Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/3/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der in der 142. Sitzung überwiesene Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht auf Drucksache 15/4228 soll nachträglich noch dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union ({1}) in Darfur/Sudan auf Grundlage der Resolutionen 1556 ({2}) und 1564 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 30. Juli 2004 und 18. September 2004 - Drucksachen 15/4227, 15/4257 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({4}) Joachim Hörster Dr. Ludger Volmer Harald Leibrecht Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/4259 Berichterstattung: Abgeordnete Alexander Bonde Lothar Mark Herbert Frankenhauser Dietrich Austermann Jürgen Koppelin Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Kolbow das Wort.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einmal mehr muss sich dieses Haus mit der humanitären Katastrophe in Darfur und mit der Frage beschäftigen, was Deutschland beitragen kann, um noch mehr Leid zu verhindern und mehr Sicherheit für verfolgte Menschen zu erreichen. Dabei ist uns klar: Die Situation in Darfur kann nur mit internationaler Unterstützung verbessert werden. Für das Überleben der Menschen ist es angesichts der unzähligen Opfer, die wir schon zu beklagen haben, wichtig, dass getroffene Waffenstillstandsvereinbarungen eingehalten werden und die Hilfsorganisationen freien Zutritt haben, um den Menschen dort zu helfen. ({0}) Der Darfurkonflikt gefährdet sowohl die bereits ausgehandelten Ergebnisse des gesamtsudanesischen Friedensprozesses als auch die Stabilität des Sudan und der gesamten Region. Es liegt in unserem Interesse, die Fähigkeit der Afrikanischen Union zur Durchführung der Mission AMIS, der African Union Mission in Sudan, zu unterstützen. Ihr Ziel ist die Überwachung des Waffenstillstandsabkommens vom 8. April 2004, die Unterstützung von vertrauensbildenden Maßnahmen und die Verbesserung der Sicherheitslage, die immer noch durch gegenseitige Übergriffe, Misshandlungen der Zivilbevölkerung und Plünderungen von Konvois der Hilfsorganisationen gekennzeichnet ist. Es geht jetzt darum, die Operation AMIS personell und materiell zu unterstützen, damit die Afrikanische Union in Darfur wirksamer als bisher handeln kann. ({1}) Redetext Rechtliche Grundlage sind, wie wir wissen, die UNResolutionen vom Juli bzw. vom September. Vor einer Woche hat der Sicherheitsrat mit der Resolution 1574 die Mitgliedstaaten erneut gedrängt, logistische Hilfe zu leisten. Der Sicherheitsrat billigt darin den Einsatz militärischer Beobachter einschließlich einer Schutztruppe, um das Waffenstillstandsabkommen einzuhalten. Für die Stärkung der Operation AMIS ist eine größere internationale Unterstützung zwingend erforderlich; denn den afrikanischen Truppenstellern fehlt es vor allem an Lufttransportkapazität. Die Niederlande, Großbritannien und die USA haben bereits Lufttransportleistungen erbracht. Deutschland will es ebenfalls tun. ({2}) Die Bundeswehr wird also, wenn Sie zustimmen - wir hatten am Montag vertrauensvolle Unterredungen in den Ausschüssen aufgrund der Nachfragen, die am letzten Donnerstag und letzten Freitag aufgetaucht sind -, afrikanische, voraussichtlich tansanische, Kontingente in den Sudan transportieren und die Durchführung der Überwachungsmission mit Lufttransporten in das Einsatzgebiet unterstützen. Vorgesehen ist der Einsatz von drei Transall-Transportflugzeugen, die mit entsprechenden Selbstschutzanlagen ausgerüstet sind. Maximal werden 200 Soldaten einschließlich Unterstützungs-, Sanitäts- und Sicherungskräften zum Einsatz kommen. Für den Fall eines Angriffs auf ein deutsches Transportflugzeug auf sudanesischem Boden ist beabsichtigt, eine Sicherungskomponente an Bord der Luftfahrzeuge mitzuführen, um Flugzeug und Besatzung bei Bedarf sichern zu können. Die Stationierung der Soldaten in Darfur ist nicht vorgesehen. Ihre zeitweilige Präsenz im Land ist direkt mit dem Lufttransport verknüpft. Dieser wird der Afrikanischen Union grundsätzlich durch die Europäische Union zur weiteren Abstimmung mit der sudanesischen Regierung angezeigt. Ein Flug- bzw. Überfluggenehmigungsverfahren wird zentral von der Afrikanischen Union mit diplomatischer Note von der sudanesischen Regierung erbeten. Dieses Verfahren hat sich in der Vergangenheit bewährt und es ist sichergestellt, dass es auch bei diesem Einsatz Anwendung findet. Das Mandat für den deutschen Einsatz soll mit Ihrer Zustimmung auf sechs Monate begrenzt werden. Damit wäre eine ausreichende Flexibilität für den Fall gegeben, dass sich der bis Ende Februar 2005 geplante Aufwuchs der Mission verzögern sollte. Damit hätten wir unseren Beitrag zur Unterstützung von AMIS und zur Arbeitsfähigkeit dieser Operation geleistet. Deutschland und die Staaten der Europäischen Union wollen AMIS nicht ersetzen; aber wir wollen durch unseren Beitrag dem starken politischen Willen der Afrikanischen Union, die Zügel in der Hand zu behalten und selbst tätig zu werden, Rechnung tragen. ({3}) Ich möchte das Haus auf der Grundlage dieser meines Wissens gesicherten Informationen zur Sicherheitslage auch aus der Sicht des Verteidigungsministeriums bitten, dem Antrag auch im Interesse des Erfolgs der Mission zuzustimmen. Für diese Aufgabe ist die breite Zustimmung dieses Hauses dringend notwendig. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Andreas Schockenhoff, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zum Einsatz deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der AMIS-Mission zustimmen. Wir haben im Mai dieses Jahres in einem interfraktionellen Antrag den Völkermord, die Vertreibungen und die massiven Menschenrechtsverletzungen in Darfur angeprangert. Wir haben gemeinsam vor einer humanitären Katastrophe mit dem Einsetzen der Regenzeit gewarnt. Heute müssen wir feststellen, dass diese humanitäre Katastrophe unter den Augen der Weltöffentlichkeit eingetreten ist, und zwar auch deshalb, weil die Vereinten Nationen nicht handlungsfähig waren. In der UN-Vollversammlung haben afrikanische Staaten Resolutionen verhindert, die massive Menschenrechtsverletzungen im Sudan und in Simbabwe verurteilt hätten. Sie bezeichneten die vorgeschlagenen Resolutionstexte - wörtlich - als „konfrontativ“ und „in keiner Weise geeignet, die Staaten Afrikas zur Kooperation zu bewegen“. Solange afrikanische Regierungen die Kritik an massiven Menschenrechtsverletzungen und einer rassistischen Politik in anderen afrikanischen Ländern als Diskriminierung ihres Kontinents zurückweisen, wird sich die Misere Afrikas noch weiter verschärfen. Im UN-Sicherheitsrat haben die USA eine Resolution vorgelegt, die den Druck auf die sudanesische Regierung verstärkt und Sanktionen androht, falls sie ihr Verhalten in Darfur nicht ändert. Zweimal mussten die USA ihren Resolutionsentwurf umschreiben und am Ende die Sanktionsandrohungen fallen lassen, bevor sich China und Russland statt eines Vetos wenigstens zu einer Enthaltung durchringen konnten. China ist der größte Investor in der sudanesischen Ölindustrie; Russland und Weißrussland sind die größten Waffenlieferanten des Sudans. Die „taz“ berichtet über diesen diplomatischen Eiertanz, durch den die Menschen in Darfur im Stich gelassen wurden, zu Recht unter der Überschrift „Völkerrecht bricht Menschenrecht“. Wir fordern die Bundesregierung auf, in ihrer stillen Telefondiplomatie gegenüber dem russischen Präsidenten und der chinesischen Führung, aber auch bei den Verhandlungen über die Reform der Vereinten Nationen nicht nur die Erweiterung des Sicherheitsrats, sondern auch vor allem die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats in fundamentalen Menschenrechtsfragen zur Sprache zu bringen. ({0}) Die Afrikanische Union hat sich bei ihrer Gründung vor zweieinhalb Jahren vorgenommen, bei Völkermord und inneren Konflikten afrikanischer Staaten nicht wegzusehen, sondern einzugreifen. Wir begrüßen das Friedensengagement der Afrikanischen Union in Darfur als einen ersten ernsthaften Testfall. Wir müssen die Truppen stellenden Staaten in Afrika logistisch und finanziell unterstützen, weil ein Scheitern ihrer Mission die AU schwächen würde und weil wir afrikanische Krisen nur in sehr begrenztem Maße von außen beheben können. Der Generalsekretär des Rates und Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Solana, hat eine koordinierte Unterstützung der AU durch die Europäische Union gefordert. Deutsche Offiziere aus dem EU-Militärstab sind bereits nach Addis Abeba entsandt, um die Afrikanische Union zu beraten. Gestern hat die EU die Bosnienmission übernommen. Sie wird damit zu einem auch militärisch handlungsfähigen internationalen Akteur. Deshalb hätten wir es lieber gesehen, wenn sich die Bundesregierung für eine ESVPMission in Darfur eingesetzt und den Transport tansanischer Truppen im Rahmen eines europäischen Angebots zugesagt hätte. ({1}) Vielleicht hätten sich dann auch die Irritationen zwischen dem sudanesischen Außenministerium und dem deutschen Botschafter in Khartoum vermeiden lassen, deretwegen wir die Entscheidung des Bundestages auf heute verschieben mussten. Der sudanesische Staatsminister hat der Bundesregierung unterstellt, die Rebellenorganisation in Darfur zu unterstützen. Statt diese Kritik bilateral zurückzuweisen, hätte die Chance bestanden, im Rahmen einer europäischen Sudanpolitik zu handeln. Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss erklärt hat, der Darfureinsatz der Bundeswehr werde aus Mitteln der EU-Friedensfazilität für Afrika finanziert. Der Antrag, der uns heute zur Abstimmung vorgelegt wird, sieht allerdings eine Finanzierung mit Mitteln aus dem Einzelplan 14 des Bundeshaushaltes vor. Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist es richtig, deutsche Soldaten zum Transport von Truppen der Afrikanischen Union nach Darfur zu entsenden. Ohne eine Lösung des Darfurkonflikts ist keine dauerhafte Befriedung des gesamten Sudans möglich. Staatssekretär Kolbow hat zu Recht darauf hingewiesen. Ein Zerfall des flächenmäßig größten Staates in Afrika würde eine der weltweit schlimmsten humanitären Krisen weiter verschärfen und einen neuen Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus schaffen. Deswegen liegt die Überwachungsmission der Afrikanischen Union im deutschen Interesse. Der Beitrag der Bundeswehr zum Lufttransport ist angemessen und wird von uns mitgetragen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Heinrich, FDPFraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als Entwicklungspolitiker begrüße ich den Antrag der Bundesregierung ausdrücklich. Nachdem die Fragen meines Kollegen Hoyer letzte Woche zufriedenstellend beantwortet wurden, wird die FDP-Fraktion diesem Antrag zustimmen. Was sich derzeit in Darfur abspielt, ist mit das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Als ich im Sommer dieses Jahres die Darfurregion bereist habe, um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen, habe ich den Umständen entsprechend einigermaßen gesittete Verhältnisse vorgefunden. Aber nun müssen wir erleben, dass sich die Situation laufend verschlechtert. Die Regierung in Khartoum hat alle ihre Zusagen nicht eingehalten. Wir sind ständig vertröstet worden, während sich die Situation immer weiter verschlechtert. Die Bombardierungen gehen weiter. Lager werden zwangsgeräumt. Die mühsam errichtete Infrastruktur - Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln; dafür hat CARE gesorgt - wurde mit dem Bulldozer radikal zerstört. Letztendlich wurden sämtliche Friedensversprechungen gebrochen, bevor die Tinte, mit der die Unterschriften geleistet worden waren, trocken war. Die Weltgemeinschaft kann hier nicht länger zusehen. Es wäre ein Skandal, wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, nicht alles unternähmen, um die Situation dort zu verbessern. ({0}) Ich möchte die Bundesregierung hier ausdrücklich dafür loben, dass sie im UN-Sicherheitsrat massiven Druck gemacht hat, um die Resolutionen überhaupt zustande zu bringen. Nach langem Hin und Her wurden letztendlich drei Resolutionen verabschiedet. Es kann nicht sein - diese Meinung vertrete ich seit langem -, dass die EU selbst dort Missionen durchführt; vielmehr müssen wir die AU unterstützen und sie in die Lage versetzen, die notwendigen Maßnahmen mithilfe der AMIS durchzuführen. Afrika muss lernen, seine Probleme mit eigener Kraft zu lösen. Darfur wird die Nagelprobe sein. Wir werden sehen, wie sich die afrikanischen Staaten in dieser Mission verhalten und welchen Beitrag sie leisten. Afrika braucht unsere Unterstützung. Wir wollen mit dem heutigen Beschluss das klare Signal geben, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, im Rahmen der europäischen Sicherheitspolitik unseren Beitrag leisten wollen. Aber es ist äußerst wichtig, dass neben dieser Überwachungsmission bewaffnete Schutztruppen zur Sicherheit von humanitären Hilfeleistungen und zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort präsent sind. Das Mandat gibt das zwar her; aber es kann bezweifelt werden, ob die geplanten zusätzlichen 2 300 Militärs ausreichen werden. Wer die Größe dieses Gebietes kennt - die Region Darfur ist etwa so groß wie Frankreich -, der kann sich vorstellen, welche unglaublichen Leistungen dort vollbracht werden müssen. Wenn die Gewalt in diesem Land gestoppt werden soll, dann wird die AU die militärischen Kräfte sicherlich aufstocken müssen. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft werfen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Heinrich, kommen Sie bitte zum Ende. Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Um Darfur dauerhaft befrieden zu können, wird die Marginalisierung dieser Region aufgehoben werden müssen. Im Entwurf des Nord-Süd-Vertrages ist die Beteiligung der Südregion festgelegt. Nötig ist eine entsprechende Behandlung der Region Darfur. Anderenfalls wird es dort wohl nie zur Ruhe kommen. Ich hoffe, dass die Regierung in Khartoum einsichtig ist und das Signal, das von der AU, aber auch von der Weltgemeinschaft ausgeht, versteht. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Staatsministerin Kerstin Müller.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute über das Mandat zur Entsendung von Transportkapazitäten der Bundeswehr für die AU-Mission in Darfur zu entscheiden. Wie schon gesagt wurde, ist die Lage in Darfur leider auch nach den vielen Anstrengungen, die die internationale Gemeinschaft dort unternommen hat, sehr dramatisch. Mehr als 1,6 Millionen Menschen sind in Darfur auf der Flucht, über 200 000 haben sich in den Tschad geflüchtet. Seit März dieses Jahres sind bis zu 70 000 Menschen ums Leben gekommen. Die Kämpfe gehen weiter, und zwar trotz der Vereinbarungen der Konfliktparteien in Abuja. Beide Seiten - ich sage das sehr deutlich -, die Rebellenorganisationen und die sudanesische Regierung, brechen immer noch den vereinbarten Waffenstillstand. Es sind wieder einmal die Menschen, es ist die Zivilbevölkerung, die massiver Gewalt ausgesetzt sind und zwischen die Fronten dieses Konflikts geraten. Selbst Hilfsorganisationen, auch deutsche, sind in den vergangenen Wochen angegriffen worden. Ich möchte an dieser Stelle einmal allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Hilfsorganisationen, die trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage in Darfur unter Einsatz ihres Lebens für eine Linderung der Not der Flüchtlinge und Zivilisten arbeiten, im Namen des ganzen Hauses danken. ({0}) Die Bundesregierung hat seit Beginn der Krise alles versucht, im Rahmen der EU und der Vereinten Nationen, um die Gewalt in Darfur zu beenden. Auch aufgrund der dramatischen Lage habe ich mich entschlossen, an der Sitzung des Sicherheitsrats in Nairobi, die vor zwei Wochen stattgefunden hat, teilzunehmen. Ich habe vor dem Sicherheitsrat sehr deutlich gemacht, dass die internationale Gemeinschaft bei fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Darfur nicht untätig bleiben darf. Meine Damen und Herren, wir dürfen mit dem internationalen Druck nicht nachlassen; wir müssen alles dafür tun, dass es zu einem Ende der Gewalt in der Region kommt. ({1}) Die sudanesische Regierung und die Rebellenorganisationen müssen endlich die Gewalt beenden. Die sudanesische Regierung hat die Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Sie muss die Gewalt beenden und die Janjaweed-Milizen entwaffnen. Auch die Rebellenorganisationen müssen ihre Angriffe auf Zivilisten und auf humanitäre Organisationen sofort einstellen. Ich appelliere noch einmal an beide Seiten, ähnlich wie im Nord-Süd-Konflikt endlich nach einer politischen Lösung zu suchen und die Verhandlungen in Abuja fortzusetzen. Auf dem Weg des Krieges, mit dem Mittel der Gewalt wird es nicht zu einer Lösung des Konflikts kommen. ({2}) Vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Situation in Darfur kommt den Bemühungen der Afrikanischen Union eine ganz besondere Bedeutung zu. In seinen Resolutionen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Überwachungsmission der Afrikanischen Union ausdrücklich mandatiert. Um es noch einmal glasklar zu sagen: Dieser Mission hat auch die sudanesische Regierung zugestimmt. Noch am Dienstag hat der sudanesische Außenminister die zu langsam erfolgende Aufstockung der Mission beklagt. Herr Schockenhoff, von Irritationen kann also keine Rede sein, abgesehen davon, dass der sudanesischen Regierung die klare Haltung der Bundesregierung angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen in Sudan nicht besonders gut gefällt. Auch Kofi Annan hat in Nairobi noch einmal ausdrücklich an die internationale Gemeinschaft appelliert, die AU bei ihrer Mission zu unterstützen. Der Präsident der AU-Kommission Konaré hat mir gegenüber gesagt, er sehe das Engagement der AU in Darfur gar als eine ganz zentrale Bewährungsprobe für die Afrikanische Union an. Deshalb ist klar: Es gilt für diese Mission „African ownership“, das heißt, die Afrikanische Union wird diese Mission in Eigenverantwortung durchführen. Je mehr der Wille zu einer politischen Lösung aus der Region selbst kommt, desto erfolgversprechender ist, glaube ich, eine solche Mission. Allerdings ist für mich auch klar: Wir müssen alles dafür tun, dass diese Bewährungsprobe erfolgreich verläuft. Die Aufstockung der AU-Mission ist angelaufen. Sie verfügt derzeit über circa 800 Mann. In den kommenden Wochen und Monaten soll die Mission auf bis zu 3 320 Mann aufgestockt werden. Die Monitore der AMIS-II-Mission sollen künftig nicht mehr nur den Waffenstillstand überwachen; sie sollen auch Zivilisten schützen, die unmittelbar bedroht sind. Allerdings steht die Afrikanische Union vor enormen organisatorischen und logistischen Herausforderungen, die sie aus eigener Kraft nicht meistern kann. Deshalb braucht sie unsere Unterstützung. Neben der Finanzierung der Mission durch die EU-Friedensfazilität in Höhe von 92 Millionen Euro hat die AU die internationale Gemeinschaft um logistische Unterstützung gebeten. Die Bereitstellung von Transportkapazitäten der Bundeswehr wäre, glaube ich, ein besonders sichtbarer Beitrag unserer Unterstützung für das Gelingen der Mission. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier alle gemeinsam im Mai dieses Jahres einen Antrag zur Lösung der Darfurkrise verabschiedet. In diesem Antrag wird die Bundesregierung zur Unterstützung der Friedensbemühungen der AU aufgefordert. Genau das wollen wir jetzt tun. Ich würde mich daher sehr freuen, wenn unser Antrag auf Bereitstellung von Transportkapazitäten die breite Unterstützung dieses Hauses finden würde und wir damit einen kleinen, aber notwendigen Beitrag zum Gelingen der AU-Mission in Darfur leisten würden. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Morden, das Vertreiben und das Vergewaltigen von Tausenden unschuldiger Menschen im Sudan ist unerträglich und muss nach 21 Jahren Bürgerkrieg endlich beendet werden. Was bietet uns die Bundesregierung aber als Lösung für diesen schrecklichen Konflikt an? Ich will nur einige Widersprüche benennen, die nicht geklärt sind, die aber geklärt sein müssen, bevor der Bundestag mit gutem Gewissen einem Mandat zustimmen kann. In der Beschlussempfehlung steht: Die Bundesregierung sieht im Friedensengagement der AU einen Ansatzpunkt für eine künftige Zusammenarbeit bei Konfliktlösungen in Afrika. Das hört sich nach wirklich gleichberechtigter und vertrauensvoller Kooperation an. Die Afrikanische Union hat jedoch vor einer Woche die Resolutionsentwürfe der EU, der USA und anderer westlicher Industrieländer zur Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen im Sudan zurückgewiesen. Gemäß der Interpretation von Südafrika zeigt die Initiative, dass die EU und die anderen Industrieländer … weiter nur in Entwicklungsländern - statt in den Gefängnissen des Iraks - nach Menschenrechtsverletzungen suchen. Das hört sich wiederum nicht nach enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen der Afrikanischen Union und Europa an. Sehr skeptisch bin ich auch, ob eine multinationale afrikanische Einsatzgruppe von kaum mehr als 5 000 Mann in einem Gebiet von der Größe Darfurs dafür garantieren kann, dass über eine Million Menschen in ihre Siedlungen zurückkehren können. Da ist wohl auch Frau Staatsministerin Müller skeptisch; so sagte sie gegenüber der „Zeit“: Wir können nicht jetzt schon sagen, die Afrikaner sind gescheitert, wo sie noch gar nicht richtig angefangen haben. Die Regierung fordert uns also auf, ein Bundeswehrmandat für eine Initiative zu geben, deren Sinn sogar die zuständige Staatsministerin mehr als bezweifelt. Meine Damen und Herren, ich könnte noch eine Vielzahl von Widersprüchen benennen, die deutlich machen, dass es wirklich hochgradig leichtfertig und verantwortungslos wäre, dieses Mandat zu erteilen. ({0}) Es gibt aber aus der Sicht der PDS einen weiteren gewichtigen Grund, das Mandat abzulehnen: Das sind die Daten des Rüstungsexportberichts. Dem Bericht zufolge wurden im Jahr 2003 Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter im Wert von fast 5 Milliarden Euro erteilt. Jeder friedliebende Mensch fragt sich doch in Anbetracht dieser Zahl, ob das Friedensengagement der Bundesregierung auch wirklich ehrlich gemeint ist. Ich habe nach dem Lesen des Rüstungsexportberichts ernsthafte Zweifel und frage mich bei jedem Auslandseinsatz, ob es sich hier um eine Friedensmission oder um eine robuste Form der Markterschließung für weitere Rüstungsexporte handelt. ({1}) Die PDS lehnt das Bundeswehrmandat aus den genannten Gründen ab. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Die internationale Gemeinschaft darf keine doppelten Standards benutzen. Wir dürfen nicht zusehen, wie ethnische Vertreibung stattfindet. Diese darf es nirgendwo, auch nicht in Afrika, geben. ({0}) Ihnen, Frau Lötzsch, und anderen, die Zweifel haben, sage ich: Wir beteiligen uns an diesem Einsatz in Darfur, weil anders Menschenleben nicht geschützt und gerettet werden können und weil wir nicht zusehen und zulassen dürfen, dass vor unseren Augen das stattfindet, was die renommierte International Crisis Group einen Völkermord in Zeitlupe nennt. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Mördern das Handwerk legen und dass wir alle dazu beitragen, dass Hilfe zur Verfügung gestellt wird. ({1}) Es ist gesagt worden, warum sich die Situation so dramatisch gestaltet. 1,8 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor den Milizen und dem Militär der eigenen Regierung. - Wenn ich darf, würde ich auch die Kollegen da hinten, die sich offenbar über andere Fragen unterhalten, bitten, zuzuhören. Das Thema ist, glaube ich, so wichtig, dass wir uns alle damit beschäftigen sollten. ({2}) - Ich bin ja auch Abgeordnete. ({3}) - Es war auch keine Kritik. Ich glaube, jeder hat verstanden, was ich gesagt habe; das war völlig in Ordnung. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile ist die Vergewaltigung von Mädchen und Frauen ein systematisches Mittel der perversen Kriegsführung geworden. An eine sichere Rückkehr der Flüchtlinge ist ohne militärischen Schutz nicht zu denken. Ihre Dörfer sind zerstört und die Gefahr, wieder in die Hände der Milizen zu fallen, ist groß. Die Regierung in Khartoum hat - es ist gesagt worden - bisher kaum oder gar keine wirksamen Maßnahmen unternommen, um diesem Vorgehen Einhalt zu gebieten. Die humanitäre Nothilfe hat zwar bisher dafür gesorgt, dass nicht noch mehr Menschen sterben. Die Nothilfe war nur möglich, weil es im Frühjahr dieses Jahres einen Aufschrei der internationalen Gemeinschaft gegeben hat. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag im Mai mit den Stimmen aller Parteien ein klares Signal ausgesendet hat. Deshalb war es möglich, mehr Menschenleben zu retten. Ich freue mich, dass wir für die Menschen immerhin über 33 Millionen Euro für humanitäre Leistungen zur Verfügung stellen konnten. Ich bin erleichtert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Afrikanische Union jetzt ihre eigene Verantwortung erkannt hat und wahrnehmen will. Ich darf hinzufügen: Es wurde auch Zeit. Die Afrikanische Union hat zugesagt, Truppen in die Region zu senden, um einen Waffenstillstand zu überwachen. Es fehlt ihr aber an Logistik. An Finanzmitteln hat die Europäische Union 92 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Für den Truppentransport haben andere europäische Länder Transportkapazitäten zur Verfügung gestellt. Auch hier muss Deutschland seine Verantwortung wahrnehmen. ({5}) Afrika ist unser Nachbarkontinent. Wir sind in Afrika ein hoch anerkannter Partner. Die Probleme, die in Afrika nicht gelöst werden können, fallen auch auf uns zurück. Deshalb bitte ich Sie sehr herzlich, heute eine Entscheidung - ich habe den Eindruck, dass sie von allen Fraktionen getragen wird - für Humanität, für Nachbarschaftlichkeit und auch für wohlverstandenes Eigeninteresse zu treffen. Ich bitte Sie um ein überzeugendes Votum. ({6}) Zum Schluss noch ein Wort zu einem Thema, das sehr eng damit verbunden ist. Um dauerhaft Frieden im Sudan garantieren zu können, muss die Regierung in Khartoum deutlichere Signale erhalten, dass die internationale Gemeinschaft keine Ausweichmanöver mehr dulden wird. Auch auf die Rebellen muss Druck ausgeübt werden, damit sie sich zu einem Schweigen der Waffen bekennen und dieses auch einhalten. Solch ein deutliches Signal an alle Seiten wäre ein umfassendes UN-Waffenembargo. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich, nachdem es ein Waffenembargo der Europäischen Union gibt, ({7}) nicht auch die Vereinten Nationen, die sich in dieser Frage bislang nicht geäußert und entschieden haben, in diesem Sinne verhalten. Die Staaten, die sich bisher aus durchsichtigen Gründen gegen eine schärfere UN-Resolution gestellt haben, müssen ihre Haltung ändern. Die Waffenexporte in den Sudan nehmen pro Jahr um fast 40 Prozent zu. Das ist ein Skandal. Öl- und WaffengeBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul schäfte über Leichen hinweg darf die Weltgemeinschaft nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) In der Haushaltsdebatte zum Etat des Bundesentwicklungsministeriums hat mich der Kollege Ruck gefragt, wie es beim Sudan mit der Entwicklungszusammenarbeit aussieht. Ich sage an dieser Stelle: Solange Sprengbomben auf Hütten geworfen werden und solange Milizen im Verbund mit regulärem Militär Strohdächer anzünden, Frauen vergewaltigen, Männer töten, Menschen zu Sklaven machen und Brunnen vergiften, so lange gibt es keine Entwicklungszusammenarbeit und keine Entschuldung. Mit mir nicht! Ich hoffe, dass alle in diesem Hause diese sehr klare Aussage unterstützen. ({9}) Mordenden Milizen und Militärs muss ihr finsteres Handwerk gelegt werden. Heute müssen wir ein Zeichen setzen, damit das Vertrauen der Menschen in Darfur in die Solidarität der internationalen Gemeinschaft nicht enttäuscht wird. Für Darfur gilt - Frau Lötzsch, es wäre gut, wenn auch Sie das gelernt hätten -: Ohne Friedenstruppen wird es dort keinen Frieden geben. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Egon Jüttner, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Konflikt im Sudan ist mittlerweile zur größten humanitären Katastrophe auf dem afrikanischen Kontinent geworden. Trotz zahlreicher Versprechungen der sudanesischen Regierung hat sich die Menschenrechtssituation im Westsudan, in der Provinz Dafur, nicht verbessert, sondern dramatisch verschlechtert. Sudanesisches Militär geht brutal gegen Flüchtlinge vor. Unter Einsatz von Tränengas und Schusswaffen wurden erst kürzlich 20 000 Flüchtlinge in Darfur umgesiedelt. Humanitäre Nothilfe wird durch arabische Milizen massiv behindert. Zwischen regierungsnahen Milizen und Rebellen brachen erneut heftige Kämpfe aus. Vor einer Woche hat das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen aufgrund der Kämpfe seine Hilfe im nördlichen Darfur vorübergehend ausgesetzt. 300 000 Vertriebene sind jetzt ohne Nahrungsmittelhilfe. Humanitäre Organisationen und UNO-Delegierte haben bereits vor mehr als einem Jahr vor einem Genozid in Darfur gewarnt. Dennoch kam es weder zu einem internationalen Waffen- oder Ölembargo noch zu anderen wirksamen Sanktionen gegen den Sudan. China, der größte Investor in Sudans Ölindustrie, hat aus rein wirtschaftlichen Interessen ein entschlossenes Handeln der Vereinten Nationen blockiert. Diese Blockadehaltung sollte China ebenso wie der Waffenlieferant Russland endlich aufgeben. ({0}) Auch unseren afrikanischen Freunden müssen wir klar sagen: Dass sie eine deutliche UN-Resolution zu den Menschenrechtsverletzungen in Darfur verhindert haben, ist das falsche Signal an ein menschenverachtendes Regime. ({1}) Für die Sicherheitslage in Darfur ist die Beobachtermission der Afrikanischen Union von zentraler Bedeutung. Deshalb begrüßen wir es, dass die Afrikanische Union die Anzahl ihrer Soldaten deutlich aufstocken will. Denn bei dieser Mission geht es nicht nur um die Überwachung des Waffenstillstandes, sondern auch um den Schutz der Zivilbevölkerung vor Bedrohung. Deshalb muss dieser Beschluss so schnell wie möglich umgesetzt werden. Bei der Umsetzung wird die Bundeswehr mit der Durchführung von Truppentransporten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der humanitären Situation leisten. Allerdings sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass mit diesem Einsatz die Bundeswehr die Grenze dessen erreicht, was sie in Afrika leisten kann. ({2}) Die Überwachungsmission in Darfur wird zur ersten großen Bewährungsprobe für die Afrikanische Union. Ohne internationale Unterstützung bei der Logistik und Finanzierung kann sie diese Bewährungsprobe jedoch nicht bestehen. Wenn die Afrikanische Union, was wir alle wollen, künftig mehr Verantwortung übernehmen soll, dann muss sie auch handlungsfähig sein. Ihre Handlungsfähigkeit kann sie jetzt durch einen Erfolg in Darfur unter Beweis stellen; denn es ist höchste Zeit, dass die Afrikaner ihre Probleme endlich selbst lösen. Eine erfolgreiche Überwachungsmission kann zunächst die Versorgung der Menschen in Form von Nothilfe gewährleisten. Mittelfristig sollte es aber nicht nur um die Schaffung humanitärer Korridore gehen. Erforderlich sind ebenso entwicklungspolitische Maßnahmen auch friedensbildender Art. Sie müssen in die Nothilfe integriert werden und zum Aufbau des Landes beitragen. Angesichts der uns mit großer Sorge erfüllenden Menschenrechts- und Sicherheitslage in Darfur appelliere ich an die sudanesische Regierung, die arabischen Milizen zu entwaffnen, die Zivilbevölkerung vor weiteren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, den internationalen Hilfsorganisationen uneingeschränkten Zugang nach Darfur zu gewähren und den herrschenden Zustand der Straflosigkeit zu beenden. ({3}) Die Menschen in Darfur brauchen dringend Frieden. Deshalb stimmen wir dem Antrag der Bundesregierung auf Unterstützung der Überwachungsmission zu. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/4257 zu dem Antrag der Bundesregierung zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4227 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zu dieser namentlichen Abstimmung liegen mir zwei Erklärungen vor, und zwar von den Kollegen Wolfgang Börnsen ({0}) und Jürgen Koppelin.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die Sie verwenden, Ihren Namen tragen. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze eingenommen? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herz- lich, Platz zu nehmen, damit wir die Beratungen fortset- zen können und wir allen Rednern Gelegenheit geben zu sprechen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Harald Leibrecht, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zukunft für Tschetschenien - Drucksache 15/3955 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP neun Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Werner Hoyer das Wort. 1) Anlagen 2 und 3 2) Seite 13621

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie um Tschetschenien. Es geht um Widersprüche, schwere Fehler und beachtliche Risiken der deutschen Russlandpolitik - Widersprüche, Fehler und Risiken, die das deutsche und das europäische Interesse an wirklich konstruktiven Beziehungen zu Russland aufs Spiel setzen. Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, für den wir nicht die ursprüngliche Autorenschaft beanspruchen. Dieser Antrag wurde vom Kieler Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen wortgleich so beschlossen. ({0}) In dem Antrag werden Menschenrechtsverletzungen durch russische Streit- und Sicherheitskräfte in Tschetschenien offen angesprochen und massiv kritisiert. Das vernichtende, aber zutreffende Urteil lautet, die russische Politik sei „nicht geeignet und in der Lage, den Kaukasus zu befrieden“. Der Kreml wird aufgefordert, endlich eine politische Lösung für den Konflikt anzustreben. Der Antrag geht aber ausdrücklich über die reine Tschetschenienpolitik hinaus und ordnet das Thema in den Gesamtzusammenhang ein. Er kritisiert Präsident Putin auch ausdrücklich für seine Maßnahmen zur „Formierung des russischen Zentralstaats“ und zur „Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit sowie der demokratischen Strukturen“. All das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtig und richtig und verdient Beachtung in der deutschen Russlandpolitik. Allerdings findet sich unglücklicherweise nichts davon in der Politik der Bundesregierung wieder. ({1}) Diese Politik wird nun einmal von einem grünen Außenminister verantwortet. Es kann doch nicht sein, dass Außenminister Fischer auf dem eigenen Parteitag weiße Salbe auf die grüne Seele schmiert und dann als Regierungsmitglied die Kritik und die Forderungen ignoriert, die er selbst beim Parteitag mit aufstellt. Herr Fischer macht in der Russlandpolitik nahezu schweigend genau das mit, was seine Partei zu Recht kritisiert. Der „Spiegel“ hat das zutreffend als „grüne Selbstverleugnung“ bezeichnet. ({2}) Uns geht es bei dieser Debatte aber vor allem darum, eine neue, eine besonnene und konsistente Russlandpolitik der Bundesregierung einzufordern. Gute Beziehungen und eine möglichst enge Zusammenarbeit mit Russland sind und bleiben für die Europäische Union, aber ganz besonders für uns Deutsche ein herausragend wichtiges Ziel. Damit aus dieser Zusammenarbeit aber eine wirkliche Partnerschaft werden kann, muss Russland auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft, also auf dem in den 90er-Jahren eingeschlagenen Reformkurs weiter voranschreiten, geDr. Werner Hoyer nauer gesagt, muss es dorthin zurückkehren, denn die gegenwärtige Entwicklung gibt Anlass zu größter Sorge. Präsident Putin hat mit seiner gelenkten Demokratie eine neue Regierungsform etabliert und ein Paradoxon zur Leitlinie gemacht: Lenkung und Demokratie. Mit diesem Zusammenhang habe ich allerdings einige Schwierigkeiten. Putins Politik ist nicht auf Reformen, Demokratisierung und Rechtstaatlichkeit ausgerichtet, sondern auf Stabilität, Machterhalt und die Bewahrung und Wiederherstellung russischer Größe. Es gibt in Russland kaum noch unabhängige elektronische Medien. Die Justiz ist nicht mehr unabhängig und es gibt keine - zumindest keine effektive - zivile Kontrolle über die Sicherheitsorgane. Darüber sind sich übrigens alle einig: die Russlandexperten in Deutschland, in Europa und in den Vereinigten Staaten. Nur die deutsche Russlandpolitik sieht das offensichtlich anders. Bundeskanzler Schröder hat den russischen Präsidenten im deutschen Fernsehen vor zehn Tagen als „lupenreinen Demokraten“ öffentlich geadelt. Er sprach von seinem Grundvertrauen darauf, dass Putin Russland zu einer ordentlichen Demokratie machen wolle. Was Putin anstrebt, ist allerdings keine ordentliche, sondern eine geordnete, eben eine gelenkte Demokratie. Damit bremst und behindert er die Demokratisierung, statt sie zu befördern. ({3}) Bei seinem Treffen mit Präsident Putin in Sotschi im Sommer dieses Jahres ging der Bundeskanzler noch weiter. Er testierte keine empfindliche Störung der Wahlen in Tschetschenien und stellte dem Präsidenten für dessen Tschetschenienpolitik damit sogar eine Art demokratisches Gütesiegel aus. Die OSZE-Wahlbeobachtermission hat das ebenso wie die Sprecherin der EU-Kommission völlig anders gesehen und von weder freien noch fairen Wahlen gesprochen. In dem heute vorliegenden Antrag, zu dem auch Sie sich hier bekennen sollten, werden die Wahlen als das bezeichnet, was sie wirklich waren: eine Farce. ({4}) Der Bundeskanzler bestätigt seinem Freund Wladimir Putin auch im Hinblick auf den Jukos/ChodorkowskiProzess ausdrücklich, mit rechtsstaatlichen Mitteln vorzugehen. Das wiederum sieht der Koordinator für die deutsch-russischen Beziehungen, der wirkliche Russlandkenner Erler, ganz anders. Er spricht von Zweifeln an der russischen Rechtspraxis und Zweifeln an der Souveränität von Präsident Putin im Umgang mit potenziellen Rivalen und Konkurrenten. Das sieht auch meine Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates so. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen Kollegen Erler?

