praktische Probleme auf. In der Kürze der Zeit, die mir nur zur Verfügung steht, kann ich darauf beim besten Willen nicht
eingehen. Die Bundesregierung wird im Ausschuss Gelegenheit haben, darzulegen, inwieweit diese Probleme
noch existieren. Ich glaube aber, dass manche Probleme
schon gelöst sind.
Wo es Lücken gibt, müssen diese geschlossen werden. Wir sind beispielsweise der Meinung, dass es nicht
geduldet werden kann, dass Ausweispapiere bewusst
vernichtet werden, um eine Rückführung zu verhindern.
Wir sind durchaus bereit, für diese Papiere eine Funddatei, die schon einmal beschlossen wurde, einzurichten.
Mit anderen Vorschlägen schießen Sie allerdings über
das Ziel hinaus. Aber dazu kann ich, wie gesagt, erst im
Ausschuss im Detail Stellung nehmen.
Ich möchte einen Grundgedanken Ihres Antrages aufgreifen. Sie sagen sinngemäß, dass durch das Zuwanderungsgesetz die Aufenthaltssituation von Menschen, die
verfolgt bzw. deren Menschenrechte verletzt wurden,
verbessert worden sei. Daher müsse man auf der anderen
Seite konsequent abschieben. Wir sind ebenfalls dieser
Meinung. Aber wir betonen besonders den ersten Aspekt
Ihres Gedankens. Die FDP möchte, dass das bewährte
System des Flüchtlingsschutzes in Deutschland aufrechterhalten wird.
({2})
Der Vorschlag des Bundesinnenministers vom Sommer, Aufnahmestellen in Afrika einzurichten, hat zu Irritationen in der Öffentlichkeit geführt. Es lag nahe, aus
dieser Idee zu schließen, dass die Europäische Union
den Flüchtlingsschutz sozusagen in Drittstaaten auslagert. Ein wenig kommt dieser Gedanke auch in Ihrem
Antrag zum Vorschein. Dazu sage ich Ihnen: Das ist
nicht die Position der FDP.
({3})
Herr Schily hat am 1. Dezember im Innenausschuss klargestellt, er wolle mit diesen Aufnahmelagern nur ein zusätzliches Angebot schaffen und nicht die bestehenden
Rechte beschneiden.
({4})
Wir werden sehr sorgfältig darauf achten, dass es bei
dieser Aussage bleibt.
({5})
Ein letzter Punkt. Für jeden Grundsatz, also auch für
den Grundsatz, die Abschiebungsregeln konsequent anzuwenden, existieren natürlich Ausnahmen. Ausnahmen in Härtefällen muss es aus humanitären Gründen
geben. In der Praxis würde es kaum jemand verstehen,
wenn Menschen, die schon jahrelang hier leben, die sehr
gut integriert sind und deren Kinder hier geboren sind,
abgeschoben würden.
({6})
Die heutige Debatte nehmen wir zum Anlass, an diejenigen, die in den durch das Zuwanderungsgesetz neu
geschaffenen Härtefallkommissionen tätig sein werden,
zu appellieren, für diese Fälle pragmatische Lösungen zu
finden, wozu wir als Gesetzgeber leider nicht in der
Lage gewesen sind.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Winkler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dem
Antrag der CDU/CSU, über den wir heute sprechen,
wird zwar vordergründig behauptet, man wolle sich mit
der Beseitigung von Abschiebungshindernissen befassen. In Wirklichkeit zielt er jedoch darauf ab, eine rigorose, zum Teil sogar menschenverachtende Abschiebepolitik durchzusetzen. Der Kollege Veit hat dazu schon
viele Punkte aufgezählt. Ich sage es deutlich: Diese Abschiebepolitik wäre nicht nur rigoros, sondern zum Teil
auch menschenverachtend. Ich komme noch auf die Einzelheiten zu sprechen.
Wie soll ich Ihren Antrag sonst werten, wenn zum
Beispiel die Einlegung zulässiger Rechtsmittel oder die
Geltendmachung von psychischen Erkrankungen generell unter Missbrauchsverdacht gestellt werden? Die
Ausreisepflicht ist zwar konsequent und zügig durchzusetzen, aber unter Wahrung eines rechtlich und humaniJosef Philip Winkler
tär einwandfreien Vollzugs. Missbrauchsfälle, die es
durchaus gibt - das will niemand bestreiten -,
({0})
können niemals eine Abschiebepolitik um jeden Preis
rechtfertigen. Eine solche Politik ist mit Rot-Grün nicht
zu machen.
({1})
Als Reaktion auf den tragischen Tod des sudanesischen Staatsangehörigen Aamir Ageeb, der im Mai 1999
bei einer Abschiebeaktion des Bundesgrenzschutzes zu
Tode kam - inzwischen sind deswegen mehrere Beamte
verurteilt worden -, hatte das Bundesinnenministerium
die so genannten „Bestimmungen über die Rückführung ausländischer Staatsangehöriger auf dem Luftweg“ erlassen. Diese sehen Folgendes vor:
Die Zwangsmaßnahmen müssen angemessen sein
und dürfen nicht über die Grenzen des Vertretbaren
hinausgehen. Die Würde und körperliche Unversehrtheit der rückzuführenden Person müssen
gewahrt werden. Im Zweifelsfall ist die Rückführung, einschließlich der Anwendung rechtmäßiger Zwangsmaßnahmen, … nach dem Grundsatz
„keine Rückführung um jeden Preis“ abzubrechen.
Diese Regelung ist sehr richtig, Herr Kollege Grindel.
({2})
- Sie stellen einen Antrag, in dem wesentliche Punkte
dieses Erlasses angegriffen werden.
({3})
- Wenn das nicht für diesen Satz gilt, dann gilt das für
andere Sätze.
({4})
- Herr Grindel, jetzt hören Sie doch einmal zu! Ich habe
doch auch Ihnen zugehört. Es tut weh, ich weiß; aber das
müssen Sie schon aushalten.
Auch vor dem europäischen Hintergrund ist der vorliegende Antrag populistisch. Die EU-Kommission hat
angekündigt, dass sie Anfang 2005 einen Richtlinienentwurf über Mindeststandards bei Abschiebungen vorlegen wird. Das Europäische Parlament hat sich damit befasst und hat sich entschieden gegen die Initiative für
Sammelabschiebungen ausgesprochen.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hatte bereits im Jahr 2002 eine umfängliche Empfehlung zu Abschiebungen formuliert. Hierin werden einige Schwerpunkte angeregt, die nach unserer Meinung
durchaus zu unterstützen sind und die ich Ihnen deshalb
einmal vortragen möchte. Folgende Punkte werden angeregt:
Erstens. Eine adäquate Ausbildung unter anderem im
Hinblick auf Stresssituationen und im Umgang mit
sprachlich bzw. kulturell bedingten Konflikten.
Zweitens. Die Bildung von multidisziplinären Gremien aus Ärzten, Psychologen, Rechtsanwälten und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen als Anlaufstelle für abzuschiebende Personen zur Begutachtung
der jeweiligen Ausweisungsverfügung.
Drittens. Das Verbot von spezifischen Zwangsmaßnahmen, zum Beispiel das Verbot der Behinderung der
Atmung, des Einsatzes von Klebebändern und Reizgas,
der Vergabe von Beruhigungsmitteln gegen den Willen
der oder des Betroffenen bzw. ohne medizinische Anleitung, der Fesselung mit Handschellen während des Fluges und des Tragens von Masken oder Kapuzen seitens
des Begleitpersonals. Da die Parlamentarische Versammlung des Europarats dies vorschlägt, kann man davon ausgehen, dass ebendiese Mittel häufig angewendet
werden.
Viertens. Die Einführung von Sondervorschriften für
besonders schutzwürdige Gruppen, zum Beispiel für
Kinder, minderjährige Unbegleitete, allein stehende
Frauen und alte Menschen. In diesem Zusammenhang
wird zu Recht gefordert, das Recht auf Familieneinheit
in jedem Fall zu respektieren.
Fünftens. Ein Monitoring: Bei der Durchführung der
Abschiebung und nach Ankunft im Herkunftsland soll
durch unabhängige Beobachter und nach erfolgter Abschiebung durch die Botschaft des abschiebenden Staates im Herkunftsland eine Überprüfung erfolgen.
Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Anliegen muss es daher sein, dass die neuen EU-Richtlinien,
die zurzeit erarbeitet werden, nicht hinter die deutschen
„Bestimmungen über die Rückführung ausländischer
Staatsangehöriger auf dem Luftweg“, die wir ja aus gutem Grunde geändert haben, zurückfallen. Vielmehr
müssen die in diesen Bestimmungen festgehaltenen
menschenrechtlichen Standards offensiv von der Bundesregierung in den Verhandlungen vertreten werden.
Ich gehe davon aus, dass dies auch geschieht.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
haben mit Ihrem Antrag einmal mehr alles unternommen, um Emotionen zu schüren, die sich gegen alle hier
lebenden Ausländer richten könnten.
({5})
Ich bedauere zutiefst, dass Sie diesen Weg erneut einschlagen.
({6})
Sie versuchen zum wiederholten Male, Ihre restriktiven
Vorschläge, eine Beugehaft zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten einzuführen, anzubringen. Diese Vorschläge waren schon im Vermittlungsverfahren nicht
mehrheitsfähig. Daran hat sich auch jetzt nichts geändert; das wird so bleiben.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3804 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Wahlen in den palästinensischen Gebieten
- Drucksache 15/4515 Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn möchte ich unserer Arbeitsgruppe Außenpolitik danken, dass sie in der heutigen Debatte eine Entwicklungspolitikerin zu Wort kommen lässt; denn für
uns sind Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik
keine abgeschlossenen Bereiche, sondern nur unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in der Region könnte wieder eine neue Hoffnungsperspektive erhalten. Durch die Präsidentenwahlen in
den palästinensischen Autonomiegebieten am 9. Januar
könnte ein Wendepunkt im Nahen Osten gesetzt werden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
möchte Ihnen dafür danken, dass es in dieser Frage der
Nahostpolitik zu einem gemeinsamen Antrag gekommen
ist.
({0})
Die Entscheidung der palästinensischen Führung, gemäß
ihrem Grundgesetz die Wahl ihres Präsidenten durchzuführen, wird sicher ebenfalls über die Fraktionsgrenzen
hinweg unsere gemeinsame Anerkennung finden.
Entgegen manchen Befürchtungen ist es den Verantwortlichen bisher gelungen, ohne Blutvergießen und
ohne offene Machtkämpfe von der Ära Arafat zu einer
Übergangsregierung zu kommen. Selbst die extremistischen palästinensischen Kräfte haben sich bereit erklärt,
den Wahlgang nicht zu stören und auf Anschläge innerhalb Israels zu verzichten. Das alles sind Signale, die uns
Anlass zur Hoffnung geben, dass der Wahlgang im Januar frei und fair ablaufen kann.
Israel hat angekündigt, dass es die Wahlen nicht behindern, die notwendige Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung sicherstellen und eine Beteiligung der in Ostjerusalem lebenden Palästinenser
gewährleisten wird. Darüber hinaus sollte die Bewegungsfreiheit aller Präsidentschaftskandidaten während
des Wahlkampfes sichergestellt sein.
({1})
Neben der finanziellen Unterstützung der Wahlen
durch die EU und die USA ist auch die Entsendung von
Wahlbeobachtern durch die Europäische Union geplant. Wie schon 1996 sollen unabhängige Berichte von
freien und fairen Wahlen die nötige Legitimierung schaffen. 1996 war ich zur Wahlbeobachtung im Süden des
Gazastreifens. Ich wünschte mir für die kommenden
Wahlen dieselbe Würde und Ernsthaftigkeit wie vor
neun Jahren.
Freie und faire Wahlen am 9. Januar sind der Testlauf
für alle weiteren Urnengänge. Die Parlaments- und
Kommunalwahlen sind lange überfällig. Eine neue, demokratisch legitimierte palästinensische Führung kann
zur Wiederbelebung des Friedensprozesses und der
Roadmap sowie zu einer Beendigung von Terror und
Gewalt in der Region beitragen. Sie ist auch die Voraussetzung für eine dringend erforderliche Reform des
politischen Systems der Autonomieverwaltung auf der
Grundlage dessen, was das derzeitige Parlament bereits
1999 artikuliert hat. Es ging um Aspekte wie Gewaltenteilung, Transparenz, Bekämpfung von Korruption und
die Kontrolle über die Sicherheitskräfte. So kann es gelingen, im gesamten palästinensischen Autonomiegebiet
das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen und
die Grundlage für eine effektive Bekämpfung des Terrorismus zu schaffen.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich
den Aufruf zum Gewaltverzicht von PLO-Chef und
Präsidentschaftskandidat Mahmud Abbas. Sollte sich
diese Haltung in der palästinensischen Führung durchsetzen, dann wäre ein enormes Hindernis für eine Wiederaufnahme von politischen Gesprächen und vertrauensbildenden Maßnahmen weltweit aus dem Weg
geräumt.
Begibt sich nicht jedwede Regierung in die Geiselhaft
extremistischer Kräfte, wenn sie ein völliges Ende terroristischer Aktionen zur unabdingbaren Vorbedingung
von Verhandlungen macht? Liefert man sich nicht bewusst oder unbewusst den extremistischen Kräften aus,
die dann bestimmen, was am Verhandlungstisch möglich
ist und was nicht? Ich hoffe dennoch sehr, dass sich die
neu gewählte palästinensische Führung zum bedingungslosen Gewaltverzicht durchringt und diesen auch
konsequent durchsetzt. Denn eines ist klar: Nur ein Ende
der Gewalt gegen unschuldige Zivilisten lässt in der israelischen Gesellschaft die Bereitschaft entstehen, Vorurteile ab- und Vertrauen aufzubauen, lässt in der Weltgemeinschaft die Sympathie für das palästinensische Volk
wieder wachsen.
Ich hoffe aber auch, dass Israel derartige Bemühungen honorieren wird. Zwei Tage vor der Ermordung von
Dagmar Schmidt ({2})
Yitzhak Rabin durfte ich ihn persönlich kennen lernen.
Er hatte seine Verhandlungsstrategie einmal so beschrieben: Wir verhandeln, als gäbe es keinen Terror, und wir
bekämpfen den Terror, als würden wir nicht verhandeln.
Mit solch einer klugen Doppelstrategie kann es gelingen,
aus dem Teufelskreis der Gewalt auszubrechen.
Uns muss dabei immer bewusst sein, dass die Ausgangsbedingungen heute ungleich schwieriger sind als
zu Beginn des Osloprozesses. Hier ist die Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft gefordert. Das Nahostquartett muss seine Bemühungen auf allen Ebenen intensivieren, die Roadmap und damit den Friedensprozess
wieder zu beleben.
Der Europäische Rat hat im März Bedingungen für
die Unterstützung des Entkoppelungsplanes von Ministerpräsident Scharon formuliert, die auch heute noch
Gültigkeit haben. Es muss gelingen, den Entkoppelungsplan als Teilschritt in den Verhandlungsprozess zu einer
Zweistaatenlösung einzubinden, an dessen Ende ein souveräner, demokratischer und lebensfähiger Staat Palästina steht,
({3})
ein Palästina in Frieden und Sicherheit, an der Seite Israels und in international anerkannten Grenzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verhandlungsprozess muss auf beiden Seiten von einer spürbaren Verbesserung der aktuellen Lebensbedingungen begleitet
werden. Für Israel bedeutet das in erster Linie mehr Sicherheit. Wenn die Menschen nicht mehr Tag für Tag um
das Leben ihrer Kinder und Angehörigen bangen müssen
und wenn darüber hinaus die Wirtschaft, vor allem die
Tourismuswirtschaft, wieder wachsen kann, dann wird
auch die Verhandlungsbereitschaft wachsen. Für das palästinensische Volk kommt es neben der Verbesserung
der wirtschaftlichen Lebensbedingungen vor allem darauf an, endlich selbstbestimmt und unabhängig in einem eigenen Staat zu leben. Die derzeitige Situation der
Hoffnungslosigkeit bietet einen idealen Nährboden für
Gewalt.
Hier muss die Entwicklungspolitik ansetzen. Das
wird auch getan. Bereits heute wird durch die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit trotz der schwierigen
Rahmenbedingungen unverzichtbare Aufbauarbeit geleistet. In diesem Kontext möchte ich insbesondere die
Arbeit der politischen Stiftungen hervorheben, die mit
ihren Programmen die zivilgesellschaftlichen Kräfte in
Palästina stärken. Das Aufgreifen von Gesprächsfäden
und das Knüpfen von Kontakten und Netzwerken ist
zwar manchmal mühselig und sicherlich nicht frei von
Rückschlägen, letztendlich aber der Erfolg versprechende Weg zu Dialog und Verständigung schlechthin.
({4})
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind nur schwer messbar,
aber sie rechnen sich als Investition in die Zukunft.
Nun möchte ich noch einen Ausblick oder, wie der
Publizist Richard Chaim Schneider in der „Süddeutschen Zeitung“ provokativ ausführte, eine „geradezu unerträgliche Vision“ wagen: Was wäre, wenn alle im vorliegenden Antrag angesprochenen Forderungen Realität
würden? Was wäre, wenn es tatsächlich gelänge, zu einer Wiederbelebung des Verhandlungsprozesses zwischen Israelis und Palästinensern zu kommen? Was
wäre, wenn es tatsächlich gelänge, eine politische Lösung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel wäre?
Wären wir dann am Ziel unserer Wünsche? Wäre dies
das Ende aller Probleme im Nahen Osten? Ich befürchte,
die Antwort ist: Nein!
Von heute aus betrachtet wäre das zwar ein fantastischer Fortschritt. Aber Israel, die Palästinenser und vor
allem ihre arabischen Nachbarn werden sich nach einem
Ende des Konfliktes den unzähligen internen Problemen
widmen müssen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten angehäuft haben und die durch den permanenten
Ausnahmezustand verdeckt werden konnten. Bei der Bewältigung dieser Probleme werden die betroffenen Gesellschaften vor enorme Herausforderungen gestellt. Sosehr wir alle eine politische Lösung des Konfliktes
wünschen und auch daran arbeiten, sie wäre kein Ruhekissen für die Zukunft. Unser Engagement in dieser Region wird auch weiterhin gefordert sein.
Lassen Sie uns zunächst gemeinsam dafür arbeiten,
dass es den Palästinensern am 9. Januar 2005 gelingt,
der Welt zu beweisen, dass sie die Hoffnung erfüllen, die
wir alle in sie setzen! Die Zeichen stehen auf Entspannung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An der
Tatsache, dass wir uns in einem gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Antrag mit den bevorstehenden Wahlen
in den palästinensischen Autonomiegebieten befassen,
zeigt sich, welche Aufmerksamkeit wir diesem Vorgang
widmen. Es zeigt aber auch, welche Erwartungen und
Hoffnungen wir mit diesem Prozess verbinden.
Die nach dem Tod des gewählten palästinensischen
Präsidenten Jassir Arafat notwendig gewordenen Personalentscheidungen stellen sowohl die palästinensische
politische Führung als auch die palästinensische Bevölkerung vor eine sehr große Herausforderung. Ich finde,
es ist ermutigend, zu sehen, dass die Verantwortlichen,
insbesondere der Parlamentspräsident, der auch Übergangspräsident ist, es geschafft haben, sich auf einen
Wahltermin zu verständigen, der innerhalb der 60-TageFrist des palästinensischen Grundgesetzes liegt; das war
ja nach den Meldungen, die wir alle für diesen Fall bekommen haben, nicht zu erwarten gewesen. Diese Wahlen haben auch deswegen eine besondere Bedeutung,
weil sie die Chance bieten, die neue palästinensische
Führung auf eine Basis breiter Legitimation zu stellen.
Diese Legitimation musste ja in der Vergangenheit angezweifelt werden, weil sowohl die Wahlen zum palästinensischen Legislativrat als auch die Kommunalwahlen
immer wieder hinausgeschoben worden sind und über
viele Jahre die Wahl Arafats zum Präsidenten die einzige
Legitimationsbasis war. Nun sind ja auch die anderen
Wahlen vorgesehen und am 23. Dezember werden in immerhin 26 Gemeinden und Stadtkreisen Kommunalwahlen stattfinden. Die Registrierung zu diesen Kommunalwahlen hat bereits am 4. September begonnen, und zwar
unter internationaler Beobachtung, sodass man davon
ausgehen kann, dass diese Wahlen ordnungsgemäß stattfinden werden.
Auch wenn diese Kommunalwahlen nur einen Teil
der palästinensischen Gebiete betreffen, finde ich es sehr
erfreulich, dass man diesen Weg auch in der Übergangszeit beschritten hat und dass man die personelle Veränderung, die sich zwischenzeitlich in der Führung der Autonomiebehörde ergeben hat, nicht zum Anlass
genommen hat, den in Gang gesetzten Prozess abzubrechen; das wäre ja auch denkbar gewesen.
Wichtig ist natürlich, dass neben der Wahl des Präsidenten alsbald auch die Wahl zum palästinensischen Legislativrat stattfinden wird. Denn natürlich brauchen die
Palästinenser eine ordentliche parlamentarische Vertretung; was derzeit nicht gewährleistet ist. Entscheidend
ist, dass mit der Wahl des neuen palästinensischen
Präsidenten eine breite Legitimationsbasis für die politische Führung in den Palästinensergebieten geschaffen
wird. Wir wären gut beraten, wenn wir uns ungebetener
Ratschläge hinsichtlich der Personen, die dort zur Wahl
stehen, enthalten würden. Entscheidend ist, dass die Person, die gewählt wird, in der Lage ist, die Palästinenser
hinter sich zu versammeln, weil nur dann diese Person
und der Führungskreis, der sie umgibt, in der Lage sein
werden, ihre Rolle im Friedensprozess im Nahen Osten
zu spielen; das ist notwendig und wichtig. Deshalb
kommt es nicht nur darauf an, dass die Person die Mehrheit hat - das ist klar; das ist die Voraussetzung -, sondern auch darauf, dass der künftige Präsident auf eine
Art und Weise gewählt worden ist, von der man sagen
kann, dass das Ergebnis ordnungsgemäß zustande gekommen ist.
Deswegen tut die Europäische Union gut daran, dass
sie für diese Präsidentschaftswahlen am 9. Januar 2005
Beobachter entsendet und bei der Durchführung der
Wahlen hilft. Man kann nur unterstreichen, was Javier
Solana in diesem Zusammenhang gesagt hat: Es sei einfach wichtig für die ganze weitere Entwicklung, die palästinensische Führung auf höchster Ebene zu legitimieren. Das ist Grundvoraussetzung für die Beteiligung an
künftigen Verhandlungen. Denn es stehen ja wichtige
Reformen in den Palästinensergebieten an, die einfach
nicht mehr aufgeschoben werden können. Man kann
noch so viele Vertragsentwürfe, Verfassungen oder Gesetze produzieren - die kann man alle nicht essen. Gebraucht wird eine Verwaltungsstruktur, gebraucht wird
eine Polizeistruktur, gebraucht wird eine Sozialstruktur,
mit denen der Gang in die Armut, der derzeit in den palästinensischen Gebieten stattfindet, gestoppt werden
kann. Denn nur - da stimme ich Frau Kollegin Schmidt
ausdrücklich zu - wenn dieser Gang in die Armut gestoppt werden kann, eröffnen wir der palästinensischen
Bevölkerung eine Perspektive für den Friedenswillen.
Das eine hängt mit dem anderen unmittelbar zusammen.
({0})
Dazu müssen die Palästinenser eine Menge tun. Die
Misshelligkeiten, die dort entstanden sind, sind vielleicht
auch von der Besatzungsstruktur verursacht. Entscheidend ist aber, dass die Palästinenser ihre Chance nicht
genutzt haben, die Behörden ordentlich auszurichten und
korruptionsfreie Strukturen bei den Sicherheitsdiensten,
der Justiz, dem Finanzwesen und anderen Institutionen
hinzubekommen. Dies sind im Übrigen überhaupt keine
Ratschläge von außen: Schon vor drei Jahren hat der palästinensische Rechnungshof all diese Forderungen erhoben und die Misswirtschaft in den palästinensischen
Gebieten beklagt.
Weil ich ein bisschen hoffnungsvoller als Kollegin
Schmidt bin, schließe ich mit einem Zitat des israelischen Außenministers Silvan Shalom. Am Rande der
Konferenz am 30. November dieses Jahres, auf der die
Außenminister der Europäischen Union mit den Außenministern der Mittelmeeranrainerstaaten die Mittelmeerpartnerschaft erörterten, sprach Minister Shalom mit
dem Vertreter der Autonomiebehörde, Nabil Schaath.
Nach diesem Gespräch sagte der israelische Außenminister: Wir sind übereingekommen, dass es jetzt ein
Fenster der Möglichkeiten gibt, das zu einer Tür der
Möglichkeiten werden könnte. - Mit Unterstützung des
Quartetts könnten wir dazu beitragen, dass man tatsächlich durch diese Tür gehen wird.
Ich bedanke mich.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Tod von Präsident Jassir Arafat ist im Nahostprozess eine neue Dynamik in Gang gekommen. Man
muss gar nicht die These teilen, dass Arafat das
Haupthindernis im Verständigungsprozess gewesen sei,
um registrieren zu können, dass sich, wie es Kollege
Hörster auch gerade dargestellt hat, ein neues Fenster
öffnet. Wir sollten daher unseren Beitrag dazu leisten,
dass der Friedensprozess, der sich zwischenzeitlich in
einen handfesten Nahostkonflikt verwandelt hatte, wieder belebt wird und zu dem führt, was in der Roadmap
vorgezeichnet ist.
({0})
Die strittigen Punkte, die die beiden Seiten zu behandeln
haben und die auch in Camp David strittig geblieben waren - Grenzen, Territorien, Siedlungen, Jerusalem und
Flüchtlinge auf der einen Seite, die Intifada mit ihren
grauenhaften Selbstmordanschlägen auf der anderen
Seite -, sind nicht dadurch erledigt, dass Arafat verstorben ist.