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hoyer, ich schätze Sie als einen sehr seriösen Kollegen in diesem Hause. Deswegen bin ich über Ihre Rede etwas verwundert und möchte Ihnen folgende Frage stellen: Würden Sie mir zustimmen, dass es auch parlamentarische Möglichkeiten gibt, das Thema Tschetschenien selbst in die Hand zu nehmen und zu behandeln, wie das in meiner Fraktion zum Beispiel der Kollege Bindig durch seinen langjährigen Einsatz im Rahmen seiner Tätigkeit im Europarat macht und wie auch ich das mit demonstrativen Akten, Kontakten und Gesprächen mit russischen Menschenrechtsorganisationen mache? Finden Sie es nicht ein bisschen dürftig, hier einen Antrag zu vertreten, der - so würde man das im bürgerlichen Leben sagen - ein Plagiat eines Beschlusses der Grünen ist, und so zu tun, als hätten Sie als Parlamentarier keine einzige Möglichkeit, selbst tätig zu werden? Ich habe zu diesem Thema noch nie einen Kollegen aus Ihrer Fraktion in irgendeiner Weise tätig werden sehen. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ihre letzte Bemerkung erschwert mir meine Antwort; an sich schien sie leicht zu sein. Denn ich finde es nicht fair, dass Sie über die Bemühungen unserer Kolleginnen und Kollegen im Menschenrechtsausschuss, in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und im Auswärtigen Ausschuss einfach hinweggehen. ({0}) Ansonsten, Herr Kollege Erler, ist das schon ein Problem. Im Laufe meiner bisherigen parlamentarischen Tätigkeit habe ich noch nie zu dem Instrument gegriffen, einen Antrag einer anderen Partei zu übernehmen und einzubringen. Ich hatte allerdings die große Sorge, dass dieser Antrag, den ich für sehr gut halte, von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht in den Deutschen Bundestag eingebracht wird, weil dann der Widerspruch zur Russlandpolitik der Bundesregierung deutlich werden würde. ({1}) Deswegen mögen Sie mir dieses Stilmittel verzeihen. Ich denke, das Wichtigste ist, dass der Deutsche Bundestag, der in der Russlandpolitik nach meiner Auffassung weiter ist als die Bundesregierung - das zeigen auch viele Initiativen von Kolleginnen und Kollegen -, in dieser Frage eine Position vertreten kann, durch die die Bundesregierung zum Jagen gebracht wird. Herr Kollege, wir haben doch am Beispiel der Chinapolitik und des Waffenembargos gesehen, wie der Deutsche Bundestag durch seine Positionierung auch in der Bundesregierung Bewegung ausgelöst hat. ({2}) Genauso sollten wir das auch bei der Russland- und der Tschetschenienpolitik machen; denn über die Ziele können wir uns sehr schnell verständigen. Wir geben Ihnen mit diesem Antrag die Gelegenheit, sich zu dem zu bekennen, was Bündnis 90/Die Grünen - wie ich finde, sehr wortgewaltig und gut durchformuliert - auf ihrem Parteitag beschlossen haben. ({3}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler ist mit Präsident Putin befreundet. Ich kritisiere das überhaupt nicht, im Gegenteil: Gerade das deutsch-russische Verhältnis braucht auch eine persönliche, eine emotionale Dimension. Russland hat gegenüber dem Westen seit jeher ambivalente Empfindungen: Oft hat es sich abgelehnt gefühlt, nicht hinreichend wahrgenommen in der Größe und Bedeutung seiner Kultur, in seinem menschlichen Reichtum, ja in seiner Würde. Da ist russisch-deutsche Freundschaft ein gutes Gegenmittel. Wie oft ist Bundeskanzler Helmut Kohl von denen, die uns heute regieren, dafür kritisiert worden, dass er eine Freundschaft zu Präsident Jelzin gepflegt hat! Das ist als „Saunabekanntschaft“ abqualifiziert worden. Ich frage mich bisweilen, ob das größte Wunder in den russisch-deutschen Beziehungen des letzten Jahrzehnts, der friedliche, völlig problemlose und würdige Abzug der russischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, ohne diese Freundschaft möglich gewesen wäre. ({4}) Ob der jetzige Bundeskanzler mit Präsident Putin im Hinblick auf die Ukraine seine Freundschaft erstmals tatsächlich einbringen kann, ist noch abzuwarten. Ich muss es nach den Ergebnissen der gestrigen Gespräche von Präsident Kutschma in Moskau leider eher bezweifeln. Jedenfalls darf diese Freundschaft nicht den Blick auf die Realität in Russland und auf die Politik des Kremls verklären, sie darf nicht zur alleinigen Leitlinie der deutschen Russlandpolitik werden. Eine solche Freundschaft muss belastbar sein. ({5}) Gute freundschaftliche Beziehungen und eine enge Zusammenarbeit mit Russland sind wichtig; darüber sind wir uns einig. Die lange Geschichte der Beziehungen ist immer durch Schwanken zwischen Extremen geprägt gewesen. Dieses Schwanken zwischen Extremen gilt es jetzt durch eine wirkliche Partnerschaft abzulösen. Eine wirkliche Partnerschaft kann es nur mit einem Russland geben, mit dem eine Wertepartnerschaft besteht, die auch gelebt wird. Wir können und sollten alles daransetzen, dass es zu einer solchen echten Partnerschaft kommt. Dafür müssen wir die Reformen und die Reformer in Russland unterstützen. Wir dürfen Russland nicht auf den Dreiklang Stabilität, Kampf gegen den internationalen Terrorismus und Energielieferant bzw. kurzfristiger Absatzmarkt reduzieren. Langfristig kann Russland für uns und für alle Europäer sehr viel mehr sein. Um darauf hinzuwirken, müssen wir die russische Zivilgesellschaft, die unter Präsident Putin so sehr unter Beschuss gekommen ist, stärken. ({6}) Der Petersberger Dialog, den die Bundesregierung dazu dankenswerterweise etabliert hat, wird leider immer mehr zu einem Feigenblatt des Kremls für eine Pseudozivilgesellschaft. Es gibt in Russland unzählige wirklich kremlunabhängige NGOs, die von Putin nicht zugelassen werden. Auch mit diesen gilt es zu kooperieren, es gilt, sie gerade wegen des immer schärferen Windes aus dem Kreml zu unterstützen. Wer Putins gelenkte Demokratie auch gegenüber den überaus mutigen kritischen Stimmen aus Russland öffentlich verteidigt, der zieht den Ansätzen für eine unabhängige kritische Zivilgesellschaft in Russland den Boden unter den Füßen weg. ({7}) Russisches Roulette und grüne Schizophrenie können wir uns in der Russlandpolitik wirklich nicht leisten. Das haben die russischen Reformer, diese überaus mutigen Menschen, nicht verdient, die gegenwärtig mit angehaltenem Atem, mit Hoffnung und Ängsten auf die Entwicklung in Kiew, auf den Katalysator, der sich dort möglicherweise für die weitere Entwicklung ergibt, schauen. Dafür sind die Chancen, die sich für Russland, für Deutschland und für Europa aus einer wirklich positiven Entwicklung einer echten Partnerschaft ergeben könnten, zu groß. Wir dürfen diese Chancen nicht verpassen. Umgekehrt mag ich an die Risiken, die mit einer dauerhaften Autokratisierung Russlands einhergehen, gar nicht denken. Denn dauerhafte Stabilität lässt sich auf dem Wege, der am Beispiel Tschetscheniens zu beobachten ist, für das russische Riesenreich leider nicht erreichen; die dramatischen Entwicklungen in Tschetschenien haben uns nachhaltig darauf aufmerksam gemacht. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich komme zurück zu unserer namentlichen Abstimmung über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 553. Mit Ja haben gestimmt 540, mit Nein haben gestimmt zehn, Enthaltungen drei. Der Antrag der Bundesregierung ist damit angenommen. Präsident Wolfgang Thierse Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 553; davon ja: 540 nein: 10 enthalten: 3 Ja SPD Dr. Lale Akgün Ingrid Arndt-Brauer Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({0}) Doris Barnett Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Martin Dörmann Peter Dreßen Elvira Drobinski-Weiß Siegmund Ehrmann Hans Eichel Martina Eickhoff Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Lilo Friedrich ({5}) Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({6}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Gabriele Groneberg Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack ({7}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({8}) ({9}) Iris Hoffmann ({10}) Frank Hofmann ({11}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Renate Jäger Jann-Peter Janssen Klaus-Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h.c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Dr. Heinz Köhler Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({12}) Christine Lehder Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Hilde Mattheis Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Ursula Mogg Michael Müller ({13}) Christian Müller ({14}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({15}) Michael Roth ({16}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({17}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({18}) Gudrun Schaich-Walch Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Horst Schmidbauer ({19}) Ulla Schmidt ({20}) Silvia Schmidt ({21}) Dagmar Schmidt ({22}) Wilhelm Schmidt ({23}) Heinz Schmitt ({24}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Brigitte Schulte ({25}) Swen Schulz ({26}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Dr. Peter Struck Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({27}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({28}) Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({29}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({30}) Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({31}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Waltraud Wolff ({32}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Artur Auernhammer Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({33}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Präsident Wolfgang Thierse Helge Braun Monika Brüning Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({34}) Cajus Julius Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({35}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Hartwig Fischer ({36}) Dirk Fischer ({37}) Axel E. Fischer ({38}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({39}) Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Robert Hochbaum Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({40}) Volker Kauder Gerlinde Kaupa Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({41}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({42}) Dr. Karl A. Lamers ({43}) Helmut Lamp Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({44}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({45}) Stephan Mayer ({46}) Dr. Conny Mayer ({47}) Dr. Martin Mayer ({48}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Doris Meyer ({49}) Maria Michalk Hans Michelbach Klaus Minkel Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({50}) Bernward Müller ({51}) Hildegard Müller Bernd Neumann ({52}) Henry Nitzsche Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Thomas Rachel Hans Raidel Helmut Rauber Christa Reichard ({53}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({54}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({55}) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Norbert Schindler Georg Schirmbeck Angela Schmid Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({56}) Andreas Schmidt ({57}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Matthias Sehling Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian von Stetten Gero Storjohann Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({58}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({59}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({60}) Volker Beck ({61}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Ekin Deligöz Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({62}) Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Michaele Hustedt Jutta Krüger-Jacob Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({63}) Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({64}) Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({65}) Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({66}) Petra Selg Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({67}) Präsident Wolfgang Thierse FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({68}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Helga Daub Ulrike Flach Horst Friedrich ({69}) Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({70}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan Klaus Haupt Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Ina Lenke Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({71}) Eberhard Otto ({72}) Detlef Parr Cornelia Pieper Dr. Andreas Pinkwart Dr. Rainer Stinner Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Nein CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Wolfgang Börnsen ({73}) Willy Wimmer ({74}) FDP Otto Fricke Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Dr. Volker Wissing Fraktionslose Petra Pau Enthalten CDU/CSU Manfred Carstens ({75}) Kurt-Dieter Grill FDP Gisela Piltz Nun erteile ich dem Kollegen Rudolf Bindig, SPDFraktion, das Wort.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Vorgang um den Antrag, den wir hier diskutieren und der den Titel „Zukunft für Tschetschenien“ trägt, ist schon bemerkenswert. Die FDP reicht dem Deutschen Bundestag einen Text ein, der wortgleich einer Entschließung des letzten Parteitages von Bündnis 90/Die Grünen entspricht. ({0}) Als Antragsteller sind die Namen vieler Mitglieder der FDP-Fraktion aufgeführt. Dass sich die FDP in einer so wichtigen Frage den Feststellungen und Wertungen der Grünen voll anschließt, erstaunt etwas, ist letztlich aber ihre Sache. ({1}) Politisch hat das Vorgehen der FDP für mich allerdings einen mehr als faden Beigeschmack. ({2}) Absicht der FDP ist es nämlich offensichtlich nicht, sich ernsthaft mit den Problemen und Nöten der Menschen in und um Tschetschenien auseinander zu setzen, ({3}) vielmehr soll der Tschetschenienkonflikt für ein taktisches innenpolitisches Manöver missbraucht werden. Mich erschreckt dieses Manöver. ({4}) Ich habe immer gedacht, dass wir auf dem Gebiet der Menschenrechte über alle Fraktionen hinweg daran arbeiten, uns für die Menschen in Not und für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. ({5}) Ich habe immer geglaubt, dass dies unser gemeinsames Anliegen und unsere gemeinsame Triebkraft ist. ({6}) Die Tatsache, dass die FDP einen Antrag der Grünen einreicht, um damit ein innenpolitisches Spiel zu treiben, mit dem Ziel, herauszufinden, ob man nicht da oder dort vielleicht unterschiedliche Einschätzungen von Abgeordneten der Grünen, der SPD und der Bundesregierung bzw. dem Bundeskanzler bloßlegen kann, stellt meiner Meinung nach einen Niedergang der menschenrechtlichen und außenpolitischen Seriosität der FDP dar. ({7}) Da wir bei diesem Spiel nicht mitspielen wollen, sage ich gleich: Wir wollen diesen Antrag zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überweisen. Das beantrage ich hiermit zugleich für die SPD-Fraktion. Die verzweifelte Lage der Menschen in Tschetschenien, die Leiden der Opfer, aber auch der schwere Dienst der Sicherheitskräfte und Soldaten, die häufig auch nur Opfer in dieser Kriegsmaschinerie sind, verbieten eine solche effekthascherische Politik. Die informierte Öffentlichkeit ist dadurch nicht zu täuschen. Wir jedenfalls werden die existenzielle Not der Menschen in Tschetschenien weiterhin zum Ausgangspunkt unserer Politik machen. ({8}) Diese zu beenden und den Menschen wieder eine Perspektive für ein angstfreies Leben zu ermöglichen, muss Vorrang vor den Bemühungen haben, hier Kritik an der Russlandpolitik als Ganzes zu betreiben. Wenn Sie das wollen, dann beantragen Sie doch eine Debatte zur deutschen Russlandpolitik ({9}) und schreiben Sie nicht „Zukunft für Tschetschenien“ über Ihren Antrag. Der andauernde Konflikt in Tschetschenien ist die offene Wunde in der Politik der Russischen Föderation und eine Tragödie für die Menschen in Tschetschenien und den angrenzenden Regionen im Kaukasus. Auch wenn zurzeit andere politische Ereignisse die Schlagzeilen beherrschen, so ist die politische und menschenrechtliche Lage in der Republik Tschetschenien doch weit davon entfernt, sich zu normalisieren oder bereits normal zu sein. Fast täglich kommt es zu neuen Anschlägen und Gewaltaktionen. Am 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Es ist daher angebracht, dass wir den Konflikt in Tschetschenien aus der Sicht der dort lebenden Menschen mit ihren alltäglichen Nöten und Ängsten sehen und ihretwegen die politischen Anstrengungen intensivieren, um den Konflikt einzudämmen und die Lage der Menschen zu verbessern. Voraussetzungen dafür sind, die Ursachen des Konflikts zu analysieren und die Verursacher der Tragödie klar zu benennen. Schwerste Menschenrechtsverletzungen und strafrechtliche Akte werden von allen Konfliktbeteiligten begangen. Unmissverständlich zu verurteilen sind Terrorakte wie der Anschlag auf zwei Flugzeuge, die abstürzten, das Selbstmordattentat in der Nähe einer U-Bahn-Station in Moskau, die Geiselnahme von Hunderten unschuldiger Kinder und ihrer Familienangehörigen in Beslan und das schreckliche Blutbad, welches die Geiselnahme beendete. Für derartige Angriffe auf unschuldige Zivilisten kann es keine Entschuldigung geben. ({10}) Unmissverständlich zu verurteilen sind auch alle übrigen Morde, welche durch illegal bewaffnete Gruppen in Tschetschenien, Inguschetien, Ossetien und Dagestan stattgefunden haben und stattfinden. Schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung werden aber auch von den unterschiedlichen föderalen und prorussisch-tschetschenischen Sicherheitskräften während ihrer Sonderoperationen in der Republik Tschetschenien sowie in zunehmendem Maße in benachbarten Regionen begangen. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang: Morde, Verschwindenlassen von Personen, Folter, Geiselnahme, Vergewaltigung und willkürliche Inhaftierung. Diese Spirale der Gewalt aus terroristischen Akten illegal bewaffneter Gruppierungen einerseits und Gewaltaktionen der russischen Sicherheitskräfte andererseits muss unterbrochen und umgekehrt werden. Ohne ein Ende der Gewalt und ohne Bestrafung der Täter kann es keine nachhaltige politische Lösung geben. ({11}) Der Konflikt hat vielfältige Ursachen. Es geht eben nicht nur, wie die russische Regierung immer wieder behauptet, um die Konfrontation mit dem internationalen Terrorismus radikal-islamistischer Prägung. Der Konflikt hat seine Wurzeln vor allem in der russischen Geschichte selbst und in der Unterentwicklung der Region. Durch das unterschiedslos brutale Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen die tschetschenisch-nationalistischen Akteure ist der Konflikt selbst zu einer Brutstätte immer neuer Gewalthandlungen geworden. Die aktuelle Gewalt erneuert sich ständig aus dem Konflikt heraus, der wechselseitig Angst und Hass erzeugt. Zwar hat mit der Länge des Konfliktes auch der Einfluss international operierender Terroristen zugenommen. Aber dies ist nicht die Hauptursache dieses Konfliktes. In Tschetschenien herrscht ein Klima der Straflosigkeit, da die tschetschenischen und föderalrussischen Strafverfolgungsbehörden noch immer entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Klima der Straflosigkeit ist inzwischen auch auf Inguschetien übergesprungen. Damit droht sich der Konflikt im Nordkaukasus wie eine Epidemie auszubreiten und die Rechtsstaatlichkeit auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation zu gefährden. Wie groß die Gefahr ist, zeigen zwei beängstigende Entwicklungen. Vom Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation wird gefordert, dass der Staat das Recht hat, Verwandte mutmaßlicher Terroristen als Geisel zu nehmen und ihnen Folter und Mord androhen zu können. Mit dieser Sippenhaft will man Terroristen zwingen, sich zu ergeben. Beunruhigend ist auch, dass es schwere Verbrechen an jenen Menschen und ihren Familienangehörigen gegeben hat, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt haben. Zur Beschreibung der Menschenrechtslage in der Republik Tschetschenien habe ich im Auftrag des Europarates einen umfangreichen Bericht erstellt, der auf der Basis von Informationen von Nichtregierungsorganisationen und offiziellen Quellen viele Einzelfälle schwerster Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Der Bericht und die Feststellungen sind von einigen - ich betone: einigen - russischen Politikern heftig kritisiert worden. Allerdings ist von offizieller russischer Seite in keinem konkreten Fall eine Unkorrektheit nachgewiesen worden. Die wachsende Kritik in Russland an menschenrechtsorientierten Nichtregierungsorganisationen ist völlig ungerechtfertigt und deshalb zurückzuweisen. ({12}) Diese Organisationen leisten eine hervorragende Arbeit. Zudem gilt es nicht, diejenigen zu kritisieren, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken und dokumentieren, sondern diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die Menschenrechtsverletzungen begehen. ({13}) Gemeinsam sollten wir deshalb die Regierung der Russischen Föderation erneut nachdrücklich dazu auffordern, gegen die Menschenrechtsverletzungen durch ihre eigenen Sicherheitskräfte einzuschreiten und das Klima der Straflosigkeit in der Republik Tschetschenien zu beenden. Damit Letzteres tatsächlich geschieht, ist ein klares politisches Zeichen von höchster politischer Ebene in Russland erforderlich, also von Präsident Putin selbst. Er muss anordnen - er muss diese Anordnung mit seiner Autorität versehen -, dass alle Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Pflichten jederzeit die Menschenrechte wahren. ({14}) Er muss anordnen, dass sich alle ergriffenen oder geplanten Antiterrormaßnahmen im Einklang mit den Menschenrechts- und Völkerrechtsnormen befinden. Diese Auffassung sollten wir alle gemeinsam als Abgeordnete in Gesprächen und Kontakten mit Abgeordneten in der Russischen Föderation sowie im Gespräch mit russischen Regierungsmitgliedern vertreten. ({15}) - Ich weiß, dass auch der Bundeskanzler dies tut. Ich finde es richtig, dass er zwischen einer Politik der Kontakte und der Gespräche, die versucht, Einfluss zu nehmen, und einer Mikrofondiplomatie oder gar Megafondiplomatie, bei der man bestimmte Dinge nur nach außen proklamiert und innen nichts erreichen kann, unterscheidet. Es muss die Möglichkeit gegeben sein, die Probleme in Tschetschenien in Gesprächen direkt anzusprechen. Ich weiß, dass zum Beispiel der deutsche Außenminister, wenn er mit dem russischen Außenminister zusammenkommt, in ganz intensiver Weise die Situation anspricht und darüber diskutiert. Ich glaube, solch eine Vorgehensweise ist besser, als den Antrag einer anderen Partei zum Gegenstand eines eigenen Antrages im Deutschen Bundestag zu machen und damit nur innenpolitische Spiele zu betreiben. Wir können und wollen dies jedenfalls nicht akzeptieren; wir können und wollen dabei nicht mitmachen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über Tschetschenien reden, dann müssen wir zunächst auch über die furchtbare Geiselnahme in Beslan reden, wo tschetschenische Terroristen die vielleicht grausamste Geiselnahme in der Geschichte durchgeführt haben. Wir führen uns die Bilder vor Augen: die Bomben, die an Girlanden über Hunderten von Kindern aufgehängt wurden; Kinder, die gezwungen wurden, ihren Urin zu trinken; Kinder, mit deren Köpfen man Fenster eingeschlagen hat. Die Art und Weise, wie dort islamistische Fanatiker - Terroristen - gewütet haben, übersteigt alles, was jedenfalls ich bis dahin gesehen habe. André Glucksmann sagt in einem Artikel in „Le Monde“ vom 23. September 2004, wer zu so etwas fähig ist, … der schreckt vor nichts mehr zurück. Schon gar nicht vor der Hölle. Heute eine gekidnappte Schule, morgen ein in die Luft gesprengtes Atomkraftwerk. Warum nicht, die Terroristen sorgen sich so wenig ums eigene Leben wie um das der anderen. Er schreibt im selben Artikel: Die apokalyptische Szene, die sich da am 3. September unter unseren Augen abspielte, hat Zukunft. Eine scheußliche Zukunft. Wie eine dreistufige Rakete zielt sie nicht nur auf Kaukasien und Russland, sondern auf ganz Europa. In der Tat haben wir es hier mit einem Thema zu tun, das weit über den traditionellen Tschetschenienkonflikt, der Jahrhunderte alt ist, hinausgeht. Wir kennen die Berichte über den alten Konflikt zwischen Tschetschenien und Moskau, etwa aus Leo Tolstois Buch „Hadschi Murat“ über die 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts, als auch schon mit großer Brutalität auf beiden Seiten gekämpft wurde. Damals war das aber ein separatistischer, ein nationalistischer, ein ethnischer Konflikt. Durch die Islamisierung, durch die Ausbeutung dieses alten Konfliktes durch al-Qaida, durch die Finanzierung der Leute, durch das Lehren in terroristischer Kriegsführung - so nennen das die Leute von alQaida - ist eine neue Stufe der Brutalität entwickelt worden. Wir haben das zum ersten Mal richtig gesehen, als im Oktober 2002 in einem Moskauer Musicaltheater Hunderte von Geiseln gefangen genommen worden sind. Ich habe einen Augenzeugen gesprochen. Er hat erzählt, unter den Geiselnehmern seien junge Leute im Alter von 16 oder 17 Jahren gewesen. Sie trugen islamistische Spruchbänder, ohne über ein großes politisches Bewusstsein zu verfügen. Sie haben aber immer gesagt, sie seien bereit, für den Emir und für Allah zu sterben. Hier werden junge Leute in einen furchtbaren Konflikt gehetzt. Deswegen müssen wir an dieser Stelle zunächst sagen: Wenn es um den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus geht, stehen wir an der Seite Russlands. Wir sind in einer gemeinsamen Antiterrorkoalition. Die Opfer von Beslan und Moskau sind uns genauso viel Trauer wert wie die Opfer vom 11. September 2001 in New York und Washington. Wenn wir über Tschetschenien reden, müssen wir zunächst den Opfern und ihren Familien in Russland unser Mitgefühl aussprechen. ({0}) Wladimir Putin hat gestern in der indischen Zeitung „The Hindu“ gesagt: Europa und die USA unterstützen tschetschenische Terroristen. - Damit hat er nicht Recht. Das tun wir nicht. Wenn tschetschenische Terroristen in unserem Land Unterschlupf finden, dann werden wir sie festsetzen und ausweisen. Im Rahmen der Untersuchungen zum so genannten Volmer-Erlass ist offenbar geworden, dass zwei tschetschenische Terroristen, die an der logistischen Planung der Moskauer Geiselnahme beteiligt waren, die Brüder Arbi und Ruslan Daudov, offenbar mit einem Visum nach Deutschland kamen. So etwas darf nicht geschehen. Wir dürfen niemals, weder gegenüber Russland, noch gegenüber einem anderen Land in der Welt, den Eindruck vermitteln, Deutschland würde eine Zuflucht bieten, und sei es nur durch eine nachlässige Handhabung der Visapolitik. ({1}) Wenn es aber wahr ist, dass dieser Konflikt islamisiert worden ist - ich glaube, das liegt auf der Hand und ist spätestens seit 1996 der Fall -, und wenn es wahr ist, dass dieser Konflikt eine internationale Dimension hat, dann kann Herr Putin diesen Konflikt nicht mehr als rein russische Angelegenheit bezeichnen. Wenn der Konflikt eine internationale Dimension bekommt, dann liegt es in unserem Interesse, zu wissen, wie man den Terrorismus dort bekämpft. Diesbezüglich läuft in Tschetschenien wirklich vieles in eine furchtbare, falsche Richtung. Natürlich muss man hart gegen Terroristen vorgehen, aber doch nicht gegen das ganze tschetschenische Volk. Im Augenblick wird aber alles in einen Topf geworfen. Von russischer Seite wird nicht mehr zwischen dem nationalistischen Widerstand, den Islamisten und dem tschetschenischen Volk unterschieden. Es gibt keinen Spielraum für Verhandlungen, keinen Spielraum für internationale Vermittlungen. Die Russen haben vor dem Hintergrund ihres riesigen Reiches Sorge, dass Separationsbewegungen Schule machen könnten. Wir wollen ganz deutlich sagen, dass niemand ein Interesse an einer Destabilisierung der Russischen Föderation haben kann. Wer sich das ethnische Geflecht, die vielen Völker, die im Nord- und Südkaukasus leben, diesen bunten Teppich von unterschiedlichen Völkern und Religionen, die dort zusammenleben, ansieht, der kann nur sagen: Dagegen sind die Probleme, die es auf dem Balkan gibt, ein Klacks. Der Separatismus der Tschetschenen kann bei uns keine Unterstützung finden; denn er würde zu weiteren großen Problemen führen. Die Tschetschenen müssen bei uns aber sehr wohl offene Ohren finden, wenn sie sagen: Wir wollen im Rahmen der Russischen Föderation unsere Rechte und mehr Autonomie. - Dann müssen wir sie anhören und unterstützen. Diese Unterstützung dürfen wir nicht den Islamisten überlassen. ({2}) In diesem Zusammenhang ist es nicht klug, wenn der Bundeskanzler sagt: Die Wahl in Tschetschenien war akzeptabel. ({3}) Auf dem Parteitag der Grünen - das wurde in den Antrag der FDP übernommen - wurde gesagt: Die Wahl war eine Farce. Die Europäische Union, wir alle haben das gesagt. Der Bundeskanzler sollte nicht das genaue Gegenteil sagen. Ich finde es legitim, dass die FDP das aufgreift. Dadurch wird deutlich, dass hier mit zwei Zungen gesprochen wird: Der Bundeskanzler macht Realpolitik und die Grünen gehen an die Basis und sagen: Schaut, wir machen Menschenrechtspolitik. - Das geht nicht zusammen. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie machen wollen. ({4}) - Es geht nicht um Innenpolitik. Es geht um die Klärung der Positionen. ({5}) Kollege Bindig, Sie haben Recht: Es muss ein Zusammenspiel zwischen einem lautstark und klar artikulierenden Parlament und einer auf stille Diplomatie setzenden Regierung geben. Aber stille Diplomatie darf kein Alibi für Nichtstun werden. Das ist der Verdacht, den wir in diesem Fall haben. ({6}) Es läuft falsch in Tschetschenien. Es gibt ein sehr eindrucksvolles Buch von Anna Politkovskaja - ich werde sie nächste Woche in Moskau sehen ({7}) mit dem Titel „Tschetschenien - die Wahrheit über den Krieg“. Dort heißt es über einen tschetschenischen Familienvater: Issa … geriet … in ein solches Konzentrationslager - „Filtrationslager“ nennt man dort die Gefangenenlager am Rande von Chottuni. Sie drückten ihre Zigaretten auf seinem Körper aus, rissen ihm die Nägel von den Fingern, ließen wassergefüllte Pepsi-ColaFlaschen auf seine Nieren klatschen. … Offiziere niedriger Dienstgrade, die die kollektiven Verhöre durchführten, lachten den Tschetschenen ins Gesicht, sie hätten knackige Hintern, und vergewaltigten sie. Mit den Worten: „Weil uns eure Weiber nicht ranlassen.“ Die Tschetschenen mussten eine furchtbare Tortur über sich ergehen lassen. Rache dafür zu nehmen - so sagen Augenzeugen - würde das gesamte Ziel ihres weiteren Lebens sein. Die Frage ist, ob die unvorstellbare Härte, mit der Moskau dort vorgeht ({8}) - das hat auch Herr Bindig in seinem Bericht festgestellt -, nicht zu immer mehr Terrorismus führt. Ich glaube, diese Frage müssen wir stellen. Wir stellen sie nicht, um Herrn Putin in eine Ecke zu stellen oder um die Russische Förderation zu destabilisieren, sondern um bei der Lösung dieses schlimmen Konfliktes zu helfen. Das hat mit Innenpolitik nichts zu tun, ({9}) sondern es geht um Klärung, Herr Kollege Bindig. ({10}) Herr Schröder sagt angesichts einer solchen Sachlage in der „Süddeutschen Zeitung“, Putins Politik sei der richtige Weg und der vom russischen Präsidenten eingeschlagene Kurs führe zu innerer und äußerer Sicherheit und werde von ihm solidarisch mitgetragen. Kollegin Nickels von den Grünen sagt dazu, Schröders Interview sei gut gemeint und schlecht gemacht gewesen. ({11}) Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt kritisiert Putin mit den Worten, die Politik der unerbittlichen Härte werde keine Lösung bringen. Ich würde dem Außenminister raten, sich vielleicht ein bisschen stärker in die Russlandpolitik einzumischen und ({12}) das nicht alles Herrn Schröder zu überlassen und - ich sage noch einmal: Es geht nicht darum, Putin in eine Ecke zu stellen - ein offenes Wort unter Freunden zu sprechen. Sie sind sehr schnell, wenn es ein offenes Wort gegenüber Amerika zu sagen gilt. Dann verweigern Sie sich bitte auch nicht, wenn es um ein offenes Wort gegenüber Russland geht. ({13}) Bei der Stiftung Wissenschaft und Politik gibt es einen angesehenen Wissenschaftler, Dr. Uwe Halbach. Er hat neulich in einem kleinen Kreis bei Herrn Schäuble einen Vortrag gehalten und die Zahl der Toten in Relation gesetzt. Tschetschenien hat ungefähr eine Bevölkerung von 1 Million Menschen. Nach sehr konservativen Schätzungen sind 100 000 Zivilisten bei den Tschetschenienkriegen seit 1994 ums Leben gekommen. Wenn man das auf den Irak umrechnet, dann würde das bedeuten, dass 2,5 Millionen Menschen im Irak gestorben wären. Ich habe von der Friedensbewegung und unseren friedensbewegten Intellektuellen, die so „mutig“ auf die Straße gegangen sind, um gegen den Irakkrieg zu demonstrieren, kaum etwas zu der Tragödie in Tschetschenien gehört, die eine ganz andere Dimension gehabt hat. ({14}) Ich komme zum Schluss. Wir müssen jetzt Putin das Angebot machen, mit dem Europarat und der OSZE an einem runden Tisch den Versuch zu unternehmen, neben der Härte gegen Terroristen, die auch wir befürworten, den anderen die Hand zu geben und vielleicht doch zu überlegen, ob man nicht Verhandlungspartner auf tschetschenischer Seite braucht. Ist Maschadow wirklich das Gleiche wie Bassajew? Ist der separatistische Widerstand wirklich das Gleiche wie der islamistische? Müssten wir hier nicht zusammen - noch einmal: nicht, um Putin in die Ecke zu stellen, sondern um ihm zu helfen darangehen, mit internationaler Unterstützung diesen Konflikt zu einer besseren Lösung zu führen? Das ist unser Plädoyer. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Die FDP hat einen guten Antrag zur Zukunft Tschetscheniens vorgelegt, ({0}) allerdings unter fragwürdigen Umständen. ({1}) Er ist - darauf ist schon hingewiesen worden - wortgleich mit dem Beschluss des Parteitags der Bündnisgrünen in Kiel Anfang Oktober. Im bürgerlichen Leben nennt man solche Textübernahmen ohne Quellenangabe geistigen Diebstahl. ({2}) Ich will mich aber nicht an der Form festhalten, sondern komme jetzt zum Inhalt. Vor drei Monaten erschütterten die Geiselmorde von Beslan und die Sprengung zweier Passagierflugzeuge die Menschen in Russland und Europa. Diese Morde waren neue Höhepunkte einer fürchterlichen Terrorserie gegen Zivilisten und brachten eine neue Entgrenzung von Gewalt. Solche Taten sind durch absolut nichts zu rechtfertigen. Mit solchen Verbrechern verbietet sich jeder Dialog. ({3}) Das Massenverbrechen von Beslan lenkte den Blick der Weltöffentlichkeit wieder für wenige Wochen auf den Gewaltkonflikt in Tschetschenien. Er dauert inzwischen seit Ende des 18. Jahrhunderts an und vor zehn Jahren - nämlich am 11. Dezember 1994 - eskalierte er erneut in den so genannten ersten Tschetschenienkrieg mit dem Einmarsch der russischen Truppen. Seit 1999 fielen diesem Krieg in diesem kleinen Land - es ist gerade halb so groß wie die Schweiz - mehr als 100 000 Menschen zum Opfer. Mit 80 Prozent der Dörfer und Städte Tschetscheniens wurde zugleich die Grundlage der tschetschenischen Gesellschaft zerstört. Der enthemmte Gewaltkonflikt ist durch schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen aufseiten föderaler und prorussischer so genannter Sicherheitskräfte einerseits und von brutalen Angriffen verschiedener bewaffneter tschetschenischer Gruppen und Terroristen andererseits gekennzeichnet. Es wurde schon darauf hingewiesen: Am Anfang dieses Tschetschenienkrieges spielten der extreme Islamismus und Terrorismus fast keine Rolle. Aber die Art der Kriegsführung fachte offensichtlich das Feuer des islamistischen Terrorismus an. Heutzutage muss man davon sprechen, dass Tschetschenien ein strategischer Angriffspunkt für den islamistischen Terrorismus ist. Allerdings bleibt es weiterhin falsch, den Tschetschenienkonflikt auf einen äußeren Angriff durch islamistische Terroristen zu reduzieren. ({4}) Es bleibt dabei, dass er erhebliche innere Ursachen hat. Die Bundesrepublik und die Europäische Union haben ein eminentes Interesse an der Eindämmung des Tschetschenienkonflikts, und zwar erstens wegen unserer menschenrechtspolitischen Glaubwürdigkeit, zweitens wegen unserer strategischen Partnerschaft mit Russland und drittens, weil wir uns solche Brutstätten für internationalen Terrorismus nicht leisten können. ({5}) Wir müssen nüchtern feststellen: Niemand hat für den Tschetschenienkonflikt eine Lösung parat. Dazu sind die Verfeindungen und Verwundungen zu tief und die Gewaltinteressen zu stark. Zu sehr haben sich die verschiedenen Beteiligten in fürchterliche Sackgassen verrannt. Trotzdem sind meiner Ansicht nach Ansatzpunkte für eine notwendige und viel beschworene politische Lösung erkennbar. Erstens. Terrorismusbekämpfung muss Menschenrechte und humanitäres Kriegsvölkerrecht einhalten. Alles andere wirkt terrorismusfördernd. Die totale Feindwahrnehmung beider Seiten muss durchbrochen werden. Auf russischer Seite muss den Tschetschenen gegenüber zwischen Separatisten und wirklichen Terroristen unterschieden werden. Zugelassen werden müssen unabhängige Dritte, etwa Menschenrechtsverteidiger und OSZE-Beobachter, genauso wie demokratische Legitimität anstelle ferngelenkter Pseudodemokratie und Pseudotschetschenisierung. Hierfür sind die geplanten Wahlen im kommenden Jahr eine entscheidende Bewährungsprobe. Mittelfristig könnte auch das Angebot eines Stabilitätspaktes für den Kaukasus durch die Europäische Union sehr hilfreich sein. Tschetschenien ist ein brennendes Thema der gemeinsamen Sicherheit in Europa. Hierfür ist ein offener Dialog zwischen Deutschland und Russland auf allen Ebenen unabdingbar. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Melanie Oßwald, CDU/ CSU-Fraktion.

Melanie Oßwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003641, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die siebten und achten Klassen der Staatlichen Internationalen Schule Berlin haben vor kurzem die Hintergründe der Tragödie von Beslan durchgenommen. Krönender Höhepunkt war eine Simulation der UNO, bei der die Schüler in die Rolle von Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates schlüpfen mussten. Streng nach den Regeln und den Gepflogenheiten der UNO sollten sie eine realistische Lösungsstrategie für den Tschetschenienkonflikt entwerfen. Eine Klasse befürwortete am Ende ihrer Sicherheitsratssitzung die völlige Unabhängigkeit Tschetscheniens bei gleichzeitig weit reichenden Antiterrorgarantien der neuen tschetschenischen Regierung. Die anderen drei Klassen kamen zu dem Schluss, dass ein Verbleib Tschetscheniens in der Russischen Föderation bei größtmöglicher innenpolitischer Selbstständigkeit die realistischste Lösungsmöglichkeit für diesen schwer lösbaren Konflikt sein dürfte. Da kann man nur staunen: Siebtund Achtklässler entwickeln Lösungsvorschläge! Aber unsere Bundesregierung hat anscheinend keinen Lösungsvorschlag in der Tasche, den Schröder seinem Busenfreund Putin überreichen könnte. Im Gegensatz zur offiziellen Schmusekurspolitik sehen - Gott sei Dank - andere wie zum Beispiel die Grünen durchaus Anlass zur Kritik an der russischen Politik. Eine Änderung des Regierungskurses bewirkt dies aber leider nicht. Im Gegenteil: Unser Bundeskanzler behauptet - ich möchte das wiederholen -, Putin sei ein lupenreiner Demokrat. Ich frage mich, ob wir nun viele Aussagen so ironisch sehen müssen wie diese. Es ist dringender denn je, dass wir eingreifen und Russland in dieser fast ausweglosen Situation helfen, um eine politische und vor allem demokratische Lösung zu finden. Die Ankündigung Putins, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus erfordere eine Erneuerung der gesamten Politik für den Nordkaukasus, ist richtig. Dieser Vorschlag geht aber leider in die falsche Richtung. Immer deutlicher wird, dass es in diesem Konflikt nur noch Verlierer geben wird. Islamistische Kräfte unterlaufen zunehmend die sezessionistischen UnabhängigkeitsMelanie Oßwald bestrebungen der Tschetschenen zugunsten eigener Ziele. Moskau darf einerseits keine Islamisierung seiner südlichen Territorien zulassen und andererseits die Region nicht ohne geordnete Verhältnisse verlassen. Dies ist ohne internationale Hilfe schlichtweg unmöglich. Die Verweigerung der Unabhängigkeit und die fortgesetzte Brutalität der russischen Truppen gegenüber der Bevölkerung schüren eher das Abdriften der kaukasischen Moslems in das radikale Lager der Islamisten. Das sind Islamisten, die keine Hemmungen haben, Gewalt in die ganze Welt zu tragen. Die unschuldige Zivilbevölkerung Tschetscheniens leidet - das ist heute bereits erwähnt worden - seit mehr als zehn Jahren entsetzliche Qualen. Sie verliert jede Hoffnung auf eine gute Zukunft und das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit. Aufrüsten statt verhandeln, das ist eher die Taktik Putins im Tschetschenienkrieg. Seine Militärs kennen bei ihrem Feldzug keine Kompromisse. Die eigentlichen Ursachen des Konfliktes werden aber leider kaum angesprochen, zum Beispiel die desolate wirtschaftliche und soziale Lage im gesamten Kaukasus und insbesondere in dieser Region. Es wird nichts getan, um zum Beispiel die Bildungseinrichtungen wieder aufzubauen. Seit zehn Jahren gehen die Kinder dort nicht mehr in die Schule. Sie nehmen dafür an dem Kriegsgeschehen regen Anteil. Es bedarf keiner großen Fantasie, sich die Situation der Frauen, Männer und Kinder vorzustellen, deren Lebensgrundlagen seit fast einer Generation systematisch zerstört werden und deren Väter, Brüder und Söhne vor ihren Augen verschleppt, misshandelt oder getötet werden. Die internationale Gemeinschaft ist aufgefordert, dem Konflikt eine noch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Dies ist bis heute leider versäumt worden. ({0}) Die deutsche Regierung muss ihr wiederholt erklärtes Menschenrechtsengagement - sie und auch mein Kollege Bindig stellen es immer gern heraus; leider stehen nicht alle dahinter - endlich ernst nehmen. ({1}) Sie muss beim russischen Präsidenten darauf dringen, die Menschenrechtssituation in seinem Land spürbar zu verbessern. Was Menschenrechte angeht, darf es nicht nur um PR oder um Macht gehen. Allein seit Jahresbeginn kamen in Tschetschenien mehrere hundert Zivilpersonen ums Leben. Meist waren Sicherheitsdienste oder Streitkräfte für diese Todesopfer verantwortlich. Allein in dem Viertel des Landes, das als halbwegs sicher gilt - auch „Memorial“ darf dort regelmäßig dokumentieren -, kamen nur in diesem Jahr ums Leben: 83 tschetschenische Angehörige von Polizei und Armee, acht Verwaltungsbeamte und 23 Rebellen. Es gab 294 Entführungen. 146 Entführungsopfer wurden wieder freigelassen, 20 tot aufgefunden; die anderen 128 werden vermisst. Wie ich bereits gesagt habe, gilt dies nur für das Viertel des Landes, das als befriedet gilt. Ich möchte das lieber nicht auf das ganze Land hochrechnen. Die Tschetschenen haben ein Recht, in Frieden und Würde zu leben. Auch die russischen Soldaten haben Anspruch auf eine politisch durchdachte und vernünftige Lösung dieses Bürgerkrieges. Wir müssen endlich den Mut haben, mit Russland auch einen kritischen Dialog über Demokratie und Menschenrechte zu führen. ({2}) Alles andere ist feige und hat mit politischer Verantwortung nichts zu tun. Meine Damen und Herren von der Koalition, die heutige Debatte zeigt: Eigentlich sind wir uns einig, dass es so nicht weitergehen kann. Ich finde es darum umso bedauerlicher, dass Sie es nicht geschafft haben, den angekündigten Antrag in die heutige Debatte einzubringen. ({3}) Das wäre eher politisches Handeln gewesen, als heute nur zu reden. Ich sehe die rot-grüne Russlandpolitik damit als gescheitert an. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir als Abgeordnete der PDS begrüßen die Initiative der FDP, die Situation in Tschetschenien auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen. Ebenso wie in der Debatte am Mittwoch stelle ich die Frage: Was sind eigentlich die Ziele deutscher Außenpolitik? Bereits in der Debatte über die Situation in der Ukraine ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, wie Bundeskanzler Schröder seine demonstrativ engen Beziehungen zum russischen Präsidenten Putin nutzt, um auf dessen Politik einen gewissen Einfluss zu nehmen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich finde es gut und richtig, dass sich die Bundesregierung um gute Beziehungen zu Russland bemüht. Russland ist vom Westen lange genug gedemütigt worden. Der Bundeskanzler ist zu der Auffassung gekommen, dass die Demütigung Russlands ein Irrweg und eine politische Sackgasse ist. Das können wir als PDS nur unterstützen. ({0}) Andererseits kritisieren wir die Zurückhaltung der Bundesregierung in der Tschetschenienfrage. Gegen das tschetschenische Volk wird bereits zum vierten Mal ein Ausrottungskrieg geführt. Der vierte Krieg begann im September 1999 unter Putin. Er ist bis heute nicht beendet. Putin setzt weiterhin auf Staatsterror und bewirkt damit eine Steigerung des Gegenterrors. Trauriger Höhepunkt war das tödliche Attentat auf Präsident Kadyrow. In der Person Kadyrow lässt sich das ganze tragische Schicksal Tschetscheniens nacherzählen. Kadyrow war ursprünglich der oberste muslimische Geistliche Tschetscheniens. Unter dem ersten Präsidenten Dudajew hatte er zum Heiligen Krieg gegen die Russen aufgerufen. Später wurde er zur Marionette des Kremls, gehasst und verachtet vom tschetschenischen Volk und schließlich ermordet. Im September wurden wir alle ohnmächtige Zeugen der Geiselnahme in Beslan. Opfer waren Kinder, die gerade noch freudig in die Schule gegangen waren. Nach dem wenigen, was wir heute wissen, waren die Täter nicht Tschetschenen, sondern Inguschen, die Opfer nicht Russen, sondern Osseten. Die Inguschen sind mit den Tschetschenen ethnisch und sprachlich nah verwandt und wurden im Februar 1944 gleichzeitig mit diesen nach Mittelasien deportiert. Für diese Deportation rekrutierten Stalins Geheimdienste Hilfstruppen. Zu diesen Hilfstruppen gehörten auch Osseten, westliche Nachbarn der Inguschen. Warum gehe ich so detailliert darauf ein? Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Konflikte weit in die Vergangenheit reichen. Es geht nicht nur um Tschetschenien, sondern um den gesamten Nordkaukasus. Die Verhältnisse sind kompliziert - das leugnet niemand -, aber trotzdem können wir von der Bundesregierung erwarten, dass sie sich mit dieser komplizierten Situation entsprechend auseinander setzt. ({1}) Wir als PDS sind nicht länger bereit, eine Arbeitsteilung zu akzeptieren, die da heißt: Schröder ist für die guten Beziehungen zu Putin zuständig und Fischer redet über die Menschenrechte. ({2}) Wir sollten für Tschetschenien die gleichen Maßstäbe wie für die Ukraine anlegen. Freiheit, Frieden und Menschenrechte sind keine abstrakten Forderungen. Ein Weg zu Frieden, Freiheit und Menschenrechten wird man für Tschetschenien und den gesamten Kaukasus nur finden können, wenn man sich mit der Geschichte - nicht nur der letzten zehn Jahre - auseinander setzt. - Herr Fischer wird noch sprechen; er braucht nicht dazwischenzurufen. ({3}) Die Bundesregierung ist gefordert, vom Kreml diplomatisch, aber konsequent die Achtung des Rechts auf Selbstbestimmung auch der Tschetschenen einzufordern. Diese Aufgabe ist schwierig, aber lösbar. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Pflug, SPDFraktion.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung an den Kollegen Pflüger richten. Herr Kollege Pflüger, Sie haben einige Dinge angesprochen, auf die ich gerne eingehen würde, was ich aber wegen meiner begrenzten Redezeit nicht tun kann. Zwei Dinge allerdings möchte ich doch ansprechen. Wenn Sie sagen, dass die Friedensbewegung nicht gegen den Terror in Tschetschenien demonstriert, dann ist das schlichtweg falsch. Wir haben in Berlin demonstriert. Den Volmer-Erlass dafür verantwortlich zu machen, dass zwei Terroristen nach Deutschland eingereist sind, Herr Kollege Pflüger, ist absurd. Dann können Sie genauso gut Herrn Schrempp dafür verantwortlich machen, dass jemand mit einem Mercedes einen Unfall verursacht. ({0}) Der Antrag der FDP zum Thema Tschetschenien enthält viele Passagen, denen zugestimmt werden kann. Aber dieser Antrag enthält auch Formulierungen, die besser unterblieben wären. Dazu gehört zum Beispiel ein solch verquaster Satz wie: Die Terroristen haben die zivilisatorischen und menschlichen Mindeststandards in nicht vorstellbarer Weise unterschritten, … Dass die FDP die Ermordung von Schulkindern und ihren Eltern in den Kontext einer Formulierung wie „Unterschreiten von Mindeststandards“ stellt, ist nicht akzeptabel. ({1}) - Dass Sie den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen abgeschrieben haben, Herr Hoyer, ist keine Entschuldigung dafür. Sie von der FDP sind es, die diesen Text in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Deshalb müssen Sie ihn auch verantworten. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Der Terroranschlag von Beslan ist durch nichts zu rechtfertigen. Das ist richtig. Es muss klar sein, dass es in der Beurteilung von Terror nur konsequente Ablehnung und keine relativierenden Betrachtungsweisen gibt. Die von der Kommission zur Reform der Vereinten Nationen soeben einstimmig angenommene Terrorismusdefinition ist, meine ich, ein Fortschritt für die internationale Politik. Wir können uns bei der Bekämpfung von internationalen Terroristen keine Zweideutigkeiten erlauben. DesJohannes Pflug wegen begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion - wie Sie es auch tun - die politische Unterstützung, die die Bundesregierung der russischen Regierung beim Kampf gegen den tschetschenischen und den internationalen Terrorismus zuteil werden lässt. ({2}) Der Deutsche Bundestag begrüßt insbesondere die Aussagen der gemeinsamen Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem russischen Präsident Wladimir Putin, die anlässlich des Terroranschlags von Beslan erarbeitet und am 9. September veröffentlicht wurde. Darin heißt es unter anderem: Deutschland und Russland verurteilen alle Akte und Formen des Terrorismus, ungeachtet der zugrunde liegenden Motivation … Beide Länder werden verstärkt zusammenarbeiten, um der globalen Herausforderung durch den Terrorismus und seinen Ursachen noch wirksamer entgegentreten zu können. Von besonderem Interesse ist eine Passage in dem FDP-Antrag - oder soll ich sagen: in dem Grünen-Antrag? -, die sich mit der Natur und den Zielen des tschetschenischen und des internationalen Terrorismus befasst. Es heißt darin: Der islamistische Terrorismus, der sich als Netzwerk um den Kern von El Qaida organisiert hat, versucht systematisch, die Südgrenze der GUS-Region zu zersetzen. Nachdem die Terrorgruppen Afghanistan als Basis weitgehend verloren haben, bietet der ungelöste und unkontrolliert eskalierte Konflikt in Tschetschenien nun einen neuen Angriffspunkt. Von hier aus wollen Islamisten die gesamte Kaukasus-Region … destabilisieren. Ziel scheint nicht nur die ideologische Herrschaft zu sein, sondern die politische Schwächung von Gesellschaften und Staaten, um im entstandenen Chaos machtpolitisch Zugriff auf strategische Rohstoffe in Arabien und Zentralasien zu erlangen, den Westen zu erpressen und einen allgemeinen Krieg der Kulturen zu provozieren. Einmal abgesehen davon, dass dies nur ein Teilaspekt sehr komplexer Zusammenhänge und historischer Entwicklungen in Tschetschenien ist, ist festzuhalten, dass Vorschläge wie zum Beispiel der, die Staatengemeinschaft müsse „Russland und die tschetschenische Gesellschaft vom Weg einer friedlichen Konfliktlösung“ überzeugen, nicht weiterhelfen. Wie soll denn die Staatengemeinschaft Terrorgruppen, die Chaos produzieren, um ihre Machtansprüche durchzusetzen, von einer friedlichen Konfliktlösung überzeugen? ({3}) Der Satz „Der Deutsche Bundestag fordert die Menschen in Tschetschenien … auf, offen für politische Lösungen zu sein“ ist zwar ein gut gemeinter Ratschlag, aber hilft natürlich auch nicht weiter. Nun haben wir - das gebe ich gerne zu - auch nicht den Stein der Weisen gefunden. Ich bin aber absolut davon überzeugt - der Kollege Bindig hat das ja auch gesagt -, dass jede politische Lösung des Tschetschenienkonflikts, zu der sich die russische Regierung mehrfach bekannt hat, mit einer energischen Untersuchung und Verfolgung aller Menschenrechtsverletzungen vor Ort und mit entschlossenen Maßnahmen gegen das sich ausbreitende Klima der Straflosigkeit beginnen muss. ({4}) Partner für eine politische Lösung des Konflikts wird es erst geben, wenn die Spirale von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen angehalten wird und die Menschen in Tschetschenien durch Lösung der Flüchtlingsprobleme und einen tatsächlichen Wiederaufbau eine lebenswerte Zukunftsperspektive erhalten. Da wir gerade in diesen Tagen hochsensibilisiert auf die Ukraine blicken und dort verstärktes Engagement der Europäischen Union erwarten, sollten wir ebenso mit Blick auf Tschetschenien von der Europäischen Union fordern, dass sie gemeinsam mit der russischen Regierung die Möglichkeiten zu einer umfassenden Strategie der Stabilisierung und Vertrauensbildung in der Kaukasusregion, also so etwas Ähnliches wie einen Stabilitätspakt Kaukasus, auslotet. Die Ausrichtung muss sowohl auf die sieben russischen Föderationssubjekte im Nordkaukasus als auch auf die südkaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan mit ihren gefährlichen und ungelösten Regionalkonflikten erfolgen. Anderswo gemachte Erfahrungen mit Strategien zur Stabilisierung von Regionen sollten von der EU genutzt werden. Russland sollte trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber jeglicher internationaler Einmischung nicht übersehen, dass sich das Tschetschenienproblem allmählich zu einem Flächenbrand ausbreiten könnte und die Hilfsbereitschaft und Solidarität der internationalen Völkergemeinschaft dann schnell nachlässt. Das erleben wir in Afghanistan, im Irak, im Sudan, im Kongo usw. Im Süden Russlands herrscht ein Bürgerkrieg. Kriege sind eine besondere Bedrohung für die Menschenrechte. Auf die Frage, wie man auf zivilisierte Weise schwer bewaffnete und gewaltbereite Terroristen bekämpfen kann, hat man in Tschetschenien noch keine befriedigende Antwort gefunden. Dennoch bestehen wir darauf, dass bei dem notwendigen Kampf gegen den Terrorismus die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt und die Rechte der Zivilbevölkerung geschützt werden müssen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bedauerlicherweise führen wir hier eine zweigeteilte Debatte, nämlich einmal eine innenpolitische über die Frage unserer Beziehungen zu Russland und zum anderen darüber - das ist, wie ich meine, die wesentlich wichtigere -, wie die Tragödie in Tschetschenien beendet werden könnte. Dazu habe ich leider wenig gehört. Lassen Sie mich mit dem ersten Teil der Debatte, dem innenpolitischen Teil, beginnen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Präsident Putin in Berlin war und hier im Hause gesprochen hat. Ich habe bei dem Treffen sehr sorgfältig zugehört. Vieles von dem, was hier angemahnt wird, hätte dabei direkt vorgetragen werden können. Ich habe aber wenig Diesbezügliches gehört. Außerdem gab es während des Bundestagswahlkampfes - die Situation war damals schon sehr schlimm - Reisen von Kanzlerkandidaten nach Russland. Ich habe in der Auswertung der Presseberichte wenig darüber gelesen, dass entsprechende Vorstellungen dort vorgetragen worden wären. Darüber hinaus kann ich mich an den Besuch meines geschätzten Kollegen, des früheren Außenministers Iwanow, im Auswärtigen Ausschuss erinnern. Ich saß die ganze Zeit dabei. Schon damals wäre all das vorzutragen gewesen; aber es ist nicht vorgetragen worden. Ich selbst war das letzte Mal am 12. Februar dieses Jahres in Moskau. Ich habe mir jetzt die Agenturmeldungen heraussuchen lassen, acht Stück. Ich will nur eine davon zitieren, nämlich Reuters: Fischer legt deutsche Bedenken gegen Tschetschenienpolitik dar Bundesaußenminister Joschka Fischer hat bei der russischen Regierung die deutschen Vorbehalte gegen das Vorgehen Russlands in Tschetschenien unterstrichen - im direkten Gespräch mit Putin und der russischen Delegation. „Wir haben intensiv über die Entwicklung in Tschetschenien gesprochen“, sagte Fischer am Donnerstag nach einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. „Ich habe unsere Besorgnis dargestellt, die Frage der Beachtung der Menschenrechte, der Transparenz, die Frage der inneren Demokratieentwicklung.“ Der russische Außenminister Igor Iwanow sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Fischer, es sei kein Geheimnis, dass es Meinungsverschiedenheiten zu Tschetschenien, der Freiheit der russischen Medien und der Demokratie in Russland gebe. Fischer und Iwanow betonten, sie hätten in einem sehr offenen Gespräch diese Meinungsverschiedenheiten ebenso besprochen wie zahlreiche Themen, in denen Übereinstimmung zwischen beiden Ländern bestehe. Ich könnte Ihnen jetzt auch noch die anderen Zitate vorlegen, meine Damen und Herren. ({0}) - Angesichts dieser Meldung müssten Sie Ihren Vorwurf eigentlich zurücknehmen. Sie sagten, Fischer würde zu all dem nahezu schweigen. Jetzt weichen Sie nicht auf den Bundeskanzler aus. Ich weiß, dass er in ähnlicher Art und Weise alle Probleme mit dem Präsidenten angesprochen hat, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrfach. ({1}) Was Sie tun, ist kurzsichtig und schlechte Oppositionspolitik.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pflüger?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Bitte, Kollege Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, Ihre Äußerungen, die in den Agenturmeldungen wiedergegeben worden sind, sind uns natürlich bekannt. ({0}) Trotzdem möchte ich Sie fragen: Finden Sie es richtig, dass der Bundeskanzler - im Gegensatz zur EU - die Wahlen in Tschetschenien als akzeptabel bezeichnet hat?