Nach dem Tod von Arafat waren wir uns zunächst
nicht schlüssig, ob die palästinensische Bevölkerung die
Kraft und die Mittel haben wird, eine neue, demokratisch legitimierte, effiziente und handlungsfähige Führung hervorzubringen. Heute sehen wir, dass die Dinge
auf bestem Wege sind: Die Wahlen werden abgehalten
werden und sie werden demokratisch sein. Wir können
dem palästinensischen Volk heute schon dazu gratulieren, dass es sehr schnell aus dem Trauma des Todes
Arafats aufgewacht ist und sich auf einen Weg gemacht
hat, der hoffentlich in Richtung Frieden führt.
({1})
Es gibt einige ermutigende Anzeichen, was die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung angeht.
Am 9. Dezember hat das israelische Radio gemeldet,
dass sich zum ersten Mal seit Beginn der Intifada eine
deutliche Mehrheit der Palästinenser gegen Selbstmordattentate ausgesprochen hat. Es sind zwar immer noch zu
wenige; aber es ist ein ermutigender Fortschritt. Heute
meldet die palästinensische Zeitung „al-Kuds“, dass
69 Prozent der befragten Palästinenser für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch sind. Allerdings halten
72 Prozent die amerikanischen Anstrengungen für noch
nicht ausreichend.
Für besonders ermutigend halte ich die Äußerung von
Mahmud Abbas, der einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl ist. Er hat wörtlich
gesagt:
Der Gebrauch der Waffen in der momentanen Intifada ist schädlich und muss beendet werden.
({2})
Diesen Satz können wir nur unterstreichen; wir haben
ihn von Mahmud Abbas allerdings schon des Öfteren gehört.
Entscheidend ist folgende Qualität: Über Arafat
wurde immer gesagt, er predige in Englisch, gerichtet an
die westliche Welt, den Frieden, sage aber in Arabisch,
gerichtet an die arabische Welt, etwas anderes. Ich kann
nicht beurteilen, ob diese Kritik zutrifft. Aber wir können eines registrieren: Mahmud Abbas hat diese Äußerung in Arabisch getan und sie an die arabische Welt gerichtet. Er hat den Waffenstillstand und die Beendigung
der Gewalttaten ausdrücklich auch von Dschihad und
von Hamas eingefordert. Eine solche Linie in der neuen
palästinensischen Führung kann man nur unterstützen.
({3})
Dazu findet sich heute in der israelischen Zeitung
„Haaretz“ eine sehr ausführliche Würdigung. Allerdings
endet sie mit der Forderung, dass nun die israelische
Seite auch entsprechend antworten sollte, damit, wie
Herr Hörster gesagt hat, dieser Kandidat in der palästinensischen Gesellschaft nicht isoliert wird, weil er vielleicht als zu kompromisslerisch gilt. Es wäre höchst
praktisch, wenn die israelische Seite etwa damit antwortete - das fordert „Haaretz“ heute -, dass einige palästinensische Gefangene direkt freigelassen und auf Konten
eingefrorene palästinensische Gelder freigegeben werden. Das könnten einzelne kleine und heute schon machbare Schritte sein, um den Prozess der Roadmap wieder
in Gang zu setzen.
({4})
Im Moment haben die Palästinenser die Bringschuld.
Sie haben auch die Chance, sich als etwas anderes darzustellen als das, als was sie in der israelischen Gesellschaft oft gesehen werden.
Wir sehen aber auch, dass auf israelischer Seite die
Chance zu einem Neubeginn besteht. Die bisherige Regierung ist gescheitert, nicht nur an der Frage des Rückzugs aus dem Gazastreifen, sondern auch an ökonomischen und finanzpolitischen Fragen. Die neue Koalition
täte gut daran - sie wird das hoffentlich auch tun -, diese
beiden Punkte im Zusammenhang zu sehen. Die Tatsache, dass Israel in so starke ökonomische Probleme geraten ist, hat auch mit der de facto bestehenden Kriegssituation zu tun. Deshalb sollte der Abzug aus Gaza nicht nur
umgesetzt, sondern auch als der erste Schritt zu einer
umfassenden Lösung begriffen werden, der dann auch
entsprechende Schritte in der Westbank einschließen
müsste.
Ich kann mir vorstellen, dass ein solcher Friedensprozess, der von den Europäern und den anderen Mitgliedern des Quartetts nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch unterstützt wird, dazu beitragen kann, dass
nicht nur Frieden Einzug hält, sondern auch die Entwicklungsprobleme Palästinas ebenso wie die ökonomischen Probleme Israels bewältigt werden. Das jedenfalls
wäre unser Wunsch. Wir hoffen, dass das neue Jahr
Chancen dafür eröffnet, auf die zu hoffen wir vor einem
halben Jahr vielleicht noch gar nicht gewagt hätten.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die anstehenden Wahlen sind dringend notwendig für
die politische Perspektive im Nahen Osten. Darüber sind
wir uns alle einig. Ich bin froh, dass wir uns auch alle darin einig sind, dazu einen gemeinsamen Beitrag leisten
zu wollen.
Die Palästinenser sind mit dieser Wahl durchaus Vorreiter in der arabischen Welt. Bisher ist Israel das einzige
Land dort, in dem durch demokratische Wahlen Veränderungsprozesse herbeigeführt werden. Wo sonst in der
arabischen Welt ist das der Fall? Die Palästinenser haben
die Chance, der arabischen Welt zu zeigen, dass durch
demokratische Prozesse Veränderungsprozesse ausgelöst
werden können.
Wir glauben gemeinsam daran, dass Demokratien
Frieden lieben und Demokraten friedlich zusammenleben wollen und können. Von daher unterstützen wir von
ganzem Herzen diesen Demokratieprozess in Palästina.
({0})
Für diesen Veränderungsprozess hin zu einer Verständigung bedarf es aber zweier Bedingungen.
Erstens. Die Zivilgesellschaften auf beiden Seiten
müssen einbezogen werden. Wir wissen, dass es auf palästinensischer Seite eine lebendige Zivilgesellschaft
gibt, die durch die Intifada verdeckt wurde und jetzt die
Chance hat, sich wieder bemerkbar zu machen, um das
wieder aufzunehmen, was durch die Kriegswirren verdeckt wurde. Aus diesem Grunde haben wir als FDP die
Genfer Initiative so enthusiastisch unterstützt: Sie enthielt den Ansatz, Zivilgesellschaften einzubeziehen.
Zweitens. Noch wichtiger ist es, dass wir die Staaten
der Region mehr als bisher in diesen Prozess der Friedenssuche und Friedensbildung einbeziehen. Wir glauben, dass ohne eine Reform der arabischen Welt, ohne
Reformprozesse und ohne Demokratisierung ein Frieden
im Nahen Osten nur sehr schwer erreichbar ist und auf
Dauer nicht gesichert werden kann. Wir müssen heute
feststellen: Leider hat die arabische Welt in diesem Prozess bisher eine wenig rühmliche Rolle gespielt. Ägypten und Jordanien möchte ich ausnehmen, die zeitweilig
sehr aktiv und vorwärts gerichtet waren. Insgesamt
müssen wir aber leider festhalten, dass der Konflikt
zwischen Israel und Palästina in der arabischen Welt
instrumentalisiert worden ist, um von eigenen Schwächen abzulenken. Ich bedaure sehr, dass das bis zum
heutigen Tage offensichtlich Gültigkeit hat.
({1})
In der in dieser Woche erstellten Abschlusserklärung
von Rabat steht der Satz, dass die Einleitung von Reformen in der arabischen Welt mit der Lösung des Nahostkonflikts verbunden ist. Diesen Vorwand dürfen wir auf
Dauer nicht zulassen. Wir müssen den Druck auf die arabische Welt erhöhen und die Region stärker in die
Verantwortung nehmen. Vorausschauend, wie wir als
Liberale nun einmal sind, haben wir im Mai dieses Jahres den Vorschlag eines Helsinki-Prozesses eingebracht.
Wir fühlen uns durch die Überlegungen, die jetzt angestellt werden, durchaus in unserer Meinung unterstützt,
dass die Region, die Zivilgesellschaften und die Politik
in den Prozess zur Lösung dieses Konflikts einzubeziehen sind.
({2})
Die Wahlen sind ein erster Schritt. Sie können in der Region eine Dynamik auslösen, von deren Umfang wir
noch keine Ahnung haben. Deshalb ist ein geordneter
und friedlicher Wahlverlauf wichtig. Dazu wollen und
können wir beitragen.
Ich finde, wir Deutsche und Europäer haben die
Pflicht, hier unsere Erfahrungen mit dem Transformationsprozess von Gesellschaften einzubringen. Wir alle
wissen, dass das von uns noch einiges fordern wird, wir
wissen aber auch, dass das wirklich unser aller Anstrengungen wert ist.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Am 20. Januar 1996 wurde in den palästinensischen Autonomiegebieten zum ersten Mal gewählt. Dabei ging es um die Wahl des Präsidenten und
um die Wahl des palästinensischen Legislativrates.
Frau Kollegin Schmidt, Sie erwähnten bereits die damalige EU-Wahlbeobachtermission, an der seinerzeit
auch ich sowie weitere Kollegen aus den übrigen Fraktionen teilnahmen. Gemeinsam mit anderen Wahlbeobachtern besuchte ich Wahllokale in Nablus. Wir sahen
lange Schlangen von Männern und Frauen, in deren
Gesichtern Freude, Stolz und Hoffnung auf eine bessere
Zukunft zu lesen waren. Frau Kollegin Schmidt, ich bin
mir sicher, dass Sie von Ihrem Besuch im Gazastreifen
Ähnliches berichten könnten.
Wenn ich in den folgenden Jahren Berichte über gewalttätige Auseinandersetzungen gerade in Nablus sah,
musste ich oft an diese Gesichter denken. Bei weiteren
Besuchen in der Region musste ich feststellen, dass die
Hoffnung in den Gesichtern gewichen und an ihre Stelle
Enttäuschung und Wut auf allen Seiten getreten war:
Enttäuschung und Wut auf israelischer Seite, wenn wieder einmal ein verbrecherischer Selbstmordanschlag unschuldigen Menschen, darunter oft Kindern, den Tod
brachte; Enttäuschung und Wut auf palästinensischer
Seite über die anhaltende Besatzung, die fortgesetzte
Siedlungstätigkeit, demütigende Kollektivstrafen und
Militäraktionen, denen ebenfalls nicht selten Kinder zum
Opfer fielen.
Zur Dramatik der Entwicklung der letzten Jahre
gehört es, dass sich mit dem Ende der Herrschaft eines
Mannes, der einst den Friedensnobelpreis bekam, aber
doch nie überzeugend mit dem Terror brach, nun auf
allen Seiten Hoffnung verbindet. Jetzt sind die Hoffnungen der Menschen in den palästinensischen Autonomiegebieten und in Israel, aber auch von vielen engagierten
Menschen in unserem Land auf die Wahlen am 9. Januar
2005 gerichtet.
Auch unser gemeinsamer Antrag drückt diese Hoffnung aus; Hoffnung darauf, dass die PräsidentschaftsHermann Gröhe
wahlen, denen hoffentlich bald Parlamentswahlen folgen mögen, einen Neuanfang darstellen und
palästinensische Institutionenbildung ermöglichen,
damit Korruption, Willkürherrschaft und Menschenrechtsverletzungen ein Ende finden; Hoffnung darauf,
dass Israel seine Zusagen, den Wahlprozess konstruktiv
zu unterstützen, wahr macht. Dazu zählt, dass die in Ostjerusalem lebenden Palästinenser an den Wahlen teilnehmen können.
({0})
Der Präsidentschaftskandidat der Fatah-Bewegung,
Mahmud Abbas, hat schon jetzt klar die Gewalttätigkeiten und den Terror der andauernden zweiten Intifada als
schweren Fehler bezeichnet. Sie, Herr Kollege Volmer,
haben auf die Bedeutung hingewiesen, dass dies in arabischer Sprache geschah und in besonderer Weise an die
eigene arabische Öffentlichkeit gerichtet war. Er hat zugleich von den Behörden und Medien ein Ende der antiisraelischen Hasspropaganda, wie wir sie in vielen Medien, aber auch in Schulbüchern beobachten mussten,
verlangt.
Umgekehrt beweist Ministerpräsident Scharon mit
der Entscheidung für den Abzug Israels aus dem
Gazastreifen großen Mut, sieht er sich doch im eigenen
Land Hass, ja sogar Todesdrohungen ausgesetzt. Die
mögliche Bildung einer neuen Regierung in Israel unter
Einschluss der Arbeitspartei verstärkt zudem die Hoffnung darauf, dass der Abzug aus dem Gazastreifen nur
ein erster Schritt ist, der auf der Westbank seine Fortsetzung finden und in eine umfassende Wiederbelebung der
Roadmap einmünden muss. Der 9. Januar 2005 kann mit
unserer tatkräftigen Unterstützung ein Tag der Hoffnung
werden. Diese Hoffnung darf nicht erneut enttäuscht
werden.
Gestatten Sie mir, dass ich wenige Tage vor dem
Weihnachtsfest gerade auch an die Menschen in Bethlehem denke. Israel hat im Norden von Bethlehem mit
dem Bau einer neun Meter hohen Betonmauer begonnen, die den nördlichen Teil der Stadt von den umliegenden Feldern trennt. Dies droht den Charakter der Stadt
grundsätzlich zu verändern. So wächst der Druck auf die
kleine noch verbliebene Schar der Christen an dieser
Wiege der Christenheit. Dass an die Stelle der Angst vor
dem Terror und dem Bau hoher Mauern die Hoffnung
auf einen Frieden auf Erden tritt, ist ein Wunsch, der
auch unser gemeinsames Handeln bestimmen sollte.
Vielen Dank.
({1})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf Drucksache 15/4515 mit dem Titel
„Wahlen in den palästinensischen Gebieten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Stimmt jemand dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Georg
Fahrenschon, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU Europäische Finanzmärkte - Integration durch Wettbewerb und
Vielfalt voranbringen
- Drucksache 15/4030 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Georg Fahrenschon.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! „Über den Berg“ betitelte die Europäische Kommission den Zehnten und bislang letzten Fortschrittsbericht zur Entwicklung des Binnenmarkts für Finanzdienstleistungen, den sie im Juni dieses Jahres vorlegte.
Ein passender Titel! Die Redensart „über den Berg“ bedeutet: Das Schlimmste haben wir überwunden. Wahrlich, was den so genannten Financial Services Action
Plan angeht, sind binnen viereinhalb Jahren, von 1999
bis zur Mitte dieses Jahres, auf europäischer Ebene
mittlerweile 42 Einzelmaßnahmen zur Schaffung eines
einheitlichen Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen
verabschiedet worden.
Das ist ein beträchtlicher Erfolg für ein EU-Programm dieser Größe und Komplexität. In Bezug auf die
europäischen Richtlinien und Verordnungen könnte man
also sagen: Wir haben das Schlimmste überwunden.
Aber am Gipfel angekommen sind wir noch lange nicht;
denn allein mit europäischer Regulierung entsteht noch
kein integrierter Binnenmarkt. Der Beitrag des Plans zur
Schaffung eines europaweiten Marktes für Finanzdienstleistungen und zu einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit
Europas wird allein von der konsequenten und zügigen
Umsetzung der Maßnahmen durch alle Mitglieder auf
nationaler Ebene abhängen.
({0})
In Sachen Umsetzung des integrierten Finanzmarktes in
den einzelnen Mitgliedstaaten haben wir also noch ein
ordentliches Stück Weges vor uns.
Der Abschluss der europäischen Regulierungsarbeiten ist für CDU und CSU der richtige Zeitpunkt, um eine
politische Zwischenbilanz zu ziehen; denn für den Finanzstandort Deutschland ist ein integrierter Finanzmarkt von enormer Bedeutung.
({1})
Deutschland - man kann es nicht oft genug wiederholen - ist mit 83 Millionen Einwohnern und einem
Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 2 110 Milliarden
Euro die größte Volkswirtschaft Europas. Ein attraktiver
und dynamischer Finanzstandort ist alleine durch den
Effekt der Größe von höchster gesamtwirtschaftlicher
Relevanz für die Bundesrepublik Deutschland. Daneben
beeinflussen die Stärke und die Stabilität des Finanzmarkts den kompletten Wirtschaftskreislauf. Der Finanzmarkt mobilisiert Sparkapital und holt internationales
Anlagekapital ins Land. Er führt dieses Kapital produktiver Verwendung zu, er stimuliert Investitionen und
Wachstum, er verbessert den Wettbewerb, er sorgt für
mehr Liquidität auf den Märkten und er stellt darüber
hinaus auch eine breite Finanzierung für den so wichtigen Mittelstand in Deutschland sicher.
Offensichtlich ist es, dass Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung unserer Volkswirtschaft maßgeblich
von der Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes abhängen. Des Weiteren stellt die Finanzbranche in
Deutschland in ihrer Gesamtheit einen zentralen Wirtschaftszweig dar und braucht keine Vergleiche zu
scheuen. Im Jahre 2003 waren in Deutschland insgesamt
1,26 Millionen Menschen im Finanzsektor, also bei Banken und Versicherungen, beschäftigt. Im Vergleich dazu
waren in der für Deutschland so wichtigen Automobilindustrie „nur“ knapp 1 Million Menschen beschäftigt.
In Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt verhält es sich
ähnlich.
Allerdings steht gerade der Finanzplatz Deutschland
in einem immer schwieriger werdenden internationalen
Wettbewerb, insbesondere mit anderen europäischen
Finanzstandorten. Mit der Einführung des Euros - das ist
quasi ein Nachteil der gemeinsamen Währung - ist der
zentrale Standortvorteil einer eigenen starken Währung
innerhalb Deutschlands weggefallen. Vor dem Hintergrund ist die gemeinsame Regulierung umso wichtiger
geworden. Wir müssen erkennen, dass es für uns von
zentraler Bedeutung ist, unsere Vorteile im einheitlichen
Binnenmarkt auszuspielen. Denn gerade auf dem
Finanzplatz geht es um hoch qualifizierte Arbeitsplätze,
um Wirtschaftskraft in Deutschland und damit indirekt
auch um gesunde Staatsfinanzen.
({2})
Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktion
einen Antrag mit der Überschrift „Europäische Finanzmärkte - Integration durch Wettbewerb und Vielfalt
voranbringen“ vorgelegt. Wir wollen auf der Basis dieser Initiative frühzeitig im Einzelnen über die weiteren
Schritte der europäischen Finanzmarktintegration reden;
denn wir sind der festen Überzeugung, dass wir im Interesse des Finanzstandortes Deutschland handeln, wenn
wir den Deutschen Bundestag einerseits und die Bundesregierung andererseits in Gleichklang bringen, damit wir
die deutschen Interessen in Brüssel gut und einheitlich
vertreten können.
Unser Antrag beinhaltet eine Vielfalt von Themen.
Ich möchte nur einige hervorheben: Punkt 1 betrifft
Clearing und Settlement, also Clearing und Abrechnung.
Eine reibungslose und kostengünstige Abwicklung von
grenzüberschreitendem Wertpapierhandel innerhalb
der Europäischen Union ist von herausragender Bedeutung. Es darf nicht verwundern, dass wir das an die erste
Stelle gesetzt haben. Wir müssen uns nämlich darüber
im Klaren sein, wie wichtig die Wettbewerbsfähigkeit
der Deutschen Börse AG im europäischen Binnenmarkt
für den Finanzplatz Deutschland ist. Wir müssen es
schaffen, dass wir, Regierung und Parlament gemeinsam, diese Strukturdebatte prägen, um die Perle des
Finanzplatzes Deutschland zu stärken.
({3})
Bei der Schaffung eines Rechtsrahmens für einen einheitlichen Zahlungsraum - Thema einer umfangreichen Richtlinie - müssen wir darauf achten, dass nicht
durch neue EU-Vorschriften nationale Zahlungsarten
wie zum Beispiel das Lastschriftverfahren rechtlich oder
praktisch unmöglich gemacht werden.
Wir müssen uns auch mit der nationalen Umsetzung
von Basel II frühzeitig auseinander setzen.
({4})
Alleine der sich jetzt abzeichnende Zeitplan, wonach das
Europäische Parlament mit der Umsetzung von Basel II
auf europäischer Ebene erst in der Mitte des nächsten
Jahres fertig wird und wir bis zum 1. Januar 2007 die
Grundlage dafür legen müssen, dass deutsche Institute
arbeiten können, zeigt, wie wichtig dieses Thema ist.
Dasselbe gilt im Versicherungsbereich, ähnlich wie
Basel II, Solvency II oder die Richtlinie, die die Rückversicherer trifft.
Last but not least müssen wir auch die Fragestellung
europäischer Aufsichtsstrukturen frühzeitig debattieren. Dabei kann es nicht darum gehen, eine neue Superbehörde auf europäischer Ebene zu gründen; es liegt
vielmehr in unserem Interesse, europaweit - das gilt für
das gesamte Europa der 25 - gleiche Anforderungen und
Bedingungen hinsichtlich der Aufsicht zu schaffen.
Ich will zum Schluss noch auf eine Besonderheit dieser Debatte eingehen: Wir haben auf europäischer Ebene
ein besonderes Verfahren, das so genannte LamfalussyVerfahren, eingeführt. Um derart viele Vorschriften - es
geht um 42 Richtlinien - schnell umsetzen zu können,
hat der Rat der Kommission auf ein völlig neues Verfahren zur Regulierung gesetzt. Es galt zunächst nur für den
Wertpapierbereich und sollte sicherstellen, dass EU-Gesetze nicht schon veraltet sind, bevor sie in Kraft treten.
Das Verfahren birgt aber auch eine große Gefahr.
Denn das demokratisch legitimierte Parlament der Europäischen Union gibt in diesem Verfahren nur noch den
Rahmen der Gesetzgebung vor. Um die Details kümmern sich eigens dafür eingesetzte Expertengruppen fern
jeglicher demokratischer Legimitation und Kontrolle.
Das heißt mit anderen Worten: Erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union entscheiden nicht die
demokratisch eingesetzten Gremien über die vollständigen Rechtstexte, sondern Fachkommissionen hinter verschlossenen Türen. Dabei ist Vorsicht geboten, weil wir
feststellen müssen, dass Ergebnisse von Fachkommissionen nicht automatisch besser sind. Sie sind nur detaillierter. Allein der Menschenverstand sagt uns - das zeigen
uns auch die ersten Ergebnisse -, was passiert. Die Expertengremien regulieren jedes noch so kleine Detail
ohne jeglichen Kompromiss. Sie gehen die einzelnen
Punkte ohne Rücksicht auf Verluste durch und sind dabei
nicht kompromissfähig.
Des Weiteren muss uns zu denken geben - insbesondere seit das Lamfalussy-Verfahren nicht mehr nur für
den Wertpapierbereich, sondern auch für Banken und
Versicherungen gilt -, dass es keine Kontrolle mehr gibt.
Nach Ablauf einer Prüfungsfrist hat das Europäische
Parlament mangels Initiativrechts keine Möglichkeit
mehr, in einmal von den Komitologieausschüssen beschlossene Durchführungsmaßnahmen einzugreifen. Das,
was im Gegensatz dazu den Bundestag auszeichnet,
nämlich dass er in der Lage ist, einzelne Verfahren wieder an sich zu ziehen, ist auf europäischer Ebene ausgeschlossen. Es besteht die Gefahr, dass nicht demokratisch legitimierte Ausschüsse Realitäten schaffen, die
nicht die Absicht des Gesetzgebers widerspiegeln.
An dieser Stelle müssen wir auch über die Rolle der
BaFin diskutieren. Denn in dem bestehenden Kreislauf
- dem Zusammenspiel zwischen den so genannten
Level-1-, Level-2- und Level-3-Gremien - spielt die
BaFin eine besondere Rolle. Sie geht ohne Rückkoppelung mit Regierung und Parlament in die Verhandlungen. Im Grunde ist genau dasselbe, was wir auf europäischer Ebene anprangern, auch in Deutschland der Fall:
Der Kreislauf der Regulierung findet ohne parlamentarische Kontrolle und damit auch ohne parlamentarische
Legitimierung statt.
({5})
Damit werden wir uns auseinander setzen müssen.
({6})
Diese und andere Vor- und Nachteile der Finanzmarktintegration nimmt unser Antrag auf. Wir stellen uns vor,
dass die Debatte eine Art Leitfaden und Richtschnur für
die Bundesregierung sein kann, um die künftige Entwicklung des europäischen Finanzbinnenmarktes aus
deutscher Sicht nachhaltig und für Deutschland positiv
zu gestalten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Florian Pronold.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor über einem Jahr haben wir uns schon einmal mit einem Entschließungsantrag der Union zu den
europäischen Finanzmärkten beschäftigt.
({0})
Dabei ging es um die europäische Wertpapierdienstleistungsrichtlinie. Damals fand die Debatte sinnigerweise
im Anschluss an die Diskussion über den Waldschadensbericht statt. Ich musste Ihnen zum Vorwurf machen,
dass Sie - weil Ihr Antrag damals der Zeit hinterherhinkte - völlig umsonst einen Baum geopfert haben, mit
dem das Papier für diesen Antrag hergestellt wurde.
Als letzte Woche der aktuelle Waldschadensbericht
vorgestellt wurde, haben wir erfahren, dass sich die
Situation leider weiter verschlechtert hat. Daran haben
Sie mitgewirkt,
({1})
indem Sie heute erneut einen Antrag vorlegen, der in
weiten Teilen hinter der Realität zurückbleibt.