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Kollege Pflüger, wir, auch der Bundeskanzler, haben diesbezüglich eine klare Haltung eingenommen. ({0}) Ich weiß, dass er gerade in den Gesprächen mit Präsident Putin all die Punkte, auf die ich eben eingegangen bin, präzise angesprochen hat. ({1}) - Sie müssen die Antwort schon mir überlassen. - Deshalb kann ich Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Es ist sehr kurzsichtig, was Sie hier betreiben; denn Sie lenken nur von dem Widerspruch ab, den es bei Ihnen gibt. ({2}) Ich weiß, dass es in der Politik oft schwer ist, Dilemmata zuzugeben. ({3}) - Was für ein „Eiertanz“ denn? Verehrter Kollege, wenn Sie zu der Frage, wie Russland einzubinden ist, nichts sagen können und es dann als „Eiertanz“ bezeichnen, wenn ich auf dieses Dilemma hinweise, zeigt das doch nur, in welchen Horizonten Sie tatsächlich denken. ({4}) Kollege Pflüger - Sie können sich ruhig setzen ({5}) - ich habe die Frage beantwortet -, den entscheidenden Punkt haben Sie doch im ersten Teil Ihrer Rede angesprochen - ich bedaure sehr, dass Sie das nicht weiter ausgeführt haben -, nämlich in welche Richtung sich Russland entwickelt und wie wir unsere Politik gestalten müssen. Selbstverständlich ist die Tragödie in Tschetschenien dabei von zentraler Bedeutung. Sie haben zu Recht diesen furchtbaren, grauenhaften Terrorismus angesprochen: die Tatsache, dass die Unterdrückung der Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenien dazu geführt hat, dass es zunehmend zum Rekrutierungsfeld des internationalen Dschihad-Terrorismus wird, und andererseits die Konsequenzen, die das für die Entwicklung der russischen Demokratie insgesamt haben kann. Angesichts der Entwicklung müssen wir klar zu unseren Grundsätzen stehen. Wir haben immer die Grundsätze unserer Tschetschenienpolitik verfolgt, indem wir zum einen auf eine politische Lösung des Konflikts gedrängt - ich komme gleich auf Elemente dazu zu sprechen - und zum anderen klar gemacht haben, dass die territoriale Integrität Russlands beibehalten werden muss. Eine weitere Auflösung der Russischen Föderation birgt Konsequenzen, über die sich die wenigsten Gedanken machen. Diejenigen, die dies so schlankweg mit Unabhängigkeit gleichsetzen ({6}) - das habe ich Ihnen doch nicht vorgeworfen; wir müssen uns in dieser Frage, in der Konsens besteht, ja nicht streiten -, bedenken nicht, was das an weiterer Gewalt und Instabilität mit sich bringen kann. Herr Kollege Pflüger, auf meiner Reise in den Südkaukasus vor einigen Monaten habe ich mit den Außenministern und den Staatspräsidenten von Aserbaidschan, Armenien und Georgien auch über die Tschetschenienfrage diskutiert. In diesen Gesprächen habe ich zwei Fragen gestellt. Erstens habe ich gefragt, wie man diesen Konflikt und die Mentalität, die in Tschetschenien dahintersteckt, erklären kann. Ich sage ganz offen, dass ich keine befriedigende Antwort erhalten habe. Meine Gesprächspartner haben mir selbst gesagt, dass sie mir keine Antwort auf diese Frage geben können. Zweitens habe ich gefragt, was zu tun ist und wie sich dieser Konflikt lösen lässt. Darauf habe ich sehr widersprüchliche Antworten erhalten. Auf unsere berechtigte Kritik kommt von der russischen Seite sofort die Frage: Was schlagt ihr denn vor? Wenn wir den Namen Maschadow erwähnen und fragen, ob es keine Möglichkeit gibt, einen politischen Prozess mit Maschadow zu beginnen, dann folgt prompt die Antwort: Mit Terroristen werden wir dies nicht tun; er hat zu viel Blut an den Händen. Außerdem wird darauf verwiesen, dass es auch in der Phase zwischen dem ersten Tschetschenienkrieg unter Jelzin und dem zweiten Tschetschenienkrieg nicht funktioniert hat. Wir können uns doch noch alle sehr gut an die damaligen Zustände in Tschetschenien erinnern. Dennoch sind wir der Meinung, dass alle Möglichkeiten ausgelotet werden sollten. Ein Waffenstillstand setzt allerdings Partner voraus. Man sollte sich daher überlegen, ob es sinnvoll ist, den Ansatz mit Maschadow weiter zu verfolgen. Ich möchte aber hinzufügen, dass dahinter - zu Recht - große Fragezeichen stehen. ({7}) Das wissen Sie nur zu gut. Das ist das Dilemma, das ich zu beschreiben versuche und über das wir nicht einfach hinwegdiskutieren dürfen. ({8}) - Ich sage doch gar nicht, dass Sie das tun. Ich habe nur gesagt, dass wir das nicht dürfen. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Frage: Kann es gelingen - wenn man einen Partner findet -, einen langfristigen Waffenstillstand auf der Grundlage der territorialen Integrität der Russischen Föderation zu erreichen? Ich warne davor, die These von der Internationalisierung einfach in den Raum zu stellen. Denn das Problem mit einem möglichen Stabilitätspakt für den Gesamtkaukasus ist: Weder die südlichen Republiken, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollen und die ihre Besorgnis äußern, noch Russland, das auf seine territoriale Integrität achtet, werden diesen Pakt akzeptieren. Den Ansatz, die Verhältnisse mit friedlichen Instrumenten zu verbessern, um den Prozess in Gang zu setzen, halte ich für richtig. Aber dieser Ansatz wird an den Ängsten und an den Widersprüchen in der Kaukasusregion sozusagen hängen bleiben. Wir sollten nicht meinen, wir könnten den Stabilitätsansatz, wie wir ihn auf dem Balkan entwickelt haben, so einfach auf diese Region übertragen. Wir müssen in dieser Situation auch verstehen, wie Russland die Entwicklung im südlichen und im nördlichen Kaukasus sieht. Gestatten Sie mir, dass ich einige Bemerkungen zu diesem Punkt mache. Ich mache mir nicht die Position Russlands zu Eigen, aber ich sage, dass man die russische Seite verstehen muss. Es ist das Trauma des Abstiegs einer Supermacht, die sich einst auf dem Niveau der Vereinigten Staaten befunden hat. Es ist - ohne jeden Zweifel - das Trauma der territorialen Desintegration. Das spielt bei der Ukrainepolitik des russischen Präsidenten und der russischen Regierung, aber auch bei der Haltung der russischen Öffentlichkeit eine ganz entscheidende Rolle. Bei allem Verständnis für die Situation Russlands ist meines Erachtens aber auch klar, dass eine erfolgreiche Modernisierung Russlands ohne den Übergang zu einer modernen Marktwirtschaft, zu einer modernen Zivilgesellschaft, zu einer Teilung der Macht innerhalb der unterschiedlichen Institutionen sowie ohne eine Festlegung auf demokratische Grundprinzipien - wir begreifen das als Freiheit in der Gesellschaft und in der Wirtschaft 13634 nicht funktionieren kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Erneuerung Russlands letzten Endes davon abhängt, ob Russland ein aktiver Faktor in einer wissensgetriebenen, globalisierten Wirtschaft werden kann. Eine solche wissensgetriebene, globalisierte Wirtschaft lässt sich nur mit freien Individuen, also mit freien Bürgerinnen und Bürgern erfolgreich organisieren. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ich komme zum Ende. Meine Damen und Herren, es ist es wert, einmal ausführlich im Plenum oder im Ausschuss über die Russlandpolitik zu diskutieren. Im Hinblick auf die Tragödie in Tschetschenien stehen wir zu unseren Grundsätzen. Ich meine, dass dabei - ohne dass das eine Einmischung bedeutet - die OSZE und ihre Beobachtermission, aber auch der Europarat eine wichtige Rolle des Aufeinanderzuführens spielen könnten. Moskau zu überzeugen ist alles andere als einfach; das sage ich hier in aller Klarheit. Dennoch werden wir nicht ruhen, weil wir der Überzeugung sind, dass der Tschetschenienkonflikt jenseits der großen humanitären Tragödie ein gewaltiges Destabilisierungspotenzial hat. ({0}) Wir werden an unseren Grundsätzen festhalten und weiter eine klare Sprache pflegen. Wir sind unseren Grundsätzen verpflichtet. Wenn diese aufgerufen sind, dann werden wir zu unseren Grundsätzen stehen; das hat die Bundesregierung immer wieder bewiesen. Aber wir müssen auch die ganze Komplexität des Problems begreifen. Glauben Sie mir, die Entwicklung im Irak und an anderen Orten macht die Argumentation gegenüber der russischen Seite nicht unbedingt einfacher. ({1}) Insofern verstehe ich die Nöte der Opposition auf der einen Seite; ich will mich darüber nicht beschweren. Aber auf der anderen Seite ist es dieses Thema wirklich wert, vertieft und jenseits dieser innenpolitischen Spielereien diskutiert und positiv vorangebracht zu werden. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag, von dessen Herkunft ich erst nachträglich erfahren habe, gelesen habe, hat mich die dort getroffene Lageeinschätzung zu zwei Kommentaren herausgefordert. Erster Kommentar: Wir sprechen über eine Region dieser Erde mit höchster Gewaltkonzentration. Wer die ausgewiesenen Zahlen, 100 000 Tote, 6 000 Minenopfer im Jahr 2002 - das sind fünfmal mehr als im gleichen Zeitraum in Afghanistan - und 10 000 gefallene russische Soldaten, ins Verhältnis zur Größe der Region mit 700 000 Einwohnern setzt - diese Region ist nicht viel größer als der Freistaat Thüringen -, kann erst einmal ermessen, über welches Inferno wir hier reden. Gemessen daran wünschte man sich natürlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit und mehr problembezogene Diskussionen in den politischen Debatten zu Tschetschenien. Wenn wir darüber hinaus die massive Militärkonzentration - 100 000 Soldaten befinden sich zeitweise in dieser kleinen Region und 300 000 in der Umgebung mit dem Umstand in Zusammenhang bringen, dass ein Großteil staatlicher Gewaltaktivitäten außerhalb des Kriegsrechtes liegt, dann, finde ich, sollten wir unsere Empörung über das Verhalten der Amerikaner in Guantanamo einmal ins Verhältnis zu unserer Empörung über die Entwicklung in Tschetschenien setzen. ({0}) Ein zweiter Kommentar scheint mir ebenfalls wichtig zu sein. Wir sprechen wirklich über eine Tragödie. Der Konflikt hat tragische Wurzeln - das ist schon mehrfach angesprochen worden -, die in die Zeit der zaristischen Kolonisation und in die Zeit der stalinschen Deportationen zurückreichen. Er hat aber auch tragische Wurzeln im Wesen des tschetschenischen Volkes selber. Die Regierung Maschadow ist nach dem Friedensabkommen, das mit Lebed geschlossen worden war, erkennbar gescheitert. Sie ist auch deswegen gescheitert, weil in dieser Region ein Clandenken noch so stark vorherrscht, dass es offenkundig extrem schwierig ist, Institutionen der Staatlichkeit eigenverantwortlich zu etablieren. Auch dies sollten wir im Blick haben, wenn wir über diesen Konflikt reden. Angesichts einer solchen Lageeinschätzung plädiere ich dafür, dass wir in unserem vergleichsweise behüteten Mitteleuropa uns nicht mit altklugen Ratschlägen oder mit besserwisserischen Urteilen über die Situation äußern; ({1}) aber ich kann uns angesichts der Dramatik auch nicht empfehlen, dass die Repräsentanten der deutschen Politik mit gespaltener Zunge sprechen. Dies scheint mir mindestens ebenso wichtig zu sein. ({2}) In diesem Zusammenhang, Herr Minister Fischer, würde ich gern die FDP vor dem Vorwurf der innenpolitischen Spielerei in Schutz nehmen, ({3}) denn wenn dieser Antrag zu einem Klärungsprozess innerhalb der Bundesregierung führt, ({4}) welche Positionen man denn nun gegenüber Russland in Sachen Tschetschenien vertreten will, dann halte ich dies für einen wichtigen und notwendigen Beitrag. ({5}) Ebenso halte ich es für wichtig, ja für unverzichtbar, dass wir den Dialog mit Russland nicht nur als einen Dialog hinter verschlossenen Türen nach dem Vorbild bismarckscher Diplomatie führen. Die Politik der Europäischen Union, die auf eine strategische Partnerschaft setzt, wird doch nur dann glaubwürdig, wenn wir einen Dialog der Zivilgesellschaften unterstellen. Zu diesem Dialog gehört in punkto Tschetschenien sehr vieles, was zumindest mir bisher viel zu sehr verdrängt wurde. ({6}) Dass einer der heute meistgefürchteten, gefährlichsten Terroristen, Schamil Bassajew, noch Anfang der 90er-Jahre im Abchasienkonflikt für russische Interessen gegen georgische Truppen gekämpft hat, macht doch eine Diskussion über den Zusammenhang zwischen tschetschenischem Terrorismus und seiner Vorgeschichte notwendig. Wenn russische Truppen - übrigens in einem sehr engen Zusammenhang zur ersten Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten; dies war sogar ein Argument für seine Wahl - mit großer Härte und mit dem Ziel eines Unterwerfungsfriedens in Tschetschenien agieren, so müssen wir uns nicht wundern, dass sie den Widerstand in die asymmetrische Kriegführung treiben und es jetzt terroristische Strukturen gibt, von denen wir zu Recht fürchten, dass sie sich dem Netzwerk des islamistischen Terrorismus anschließen. Es gibt also viel Raum für offene Diskussionen nicht besserwisserisch, aber offen und nicht beschränkt auf Diplomatie hinter verschlossenen Türen. Wenn die heutige Debatte und der aus einem Parteitagsbeschluss abgeleitete FDP-Antrag einen Beitrag dazu leisten, so erachte ich dies für wichtig und notwendig. Gleichwohl halte ich es nicht für richtig, über diesen Antrag sofort hier im Plenum abzustimmen, denn im Hinblick auf das Problem erkenne ich an dem Parteitagsbeschluss der Grünen noch zu viele Mängel. Weil die Lampe aufleuchtet, will ich nur noch zwei Stichworte nennen. Wir werden mehr Nachdenklichkeit investieren müssen, als wir in diesem Antrag finden, wenn wir die Frage beantworten wollen, was Deutschland und die EU zur Lösung des Tschetschenienkonfliktes beitragen können. Hinsichtlich eines zweiten Punktes will ich durchaus die Sichtweise des Bundesaußenministers unterstützen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, jetzt können Sie wirklich nur noch einen Schlusssatz sagen.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage noch einen Satz, Frau Präsidentin: Auch ich halte die Sichtweise „Stabilitätspakt Kaukasus“ für nicht zielführend, sondern wünsche mir Aktivitäten, die zwischen den unterschiedlichen Handlungsrahmen im Südkaukasus und im Nordkaukasus unterscheiden. Insofern lohnt es sich, über diesen Antrag im Ausschuss vertiefend zu diskutieren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3955 mit dem Titel „Zukunft für Tschetschenien“. Mir ist gerade mitgeteilt worden, dass die FDP nach der Debatte auf die sofortige Abstimmung verzichtet, sodass wir gemeinsam davon ausgehen können, dass Überweisung beantragt ist. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. An welche Ausschüsse soll überwiesen werden? ({0}) - Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland ({1}) - Drucksache 15/2742 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Günther Friedrich Nolting, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ({3}) - Drucksache 15/1985 ({4}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({5}) - Drucksache 15/4264 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz Ronald Pofalla Volker Beck ({6}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Bundesrepublik Deutschland hat das Parlament bei Entscheidungen über Auslandseinsätze eine besondere Verantwortung. Das ist anders als in anderen Länder. Diese Besonderheit findet in diesem Haus breite Zustimmung. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz will und wird diese besondere Verantwortung stärken und konkretisieren. ({0}) Meine Fraktion sieht im Parlamentsvorbehalt einen Teil einer politischen Kultur der Zurückhaltung beim Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland. ({1}) Wir fühlen uns in dieser Frage durch die Erfahrungen der letzten Jahre bestätigt. Die rot-grüne Bundesregierung hat deshalb ein Gesamtkonzept für vorausschauende Friedenspolitik, Krisenprävention und Friedenskonsolidierung entwickelt. Dass heute fast alle der mehr als 7 000 deutschen Soldaten, die im Ausland tätig sind, an Missionen zur Friedenskonsolidierung teilnehmen, ist kein Zufall. Wenn wir heute Morgen den Beschluss gefasst haben, 200 Soldaten an einer Friedensmission in Darfur zu beteiligen, passt das genau in dieses Konzept. ({2}) Hinter allen deutschen Einsätzen steht nicht nur eine wohl erwogene Entscheidung der Bundesregierung, sondern auch eine sehr sorgfältige Abwägung aller Bundestagsabgeordneten. Das soll auch so bleiben. ({3}) Ich selbst habe bei der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs eine koordinierende Funktion wahrgenommen und kann sagen: Bisher war es wirklich selten der Fall, dass wir uns so gründlich mit einem Gesetzentwurf beschäftigt haben. Auch ist es nicht sehr häufig der Fall gewesen, dass die Sachdiskussion mit den Fachkollegen so produktiv war wie bei der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs. In diesem Sinne möchte ich denjenigen, die daran mitgewirkt haben, meinen herzlichen Dank sagen. Das waren von der CDU/CSU insbesondere Christian Schmidt und Ronald Pofalla, bei der FDP war es der Kollege Jörg van Essen, bei unserem Koalitionspartner waren es Volker Beck und Winfried Nachtwei und in meiner eigenen Fraktion waren es Erika Simm, Dieter Wiefelspütz, Rainer Arnold und Hans-Peter Bartels. Ihnen allen möchte ich meinen herzlichen Dank sagen. ({4}) Wir haben uns bei der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfes Zeit genommen. Am 17. Juni dieses Jahres haben wir im Rahmen einer Anhörung auch die Expertise von außen genutzt und dabei Anregungen bekommen und Wertungen erfahren. Ich möchte hier ausdrücklich sagen: Ich habe Respekt vor dem Gesetzentwurf der Kollegen von der FDP. Trotzdem ist es nicht zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf gekommen. Es gab nämlich einen wichtigen Unterschied: Die Liberalen haben die Einsetzung eines Ausschusses für besondere Auslandseinsätze für richtig gehalten. Dafür gibt es nachvollziehbare Argumente. Uns war es aber wichtig, dass jeder einzelne Abgeordnete des Deutschen Bundestages weiterhin eine Verantwortung für Auslandseinsätze hat. Das ist für uns der Kern des Parlamentsvorbehalts. Deswegen konnten wir uns nicht verständigen. Wenn man sich die Gesetzentwürfe genauer ansieht, wird man allerdings feststellen, dass wir uns in der Sache näher sind, als es die Vorlage konkurrierender Gesetzentwürfe suggeriert. Dieses Gesetz wurde, nachdem wir den Entwurf vorgelegt hatten, auch in der Öffentlichkeit kritisch betrachtet und begleitet. Das ist zu begrüßen. Es gibt bis heute, übrigens auch in meiner eigenen Fraktion, Kolleginnen und Kollegen, bei denen noch Zweifel übrig geblieben sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns in der Praxis, in der Anwendung dieses Gesetz gelingen wird, zu zeigen, dass diese Zweifel nicht berechtigt sind. Ich will hier noch einmal drei Punkte kurz herausgreifen: Selbstverständlich - das ist der erste Punkt - werden wir darauf achten, dass bei den humanitären Hilfsdiensten und Hilfsleistungen durch die Bundeswehr im Ausland, bei denen Waffen lediglich zur Selbstverteidigung mitgeführt werden, kein Übergang in irgendeine andere Form von Mission, die in die Nähe eines bewaffneten Einsatz es gerät, möglich sein wird. Wir haben damit bei den bisherigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine Menge Erfahrung gesammelt. Das Parlament hat jedes Recht, falls eine solche Gefahr sichtbar wird, das zum Gegenstand der parlamentarischen Beratungen zu machen. Der zweite Punkt betrifft Einsätze von geringer Bedeutung, zum Beispiel im Falle der Vorausentsendung einer Beobachtergruppe oder wenn einzelne Soldaten in Friedensmissionen der Vereinten Nationen oder anderer internationaler Organisationen eingesetzt werden sollen oder ein Austausch vereinbart wird. Auch die Entscheidung über solche Einsätze von geringer Bedeutung bleibt unter dem Parlamentsvorbehalt. Das vereinfachte Zustimmungsverfahren ist auch ein Zustimmungsverfahren; das möchte ich ausdrücklich betonen. ({5}) Es soll nur verhindern, dass die Kompliziertheit des umfassenden Verfahrens zu einem Hemmschuh wird, wenn es bei völlig unstreitigen Missionen darum geht, zwei, drei uniformierte Kräfte in eine Friedensmission zu schicken, Spezialisten, die dort gebraucht werden; in dem Fall könnte das gewöhnliche Verfahren hemmend wirken, weil es zu kompliziert ist. Der dritte Punkt betrifft die Verlängerung von Einsätzen nach dem vereinfachten Zustimmungsverfahren. Diese wird nur dann überhaupt stattfinden, wenn die Bundesregierung von einem vollständigen Konsens im Deutschen Bundestag ausgehen kann und dafür auch entsprechende Hinweise hat. Auch in dem Fall wird es dabei bleiben, dass jede Fraktion das Recht hat, doch eine Behandlung im Plenum des Deutschen Bundestages zu verlangen, ebenso jede beliebige Gruppe, die mindestens 5 Prozent aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages ausmacht. Das heißt, auch bei der Verlängerung gehen wir überhaupt kein Risiko einer irgendwie gearteten Einschränkung des Parlamentsvorbehalts ein. Das hatten wir nicht im Sinn. Aber es bedeutet ja nicht unbedingt eine Stärkung des Parlamentsvorbehalts, wenn alle vorher schon wissen, dass wir völligen Konsens über die Verlängerung, die Fortführung der Mission bei unverändertem Einsatz haben werden. Dann brauchen wir nicht das komplette Verfahren. In einem solchen Fall macht es Sinn, von dem vereinfachten Verfahren Gebrauch zu machen. Ich komme zum Abschluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Parlamentsbeteiligungsgesetz stärkt die Rechte des Bundestages. ({6}) Es regelt sie im Detail. Wir folgen damit einer Anregung, die das Bundesverfassungsgericht dem Deutschen Bundestag schon vor zehn Jahren gegeben hat. Ich bin froh, dass wir heute hierbei zu einem Abschluss kommen. Wir bleiben bei unserer Grundsatzentscheidung für ein Parlamentsheer. Wir tun das im Rahmen unserer Kultur der Zurückhaltung bei internationalen Einsätzen; das möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen. Insofern kann ich nur sagen: Dieses Gesetz, das wir wirklich sehr gründlich vorbereitet haben und bei dem wir wechselseitig viel voneinander gelernt haben, verdient die breite Zustimmung dieses Hauses. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über die verfahrensmäßige und inhaltliche Ausgestaltung eines wichtigen Parlamentsrechts, nämlich des Zustimmungsvorbehalts des Deutschen Bundestages für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Das in seinen Grundzügen durch das Bundesverfassungsgericht, wie bereits angesprochen, 1994 bestätigte Recht gibt dem Hohen Hause eine wichtige Mitverantwortung bei Entscheidungen für die Sicherheit und die außenpolitische Handlungsfähigkeit unseres Landes. Deswegen war es gut, dass sich alle Fraktionen in tief greifenden Erörterungen bemüht haben, ein einvernehmliches Gesetz zustande zu bringen. Für die der Bedeutung der Materie angemessene Beratung danke ich deswegen den beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen. Dass es nicht gelungen ist, zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf zu kommen, zeigt aber auch, dass der Spannungsbogen zwischen Parlamentsrecht einerseits und außen- und sicherheitspolitischer Verlässlichkeit andererseits unterschiedlich bewertet wird. Die CDU/ CSU-Fraktion stimmt beiden Gesetzentwürfen nicht zu. Dies heißt aber nicht, dass wir die gefundenen Regelungen für falsch halten. ({0}) Wir sind jedoch der Ansicht, dass sie nicht ausreichen. Sie stellen eine Festschreibung der Parlamentspraxis dar, die wir in den letzten zehn Jahren gefunden haben. Zudem wird in beiden Gesetzentwürfen richtigerweise davon ausgegangen, dass der Deutsche Bundestag ein Rückholrecht bei bereits begonnenen Einsätzen hat. Wir wollen aber eine umfassendere Regelung für vorhersehbare Einsatzrisiken und Einsatzszenarien der Zukunft und werden uns deswegen in einiger Zeit wohl wieder in diesem Kreise treffen, um über die Fortentwicklung dieser Gesetzgebung zu beraten. Ich hoffe, dass auch im Folgenden Übereinstimmung besteht: Die Zustimmung des Deutschen Bundestages entbindet die Bundesregierung nicht von ihrer Pflicht, das Ob und das Wie des Einsatzes zu verantworten. Der Deutsche Bundestag eignet sich nicht zum Feldherrn. Er verleiht den Entscheidungen der Bundesregierung eine demokratische Legitimation. Allerdings geht ohne eine Entscheidung des Bundestages nichts. Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr werden vom Deutschen Bundestag grundsätzlich durch vorherige konstitutive, das heißt, verfassungsmäßige Zustimmung getroffen. Damit haben wir mehr Einfluss als die meisten anderen Parlamente. Dieser Einfluss ist aber Christian Schmidt ({1}) kein Selbstzweck. Einerseits verschafft er den Einsätzen der Bundeswehr die genannte starke demokratische Legitimation, andererseits nimmt er uns als Parlament in die Verantwortung, außenpolitische Verlässlichkeit zu beachten. Insoweit ähnelt er mehr der Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge, bei der die internationalen Bezüge auch immer zu beachten sind. Darüber hinaus muss der Bundestag aufgrund der Dynamik, die in solchen Einsätzen steckt, das zitierte Rückholrecht haben. Wenn sich in einem Einsatzgebiet die Lage so verändert, dass eine Fortsetzung nicht mehr in unserem Interesse oder nicht mehr verantwortbar erscheint, dann muss die Möglichkeit bestehen, dass der Bundestag handelt. Allerdings liegt die Verantwortung dafür schon allein aufgrund der umfassenderen Einschätzungsmöglichkeiten der jeweiligen Lage auch hier zuerst bei der Bundesregierung. Diese Einschätzungs- bzw. Handlungsmöglichkeit der Bundesregierung korrespondiert mit einem nachhaltigen Informationsanspruch des Parlaments und einer Informationspflicht der Bundesregierung. Um bei schutz- und geheimhaltungsbedürftigen Sachverhalten eine Information sicherzustellen, halten wir den Vorschlag im Grundsatz für richtig, ein entsprechendes Gremium zu schaffen, das Adressat dieser Information im formellen Bereich sein kann. Das Letztentscheidungsrecht muss allerdings beim Plenum verbleiben. Ich denke, dass das Informationsgremium von großer Bedeutung ist und dass wir den hier gefundenen Ansatzpunkt noch weiterentwickeln müssen. Einsätze mit erkennbar geringer Bedeutung sollten die konstitutive Zustimmung des Bundestages in erleichterter Form durch ein Gesetz erhalten. Hierzu sind einige gute Ansätze zu finden. Wenn ein Einsatz verlängert wird und das Mandat dabei keine grundlegende Erweiterung erfährt, dann sollte der Bundestag nur dann damit befasst werden, wenn dies der Wunsch einer Fraktion ist. Auch insoweit besteht Einvernehmen. Unterschiedliche Auffassungen bestehen hinsichtlich des Verfahrens der Parlamentsbeteiligung bei den so genannten integrierten Verbänden. ({2}) Dies ist für uns eine sehr zentrale Frage. In einem Parlamentsbeteiligungsgesetz hätte als wesentlicher Punkt berücksichtigt werden müssen, dass das Parlament gerade im Bereich der internationalen Verpflichtungen seine Entscheidung an derart vielen Faktoren orientieren muss, dass im Sinne - das wiederhole ich - der außenpolitischen Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit unseres Landes - diesen Terminus hat auch das Bundesverfassungsgericht gebraucht - eine frühzeitige grundsätzliche Klärung notwendig und angezeigt ist. Wenn man bereit ist, gemeinsame Verbände aufzustellen, muss man sich schon zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich darüber einigen, für welche Einsätze diese Einheiten genutzt werden dürfen. ({3}) Schon die geringe Vorwarnzeit von fünf Tagen, etwa bei der NATO Response Force, erfordert eine vorherige Festlegung. Mit gutem Grund sind als Reaktion auf die modernen Bedrohungsszenarien und Risiken im Rahmen der NATO die Response Force und im Rahmen der EU die Europäische Eingreiftruppe bzw. jetzt die Battle Groups mit ihren kurzen Reaktions- und Einsatzbereitschaftszeiten von wenigen Tagen geschaffen worden. Die parlamentarische Reaktion hierauf ist aber nicht nur eine Frage des Zeitbudgets. Die politische und militärische Wirksamkeit solcher Kräfte muss vorher klargelegt werden. ({4}) Das Argument, die Mitglieder des Bundestages könnten innerhalb weniger Tage herbeigerufen werden, um darüber zu entscheiden, geht insofern am Problem vorbei. Dabei wird außer Acht gelassen, inwieweit wir die Wirkkraft unserer internationalen Einsatzfähigkeit bei diesen Verbänden aufrechterhalten können. Wenn die Motoren zwar anlaufen können, aber der Einsatz einer internationalen Truppe an deutschen Unwägbarkeiten der Parlamentsentscheidung scheitert, diese Kräfte auf der anderen Seite jedoch so eng verflochten sind, dass man nicht einfach auf den deutschen Anteil verzichten kann, ohne die Gesamtheit der Kräfte handlungsunfähig zu machen, wird dies auf lange Sicht die politische Einflussmöglichkeit Deutschlands schmälern. ({5}) Wir haben mit Interesse vernommen, dass dieses Problem auch in den Reihen der Regierung - ich entsinne mich einiger Äußerungen des Bundesverteidigungsministers - durchaus gesehen wird. Es scheint aber so zu sein, dass eine Mehrheit in der Koalition nicht bereit war, dieser Frage näher zu treten. Wir werden uns aus dem Zwang der Sachlage heraus aber beizeiten wiedertreffen. Wir hatten deshalb vorgeschlagen - das halten wir für notwendig -, dass bei Entscheidungen über den Einsatz solcher Verbände in einem Gesetz der Einsatz auch ohne vorherige Zustimmung des Bundestages im konkreten Einzelfall möglich sein sollte. Ich habe das einmal als „kleine Ratifizierung“ bezeichnet. Dabei wäre vorstellbar, dass die Bundesregierung die Zustimmung des Bundestages zu einem konkreten Einsatz innerhalb von 30 Tagen einholen soll und kann. Im Übrigen meine ich, dass die Bundesregierung in dem so gesetzten politischen Rahmen mit der Entsendung von bewaffneten deutschen Streitkräften zurückhaltend umgehen muss. Ein Einsatz soll und muss die Ausnahme sein und darf nicht die Regel werden. Es gilt das Ultima-Ratio-Prinzip. Wir sind uns völlig einig, dass dies trotz der Vielzahl der Entscheidungen - gerade heute haben wir wieder eine gefällt - nie Routine werden darf; denn diese außergewöhnlichen Entscheidungen müssen aus der Verantwortung unseres Parlaments für unser Land außergewöhnliche Entscheidungen bleiben. Die Bundesregierung muss sich dabei auch einer gewissen Zurückhaltung befleißigen. Christian Schmidt ({6}) Ungeklärt bleibt auch die Frage einer Klarstellung in der Verfassung. Wir haben darüber im Zusammenhang mit dem Gesetz über den Auslandseinsatz nicht intensiv diskutiert. Aber auch das kommt auf uns zu. Art. 87 a des Grundgesetzes schreibt uns vor, dass die Bundeswehr nur zur Verteidigung und in ausdrücklich zugelassenen Fällen einzusetzen ist. ({7}) Es reicht natürlich nicht aus, Herr Wiefelspütz, wenn der Bundesverteidigungsminister erklärt, dass die Freiheit auch am Hindukusch verteidigt werden muss, sodass dies auch ein Verteidigungsfall ist. Vielmehr muss man sich diesem Problem wirklich widmen. Ich bin sehr zurückhaltend mit Forderungen nach einer Änderung oder Ergänzung der Verfassung. Aber über diese Frage müssen wir uns trotzdem intensiv unterhalten. ({8}) - Das ist interessant. Ich entsinne mich aus der Zeit vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 daran, dass damals aus Ihrer Fraktion ganz andere Töne zu hören waren. ({9}) Wir gehen bei der Beantwortung der Frage, was notwendigerweise zu tun ist, doch sehr nüchtern vom Prinzip der Zurückhaltung aus. ({10}) Wir werden diesen Gesetzentwürfen aus den genannten Gründen nicht zustimmen können. Sie geben Sicherheit für das Verfahren, lösen aber die Probleme der Zukunft nicht. Wir sind aber nicht am Ende aller Tage, wir werden uns wiedersehen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Titel dieses Gesetzes - Parlamentsbeteiligungsgesetz - ist eigentlich Ausdruck von Tiefstapelei. Er müsste eigentlich „Parlamentsentscheidungsgesetz“ lauten; denn von einer bloßen Beteiligung des Parlaments an der Entsendung deutscher Soldaten in bewaffnete Auslandseinsätze kann auf Grundlage dieses Gesetzes wahrlich keine Rede sein. Es bleibt dabei: Der Deutsche Bundestag ist die entscheidende Instanz, die jedem dieser Einsätze erst grünes Licht geben muss. Geschieht dies nicht, gibt es keinen solchen Auslandseinsatz, ({0}) bei dem deutsche Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind. Ausnahmen werden ausdrücklich nicht geduldet. Ich finde, das ist richtig so. Die Koalition stärkt mit diesem Gesetz nicht nur die Rechte des Parlaments. Wir schaffen auch - das ist ganz entscheidend - die für die Soldatinnen und Soldaten erforderliche Rechtssicherheit und stärken vor allem die multilaterale Handlungsbereitschaft Deutschlands. Ich finde, die Soldatinnen und Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass nicht nur die Regierung hinter einem Einsatz steht, sondern dass auch die Mehrheit des Parlaments ihren Einsatz, bei dem sie ihr Leben riskieren, unterstützt, dass sie also einen legitimierten Auftrag haben. Dabei sollten wir bleiben. Das war eine der Leitideen für diesen Gesetzentwurf. ({1}) Unser Gesetz stärkt die Bundeswehr als Parlamentsheer. Sie wird nicht zum Ausschussheer, wie dies beispielsweise die FDP mit ihrem Entsendeausschuss vorschlägt. ({2}) Das würde partiell zu Einsätzen führen - das wurde gerade angesprochen -, die eben nicht vom Plenum des Deutschen Bundestages legitimiert sind, sondern von einem kleinen Klub der verschworenen Herren. Womöglich würde sogar - Sie wollen ja auch geheime Einsätze zulassen - unter Geheimhaltungspflicht hier beschlossen, dass die Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Auseinandersetzung geschickt werden. In den USA gibt es solche geheim geführten Einsätze, sozusagen geheime Kriege, beispielsweise in Südamerika. ({3}) Dort weiß der amerikanische Kongress nicht, was die eigene Armee im Ausland tut. ({4}) Das halten wir nicht für richtig. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber 1994 nahe gelegt, für bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr konkrete und detaillierte Regelungen zu treffen. Rot-Grün hat diese Empfehlung aus Karlsruhe aufgegriffen ({5}) und umgesetzt. Aber nicht nur das: Wir gestalten den Entscheidungsbereich des Karlsruher Urteils und schöpfen diesen umfassend parlamentsfreundlich aus. Volker Beck ({6}) Die zweitgrößte Fraktion hier im Hause, die CDU/ CSU, hat sich anders als die FDP, die sich mit einem eigenen Gesetzentwurf an der Debatte beteiligt hat, ({7}) nicht die Mühe gemacht, ihre Überlegungen zu konsolidieren. Sie stellen keine Änderungsanträge. Ich kenne von Ihnen eigentlich nur den Vorentwurf zu einem Eckpunktepapier. Weiter sind Ihre Überlegungen nicht gediehen, weil es zu diesem schwierigen Thema auch bei Ihnen interne Auseinandersetzungen gegeben hat. ({8}) Das soll man hier nicht verschweigen. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Mitglieder Ihrer Fraktion Ihre entschiedene Kritik an bestimmten Punkten teilen, Herr Schmidt. ({9}) Bei aller Konstruktivität, Herr Pofalla und Herr Schmidt, im Ausschuss sollten wir die Differenzen, die wir hatten und die dazu geführt haben, dass wir keinen gemeinsamen Gesetzentwurf eingebracht haben, nicht verdecken; denn die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, zu verstehen, was uns in dieser Debatte bewegt hat. Ich verstehe nicht ganz, dass hier einerseits weitgehende Vorschläge gemacht, diese andererseits aber nicht in Anträge umgesetzt werden. Herr Schmidt, Sie schlagen in Ihrem Entwurf eines Eckpunktepapiers vor, dass wir bei bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen der NATO und der Europäischen Union die Zustimmungspflicht des Bundestages vollständig aufheben. Das heißt, mit der Ratifizierung dieser Verträge sollen wir quasi einen Persilschein für internationale Einsätze ausstellen. Ich finde, unsere Soldatinnen und Soldaten haben bei solchen Einsätzen und bei Einsätzen in integrierten Verbänden mehr Rückhalt im Deutschen Bundestag verdient. Deshalb lehne ich diesen Vorschlag ganz eindeutig ab. ({10}) Sie schütteln hier mit dem Kopf, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Deshalb will ich Ihnen mit Erlaubnis der Präsidentin aus der „Süddeutschen Zeitung“ einige Zeilen vorlesen, die Ihre Position sehr prägnant zusammenfassen: Die Union will hier die Entscheidung über den Truppeneinsatz dem NATO-Rat überlassen. Dafür besteht kein Anlass. Deutschland bleibt verlässlicher Partner, auch wenn sich der Bundestag das Recht vorbehält, über jeden Einsatz zu befinden. Die Erfahrung zeigt, dass Militärmissionen nicht über Nacht beschlossen werden. Es bleibt genug Zeit, den Bundestag zu befassen. Entscheidungen womöglich über Leben und Tod bedürfen der öffentlichen Debatte und sollten nicht in einer Ministerrunde fallen. ({11}) Ich finde, die „Süddeutsche Zeitung“ hat Recht. Das untermauert unsere Argumentation. ({12}) Über bewaffnete Einsätze, über die Beteiligung Deutschlands an einem Kriegseinsatz entscheidet in Deutschland das gewählte Parlament und Blankoschecks in Form von Ratifizierungsurkunden wird es mit dieser Koalition nicht geben. ({13}) Die FDP hat einen eigenen Vorschlag gemacht. Ich stelle fest: In Bezug auf viele Elemente weisen unser Gesetzentwurf und Ihr Gesetzentwurf Schnittmengen auf. Aber eine entscheidende Differenz muss man doch herausarbeiten: Sie wollen ein Sondergremium für geheime Kriegseinsätze schaffen. Damit würde ein Tor für etwas geöffnet, was wir doch gerade nicht wollen und was sich mit einem umfassenden Parlamentsvorbehalt nicht verträgt. Geheime Kriegseinsätze, die nur einem ausgewählten Kreis bekannt sind, darf es nicht geben. Unser Gesetzentwurf bietet dagegen ein flexibles Instrumentarium, das der gesamten Bandbreite von denkbaren bewaffneten Einsätzen und vor allem auch dem Parlamentsvorbehalt gerecht wird. Wir stärken das Parlament über den Status quo hinaus. In der verfassungsrechtlichen Literatur gibt es einen Streit darüber, ob der Bundestag zum Beispiel ein Rückholrecht hat. Wir klären das jetzt gesetzlich ganz klar. Wenn sich der Charakter eines Einsatzes verändert, wenn das Parlament zu einer neuen Auffassung gelangt, dann kann das Parlament sagen: Wir beenden diesen Einsatz. Dieser entscheidende Punkt weist, wie ich finde, nach vorn. Sie, Herr Schmidt, haben in Bezug auf die integrierten Verbände angemerkt, dass man innerhalb von zwei Tagen einen Einsatz herbeiführen müsste. Ich kann mir diese Konstellation nur bei Fällen vorstellen, bei denen es sich um Gefahr im Verzug handelt, wo es ganz konkret darum geht, Menschenleben zu retten. Für diese Situation haben wir eine Möglichkeit geschaffen. Es wäre ja auch verrückt, wenn wir zusehen müssten und das Notwendige nicht getan werden könnte. Hier vertrauen wir der Bundesregierung. Die Bundesregierung wird hinterher das Parlament informieren und wir werden das im Nachgang legitimieren. Die Bundesregierung ist also handlungsfähig. Hinsichtlich der Fälle, bei denen es sich nicht um Gefahr in Verzug handelt, bei denen es vielmehr um eine richtige militärische Operation geht, kann ich mir gar nicht vorstellen - das höre ich auch von unseren Verteidigungspolitikern und den Militärs -, dass das ohne Vorbereitung in den internationalen Gremien oder ohne militärische Vorbereitung der Bundeswehr überhaupt gemacht werden kann. Eine Konstellation, dass der Bundestag nicht rechtzeitig einbezogen werden könnte, dass Volker Beck ({14}) wir in einem solchen Fall nicht zusammentreten und über einen Einsatz beschließen könnten, kann ich mir nicht vorstellen. Ich halte dieses Fallbeispiel für künstlich und konstruiert. Wir sorgen dafür, dass die Bundesregierung in Zukunft öfters die Bereitschaft Deutschlands anbieten kann, bei Kleinsteinsätzen mitzuwirken, weil wir aufgrund des vereinfachten Verfahrens flexibler geworden sind. Aber bei gefährlichen und politisch womöglich streitigen Einsätzen müssen wir uns weiterhin im Plenum treffen und uns als Abgeordnete zu unserer Verantwortung für das, was die Bundeswehr im Ausland leisten soll, bekennen. Ich finde, das ist die richtige Entscheidung. Dabei wird es in der Zukunft auch sicherlich bleiben, Herr Schmidt. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist ein Beispiel dafür, dass auch aus der Opposition heraus Dinge angestoßen und gestaltet werden können. ({0}) Bereits in der letzten Legislaturperiode hatte die FDP den Anstoß gegeben, über dieses Thema im Deutschen Bundestag zu debattieren und zu einer Lösung zu kommen. Ich bin sehr froh, dass wir als kleinste Fraktion als Erste einen vollständigen Gesetzentwurf dazu haben vorlegen können. ({1}) Uns ist das Thema deshalb wichtig, weil sich die FDP immer besonders intensiv mit der Frage Recht und Einsatz von Militär und Parlament und Einsatz von Militär auseinander gesetzt hat. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994, auf der alles, über das wir hier debattieren, fußt, ist damals ebenfalls von der FDP angestoßen worden. Ich erinnere daran, dass die Entscheidung über den AWACS-Einsatz über der Türkei, für den wir die Zustimmung des Bundestags für erforderlich gehalten haben, von uns an das Bundesverfassungsgericht herangetragen worden ist, weil es für uns eine klare Maxime gibt: Der Bundestag muss, wann immer es möglich ist, die Zustimmung zu Auslandseinsätzen geben. ({2}) Ich denke, dass die bisherige Debatte gezeigt hat, dass es für die Beteiligung des Deutschen Bundestages an den Auslandseinsätzen gute und wichtige Gründe gibt. Wer sich die Praxis anschaut, stellt fest, dass nahezu immer die Befassung des Deutschen Bundestages dazu geführt hat, dass die Bundesregierung Klarstellungen vornehmen musste, egal wer die Bundesregierung gestellt hat. Das war zu den Zeiten der Fall, als wir sie gestellt haben, genauso wie jetzt. Es hat Präzisierungen zugunsten der Soldaten gegeben. Die Befassung des Deutschen Bundestages hat auch dazu geführt, dass in Deutschland viel intensiver als in vielen Nachbarländern über die Militäreinsätze diskutiert worden ist. Von Kollegen aus anderen Parlamenten, die uns besuchten, erfuhren wir, dass diese überrascht waren, wie intensiv wir uns mit diesen Auslandseinsätzen befassen. Ich finde, das ist eine positive Tradition in unserem Lande, die wir fortsetzen wollen. ({3}) Deshalb, Herr Erler, bin ich Ihnen ganz außerordentlich dankbar, dass Sie deutlich gemacht haben, dass alle, die sich an der Diskussion beteiligt haben, von einem Gedanken geprägt waren: die Parlamentsbeteiligung auszubauen und zu stärken. ({4}) - Bei denen, die sich an der Diskussion beteiligt hatten, war es so. Sie haben nicht umsonst den Kollegen gedankt und sie namentlich aufgeführt. Ich war froh darüber, dass es so war. Trotzdem gibt es Unterschiede zwischen dem Entwurf der Koalition und dem Entwurf der FDP. Ein wesentlicher Unterschied ist schon angesprochen worden. Auf den würde ich gerne eingehen: Es handelt sich um unseren Vorschlag zur Einrichtung eines besonderen Ausschusses Herr Beck, es ist ein völlig absurder Vorwurf, dass damit die Beteiligung des Deutschen Bundestages ausgehebelt werden soll. ({5}) Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Diejenigen, die etwas länger im Deutschen Bundestag sind, erinnern sich daran, dass die Bundesregierung sehr schnell über die Befreiung von Geiseln in Tirana in Albanien entscheiden musste. ({6}) Sie hat damals ohne Zustimmung des Bundestages gehandelt, aber die Obleute unterrichtet. Was hätte eigentlich dagegen gesprochen, dass wir einen formalisierten Ausschuss dazu gebracht hätten, sich mit dieser Frage zu befassen und damit auch die parlamentarische Beteiligung sicherzustellen? Von daher ist dieser Ausschuss für uns ein Mittel, in den Fällen, in denen besonders schnelle Entscheidungen notwendig sind und in denen sich die Bundesregierung auf das Bundesverfassungsgericht stützen könnte, die formalisierte Beteiligung des Parlaments sicherzustellen. Das wäre also eine Ausweitung gegenüber dem jetzigen Zustand. ({7}) Ich denke, dass auch bei einem zweiten Punkt die Überlegungen richtig sind. Mich hat nicht gewundert, dass der stellvertretende Generalinspekteur in der Anhörung sehr viel Sympathie für unsere Überlegungen geäußert hat. ({8}) - Der Minister auch; im Übrigen auch der Bundesaußenminister. Denn es wird auch in Zukunft geheime Einsätze geben, Herr Beck, auch wenn Sie das verneinen. ({9}) Es wird solche Einsätze geben und es wird sie geben müssen. Wenn wir uns als Bundestag an den Einsatzentscheidungen beteiligen, dann müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass der Schutz des Lebens der Soldaten bei besonders riskanten Einsätzen manchmal die Geheimhaltung einer Operation notwendig macht. Dass es sehr schnell zu einer solchen Situation kommen kann, haben wir erlebt, als die Geiseln in der Sahara entführt wurden. ({10}) Seinerzeit hätten wir nicht vorher im Deutschen Bundestag eine Diskussion darüber führen können, wer wie und unter welchen Kautelen die Befreiung der Geiseln vornehmen würde, wenn die algerische Regierung ihre Zustimmung gegeben hätte. Die Bundesregierung hatte sich schon darum bemüht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege van Essen, Ihr Vorschlag, einen Ausschuss für besondere Einsätze zu bilden, hat den Mangel, dass sich das Plenum des Bundestages dann grundsätzlich nicht mehr mit diesen Einsätzen befassen muss. ({0}) Meinen Sie nicht, dass damit die Entscheidung durch das Plenum umgangen würde? Darin besteht der Unterschied zwischen diesem Fall und dem Einsatz in Tirana oder anderen Einsätzen, bei denen zwar zunächst eine eilbedürftige Entscheidung erforderlich sein mag, sich aber nach unserem Gesetzentwurf der Bundestag in jedem Fall damit befassen und im Plenum darüber entscheiden muss.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ströbele, Sie haben offensichtlich unseren Gesetzentwurf nicht gelesen. Denn daraus geht hervor, dass der Vorgang in die Zuständigkeit des gesamten Bundestages fällt, sobald die Geheimhaltungsbedürftigkeit nicht mehr besteht. Insofern wird das Plenum nicht ausgeschlossen. Im Übrigen kann der Deutsche Bundestag die Sache jederzeit an sich ziehen, wenn er dies für richtig hält. Von daher werden die verfassungsrechtlichen Vorgaben eingehalten. Das hat auch die Anhörung gezeigt. Alle Verfassungsrechtsexperten haben uns in der Anhörung ausdrücklich bestätigt - darauf wollte ich auch Sie hinweisen, Herr Kollege Schmidt -, dass sowohl der Gesetzentwurf der Koalition als auch jener der FDP-Bundestagsfraktion in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden sind. Aber da Sie schon eine Zwischenfrage gestellt haben, will ich noch einen zusätzlichen Punkt ansprechen, Herr Kollege Ströbele. Es hat mich regelrecht geschockt, dass Sie, als ich mit Ihnen über die Frage gesprochen habe, ob wir bei geheimen Einsätzen - beispielsweise des Kommandos Spezialkräfte - nicht auch eine Verantwortung für das Leben der Soldaten haben, gesagt haben: Das sind Soldaten; die kümmern mich nicht. ({0}) Solche Äußerungen finde ich empörend und sie werden der Verantwortung, die wir als Abgeordnete gegenüber den Soldaten haben, in keiner Weise gerecht. ({1}) Unsere Vorschläge werden gerade auch von militärischer Seite unterstützt. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir mit unserem Gesetzentwurf auf dem richtigen Weg sind. Frau Präsidentin, ich komme damit zum Schluss. Es besteht in vielen Punkten Übereinstimmung zwischen uns und der Koalition. In einem Punkt gibt es zwar einen wesentlichen Unterschied, aber ich denke, dass wir einen Gesetzentwurf verabschieden werden, der die Rechte und die Verantwortung des Bundestages stärkt. Deshalb halte ich das für einen guten Tag für das Parlament, zumal wir das Ganze selbst erarbeitet haben. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Abgeordnete Ströbele hat das Wort zu einer Kurzintervention.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege van Essen, ich stelle klar: Den Satz, den Sie mir in den Mund gelegt haben, habe ich nie gesagt. Das war auch nicht meine Meinung. Als Kanonier der Reserve kümmere ich mich selbstverständlich um die Soldaten und um ihr Schicksal. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ströbele, ich stelle fest, dass wir beide Artilleristen sind. ({0}) Aber damit endet die Gemeinsamkeit auch schon. Ich bleibe bei meiner vorhin geäußerten Behauptung; denn Ihre Bemerkung hat mich damals sehr berührt. Ich finde nämlich, dass wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages insbesondere gegenüber den Soldaten, die sehr schwierige Missionen auszuführen haben - das sind beispielsweise die Soldaten des Kommandos Spezialkräfte -, Verantwortung haben. Ich bin aber dankbar, dass Sie heute jedenfalls klar machen, dass Sie die Position, die Sie damals mir gegenüber vertreten haben, nicht aufrechterhalten. Insofern war Ihre Intervention sicherlich hilfreich. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat heute Vormittag zum 43. Mal seine Zustimmung zu einem Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte erklärt. Wir blicken inzwischen auf eine gut zehnjährige Staatspraxis bei den Auslandseinsätzen bewaffneter deutscher Streitkräfte zurück. Es ist angesichts dessen an der Zeit, der Empfehlung des Bundesverfassungsgerichtes Folge zu leisten und ein Verfahrensgesetz zur Formalisierung der Entscheidungsprozesse, die die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages betreffen, zu verabschieden. Es ist der Bundesrepublik Deutschland gut bekommen, dass die äußerst schwer wiegende Entscheidung, ob bewaffnete deutsche Streitkräfte im Ausland eingesetzt werden, von der Bundesregierung und vom Parlament verantwortet werden muss. Das ist in anderen Ländern anders. In Deutschland gibt es aber seit der Streitkräfteentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 die allseits respektierte Lage, dass der Deutsche Bundestag einem Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte konstitutiv zustimmen muss. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz, das wir heute verabschieden, ist ein Verfahrensgesetz. Das sollte immer bedacht werden. Man kann von diesem Gesetz nichts verlangen, was es nicht zu leisten imstande ist. Die entscheidende Frage, ob Bundesregierung und Parlament es für richtig halten, Soldaten im Ausland einzusetzen, beantwortet dieses Gesetz nicht. Diese Entscheidung müssen wir selber, und zwar jeder für sich, treffen. Das ist eine ethische und außenpolitische Entscheidung, die mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz überhaupt nichts zu tun hat. Dieses Gesetz regelt das Verfahren. Das ist wichtig genug. Deswegen macht es Sinn, auch über Einzelheiten zu reden. Ich finde, die Hauptbotschaft muss sein: Mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz sorgen wir für Rechtssicherheit und Rechtsklarheit - das ist kein geringer Wert -, ({0}) und zwar für alle Beteiligten, für die Verfassungsorgane, nicht zuletzt auch für die Soldatinnen und Soldaten sowie für die Öffentlichkeit. Die Verantwortung für die Entsendung von Soldaten ins Ausland gemeinsam zu schultern ist eigentlich eine Errungenschaft unserer politischen Kultur in Deutschland von hohem Wert. Dies sollten wir nicht infrage stellen. Bei manchen Ansätzen, die in den Debatten skizziert werden, habe ich den Eindruck, dass eine militärfachliche Rationalität absolut gesetzt wird. Ich persönlich sage Ihnen sehr deutlich: Ich wünsche mir, dass sich der Bundestag trotz aller Überredungskünste niemals einer vermeintlichen militärischen Funktionalität und Rationalität unterordnet. ({1}) Ich bin der Auffassung, dass es uns allen gut ansteht, dass der Deutsche Bundestag seine Meinung zu militärischen Einsätzen äußert und letztlich konstitutiv mitverantwortet, ob Auslandseinsätze stattfinden oder nicht. Deswegen rate ich zu großer Vorsicht, wenn es um Integrationsprozesse in der NATO oder in anderen Institutionen geht. Die wichtige Errungenschaft des Parlamentsvorbehalts darf nicht ohne weiteres infrage gestellt oder gemindert werden. Ich rate uns dazu, die Erfahrungen, die wir in den vergangenen zehn Jahren gesammelt haben, auszuwerten. Das Gesetz, das wir Ihnen heute vorstellen, ist die Summe dieser Erfahrungen. Wir kommen zu dem Schluss: Das Ganze hat sich bewährt. Das schreiben wir jetzt fest, wenn auch nicht für die Ewigkeit. Natürlich wird dieses Gesetz eines Tages novelliert werden. Aber mit Blick auf die Gegenwart sage ich vor dem Hintergrund unseres Erfahrungshorizonts: Wir haben eine gute Lösung gefunden. Auf Einzelheiten werde ich noch eingehen. ({2}) An die Adresse der Union gerichtet, sage ich - das will ich Ihnen nicht ersparen -: Ich empfinde es als einen peinlich-blamablen Vorgang, dass Sie nicht die Kraft haben, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. ({3}) Die FDP hat sich mit einem respektablen Gesetzentwurf beteiligt. Wir werden diesem Gesetzentwurf zwar nicht zustimmen; aber wir bezeugen ihm unseren Respekt. Sie schauen zu und haben zu der ganzen Veranstaltung keine Meinung. Das will ich Ihnen einmal gesagt haben. ({4}) Ich finde es eigentlich peinlich, dass Sie im zentralen Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik nicht handlungs- und gestaltungsfähig sind. ({5}) - Herr Pofalla, Sie wissen doch, dass das blamabel ist. Reden Sie sich doch da nicht heraus! Ich werde sonst immer leidenschaftlicher. Es ist peinlich, dass Ihnen so etwas passiert. Das ist eine blamable Veranstaltung. Sie werden Ihrem Auftrag, in dem wichtigen Bereich der Außenpolitik eigene Vorschläge und ein eigenes Profil zu entwickeln, nicht gerecht. Sie haben diffuse, sehr unklare Meinungen. Auf jeden Fall sind Sie nicht handlungsfähig. Es kommt letztlich nicht auf Sie an - da haben Sie natürlich Recht -; denn die Koalition ist auch auf diesem Feld selbstverständlich sehr wohl handlungsfähig. ({6}) Vor dem Hintergrund einiger Bedenken, die es auch in den eigenen Reihen gibt, will ich noch einmal darauf hinweisen, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz nach meiner festen Überzeugung die Parlamentsrechte nachhaltig stärkt. ({7}) Die Definitionsmacht in Bezug auf alle wichtigen Fragen liegt bei uns, beim Parlament, und nicht bei jemandem anders. Jeder - ich betone: jeder - militärische Einsatz im Ausland bedarf der Zustimmung des Deutschen Bundestages. Das hätte man unter Umständen auch anders regeln können. Wir haben uns für die parlamentsfreundliche Variante entschieden. Die Informationsrechte des Parlamentes, die Informationsrechte eines jeden einzelnen Parlamentariers sind gestärkt worden. Das war in der Vergangenheit - auch unter sozialdemokratischen Verteidigungsministern nicht immer so ganz unproblematisch. Wir haben die Rechte des Parlaments auf diesem Sektor gestärkt. ({8}) Ihre und unser aller Entscheidung hängt nämlich in der Tat davon ab, dass wir vom Anfang bis zum Ende eines militärischen Einsatzes gut, intensiv und umfassend informiert sind. Das ist in unserem Gesetzentwurf festgeschrieben. Wir haben das umstrittene Rückholrecht in das Gesetz aufgenommen. Ich freue mich darüber, dass in dieser Frage inzwischen eine breite Mehrheit - sie ist fraktionsübergreifend, sie reicht also bis in die Union hinein - im Deutschen Bundestag besteht. ({9}) - Wie Sie wissen, war das nicht immer so. Ich erinnere Sie an Ihren Kollegen Scholz, an Herrn Schäuble und an andere, die das anders sehen. Mehrheitlich mag das so sein, Herr Pofalla. ({10}) Aber es gibt hier in der Tat eine erfreuliche Mehrheitsauffassung. Ich will hervorheben, dass das Plenum Herr des Verfahrens bleibt, auch bei einem vereinfachten Zustimmungsverfahren. Bereits 5 vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages können - auch im vereinfachten Zustimmungsverfahren - eine erneute Beschlussfassung des Parlaments herbeiführen. Das heißt, wir haben großen Wert darauf gelegt, dass das Parlament die letzte Entscheidungsgewalt hat und dass dabei kein einzelner Parlamentarier übersehen wird. Ich möchte zum Schluss kommen. Ich möchte hervorheben, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz vom Primat der Politik geprägt ist. Der Deutsche Bundestag entscheidet darüber, ob ein Auslandseinsatz rechtmäßig ist oder nicht. Daran wollen wir nicht rütteln. Wir schreiben eine bewährte Praxis fest. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt ist ein wichtiger Bestandteil der politischen Kultur in Deutschland. Mit diesem Gesetz festigen wir ihn weiter. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eckart von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Wiefelspütz, in Ihrem Beitrag war meines Erachtens entschieden zu viel Eigenlob. ({0}) Was der Volksmund über Eigenlob sagt, dürfte auch Ihnen bekannt sein. Es ist eine ganze Menge an Weihrauch verströmt worden. Wenn Sie fragen, warum wir keinen Gesetzentwurf vorlegen, antworte ich: Auf Blumen, wie Sie sie am Grab des Entwurfs der FDP abgelegt haben, können wir wirklich herzlich gern verzichten. ({1}) Meine Damen und Herren, Sie sprechen davon, Sie hätten die Parlamentsrechte gestärkt und ausgeweitet. Ich will jetzt gar nicht bewerten, ob eine solche Ausweitung oder - vermeintliche - Stärkung der Parlamentsrechte im Sinne einer stärkeren Einbindung des Bundestages vor einer Entscheidung über einen Einsatz tatsächlich auf eine Stärkung hinausliefe, aber Tatsache ist: Der Entwurf, der heute angenommen werden soll, stellt eine solche Stärkung nicht dar. Sie versuchen lediglich, wie ich finde, mehr schlecht als recht, die bisherige Praxis in ein Gesetz zu gießen, das dem derzeitigen Zustand entspricht, aber nicht auf die Zukunft und auf das ausgerichtet ist, was an möglichen und notwendigen Entscheidungen auf uns zukommen wird. Ich werde dazu gleich noch etwas sagen, wenn es um die Frage der integrierten Verbände, aber insbesondere auch um die Frage der anderen Kombattanten geht. Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich mit dem, was wir bisher an parlamentarischer Praxis, an Kontrolle der Einsätze der Bundeswehr im Parlament geübt haben, nicht in jedem Fall einverstanden bin. Ich will an die erste Abstimmung zu Enduring Freedom erinnern, die mit einer Vertrauensfrage des Bundeskanzlers verbunden war. Einige in der Fraktion der Grünen sind der Auffassung gewesen - der Kollege Ströbele war einer von denen -, dass dieser Einsatz falsch ist. Man ist aber zu der Ansicht gekommen, dass man dem Einsatz trotzdem zustimmen muss, weil die Vertrauensfrage gestellt worden ist. Das hat dazu geführt, dass innerhalb der Fraktion der Grünen zur Frage des Bundeswehreinsatzes, zur Frage der Gefährdung des Lebens unserer Soldaten gelost worden ist. Es ist gelost worden, wer dafür stimmt und wer dagegen stimmen darf. ({2}) - Doch! Die Kollegin Steffi Lemke hat hier damals ausgeführt, ({3}) man habe sich nicht einigen können, ({4}) man habe eine Mehrheit zustande bekommen wollen und dann sei gelost worden; ({5}) einige hätten danach dagegen stimmen dürfen und andere hätten dafür gestimmt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern. Bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie soeben die Unwahrheit gesagt haben? Weder hat die Kollegin Lemke so etwas irgendwann irgendwo gesagt, schon gar nicht hier im Hause, ({0}) noch entspricht das den Tatsachen. - Im Gegensatz zu Ihnen war ich dabei. ({1}) Es ist nicht gelost worden, zu keinem Zeitpunkt. Es ist nicht einmal ernsthaft überlegt worden, ob gelost werden kann. Das ist eine bösartige Unterstellung, die nicht dadurch richtiger wird, dass das in der Presse gestanden hat, offenbar in der Ihnen nahe stehenden, die Sie in diese Richtung falsch informiert hat.