({2})
Der von Ihnen vorgelegte Antrag entspricht nicht mehr
ganz dem Debattenstand und dem realen Fortentwicklungsstand in der Europäischen Union. Er ist in vielen
Punkten bereits veraltet. Deswegen macht es keinen
Sinn, ihn in der jetzigen Fassung zu verabschieden.
({3})
Vorweg: Es ist in diesem Hause üblich, dass es in Finanzmarktangelegenheiten große Übereinstimmung
gibt.
({4})
Das ist auch richtig so. Wir alle wissen, dass die Integration des europäischen Finanzmarktes eine wichtige Ausgangsbedingung für die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzstandortes Deutschland und eine wichtige Voraussetzung
für mehr Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze ist.
Darum geht es uns ja gemeinsam.
Zu den einzelnen Punkten Ihres Antrags möchte ich
ein paar Bemerkungen machen. Ich möchte mit Punkt 2
beginnen, der die Bewertung der Ratingagenturen betrifft. Das, was Ihr Antrag dazu enthält, ist zwar im Großen und Ganzen richtig. Ihr Antrag ist aber nicht auf
dem neuesten Stand. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es
einen gemeinsamen Bundestagsbeschluss vom 13. März
dieses Jahres, der in Ihrem jetzt vorliegenden Antrag
überhaupt nicht berücksichtigt worden ist. Der Antrag,
der vom Bundestag einstimmig verabschiedet worden
ist, ist viel umfangreicher und qualifizierter, wenn es um
die Frage geht, wie in puncto Ratingagenturen auf europäischer Ebene vorgegangen werden soll. Auch Forderungen, die auf Ihr Betreiben damals in den einstimmig
vom Bundestag verabschiedeten Antrag aufgenommen
worden sind, finden sich in dem nun von Ihnen vorgelegten Antrag nicht wieder, zum Beispiel die Forderung,
den betroffenen Unternehmen ein Appellationsrecht,
eine Art Widerspruchsmöglichkeit, einzuräumen, sodass
sie, wenn sie mit dem Rating nicht einverstanden sind,
eine Gegendarstellung vorbringen können, die zumindest Beachtung findet.
Zu Punkt 5, zu den Bankenstrukturen in Europa:
Auch hier ist Ihr Antrag nicht ganz auf dem aktuellen
Stand. Was den elektronischen Zahlungsverkehr in
Deutschland angeht, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen weitgehend erfüllt. Wir haben kein rechtliches
Defizit, sondern ein Umsetzungsdefizit der Kreditwirtschaft und der Banken. Wir haben in § 1 Abs. 5 Satz 2
des Geldwäschegesetzes in Verbindung mit § 2 Nr. 3 des
Signaturgesetzes bereits die Möglichkeit für eine elektronische Unterschrift geschaffen, die ein Identifizierungsmerkmal darstellt. Woran bisher die praktische
Umsetzung scheitert, ist, dass die Kreditwirtschaft es
nicht geschafft hat, so genannte Trust Centers einzurichten, in denen die Unterschriften zentral hinterlegt und
abrufbar sind. Das ist also kein rechtliches Problem, dessen Lösung in unserer Umsetzungskompetenz liegt, sondern ein praktisches Problem der Banken bei der Umsetzung.
Zu Punkt 6, zur Schaffung eines Rechtsrahmens für
einen einheitlichen Zahlungsraum im europäischen
Binnenmarkt: Der Vorschlag der Kommission ist für das
Frühjahr 2005 angekündigt. Entgegen der Darstellung in
Ihrem Antrag geht es aber nicht darum, einen einheitlichen Eurozahlungsraum als Ganzes zu schaffen. Vielmehr werden lediglich einige relevante Aspekte zu regeln sein. So muss zum Beispiel die Gleichbehandlung
der Anbietergruppen von Zahlungsverkehrsdienstleistungen gewährleistet sein. Außerdem müssen für alle
Kunden im europäischen Binnenmarkt die gleichen Vertragsbedingungen gelten. Ansonsten setzt die Kommission in ihrem Vorschlag vor allem auf die von Ihnen geforderte Selbstregulation der Kreditwirtschaft und die
vorgesehenen technischen Abkommen. Damit wird weitestgehend dem entsprochen, was Sie anmahnen.
Zu Punkt 7, zur Geldwäsche: Auch hier ist der vorliegende Antrag - wir haben das bereits in dieser Woche
im Finanzausschuss behandelt - nicht mehr up to date.
Die Kritik, die Sie an der 3. Geldwäsche-Richtlinie in
Ihrem Antrag äußern - Sie behaupten, der risikoorientierte Ansatz fehle -, hat sich mittlerweile erübrigt, da
die angesprochenen Defizite im Ratsvorschlag vom
22. Oktober 2004 weitestgehend beseitigt worden sind.
Im Übrigen hat sich Deutschland international verpflichtet, den in der Richtlinie enthaltenen Verfahren und
Grundlagen Geltung zu verschaffen. Ein bisschen überrascht war ich über die Bemerkung in Ihrem Antrag,
dass in puncto Geldwäsche eigentlich schon alles gesetzlich Notwendige geregelt sei und dass man deshalb im
Kern keine Verbesserung mehr brauche. Vielleicht hat
ein Mitglied der hessischen CDU die Passage zur Geldwäsche in diesem Antrag geschrieben.
({5})
Ich glaube, dass wirklich noch einiges zu tun ist, um
Geldwäsche hier zu unterbinden.
({6})
Zu Punkt 9 - internationale Rechnungslegung -:
Die Einführung der einheitlichen internationalen Bilanzierungsstandards in Europa wäre ein wichtiger Schritt.
Probleme gibt es vor allem für die genossenschaftlichen
Institute. Wir sollten insgesamt mehr Transparenz für
Anleger und Investoren schaffen, um das beschädigte
Vertrauen in die Finanzmärkte - ich erinnere an die bekannten Fälle Enron und Worldcom - zurückzugewinnen.
Im Zuge der Überarbeitung der IAS 32 ist die Eigenkapitaldefinition dahin gehend geändert worden, dass
solches Vermögen nicht als Eigenkapital gelten kann,
das jederzeit kündbar ist und den Gläubigern somit nicht
uneingeschränkt zur Verfügung steht. Dies betrifft Genossenschaftsguthaben, Anteile an Personengesellschaften und stille Einlagen.
Die IAS 32 lässt jedoch eine wirtschaftliche Betrachtung von Eigenkapital zu, sodass Genossenschaftsguthaben als gesonderte Posten zwischen Eigen- und Fremdkapital ausgewiesen werden können. Die IAS-Verordnung
gilt im Übrigen lediglich für kapitalmarktorientierte Unternehmen. Die Mehrzahl der genossenschaftlichen Institute fällt jedoch nicht in diese Gruppe.
Zu Basel II ist anzumerken, dass die auch von Ihnen
in Ihrem Antrag geäußerten Bedenken der Bundesbank
von der Bundesregierung geteilt werden. Die Bundesregierung hat dies auch ohne Aufforderung durch den
Bundestag in den Verhandlungen auf europäischer
Ebene berücksichtigt. Wie Sie wissen, dauern die Verhandlungen auf europäischer Ebene dazu derzeit noch
an. Zuletzt hat sich der Ecofin-Rat am 7. Dezember 2004
auf die grundsätzliche Ausrichtung des Richtlinienvorschlags geeinigt. Die Verhandlungen gehen weiter. Bundesbank und Bundesregierung stimmen mit der in diesem Antrag geäußerten Einschätzung überein.
Ihre in Punkt 13 - Aktionsplan Corporate Governance - gemachten Ausführungen sind teilweise falsch.
Die Bundesregierung ist nur gegen einen gemeinsamen
Corporate-Governance-Kodex in Europa, nicht aber gegen alle europäischen Corporate-Governance-Maßnahmen.
Derzeit werden Neuerungen im Gesellschaftsrecht
erarbeitet, beispielsweise betreffend die Stärkung der
Unabhängigkeit von Wirtschaftsprüfern - 8. Gesellschaftsrechtsrichtlinie - und die Schaffung von mehr
Transparenz in Unternehmen - Novelle der 4. und der
7. Gesellschaftsrechtsrichtlinie -, was ebenfalls in den
Bereich der Corporate Governance fällt. Wir sind selbstverständlich dafür, dass diese Neuerungen umgesetzt
werden. Die Bundesregierung wird die Schaffung einer
besseren Transparenz im Bereich der Unternehmensführung auf europäischer Ebene nachhaltig unterstützen.
Negative Vorkommnisse auf dem Kapitalmarkt, die Anlass zu einer solchen Überarbeitung gegeben haben, sind
uns ja hinlänglich bekannt.
Auf andere Punkte wird der Kollege Krüger noch im
Einzelnen eingehen.
Ich komme zum Schluss. Es ist hier gute Tradition,
bei der Finanzmarktgesetzgebung Beschlüsse fraktionsFlorian Pronold
übergreifend zu fassen. Wer Gutes bewirken will, muss
auf der Höhe der Zeit sein. Sie von der Union schreiben
in Ihrem Antrag selbst, der Bundestag müsse sich aktiv
und rechtzeitig einbringen.
({7})
Diesem Anspruch wird Ihr eigener Antrag leider nicht
gerecht. Die Union hinkt der Entwicklung in einigen
Punkten deutlich hinterher. Gut, dass unsere rot-grüne
Bundesregierung auf europäischer Ebene nicht so schlafmützig ist wie die Opposition hier im Deutschen Bundestag.
({8})
Diesen Antrag kann man so nicht annehmen. Wir
werden seiner Überweisung an die Ausschüsse zustimmen. In Anknüpfung an die Tradition ist es aber durchaus möglich, dass dieser Antrag nach einer gründlichen
Überarbeitung und nach einer Aktualisierung Grundlage
für einen fraktionsübergreifenden Antrag wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig
Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir an dieser
Stelle über den Finanzplatz Deutschland - das ist eigentlich das zentrale Thema - reden. Der Finanzplatz
Deutschland ist nämlich für uns alle und für unsere
Volkswirtschaft enorm wichtig. Zwischen den unterschiedlichen Fraktionen sollte in dieser Frage nicht zu
viel Dissens bestehen. Die Debatte sollte ruhig und sachlich geführt werden.
Wir haben diesbezüglich in der Vergangenheit eigentlich immer gut zusammengearbeitet, und zwar insbesondere deshalb, weil dieser Bereich außerhalb des parteipolitischen Streits war, weil wir in diesem Bereich im
Wesentlichen gemeinsame Interessen verfolgt haben.
Über unsere gemeinsamen Interessen haben wir mit
sachverständiger Beratung ausführlich diskutiert. Das
hat zu Ergebnissen geführt, die den Finanzplatz
Deutschland gestärkt haben und vermutlich auch weiterhin stärken werden.
({0})
- Ich spreche den Punkt nicht grundlos an, Kollege
Dautzenberg.
Der Antrag ist mit fast 20 Punkten natürlich ein Potpourri. Es geht um unterschiedliche Punkte, die den Finanzmarkt betreffen, mit dem wir uns im Finanzausschuss ja häufig beschäftigen. Mir fehlt allerdings etwas
und das zielt in den Bereich Europa hinein. Es gibt gerade eine neue Europäische Kommission und ein neues
Europäisches Parlament. Wir müssten uns im Vorfeld
vielleicht einmal strukturiert mit der Frage beschäftigen,
welche Entwürfe und Richtlinien überhaupt in der Beratung sind; denn sind die Richtlinien einmal verabschiedet, haben wir diese Richtlinien nur noch umzusetzen,
können zwar in Details noch gestalterisch tätig werden,
darüber hinaus aber nicht. Wir sind im Grunde genommen gefordert, uns sehr frühzeitig mit diesen Initiativen
auseinander zu setzen,
({1})
damit wir an den Stellen, an denen wir Einfluss nehmen
können, auch tatsächlich die Chance dazu nutzen können. Dass wir es können, haben wir bewiesen, als es um
Basel II ging. Das werden wir auch zukünftig beweisen,
weil wir hier in der Regel in einem überparteilichen
Konsens arbeiten.
({2})
Bei diesem Antrag geht es im Grunde genommen um
zwei von vier Punkten der Einheitlichen Europäischen
Akte. Das ist zum einen der freie Dienstleistungsverkehr und das ist zum anderen der freie Kapitalverkehr.
Beide Bereiche müssen freier werden. Es darf nicht nur
die regulatorische Dichte steigen, sondern es müssen
möglicherweise auch Regulatorien abgebaut werden;
denn je mehr man reguliert - in einigen Bereichen ist es
erforderlich -, umso stärker wirkt das gegen diejenigen,
die in den Markt wollen.
Wenn wir uns anschauen, womit sich Sachbearbeiter
in Kreditinstituten und Finanzdienstleister überall beschäftigen müssen, dann stellen wir fest: Das ist auch für
diesen Personenkreis nur begrenzt durchschaubar. Überall sind Stäbe und einzelne Abteilungen in den Behörden
eingerichtet worden, weil eine normale Volksbank oder
eine normale Sparkasse das überhaupt nicht mehr handeln kann. Der Zustand sollte uns allen zu denken geben,
weil er eigentlich nicht richtig sein kann.
In einer Abwägung in den Fragen „Was können wir
herausnehmen? Wo können wir deregulieren? Wo müssen wir eventuell Regelungen treffen, auch im Interesse
der Verbraucher?“ einen vernünftigen Weg zu finden, ist
die Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Ich hoffe, dass
sich auch die Europäische Union, sowohl die Kommission wie auch das Parlament, dieser Aufgabe entsprechend stellt.
({3})
Es geht zum einen um die Liberalisierung der Finanzdienste und zum anderen um die Harmonisierung
der Banken- und Versicherungsaufsicht. Wir müssen
auch national einige Punkte abarbeiten, etwa betreffend
die BaFin. Es ist richtig, dass wir eine Bankenaufsicht
haben, die Eingriffsbefugnisse hat und tätig werden
kann. Aber auch in dem Bereich müssen wir aufpassen,
dass es nicht zu einer Verselbstständigung einer Behörde
kommt und dass nicht durch die Administration eine
Überregulierung erfolgt. Da liegt die Aufgabe des Gesetzgebers. Eventuell müssen einzelne Maßnahmen sozusagen in das Parlament zurückgeholt werden und muss
auch eine Exekutive wie die BaFin mit vom Parlament
kontrolliert werden.
Ich begrüße diesen Antrag für die FDP ausdrücklich,
weil ich davon ausgehe, dass wir uns nach einer Überweisung dieses Antrags an den Finanzausschuss ernsthaft mit unterschiedlichen Aspekten auseinander setzen.
Ich würde mich freuen, wenn das Finanzministerium,
das uns in der Regel über diese Fragen berichtet, diesen
Antrag zum Anlass dafür nähme, einmal strukturiert darzustellen, was unter der neuen Präsidentschaft der Europäischen Kommission eigentlich an Richtlinienentwürfen angedacht ist, damit wir uns frühzeitig darauf
einstellen können. Dass die Beamten in Brüssel in ihrem
Kämmerlein, flankiert von den nationalen Regierungen,
dazu beitragen, dass alles überreglementiert wird, kann
weder im Interesse der Bevölkerung noch im Interesse
des Parlaments sein. Insofern bin ich hoffnungsvoll, dass
wir weiterhin zusammenfinden, um auch in Zukunft gemeinsam für den Finanzplatz Deutschland zu streiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta KrügerJacob.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir dürften uns darüber einig sein, dass die Position der
europäischen Finanzmärkte nachhaltig gesichert und gestärkt werden muss. Nicht nur vor dem Hintergrund des
Lissabon-Prozesses müssen wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit steigern und einen angemessenen Rahmen für einen effizienten Finanzbinnenmarkt schaffen.
({0})
Gleichzeitig müssen wir bei aller Globalisierung und Europäisierung der Märkte das Vertrauen in die regionalen
und lokalen Märkte sichern. Denn auch in den nächsten
Jahren wird - das haben Umfragen gezeigt - im Bereich
des Retail Banking nur eine geringe Zahl von Verbrauchern die Produkte ausländischer Anbieter favorisieren.
Unser Fokus ist also auf den Finanzplatz Deutschland
zu richten, auch wenn dieser - um mit den Worten der
„Börsen-Zeitung“ zu sprechen - einer „Dauerbaustelle“
gleicht, auch wenn die Materie Kapitalmarktgesetze
kompliziert ist und der Finanzmarkt nicht zu den populärsten Themen zählt.
Jedoch sollten wir uns klar machen, dass der Finanzplatz Deutschland nicht nur ein realer oder virtueller Ort
ist, an dem sich Emittenten und Investoren treffen. Der
Finanzplatz, das sind wir alle. Der Finanzplatz beherbergt Kreditgeber und Kreditnehmer, Versicherer und
Versicherungsnehmer, Kleinsparer und Kapitalsammler.
Akteure sind Notenbanker, Banken-, Wertpapier- und
Versicherungsaufseher, bisweilen auch Staatsanwälte
und Steuerfahnder. Am Finanzplatz tummeln sich Ratingagenturen, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Immobilienmakler, Anlegerschützer, Vermögensberater, Öffentlichkeitsarbeiter und Journalisten. Sie sehen: Es bleiben
nicht allzu viele übrig, die nicht auf irgendeine Weise
mit dem Finanzplatz zu tun haben oder zumindest an
dessen Prosperität interessiert sein müssten.
Dies zeigt auch, dass in diesem Sektor der von der
Gesellschaft immer wieder geforderte Wandel von einer
Produktions- zu einer Dienstleistungsgesellschaft bereits
stattgefunden hat. Welche Ausmaße die Finanzmarktbranche in Deutschland heute schon erreicht hat, lässt
sich - Kollege Fahrenschon hat das bereits erwähnt durch den Vergleich mit der Automobilindustrie verdeutlichen. Die Bruttowertschöpfung der Finanzmarktbranche liegt um 30 Prozent höher und schon heute finden
dort 50 Prozent mehr Menschen Arbeit als in der Automobilindustrie.
Das ist ein Grund mehr, um sich dieser Branche intensiver zu widmen,
({1})
insbesondere wenn wir uns vor Augen führen, dass der
Finanzmarkt innerhalb der Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle spielt, da dessen Funktionsfähigkeit Wachstum
und wirtschaftliche Entwicklung gewährleistet und fördert. Die Bedeutung des Finanzmarktes und seiner Produkte wird künftig unter vielerlei Aspekten zunehmen,
zum Beispiel aufgrund steigender Anforderungen an
eine private Altersversorgung oder aufgrund neuer Finanzierungsformen, insbesondere für mittelständische
Unternehmen.
Es ist unsere Aufgabe, einerseits die Rahmenbedingungen für die Finanzindustrie attraktiv zu gestalten, andererseits den einzelnen Anleger und seine Interessen im
Auge zu behalten. Eine Maximalharmonisierung sollten
wir dabei nicht anstreben, da diese nicht nur die Entscheidungsfreiheit des Anlegers deutlich einschränken
würde, sondern auch mit erheblichem Bürokratie- und
Kostenaufwand und nicht zuletzt mit einer Verminderung des Verbraucherschutzes verbunden wäre.
Vielmehr wird es eine Herausforderung für uns darstellen, ohne allzu viele Regularien einen effektiven
Schutz insbesondere des Privatanlegers zu gewährleisten und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.
({2})
Einen Ausgleich zwischen wirksamem Anlegerschutz
und günstigen Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Finanzmarkt zu schaffen stößt dabei oftmals auf Widerstände, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, beim
KapInHaG. Dennoch ist dessen Umsetzung mit einer
persönlichen Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat
gegenüber dem Aktionär zur Realisierung angemessenen
Verbraucherschutzes erforderlich.
Das Vertrauen der Anleger gilt es zu stärken. Denn
dies ist Voraussetzung für die Investitionen in Unternehmen. Dieses Vertrauen zu gewinnen wird nur über Transparenz und effektive Kontrolle gelingen, um eine
Wiederholung der Skandale der Vergangenheit zu vermeiden.
({3})
Diese Forderung lässt sich als roter Faden durch die
einzelnen Bereiche ziehen, sei es Corporate Governance,
die Regulierung von Ratingagenturen oder die Hedgefonds. Für die Ratingagenturen wurden gerade grundlegende Verhaltensregeln beschlossen, mit deren Hilfe der
wirtschaftlichen Bedeutung Rechnung getragen wird.
Danach sollen die Agenturen unter anderem ihre Einstufungskriterien und jede Änderung des Ratings offen legen.
Ob die freiwillige Verpflichtung angenommen wird
und ausreichend ist, gilt es genau zu überprüfen; denn
nur bei strikter Befolgung sind Manipulationen ausgeschlossen. Die staatliche Kontrolle und Reglementierung
widerspricht dabei keineswegs dem Wunsch, mit so wenig Bürokratie wie möglich auszukommen. Vielmehr ist
sie auch im Zusammenhang mit dem Einführen innovativer Produkte unumgänglich. Wollen wir den Finanzplatz
Deutschland international wettbewerbsfähig machen und
auf die sich wandelnden und vielfältigen Bedürfnisse der
Kunden eingehen, kommen wir auch künftig nicht an innovativen Produkten vorbei, selbst wenn diese, wie die
Hedgefonds, nicht unumstritten sind. Um dem Sicherheitsbedürfnis des Anlegers nachzukommen, bedarf es
dann weitreichender Regelungen, wie wir sie mit dem
Investmentmodernisierungsgesetz geschaffen haben.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass insgesamt bereits ein Großteil des Aktionsplanes Finanzdienstleistungen umgesetzt wurde. Jedoch dürfen wir an
diesem Punkt nicht aufhören, das Gesamtkonzept zur
Harmonisierung der europäischen Finanzmärkte im
deutschen Interesse, zur Stärkung des Finanzplatzes
Deutschland, weiterzuentwickeln.
Danke schön.
({4})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Leo Dautzenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag positioniert sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
in einem zentralen Politikbereich des europäischen Binnenmarktes. Herr Kollege Pronold, wenn Sie hier die
Aktualität bestimmter Forderungen ansprechen, müssen
Sie auch die Daten des Antrages sehen. Wir sind nicht in
der glücklichen Lage wie Sie als Regierungsfraktion,
ganz aktuell, bis in die letzten Stunden hinein, Vorlagen
des Bundesfinanzministers zu bekommen. Sie hätten das
zumindest engagierter vortragen müssen, um hier einen
Durchbruch zu erzielen.
({0})
Der Kollege Fahrenschon hat bereits darauf hingewiesen, wie wichtig dieser Bereich für unsere Volkswirtschaft ist. Mein Vorredner hat die Organisation der europäischen Finanzmarktgesetzgebung und ihre Probleme
sehr treffend geschildert und sich auch zum Aktionsplan
Finanzdienstleistungen der EU-Kommission geäußert.
Ich werde vier der 18 in unserem Antrag genannten Einzelpunkte näher beleuchten. Ich möchte zwei Themen
mit aktuellem Bezug sowie zwei Themen von aus meiner Sicht grundsätzlicher Bedeutung diskutieren. Aktuell
möchte ich einiges zur Umsetzung von Basel II in der
EU und zu Clearing und Settlement in Europa sagen. Ich
werde einige grundsätzliche Anmerkungen zu den Themen Verbraucherschutz und Finanzmarktregulierung
machen. Zudem ist zu fragen, wie wir uns mit der
Stimme des Deutschen Bundestages in Europa mehr Gehör verschaffen können.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass der Deutsche Bundestag bei den Verhandlungen zu Basel II, also
in der Frage der Eigenkapitalunterlegungen von Bankkrediten, die deutschen Verhandlungsführer politisch
sehr gut unterstützt hat. Nunmehr müssen wir sehen,
dass die für uns günstigen Ergebnisse erhalten bleiben,
wenn Basel II in EU-Recht umgemünzt wird. Deshalb
begrüßen wir, dass in Art. 79 des Richtlinienvorschlages
der Kommission die von Deutschland in Basel eingebrachten Vereinfachungen für Retailkredite übernommen worden sind. Hiervon profitieren nach Aussage der
Bundesbank 90 Prozent aller Unternehmen in Deutschland. Ebenso begrüßenswert ist die Absicht der Kommission, in Art. 89 unter bestimmten Umständen einen
dauerhaften Partial Use zuzulassen. Dies ermöglicht es
gerade kleineren Banken, für weniger wichtige Kreditgruppen auf externe Ratings zurückzugreifen, auch
wenn andere Kredite nach dem internen Ratingansatz
bewertet werden. Das ist wiederum gut für unsere Volkswirtschaft.
Neben diesem Erhalt unserer Verhandlungserfolge
wird es ganz besonders darauf ankommen, dass wir in
Europa einheitliche Wettbewerbsbedingungen sicherstellen. Damit meinen wir aber nicht, dass keinerlei
nationale Besonderheiten bestehen dürfen. Wesentliche
Punkte sollten in Europa aber einheitlich geregelt sein.
Die Bundesbank hat hier auf zwei wichtige Aspekte hingewiesen, bei denen die Kommission nationale Wahlrechte vorsieht.
Erstens ist dies der so genannte Waiver. Danach soll
es unter klar definierten Umständen möglich sein, die
Beaufsichtigung eines Konzerns nur auf Mutterebene
durchzuführen. Die Beaufsichtigung der Töchter im Einzelfall ist davon unberührt. Die unterschiedliche Ausübung dieses Wahlrechts würde in Europa zu völlig
unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen führen.
Deshalb hat sich die Bundesbank zu Recht gegen ein solches Wahlrecht ausgesprochen. Allerdings bin ich mir
nicht sicher, ob wir der Bundesbank dahin gehend folgen
sollten, dass weiterhin unter allen Umständen auf der
Ebene des Einzelinstituts geprüft werden muss. Dies
scheint auf EU-Ebene kaum durchsetzbar zu sein. Andere Länder haben die Gruppenaufsicht bisher praktiziert, ohne dass es dort eine Gefährdung der Finanzstabilität gegeben hat. Wir sollten uns hier intensiv Gedanken
machen.