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Das ist hier im Hause festgestellt worden. Die Kollegin Lemke hat für das Verfahren, das Sie gewählt haben, auch noch einen besonders hohen Anspruch für sich reklamiert ({0}) und hat sich gegen die entsprechende Kritik aus unseren Reihen gewehrt. Ich bleibe dabei: Wenn man der Ansicht ist, dass ein Bundeswehreinsatz falsch ist, und wenn man der Ansicht ist, dass er das Leben unserer Soldaten gefährdet, darf man auch dann, wenn die Vertrauensfrage gestellt ist, nicht dafür stimmen und über welches Verfahren auch immer eine Mehrheit herstellen, Herr Kollege Ströbele. Das ist jedenfalls nicht vereinbar mit dem Weihrauch und dem Eigenlob in Bezug auf Ihren Gesetzentwurf. ({1}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Ich finde, dass wir eine ganze Menge zu lernen haben, was die parlamentarische Kontrolle der Bundeswehreinsätze angeht. Damit wende ich mich insbesondere an die SPDFraktion; ich will den Kollegen Nachtwei von den Grünen dabei ausdrücklich ausnehmen. Es ist ein Trauerspiel gewesen, was im Zusammenhang mit den März-Unruhen im Kosovo abgelaufen ist. Da ist uns vom Verteidigungsministerium über Monate mitgeteilt worden, dass dieser Einsatz erfolgreich gewesen ist. Dann hat es Presseberichterstattung gegeben, die auf das genaue Gegenteil hingewiesen hat. Daraufhin hat es aus der SPD zunächst einmal die Feststellung gegeben, die Presseberichterstattung habe nicht zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung darüber im Ausschuss geführt. Nachtigall, ich hör’ dir trappsen! Bevor überhaupt der Minister den Bericht abgegeben hat, hat man für die umfangreiche Information gedankt. Man hat gesagt, es sei alles aufgeklärt, bevor man überhaupt über die Angelegenheit gesprochen hatte. Ich habe im Verteidigungsausschuss zum Beispiel darum gebeten, dass zur Frage der Zuständigkeit der deutschen Soldaten endlich einmal eine schriftliche Stellungnahme abgegeben wird. Sie liegt bis heute nicht vor. Ich habe darum gebeten, dass der NATO-Bericht, in dem die Ergebnisse der Untersuchung über die Vorfälle im Kosovo im März festgehalten sind, den Abgeordneten zur Verfügung gestellt wird. Er ist nach Auskunft von General Kujat nicht klassifiziert. Dieser Bericht ist uns bis heute nicht vorgelegt worden. Das hat doch mit einer vernünftigen Kontrolle durch das Parlament und einer seriösen Information des Parlaments über Einsätze nichts zu tun. ({2}) Erst langatmig über Anträge zu beraten, sich aber, nachdem sie beschlossen wurden, den Schneid bei der parlamentarischen Kontrolle abkaufen zu lassen, ist doch wirklich nicht vernünftig. Auf die Frage der integrierten Verbände wird Kollege Polenz in seinem Beitrag noch eingehen. Das Hauptproblem liegt meiner Meinung nach darin, dass eine konstitutive Zustimmung im Rahmen Ihres Gesetzes nicht im Nachhinein erfolgen kann. Dadurch unterliegt der Einsatz dieser Verbände immer der Gefahr des Opt-out Deutschlands. Das wird gerade diejenigen, denen Sie immer wieder vorwerfen, dass sie zu unilateralem Handeln neigen, umso stärker motivieren, unilateral vorzugehen. Wer möchte, dass die internationalen Organisationen wie EU und NATO gestärkt werden und eine Konsultation unter Bündnispartnern stattfindet, der darf nicht durch ein kompliziertes und nicht kompatibles Entscheidungsverfahren, das vor jedem Einsatz eine Parlamentsbeteiligung verlangt, die Entscheidungsfindung in diesen Gremien erschweren. Das Problem Ihres Antrags liegt eben gerade darin, dass auf diesen Punkt nicht eingegangen wird. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, dass Sie zum Einsatz anderer Kombattanten kein Wort verlieren. Der Innenminister hat jetzt vorgeschlagen, den BGS im Ausland einzusetzen. Sie, Herr Kollege Wiefelspütz, haben das für eine besonders originelle und kluge Idee gehalten. Wenn BGS-Beamte im Ausland eingesetzt werden und Uniform tragen, dann muss auch eine Parlamentsbeteiligung stattfinden. Hier darf kein Umgehungstatbestand geschaffen werden. ({3}) Sie hätten also in einem Parlamentsbeteiligungsgesetz, wenn Sie schon über diese Frage nachdenken, auch die Möglichkeit schaffen müssen, dass der Bundestag zu solchen Einsätzen Stellung nimmt bzw. ihnen zustimmt. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Wiefelspütz erhält das Wort zu einer Zwischenfrage.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr von Klaeden, ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute schon BGS-Einsätze im Ausland stattfinden. ({0}) Richtig ist auch, dass der BGS nicht militärisch eingesetzt werden darf und niemand darüber nachdenkt - ich schon gar nicht -, das in Zukunft zu ändern. Polizei ist Polizei und bleibt Polizei. Ich bitte Sie auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass es für Polizeieinsätze keinen konstitutiven Parlamentsvorbehalt gibt. Vielleicht könnten Sie dazu ja noch einmal Stellung nehmen. Ich sehe da keinen Dissens zwischen uns. Ich weiß nur, dass für Bundeswehreinsätze im Ausland der Zustimmungsvorbehalt des Parlaments gilt, während für BGS-Einsätze im Ausland kein Zustimmungsvorbehalt des Parlaments existiert, und dass heute schon sowohl Bundeswehr als auch BGS im Ausland eingesetzt werden. Sie haben völlig Recht, dass vor diesem Hintergrund keine Umgehungstatbestände geschaffen werden dürfen; dabei würde es sich um einen Missbrauch handeln. Es wird aber niemals dazu kommen, dass für Polizeieinsätze im Ausland ein konstitutiver Parlamentsvorbehalt eingeführt wird. Diesen gibt es heute nicht und diesen wird es auch in Zukunft nicht geben.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wiefelspütz, beschäftigen Sie sich einmal mit den Aufgaben, die nach den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesverteidigungsministers die Stabilisierungskräfte der Bundeswehr im Auslandseinsatz wahrnehmen sollen. Sie werden dann feststellen, dass dazu nicht nur militärische Einsätze gehören, sondern auch die Wahrnehmung von Polizeiaufgaben. In der sich daran anschließenden Diskussion zwischen dem Innenminister und möglicherweise auch dem Verteidigungsminister und Ihnen ging es, wenn ich es richtig verstanden habe, darum, dass Aufgaben, die sonst von Stabilisierungskräften wahrgenommen würden, in Zukunft möglicherweise von BGS-Einheiten wahrgenommen werden sollen, ({0}) weil diese von ihrer Ausbildung her dafür geeigneter sind. Ich bin nicht dagegen, dass man darüber nachdenkt. Wenn aber die Beamten aus BGS-Einheiten, die anstelle von Bundeswehreinheiten eingesetzt werden, im Ausland Uniform tragen, dann sind sie völkerrechtlich gesehen Kombattanten und damit auch Soldaten. Ich habe die Sorge, dass hier ein Umgehungstatbestand geschaffen wird, wenn man, weil man in bestimmten Fällen die parlamentarische Diskussion scheut, statt der Stabilisierungskräfte, die die Aufgabe wahrnehmen könnten, BGS-Einheiten ins Ausland schickt. Man muss also, wenn man diese Überlegung für so bedeutend erachtet, wie Sie sie hier dargestellt haben, auch für andere Kombattanten im Ausland eine entsprechende Regelung im Gesetz verankern. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Arnold?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in Wirklichkeit nicht so kompliziert ist? Auslöser dieser Debatte war etwas ganz anderes, nämlich dass wir erkennen, dass die Bundeswehr im Augenblick in hohem Maß polizeiliche Aufgaben im Ausland übernimmt, und zwar deshalb, weil es nicht ausreichend Polizeikräfte gibt, um diese Aufgaben zu erfüllen. Könnten Sie erkennen, dass es möglicherweise sinnvoll ist, darüber zu debattieren, ob es nicht die klügere Lösung wäre, zu organisieren, dass die Polizei Polizeiaufgaben wahrnimmt, wo diese jetzt von der Bundeswehr wahrgenommen werden, und die Bundeswehr weiterhin Bundeswehraufgaben, wo es welche gibt? ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Arnold, wenn Sie mir zugehört haben, dann haben Sie festgestellt, dass ich diese Diskussion durchaus als sinnvoll bezeichnet habe. ({0}) - Selbstverständlich verstehe ich das. Sie verstehen es nicht! Ich rate Ihnen, einmal die Verteidigungspolitischen Richtlinien Ihres Ministers zu lesen und sich mit der Funktion von Stabilisierungskräften zu beschäftigen. In die Funktion von Stabilisierungskräften fällt selbstverständlich, in einem Land, in dem staatliche Autorität aufgebaut werden soll, Polizeiaufgaben mit wahrzunehmen. Das ist auch die selbstverständliche Aufgabe einer Armee. Schon die Legionen des Augustus haben Polizeiaufgaben wahrgenommen: Sie haben den Verkehr geregelt, Evakuierungen vorgenommen, Straßen gebaut. Das ist normales militärisches Handwerk. Da kann man nicht differenzieren und sagen, die Armee sei nur zum Kämpfen da und nicht dazu, bestimmte - wie Sie es bezeichnen - polizeiliche Aufgaben wahrzunehmen. Bei uns im Inland werden solche Aufgaben natürlich von der Polizei wahrgenommen, aber bei einem Auslandseinsatz gehört das zu den Aufgaben der Soldaten. Dass man im Ausland auch die Zusammenarbeit mit den Landespolizeien oder dem BGS suchen kann, steht natürlich völlig außer Frage. Meine Aussage ist doch nur: Wenn es zu einer stärkeren derartigen Kooperation kommen soll - was ich für sinnvoll halte -, sind Einheiten des Bundes, Kombattanten, Soldaten im völkerrechtlichen Sinne betroffen, die in der Verantwortung des Bundestages stehen. Dann gibt es keinen sachlichen Grund, diese Einheiten anders zu behandeln als die Bundeswehr. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schmidt?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dann bitte ich aber, mit den Zwischenfragen etwas sparsamer umzugehen.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit bin ich sehr einverstanden.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, das ist meine erste Zwischenfrage.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Aber Sie haben schon einen Redebeitrag abgegeben.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege von Klaeden, verstehen Sie den Beitrag des Kollegen Arnold so, dass die Bundeswehr bei Polizeieinsätzen im Ausland eine Tätigkeit ausübt, die, wenn sie von Polizeikräften geleistet wird, nicht parlamentarisch abgesichert ist, und befürchten Sie, dass Herr Arnold insinuiert, dass eigentlich die Bundeswehr dann, wenn sie keinen Einsatz im Sinne einer Armee, sondern einen Polizeieinsatz hat, ohne Parlamentsbeteiligung eingesetzt werden kann, oder erkennen Sie eine andere, tiefer gehende Logik in den Bemerkungen des Kollegen Arnold? ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt, das war eine sehr wohlwollende Interpretation der Äußerungen des Kollegen Arnold. In Wirklichkeit sind sie, wie ich finde, gar nicht zu verstehen gewesen. ({0}) Aber vielen Dank für diesen Versuch. Auch Herr Arnold sollte sich eigentlich dafür bedanken, dass Sie die Dinge in dieser Weise klargestellt haben. Wenn es um die Frage der Parlamentsbeteiligung geht, wie es auch das Verfassungsgericht formuliert hat, dann sollten wir uns als Parlament auf das Ob der Einsätze konzentrieren und das Wie und die Modalitäten der politischen Führung überlassen, um hinterher, falls etwas schief geht, die Möglichkeit zu haben, zu kontrollieren, und nicht durch einen entsprechenden Beschluss gebunden zu sein. Die Modalitäten des Einsatzes können wir als Parlamentarier doch sowieso nicht bis ins Detail bestimmen. Sie werden aber von der Regierung immer wieder in den Vorschlägen formuliert. Ich halte es gerade im Sinne unserer Soldaten für vernünftiger, dass wir uns um das Ob der Einsätze kümmern, um die politische Implikation, und nicht um das Wie, sodass wir uns hinterher, wenn etwas schief gegangen ist, wie zum Beispiel im März im Kosovo, auf die Kontrolle konzentrieren und auf diese Weise die notwendigen Sorgfaltsmaßstäbe schaffen können, die bei der nächsten Einsatzvorbereitung Beachtung finden können. Dazu gehört allerdings auch, dass die Regierungskoalition und insbesondere die SPD die Bereitschaft haben, Vorgänge tatsächlich zu kontrollieren und auch einmal zu kritisieren, dass uns vom Bundesverteidigungsministerium über Monate hinweg nicht die Wahrheit gesagt worden ist. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute abschließend über das so genannte Parlamentsbeteiligungsgesetz. Schon der Name grenzt an Etikettenschwindel. ({0}) „Entsendegesetz“ trifft das Anliegen besser. ({1}) Schließlich geht es darum, die Bundeswehr möglichst problemlos weltweit entsenden zu können und das Parlament dabei so wenig wie möglich beteiligen zu müssen. Blitzeinsätze des Militärs im Äußeren und „Light“-Demokratie im Inneren - das ist des Pudels Kern. ({2}) Die PDS im Bundestag lehnt beides entschieden ab. Ich bezweifele übrigens heftig, dass das vorliegende Gesetz grundgesetzkonform ist. Noch enthält die deutsche Verfassung eine Friedenspflicht. Noch hat die höchste Volksvertretung über Auslandseinsätze der Bundeswehr zu entscheiden. Das gebietet das Grundgesetz. ({3}) Der vorliegende Entwurf von Rot-Grün aber bricht mit beiden Grundsätzen: mit der Pflicht zum Frieden und mit dem Recht des Bundestages. Nur zur Erinnerung: So lange ist es noch gar nicht her, da galten deutsche Kriegseinsätze als nahezu unvorstellbar. Dann kam der Sündenfall. Zwar wurde noch immer von Kriegeinsätzen als Ultima Ratio geredet. Aber immer mehr wurde die gern zitierte Ausnahme zur Regel. Es ist auch noch nicht so lange her, da mussten im Bundestag zwei Drittel einem Militäreinsatz zustimmen. Dann wurde das Quorum gesenkt. Nun sollen die Abgeordneten noch mehr degradiert oder - wie die PDS im Bundestag - sogar vollständig aus diesem Prozess ausgeschaltet werden. Denn mit diesem Gesetz wird der einzigen Partei, die im Bundestag gegen weltweite Militäreinsätze ist, ein Maulkorb verpasst. ({4}) Das Entsendegesetz dient einer beschleunigten Militarisierung der Außenpolitik. Es folgt einer Anregung der USA. Es dient den Wünschen der NATO und soll die militärische Interventionskraft der EU stärken. Das Gesetz wird - davon gehe ich aus - wie gewünscht funktionieren. Wird die Bundeswehr künftig in Marsch gesetzt, dann muss der Bundestag der Regierung de facto das Misstrauen aussprechen, um den Einsatz zu beenden. Auch das Ausmaß eines Auslandseinsatzes obliegt nicht mehr einer Abwägung im Bundestag. Er kann im Nachhinein nur noch Ja oder Nein sagen. Damit entzieht sich der Bundestag jedem Pro und Kontra. Er unterwirft sich den Entscheidungen einer Regierung, die er eigentlich nach allen Regeln der Demokratie beauftragen und kontrollieren soll. ({5}) Er behindert außerdem eine gesellschaftliche Debatte, anstatt sie anzuregen. Damit bin ich bei der eigentlichen und schrecklichen Botschaft, die Sie heute beschließen wollen. Der Bundestag entmündigt sich selbst, ({6}) weil er dem Militär im Weg steht, weil die höchste deutsche Volksvertretung der NATO und der Bundeswehr zur Last fällt. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommt, noch dazu auf Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die PDS im Bundestag lehnt das ab - konkret und grundsätzlich. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Bartels.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in diesem Hause schon oft über die neuen Anforderungen an unsere Bundeswehr diskutiert. Wir haben darüber gesprochen, wie sich das sicherheitspolitische Umfeld nach 1989 und auch nach dem 11. September 2001 gewandelt hat und welchen neuen Bedrohungen und Einsatzrealitäten wir uns heute gegenübersehen. Die Transformation der Bundeswehr - das heißt: die Ausrichtung unserer Streitkräfte auf die heute und zukünftig wahrscheinlichsten Einsätze - ist unsere Antwort auf die veränderten Bedingungen. Über das neue Konzept und über Peter Strucks Hindukusch-Doktrin gibt es im Grundsatz keinen Streit. Das ist eine gute Basis, auf der wir hier im Parlament gemeinsam arbeiten. Das Gesetz, über das wir heute beraten, bringt zum Ausdruck, wie viel sich geändert hat und dass wir als Gesetzgeber mit dieser Entwicklung Schritt halten müssen. In den Zeiten des Kalten Krieges stellten sich jedenfalls die Fragen, die wir jetzt regeln, nicht. Der bewaffnete Konflikt, für den die Bundeswehr damals vorgesehen war, wäre der dritte Weltkrieg gewesen, geführt in der Mitte Europas. Da hätten sich die Fragen nach Vorauskommandos und Einsätzen geringer Intensität gar nicht gestellt. Es ging damals immer um den Worst Case, um die höchste Intensität. Es spricht für dieses Parlament und das Verhältnis der demokratischen Parteien untereinander, dass wir auch ohne spezielle gesetzliche Grundlage seit nunmehr zehn Jahren über Auslandseinsätze beschließen - und dies in den allermeisten Fällen mit einer sehr breiten Mehrheit. Trotz gelegentlicher politischer Differenzen bei der Bewertung einzelner Einsätze stand seit 1994 nie mehr das parlamentarische Beteiligungsverfahren selbst im Zentrum der Diskussion. Dass wir hier im Bundestag über die Teilnahme deutscher Soldaten an internationalen Einsätzen abstimmen, ist mehr als nur die pflichtschuldige Erfüllung einer Vorgabe unseres Verfassungsgerichts. Der Parlamentsvorbehalt ist zu einem Grundpfeiler unseres Verständnisses vom Charakter der Bundeswehr geworden. Sie ist eine Parlamentsarmee. ({0}) Die Debatten über viele Einsätze haben gezeigt, dass wir uns der großen Verantwortung bewusst sind, die mit der Beteiligung deutscher Streitkräfte an internationalen Missionen verbunden ist. Wir dürfen es uns nicht leicht machen und wir machen es uns nicht leicht; darüber besteht wohl fast Einigkeit in diesem Hause. Weil das so ist, hätte ich mir gewünscht, dass wir heute über einen Gesetzentwurf aller Fraktionen entscheiden können. Dazu ist es nicht gekommen. Uns liegt neben unserem Koalitionsentwurf auch ein FDP-Gesetzentwurf vor. Die Union hat das alles zwar kommentiert und kritisiert. Auf einen eigenen Entwurf hat sie allerdings verzichtet. Vielleicht wurden von den Kollegen Schäuble, Schmidt und Pofalla zu viele unterschiedliche Linien vertreten. Da Sie nicht in der Verantwortung stehen, müssen Sie sich auch nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Wir können zur Not damit leben. Insgesamt aber - das sollte nicht verschwiegen werden - haben wir in den vergangenen Monaten fraktionsübergreifend sehr sachlich und konstruktiv über den Parlamentsvorbehalt und seine Ausgestaltung diskutiert. Das war dem Thema angemessen. Zur öffentlichen Anhörung am 17. Juni dieses Jahres waren als Sachverständige mit den Professoren Schmidt-Jortzig und Scholz zwei ehemalige Kollegen geladen, die die parlamentarische Praxis aus eigener Erfahrung als Abgeordnete und Minister kennen. Das Hearing hat bestätigt, dass wir mit unseren Regelungsvorstellungen auf einem guten verfassungskonformen Weg sind. Das gilt übrigens auch für den FDP-Entwurf. Er ist verfassungsrechtlich absolut unbedenklich. Unser Entwurf ist - so viel Eigenlob sei erlaubt - eine angemessene, schlanke und in einzelnen Regelungen elegante Lösung. ({1}) Die Rechte des Parlaments bleiben voll gewahrt. Wir bleiben beim bisherigen Verfahren. Die Parlamentspraxis der vergangenen Jahre stand für das Gesetz Pate. Diese Praxis hat aber auch gezeigt, wo noch Entscheidungsabläufe verbessert werden können. In einigen Fällen, zum Beispiel bei Einsätzen geringer Intensität oder bei der Verlängerung unstrittiger Mandate, wird es künftig die Möglichkeit geben, ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren anzuwenden. Die Zustimmung gilt in diesen Fällen als erteilt, wenn nicht eine Fraktion innerhalb bestimmter Fristen die Befassung des Bundestages verlangt. Das Gesetz enthält zudem eine Legaldefinition des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte. Es wird klargestellt, dass vorbereitende Maßnahmen und Planungen wie bisher Sache der Exekutive sind. Ebenso werden rein humanitäre Hilfeleistungen der Bundeswehr, auch wenn die eingesetzten Soldaten zum Selbstschutz Waffen tragen, nicht dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Schließlich verankern wir im Gesetz ein Rückholrecht des Parlaments. In der Begründung heißt es nüchtern, aber sehr richtig, diese Vorschrift beende „die bisher bestehende Unsicherheit, ob der Deutsche Bundestag die einmal getroffene Entsendeentscheidung aus eigenem Recht wieder rückgängig machen kann oder nicht“. Die Inanspruchnahme des Rechts, eine gegebene Zustimmung zu widerrufen, wird wahrscheinlich die ganz große Ausnahme bleiben. Es ist trotzdem wichtig. Nicht nur das vereinfachte Verfahren gewinnt dadurch an Akzeptanz, dass wir als Parlament wissen, dass wir notfalls ein Ende des Einsatzes erzwingen können. Das Rückholrecht hat auch Bedeutung für andere Fälle. In der vergangenen Woche haben wir mit großer Mehrheit der Beteiligung der Bundeswehr an der nun EU-geführten Operation Althea in Bosnien-Herzegowina zugestimmt. Im Antrag der Bundesregierung heißt es, dass unsere Soldaten eingesetzt werden können, solange ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und ein entsprechender Beschluss der EU bzw. des NATO-Rates sowie die konstitutive Zustimmung des Bundestages vorliegen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mandaten gibt es aber keine ausdrückliche zeitliche Befristung. Die Operation Althea wird uns also nicht in regelmäßigen Abständen beschäftigen, weil eine weitere Verlängerung um ein halbes oder ein ganzes Jahr ansteht. Das war auch schon bei der NATO-geführten Vorgängermission so. Wenn wir als Bundestag aber ein solches zeitlich unbefristetes Mandat erteilen, hat es eine gewisse innere Logik, dass wir auch das Recht haben müssen, gegebenenfalls die Zustimmung zu widerrufen. Insgesamt haben wir, wie ich glaube, das richtige Maß gefunden. Dort, wo es notwendig ist, haben wir rechtliche Klarstellungen und Anpassungen vorgenommen. Aber wir haben uns im Wesentlichen auf die bewährten Abläufe gestützt und sie lediglich mit einem festeren rechtlichen Unterbau versehen. Weshalb nun die FDP die Notwendigkeit sieht, zusätzlich ein spezielles Sondergremium zu schaffen, ist mir immer noch etwas unklar. Geheimhaltungsbedürftige Einsätze - das wurde schon angesprochen - werden bisweilen als Begründung genannt. Aber welche Auslandseinsätze sollen das sein? Den Kosovo, Bosnien, Afghanistan oder den Sudan können sie wohl nicht betreffen. Geht es um Evakuierungsaktionen? Es ist doch klar, dass diese nicht vor Beginn der Operation in aller Öffentlichkeit diskutiert werden können. Für diese Fälle brauchen wir keinen neuen Ausschuss und überhaupt keine vorherige formale Befassung des Parlaments, siehe § 5 unseres Gesetzentwurfs. ({2}) Beispiele für übrige Einsätze haben wir von Ihnen nicht gehört. ({3}) Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir hier geheime Einsätze beschließen müssten, sofern es nicht um die schnelle Rettung von Menschenleben gehen sollte, also etwa um Evakuierungen. ({4}) - Nein, es gibt keine Notwendigkeit, etwas, das wir lange vorbereiten können, geheim zu halten. Abgesehen davon glauben Sie doch auch nicht, dass es dann geheim bleibt. Wenn etwas geheim zu halten ist, dann haben wir im Übrigen die Möglichkeit, im geheim tagenden Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschuss unsere Fragen beantwortet zu bekommen und die Erörterungen anzustellen, die Sie möglicherweise im Auge haben. ({5}) Ich erkenne nicht, dass wir dafür ein gesondertes Gremium brauchen. ({6}) Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Geschwindigkeit anmerken. Bisweilen wird vermutet, unsere Praxis des Parlamentsvorbehalts sei zu langwierig und verzögere im Ernstfall Einsätze etwa von NATO Response Forces oder EU Battle Groups. Das ist ein zäher Aberglaube, gegen den sich auch empirisch argumentieren lässt: Wenn eine schnelle Entscheidung erforderlich war, dann waren wir immer sehr schnell. In dringenden Fällen erfolgte die konstitutive Zustimmung des Bundestages noch am Tag des Kabinettsbeschlusses. Ob hingegen die internationalen Abstimmungsprozesse oder die Beratungen im großen NATO-Rat immer so schnell gehen werden, sei dahingestellt. Ich habe da meine Zweifel. Mit unserem Parlamentsbeteiligungsgesetz schaffen wir in einem wichtigen Bereich Klarheit und Rechtssicherheit - für uns, aber auch für die Soldaten. Ich bin sicher: Das Gesetz wird sich in der Praxis bewähren. Schönen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat als Letzter in der Debatte der Abgeordnete Ruprecht Polenz das Wort. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, das die Koalition heute vorlegt, schreibt das bisherige Verfahren fest und macht es vielleicht etwas praktikabler, gibt aber keinerlei Antwort auf Fragen, die aus zukünftig absehbaren Entwicklungen resultieren, und wird deshalb in Kürze überholt sein. Es ist absehbar, dass wir auf die Notwendigkeit schneller und tragfähiger Entscheidungen über die Beteiligung deutscher Kontingente am bündnisgemeinsamen Einsatz reagieren müssen. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zur demokratisch-parlamentarischen Legitimation. Herr Kollege Weisskirchen, wenn wir gemeinsam daran festhalten wollen, dass multilaterales Handeln Grundsatz deutscher Außenpolitik ist ({0}) und dass wir in Zukunft mehr Integration unserer Streitkräfte in Europa brauchen, weil das angesichts knapper Kassen der einzige Weg ist, unsere Fähigkeiten in Europa zu erhöhen, dann müssen wir auch hinsichtlich der Parlamentsbeteiligung über die Folgen nachdenken. Das haben Sie nicht getan. ({1}) Das Europa der EU gibt 60 Prozent des US-Budgets für Verteidigung aus. Wir haben sogar 600 000 Soldaten mehr als die Amerikaner, aber die Fähigkeiten bleiben bekanntermaßen deutlich hinter denen der Amerikaner zurück. ({2}) Angesichts knapper Kassen können wir hier nur einen Ausgleich finden, wenn wir in Europa mehr gemeinsam machen. Der erste Schritt zu mehr Gemeinsamkeit wird der europäische Lufttransport sein. Weitere Schritte müssen folgen. ({3}) Dieses Mehr an vertiefter militärischer Integration ist nur möglich, wenn man sich aufeinander verlassen kann und wenn die Entscheidung, ob man sich beteiligt oder nicht, diese vertiefte militärische Integration nicht infrage stellt. ({4}) Damit geht zwangsläufig ein Verzicht auf bestimmte Handlungsoptionen einher. ({5}) Wenn Sie sich vor dieser Frage drücken, werden Sie der Sache nicht gerecht. Das hat auch etwas mit bestimmten Formen von Souveränitätsverzicht, den man in der Zukunft leisten muss, und damit zu tun, dass das auch Folgen für die Art und Weise der demokratischen Legitimation hat. Auf diese Frage geben Sie in Ihrem Gesetzentwurf keine Antwort. ({6}) - Kollege Weisskirchen, das Kernelement der vertieften Integration ist die NATO Response Force. Das ist das Schlüsselprojekt der Allianz. Deutschland hat dieser Einrichtung in Prag zugestimmt. Ihre Besonderheit liegt darin, dass die NATO Response Force weltweit innerhalb von fünf bis 30 Tagen einsetzbar sein soll ({7}) und ein breites Aufgabenspektrum - von Peacekeeping bis zu Kampf- und Antiterroreinsätzen - abdecken soll. Die NATO Response Force ist keine stehende Streitmacht, sondern sie besteht aus Verbänden, die von den Mitgliedstaaten nach einem Rotationsmodell bereitgestellt werden. Die Einheiten der Bundeswehr - so ist es vorgesehen - sollen in jeden Zyklus entsprechend dem tatsächlichem Gewicht und der beabsichtigten künftigen Rolle Deutschlands in der NATO eingebunden sein. Ab Oktober 2006 soll das ganze Unternehmen voll einsatzfähig sein. Sie drücken sich davor, zu sagen, dass die NATO Response Force zwingend eine Reform unseres politischen Entscheidungsprozesses erfordert, ({8}) weil der NATO-Einsatzbefehl für die NRF-Truppen innerhalb weniger Tage erfolgen kann. Die erfolgreiche Ausführung eines solchen Befehls hängt nämlich von der Bereitschaft aller Nationen ab, die zugesagten Fähigkeiten für solche Einsätze bereitzustellen. ({9}) Wenn die deutschen Kräfte nicht mit hinreichender Verlässlichkeit bereitstehen, dann besteht die Gefahr, dass man, weil die NATO Response Force insgesamt nicht einsetzbar ist, in eine Koalition der Willigen ausweicht, was wir alle nicht wollen. Jetzt müssen Sie sich Folgendes vor Augen halten: Die Entscheidung über die NATO Response Force - sie soll innerhalb von drei bis 50 Tagen einsetzbar sein - ist von großer Eilbedürftigkeit geprägt. Das Zustimmungsverfahren innerhalb der NATO erfolgt - auch wenn sich Kollege Beck das nicht vorstellen kann - innerhalb weniger Tage. Wenn ausgearbeitete Eventualpläne vorliegen, geht das sehr zügig. Natürlich dauert das Verfahren der Parlamentsbeteiligung deutlich länger. Das ist etwa dann der Fall, Kollege Wiefelspütz, wenn es einen Dissens gibt. Aber das mag im Geschäftsordnungsausschuss, der bei den Beratungen die Federführung hatte, nicht ins Gewicht gefallen sein. Sie haben wahrscheinlich gedacht: In den Parlamentsferien kann es keine Krise geben; denn sonst hätten Sie die Antworten, die Sie vorschlagen, so nicht geben können. Die Übertragung der Befehlsbefugnis kann erst nach der Zustimmung des Parlaments erfolgen. Also müssen wir zu anderen Lösungen kommen. Sie sagen - dadurch beruhigen Sie diejenigen, die in Ihren eigenen Reihen diese Fragen gestellt haben -: Es gibt die Regelung „Gefahr im Verzug“. Man muss allerdings wissen, dass die Regelung „Gefahr im Verzug“ auch in Ihrem Gesetzentwurf als Ausnahmeregelung formuliert ist. ({10}) Sie bezieht sich auf die absolute Ausnahme. So definiert sie auch der juristische Terminus. ({11}) Das Problem dabei ist: Wenn Sie die Regelung „Gefahr im Verzug“ als generelle Anwendungsregelung für den Einsatz der NRF vorsehen ({12}) bzw. wenn die NRF ihrem Zweck entsprechend - sie soll schnell eingesetzt werden - eingesetzt wird, dann nutzen Sie systematisch die für Ausnahmefälle bestimmte Regelung „Gefahr im Verzug“. Damit widersprechen Sie den Intentionen des Bundesverfassungsgerichts, das ein solches Vorgehen nur als Ausnahme vorgesehen hat. ({13}) Für Sie ist „Gefahr im Verzug“ sozusagen die Regelermächtigung für NRF-Einsätze. Das ist allerdings verfassungsrechtlich nicht zulässig. ({14}) Ein Zweites, Herr Nachtwei: In keinem Fall abgedeckt durch eine Gefahr-im-Verzug-Regelung ist eine rasche Entscheidung über den Einsatz der NATO Response Force dann, wenn das zwar aus politischen Gründen angezeigt und wünschenswert sein mag, aber aus militärischer Sicht zweifelsfrei keine Gefahr im Verzug vorliegt. Dann können Sie in keinem Fall auf diese Regelung zurückgreifen; gerade bei Krisenprävention oder Diplomatieunterstützung - beides ebenfalls Aufgaben der NATO Response Force - können solche Situationen eintreten. Das Gesetz wird also im Hinblick auf die künftige Integration und auf das Kernelement künftiger NATOStrategien den Anforderungen erkennbar nicht gerecht. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich etwas mehr Zeit gelassen und sich mit uns über diese Fragen intensiver ausgetauscht. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit welcher Position bei Ihnen? So werden wir - das prophezeie ich Ihnen, Herr Kollege Erler - in spätestens zwei Jahren wieder hier sitzen und schauen müssen, wie wir die Fragen, die ich gerade angesprochen habe, dann besser regeln. Vielen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes, Drucksache 15/2742. Es liegen verschiedene persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor, und zwar der Abgeordneten Röspel, Berg, Brase und anderer - insgesamt von 18 Abgeordneten der SPD - sowie der Abgeordneten Rita Streb-Hesse, die wir damit zu Protokoll nehmen.1) Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/4264, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- 1) Anlagen 4 und 5 sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/ CSU und FDP sowie der Abgeordneten Pau und Lötzsch angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen. ({0}) Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Auslandseinsätzemitwirkungsgesetzes, Drucksache 15/1985. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4264 empfiehlt der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der FDP abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/3280 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/2743 ({2}) a)Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) - Drucksache 15/4419 - Berichterstattung: Abgeordneter Eduard Lintner b)Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/4427 Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Gunter Weißgerber Franziska Eichstädt-Bohlig Jürgen Koppelin Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 15/3932, 15/4235 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) - Drucksache 15/4420 Berichterstattung: Abgeordneter Eduard Lintner Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Deutschland ist mit seiner Lage mitten in Europa Transitland Nummer eins und Verkehrsdrehscheibe. Diese geographische Lage verursacht, dass unser Schienenetz zentral für Europa ist. Deshalb benötigen wir dringend die nationale Umsetzung des Richtlinienentwurfes der EU. Im Bereich der Liberalisierung brauchen wir uns dennoch nicht zu verstecken. Obwohl wir bei der Umsetzung hinterherhinken, wurde vonseiten der Kommission festgestellt - es gibt übrigens eine Studie der IBM und der Humboldt-Universität, die das Gleiche aussagt -, dass Deutschland bezogen auf den Netzzugang und die Liberalisierung des Netzes Vorbild für seine Nachbarn ist. Die Novelle ist ein wichtiger Schritt. Es wird uns immer wieder gesagt, dass wir dem Beispiel Englands folgen sollten. Bei unseren politischen Entscheidungen sollten wir den Rat, der uns allen dort gegeben wurde, beherzigen. England macht zurzeit nichts anderes, als die Fehler beim ersten Schritt vor zehn Jahren mit großem Aufwand zu beheben. ({0}) Eines haben wir bei unserem Besuch in England gelernt: Es kommt darauf an, alle Veränderungen im Eisenbahnwesen im Sinne der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Eisenbahnverkehrsunternehmen Schritt für Schritt vorzunehmen und nicht übers Knie zu brechen. ({1}) Die Richtlinien 2001/12/EG bis 2001/14/EG werden mit diesem Gesetz umgesetzt. Gleichzeitig ist die Interoperabilität im europäischen Eisenbahnwesen auf der Tagesordnung. Hier sind wir uns einig. Kontrovers diskutieren wir die Umsetzung des 3. Änderungsgesetzes eisenbahnrechtlicher Vorschriften. Wir haben zwei wichtige Punkte auf den Weg gebracht: Erstens. Die Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten der Wettbewerbsaufsicht werden gestärkt. Es gibt eine neue, unabhängige Trassenagentur, die die Trassenpreise und die Trassenvergabe im Vorgriff, also präventiv, überprüft und somit schon im Vorfeld dazu beiträgt, Diskriminierungen zu verhindern. ({2}) Zweitens. Mit dem Eisenbahn-Bundesamt gibt es eine Aufsichtsbehörde, die im Nachhinein, also nachdem Verträge geschlossen wurden, gegen Diskriminierungstatbestände vorgeht. Das Kartellamt mit seinen Befugnissen bezüglich kartellrechtlicher Dinge ist eine dritte Kontrollinstanz, sodass der Wettbewerb auf der Schiene wesentlich verbessert und diskriminierungsfreier als in der Vergangenheit gestaltet werden kann. An dieser Stelle möchte ich noch einmal deutlich darauf hinweisen: Es ist notwendig und wichtig, dass das vorliegende Gesetz aufwärts kompatibel ist. Das heißt, für die Zukunft darf nichts festgeschrieben werden; eine Weiterentwicklung ist also möglich. Mit diesem Gesetz haben wir die Tagesordnung bezogen auf die Bahnreform ein weiteres Stück abgearbeitet. ({3}) Mit Ihren heute vorliegenden Anträgen möchten Sie die Struktur verändern. Gestern haben Sie Gutachten auf den Weg gebracht, in denen die unterschiedlichen Möglichkeiten überprüft werden. Dabei geht es auch um die Möglichkeit der Bildung einer Finanzholding, die Sie bereits heute nach dem AEG gerne hätten, sowie um die Überprüfung einer Trennung von Netz und Betrieb. Daneben sollen unterschiedliche Lösungen - ich nenne das Eigentums- und das Vertragsmodell - erarbeitet werden. ({4}) Ich muss mich fragen, ob es Ihnen wirklich darum geht, diese Möglichkeiten ernsthaft und seriös abzuklären, oder ob es Ihnen vielleicht um etwas ganz anderes geht. ({5}) Ein weiterer wichtiger Punkt, der im Allgemeinen Eisenbahngesetz enthalten ist, war die Vorschrift, verschiedene Verkehrssparten von der Infrastruktur funktional zu trennen. Zusammen mit der Kommission haben wir im Bundestag darüber diskutiert. Hier ist deutlich geworden, dass die Gründung einer Holding, die wir vorgesehen haben, mit einer eigenständigen Bilanz- und Rechnungslegung, der Trennung der Aufsichtsratsmandate und der Vorgabe einer eigenständigen Entscheidung über das Netz eine gute Lösung ist. Insofern ist dieses Gesetz EU-konform. ({6}) - Das wird die Zukunft zeigen, Herr Friedrich. ({7}) Ich möchte noch auf weitere Punkte eingehen, die wir als Koalitionsfraktionen zusätzlich in dieses Gesetz aufgenommen haben. Es war uns sehr wichtig, die Weichen gegen eine Schrumpfbahn zu stellen. Dabei geht es uns um den Erhalt der Infrastruktur. Das heißt, Kapazitätsabbau und Stilllegungen werden verhindert. Bei Übernahmen wird sich die Preisfindung nach dem Ertragswert richten. Es wird aber auch die Möglichkeit der Pacht für diejenigen erleichtert werden, die ein Interesse an der Nutzung der Netze haben. Dabei ist bei Pachtlösungen zu beachten, dass in Zukunft keine Rückzahlung der getätigten Investitionsmittel notwendig ist, solange der entsprechende Teil der Strecke in Betrieb ist. Das war für alle Mitwettbewerber ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben ebenfalls dafür gesorgt, dass die Stellung der Kommunen verbessert wird. Da viele wie auch ich aus der Kommunalpolitik kommen, kennen wir alle die Situation, dass oft mitten in den Städten nicht mehr genutzte Grundstücke der Bahn brachliegen und langsam verfallen. An sich wäre es notwendig, diese anderweitig zu nutzen; aber die Verhandlungen mit der DB AG und ihren Immobilienabteilungen waren bisher zäh und schwierig. Es wird jedoch in Zukunft möglich sein, dass Städte und Gemeinden ein eigenes Antragsrecht erhalten, um zu gewährleisten, dass diese Flächen umgewidmet und einer anderen Nutzung zugeführt werden, wenn sie für die Eisenbahn nicht mehr notwendig sind. Diese Regelung haben wir im Sinne der Städte und Gemeinden auf den Weg gebracht. ({8}) Bei unseren Überlegungen haben wir auch immer die Kunden im Blick gehabt. Die Kunden haben Anspruch auf Informationen über alle Unternehmen, die die Schiene nutzen. Diese Informationen sollen nicht nur auf Anzeigetafeln in Bahnhöfen oder im Kursbuch zugänglich sein, sondern überall muss eine übergreifende Information möglich sein. Dies haben wir mit diesem Gesetz ebenfalls auf den Weg gebracht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damit haben wir einerseits die notwendigen und wichtigen Voraussetzungen zur Umsetzung der europäischen Richtlinie geschaffen und andererseits für die Gemeinden und die Kunden Verbesserungen erreicht. Ich möchte gerade Sie von der Opposition auffordern: Schauen Sie sich diesen Gesetzentwurf noch einmal genau an und stimmen Sie zu! ({0}) Gehen Sie Schritt für Schritt mit uns diesen richtigen Weg! ({1}) Ich möchte Sie einladen, unseren Gesetzentwurf zu unterstützen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich lade Sie gleichzeitig ein, im gemeinsamen Interesse für mehr Wettbewerb auf der Schiene und damit für mehr Nutzer zu sorgen. Daher fordere ich Sie im Sinne von mehr Verkehr auf der Schiene auf, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Lintner.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Rehbock-Zureich, Sie haben hier eigentlich nur die Vorstellung wiederholt, die Sie schon im Ausschuss immer wieder geboten haben. ({0}) Sie versuchen, Ihren Entwurf durch eine nebulöse und für Sie günstige Interpretation der europarechtlichen Vorschriften zu retten. Nehmen Sie mir es nicht übel: Ihrer Hausaufgabe, die Ihnen - und uns allen - das Paket eisenbahnrechtlicher Vorschriften der EU aufgibt, nämlich mit dieser Gesetzesnovellierung für einen diskriminierungsfreien Netzzugang für konkurrierende Betreiber von Schienenverkehr in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu sorgen, werden Sie nicht gerecht. ({1}) Dabei - das entspricht auch der Logik der vor zehn Jahren gemeinsam auf den Weg gebrachten Bahnreform - müssten Sie eigentlich, um den Erfolg dieser Bahnreform nicht zu gefährden, ein Interesse daran haEduard Lintner ben, für möglichst viel Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bei der Trassenzugangsentscheidung zu sorgen. Anliegen der Bahnreform damals war und ist es auch nach wie vor, für Zuwachs im Personen- und Güterverkehr zu sorgen. Wir waren uns immer einig, dass dieser Zuwachs nur über einen fairen Wettbewerb realisiert werden kann, der allein in der Lage ist, die Betreiber zu einem qualitativ verbesserten Angebot auf der Schiene und einer marktgerechten Gestaltung zu zwingen. Das britische Beispiel, das Sie so abgetan haben, ist hier sehr informativ. Dort hat man zugegebenermaßen zunächst eine falsche Konstruktion gewählt. Aber jetzt, nach der Korrektur dieser Fehlkonstruktion, ist nicht wegzureden, Frau Rehbock-Zureich - das haben Sie wohlweislich nicht erwähnt -, dass sich in Großbritannien ein Zuwachs im Personenverkehr um über 30 Prozent ({2}) und beim Güterverkehr von 45 Prozent eingestellt hat. Das sind traumhafte Ergebnisse, ({3}) besonders wenn man diese Zahlen mit unseren mickrigen Ergebnissen vergleicht. Wir haben also wirklich allen Grund, uns dieses Beispiel genauer anzuschauen. ({4}) Im Übrigen haben Sie sich, Frau Kollegin RehbockZureich, die Entscheidungsfindung auch mit Blick auf die ganze Prozedur sehr einfach gemacht. Sie wissen so gut wie ich, dass sehr viele Gutachter, und zwar hoch kompetente, wissenschaftlich ausgewiesene Gutachter, innerhalb und außerhalb des Parlaments gehört worden sind und diese im Ergebnis - das habe ich selten erlebt fast alle - jedenfalls soweit sie echt unabhängig waren die Auffassung vertreten haben, dass Ihr Gesetzentwurf nicht der Vorgabe der europarechtlichen Vorschriften entspricht. ({5}) Wenn ich mich an den Wissenschaftlern orientiere, die höchste Autorität genießen, kann ich nur sagen: Nach deren Überzeugung - und dem können wir eigentlich nur zustimmen - gibt es für die Umsetzung eigentlich nur zwei Wege, die ohne Einschränkung als europarechtskonform bezeichnet werden können, nämlich entweder die konsequente Trennung von Netz und Betrieb - das heißt im konkreten deutschen Fall die Ausgliederung der Netz AG aus dem bestehenden DB-Verbund; ({6}) diesen Weg wollen aber weder Sie noch die DB gehen oder die Errichtung einer rechtlich, organisatorisch und personell eigenständigen Trassenagentur, die über den Zugang zum Netz und die dafür zu erhebenden Entgelte entscheidet. Aber nicht einmal darauf wollen Sie sich einlassen. Sie haben uns nun eine halbherzige, kosmetische und nebulöse Regelung vorgesetzt, mit der Sie meinen sich aus den Vorgaben des Europarechts stehlen zu können. Sie werden aber mit Sicherheit dann eingeholt werden, wenn die ganze Materie beim Europäischen Gerichtshof landet und der Ihnen dann genau das sagen wird, was wir Ihnen heute schon voraussagen. ({7}) Im Übrigen hoffen wir immer noch darauf, dass Sie sich dieser Gefahr richtig bewusst werden - ich habe nämlich den Eindruck, dass Sie das Ganze gar nicht richtig und ernsthaft zur Kenntnis nehmen - und dass Sie sich vielleicht doch noch dazu bereit finden, bei den Beratungen im Bundesrat und bei dem sich dann möglicherweise anschließenden Vermittlungsverfahren zu einer europarechtskonformen Regelung zu kommen. Insoweit appelliere ich sogar an Sie. Möglicherweise kommen Sie doch noch zur Vernunft. Es hat angesichts dieser Gesamtbewertung wenig Sinn, sich mit den Details Ihres Gesetzentwurfes zu befassen. Dennoch will ich einige Bemerkungen dazu machen. Die Bundesregierung tut so, als könne die Trassenagentur, die beim Eisenbahnbundesamt eingerichtet werden soll, tatsächlich unabhängig und unbeeinflusst von den Interessen der DB AG entscheiden. Wenn Sie die heutige Presse lesen, erfahren Sie, dass Herr Mehdorn ein weiteres Kuckucksei in das Nest Ihrer Bahnpolitik gelegt hat. ({8}) Er will sogar noch hinter die Vorgaben der Bahnreform zurück und will die Netz AG mit der Holding sozusagen verschmelzen. Der zuständige Vorstand der Holding wäre dann zugleich der Vorstandsvorsitzende der Netz AG. Eine engere personelle Verzahnung kann es eigentlich nicht geben. Wie soll es diesem Herrn, der Vorstand der Holding und Vorstandsvorsitzender der Netz AG ist und unter dessen Ägide die Trassenagentur zu entscheiden hat, möglich sein, beide Funktionen unbeeinflusst voneinander auszuüben? Die eine Hand bekommt doch mit, was die andere tut bzw. tun soll. ({9}) Die Umorganisation, die sich da andeutet, wird uns noch sehr beschäftigen müssen. Sie kann nämlich nicht den Vorgaben der Bahnreform entsprechen. ({10}) Auch Herr Mehdorn hat sich an diese Vorgaben zu halten. ({11}) Ich will auch noch auf Folgendes hinweisen: Sie waren ja noch nicht einmal in der Lage - obwohl Sie uns über lange Zeit im Ausschuss in dieser Frage zugestimmt haben -, diese so genannten Doppelmandate zu verbieten. Selbst das findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nicht. Daran wird ja schon deutlich, dass Sie gar nicht den Willen haben, die Trassenagentur so auszugestalten, dass sie sich gegenüber der Holding durchsetzen und unabhängig entscheiden kann. ({12}) Ein weiteres Beispiel. Wir waren uns doch ziemlich einig darüber, die Anregung der Wissenschaftler aufzugreifen und die Monopolkommission damit zu beauftragen, alle zwei Jahre ein Gutachten über das Ergebnis der Arbeit der Trassenagentur zu erstellen. ({13}) Auch das haben Sie nicht aufgegriffen, einfach weil Sie Angst davor haben, es könnte Ihnen alle zwei Jahre bestätigt werden, dass Ihre Konstruktion nichts taugt und den Vorgaben des Europarechts nicht genügt. Oder nehmen Sie den Netzbeirat. Die Anregung, einen solchen Beirat einzurichten, haben Sie zwar aufgegriffen; aber er hat gerade einmal die Funktion einer Schülermitverwaltung. ({14}) Er kann zwar der Hausleitung Vorschläge unterbreiten. Ob sie sich dann aber überhaupt damit befassen muss, ist nicht geregelt. Diesen Netzbeirat könnte man also genauso gut weglassen. Ein ernsthafter Manager wird sich der Mitarbeit in diesem Beirat vielleicht sogar verweigern. Was mir aber sehr Leid tut, ist die Tatsache, dass Sie sich, indem Sie sich einer unabhängigen Trassenagentur verweigern, der Chance begeben, dass die DB AG in den nächsten Jahren nachweist, dass diese Konstruktion sehr wohl tragfähig ist und auf diese Art und Weise die Zielsetzung der Vorgaben des Europarechts verwirklicht werden kann. Es könnte sich nämlich herausstellen, dass Netzverwaltung und Entgeltgestaltung tatsächlich unabhängig vom Betrieb sein können. Dann hätten wir die leidige Diskussion darüber, ob es eine Trennung von Netz und Betrieb oder einen Verbund von beiden geben soll, vom Hals und die DB hätte die Chance, vor ihrem Börsengang darauf hinzuweisen, dass die jahrelange Erfahrung mit einer unabhängigen Trassenagentur zeigt, dass man sehr wohl Netz und Betrieb unter einem Dach lassen kann. Aber diese Chance haben Sie der DB jetzt verbaut. Ich fürchte, die Spitze der DB hat leider diese Möglichkeit gar nicht erkannt, sonst hätte sie womöglich sogar auf Sie eingewirkt, doch lieber den Weg zu gehen, den die Opposition vorschlägt. Im Ausschuss haben Sie - Frau Rehbock-Zureich, das haben Sie heute gar nicht gesagt - darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Liberalisierung innerhalb Europas an der Spitze sei. Es ist gar nicht zu bestreiten, dass wir weiter als Frankreich oder Italien sind. Das ist aber hier nicht das Thema. Das Thema ist, was die EU-Kommission mit ihrer Richtlinie von uns erwartet. ({15}) Das ist der Maßstab, und nicht, ob sich andere Länder in der Europäischen Union möglicherweise schlechter verhalten als wir. ({16}) Der Maßstab ist nicht Frankreich, sondern die EU-Richtlinie. Der werden Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht gerecht. Ich muss Ihnen leider sagen: Wenn es nach einer entsprechenden Entscheidung des EuGH zu einem Desaster kommt, weil das ganze Gebäude in sich zusammenfällt, dann haben Sie das zu verantworten. Vielen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte heute entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie. Während wir hier am heutigen Tag über unabhängigen Wettbewerb auf der Schiene und über Maßnahmen zur Unabhängigstellung insbesondere der Netzentscheidungen von der Holding debattieren und beschließen, ({0}) sind gleichzeitig die Zeitungen voll von Überlegungen und sogar Plänen im Bahntower, genau das Gegenteil zu machen. ({1}) Der Vorstand der Holding, also des Konzerns, soll direkt in die einzelnen Unteraktiengesellschaften, sofern sie überhaupt noch Bestand haben, hineinregieren. Albert Schmidt ({2}) ({3}) Das wäre - ich will das hier so deutlich sagen - nicht nur gegen das Deutsche-Bahn-Gründungsgesetz, nach dem die Ausgründung von mindestens vier Aktiengesellschaften vorgeschrieben ist, sondern es wäre faktisch auch das Gegenteil des Prinzips der Entherrschung, das die Europäische Union in der Richtlinie vorgeschrieben hat. ({4}) Ich will Ihnen dokumentieren, dass ich mich nicht auf Zeitungsartikel beziehe. In dem Mitarbeiterbrief, den der Vorstandsvorsitzende in diesen Tagen an die Kolleginnen und Kollegen geschrieben hat, wird wörtlich formuliert: … wollen wir mit Personenverkehr, Transport und Logistik sowie mit Infrastruktur drei Bereiche - ich sage: nur noch drei Bereiche bilden, die künftig direkt von den zuständigen Kollegen aus dem Holdingvorstand heraus gesteuert werden. So steht es in einem Schreiben - nicht in der Zeitung an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Über diese neue Konstruktion ist jedenfalls mit den Verkehrspolitikern des Deutschen Bundestages bis heute nicht mit einer einzigen Silbe diskutiert bzw. beraten worden. Deshalb kann ich nur sagen: Wer glaubt, diesen Weg ohne uns gehen zu können, der täuscht sich genauso wie bei einem überstürzten Börsengang. ({5}) Zur Sache selbst, die uns heute beschäftigt: Das Gesetz, das heute zur Abstimmung vorliegt, ist ein gutes Gesetz. Ich will Ihnen sagen, warum. Mit diesen Beschlüssen, die wir heute fassen, werden die Signale auf Grün gestellt. Das ist im Prinzip immer gut. ({6}) In diesem Fall ist es besonders gut, weil Grün hier heißt: mehr und fairer Wettbewerb auf Deutschlands Schienennetz. ({7}) Mit diesen neuen Spielregeln, die wir heute beschließen, beginnt ein neues Zeitalter des Wettbewerbs auf der Schiene, weil nämlich jetzt eine stabile Rechtsgrundlage da ist, die für jedermann und für jedes Verkehrsunternehmen einklagbar ist. Das ist der eigentliche Fortschritt des Gesetzes, das wir heute vorlegen. ({8}) Wir machen das, nicht, weil wir Wettbewerbsfetischisten sind oder weil wir glauben, dass mehr Wettbewerb alles richtet. Nein, wir machen das, weil das im Interesse der Fahrgäste und Kunden ist; denn mehr Wettbewerb bedeutet letztlich mehr Qualität und günstigere Preise für die Fahrgäste - die sehnen sich danach -, aber ebenso für die Güterverkehrskunden. Auch aus diesem Grund haben wir den Gesetzentwurf eingebracht; es geht nicht nur darum, die EU-Vorgaben umzusetzen. Um einen diskriminierungsfreien Zugang zum Schienennetz zu garantieren, haben wir als Kernpunkt des Gesetzentwurfs - das ist schon ausgeführt worden - eine Trassenagentur vorgesehen, die in Zukunft im Sinne eines neutralen Schiedsrichters, einer Wettbewerbsaufsicht außerhalb - das ist eben falsch dargestellt worden; es war ein Missverständnis - der Netz AG die Vergabe von Bahntrassen an Bahnverkehrsunternehmen und die Preise überwacht. Die Trassenagentur wird präventiv tätig sein und unter anderem über Zutritts- und Akteneinsichtsrechte gegenüber der DB Netz AG verfügen. Das ist ein wichtiger und richtiger Schritt, der eine neue Rechtsqualität im deutschen Schienennetz bedeutet. Der Netzbeirat ist keine Schülermitverwaltung. Ich widerspreche Ihnen in diesem Punkt, Herr Kollege, auch wenn ich die Polemik, die sich dahinter verbirgt, durchaus verstehe. Die Netzkunden, nämlich die Eisenbahnverkehrsunternehmen, haben erstmals eine Plattform, um ihre Bedürfnisse und Beschwerden vorzubringen, ({9}) die - das schreibt der Gesetzentwurf vor - auch im Netzvorstand zum Gegenstand der Beratungen gemacht werden müssen. Entscheidend ist vor allem, dass die Trassenagentur als Aufsichtsbehörde mit am Tisch sitzt. Dieser Schiedsrichter wird jede Beschwerde sehr genau prüfen. Er erfährt sozusagen in Echtzeit davon. Das ist wichtig und notwendig, um einen fairen Wettbewerb zu garantieren. ({10}) Die verbesserten Regelungen für die Stilllegung sind bereits angesprochen worden. Künftig sind Rückbaumaßnahmen - auch kleinere - genehmigungspflichtig, damit nicht einfach Kapazitäten von einem Monopolisten vernichtet werden, die somit nicht mehr von anderen genutzt werden können. Der Ertragswert als Richtschnur künftiger Preisberechnungen bei der Übergabe von Trassen, sei es aufgrund von Pacht oder Kauf, wurde bereits angesprochen. Auch das stellt einen Fortschritt dar. Das gilt auch für die verbesserte Stellung der Gemeinden, die in Zukunft antragsberechtigt sind, um bei der Freistellung von Grundstücken von Bahnbetriebszwecken keine langwierigen Verfahren durchlaufen zu müssen. Das alles sind Verbesserungen. Für die Fahrgäste ist es interessant und wichtig, dass Fahrplaninformationen künftig unternehmensübergreifend veröffentlicht werden müssen. Die Fahrgäste Albert Schmidt ({11}) erhalten damit einen Anspruch auf uneingeschränkte Informationen über alle Anschlusszüge, auch die der Konkurrenz. Der Connex-Streit gehört damit der Vergangenheit an. Das ist eine klare Ansage, die heute für die Fahrgäste des Schienensystems insgesamt von Bedeutung ist. Die Trassenpreise - auch das war uns wichtig - sind künftig nach oben gedeckelt. Es soll keine überhöhten Monopolgewinne geben, sondern maximal die Deckung der Vollkosten plus eine angemessene Rendite. Auch müssen - gerade für Newcomer - Züge zu Grenzkosten ermöglicht werden. Abschließend bleibt die Frage zu klären - zumindest für meine Fraktion ist sie noch offen -, ob all das von mir dargestellte Positive ausreicht, um eine vollständige Übereinstimmung mit dem europäischen Wettbewerbsund Eisenbahnrecht zu erzielen, und ob nicht mehr Kompetenzen für die Trassenagentur, insbesondere für eine Trassenagentur, die in der Frage der Trassenvergabe oder Trassenpreise nicht nur eine Überwachungsfunktion wahrnimmt, sondern auch selbst entscheidet, notwendig sind, um die europäischen Bestimmungen rechtskonform umzusetzen. Diese Frage wird in den nächsten Wochen und Monaten zu klären sein, sei es im Bundesrat, sei es durch ein anzustrengendes Vermittlungsverfahren oder auch durch die Kommission selbst. Ich teile die Auffassung, die der Kollege Lintner vertreten hat: Je stärker die Trassenagentur ausgestaltet wird, ({12}) desto glaubhafter können wir die These untermauern, dass es trotz einer integrierten Konzernstruktur - die wir vorläufig behalten; sie steht nicht zur Diskussion - faire Spielregeln gibt, die Diskriminierungen nicht nur verhindern, sondern Diskriminierungspotenziale qua Konstruktion strukturell sogar ausschließen. Diese Chance ist noch nicht, zumindest nicht vollständig, umgesetzt worden. Trotzdem ist der Gesetzentwurf gut. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung. Er ist, wie schon gesagt wurde, aufwärts kompatibel. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Eisenbahngesetzeswerk, das der Bundesrat hoffentlich stoppen wird, würde Deutschland in der Umsetzung der EU-Richtlinien einen bedenklichen Sonderweg gehen. ({0}) Das richtet sich besonders gegen die SPD, liebe Frau Kollegin Rehbock-Zureich. Sie wollen nämlich weder die große Trennung von Netz und Betrieb, wie sie von der EU vorgesehen ist, noch die kleine Regelung, also wenigstens die Auslagerung der wesentlichen diskriminierungsrelevanten Funktionen, nämlich der Trassenvergabe und der Trassenpreisfestsetzung. Sie wollen diese Funktionen im Wesentlichen bei der Deutschen Bahn belassen und glauben nach wie vor an das Märchen, dass man mit so genannten Chinese Walls die Unabhängigkeit absichern kann. Sie gehen diesen Weg, obwohl Ihnen alle unabhängigen Sachverständigen gezeigt haben, dass das so nicht funktionieren wird. ({1}) Es stellt sich die Frage: Warum gehen Sie diesen Sonderweg? Denn der Verstoß gegen das, was im Rahmen des europäischen Rechts mit der kleinen Trennung erreicht werden soll, ist doch offenkundig. Es ist ebenfalls offenkundig, dass seit Jahren die Bahnreform in Deutschland zurückgedreht wird, ({2}) indem entgegen der ganz klaren Stufenregelung der Bahnreform die Macht bei der Holding konzentriert wird und die operativen Führungsgesellschaften Schritt für Schritt entmachtet werden. Schon heute existieren die eigenständigen Aktiengesellschaften eigentlich nur noch formal. Die Bahnreform steht bei Ihnen nur noch im Gesetz. Die Realität sieht völlig anders aus. Für uns stellt sich die Frage: Warum lassen Sie das zu? Die Antwort ist relativ einfach: Sie haben nicht die Kraft und auch nicht den Willen, den Bahnchef in die Schranken zu weisen, der sich aus unserer Sicht um die Ziele und die Strategie der Bahnreform nicht im Geringsten schert. Sie haben die Taskforce zur Zukunft der Schiene schon vor drei Jahren zu einer Farce gemacht, indem Sie den Bahnchef dort aufgenommen haben. Ich habe Ihnen damals gesagt, dass Sie dann auch die Frösche beauftragen könnten, den Sumpf trocken zu legen, in dem sie leben. ({3}) Aber Sie glauben bis heute an das Märchen von der Sanierung der Bahn, obwohl wir Ihnen seit längerer Zeit das Gegenteil beweisen. Hätte es eines größeren Beweises bedurft als die jetzige Revision der eigenen Zahlen durch den Bahnvorstand und die Verlängerung bis 2009? Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, während Sie hier ein Gesetz beschließen, von dem Sie glauben - das verkünden Sie jedenfalls -, es diene der Unabhängigkeit des Netzes und der Sicherung der Diskriminierungsfreiheit, führt der Bahnchef alle Bemühungen ad absurdum, indem er die Konzernstrukturen nochmals umbaut, um die Holding weiter zu stärken. Während Sie noch immer glauben, dass Chinese Walls funktionieren, schreibt der Bahnvorstand - ich zitiere aus dem Mitarbeiterbrief vom 2. Dezember 2004 -: … wollen wir mit Personenverkehr, Transport und Logistik sowie mit Infrastruktur drei Bereiche bilden, die künftig direkt von den zuständigen Kollegen aus dem Holdingvorstand heraus gesteuert werden. Horst Friedrich ({4}) „Aus dem Holdingvorstand heraus“, das ist das Entscheidende; darum geht es. Aber Sie glauben - wie Kindergartenkinder an den Weihnachtsmann - noch immer, dass im Bereich Infrastruktur zukünftig die Interessen der Wettbewerber gleichberechtigt neben denen der Konzerntöchter berücksichtigt werden. Das ist ungefähr so, als ob man glaubte, dass Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen. Das kann doch wohl nicht die Realität sein. ({5}) Sie wissen, dass es - Gott sei Dank - auch innerhalb der SPD andere Überlegungen gibt. Der Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Horstmann, hat im September dieses Jahres einen mehrseitigen Brief an den Bahnvorstand geschrieben. Unter anderem steht dort der völlig richtige Satz: Die Entstehungsgeschichte und der Wortlaut des Bahngründungsgesetzes zeigen aber, dass der DB AG in ihrer heutigen Erscheinung keineswegs ein monolithischer Endstatus zugebilligt wurde. Das ist eigentlich die Ausgangsbasis der Diskussion, die Sie aber nach wie vor - aus meiner Sicht: völlig zu Unrecht - ablehnen. Das ist Ihre Entscheidungssituation.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ferlemann?