Dies gilt auch für den zweiten Punkt, auf den uns die
Bundesbank aufmerksam gemacht hat. Es geht hierbei
um die Frage, ob Forderungen gegenüber gruppenangehörigen Unternehmen von Kapitalanforderungen ausgenommen werden sollten. Auch hier sieht die Kommission ein Wahlrecht vor. Wir sollten uns nach
eingehender, ergebnisoffener Prüfung des Sachverhalts
für eine einheitliche europäische Regelung einsetzen.
Denn wir können uns auf dem Weg zum integrierten EUFinanzmarkt keine neuen Wettbewerbsverzerrungen
leisten.
Nur am Rande will ich erwähnen, dass wir uns ebenso
wenig Verzögerungen bei der Umsetzung von Basel II
leisten können, die durch Engpässe bei dem Übersetzungsdienst der Kommission entstehen.
Nun zum zweiten aktuellen Punkt, dem Clearing und
Settlement. Die in dieser Woche bekannt gewordene
Absicht der Deutschen Börse, die London Stock Exchange zu übernehmen, hat uns erneut in Erinnerung gerufen, dass wir in Europa eine Konsolidierung des Börsensektors sehen müssen und sehen werden. So wichtig
die öffentlichkeitswirksame Konsolidierung dieser
Marktteilnehmer auch ist: Noch wichtiger für einen EUweiten Wertpapiermarkt sind einheitliche Spielregeln
und Standards im Bereich des Clearings und Settlements, also beim Ausgleich von Ansprüchen aus Wertpapiergeschäften und ihrer anschließenden Abwicklung.
Wir sehen hier, größtenteils historisch bedingt, eine
nationale Zersplitterung, die dem Ziel eines homogenen
europäischen Marktes entgegensteht.
Wir haben in der EU nun die bizarre Situation, dass
die EU-Kommission Maßnahmen zum Clearing und
Settlement vorbereitet, während die Europäische Zentralbank und der Ausschuss der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörden bereits gemeinsame Standards erarbeitet haben. Dies hat bei den Betroffenen für
Unklarheit gesorgt, inwieweit die Vorgaben von EZB
und CESR gültig sind.
Der Deutsche Bundestag sollte sich deshalb dafür einsetzen, dass in Europa schnellstmöglich verbindliche
und inhaltlich klare Standards zum Clearing und Settlement gesetzt werden; denn nur damit kann ein fairer
Wettbewerb der unterschiedlichen Systeme garantiert
werden. Der Markt muss nachher entscheiden, welche
Systeme sich durchsetzen.
({1})
Ein weiteres Augenmerk - ich habe es vorhin schon
erwähnt - liegt auf dem Schutz der Verbraucher an
den Finanzmärkten. Das Vertrauen aller Marktteilnehmer in den Markt ist eine Grundvoraussetzung für effiziente Märkte. Allerdings möchte ich vor dem Glauben
warnen, dass Verbraucherschutzbestimmungen ein Allheilmittel sind. Fälle wie Enron oder Parmalat, bei denen
die Verantwortlichen von krimineller Energie getrieben
handelten, sind Fälle für die Justiz. Dies gilt bei aller
Vorsicht zum Teil wohl auch für den aktuellen deutschen
Fall Badenia.
Wir werden doppelt scheitern, wenn wir solche Fälle
von vornherein durch gut gemeinte Verbraucherschutzregeln verhindern wollen. Kriminelle Energie lässt sich
nur durch die Justiz bekämpfen. Die Regulierung darf
nicht so weit gehen, dass diejenigen, die ehrlich am
Markt arbeiten, durch zu hohe Auflagen behindert werden.
({2})
Deshalb gilt hier der Grundsatz, dass Transparenz, Vielfältigkeit und fairer Wettbewerb der beste Verbraucherschutz sind.
Ich darf abschließen mit dem Punkt „Einfluss des
Bundestages auf europäische Gesetzgebung“. Wir selbst
sorgen in der Zusammenarbeit mit unseren Kollegen im
Europäischen Parlament, aber auch durch die Präsenz
des Bundestages auf europäischer Ebene mit dafür, dass
wir rechtzeitig an der Gesetzgebung auf der Ebene der
Europäischen Union beteiligt werden. Wir sehen hier
gemeinsame Grundlagen. Herr Pronold, wenn das, womit Sie geendet haben, stimmt, dass es hier nämlich
durchaus Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt, dann
sind wir weiterhin auf gutem Wege.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Ulrich
Krüger.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Der für die heutige Plenardebatte vorlegte Antrag der
CDU/CSU-Fraktion zur europäischen Finanzmarktintegration deckt - um das trotz aller gegenseitigen Wertschätzung in Finanzdienstleistungsfragen gleich an den
Anfang zu stellen - meines Erachtens die angesprochene
Problematik nicht hinreichend ab.
({0})
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft, der wichtigste Absatzmarkt und einer der bedeutendsten Standorte für Finanzdienstleistungen in Europa. Dieses Gewicht müssen wir bei unseren Partnern demgemäß
angemessen einbringen. Dazu bedarf es eines aktuellen,
umfassenden, fundierten und gründlich ausgearbeiteten
Programms, das die Leitlinien für die Mitwirkung
Deutschlands in europäischen Institutionen absteckt.
Diesem Anspruch - ich habe es schon gesagt - wird der
Antrag nicht gerecht. Ich fordere Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU, daher bereits jetzt auf:
Lassen Sie uns gemeinsam in eine konstruktive und den
zuvor bezeichneten Ansprüchen genügende Diskussion
eintreten!
Die Gelegenheit hierfür ist günstig. Der EU-Aktionsplan für Finanzdienstleistungen - die Roadmap von
1999 - ist zu mehr als 90 Prozent abgearbeitet. Nunmehr
steht - da sind sich alle europäischen Institutionen
einig - eine Phase der Konsolidierung und der Implementierung im Finanzmarktbereich bevor. Das sieht
übrigens die EU-Kommission genauso. Wir sollten daher die Gelegenheit nutzen, dieses für die deutsche wie
auch für die europäische Volkswirtschaft eminent wichtige Politikfeld von uns aus gemeinsam zu bestimmen.
Nur so erreichen wir etwas für den Standort Deutschland. Die Integration des europäischen Finanzmarktes
wird nämlich nicht nur für die internationale Konkurrenzfähigkeit des EU-Finanzmarktes als Ganzes von
großer Bedeutung sein, sondern auch für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland, und garantiert damit Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze.
({1})
Ausgehend hiervon muss unsere Arbeit in den nächsten Jahren auf die zügige Umsetzung der im Rahmen des
Aktionsplanes eingestielten Maßnahmen gerichtet sein.
Dabei - ich sprach es bereits an - gibt es durchaus einige
Gemeinsamkeiten zwischen uns. Im Bereich „Clearing
und Abrechnung“ beispielsweise, der eben eine Rolle
gespielt hat, stimmen Ihre Ausführungen mit den Ausführungen und Ansichten der SPD im Wesentlichen
überein und unterstützen sogar derzeitige Aktivitäten in
diesem Bereich. Ihr Antrag steht damit auch in der Tradition der Bundestagsentschließung vom vergangenen
Jahr zu diesem Thema. Es wäre allerdings - dies nur als
Nebenbemerkung, trotz Vorweihnachtszeit - nett gewesen, wenn man im Antrag selbst kurz darauf eingegangen wäre und darauf hingewiesen hätte. Das wäre auch
nur fair gewesen.
Ein neuer Antrag müsste sich intensiv und umfassend
mit diesem Thema auseinander setzen. Wichtig ist dabei
für uns, dass bestehende und funktionierende Marktstrukturen nicht durch vorgeschobene Wettbewerbsargumente in Mitleidenschaft gezogen werden und dass vor
einem Tätigwerden der Europäischen Kommission in
diesem Bereich eine umfassende - ich wiederhole: eine
umfassende - Kosten-Nutzen-Analyse erfolgt.
Unverständlich im Antrag der CDU/CSU erscheint
mir die Anmerkung zur Regulierung von Hedgefonds,
soweit auf die US-Rechtslage Bezug genommen wird.
Die deutschen Regelungen gehen nämlich bekanntermaßen weit über das Regime der USA hinaus. Es bestehen
engere Zulassungsprüfungen. Es wird eine ständige Aufsicht über das Management von Hedgefonds verlangt.
Die allgemeinen Ausführungen im Antrag zum Anleger- und Verbraucherschutz mit den angeblich damit verbundenen bürokratischen Belastungen können aus unserer Sicht nur bedingt bejaht werden. Zwar ist es
grundsätzlich richtig, dass Verbraucherschutz, Unternehmensinteressen und Wettbewerb in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Verbraucherschutz muss aber dem Kundenbedürfnis angemessen
erfolgen.
({2})
Bei Finanzprodukten handelt es sich nunmehr allerdings
unbestritten um eine komplexe Materie. Hier kann auch
von dem so genannten mündigen und informierten Bürger nicht derselbe Wissensstand erwartet werden wie
beispielsweise bei einem normalen Warenkauf. Wir werden uns daher auch künftig dafür einsetzen, dass die Interessen der Finanzmarktakteure in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Wir sehen Bundestag und
Bundesregierung hier in der Rolle eines ehrlichen Maklers.
Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem die deutsche
Finanzindustrie zu den weltweiten Champions gehört, ist
bekanntermaßen die Rückversicherungsbranche mit
einem Marktanteil zwischen 25 und 30 Prozent. Es ist
daher wichtig, die unterschiedlichen Risikostrukturen
bei Versicherungen und Rückversicherungen deutlich zu
machen. Bei der Schaffung eines einheitlichen rechtlichen Rahmens für Rückversicherungen darf insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und auch
der europäischen Rückversicherer keinen Schaden nehmen, indem etwa Eigenmittelvorschriften über das Maß
hinaus verschärft werden.
Um auf den Antrag zurückzukommen: Unvollständig
ist meines Erachtens die Bewertung des LamfalussyVerfahrens. Die bezüglich dieses Verfahrens aufgeworfene Kritik ist bekanntermaßen bereits im Jahre 2002 im
Dialog zwischen Kommission und Europäischem Parlament auf fruchtbaren Boden gefallen. Das Europäische
Parlament hat bereits vor zwei Jahren begriffen, welche
Risiken einem ungeordneten und unkontrollierten Verfahren innewohnen. Das Recht, sich zu den Komitologiemaßnahmen zu äußern, und die Befristung dieser
Maßnahmen stellen aus heutiger Sicht - ich betone ausdrücklich: aus heutiger Sicht - einen angemessenen
Schutz dar.
Ausgeblendet ist allerdings in Ihrem Antrag all das,
was zurzeit - zumindest ich habe es so verstanden - im
Zusammenhang mit dem Problem der mangelnden
demokratischen Legitimation der so genannten LevelIII-Committees eine Rolle spielt: Wie können wir es
schaffen, dass Aufsichtsbehörden auf parlamentarische
Grundlagen gebettet sind? Oder anders herum formuliert: Wie können wir erreichen, dass Aufsichtsbehörden
nur auf der Basis einer entsprechenden parlamentarischen Grundlage tätig werden? Das gilt insbesondere
- da stimme ich Ihnen zu -, wenn man das LamfalussyVerfahren auch auf Banken, Versicherungen und Investmentfonds erstrecken will. Daran müssen wir arbeiten.
({3})
Finanzmarktthemen beschäftigen uns ferner nicht nur
im europäischen Kontext, sondern auch im Verhältnis zu
den USA. Der ins Leben gerufene Dialog zwischen der
Kommission und den US-amerikanischen Regulierungsbehörden beispielsweise über die Anerkennung von
IAS-Bilanzierungsstandards als gleichwertig mit den
US-GAAP sowie über die Anerkennung europäischer
Aufsichtsstandards für Wirtschafts- und Abschlussprüfer, aber auch über Fragen des vereinfachten Delistingverfahrens ist ein Punkt, den wir bei der Verfolgung dieses Antrages besonders sorgfältig begleiten müssen.
Ziel unserer Politik ist es und muss es sein, Marktzugangsregelungen auf beiden Seiten des Atlantiks abzubauen. Einige dieser Punkte kommen in Ihrem Antrag
aus unserer Sicht zu kurz; einige andere werden nicht erwähnt. Das Aufstellen von Handelsbildschirmen ist aus
unserer Sicht kein originäres Thema im Dialog Europäische Union-USA, sondern betrifft insbesondere das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und den USA.
Dieser Punkt ist also selbstverständlich im Rahmen der
deutsch-amerikanischen Gespräche weiter zu verfolgen.
Ein weiterer Punkt fehlt uns allerdings, nämlich Aussagen zum Delisting europäischer Unternehmen von
US-Börsen. Es kann nicht angehen, dass Unternehmen,
auch wenn sie nicht mehr in den USA registriert sind, so
lange einen Jahresabschluss nach US-GAAP vorlegen
müssen, wie sie über die lächerliche Zahl von 300 in den
USA ansässigen Aktionären verfügen. Auch hier muss
sich die europäische Seite bei der US-Börsenaufsicht
schlicht und ergreifend durchsetzen.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen einige aus
unserer Sicht bestehende Defizite des aktuellen Antrages
der CDU/CSU vor Augen geführt und verbinde das mit
der abschließenden Bitte: Treten Sie mit uns in einen
ganz konstruktiven Dialog ein, damit wir diesen Prozess
gemeinsam begleiten, ein würdiges Arbeitsprogramm
zur Finanzmarktintegration entwickeln und einen klar
definierten Arbeitsauftrag für die Bundesregierung auf
EU-Ebene verabschieden können.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich danke auch und schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4030 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldzustandsbericht 2004
- Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - Drucksache 15/4500 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Cornelia Behm,
Volker Beck ({1}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wälder naturnah bewirtschaften - Waldschäden vermindern - Gemeinwohlfunktionen sichern und Holzabsatz steigern
- Drucksache 15/4516 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Daniel Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bessere Rahmenbedingungen für die Charta
für Holz
- Drucksache 15/4431 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zum Waldzustandsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Waldzustandsbericht spricht eine deutliche
Sprache. Unseren Wäldern geht es so schlecht wie nie
zuvor. Woran liegt das? Luftschadstoffe und saure Böden
machen den Wäldern das Leben schwer. Klimaschwankungen mit extremen Ozonwerten und Schädlingskalamitäten stressen unsere Wälder. Hohe Wilddichten gefährden den Aufbau naturnaher Wälder. Wir haben in den
letzten Jahren große Anstrengungen zum Schutz der
Wälder unternommen, zum Beispiel durch unsere Luftreinhaltungspolitik. Schädigende Schwefelemissionen
wurden wirkungsvoll verringert. Das Kioto-Protokoll
tritt endlich in Kraft.
Heute sehen wir, dass unsere Bemühungen zur Luftreinhaltung in die richtige Richtung gehen. Sie reichen
aber nicht aus; denn die Fehler der Vergangenheit zeigen
immer noch ihre Wirkung, zum Beispiel in den Böden.
Hier ticken Zeitbomben. Schadstoffe haben sich über
Jahrzehnte eingelagert. Bei lang anhaltender Trockenheit, wie wir sie zum Beispiel im letzten Jahr erlebt haben, kommt es zu starken Schadstoffkonzentrationen.
Sie sind eine große Gefahr für die Wälder.
Die Besorgnis erregenden Ergebnisse des vorliegenden Waldzustandsberichtes haben selbst Experten überrascht; denn eigentlich hatten wir Anlass zur Hoffnung,
dass es mit den Wäldern jetzt wieder aufwärts geht. Die
Berichte der Vorjahre gaben positive Signale. Doch nun
wissen wir, dass wir von stabilen Verhältnissen ganz offensichtlich noch meilenweit entfernt sind. Wir müssen
uns also weiterhin sehr anstrengen, um das Durcheinander, das wir seit der Industrialisierung in der Natur angerichtet haben, wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen.
Was heißt das für den Wald? Es führt kein Weg daran
vorbei: Die Schadstoffe in der Luft müssen weiter runter.
Wir sind dazu bereit. Wir werden bei Klimaschutz und
Luftreinhaltungspolitik nicht locker lassen, auch dann
nicht, wenn uns der Wind ins Gesicht bläst; das wird er,
und zwar kräftig.
({0})
Denn natürlich bedeutet unsere Forderung „Runter mit
den Schadstoffen!“ einen puren Interessenskonflikt.
„Schadstoffe runter!“, das heißt im Klartext: weniger
Massentierhaltung, weniger Gülle in der Landwirtschaft
und weniger Autofahren für jeden Einzelnen von uns.
Wer will das schon? Natürlich ist es toll, sich ins Flugzeug oder ins Auto setzen und überallhin fahren zu können. Niemand möchte auf sein preiswertes Steak verzichten. Keiner will die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Landwirtschaft gefährden. Aber was, meine Damen und
Herren, wird mit dem Patienten Wald? Geben wir ihm
eine Zukunftschance?
Unsere Aufgabe ist es, politische Lösungen aufzuzeigen. Das machen wir mit unserem vorliegenden Antrag.
Wir haben einen umfangreichen Forderungskatalog zum
Schutz des Waldes erarbeitet. Er umfasst Klimaschutz,
Schadstoffminderungsstrategien, Waldumbau sowie
Stärkung des Holzabsatzes und der Gemeinwohlfunktion. Ich greife sechs Forderungen aus unserem Antrag
heraus:
Erstens. Wir müssen die erneuerbaren Energien in
Deutschland weiter voranbringen; dazu gehört übrigens
auch das Holz. So tragen wir zum Klimaschutz auf nationaler Ebene bei. Wir fordern die Bundesregierung auf,
auf internationaler und auf europäischer Ebene das
Kioto-Protokoll weiter voranzubringen und die Maßnahmen zur Senkung des Treibhausgasausstoßes auszubauen.
Zweitens. Die Versauerung der Waldböden durch
Ammoniakemissionen muss gestoppt werden. Wir begegnen der zunehmenden Versauerung der Waldböden
mit unserem Programm zur Reduzierung von Ammoniakemissionen. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang
das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Denn wenn zum Beispiel mehr Gülle in Biogasanlagen verwertet wird, wirkt
sich dies auch positiv auf Böden und Luftreinheit aus.
({1})
Diesen Weg müssen wir weitergehen. Wir brauchen auch
die Novellierung der Düngeverordnung, um Ammoniakeinträge in den Wald und den Stickstoffüberschuss zu
vermindern.
Drittens. Es ist ganz wichtig, die Ursachen der Versauerung der Böden zu bekämpfen. Wir müssen aber
auch Schadensbegrenzung betreiben, denn es haben sich
leider viele Jahrzehnte lang Schadstoffe im Boden angesammelt; auch mit denen müssen wir umgehen. Deshalb
wollen wir, dass die Förderung von Bodenkalkungen
im Wald mindestens auf dem derzeitigen Stand erhalten
bleibt. Mehr wäre natürlich besser.
Viertens. Beim Umbau der Wälder sind wir ein großes Stück vorangekommen. Wir müssen den Weg der
naturnahen Waldbewirtschaftung konsequent weitergehen.
({2})
Wir brauchen widerstandsfähige Mischwälder mit standortheimischen Baumarten, die langfristig schweren Stürmen und Trockenheit besser standhalten.
Fünftens. Wir wollen, dass der Waldumbau und die
Leistungen der Forstwirtschaft für den Klimaschutz und
das Gemeinwohl zukünftig noch besser honoriert werden. Wenn wir die Fördertöpfe von Bund, Ländern und
der EU clever zusammenbinden, sehe ich gute Möglichkeiten, dass wir zukünftig mehr Mittel für den Wald
zur Verfügung haben werden.
Sechstens. Wir fordern eine Stärkung des Holzabsatzes. Den Wäldern geht es zwar verdammt schlecht,
aber sie wachsen. Wir haben deutlich mehr Holz, als wir
verbrauchen; das zeigt die jüngste Waldinventur. Holz ist
ein idealer, nachwachsender Energiestoff und Baustoff.
Also nutzen wir ihn doch. Warum, meine Damen und
Herren, sehe ich hier im Plenarsaal kein Holz? Soweit
das Auge reicht: nur Beton! Kann es sein, dass Sie beim
Bau des Regierungsviertels nicht aufgepasst haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition?
Umweltschutz und Wirtschaft sind zu unserem Leidwesen ganz oft Gegenspieler; das erleben wir gerade in
der Politik fast jeden Tag. Beim Holz ist das anders:
Durch eine intensivere wirtschaftliche Nutzung der Wälder leisten wir gleichzeitig einen Beitrag zum Klimaschutz. Denn Holz ist in seiner Energiebilanz CO2-neutral. Mehr Klimaschutz wiederum hilft dem
angeschlagenen Patienten Wald auf die Beine. Gesunde,
stabile Wälder sind gleichzeitig Voraussetzung für eine
langfristige intensive Holznutzung. So, meine Damen
und Herren, schließt sich der Kreis. Engagement für den
Wald ist somit eine Win-win-Situation, bei der es keine
Verlierer gibt. Wo haben wir sonst schon eine so wunderbare Situation?
Wir werden deshalb den Absatz von Holz aus deutschen Wäldern weiter voranbringen. Dazu brauchen wir
wettbewerbsfähige Holz verarbeitende Betriebe. Hier
hat sich in den letzten Jahren viel getan. So wurde mit
Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung zum
Beispiel das hoch moderne Zellstoffwerk in Stendal aufgebaut. Unser Masterplan für verstärkten Holzabsatz
und -einsatz ist die Charta für Holz. Mit der Charta wollen wir den Absatz von Holz in den nächsten zehn Jahren
um 20 Prozent steigern. Dieses ehrgeizige Ziel können
wir erreichen, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
({3})
Wir haben Ihnen also einen kompetenten und zukunftsweisenden Antrag unter den Weihnachtsbaum gelegt.
Auch die Opposition hat sich mit dem Thema Wald
befasst. CDU/CSU und FDP haben ebenfalls Anträge
ausgearbeitet, die ich nun würdigen werde. Zunächst
komme ich zu den Gemeinsamkeiten, die es zum Glück
auch gibt. In der Zustandsbeschreibung unserer Wälder
gibt es in allen drei Anträgen viele Übereinstimmungen,
was eigentlich keine Überraschung ist.
Wir beschließen aber nicht über den beschreibenden
Teil der Anträge, sondern über die Forderungen. Deshalb
müssen wir auch den Forderungsteil der Anträge genau
unter die Lupe nehmen. Wie sieht es hier aus, meine Damen und Herren? Auf der ökonomischen Seite, also beispielsweise bei der Steigerung des Holzabsatzes und der
Stärkung des heimischen Holzes, finden wir Übereinstimmungen. Die Charta für Holz finden alle gut. Einig
sind wir auch, wenn es um die Verhinderung illegaler
Importe von Urwaldholz geht. Das war es dann aber
auch schon; hier hören die Gemeinsamkeiten auf.
Wo, meine Damen und Herren von der Opposition,
sind Ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Ursachen
des schlechten Waldzustandes?
({4})
Es wäre schön, wenn Sie mir einmal erklären könnten,
wie Sie von den hohen Emissionen in Verkehr und Landwirtschaft herunterkommen wollen. Wo sind Ihre Konzepte? Im Antrag finde ich darüber nichts. Die von Ihnen
immer wieder nach vorne gebrachten Waldkalkungen
reichen allein überhaupt nicht aus; denn Sie bekämpfen
damit nur die Symptome, nicht aber die Ursachen. Mit
diesem Thema könnte ich noch weiter fortfahren. Da die
Lampe jedoch schon blinkt, muss ich zum Ende kommen.
Mit Ihren Anträgen ist es wie immer: Sie beklagen
den Zustand des Waldes. Wenn es aber darum geht, die
Ursachen der Schäden zu beseitigen, fehlen Ihnen die
Worte. Unsere Politik dagegen ist klar: Wir tun etwas
zum Klimaschutz, zur Luftreinhaltung und zur Schadstoffminderung.
({5})
Wir bauen die Wälder naturnah um und stärken die heimische Waldwirtschaft mit der Charta für Holz.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cajus Julius
Caesar.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Zahlen im Waldzustandsbericht betrachten, die von unseren Forstexperten zusammengetragen wurden, dann können wir nur feststellen, dass der
deutsche Wald leidet. Noch vor wenigen Monaten trug
die zuständige Ministerin hier vor, dass es dem Wald
besser gehe, was auf die gute Politik der Bundesregierung sowie von ihr persönlich und auf die von Rot-Grün
gesetzten Rahmenbedingungen zurückzuführen sei. Angesichts dessen muss sich die Ministerin auch für das
verantworten, was jetzt an Zahlen und Daten vorliegt.
Die miserablen Zustände sind auf eine desolate Politik
der Bundesregierung zurückzuführen.
({0})
Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung der Bedeutung des Waldes gerecht wird, seiner Bedeutung als
grüner Lunge, als nachhaltiger Rohstofflieferant, als unser Erholungsgebiet, als unser Wasserfilter und -speicher
und nicht zuletzt als Garant für Artenvielfalt und natürlich auch seltene Biotope.
({1})
Sie sind gefordert, durch eine praxisfreundliche Forstwirtschaft im Sinne des Umweltschutzes diese Bedeutung des Waldes zu stärken.
({2})
Unser Wald ist etwas Lebendes. Deshalb können wir
es nicht verantworten, wie Sie von Rot-Grün die Waldbesitzer mit immer neuen Verboten, Geboten, Richtlinien, Leitlinien, Festsetzungen und Reglementierungen
im Dschungel von Gesetzen und Verordnungen drangsalieren und damit weder dem Wald und den Waldbesitzern noch der Entwicklung des Waldes und seiner Gesunderhaltung einen Dienst erweisen. Nein, das ist nicht
unsere Politik. Wir als Union stehen für eine praxisfreundliche Politik.
({3})
Für uns, für die Union, ist die Bewahrung der Schöpfung und damit der menschlichen Lebensgrundlage von
großer Bedeutung. Deshalb setzen wir uns national wie
auch international dafür ein, dass wir im Sinne des Klimaschutzes und damit auch im Sinne unseres Waldes,
also im Sinne einer gesunden Umwelt vorankommen.
({4})
Die enorme Bedeutung unserer Forstwirtschaft für
Arbeitsplätze, für das Klima, für die Umwelt und damit
für unsere gesamte Gesellschaft gilt es anzuerkennen.
Wenn man beispielsweise verspricht, die durch die Ausweisung von Schutzgebieten wie FFH-Gebieten entstehenden Beeinträchtigungen der Betriebe ausgleichen zu
wollen, dann muss man diese Versprechungen auch halten. Das ist bei der jetzigen Bundesregierung in keinerlei
Weise zu erkennen.
({5})
Man kann daraus folgern: Diese Bundesregierung
kommt im wahrsten Sinne des Wortes auf keinen grünen
Zweig.
({6})
Der Zustand unserer Wälder bereitet erhebliche
Sorge. Wir haben es mit beträchtlichen Verschlechterungen zu tun. Die Zahlen sagen aus, dass es sich seit 1984,
dem Beginn der Aufnahme des Waldzustandes, um den
schlechtesten Zustand handelt. Wenn wir die Zahlen im
Einzelnen betrachten, so können wir feststellen, dass
über 50 Prozent der Buchen - bei den älteren Buchen sogar zwei Drittel - geschädigt sind. Bei den Eichen handelt es sich um etwa die Hälfte des Bestandes, der Schäden aufweist. Dies ist natürlich darauf zurückzuführen,
dass insbesondere das Laubholz im besonderen Maße
unter einer Bodenversauerung leidet, weil es einen basischen Bodenzustand braucht, also einen höheren pHWert. Es ist festzuhalten, dass sich dieser Wert in den
vergangenen Jahren um ein bis zwei Punkte verschlechtert hat. Ein Punkt ist einer zehnfachen Versauerung
gleichzusetzen; zwei Punkte bedeuten eine bis zu hundertfache Versauerung. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf.
({7})
Diese Übersäuerung der Böden hat gravierende Auswirkungen auf die Bodenfruchtbarkeit und auf das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten, auf die Qualität
unseres Wassers und damit auch auf unser Grundwasser.
Nährstoffe werden ausgewaschen, es findet eine Schwermetallanreicherung statt. Insofern besteht dringender
Handlungsbedarf, damit wir für unsere Bürger jetzt, aber
auch für unsere Kinder und für die zukünftigen Generationen sorgen. Gesunder Wald bedeutet Artenvielfalt,
bedeutet gesunde Umwelt, bedeutet aber auch gesundes,
sauberes Wasser, das wir zum Leben dringend brauchen.
Deshalb ist es wichtig, der Gesunderhaltung unserer
Wälder entsprechend ihrer Bedeutung Priorität einzuräumen.
({8})
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie endlich handelt. Wir erwarten die Reduzierung von Schadstoffbelastungen. Sie kann zum Beispiel im Bereich des
Verkehrs im Besonderen durch den Einsatz von biogenen Kraftstoffen und Schmierstoffen erfolgen.
({9})
Dies bedeutet aber auch, dass Sie sich mehr dafür einsetzen müssen - darin gebe ich Ihnen Recht -, endlich auch
im Bereich des Holzes als Rohstoff und Energielieferant
mehr zu tun, als dies bisher der Fall ist.
Insbesondere im Bereich der Klimaschutzpolitik,
Frau Kollegin, haben Sie versagt. Schauen Sie sich nur
an, wie die CO2-Emissionen unter der Unionsregierung
gesunken sind und welche Erfolge auf diesem Gebiet zu
verzeichnen waren,
({10})
während sie im Verlaufe Ihrer Regierungszeit gestiegen
sind. Sie müssen doch anerkennen, dass die vorige Regierung im Sinne des Klimaschutzes gehandelt hat und
in Bezug auf die entsprechende Politik Ihrer Regierung
viele Fragen offen sind. Wir wollen mit Trittin, Künast
und Schröder in der Klimaschutzpolitik und bei der CO2Reduzierung jedenfalls keine Bruchlandung erleiden.
Wir möchten, dass die Rahmenbedingungen für unseren
Wald unkompliziert und damit auch abgabenreduzierend
gestaltet werden. Das kann nur dadurch geschehen, dass
Sie entsprechende Maßnahmen ergreifen.
Mit Recht haben Sie vorhin gesagt, dass sich die
Union für Kompensationsmaßnahmen durch Bodenschutzkalkung einsetzt. Dies ist für uns eine richtige
und wichtige Maßnahme. Sie verweisen darauf, dass das
bis zu 90 Prozent gefördert wird. Dabei vergessen Sie,
dass der Waldbesitzer als Eigenleistung die Mehrwertsteuer in Höhe von 16 Prozent aufzubringen hat, obwohl
es eine Maßnahme für die Gesellschaft ist; denn für den
Schadstoffeintrag und die schlechten Rahmenbedingungen kann man die 1,3 Millionen Waldbesitzer weiß Gott
nicht verantwortlich machen. Dafür müssen wir die Regierung verantwortlich machen. Insbesondere hier gibt
es Handlungsbedarf.
({11})
- Wenn Sie das nicht glauben, kann ich Ihnen auch die
Zahlen nennen.
Wir haben 11 Millionen Hektar Wald. Experten, nicht
die Union, haben festgestellt, dass fast zwei Drittel davon, nämlich 7 Millionen Hektar, gekalkt werden müssen.
({12})
Jetzt sagen Sie mir bitte einmal, wie viele Hektar pro
Jahr gekalkt werden. Es sind nur 100 000 Hektar pro
Jahr mit abnehmender Tendenz. Ich meine schon, dass
die öffentliche Hand eine Vorbildfunktion insbesondere
auch auf den eigenen Bundesflächen übernehmen
müsste. Wo tun Sie hier denn etwas? Auch auf den Bundesflächen geht der Umfang der Kalkungsmaßnahmen
doch zurück. Ich meine, die Regierung könnte hier einiges tun; denn es gibt erhebliche Defizite. Sie sagen, Sie
seien hier auf dem Marsch nach vorne. Das ist einfach
nicht richtig.
Auch bezüglich der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ haben Sie in Ihrem Antrag
ausgeführt, dass Sie mehr tun wollen.
({13})
Tatsächlich kürzen Sie die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ im Haushalt 2005 um 45 Millionen Euro. Das ist Ihre unglaubwürdige Politik und nicht die Politik der Union.
({14})
Sie lassen den Wald im sauren Regen stehen. Deshalb
können wir hier nicht vorankommen.
({15})
Wenn man den Veröffentlichungen der Ministerin
glauben darf, dann hat sie - wohl deshalb, um von ihrer
Politik abzulenken - in den letzten Tagen das Wild dafür
verantwortlich gemacht, dass der Waldzustand so
schlecht ist. Ich habe mir immer vorgestellt, dass diese
Ministerin gegen gentechnische Veränderungen ist. Bei
der Waldzustandsaufnahme werden jedoch nicht der Boden und die Flora betrachtet, sondern die Baumkronen.
Ich frage mich allen Ernstes, wie die Rehe und die Hirsche in die Kronen kommen sollen. Ich meine, ein Waldspaziergang unter fachkundiger Anleitung wäre sinnvoll,
um wichtige, fachkundige und einer Ministerin angemessene Äußerungen tätigen zu können. Vielleicht kann
die Kollegin Marlene Mortler dabei hilfreich sein und
Ihnen einiges Fachkundige sagen. Es ist nicht der richtige Weg, pauschale Verunglimpfungen von Jägern und
Waldbesitzern vorne anzustellen. Das ist gegen die Vorstellungen der Union.
({16})
Es ist auch nicht richtig, wenn Sie ein Zertifizierungssystem, nämlich das FSC-System, bevorzugen.
Wir als Union sehen das PEFC-System als sehr viel praxisfreundlicher an. Ich darf ein Beispiel nennen: Im Rahmen des FSC-Systems ist die Bodenbearbeitung untersagt. Wir von der Union wollen einen naturnahen Wald
und eine natürliche Verjüngung. Dies kann man erzielen,
indem man die Bodenbearbeitung mit der Bodenkalkung
kombiniert. Dadurch kommt man insbesondere beim
Laubholz zur Naturverjüngung. Durch Ideologie und
eine einseitige Bevorzugung des FSC-Systems schließen
Sie dies aus. Das ist nicht in unserem Sinne. Wir als
Union wollen den naturnahen Wald durch Naturverjüngung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Dr. Christel Happach-Kasan ({17})
Ich darf sagen, dass sich die Union sehr gefreut hat,
als diese Regierung die Charta für Holz vorgelegt hat.
Wir haben dies sehr oft eingefordert; jetzt endlich ist es
gelungen. Diese Charta für Holz besagt, dass es einen
enormen Holzzuwachs gibt und dass nur 61 Prozent dieses Holzzuwachses tatsächlich genutzt werden.
({18})
Deshalb ist es natürlich wichtig, dass wir als Politiker
dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen für die
Holzverwendung und Holzvermarktung entsprechend
gestaltet werden. Dazu gibt es bestimmte Gremien und
Einrichtungen, zum Beispiel den Holzabsatzfonds. Nur
14 Tage nach der Verkündung der Charta für Holz wurde
der Entwurf für ein Holzabsatzfondsgesetz vorgelegt,
das vorsieht, 700 000 Euro oder 7 Prozent weniger Geld
für Holzvermarktung und für all das, was wir hier vortragen und uns wünschen, zur Verfügung zu stellen. Das ist
die Politik dieser rot-grünen Regierung. Dieser Politik
kann man nicht vertrauen.
({19})
Ich meine auch, dass der Bund eine Vorbildfunktion
hat, Holz in Ministerien, Gebäuden und Einrichtungen
zu verwenden. Holz ist auch ein Energielieferant. In
manchen Nachbarländern wird zwei- bis fünfmal so viel
Holz verwendet wie in Deutschland. Daran sollte man
sich orientieren. Hier gibt es viel zu tun. Wenn Sie deutlich machen, dass Sie Subventionen für nicht erneuerbare Rohstoffe abbauen wollen - wie es in dem Antrag,
den Sie heute vorgelegt haben, steht -, unterstützen wir
Sie. Aber wenn der Kanzler erklärt, dass die Kohlesubventionen um ein paar Milliarden Euro erhöht werden,
dann widerspricht das Ihrem Antrag und Ihren Aussagen, die schriftlich vorliegen. Wir sind aber schon daran
gewöhnt, dass der Kanzler das Gegenteil von dem erklärt, was Sie hier vorlegen.
({20})
Das ist keine glaubwürdige Politik. Wir fordern Sie
auf: Ergreifen Sie schnellstmöglich die notwendigen
Maßnahmen zur Gesunderhaltung unserer Wälder!
Diese müssen auf eine modern ausgerichtete Forstwirtschaft abzielen. Damit kann aus dem kleinen Pflänzchen
über Generationen hinweg wieder ein alter, starker und
gesunder Baum werden. Dafür wird sich die Union einsetzen. Unser Wald, unsere Forstwirtschaft und unsere
Menschen brauchen eine Zukunft.
Danke schön.
({21})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Renate
Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Caesar, ich weiß zwar, dass es den schönen Satz gibt
„Man soll Gott für alles danken, vor allem für die Franken“. Wie dieser Satz aber so ausgelegt werden kann,
dass ich mit Frau Mortler durch den Wald gehen soll, ist
mir unerklärlich.
({0})
- Nein, ich habe nichts gegen Franken.
Sie werden mir nachsehen, dass ich lange bevor Sie
angefangen haben, Ihren Redebeitrag zu schreiben, mit
Förstern im Wald war. Wenn Sie auch nur einen Hauch
von Sachverstand besitzen - ich weiß, dass Sie ihn haben, aber Ihrer Rede war das nicht immer anzumerken -,
dann wissen Sie doch, dass alle Forstfachleute aus gutem
Grund den Zustand der Krone als Indikator nehmen, um
zu erklären, wie die Situation des Waldes ist. Diese Festlegung haben Fachleute erfunden, die uns auch die Zahlen zugeleitet haben.
({1})
Kommen wir wieder zum Ernst der Sache. Der Wald
befindet sich in einer ganz prekären und schwierigen
Situation. Man muss sagen: Der Wald kämpft im Augenblick gegen einen Giganten, die globale Klimaerwärmung. Das bedeutet für den Wald Dürre, Überschwemmung und Insektenbefall. All diese Faktoren als Folge
der globalen Klimaerwärmung üben auf den Wald einen
so großen Druck aus, dass wir von einem neuen Waldsterben sprechen müssen. Fakt ist: Nur 28 Prozent des
gesamten Baumbestandes sind noch vollkommen frei
von sichtbaren Schäden. Besonders betroffen sind die
für uns wertvollen Laubbäume. Etwa die Hälfte der Buchen und Eichen weist deutliche Blattverluste auf.
Die Gründe liegen aber nicht nur bei dem Giganten
globale Klimaerwärmung bzw. Klimawandel, sondern es
besteht das Problem der ökologischen Verletzbarkeit von
Monokulturen im Wald. Darüber hinaus haben wir das
Problem der Schadstoffbelastung durch Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Wenn wir nicht wollen, dass in
unseren Regionen in Zukunft nur noch Krüppelkiefern
wachsen, dann reicht es eben nicht, als alleinige Lösung
Kalken, Kalken, Kalken zu propagieren. Wir können
nicht alles verkalken. Daraus könnte ich jetzt ein Wortspiel machen, was ich mir aber erspare. Es reicht nicht,
mit dem Kalken Symptome zu bekämpfen, sondern man
muss umfassende Maßnahmen ergreifen.
({2})
Frau Bundesministerin Künast, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Goldmann?
Bitte.
Bitte, Herr Goldmann.
Frau Ministerin, Sie haben erklärt, dass sich die Situation dramatisch verändert hat. Ich möchte Sie fragen, wo
die Ursachen dafür liegen. In der „WamS“ vom
13. Juli 2003 antworten Sie auf die Frage „Ist bei uns das
Waldsterben überwunden?“: „Ja. Wir haben den Trend
umgekehrt. Der Wald wächst wieder gesünder …“
In der „WamS“ vom 7. November 2004 sagen Sie, der
Wald sei so krank wie nie zuvor. Das finde ich eigenartig. Vor einem Jahr haben Sie gesagt, dass es dem Wald
besser gehe, weil Sie als grüne Ministerin am Werk
seien, und jetzt sagen Sie auf einmal, obwohl Sie immer
noch am Werk sind, dem Wald gehe es schlecht. Können
Sie mir das erklären?
({0})
Das erkläre ich gerne. Ich weiß, dass im Interview garantiert nicht gestanden hat, dass das deshalb der Fall ist,
weil die grüne Ministerin am Werk war. Das war sicherlich ein kleiner Zusatz von Ihnen. Ich erinnere mich daran noch bestens.
Der Punkt war folgender: Wir hatten festgestellt
- schauen Sie sich die Statistiken des Waldzustandsberichts an! -, dass die Waldfläche zunimmt. Es wurde gesagt, dass von der Zunahme heute nur 60 Prozent genutzt
werden. Gleichzeitig gab es keine Zunahme der Waldschäden. Dann haben die Dürre des Jahres 2003 und einige andere Einflüsse dazu geführt, dass sich die Schäden verstärkt haben. Wenn Sie das zeitlich mit dem
genannten Datum vergleichen, dann haben Sie die Erklärung.
Ich will eines klar sagen: Das, was wir brauchen, ist
eine nachhaltige Waldpolitik, und zwar nicht nur national, sondern auch global.
({0})
Deshalb ist dieser Antrag so wichtig. In dem Antrag
werden verschiedene Punkte zusammengebracht: der
Umbau des Forstes zu standortangepassten Mischwäldern, Emissionsminderung und Holznutzung. Wir müssen mit der Nachhaltigkeit Ernst machen. Das geht nicht
ohne Veränderungen.
Herr Caesar hat aufgeführt, wofür Sie alles sind. Ich
sage Ihnen einen Spruch, den viele in der Schule gelernt
haben: Hic Rhodus, hic salta! Sie dürfen nicht nur Reden
halten, sondern Sie müssen dafür Sorge tragen, dass Ihre
Kollegen - auch Frau Mortler - an anderer Stelle etwas
tun. Man kann nicht auf der einen Seite fordern, viel für
den Wald zu tun, aber an anderer Stelle, zum Beispiel
beim EEG oder beim Agrardiesel, blockieren.
({1})
An jeder einzelnen Stelle blockieren Sie. Diese Dinge
gehören zusammen.
({2})
„Hic Rhodus, hic salta!“ heißt es. Machen Sie mit bei der
Charta für Holz! Sie kritisieren die Regelungen zum
Holzabsatzfonds. Auf der anderen Seite fordern Sie, insbesondere Herr Merz, einen Subventionsabbau. Sie können nicht darüber klagen, dass der Staat für Dienstleistungen, die er erbringt, Gebühren erhebt. Diese Gebühren
decken den Arbeitsaufwand. Jeder Mensch, der einen
neuen Personalausweis beantragt, muss die Arbeit des öffentlichen Dienstes bezahlen. Warum denn nicht an dieser
Stelle? Das können Sie keinem erklären.
({3})
Dann müssen Sie auch bei dem Programm, das die Ammoniakemission der Landwirtschaft betrifft, mitmachen,
weil Ammoniak eine Belastung für den Wald darstellt.
Ferner müssen Sie beim EEG und bei der Novellierung
des Bundeswaldgesetzes, die nun kommen wird, mitmachen. Diese wird auf eine andere Waldbewirtschaftung
abzielen.
Es geht nicht nur um nationale Maßnahmen, sondern
auch um viele andere Dinge, die wir mit dem Umweltministerium und dem BMZ erarbeiten. Es geht um die
Bekämpfung von illegaler Holzernte und von illegalem
Holzhandel. Die Wirtschaft muss dazu beitragen, dass
erkennbar wird, woher sie die Produkte nimmt. Diese
sollen zertifiziert werden, damit die Menschen etwas für
die Erhaltung des Waldes bei uns und in der Welt tun
können. Sie müssen bei der Zertifizierung und einer eindeutigen Verbraucherpolitik mitmachen.
({4})
Sie müssen auch bei der FSC-Zertifizierung der Wälder
mitmachen. Es kann nicht sein, dass wir für den Tropenwald auf den Philippinen eine Forderung aufstellen, die
wir bei uns nicht umsetzen. Das wäre ein wenig arrogant.
({5})
Ich bitte um entsprechende Unterstützung.
Ich könnte noch viele andere Punkte nennen. Klar
muss sein, dass die Verbraucher erkennen, was sie kaufen. Es gibt keine Alternative zu einer konsequenten
Umwelt- und Waldpolitik. Sie haben an der Verleihung
des Friedensnobelpreises an Frau Maathai aus Kenia gesehen, welche Bedeutung der Wald hat. Sie sehen es
auch zurzeit auf den Philippinen, wo Unwetter und der
Klimawandel besonders stark zugeschlagen haben.
Es geht beim Wald um mehr als ein Symbol und darum, wer daran Geld verdient. Es geht vielmehr um die
Frage, wie wir Luft und Klima für künftige Generationen erhalten. Dabei gilt es, eine konsistente Politik zu
betreiben. Darauf freue ich mich. Ich werde alle Zitate
Ihrer Rede mit Freude an anderer Stelle nutzen und auch
darauf achten, ob die CDU/CSU dazu steht.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Hiller-Ohm, ein endloser Forderungskatalog, wie
Sie ihn vorgelegt haben, ersetzt keine gute Politik. Ein
endloser Forderungskatalog ersetzt nichts.
Frau Künast, ich habe den Eindruck, dass Sie beim
Thema Wald eindeutig auf dem Holzweg sind.
({0})
Wenn der Wald in Deutschland dieselbe Förderung erhielte, wie Sie sie dem Ökolandbau angedeihen lassen,
dann wäre es um unseren Wald um einiges besser bestellt.
({1})
Der Forstschutzexperte Professor Michael Müller aus
Tharandt hat in der Wochenzeitung „Die Zeit“ kürzlich
festgestellt: „Wo Wald lebt, kränkelt er.“ Das hat uns alle
überrascht, aber es ist trotz allem eine beruhigende
Nachricht. Der Wald lebt.
Dennoch lädt diese Nachricht nicht zum Ausruhen
ein; denn das Cluster Forst und Holz bietet etwa
1 Million Menschen in Deutschland Arbeit. Diese Menschen brauchen einen gesunden Wald.
({2})
Unser aller Herz hängt an unseren Wäldern. Jeder hat
ein Bild der Wälder seiner Heimat vor Augen. Wir alle
wollen die Vitalität unserer Wälder erhalten und fördern.
Kurz vor Weihnachten, den Weihnachtsbaum im
Blick, will ich die Gemeinsamkeiten hervorheben, liebe
Cornelia Behm. Die Versauerung der Waldböden durch
den jahrzehntelangen Schadstoffeintrag ist ein dauerhafter Stressfaktor. Auch Bündnis 90/Die Grünen haben
dies in ihrem Antrag festgestellt. Dieser Stress kann
durch Bodenschutzkalkungen gelindert werden, wie
auch Sie, Ministerin Künast, es in der „Süddeutschen
Zeitung“ gefordert haben. Dadurch wird die Vitalität unserer Wälder gestärkt. Nach dem Verursacherprinzip
müssen wir alle - nicht nur die Waldbesitzer - für diese
notwendigen Heilungsmaßnahmen zahlen. Es geht um
Heilung, nicht um Symptombekämpfung.
Die richtige Medizin kann aber nur der geben, der die
richtige Krankheitsursache festgestellt hat. Der Blick in
die Baumkronen zeigt nur Symptome. Die Ursachen für
die Erkrankung der Bäume liegen im Boden. Deswegen
will die FDP die Waldzustandserfassung auf eine Bewertung der Böden umstellen. In einem Gutachten des Bundesforschungsministeriums wird genau dies gefordert.
Sie können sich insofern nicht einfach davonschleichen,
Frau Ministerin Künast.
An den herkömmlichen Waldzustandsberichten
wird massive Kritik geübt, die wir ernst nehmen müssen.
Wir können es uns nicht leisten, jährlich Berichte erstellen zu lassen und sie anschließend zu diskutieren, wohl
wissend, dass sie nur eine geringe Aussagekraft haben.
({3})
Verstärkte Holznutzung hilft dem Wald. Biologische
Systeme gewinnen durch Nutzung an Vitalität. Was im
Sport das Training ist, ist in unseren multifunktionalen
Wäldern die Holznutzung. Dafür muss die Charta für
Holz mit Leben erfüllt werden.
({4})
- Vielleicht können auch die Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU zuhören. Das fände ich sehr nett. Als
gelernte Lehrerin darf ich vielleicht diesen Einwurf vorbringen.
Die FDP macht in ihrem Antrag Vorschläge, wie für
Waldbesitzer die Nutzung des Holzes ihrer Wälder attraktiver werden kann. Denn die von der christlich-liberalen Regierung in Auftrag gegebene Waldinventur hat
gezeigt, dass gerade in kleinen Privatwäldern zu wenig
Holz eingeschlagen wird. Das liegt auch daran, dass die
Bereitstellungskosten für Holz zu hoch sind.
Der europaweite Vergleich der Investitionsbedingungen in der Nutzholzwirtschaft gibt Deutschland mangelhafte Noten in den Bereichen Bürokratie, Unternehmerfreiheit und Reglementierungen. Das ist Ihr Werk, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün! Dazu gehören
zum Beispiel die Reglementierungen im Transportbereich, die durch nichts begründet sind.
Die Planungen der Regierung, dem Holzabsatzfonds
zukünftig die bisher kostenfreien Leistungen für die Verbuchung der Abgaben in Rechnung zu stellen, lehnen
wir ab. Das wäre ein völlig falsches Signal.
({5})
Der weitere Umbau der Wälder hin zu naturnäheren
Wäldern trägt zur Biodiversität bei und kann die Stabilität der Wälder erhöhen. Das wollen wir. Allerdings muss
dies mit Augenmaß erfolgen und berücksichtigen, dass
Nadelholz mehr nachgefragt wird als Laubholz. Der
Umbau muss auch berücksichtigen, dass in verschiedenen Regionen die von Biologen erträumten, potenziell
natürlichen Waldgesellschaften nicht wachsen, weil die
Böden zu stark verändert sind.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Frau HappachKasan.
Ja.
Investitionen in Bäume, die nicht wachsen, sind Fehlinvestitionen.
Unser Wald lebt, auch wenn er kränkelt. Er braucht
sachkundige Fürsorge und nicht ideologische Vereinnahmung. Frau Künast, Ihre unterschiedlichen Erklärungen
sind bereits zitiert worden. Was Sie im nächsten Jahr sagen werden, wird wie gehabt wenig mit dem Wald zu tun
haben, aber viel damit, was Ihnen als opportun erscheint.
So wie auf diesem Bild sieht der Wald in meiner Heimat inzwischen aus, in der auf naturnahe Bewirtschaftung und natürliche Verjüngung gesetzt wird. Der hier
abgebildete Baum ist in diesem Herbst umgefallen, weil
nicht rechtzeitig gekalkt worden ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/4500 und 15/4431 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/4516 - Tagesordnungs-
punkt 9 b - soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage
auf Drucksache 15/4431 - Tagesordnungspunkt 9 c -
überwiesen werden. Der Entschließungsantrag der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4502 soll zur fe-
derführenden Beratung an den Ausschuss für Verbrau-
cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und zur
Mitberatung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen, an den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss
für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Hermann Otto Solms,
Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({0})
- Drucksache 15/3232 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Ina Lenke, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Lage der Kommunen dokumentieren und verbessern
- Drucksache 15/2602 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir die Kirchturmuhr in den meisten
Städten und Gemeinden durch eine Schuldenuhr ersetzen würden, dann müssten die Glocken wohl ständig
läuten, vor allen Dingen in den Ohren der Kollegen von
Rot-Grün. Die Lage der Kommunen ist nach wie vor katastrophal. In seiner jüngsten Schätzung rechnet der
Deutsche Städtetag wieder mit einem hohen Schuldenstand von über 8 Milliarden Euro in diesem Jahr. Dabei
sind die Gewerbesteuereinnahmen - das muss man zugestehen - in den letzten Monaten einigermaßen angestiegen. Aber nach vielen Jahren hoher Defizite kann das
nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein.
({0})
Verantwortlich für die hohen Schulden sind nach wie
vor strukturelle Probleme, die nicht gelöst werden, unter
anderem die starke Zunahme der Aufgabenverlagerung
vom Bund auf die Städte und Gemeinden ohne entsprechende Kostenerstattung. Aber das ist ja auch total einfach; denn die Kommunen sind im Bundestag nicht vertreten. Auch im Bundesrat denken die Länder zumeist an
sich und nicht an die Kommunen. So sind insbesondere
im Bereich der Sozialausgaben die Kosten im Jahr 2003
um 8 Prozent und im ersten Halbjahr 2004 um über
7 Prozent gestiegen, ohne dass es dafür einen Ausgleich
seitens des Bundes gegeben hätte, der schließlich die
Gesetzgebung zu verantworten hat. Dagegen wehren wir
uns.
({1})
Mit der Verankerung eines echten Konnexitätsprinzips im Grundgesetz wollen wir endlich eine rechtliche
Grundlage schaffen, die den Kommunen einen Anspruch
gegenüber dem Bund einräumt, die notwendigen finanziellen Kosten ersetzt zu bekommen. Aber das haben Sie
alle außer uns im letzten Jahr in namentlicher Abstimmung abgelehnt. In Ihren Sonntagsreden setzen Sie sich
zwar dafür ein. Wenn es aber zum Schwur im Bundestag
kommt, lehnen Sie das ab. Das ist für die Kommunen
nicht in Ordnung.
({2})
Zumindest die Union hat jetzt dazugelernt und fordert
das ebenfalls nach ihrem letzten Parteitag in Düsseldorf - meiner Heimatstadt, auf die ich stolz bin.
Ich wünsche mir, dass die Föderalismuskommission
dazu eine klarere Linie erarbeitet. In dem, was bisher
vorgelegt worden ist, sind beispielsweise keine Entscheidungsrechte für Kommunen enthalten und das, was
darin zu den Kosten festgestellt wird, ist nur ein kleiner
Hoffnungsschimmer.
Das nächste Problem ist die unsichere Einnahmesituation aufgrund der konjunkturabhängigen Gewerbesteuereinnahmen. Ich habe mich lange gefragt, warum RotGrün die Gemeindefinanzreform seit über einem Jahr
überhaupt nicht mehr zum Thema macht. Ich weiß jetzt,
warum.
({3})
- Es wird noch viel besser. Warten Sie ab. - Ich habe
nämlich die Bundesregierung gefragt, wie sich die von
ihr behaupteten 6,6 Milliarden Euro Entlastung für die
Kommunen errechnen lassen. Die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Christel RiemannHanewinckel lautete:
Im Jahr 2005 werden die Kommunen aufgrund der
Gemeindefinanzreform um 5,54 Milliarden Euro
entlastet ({4}).
Wenn die Bundesregierung glaubt, es habe eine Gemeindefinanzreform gegeben, dann verstehe ich, warum
sie diese Reform nicht mehr in Angriff nimmt.
({5})
Wenn sie weiterhin glaubt, dass die Gemeindefinanzreform aus dem Gewerbesteueränderungsgesetz und dem
Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt besteht, dann hat sie die Welt nicht verstanden.
({6})
Wenn es so weit gekommen ist, dass innerhalb der Bundesregierung eine Staatssekretärin nicht weiß, was wirklich los ist, dann wundert mich gar nichts mehr in diesem
Land, erst recht nicht, was die Kommunen angeht.
({7})
Aber vielleicht fängt der eine oder andere von Ihnen
noch an nachzudenken. Allein Ihr Verhalten bei
Hartz IV zeigt, dass Sie den Kommunen keinen hohen
Stellenwert einräumen. Anstatt den Kommunen die alleinige Zuständigkeit für die Langzeitarbeitslosen zu
übertragen, werden sie zu Handlangern der Bundesagentur gemacht.
({8})
Warum trauen Sie unseren Kommunen eigentlich nichts
zu?
Hinzu kommt Ihr genialer Coup beim Tagesbetreuungsausbaugesetz. Dafür sind Sie und wir alle hier zunächst einmal gar nicht zuständig. Zunächst erklären Sie,
dass die Kommunen durch Hartz IV Geld sparen. Ob das
so ist, weiß wirklich noch niemand. Von diesen fiktiven
Einsparungen sollen jetzt Kinderbetreuungsplätze geschaffen werden.
({9})
Keine Frage: Das ist ein wichtiges Anliegen. Aber warum wählen Sie den Weg über eine Scheinfinanzierung?
Zu wenig Geld, da die Mittelzuweisungen aufgrund
fiktiver Einsparungen berechnet wurden, für die Erfüllung einer wichtigen und real existierenden Aufgabe, das
ist Show und keine ernsthafte Politik.
({10})
Wir alle wissen: Bibliotheken werden geschlossen,
Straßen können nicht erneuert werden und Kindergärten
müssen ihr Betreuungsangebot einschränken. Die Auswirkungen auf die kommunale Wirtschaft und damit
auf die Wirtschaft überhaupt sind katastrophal. Wenn die
Kommunen kein Geld mehr haben, dann können sie kein
Geld mehr ausgeben. Die Kredite, die die Städte aufnehmen müssen, bringen sie wirklich um den Verstand.
Viele finanzieren sich sogar nur noch über Kassenkredite. Dieser Zustand ist wirklich unhaltbar.
({11})
Ich komme gleich zum Schluss.
({12})
Doch ein Problem liegt uns besonders am Herzen; damit
sollten Sie sich wirklich einmal auseinander setzen:
Wenn es so weitergeht, werden Sie niemanden mehr finden, der in den Kommunen Verantwortung übernimmt.
Wer will denn nur Schulden verwalten? Wenn das so
weitergeht, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
sind Sie schuld daran, dass die dritte Säule unseres Staates und damit der Staat insgesamt zugrunde gehen. Wir
liefern Ihnen die Alternativen; wir haben die Konzepte.
Sie haben dazu im letzten Jahr nichts vorgelegt.
({13})
Wenn Sie keine Lust haben, einen Bericht zur Lage
der Kommunen vorzulegen, dann kann ich Sie nur auffordern, unserem Antrag zuzustimmen, statt so zu tun,
als wäre alles in Ordnung. Dann hätten Sie es nämlich
schwarz auf weiß, wie die Lage wirklich ist.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Piltz, es war interessant, zu dieser doch
schon etwas fortgeschrittenen Abendstunde in der vorweihnachtlichen Zeit des Advents Ihren Worten zu lauschen. Es wäre aber auch schön gewesen, in dieser harmonischen Adventsatmosphäre wenigstens ein Wort zu
den beiden von Ihnen vorgelegten Anträgen zu hören.
Das ist ausgeblieben; dazu konnten wir leider nichts erfahren.
({0})
Wenn man eine Vorlage in die Beratung einbringt, dann
muss man dazu auch Stellung nehmen.
Wie dem auch sei, kein Mensch bestreitet, dass die
Lage der kommunalen Finanzen nach wie vor schwierig, da und dort sogar dramatisch ist. Kein Zweifel! Es
erfüllt uns nicht weniger mit Sorge als Sie, dass das so
ist. Es nutzt uns nichts, glaube ich, wenn wir in dieser
Frage so tun, als würde bei den Kommunen irgendetwas
besser werden, wenn man einfach den schwarzen Peter
hin und her schiebt.
Viele von uns, die an dieser abendlichen Debatte teilnehmen, tragen selbst kommunale Verantwortung. In
Bezug auf die FDP weiß ich das nicht so genau,
({1})
aber bei den großen Volksparteien gibt es ja viele Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker.
({2})
Deshalb ist da die Kompetenz vielleicht auch etwas ausgeprägter als bei Politikern aus denjenigen Parteien, die
sich mehr auf Landes- und Bundespolitik konzentrieren.
Wie dem auch sei, die Finanzkrise der kommunalen
Seite ist eine Finanzkrise der öffentlichen Hand insgesamt. Zu dem Schluss kommt man, wenn man die Lage
ehrlich analysiert.
Herr Kollege Hartmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Piltz?
Sehr gern.
Bitte schön.
({0})
An die Regierung gerichtet sage ich: Das ist mein parlamentarisches Recht.
Herr Kollege Hartmann, ist Ihnen bekannt, dass gut
ein Viertel der Mitglieder der FDP-Bundestagsfraktion
weiterhin ein kommunales Mandat hat und dass in unserer Fraktion ebenso wie bei Ihnen Bürgermeister von
Städten und Gemeinden tätig sind?
({0})
Können Sie sich daher vorstellen, dass die Politiker Ihrer
Parteien nicht die Einzigen sind, die Regelungen im
Sinne der Kommunen treffen wollen?
Liebe Frau Piltz, es ist erfreulich, zu hören, dass auch
Sie da und dort über kommunalpolitischen Sachverstand
und aktive Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker verfügen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Ich
nehme aber an, dass es in den Reihen der SPD mehr ehrenamtliche Kommunalpolitiker gibt, als die FDP bundesweit überhaupt Mitglieder hat.
({0})
- Herzlichen Glückwunsch dazu! Wenn Sie den Sachverstand von denen auch annehmen, dann ist das gut.
Dann werden Sie nämlich zum Beispiel auch hören, dass
es tatsächlich eine gute und richtige Sache ist, dass wir
nicht das machen, was Sie jetzt erneut fordern,
({1})
nämlich die Gewerbesteuer abzuschaffen.
({2})
Den Kommunen geht es jetzt Gott sei Dank alles in allem wieder etwas besser, wenn auch keineswegs in ausreichendem Maß; darüber sind wir uns einig. Die Verbesserung der Lage ist auch dadurch eingetreten, dass
wir - übrigens einmütig im Vermittlungsausschuss und
mit Zustimmung der Vertreter des Bundesrates; anders
wäre es auch gar nicht möglich gewesen - entgegen
manchen eindeutigen Forderungen der FDP die Gewerbesteuer erhalten - bei der Union war die Haltung mal
so und mal so, wie man das bei ihr oft erlebt ({3})
und den Hebesatz verändert haben. Dadurch haben wir
den Kommunen wieder etwas mehr Luft zum Atmen gegeben. Daran zeigt sich, dass dieses große Element der
kommunalen Finanzierung gut und richtig ist. Warum
also wollen Sie es gegen allen kommunalen Sachverstand abschaffen?
({4})
Den Kommunen verbleiben von den Einnahmen aus
der Gewerbesteuer rund 21 Milliarden Euro. 2003 war
ein Anstieg festzustellen, 2004 noch einmal ein deutlicher Anstieg. Insgesamt liegen sie bei 25,9 Milliarden
Euro. Die Veränderung bei der Umlage ist das eine, was
zur Verbesserung der Situation beigetragen hat. Durch
die peu à peu besser werdende wirtschaftliche Entwicklung sind zudem die Einnahmen der Kommunen insgesamt gestiegen. Wie wollen Sie das Ganze solide ohne
die Gewerbesteuer hinbekommen? Das haben Sie nicht
erklärt.
({5})
Sie wollen einen Aufschlag auf die Einkommensteuer.
({6})
Das hätte zur Folge, dass die Lasten zum Schluss von
Otto Normalsteuerzahler zu tragen wären,
({7})
aber die Unternehmen, die die Infrastruktur nutzen, entlastet würden. Das kann nicht sein. Die Gewerbesteuer
ist ein Stück kommunaler Gerechtigkeit. Wer die Infrastruktur der Gemeinden in Anspruch nimmt, der soll dafür auch Steuern zahlen. Deshalb bleiben wir dabei: Die
Gewerbesteuer ist gut und richtig und notwendig, jetzt
und in Zukunft.
({8})
Über eines können wir in der Tat reden - das ist an die
Adresse aller Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker gerichtet -: Es ist sicherlich so, dass der Bund
und auch die Länder den Kommunen da und dort Standards aufbürden, die denen die Luft zum Atmen nehmen. An dieses Problem müssen wir herangehen. Ich
sehe durchaus, dass es bei Ihnen entsprechende Forderungen gibt, die sinnvoll sind. Aber zwischen wohlfeilen
Forderungen in Anträgen und einer Praxis, die den Kommunen tatsächlich hilft, besteht ein himmelweiter Unterschied. Man muss vieles mit Mut und Entschlossenheit
angehen. Wenn das, was Sie formuliert haben, nicht nur
zur Formulierung wohlfeiler Anträge dient, sondern
kommunale Praxis werden soll, dann sage ich Ihnen: In
den Ländern, in denen Sie mit Union regieren, haben Sie
die Chance, das tatsächlich umzusetzen. Aber davon hört
und sieht man nicht allzu viel.
Michael Hartmann ({9})
Im Übrigen - das sage ich noch einmal ganz grundsätzlich -: Wer einerseits fordert, dass der Staat so gut
wie nichts mehr einnehmen soll, aber andererseits will,
dass die Kommunen Leistungen für die allgemeine Daseinsvorsorge erbringen, der erweist sich in Wirklichkeit
nicht als kommunalfreundlich. Insofern hoffe ich, dass
wir im Zuge des nahenden Weihnachtsfestes vielleicht
Umdenkungsprozesse auf Ihrer Seite erleben
({10})
und wir bei Standards und anderen Fragestellungen zusammen etwas für die Kommunen tun können.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Bernhardt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns in diesem Hause über Folgendes
einig - das hat auch der Beitrag des sozialdemokratischen Kollegen eben gezeigt -: Die finanzielle Situation
unserer Kommunen in Deutschland ist katastrophal. Das
ist die erste Feststellung, die sich aus den bisherigen Beiträgen ergibt.
Ich weise auf einige Zahlen hin: In diesem Jahr werden die Kommunen ein Defizit von insgesamt
8,5 Milliarden Euro haben und im kommenden Jahr wird
es nach Angaben des Städtebundes etwa 10 Milliarden
Euro betragen. 10 Milliarden Euro neue Schulden bedeuten, dass die Kommunen selbst bei einem günstigen
Zinssatz ein Jahr später 400 Millionen Euro neue Zinsen
zahlen müssen. Dies ist eine sehr gefährliche Entwicklung.
Meine Fraktion hat in diesem Hause wiederholt konkrete Vorschläge gemacht,
({0})
um die finanzielle Situation der Kommunen zu verbessern. Nur einem dieser Vorschläge haben Sie letztlich
nach massivem Druck im Dezember des vergangenen
Jahres zugestimmt, nämlich dass die Gewerbesteuerumlage, die Sie im Jahr 2000 erhöht hatten, endlich wieder gesenkt wurde.
({1})
Dies brachte den Kommunen rund 2 Milliarden Euro
ein. Wenn das alles war, dann kann ich dazu nur sagen:
Die Kommunen müssen sich verlassen fühlen. Dies war
nämlich nur ein kleiner Schritt, der nicht ausreicht, um
das Problem zu lösen.
({2})
Betrachten wir einmal die Situation in einem Bundesland, das doppelt gestraft ist: Wir in Schleswig-Holstein
leiden unter der Bundespolitik von Rot-Grün und zusätzlich auch noch unter einer rot-grünen Landesregierung.
Wissen Sie, wie es da aussieht? Von den elf Landkreisen
in Schleswig-Holstein können nur noch zwei einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen, von den 166 Gemeinden
meines Wahlkreises Rendsburg-Eckernförde nur noch
30. Das ist eine katastrophale Situation.
Ich wiederhole, was ich im Rahmen einer Debatte zu
diesem Thema schon einmal gesagt habe: Die Kommunen sind insbesondere für den Mittelstand ein ganz
wichtiger Auftraggeber. Wenn die Kommunen nicht in
der Lage sind, notwendige Investitionen durchzuführen,
dann leidet darunter vor allem der Mittelstand vor Ort.
Deshalb sage ich: Ohne eine Gesundung der finanziellen
Situation der Kommunen werden wir nicht zu einem angemessenen Wirtschaftswachstum in Deutschland kommen.
({3})
Ich will jetzt nicht auf die Ursachen eingehen; dafür
reicht die Redezeit nicht aus. Ich gebe nur folgenden
Hinweis: Natürlich ist eine entscheidende Ursache die
Wachstumsschwäche in Deutschland. Diese bringt
rückläufige Steuereinnahmen und eine zunehmende Zahl
von Arbeitslosen mit sich, was wiederum zu steigenden
Ausgaben der Kommunen führt. Das ist also eine der
entscheidenden Ursachen.
Die beiden FDP-Anträge, die wir hier beraten, gehen
aus unserer Sicht in die richtige Richtung.
({4})
Wir brauchen eine Veränderung der Gewerbesteuer.
Meine Fraktion ist für eine Abschaffung, um das klar zu
sagen.
({5})
Dies ist natürlich nur im Rahmen einer grundlegenden
Steuerreform möglich.
({6})
Isoliert kann man in diesem Bereich nichts machen. Da
in dieser Legislaturperiode nichts mehr passiert - Ihnen
fehlt die Kraft, uns die Mehrheit -,
({7})
heißt es doch, dass es frühestens ab 1. Januar 2008 eine
grundlegende Steuerreform gibt. Bis dahin können die
Kommunen nicht warten. Wir müssen vorher etwas tun.
Bezogen auf die Gewerbesteuer kennen Sie unser
Konzept; es sieht ähnlich aus wie das der Freien Demokraten. Wir sind der Auffassung, dass die Gewerbesteuer
nicht europatauglich ist. Mit Ausnahme von Luxemburg
gibt es sie nirgends.
({8})
Sie ist eine Steuer, die sehr aufwendig zu erheben ist. Sehen Sie sich einmal den Unsinn alleine beim Aufwand
an: Sie wird erst erhoben und dann voll verrechnet. Das
bringt Kosten in Höhe von 100 Millionen Euro mit sich.
Eines hat sich auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
gezeigt, meine Damen und Herren: Die Gewerbesteuer
ist sehr konjunkturabhängig. Das ist für die Gemeinden
sicher nicht die richtige Basis.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir uns von der
Gewerbesteuer nur trennen können, wenn wir einen vernünftigen Ersatz für die Kommunen haben.
({9})
Wir diskutieren hier ähnlich wie die Freien Demokraten,
wie Sie wissen, über ein Modell, das zusammengesetzt
ist aus Heberecht, Zuschlagsrecht, Lohnsteuer, Einkommensteuer und Körperschaftsteuer. Aber ich sage sehr
deutlich: Dies ist nur im Rahmen einer grundlegenden
Steuerreform möglich.
({10})
Meine Damen und Herren, es macht keinen Sinn, die
finanziellen Sorgen der Kommunen so herunterzuspielen, wie Sie es, Herr Hartmann, versucht haben. Bei uns
sind wahrscheinlich wie bei Ihnen mehr als die Hälfte
der Mitglieder kommunalpolitisch tätig. Ich sage sehr
deutlich: Wenn es mit den Kommunen finanziell so weitergeht, geht auch die Lust der Bürger, sich kommunalpolitisch zu betätigen, deutlich zurück. Es macht keinen
Spaß mehr, Kommunalpolitik zu machen, wenn man im
Grunde nur noch eine Sitzung im Jahr braucht, nämlich
die zur Verabschiedung des Haushaltes, und nichts mehr
gestalten kann.
({11})
Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns in die Richtung
gehen, die die FDP-Anträge weisen. Wir müssen den
Kommunen helfen, und zwar nicht erst 2008, sondern
möglichst schon morgen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Uns hat hier ja eine gewisse vorweihnachtliche
Stimmung erreicht, getreu dem Motto: „Alle Jahre wieder“. Wenn ich mir den Gesetzentwurf von der FDP, den
wir heute beraten, anschaue, stelle ich fest: Er ist identisch mit dem, den wir vor einem Jahr beraten haben. In
der Begründung ist ein bisschen geändert worden, aber
der Gesetzestext ist absolut gleich geblieben. Darüber
hinaus legen Sie uns halbjährlich irgendwelche Anträge
vor, die die Abschaffung der Gewerbesteuer zum Ziel
haben.
Ich frage mich wirklich, wann Sie es merken,
({0})
dass weder wir noch die Kommunen diesen Vorschlägen
folgen, und zwar nicht, weil es Vorschläge vonseiten der
FDP sind, sondern weil sie nicht überzeugen und nicht
zu dem Ziel führen, das wir - eventuell alle gemeinsam - hier erreichen wollen. Aus unserer Sicht ist das
also der falsche Weg.
({1})
Deshalb werden wir Ihre Vorschläge und insbesondere
Ihren Gesetzentwurf heute wieder ablehnen.
({2})
In der Begründung steht ein ganz interessanter Satz.
Sie schreiben - im Gegensatz zu dem, was in Ihrem früheren Antrag steht -:
Die Gewerbesteuer … ist als unkalkulierbare Finanzquelle eine fortwährende Existenzbedrohung
für die Städte und Gemeinden.
Früher haben Sie nur von der Existenzbedrohung für die
Unternehmen gesprochen. Inzwischen haben Sie das gesteigert; jetzt geht es um eine Existenzbedrohung für die
Kommunen und Städte insgesamt. Hier wird Ihre Begründung allerdings problematisch: Wir hatten nämlich,
nachdem wir vor einem Jahr eine - wenn auch aus unserer Sicht vielleicht nicht ganz umfassende - Gemeindefinanzreform durchgeführt
({3})
und an ein paar ganz entscheidenden Punkten Veränderungen vorgenommen haben, im ersten Halbjahr 2004 Gewerbesteuermehreinnahmen von 1,5 Milliarden Euro.
({4})
Das ist ein Unterschied zu der Situation von vor einem
Jahr. Deswegen verstehe ich nicht, warum der Antrag,
den Sie jetzt hier vorlegen, diese 1,5 Milliarden Euro
Mehreinnahmen an Gewerbesteuer im ersten Halbjahr
überhaupt nicht berücksichtigt und honoriert. Unsere damalige Prognose, dass wir im Jahr 2004 Mehreinnahmen
von 2,5 Milliarden Euro haben werden, hat sich also bestätigt. Mit der Gewerbesteuer und Hartz IV sind wir
mittel- und langfristig auf dem richtigen Weg, die kommunalen Einnahmen zu stabilisieren.
Wenn Sie die Konjunkturabhängigkeit der Gewerbesteuer als nach wie vor riesiges Problem bezeichnen,
dann müssen Sie sich schon fragen lassen, wer denn für
diese Konjunkturabhängigkeit verantwortlich ist.
({5})
Wir hatten ein Konzept vorgelegt, mit dem die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer konjunkturunabhängiger geworden wäre. Sie müssen sich vorhalten lassen, dass Sie da nicht mitgemacht haben.
({6})
Ich habe mir das Modell Ihrer liberalen Gemeindefinanzreform vom Juni des letzten Jahres genau angeschaut.
({7})
Ihre Vorschläge sind allerdings nicht ganz konsistent.
Sie sagen - das sagt die FDP grundsätzlich ja immer -,
Sie wollten auf alle Fälle die Steuern senken. Das ist
quasi Ihr Leitsatz. Aber nach Ihrem Modell würde die
Körperschaftsteuer von 25 Prozent auf 32 Prozent angehoben. Hinzu kommt ein kommunaler Zuschlag. Damit
landen wir, über den Daumen gepeilt, bei Sätzen, die wir
schon heute haben.
({8})
Bei der Einkommensteuer ist es genau das Gleiche.
Zugleich prangern Sie aber die Höhe des Körperschaftsteuersatzes und der Einkommensteuersätze an.
Außerdem legen Sie ein Modell vor - jetzt wird die
ganze Sache völlig verquer -, das eine extrem teure Umstellung der Umsatzsteuer enthält. Von den sich daraus
ergebenen geringeren Einnahmen sollen die Kommunen
einen größeren Anteil bekommen. Sie haben ausgerechnet, dass am Ende die Umstellung per saldo
800 Millionen Euro kostet und alles andere ein Nullsummenspiel wäre. Dieses stimmt aber nicht.
({9})
Wir wissen aufgrund der Berechnungen, die uns die
Kommission damals vorgelegt hat - auch Sie haben sie
gesehen und darüber diskutiert -,
({10})
dass Zuschlagsmodelle mit sehr großen Problemen verbunden sind. Wir haben ja darüber diskutiert. Ich nenne
als erstes die Stadtflucht und das damit verbundene
Stadt-Land-Problem.
({11})
Dieses Problem ergibt sich, wie gesagt, aus dem Zuschlagsmodell.
Ein zweites Problem dabei ist - das ergibt sich auch
aus Ihrem Modell -, dass die Besteuerung von den Unternehmen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sowie auf die Bürgerinnen und Bürger verlagert wird;
auf diese werden die Steuern also umgelegt und diese
müssen mehr Steuern zahlen.
({12})
Das ist nicht in Ordnung und mit uns nicht zu machen.
Das war damals und ist auch heute unsere Position.
Ich bin durchaus der Meinung, dass wir uns ernsthaft
darüber unterhalten müssen, wie wir die finanzielle Situation der Kommunen mittel- und langfristig stabilisieren
können. Ich bin aber auch der Meinung, dass man sich
auf einen neuen Weg begeben sollte, wenn man in Diskussionen festgestellt hat, dass ein bestimmtes Modell
nicht trägt.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Kolbe von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen grundsätzlich den Gesetzentwurf der FDP, bringt
er doch das Thema Kommunalfinanzen endlich wieder
auf die Tagesordnung dieses Hauses. Hierin gehört es
auch; denn der Bürger erlebt den Staat vor Ort, also vor
allen Dingen in der Kommune. Wenn es in der Kommune nicht mehr richtig klappt, dann zweifelt er auch
am Staat. Deshalb sind wir alle hier gefordert.
({0})
Frau Kollegin Andreae, alle Jahre wieder haben Sie
diese Initiativen kritisiert. Zu Weihnachten könnte man
ergänzen: Alle Jahre wieder kommt das Christuskind leider nicht zu unseren Kommunen. Sechs Jahre RotGrün waren sechs verlorene Jahre für die Kommunen.
({1})
Wir alle sind gefordert, dass das siebte Jahr kein verlorenes Jahr wird.
Lassen Sie mich einmal ganz kurz rekapitulieren.
1998 haben Sie eine große Gemeindefinanzreform in Ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen. Tatsächlich haben Sie jedoch die Gewerbesteuerumlage erhöht.
({2})
Damit haben Sie zunächst einmal das Gegenteil von dem
umgesetzt, was Sie versprochen haben. Im November
2001 wollten Sie die ganze Sache am liebsten vergessen.
Erst unter öffentlichem Druck haben Sie kurz vor der
Bundestagswahl 2002 eine Kommission eingesetzt. In
aller Eile hat dann noch eine konstituierende Sitzung
stattgefunden. Mehr ist in der damaligen Legislaturperiode
nicht passiert.
({3})
Wir haben die ganze Zeit eine grundlegende Neuordnung gefordert, damit Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen wieder in ein Gleichgewicht kommen. Nach der
Wahl haben dann zwei Arbeitsgruppen, nämlich die Arbeitsgruppe „Kommunalsteuer“ und die Arbeitsgruppe
„Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ getagt. Diese haben im
Wesentlichen zwei Ergebnisse gebracht:
Im Rahmen einer kommunalen Finanzreform gab es
zum einen eine Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage, was wir begrüßen.
({4})
Das gibt den Kommunen im Augenblick ein bisschen
Luft zum Atmen, weil die Gewerbesteuereinnahmen
dieses Jahr aufgrund der von uns geforderten Maßnahmen wieder steigen.
Zum anderen wird im Zuge von Hartz IV eine Entlastung von insgesamt 2,5 Milliarden Euro versprochen.
Allerdings muss man dabei sehr vorsichtig sein: Diese
Entlastung beruht auf bundesweiten Berechnungen. Wir
alle wissen, dass es große regionale Unterschiede gibt.
Sie können auch bei einer durchschnittlichen Wassertiefe von 1,20 Metern ertrinken. Das droht einigen Kommunen demnächst.
({5})
Nach sechs Jahren Untätigkeit gehen Sie jetzt ins
siebte Jahr der Untätigkeit. Wir werden versuchen, das
zu verhindern; denn die Finanzlage der Kommunen ist
nach wie vor dramatisch. Die Ausgaben für soziale Sicherung sind dramatisch gestiegen: von 26,1 Milliarden
Euro im Jahre 1998 auf 30,4 Milliarden Euro im Jahre
2003. Umgekehrt wurden notwendigerweise die Investitionen zurückgeführt: von 24,7 Milliarden Euro im Jahre
1998 auf 21,4 Milliarden Euro im Jahre 2003. Das ist
eine ganz negative Entwicklung.
Ich darf in diesem Zusammenhang den Bautzener
Oberbürgermeister Christian Schramm, der auch Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes ist,
({6})
zitieren:
Ein dramatisches Ergebnis gerade für den Mittelstand und das Handwerk, die dringend auf öffentliche Aufträge angewiesen sind. Ohne kommunale
Investitionen wird es keinen Aufschwung der Wirtschaft und keine neuen Arbeitsplätze geben.
({7})
Die kommunalen Defizite steigen; wir haben einen
Schuldenstand von 84 Milliarden Euro erreicht. Außerdem wird Hartz IV - lassen Sie mich kurz darauf eingehen - im nächsten Jahr neue Probleme für eine ganze
Reihe von Kommunen bringen. Hartz IV ist so konstruiert, dass eine Entlastung bei der Sozialhilfe eintritt. Es
werden also die Kommunen entlastet, die viele Sozialhilfeempfänger haben. Die Belastung tritt bei den Unterkunftskosten für ALG-II-Empfänger ein. Dadurch werden die Kommunen relativ hoch belastet, die jetzt viele
ALG-II-Empfänger haben, das sind die mit bisher vielen
Arbeitslosenhilfeempfängern.
({8})
- Dafür gibt es eine Revisionsklausel,
({9})
aber im Augenblick sind zahlreiche Kreise - etwa alle
drei Kreise in meinem Wahlkreis in Sachsen - nicht in
der Lage, ihre Haushaltslöcher zu schließen, weil ihnen
Hartz IV nicht die versprochene Entlastung, sondern Belastungen in Millionenhöhe bringt.
({10})
- Die Kommunen, Herr Scheelen, beginnen aber bereits
in diesem Jahr mit ihrer Haushaltsaufstellung.
Wenn man die Bundesregierung danach fragt, bekommt man - wie gestern in der Fragestunde - die folgende Antwort:
In den einzelnen Ländern wird es zweifelsohne
Kreise und kreisfreie Städte geben, für die sich nach
Saldierung aller Be- und Entlastungen eine zusätzliche Belastung ergibt. Genauso wird es andere Kommunen geben, die von der Reform deutlich profitieren. Über die Höhe der etwaigen Belastungen im
Einzelnen … liegen der Bundesregierung keine verwertbaren Informationen vor.
({11})
Ich finde es ausgesprochen schwach, dass der Bundesregierung hierzu keine Informationen vorliegen; denn eine
ganze Reihe von Kommunen, nämlich diejenigen mit einer großen Anzahl von bisherigen Arbeitslosenhilfeempfängern, haben in der Tat große Probleme. Ich fordere
Sie auf, sich die notwendigen Informationen zu beschaffen.
({12})
Lassen Sie mich zum Abschluss kommen. Das
nächste Jahr darf kein verflixtes siebtes Jahr für die
Kommunen werden. Wir müssen ernsthaft die Lösung
der kommunalen Finanzprobleme angehen. Wir von der
Union haben die Rezepte dafür.
({13})
Wir wollen erstens auf der Einnahmeseite die Kommunen an der Einkommensteuer und auch an der
Körperschaftsteuer beteiligen und ihnen ein eigenes Hebesatzrecht einräumen.
Wir wollen zweitens die Dynamik bei den Sozialausgaben zurückführen. Es muss wieder der Grundsatz gelten: Wer bestellt, der bezahlt auch.
Drittens müssen wir den Kommunen im verfassungsrechtlichen Gefüge unseres Landes ein stärkeres Mitspracherecht einräumen. Ich sage da ganz persönlich:
Ich hätte mir von der Föderalismuskommission den einen oder anderen Impuls mehr gewünscht.
({14})
In dem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam für die
Kommunen handeln! Wir können uns kein verflixtes
siebtes Jahr bei den Kommunen leisten.
Danke.
({15})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Scheelen von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Opposition kommt mir, ehrlich gesagt, wie der
Brandstifter vor, der als Erster nach der Feuerwehr ruft.
Sie beklagen lautstark und tränenreich den Zustand in
den Kommunen, obwohl Sie doch diejenigen sind, die
letztes Jahr im Vermittlungsausschuss den Entwurf einer
Gemeindefinanzreform, den wir eingebracht hatten, absolut blockiert haben.
({0})
Ohne Sie ginge es den Gemeinden heute deutlich besser.
Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht, wie man die
Gewerbesteuer festigen kann, wie man sie auf eine
deutlich breitere Basis stellen kann, wie man sie konjunkturunabhängiger machen kann und vor allen Dingen
wie man die großen Konzerne und Unternehmen, die es
in den letzten Jahren geschafft haben, sich an der Gewerbesteuer vorbeizumogeln, dazu bringt, wieder ihren Beitrag zur Finanzierung der kommunalen Infrastruktur zu
leisten. Das haben Sie verhindert. Sie haben das blockiert. Deswegen geht die Lage in den Kommunen heute
voll auf Ihre Rechnung.
({1})
Wir als Regierungskoalition hätten eigentlich eine
deutlich bessere Opposition verdient. Das wird an diesem Tagesordnungspunkt deutlich.
({2})
Frau Kollegin Piltz, Sie haben zwar fünf Minuten geredet, aber zu dem Antrag, den Sie eingebracht haben, kein
Wort gesagt.
({3})
Es gibt zwei Möglichkeiten, warum Sie das nicht getan
haben. Das eine will ich Ihnen nicht unterstellen: Sie
wissen gar nicht, was Sie beantragt haben.
({4})
- Das will ich Ihnen nicht unterstellen. - Vielmehr will
ich sagen: Sie wissen, was Sie beantragt haben, aber haben nichts dazu gesagt, weil der Antrag so schlecht ist.
Deswegen werde ich diesen Antrag jetzt ein wenig zerpflücken müssen.
({5})
Es tut mir Leid, dass ich das in dieser Deutlichkeit sagen
muss. Aber wir müssen über das reden, was Sie hier beantragt haben.
({6})
Ich weiß gar nicht, ob Sie genau wissen, was Ihr Formulierungsvorschlag für das Grundgesetz eigentlich
bedeutet, und ob Sie festgestellt haben, dass Ihr Formulierungsvorschlag gar nicht mit Ihrem Antrag zusammenpasst.
Was wollen Sie mit dem Antrag? Sie sagen: Weg mit
der Gewerbesteuer! Dem Kollegen Bernhardt will ich an
dieser Stelle ein bisschen Nachhilfe zu der Frage geben:
Wo gibt es so etwas wie die Gewerbesteuer? Nicht nur in
Luxemburg, sondern auch in Frankreich, Spanien und
Italien - um nur ein paar europäische Mitbewerber zu
nennen -, in den USA, Kanada und Japan gibt es so etwas.
({7})
Sie sagen, die Gewerbesteuer belaste den Export. Ich
sage Ihnen: Wir sind Exportweltmeister. Ganz so
schlimm kann es mit der Gewerbesteuer wohl nicht sein.
({8})
Sie sagen: Weg mit der Gewerbesteuer! Was bedeutet
das? Das bedeutet: 22 Milliarden Euro Einnahmen fallen
bei den Gemeinden weg.
({9})
- Ich komme dazu, keine Sorge. Als Ersatz wollen Sie
den Gemeinden einen größeren Anteil an der Umsatzsteuer zugestehen.
({10})
- Moment, Schritt für Schritt. Ich habe das alles gelesen,
Herr Fricke. Ich hoffe, die drei Minuten, die ich noch
habe, reichen, Ihnen zu erläutern, was für einen Unsinn
Sie da beantragt haben.
({11})
Sie sagen also, die 22 Milliarden Euro Gewerbesteuer
brauche man nicht. Dafür sollen die Gemeinden mehr
Umsatzsteuereinnahmen bekommen. Wie viel? In Ihrem
Antrag steht: Sie sollen 11,5 Prozent bekommen. Das
sind 15 Milliarden Euro. Das kommt schon nicht ganz
mit den 22 Milliarden Euro hin.
({12})
Die Gemeinden bekommen über den 2,2-Prozent-Anteil
jetzt schon 3 Milliarden Euro, die ich in Abzug bringen
muss. Dann sind es also 12 Milliarden Euro. Es bleibt
ein Minus von 10 Milliarden Euro; das ist Fakt. Wie
wollen Sie das füllen? Jedenfalls offensichtlich nicht
über die Umsatzsteuer.
({13})
Kommen wir zu Ihrem zweiten Element. Die FDP
will, dass der 15-Prozent-Anteil der Gemeinden an der
Einkommensteuer und an der Lohnsteuer in einen von
den Kommunen zu bemessenden Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer umgewandelt wird.
Da sprechen wir über eine Summe von 20 Milliarden
Euro. Das ist der Anteil der Gemeinden an der Einkommensteuer und der Lohnsteuer, den Sie umverteilen wollen. Sie wollen aber niemanden mehr belasten als vorher.
Das 10-Milliarden-Euro-Loch, das durch die Abschaffung der Gewerbesteuer entsteht, verbleibt also erst einmal - es sei denn, Sie verlangen von den Gemeinden,
dass sie ihre Zuschläge auf die Einkommensteuer so gestalten, dass sie dieses 10-Milliarden-Euro-Loch füllen.
Das bedeutet, dass die Zahllast der Wirtschaft auf die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlagert wird.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas machen wir nicht
mit.
({14})
- Doch, ich habe dieses wahnsinnige Konzept genau gelesen.
({15})
Das Konzept, von dem Sie sprechen, umfasst genau
zwei Seiten. Wenn ich die ganzen Unterschriften abziehe, bleiben anderthalb Seiten. Ganz toll und umfassend ist dieses Konzept nicht.
({16})
Es hat die Elemente, die ich Ihnen vorhin genannt habe.
Nun machen Sie den Vorschlag - damit sind auch die
Innenpolitiker beschäftigt gewesen - zur Änderung von
Art. 28 des Grundgesetzes. Darin steht im Moment,
dass die Gemeinden zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen
Anspruch auf eine wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht haben. Sie wollen die
Hebesatzregelung durch eine Zuschlagsregelung ergänzen.
Ich sage Ihnen: Das Kriterium der Wirtschaftskraftbezogenheit, das Sie im Grundgesetz belassen wollen, wird
Ihrem Vorschlag zufolge nur bei der Umsatzsteuer erfüllt; denn Sie wollen die Umsatzsteuereinnahmen nach
der Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze verteilen. Notfalls kann man noch sagen, dass
diese Regelung in irgendeiner Form wirtschaftskraftbezogen ist. Aber bei der Umsatzsteuer gestehen Sie den
Gemeinden kein Zuschlagsrecht zu. Das können Sie
auch gar nicht; denn hier kann es kein Zuschlagsrecht
geben. Dieses erste Element passt also nicht.
Nun zum zweiten Element. Die Gemeinden sollen einen Zuschlag auf die Einkommen- und Lohnsteuer bekommen. In diesem Fall besteht zwar die Möglichkeit
des Zuschlags, aber das Kriterium der Wirtschaftskraftbezogenheit ist nicht erfüllt. Deswegen ist Ihr Formulierungsvorschlag nicht deckungsgleich mit dem, was Sie
hier vortragen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn ich solche Gesetzentwürfe lese, wundert mich das Ergebnis der
PISA-Studie nicht. Sie haben das Thema völlig verfehlt.
Setzen, sechs.
Vielen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/3232 und 15/2602 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright,
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Winfried Hermann, Albert Schmidt ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Sicherheit für Radfahrer - insbesondere Schutz vor Unfällen mit LKW im
Stadtverkehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gero
Storjohann, Günter Nooke, Dirk Fischer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen
- Drucksachen 15/3330, 15/2823, 15/4157 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Gero Storjohann
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll gegeben werden. - Ich gehe davon aus, dass
Sie damit einverstanden sind. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Heidi Wright von der SPD-Fraktion,
Gero Storjohann und Eduard Lintner von der CDU/
CSU-Fraktion, Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/
Die Grünen, Horst Friedrich ({3}), FDP-Fraktion,
sowie der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris
Gleicke1).
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/4157. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/3330 mit dem Titel „Mehr
Sicherheit für Radfahrer - insbesondere Schutz vor Un-
fällen mit LKW im Stadtverkehr“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2823 mit
dem Titel „Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen“ für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls
einstimmig angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/4157 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Rich-
1) Anlage 2
tervorbehalts für die DNA-Analyse anonymer
Spuren
- Drucksache 15/4136 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden von Dirk
Manzewski, SPD-Fraktion, Dr. Norbert Röttgen, CDU/
CSU-Fraktion, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen,
und Jörg van Essen, FDP-Fraktion.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4136 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({6}), Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wüstenbildung wirksam bekämpfen - Armut
überwinden, Ernährung sichern, Konflikte
verhindern
- Drucksachen 15/2395, 15/3795 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt ({8})
Christa Reichard ({9})
Thilo Hoppe
Ulrich Heinrich
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt sollen alle Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich
um die Reden der Kollegen Dagmar Schmidt ({10}) von der SPD-Fraktion, Christa Reichard ({11}), CDU/CSU-Fraktion, Hans-Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen, und Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.3)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 15/3795 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Wüstenbildung wirksam bekämpfen -
Armut überwinden, Ernährung sichern, Konflikte ver-
hindern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2395 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit ange-
nommen.
2) Anlage 3
3) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Siegfried Kauder ({12}), Dr. Norbert
Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Rechtssicherheit für dienst- und hochschulrechtlich erlaubte Drittmitteleinwerbung
schaffen
- Drucksache 15/4144 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtssicherheit für die Einwerbung von
Drittmitteln an Hochschulen und Universitätskliniken für Forschung und Lehre
- Drucksache 15/4513 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({14})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Siegfried Kauder von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({15})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehen Sie
es mir bitte nach: Ich wollte nicht Professor an einer
Hochschule sein. Dabei muss ich konkretisieren: Ich
wollte nicht Professor an einer deutschen Hochschule
sein; denn das Risiko, in ein Strafverfahren verwickelt
zu werden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt zu werden, wäre mir in der Tat zu hoch.
({0})
Warum? Dass die Mittel bei öffentlichen Institutionen
und somit auch an Universitäten knapp sind, wissen wir
alle.
({1})
Deswegen kam es zu einer Koalition zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Die Wissenschaft ist auf Zuwendungen von privaten Unternehmen angewiesen.
Aber - das weiß jeder, der hier im Saal sitzt - die Grenze
von der Kooperation zur Korruption ist nicht scharf gezogen. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Ermittlungsverfahren gegen Professoren an Hochschulen,
({2})
die nichts anderes getan haben, als in Pflichterfüllung
Drittmittel einzufordern. So war denn das Thema eines
universitären Symposiums im Jahre 2002 treffend ausgedrückt, als provokant gefragt wurde: „Drittmitteleinwerbung - strafbare Dienstpflicht?“
Wie kann so etwas geschehen? In den Hochschulgesetzen der Länder werden die Professoren aufgefordert,
um den Staatshaushalt zu unterstützen, Drittmittel einzuwerben. Das haben sie auch getan. Sie bekamen allerdings nicht nur das Lob ihrer Universität, sondern auch
Besuch vom Staatsanwalt. Es wurde vor dem Hintergrund von Untreue, Bestechlichkeit und Vorteilsannahme ermittelt. Es kam flächendeckend zu zahlreichen
Verurteilungen.
Die Professoren verstanden nicht mehr, was um sie
herum vonstatten ging, und sie fühlten sich beim Staat
nicht mehr gut aufgehoben. Das hatte eine weitere, einschneidende Konsequenz: dass nämlich Pharmaunternehmen und Medizingerätehersteller inzwischen dazu
übergegangen sind, nicht mehr deutsche Hochschulen zu
fördern, sondern das Geld in private Institutionen zu stecken oder zur Förderung von Forschungsaufgaben ins
Ausland zu transferieren.
Der Professor fordert Drittmittel ein, weil er hochschulrechtlich dazu verpflichtet ist, der Staatsanwalt hält
ihm strafrechtliche Vorschriften vor. Wo liegt der Knackpunkt? Es gibt einen deutlichen Widerspruch zwischen
Landesgesetzgebung und Bundesgesetzgebung. Wie
soll dieses Dilemma gelöst werden? Sicherlich nicht dadurch, dass sich Professoren von der Drittmitteleinwerbung zurückziehen, sondern dadurch, dass der Gesetzgeber aktiv wird.
({3})
Aktiv werden kann der Gesetzgeber - das sage nicht
nur ich, sondern das sagen zahlreiche Professoren an
Hochschulen - nur im strafrechtlichen Bereich. Ein
Drittmitteleinforderungsgesetz scheitert daran, dass der
Bund nur die Rahmengesetzgebung hat.
Wir müssen das Stigma einer strafrechtlichen Sanktionierung gesetzmäßigen Vorgehens von den Professoren nehmen. Die Lösung kann relativ einfach gefunden
werden; man muss im Strafgesetzbuch nicht viel ändern.
Führt man sich die augenblickliche Situation vor Augen,
stellt man fest, dass dieses Problem bisher nicht der Gesetzgeber, sondern der Bundesgerichtshof in zwei Entscheidungen geregelt hat, zum einen im 47. Band auf
Seite 295 und zum anderen im 48. Band auf Seite 44.
({4})
Siegfried Kauder ({5})
- Herr Kollege Montag, er hat es so gut gelöst, dass man
nicht nur Jurist, sondern versierter Strafrechtler sein
muss, wie wir beide es beispielsweise sind, um diese
Entscheidungen auch nur im Ansatz verstehen zu können. Ein forschender Professor ist nicht Strafrechtler;
dies soll er auch nicht sein. Er hat gegenüber seinem
Dienstherrn den Anspruch, dass er, sofern er sich ordnungsgemäß verhält, nicht nur vor Verurteilungen, sondern allein schon vor dem Stigma eines strafrechtlichen
Verfahrens bewahrt wird. Deswegen ist der Gesetzgeber
zum Handeln aufgerufen.
({6})
Man fordert den Professor auf, Drittmittel einzuwerben. Wer strafrechtlich versiert ist, kann sich einmal
§ 331 Abs. 3 des Strafgesetzbuches anschauen. Nicht
einmal durch die Genehmigung des Dienstherrn ist ein
Rechtfertigungsgrund gegeben, wenn der Professor das
Drittmittel einfordert, weil diese Möglichkeit für ihn
verschlossen ist. Also steht er weiterhin in dem Dilemma, ob er sich an Landesrecht oder an Bundesrecht
halten soll.
Nun wäre es zu kurz gegriffen, zu sagen, dies habe
der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung im
47. Band bereits geregelt. Man muss diese Entscheidung
einmal lesen. Sie ist zu altem Recht ergangen, nämlich
zu dem Recht vor dem Korruptionsbekämpfungsgesetz
aus dem Jahre 1997, das die Strafbarkeit noch dadurch
deutlich ausgeweitet hat, dass es eine Unrechtsvereinbarung einengenden Charakter nicht mehr gibt. Auch aus
diesem Grund ist der Gesetzgeber und nicht der Bundesgerichtshof aufgerufen, eine Entscheidung zu treffen.
Im Übrigen - Juristen wissen dies - entscheidet der
Bundesgerichtshof nicht über ein Gesetz, sondern über
den jeweiligen Einzelfall. Ein Professor muss sich nicht
darauf einrichten, dass der Bundesgerichtshof den
nächsten Fall vielleicht anders entscheidet. Die Rechtslage ist verworren genug. Grenze doch jemand für einen
Mediziner nachvollziehbar den Straftatbestand der Untreue von dem der Vorteilsannahme und dem der Bestechlichkeit ab!
({7})
Nein, der Gesetzgeber ist aufgerufen, für das Problem
der Drittmitteleinwerbung als einer strafbaren Dienstpflicht eine klare Lösung zu finden. Der Ansatzpunkt ergibt sich aus einer Änderung von §§ 331 Abs. 3
und 333 Abs. 3 StGB: Man muss nur sagen, dass das,
was dienst- und hochschulrechtlich erlaubt ist, nach
Abs. 1 der §§ 331 und 333 StBG nicht strafbar ist. Damit
hätten wir das Problem gelöst. Diese Lösung habe nicht
ich allein gefunden, sondern - die Kollegin Flach war
bei dem Symposium dabei - sie war das Ergebnis einer
wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas. Helfen
Sie bitte mit und lassen Sie die Professoren nicht im Regen stehen!
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kauder, wissenschaftliche Forschung ist
für den Standort Deutschland von wesentlicher Bedeutung; hierin sind wir uns sicherlich alle einig. Um diese
Forschung effektiv durchführen zu können, ist die Einwerbung von Drittmitteln ausdrücklich erwünscht. Sie
haben bereits darauf hingewiesen, dass sich dies aus dem
Hochschulrecht ergibt. In § 25 des Hochschulrahmengesetzes ist es ausdrücklich normiert. Für uns alle ist sicherlich auch klar, dass das Erwünschte selbstverständlich nicht verboten sein oder bestraft werden darf.
Deshalb halte auch ich Rechtssicherheit für die erlaubte
Drittmitteleinwerbung für unumgänglich.
({0})
Es stellt sich nur die Frage, ob die von Ihnen so vehement geschilderte Rechtsunsicherheit für die Professoren
wirklich besteht. Unser Strafgesetzbuch verbietet Drittmitteleinwerbung an keiner Stelle. Problematisch kann
es allerdings dann werden, wenn die Einwerbung von
Drittmitteln für Forschung und Lehre in den Zusammenhang mit Umsatzgeschäften gebracht wird.
({1})
Beschaffungsentscheidungen im Bereich von Pharmaund Medizinprodukten dürfen natürlich nicht von der
Gewährung außervertraglicher Leistungen abhängig gemacht werden. Auch in diesem Punkt sollten wir uns alle
einig sein. Wenn Sie sich die Fälle einmal genau ansehen, um die es ging, werden Sie feststellen, dass die
meisten von ihnen im Bereich der Drittmitteleinwerbung
durch Professoren an medizinischen Fakultäten spielten.
Genauso sollten wir uns auch einig sein, dass wir für
den Fall, dass sich ein Amtsträger - um einen solchen
geht es bei einem Professor - persönlich bereichern
möchte, im Strafrecht die richtigen Regelungen haben.
Wir können auch nicht hinnehmen, dass Hochschulmitarbeiter Einfluss auf Beschaffungsentscheidungen nehmen, um unter Umgehung der einschlägigen Vorschriften Mittel für eigene Forschungsvorhaben zu erhalten.
Schließlich zum beliebtesten Geschäft - das erkennt
man, wenn man sich damit beschäftigt hat -, zu Kickback-Geschäften: Rückvergütungs- und andere Umgehungsvereinbarungen führen im Ergebnis eben nicht zu
einem sachgerechten Einsatz von Haushaltsmitteln; vielmehr erhöhen sie die Kosten insbesondere im Bereich
des Gesundheitswesens, darunter die der Krankenhäuser,
ganz erheblich. Hierüber sind wir uns wohl alle einig,
Herr Kollege Kauder.
Wir sind uns auch einig, dass wir auf der anderen
Seite den redlich handelnden Professor, von dem Sie
gesprochen haben, über das zulässige Verfahren bei der
Drittmitteleinwerbung nicht im Unklaren lassen dürfen.
({2})
Deshalb ist für die erforderliche Rechtssicherheit im Bereich der Drittmitteleinwerbung das Hochschulrecht
maßgebend. Die Länder müssen also in ihren hochschulrechtlichen Normen klare Regelungen treffen.
Wir alle wissen - Sie haben darauf hingewiesen -,
dass es gerade in diesen Tagen Diskussionen hierüber im
Zusammenhang mit der Föderalismusreform gibt. Der
Bund hat auf diesem Gebiet keine Regelungskompetenzen. Handeln müssen zunächst einmal die Länder. Sie
müssen Drittmittelregelungen in ihren hochschulrechtlichen Gesetzen schaffen. Wenn sie sie geschaffen haben, ist das Verfahren für die Professoren klar. Genau in
diesem Augenblick haben wir dann auch im Strafrecht
keine Probleme mehr.
Korrespondierend zu Ihrem Vorschlag hat die FDP
noch einen Antrag nachgereicht; ich habe gerade gehört,
dass Sie auf der gleichen Veranstaltung waren.
({3})
- Das glaube ich nicht. Das Problem war neu für mich,
Herr Kollege.
Wenn Sie jetzt vorschlagen, das Strafrecht hinsichtlich des Straftatbestandes der Vorteilsannahme gemäß §§ 331 und 333 StGB in der gewünschten Weise zu
ändern, dann wird das Ganze allerdings äußerst problematisch. Das ist ein Vorschlag, der sehr wohl überlegt
sein sollte und den man nicht als Schnellschuss durch
den Deutschen Bundestag bringen sollte;
({4})
denn das Hohe Haus hat im Jahre 1997 das Korruptionsstrafrecht zu Recht verschärft, um strafbedürftige Fälle,
die zuvor noch durch das Netz gingen, erfassen zu können.
({5})
Der damalige Vorteilsbegriff ist erweitert worden.
Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Bei Herrn Kollegen Kauder, der uns dazu gebracht
hat, dass wir heute Abend noch reden müssen, mache ich
auch das noch, aber nur, wenn es nicht zu lange dauert.
Bitte schön, Herr Kauder.
Herr Kollege Stünker, sind wir uns darüber einig, dass
sich die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die im
44. Band veröffentlicht wurde, auf die alte Gesetzeslage
vor dem Korruptionsbekämpfungsgesetz bezog? Das
heißt, dass das Problem schon damals anstand und durch
das Korruptionsbekämpfungsgesetz im Grunde nichts
geändert wurde, außer dass die Drittbegünstigung eingeführt wurde und dass die Strafen erhöht worden sind.
Es ist richtig, dass damit die Drittbegünstigung eingeführt wurde. Es ist aber auch richtig, dass es eine weitere
Entscheidung aus 2002 und eine aus 2004 gibt, das so
genannte Kremendahl-Urteil, auf das ich gleich noch zu
sprechen kommen werde, weil dies ebenfalls in den Gesamtzusammenhang gehört. - Schönen Dank, Herr
Kauder.
Damals ist also in der Tat der Korruptionstatbestand
erweitert worden, allerdings nicht aus dem Grund, über
den wir heute reden, sondern weil ganz einfach in strafrechtlicher Hinsicht diese Notwendigkeit bestand. Alle
in diesem Hohen Haus waren sich einig und sind dann
zu dieser Regelung gekommen.
Wenn wir diesen Straftatbestand, der generell gelten
muss, jetzt einschränken, könnte das einen fatalen Eindruck erwecken, nämlich dass wir es mit der Korruptionsbekämpfung nicht mehr ganz so ernst nehmen.
Von daher meine ich, dass wir an diesem Punkt sehr vorsichtig agieren sollten. So wie ich Sie kenne, hoffe ich,
dass wir uns auch insoweit einig sind.
Angesichts dessen, dass in Ihrem Antrag eine Klarstellung vorgeschlagen wird, frage ich mich allerdings
auch, Herr Kollege Kauder - da sind wir unterschiedlicher Meinung -, ob diese Klarstellung überhaupt erforderlich ist. Ist denn die Gesetzeslage überhaupt unklar?
Ich meine: Nein; denn der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass eine strafbare Vorteilsannahme nicht vorliegt, wenn Fördermittel für Forschung und Lehre eingeworben und diese dem in den Hochschulrechten der
Länder vorgeschriebenen Verfahren unterworfen werden. Wenn das der Fall ist, dann ist bereits der Tatbestand ausgeschlossen und Sie brauchen keinen Rechtfertigungsgrund oder Ähnliches mehr. - Ich lasse jetzt
keine Zwischenfrage mehr zu, da es ansonsten zu spät
wird. - Die Vorteilsannahme ist damit bereits vom Tatbestand her nicht mehr erfüllt. Über die Einzelheiten
können wir gerne im Rechtsausschuss diskutieren.
Sie haben keinen Gesetzentwurf eingereicht, sondern
Sie fordern die Bundesregierung auf, Entsprechendes
vorzulegen. Eine eigene Regelung schlagen Sie nicht
vor.
({0})
Es gibt hier eine weitere Problematik. Sie beschränken sich bei Ihrem Vorschlag explizit auf das Problem
der Drittmitteleinwerbung durch Hochschullehrer.
({1})
Die Abgrenzungsschwierigkeiten, von denen Sie gesprochen haben und die es im Einzelfall durchaus geben
mag, gibt es eben nicht nur bei den Hochschullehrern,
sondern auch in anderen Bereichen.
Ich komme nun auf das von mir genannte Urteil zu
sprechen. Lesen Sie sich das Kremendahl-Urteil des
Bundesgerichtshofs, das vor ein paar Wochen veröffentlicht wurde durch. Darin heißt es, dass bei Kremendahl
die Rechtsprechung hinsichtlich der Drittmitteleinwerbung im Hochschulbereich gerade nicht gilt, um zum
Tatbestandausschluss zu kommen. Die Vorinstanz hatte
ja diese Rechtsprechung entsprechend angewendet. Da
hat der BGH gesagt, das gilt nicht, und hat dann die Voraussetzungen für die Frage der Vorteilsnahme aufgestellt. Anhand dieses Urteils sieht man, dass die ganze
Phalanx der Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker in unserem Land in Zukunft gerade beim § 331
StGB riesige Abgrenzungsprobleme bekommen wird.
Die Verbände sind bereits entsprechend tätig geworden
und haben darauf aufmerksam gemacht.
Das heißt, wir können kein Sonderrecht für einzelne
Berufsgruppen schaffen, sondern wir müssen, wie wir es
gelernt haben, einen Tatbestand schaffen, der auf alles
passt. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dass wir dieses
Thema im kommenden Jahr in einem anderen Zusammenhang diskutieren. Herr Kollege Kauder, Anfang
nächsten Jahres wird sich der Deutsche Bundestag ohnehin mit dem Korruptionsstrafrecht befassen; denn wir
werden dann den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur
Bekämpfung der Korruption vorlegen, der insbesondere
der Umsetzung des Strafrechtsübereinkommens gegen
Korruption des Europarates dient. Sie wissen um die
Problematik. Dabei geht es um § 108 e StGB und die
Frage, wie es mit der Käuflichkeit von Stimmen bei Abgeordneten aussieht.
Da der Bundesgerichtshof auch § 108 e StGB und
§ 331 StGB auf die Kolleginnen und Kollegen in der
Kommunalpolitik anwendet, gibt es hier eine Verbindung. Das heißt, wir müssen uns mit dem Korruptionsstrafrecht insgesamt neu befassen. Ich denke, in diesem
Zusammenhang sollten wir den Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, mitberaten. Ganz sicherlich werden wir
gegenwärtig aber keine Einzelfallregelung treffen. Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Stünker, wie Sie sicherlich wissen, bin ich keine Juristin,
sondern Forschungspolitikerin, und aus diesem Grunde
spreche ich mehr für die Seite der Betroffenen. Nicht nur
das Symposium, das Herr Kauder und ich besucht haben,
sondern auch die Betroffenen treiben uns dazu, uns dafür
einzusetzen, hier zu einer Änderung zu kommen.
({0})
Ich gebe ganz offen zu, dass das Gesetz 1997 unter einer anderen Regierung entstanden ist.
({1})
Trotzdem war es natürlich ein Fehler.
({2})
- Ja, gut, das brauche ich jetzt nicht weiter zu vertiefen. Wir wissen aus der Hochschullandschaft, dass allein aufgrund der veränderten Finanzierungsbedingungen in den
jeweiligen Ländern inzwischen eine ganz andere Situation vorliegt, Herr Tauss wird mir zustimmen: Von uns,
also von der Politik, wird den Hochschulen heute Tag für
Tag vorgeschrieben, Drittmittel einzuwerben.
({3})
- Natürlich ist das das Problem.
({4})
Es gibt Hunderte von Fällen, in denen Anklage erhoben
wurde.
({5})
Wir haben eine ganze Reihe von Problemen und
gleichzeitig haben wir Hochschulen, die dazu verpflichtet werden, Drittmittel in Millionenhöhe einzuwerben.
Wir sind hier in Berlin, halten wir uns einfach einmal
die Zahlen vor. Allein die drei Berliner Universitäten
warben im Jahr 2003 über 160 Millionen Euro ein. Sie
können sich vorstellen, mit welchen Problemen wir als
Forschungspolitiker in diesem Zusammenhang zu kämpfen haben.
Deswegen bin ich der CDU/CSU sehr dankbar, dass
sie nach einer Anhörung, die wir im Forschungsausschuss - mit äußerst renommierten Kollegen auf Ihrer
Seite - durchgeführt haben, zu der Erkenntnis gekommen ist, diesen Vorschlag noch einmal gemeinsam einzubringen. Die FDP hat dies in der letzten Legislaturperiode versucht. Inzwischen ist die CDU/CSU an unserer
Seite; das finde ich gut.
({6})
Wir wollen eine Änderung der §§ 331 und 333 des
Strafgesetzbuches, nach denen die Annahme und Gewährung eines Vorteils dann nicht vorliegt, wenn dieser
Vorteil dienst- bzw. hochschulrechtlich erlaubt ist.
({7})
Gleichzeitig wissen wir, dass sich selbstverständlich
auch die Bundesländer bewegen müssen.
Frau Kollegin Flach, darf Ihnen der Kollege Stünker
eine Zwischenfrage stellen?
({0})
Nein, wir wollen alle gemeinsam heim. Wir sind nur
Herrn Kauder zuliebe noch hier. Deswegen lasse ich
keine Zwischenfrage zu.
({0})
- Wie ich sehe, ist Herr Montag ganz meiner Meinung.
Ohne die Aussicht auf Zwischenfragen hat sich für
mich dann aber das Kommen kaum gelohnt.
({0})
Wir können vielleicht nachher noch Frau Homburger
reden lassen.
Wir müssen mit den Bundesländern zu einer Regelung kommen. Diese Regelung muss möglichst einheitlich sein und klarstellen, dass Drittmitteleinwerbung für
Forschung und Lehre - das ist der zweite Punkt in unserem Antrag - eine dienstliche Aufgabe darstellt. Wir
brauchen zudem Transparenz. Deshalb ist die Annahme
von Drittmitteln der Hochschule oder Klinikleitung
schriftlich anzuzeigen und genehmigen zu lassen. Das
sind die Kernpunkte unseres Antrages.
Ich sehe, meine Redezeit geht zu Ende. - Drittmittel
liegen nicht auf der Straße. Die Forschungsszene wartet
dringend auf eine Lösung. Ich wäre Ihnen sehr dankbar,
wenn Sie unseren Anregungen folgen würden und damit
zu einer Lösung kommen, mit der auch die Hochschulen
gut leben können.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hochschulen, Forschungszentren, Universitätskrankenhäuser
und Kliniken - sie alle sind schon seit Jahren auf die
Einwerbung von Drittmitteln angewiesen. Das wurde
jetzt schon mehrfach gesagt; ich kann mich dem nur anschließen. Diese Entwicklung wird durch die Politik der
Länder und des Bundes gefördert. Forschung auf höchstem Niveau ist ohne Drittmittel kaum noch zu machen.
Die Haushaltslage der öffentlichen Hände weist in die
gleiche Richtung. Deswegen ist die Bedeutung der Drittmitteleinwerbung bei uns völlig unstrittig.
Dabei geht es um viel Geld, Einfluss und vielfältige
Vorteile bis hin zu besseren Arbeitsbedingungen und
wachsender wissenschaftlicher Reputation. Das wünsche ich auch allen Beteiligten. Es ist jedoch notwendig,
erlaubtes Verhalten von strafbarem Verhalten für jeden
klar und einsichtig abzugrenzen.
({0})
Sie, Herr Kauder, haben das für die Union angesprochen.
Sie führen in Ihrem Antrag im Zusammenhang mit der
Drittmitteleinwerbung die Straftatbestände Betrug, Untreue, Vorteilsannahme und -gewährung, Bestechung
und Bestechlichkeit an und weisen darauf hin, dass in einem Zeitraum von zehn Jahren 1 700 Ermittlungsverfahren in diesem Zusammenhang eingeleitet worden sind.
Ich sage Ihnen: Das ist nicht viel, wenn man bedenkt,
dass darunter auch das Massenverfahren im Zusammenhang mit dem Herzklappenskandal ist. Sie selber sagen,
man müsse von dieser Zahl alle Fälle der Bestechlichkeit, der Bestechung und des Betrugs abziehen, die wir
mit dem heute zu diskutierenden Problem gar nicht vermengen wollen.
Wenn es durchschnittlich 170 Verfahren pro Jahr in
ganz Deutschland gibt - abzüglich der Massenverfahren
im Zusammenhang mit dem Herzklappenskandal, abzüglich der Fälle des Betrugs und der Bestechlichkeit -,
dann wundert mich, dass die CDU/CSU in ihrem Antrag
von einem „Generalverdacht der Korruption“ redet. Ich
halte das für absurd.
({1})
Interessant ist der Textvergleich Ihrer beiden Anträge.
Ich weiß nicht, welcher zuerst vorlag. Der Drucksachennummer nach zu urteilen, lag der CDU-Antrag zuerst
vor. Aber in beiden Anträgen gibt es einen fast textidentischen Satz: In jüngster Zeit seien zahlreiche Professoren an Universitätskliniken mit Strafverfahren konfrontiert. Ich erlaube mir die Frage: Wer von Ihnen beiden
hat bei dem jeweils anderen abgeschrieben und von welchen Fällen sprechen Sie eigentlich? Es gibt keine belastbaren Zahlen, die belegen würden, dass es bei uns in
Deutschland einen Generalverdacht des kriminellen Verhaltens gegen ehrenwerte Professoren gibt,
({2})
der durch Einleitung leichtfertiger Ermittlungsverfahren
formuliert worden wäre.
({3})
Es gibt keine belastbaren Zahlen als Beleg für Ihre Unkenrufe, Unternehmer würden nicht mehr Drittmittel an
deutsche Universitäten geben. Auch das, was die FDP in
ihrem Antrag kolportiert, wonach privates Geld wieder
einmal ins Ausland abwandern würde,
({4})
ist eine Gespensterdiskussion.
Fakt ist hingegen: Wir haben eine völlig klare Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Abgrenzung von
erlaubter und gewünschter Drittmitteleinwerbung.
({5})
- Herr Kollege Kauder, lassen Sie uns das im Rechtsausschuss besprechen. Ich lasse, mit Verlaub, eine Zwischenfrage jetzt nicht zu.
({6})
Deswegen sage ich Ihnen: Wer nicht hintenherum die
Hand aufhält, der gerät in aller Regel auch nicht mit der
Staatsanwaltschaft in Konflikt. Es ist bezeichnend, dass
gerade die CDU-Kollegen Kauder und Schmidt, die Sie
beide auf einem Symposium waren, in diesem Zusammenhang von einem Generalverdacht gegen deutsche
Professoren reden und nach einer Entkriminalisierung
im Korruptionsbereich rufen. Der Kollege Schmidt hat
sich dazu wissenschaftlich geäußert und vor kurzem
noch eine andere Position vertreten. Ich verstehe nicht,
warum Sie jetzt plötzlich so vehement gegen Ihr eigenes
Gesetz aus dem Jahre 1997 vorgehen.
({7})
Wir werden die Anträge der Opposition in die Ausschussberatung überführen und dann im Zusammenhang
mit der Novellierung des § 108 e noch einmal miteinander darüber sprechen. Aber nach dem, was Sie uns heute
geboten haben, sehe ich jedenfalls keine Notwendigkeit,
das Strafrecht in dem von Ihnen gewünschten Sinne zu
verändern.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Helge Braun für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den Vorwurf, dass derjenige, der sich für mehr
Rechtssicherheit bei der Einwerbung von Drittmitteln
einsetzt, einer Liberalisierung der Korruptionsbestimmungen das Wort redet, muss ich entschieden zurückweisen.
({0})
Wir haben in den Reden der Vertreter der Regierungsfraktionen gehört, wie man verfährt: Erst wird das Problem generell angezweifelt; dann kommen vorsichtige
Äußerungen, mit denen man zugesteht, dass es Abgrenzungsprobleme im Einzelfall geben mag, wenn auch
keine belastbaren Zahlen vorlägen. Ich will Ihnen sagen:
Es gibt belastbare Zahlen.
({1})
Die Bundesforschungsministerin bemängelt immer wieder, dass der Anteil der Wirtschaft an den Mitteln, die in
Deutschland für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden, zu klein ist, um Forschung und Entwicklung
in Deutschland zu betreiben.
({2})
Im Ausland ist die Quote höher. Was ist die Ursache dafür?
({3})
Das liegt unter anderem an einer erheblichen Verunsicherung von Forschern und von forschenden Unternehmen bei der Vergabe und Einwerbung von Drittmitteln.
170 Ermittlungsverfahren im Jahr sind aus Ihrer Sicht
vielleicht nicht viel. Ein Professor an einer Universität,
der sich einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt sieht,
das sich aufgrund einer nicht eindeutigen Rechtslage
über längere Zeit hinzieht, kann sich in seinem beruflichen Fortkommen in erheblicher Weise beeinträchtigt
sehen. Damit sind eine erhebliche Rufschädigung und
erhebliche Nachteile verbunden.
({4})
Deshalb ist allein schon die Reduzierung der Zahl der
Ermittlungsverfahren ein großer Wert.
({5})
- Sind Sie jetzt fertig? - Wir unterhalten uns hier über
einen Bereich, in dem es in Deutschland um Gelder in
der Größenordnung von 5,4 Milliarden Euro jährlich
geht. Die Drittmitteleinwerbung ist eine zentrale Aufgabe der Leute an den Hochschulen. Es geht nicht nur
um die Korruptionsbekämpfung: Transparenz kann
hergestellt werden. Wir haben relativ klare Verfahrenswege. Es ist vorgeschlagen worden, dass die Universitäten durch ein zusätzliches Genehmigungsverfahren
Rechtssicherheit herstellen und deutlich machen, wofür
die Gelder ausgegeben werden.
({6})
Das alles stellt kein Problem bei der Drittmittelvergabe
dar. Aber das strafrechtliche Problem wird nach derzeitiger Situation durch eine Genehmigung auf der Ebene der
Hochschule in keiner Weise verhindert. Genau an dieser
Stelle setzt der Ansatz an, den die CDU/CSU und die
FDP verfolgen.
({7})
Aus unserer Sicht bestehen die Aufgaben eines modernen Drittmittelrechts darin, den Anteil der Forschungsausgaben der Wirtschaft zu steigern, die Abgrenzungsschwierigkeiten zu überwinden und die
Klarheit für die Wissenschaftler wiederherzustellen. Die
rechtspolitische Diskussion, die Sie hier führen, kann ein
Professor nicht nachvollziehen.
Wenn Sie schon zugeben, dass das Problem für Sie
neu ist, dann sollten Sie sich bei den Universitätsprofessoren erkundigen. Sie werden immer wieder dieses Problem genannt bekommen. Es ist kein Wunder, dass
hierzu Veranstaltungen stattfinden und dass immer wieder darüber diskutiert wird. Lesen Sie das in der Rechtsliteratur nach! Die landesrechtlichen Vorschriften allein
des Landes Hessen sind in den letzten drei Jahren 17-mal
in Zeitschriften im öffentlichen Recht behandelt worden.
({8})
An dieser Stelle von einer Rechtssicherheit für Professoren, Mediziner und Naturwissenschaftler zu sprechen, die nicht die gleiche Rechtsbewandtnis haben wie
Sie und sich wochenlang mit einem solchen Thema auseinander setzen können, ist überaus problematisch. Die
Zahlen sprechen für sich.
({9})
Die Bedeutung der Drittmitteleinwerbung in der Wissenschaft ist nicht hoch genug einzuschätzen.
({10})
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft erstellt inzwischen ein Ranking, in dem die Drittmitteleinwerbung der
Professoren ausdrücklich aufgeführt wird, und zwar als
positives Signal.
({11})
Das ist unterstützenswürdig. Aber angesichts der Tatsache, dass die Professoren, die die höchste Drittmitteleinwerbungsquote aufweisen, diejenigen sind, die im anwendungsnahen Bereich arbeiten, ist insbesondere klar,
dass Drittmitteleinwerbung nicht auf die öffentliche
Hand, sondern auf die private Wirtschaft zurückgeht.
({12})
Ich bin sowieso gleich fertig. Dann kann er seine
Frage stellen.
({0})
An dieser Stelle setzt das Problem ein: Die Wirtschaft
muss Rechtssicherheit haben, damit investiert wird, und
Professoren müssen Rechtssicherheit haben, damit sie
Drittmittel einwerben können. Mit Korruption hat das
überhaupt nichts zu tun.
({1})
Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu
und warten Sie nicht auf eine imaginäre Korruptionsdebatte im nächsten Jahr. Denn wir brauchen jetzt Rechtssicherheit. Die Wissensgesellschaften in den USA und in
England nehmen keine Rücksicht auf die Langsamkeit
unserer Verfahren.
({2})
Jetzt wollten Sie noch eine Frage stellen, Herr Tauss?
Das ist zwar gut gemeint, aber da Ihre Redezeit bereits um acht Sekunden überschritten ist, kann ich jetzt
- nach Ablauf Ihrer Redezeit - keine Zwischenfrage
mehr zulassen, was mich fast noch mehr enttäuscht als
den potenziellen Fragesteller.
({0})
Da auch die Bundesregierung von ihrem Rederecht
überraschenderweise keinen Gebrauch machen will, sind
wir damit am Ende der Aussprache, die ich hiermit
schließe.
({1})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/4144 und 15/4513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
({2})
- Schon die Andeutung ist nahezu strafbar, Herr Kollege
Tauss. ({3})
Die Vorlage auf Drucksache 15/4144 soll zusätzlich an
den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 sowie den
Zusatzpunkt 8 auf:
15 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansGünter Bruckmann, Ludwig Stiegler, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Winfried
Hermann, Albert Schmidt ({4}), Volker
Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Luftverkehrsstandort Deutschland - Koordination und Kooperation verbessern - Nachhaltigen Luftverkehr für die Zukunft sichern
- Drucksache 15/4518 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Finanzausschuss
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({7}), Dr. Karl Addicks, Daniel
Bahr ({8}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Flughafenkonzept für Deutschland
- Drucksache 15/4517 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Hierzu hätte eine halbe Stunde diskutiert werden sol-
len. Die vorbereiteten Reden der Kollegen Hans-Günter
Bruckmann, Norbert Königshofen, Eduard Oswald,
Winfried Hermann, Horst Friedrich und des Parlamenta-
rischen Staatssekretärs Dr. Ditmar Staffelt, die schwer-
lich in einer halben Stunde hätten abgewickelt werden
können, werden zu Protokoll gegeben, sodass wir die
Aussprache eröffnen und damit auch schließen können.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/4518 - sie betrifft den Tagesordnungspunkt 15 - zu überweisen: zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sowie den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Die Vorlage auf Drucksache 15/4517 - sie betrifft den
Zusatzpunkt 8 - soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu
weiter reichende Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({10}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Verwertung von Abfällen
auf Deponien über Tage ({11})
- Drucksachen 15/4238, 15/4290 Nr. 2.1, 15/4488 -
1) Anlage 5
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Werner Wittlich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Birgit Homburger
Auch hierzu sollte eine halbe Stunde Debatte stattfin-
den. Dies ist aber entbehrlich, weil die Kollegin Petra
Bierwirth, Dr. Antje Vogel-Sperl und Birgit Homburger
sowie der Kollege Werner Wittlich ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben haben.2)
({12})
Ich wollte gerade vorschlagen, dass ich die Reden
- da ich ja über sie verfüge - hilfsweise verlesen könnte,
wenn jemand darauf besteht.
({13})
Da auch darauf freundlicherweise verzichtet wird, kann
ich die Aussprache schließen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zur Verordnung der Bundesregierung über die Verwertung von Abfällen auf Deponien
über Tage. Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 15/4238 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Das ist bei einer überschaubaren Zahl beteiligter Kollegen eine auskömmliche Mehrheit. Damit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Dezember 2004,
ein. Sie beginnt unüblicherweise erst um 10 Uhr, weil
vorher Fraktionssitzungen stattfinden.
Wegen der frühen Beendigung unserer heutigen
Plenarberatung haben nun alle Kolleginnen und Kollegen noch ausreichend Zeit, sich gründlich auf die morgigen Fraktionssitzungen vorzubereiten.
Ich wünsche allen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.