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte, Herr Ferlemann.

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Friedrich, Sie beklagen meiner Ansicht nach vollkommen zu Recht, dass die Konzentration der Macht bei der Holding und die Entmachtung der einzelnen Teilgesellschaften im Grunde genommen den Gesetzen zur Bahnreform widersprechen. Teilen Sie meine Auffassung, dass dies nicht nur formal ein Fehler ist, sondern auch in der Sache völlig fehlgeht?

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ferlemann, Sie haben völlig Recht. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Vielen Dank für Ihre Frage. ({0}) Ich möchte die Auswirkungen an einem konkreten Beispiel zeigen. Das beste Beispiel ist eigentlich die Bahnpreisreform, „die Revolution im Fernverkehr“, wie es so schön in den Büchern der Bahn heißt. Diese Reform sollte den großen Durchbruch bringen, gewissermaßen das Emporziehen der Bilanz in den Bereich der schwarzen Zahlen. ({1}) Das neue Preissystem hat das Gegenteil von dem erreicht - Herr Kollege Schmidt, das werden Sie nicht leugnen -, ({2}) was es eigentlich erreichen sollte. Das Schlimme daran ist: Die Fachleute im Fernverkehr, die sich dagegen gewehrt haben, wurden versetzt, in den Ruhestand geschickt oder mundtot gemacht. Die Beschlüsse wurden in der Konzernspitze gefasst, wo man von den eigentlichen Bedürfnissen weit entfernt ist. Genau so wird es weitergehen. Wer sich weigert, die Praxisnähe der einzelnen Gesellschaften zu akzeptieren, der muss damit rechnen, dass es Fehlentscheidungen gibt. Ich möchte noch einmal aus dem Brief von Herrn Horstmann zitieren: So stoßen die auf Landesebene für den SPNV zuständigen Aufgabenträger schon heute auf DBUnternehmen, die - je nach deren Finanzinteresse im Einzelfall - entweder als unabhängige Konzerntöchter oder als DB-Konzerninteressen wahrende Unternehmen auftreten. Dieses chamäleonhafte Verhalten gefährdet zurzeit ein nordrhein-westfälisches Projekt der Fußballweltmeisterschaft; ich benenne es hier nur als ein Beispiel, um die Nachteile des Konstrukts eines privatisierten DB-Konzerns mit gegenwärtigem Zuschnitt zu verdeutlichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wenn Sie uns schon nicht glauben, dann glauben Sie vielleicht Ihren eigenen Verkehrsministern. Sie wissen hoffentlich, wovon sie reden. Dieses Gesetz wird mit großer Wahrscheinlichkeit vom Bundesrat abgelehnt werden und wir sehen uns im Vermittlungsausschuss wieder. Vielleicht zeigen Sie dann etwas mehr Vernunft, was die Umsetzung der EU-Regelungen angeht. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung spricht nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ein kurzer historischer Rückblick, was die Eisenbahnpakete angeht, lohnt sich. ({0}) Begonnen hat es mit dem Untätigkeitsurteil des EuGH 1985. Das zeigt auch, dass die Staaten kein besonderes Interesse daran hatten, diesen Bereich zu regeln. Daraus folgte dann die Richtlinie 91/440/EWG mit den vier Elementen: Unabhängigkeit der Eisenbahn vom Staat, rechnerische Trennung Fahrweg/Betrieb, Netzzugangsrechte, Entschuldung. Deutschland ist im Zuge der Bahnreform hinsichtlich der Liberalisierung des öffentlichen Eisenbahnverkehrsmarktes deutlich über die Forderungen dieser Richtlinie hinausgegangen. Im Zuge der zweiten AEG-Novelle, die am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist, werden die Kompetenzen und das Instrumentarium des Eisenbahn-Bundesamtes deutlich erweitert. Mit der dritten und vierten Novelle befinden wir uns sozusagen auf der Mittelstrecke. Es ist noch lange nichts vollendet. Wir befinden uns gewissermaßen mittendrin. Die europäische Entwicklung ist von folgenden Eckpunkten geprägt: einerseits Liberalisierung einschließlich Regulierung, andererseits Harmonisierung und Interoperabilität. Beide Punkte bedingen einander. Eine Angleichung der technischen Anforderungen und die Regelung der Verantwortlichkeiten der Beteiligten im Eisenbahnsektor sind eine unabdingbare Voraussetzung für die Marktöffnung. Die angestrebte Interoperabilität ist nur dann von Nutzen, wenn die Eisenbahnverkehrsmärkte parallel geöffnet werden. Eine Liberalisierung des Eisenbahnverkehrsmarktes erfordert eine starke, sektorenspezifische Aufsicht über den Netzzugang, wodurch Zugangshindernisse aller Art erkannt und effektiv beseitigt werden können. Das ist durch die Trassenagentur beim - nicht im EBA hervorragend gewährleistet.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Mertens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lintner?

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Aus ganz persönlichen Zeitgründen möchte ich keine Zwischenfrage zulassen. ({0}) Herr Lintner, es tut mir Leid. Ein anderes Mal beantworte ich Ihre Frage gerne. Die beiden Gesetzentwürfe sind schon gewürdigt und auch kritisiert worden. Ich muss das hier nicht wiederholen. Wir haben lange Zeit darüber diskutiert und gestritten. Es ist sicherlich das gute Recht derjenigen, die eine andere Bahn oder andere Bahnen wollen, das an dieser Stelle einzubringen. Ich sage deutlich: Es war vor allen Dingen eine nationale Schlacht, die hier geschlagen wurde. Ich hatte auch das Gefühl, dass der europäische Aspekt hier überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Zeitweise hatte man das Gefühl, man befinde sich in Deutschland sozusagen in einem Wettbewerbsentwicklungsland, einmal abgesehen davon, dass niemand über die Niemandsländer in diesem Bereich gesprochen hat. ({1}) Ich glaube, dass ein bisschen Fairness, übrigens auch gegenüber der Bahnreform, nicht hätte schaden können. Ich möchte einfach noch einmal den Versuch unternehmen, das übergeordnete Ziel des Dritten und des Vierten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften und der so genannten Eisenbahnpakete zu würdigen: Die Schiene spielt für die Sicherung der Mobilität der Menschen in Europa nach wie vor eine besondere Rolle. Die Bundesregierung hat sich ausdrücklich zu einer nachhaltig wirksamen Stärkung des Verkehrsträgers Schiene bekannt und führt somit die Bahnreform auch konsequent fort. ({2}) Die zunehmenden Abhängigkeiten und Verflechtungen der Verkehrspolitik werden bei allen anderen Verkehrsträgern automatisch unterstellt; bei der Schiene ist es zugegebenermaßen etwas komplizierter. Aber ich frage mich, warum um alles in der Welt in der Diskussion so getan wird, als handele es sich hierbei um eine Art Modelleisenbahn, die immer nur im Kreis fährt. Für Marktanteile und Zukunftschancen von Verkehrsträgern sind zukünftig die Bedingungen des europäischen Verkehrsmarkts wesentlich wichtiger als nationale Bezugsrahmen. Wir haben gemeinsam das Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010“ begrüßt, vor allem deshalb, weil darin Initiativen zum Straßenverkehr aufgezeigt werden, zum Beispiel die von der Kommission verfolgte Strategie zur Schaffung eines integrierten europäischen Eisenbahnraums. Wir haben in Deutschland mit der Bahnreform den Grundstein für mehr Wettbewerb im Eisenbahnmarkt gelegt. Wir verfügen im europäischen Vergleich über die entsprechenden Erfahrungen. Damit haben wir auch exzellente Voraussetzungen dafür, um auf diesem Gebiet erfolgreich zu sein - mit unserem eigenen Unternehmen, aber auch mit anderen deutschen Unternehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten Monaten eine sehr deutsche Debatte geführt, nämlich darüber, ob das Modell der integrierten Bahn und die Holdingstruktur der DB mit den EU-Vorgaben in Einklang stehen. Wir sagen: Ja. Dieses Modell widerspricht nicht der Forderung nach Öffnung für den Wettbewerb auf der Schiene, weil Wettbewerb nicht zwingend die institutionelle Trennung voraussetzt und der diskriminierungsfreie Zugang zur Infrastruktur auch durch alternative Regulierungslösungen gewährleistet werden kann. Ich sage auch deshalb „eine deutsche Debatte“, weil wir immer die Neigung haben, die Theorie höher zu bewerten als die Praxis. Für das, was heute beim Netzzugang schon täglich praktiziert wird, brauchen wir uns in Europa nun wahrlich nicht zu verstecken. ({3}) Ein Netzbetreiber ist immer ein Monopolist, egal wie er konstruiert ist. Der Lokführer kann eben nicht entscheiden, einmal eine andere Strecke zu fahren oder gerade einmal eine Pause zu machen. ({4}) Der LKW-Fahrer kann darüber entscheiden; der Lokführer kann es nicht. Insofern ist der Netzbetreiber, wie gesagt, egal wem er gehört oder wie er konstruiert ist, immer ein Monopolist. Ein Netzbetreiber wird immer eine Entscheidung darüber treffen müssen, welche Verkehre er bevorzugt. Wenn man sich in Europa umschaut, dann stellt man fest, dass vor allem die Systemverkehre bevorzugt werden. Ich kenne kein Land, das die Systemverkehre letztlich nicht gegenüber den Bedarfsverkehren bevorzugt; denn sonst - das weiß eigentlich jeder, der ein bisschen von der Bahn versteht - kann man einen Fahrplan sozusagen knicken. Übrigens können Reichsbahner ein Lied davon singen, wie so etwas gemacht wird. Die meistgehassten Leute bei der Reichsbahn in den 50er- und vielleicht auch noch in den 60er-Jahren waren, glaube ich, die russischen Dispatcher, die nämlich mit ihren Bedarfsverkehren täglich das Chaos produzieren konnten; kein Fahrplan konnte dann eingehalten werden. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie ganz herzlich bitten, den beiden Gesetzentwürfen zuzustimmen, damit wir die europäischen Vorgaben auch auf dieser Ebene erfüllen. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Enak Ferlemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie ich und viele andere auch vernommen haben, war das wohl Ihre letzte Rede zur Eisenbahnpolitik, Frau Staatssekretärin. So war sie denn auch. Worum geht es in der Eisenbahnpolitik? Eigentlich geht es allen Fraktionen darum, dass wir mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene bringen. Das ist das hehre Ziel, dem wir uns alle stellen wollen. Die Europäische Union regelt das auf europäischer Ebene, indem sie Vorgaben macht. Sie sagt: Mehr Verkehr kommt nur durch mehr Wettbewerb auf den Verkehrsträger Schiene, weil es überall staatliche Monopolstrukturen gibt, die derzeit europaweit eine leistungsfähigere Bahn verhindern. Diesem Anspruch, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, müssen wir durch mehr Wettbewerb gerecht werden. Hierzu gibt es eine Richtlinie, die wir heute mit diesem Dritten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften umsetzen wollen. Irgendeine deutsche Bundesregierung muss diesen Dingen zugestimmt haben, sonst wäre es auf EU-Ebene nicht so weit gekommen. Darum verstehe ich gar nicht, warum Sie dieser Zielvorgabe mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beschließen sollen, nicht nachkommen. Es gehört Risikofreude dazu, wenn man Risiken eingeht. Zugleich gebietet aber die Vernunft, die Risiken auch zu begrenzen. Sie aber machen einen großen Fehler: Sie wollen heute einen Gesetzentwurf beschließen, der den eisenbahnrechtlichen Vorschriften der EU nicht gerecht wird. ({0}) Der Gesetzentwurf, der heute im Deutschen Bundestag beschlossen werden soll, ist nämlich nicht EU-konform. ({1}) Sie haben das Problem, dass Sie zwar dem Wettbewerbsgedanken näher treten wollen, zugleich aber immer im Kopf haben - das betrifft insbesondere die Bundesregierung -, wie Sie dem Quasi-Monopolisten Deutsche Bahn etwas Gutes tun können. Deshalb wollen Sie die Deutsche Bahn möglichst wenig Wettbewerb aussetzen. Diese beiden Ziele widersprechen sich. Deswegen haben Sie bezüglich der Vergabe von Trassen und der Festsetzung von Trassenpreisen eine Lösung gewählt, die nicht EU-konform ist. Im Übrigen - das haben wir auch im Fachausschuss diskutiert - geht es hierbei auch um die Frage, was die Trassenvergabe alles umfasst. Geht es nur um die reinen Schienenwege, also die Gleise, oder gehören dazu auch Einrichtungen wie Bahnhöfe und Verladeanlagen? Dieses ist nicht geklärt. Das hätte man im jetzigen Verfahren machen sollen. Sie werden diese Fragen nicht übergehen können. Sie werden sich relativ schnell wieder stellen. Sie versagen bei der Entherrschung der DB Netz AG, wenn Sie die Vorgaben so umsetzen, wie Sie es wollen. Kollege Schmidt hat meiner Meinung nach heute sehr gut dargestellt, woran das System, das Sie heute gesetzlich verankern wollen, krankt. Sie haben noch nicht einmal eine klare Trennung bei den Aufsichtsräten hinbekommen. Die so genannten Chinese Walls, die Sie aufziehen wollen, halten nicht und werden durch den Bahnvorstand jetzt schon wieder ad absurdum geführt. Wir als Union haben eine andere Lösung vorgeschlagen, die Sie unserem Entschließungsantrag entnehmen können, nämlich eine vollkommen unabhängige Trassenagentur, die sowohl die Preise festsetzt als auch über die Vergabe bestimmt. ({2}) Nur so bekommen Sie auch wirklich echten Wettbewerb auf die Schiene. Sie haben einige Nachbesserungen vorgenommen; das hat die Kollegin Rehbock-Zureich hier schon erwähnt. Dabei handelt es sich zugegebenermaßen um Verbesserungen, aber die eigentliche Kernaufgabe, nämlich eine EU-konforme Trassenagentur zu errichten, haben Sie nicht gelöst. Dieses Ziel haben Sie eindeutig verfehlt. Nicht einmal die Minimallösung für eine Unabhängigkeit, wie sie die EU verlangt, erreichen Sie mit diesem Gesetz. Diese Agentur beim EBA anzusiedeln, ist eine Idee - das soll jetzt kein Vorwurf an das EBA sein -, die überhaupt nicht trägt. Sie hatten keinen Mut zum großen Wurf, warum auch immer. Man kann da nur Vermutungen anstellen. Mutig wäre es gewesen, das jetzige Strukturmodell über Bord zu werfen. Vor diesem Hintergrund finde ich es schon erstaunlich, dass der Kollege Schmidt im Ausschuss wie auch heute hier inhaltlich eine hervorragende Rede gehalten hat, die ich ohne weiteres unterschreiben kann. ({3}) - Das macht er nicht immer, bei vielen Themen nicht, aber hier bin ich mit ihm einer Meinung. Ich verstehe nur nicht, Herr Kollege Schmidt, wieso Sie, wenn Sie denn dieser Auffassung sind, die ich und auch meine Fraktion teilen, einem so fatalen Gesetzentwurf zustimmen können. Das macht keinen Sinn. ({4}) Wenn es so ist, wie Sie sagen - ich teile das -, dann dürfen Sie diesem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen. ({5}) Sie haben sich aber, verehrter Herr Kollege, selber eine hervorragende Brücke gebaut, indem Sie im Fachausschuss die Kollegen der CDU/CSU- und der FDPFraktion gebeten haben, auf die B-Länder einzuwirken, ({6}) ein Vermittlungsverfahren anzustreben, damit das, was Sie für richtig halten und was auch wir für richtig halten, über den Umweg der gut regierten CDU- und CSU-geführten Bundesländer zu einer vernünftigen Regelung führt, ({7}) wodurch dieses verheerend falsche Gesetz dann so korrigiert wird, dass es EU-konform wird. ({8}) Das haben Sie von uns verlangt. Ich sage Ihnen zu: Wir werden alles daransetzen, diesem Wunsch, den Sie indirekt geäußert haben, nachzukommen und ihn zu erfüllen. Wir werden also, wenn wir das Ziel haben, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, um ein Vermittlungsverfahren nicht herumkommen. Wir warten das in aller Ruhe ab. Ich denke, dass wir auf der Grundlage des Entschließungsantrages, den meine Fraktion hier heute eingebracht hat, auch dem Ziel näher kommen werden, ein vernünftiges EU-konformes Gesetz zum Wohle der Bahnpolitik in diesem Lande zu konstruieren. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften auf der Drucksache 15/3280. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4419, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der gerade vereinbarten Fassung zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir stimmen nun über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen - ({0}) - Ich habe hier Unterlagen teilweise doppelt, was, wenn wir auch die Beschlussfassung doppelt herbeiführen, die Gültigkeit sicher nicht beeinträchtigt. Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/4434 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf der vorhin genannten Drucksache 15/4419 empfiehlt der Ausschuss, den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften auf Drucksache 15/2743 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Diese Beschlussempfehlung ist einmütig angenommen. ({1}) Wir stimmen jetzt über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen 15/3932 und 15/4235 ab. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4420, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung gegen die Stimmen der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit angenommen. ({2}) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4420 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen. Hat irgendjemand den Eindruck, dass irgendein zur Beschlussfassung empfohlenes Gesetz oder irgendein Entschließungsantrag nicht zur Abstimmung gestellt worden ist? ({3}) - Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann ist dieser Ta- gesordnungspunkt erledigt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 sowie den Zu- satzpunkt 8 auf: 23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bürokratische Hemmnisse beseitigen - Bessere Rahmenbedingungen für Arbeit in Deutschland - Drucksache 15/4156 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform des Kündigungsschutzgesetzes - Abschaffung von Hemmnissen für die Einstellung neuer Mitarbeiter - Drucksache 15/3724 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Niebel, Daniel Bahr ({7}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen - Drucksache 15/2804 ({8}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({9}) - Drucksache 15/3990 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Kramme ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Sperrfrist bei Abschluss eines Abwicklungsvertrags nach arbeitgeberseitiger betriebsbedingter Kündigung - Drucksache 15/4407 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10}) Rechtsausschuss Die Fraktionen haben sich auf eine Debattenzeit von 30 Minuten verständigt. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das Wort dem Kollegen Michael Fuchs für die CDU/CSUFraktion.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Bundeskanzler hat in seinen Regierungserklärungen immer wieder mit vielen blumigen Worten davon gesprochen, dass Bürokratie abgebaut werden soll und dass unnötiger Bürokratismus in Deutschland verschwinden soll. Nachdem er sechs Jahre an der Regierung ist, fragen wir uns natürlich, was in dieser Zeit passiert ist. ({0}) Passiert ist eigentlich nichts. Mir jedenfalls ist nichts Besonderes aufgefallen. Wenn Sie heute Unternehmen fragen, dann können Sie feststellen, dass so gut wie gar nichts passiert ist. Gestern gab es die erste Lesung eines Gesetzes, in dem Vorschläge aus den Regionen zusammengefasst wurden. Von diesen über 1 000 Vorschlägen aus drei Testregionen wurden neun umgesetzt. Das sind noch nicht einmal 9 Promille. Angesichts dieses Promilleanteils muss man sagen: Das ist wirklich nicht berauschend. ({1}) Heute wird in den Zeitungen berichtet, dass Sie ein neues Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg bringen wollen. Dieses Gesetz kompensiert natürlich den Abbau von dem bisschen Bürokratie, der durch das gestern in erster Lesung beratene Gesetz erbracht werden soll. In Wirklichkeit wollen Sie doch keinen Bürokratieabbau. Sie wollen weiter mehr Staat. Herr Müntefering hat vor zwei Jahren kurz vor Weihnachten gesagt: Dem Staat mehr Geld und den Bürgern weniger. Ihre Kollegin Vogt hat vor kurzem gesagt, dass man sich nicht so stark an den Bürokratieabbau heranwagen wolle; denn wir würden einen starken Staat brauchen. Den Etatismus, den Sie nach wie vor pflegen, sieht man an Ihrer gesamten Gesetzgebung. Ich halte das für ausgesprochen falsch. ({2}) Ich möchte aus einem Brief des BDI an den Wirtschaftsminister, Ihren Gesetzentwurf betreffend, zitieren: Allerdings möchte ich nicht verhehlen, dass wir uns von den von dem BMWA erarbeiteten Maßnahmen mehr versprochen hatten. Das vorliegende Artikelgesetz enthält zwar den einen oder anderen Ansatz zum Bürokratieabbau. Der große Wurf ist aber bedauerlicherweise nicht zu verzeichnen. Dieses Artikelgesetz schafft keine merkliche Reduzierung von Bürokratie. Genau da müssen wir ansetzen. Alle anderen Wirtschaftsverbände, ob ASU oder DIHK, haben sich in gleicher Weise geäußert. Es wurden insgesamt 102 Projekte durchgeführt, von denen nach zwei Jahren gerade einmal 17 abgeschlossen sind. Clement hat angekündigt, dass bis zum Ende des Jahres 40 Prozent abgeschlossen sein sollen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie es schaffen wollen, bis zum Ende des Jahres 23 weitere Projekte abzuschließen. Ich bin zwar ein unverbesserlicher Optimist. Aber ich habe meine Zweifel, ob Ihre Fähigkeiten ausreichen, dieses Ziel zu erreichen. ({3}) Sie haben kein Konzept; Sie haben keine Richtung. Sie wissen nicht genau, was Sie wollen. Im Wesentlichen wollen Sie aber mehr Staat. Wir haben bereits vor langer Zeit einen ersten Antrag zu diesem Thema eingebracht. Wir hatten eine Anhörung dazu. Sämtliche Wirtschaftsverbände haben uns bestätigt, dass unser Antrag genau der richtige Weg war. Ich will Ihnen die Drucksachennummer ins Gedächtnis rufen, damit Sie ihn noch einmal nachlesen können: Das ist die Drucksache 15/1330. In diesem Antrag haben wir grundsätzliche Möglichkeiten benannt, wie die Bürokratie abgebaut werden kann. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch einmal darüber nachdenken würden. Denn das, was Sie jetzt machen, ist alles andere als das, was wir vorgeschlagen haben. In dem neuen Antrag haben wir einige zentrale Punkte aufgegriffen, die unserer Meinung nach sofort geändert werden müssen. Wir sind dafür, das Verbandsklagerecht abzuschaffen bzw. ersatzlos zu streichen. ({4}) Es hat nur zu Verzögerungen geführt. Ich weiß natürlich, dass die Grünen meinen, dass wir das Verbandsklagerecht brauchen. ({5}) Aber, verehrte Frau Kollegin, das hat uns bis jetzt keinen Zentimeter weitergebracht. ({6}) Sie sollten einmal sehen, dass am Frankfurter Flughafen mittlerweile mehr Papier verbraucht worden ist, als die neue Landebahn in Zukunft lang sein wird. Denn es gibt mittlerweile 60 Aktenordner mit 17 500 Textseiten, 790 Pläne und Karten sowie 34 Gutachten. Das ist ein Beitrag zur Beschäftigung der Papierindustrie, aber nicht zu einem Investitionsprojekt, wie wir es in Deutschland brauchen würden. ({7}) Ein Investitionsvolumen von mehr als 3,5 Milliarden Euro liegt brach, weil andauernd mit Verbandsklagen versucht wird, solche Projekte kaputtzumachen. Oder nehmen wir das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich habe letzte Woche an der Haushaltsdebatte teilgenommen und habe mir gedacht: Der Bundeswirtschaftsminister hat ja vollkommen Recht. Er hat gesagt - deswegen bitten wir Sie, unserem Antrag zuzustimmen -, dass er möchte, dass das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ein tolles Wort! - auf ganz Deutschland ausgedehnt wird, und zwar für immer. Was macht Ihre Fraktion? Sie verlängern die Geltungsdauer dieses Gesetzes für die neuen Bundesländer gerade einmal um ein Jahr und sagen obendrein, das sei zum letzten Mal erfolgt. - So kommen wir in diesem Lande nie weiter. ({8}) Wir bitten Sie daher darum, wenigstens hier mitzumachen. Im Arbeitsrecht kann man viele, viele Dinge kritisieren; das sollte man auch. Wir haben allein in DeutschDr. Michael Fuchs land mehr als 160 verschiedene Schwellenwerte. Das kann nicht richtig sein; das kann kein Unternehmer mehr auseinander halten. Denn so viele Schwellenwerte für so unterschiedliche Tatbestände sind einfach Unsinn. Das muss vereinfacht werden. Ich denke, darüber sollten wir alle uns im Klaren sein. ({9}) Eins gehört für mich auch dazu: Gerade in einer Zeit, wo wir um jeden Arbeitsplatz für Azubis kämpfen müssen, sollten wir die Azubis aus der Schwellenwertberechnung generell herausnehmen. Ich halte das für sinnvoll; denn es kann nicht sein, dass Azubis nicht eingestellt werden, weil bei Erreichen des Schwellenwertes ein Unternehmen einen zusätzlichen Betriebsrat stellen müsste. Das darf nicht der Fall sein. Hier geht es darum, dass wir Arbeitsplätze für junge Leute schaffen. Das ist für mich eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Probleme. ({10}) Wenn wir nicht bereit sind, grundsätzlich Dinge zu verändern - dazu gehört für mich auch der zuletzt genannte Punkt -, dann werden wir auf dem Sektor Bürokratieabbau keinen Zentimeter weiterkommen. Lassen Sie uns deswegen bitte gemeinsam noch einmal über das Subsidiaritätsprinzip sprechen! Subsidiarität - wir alle führen das ständig in unseren Sonntagsreden an - bedeutet: Die kleinste Einheit soll es machen. Nur wenn wir bereit sind, dies grundsätzlich anzugehen, werden wir in der Lage sein, die Bürokratie in Deutschland wirklich abzubauen. Ich möchte, dass hier etwas geschieht; denn die deutsche Wirtschaft wird durch die Bürokratie mit 46 Milliarden Euro pro Jahr belastet. Aufgabe dieses Parlamentes ist es, dafür zu sorgen, dass diese Belastungen endlich zurückgeführt werden. Helfen Sie bitte mit! Stimmen Sie unserem Antrag zu! ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Fuchs, ich möchte Ihnen in einem Punkt ganz entschieden widersprechen: ({0}) Sie haben gesagt, wir wollten keinen Bürokratieabbau. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine falsche Behauptung. Sie können sagen, dass wir vielleicht nicht genug machen - das haben Sie ja geäußert - und dass die Schwerpunkte nicht richtig gesetzt sind. Aber von der Zielsetzung lassen wir uns nicht abbringen. Diese Problematik haben wir von Beginn dieser Legislaturperiode an angepackt. Sie haben selber erwähnt, dass wir gestern eine Fülle von gesetzlichen Regelungen beschlossen haben. Darin geht es um die Beschleunigung von Gerichtsverfahren bei Handelssachen, um die nicht mehr bestehende Pflicht zur Erstellung von Abfallbilanzen bei privaten Erzeugern, um Liberalisierungen im Hotel- und Gaststättenrecht, um die Reduzierung von Prüf- und Aufbewahrungspflichten für bestimmte Personengruppen usw. Ich will alle diese Regelungen hier nicht noch einmal aufzählen. Die gestrige Beschlussfassung war ein Modul, eine Etappe in einer Fülle von Maßnahmen und Regelungen, über die wir uns auch hier in diesem Haus in den letzten Wochen und Monaten, ja in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen auseinander setzen. Sie alle haben zum Ziel, Bürokratie abzubauen und mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die Unternehmen und für die handelnden Menschen insgesamt zu schaffen. Ab 1. Dezember dieses Jahres ist eine Verordnung in Kraft getreten, die eine schnellere Eintragung in das Handelsregister ermöglichen soll. Sie wissen selbst, dass das mit zwei Monaten immer relativ lange gedauert hat. In Zukunft wird dieser Zeitraum auf einen Monat verkürzt. 2007 wird dieser Vorgang auf elektronische Verfahren umgestellt. Dadurch soll es nur noch 24 Stunden dauern, bis eine solche Eintragung im Handelsregister erfolgt. Diese wenigen Beispiele zeigen - ich könnte sie x-beliebig fortführen -, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({1}) Allerdings möchte ich hier nicht mehr ständig Dinge wiederholen, die in der Substanz nichts Neues mehr bringen, ({2}) aus meiner Sicht zum Teil bereits erledigt sind ({3}) und die nicht dem Abbau von Bürokratie dienen, sondern in vielen Bereichen eine Verschlechterung der Situation zur Folge hätten. Ich wähle ein Beispiel aus dem Themenbereich Arbeitsrecht - meine Kollegin wird dies nachher sicherlich noch ausführlicher ansprechen -, weil Sie dies angeführt haben. Ihre Position dazu kenne ich: Das vorhandene Arbeitsrecht blockiere die Einstellung von Personen. Vor wenigen Tagen wurde eine umfangreiche Studie des IAB veröffentlicht. Darin hat man meines Wissens zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Kündigungsschutz und Einstellung untersucht. Dazu hat man 50 000 Menschen in den Betrieben befragt und geprüft, ob der bei uns vorhandene Kündigungsschutz eine Einstellungsbremse darstellt. Dabei ist kein Zusammenhang plausibel nachgewiesen worden. Deshalb sollten wir nicht auf jedes Pferd aufspringen, das auf die Galopprennbahn geführt wird; vielmehr sollten wir genau prüfen, welche Vorschrift sinnvoll, richtig und notwendig ist, wie sie verbessert, entschlackt und möglicherweise organisatorisch anders angepackt Walter Hoffmann ({4}) werden kann. Wenn der Abbau von Bürokratie auf diese Weise in Angriff genommen wird, dann haben Sie uns dabei an Ihrer Seite.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben gerade die IAB-Studie zur Wirkung des Kündigungsschutzes auf die Einstellungen angesprochen. In dieser Studie wurde bekanntlich die Veränderung des Einstellungsverhaltens nach der Änderung des Kündigungsschutzgesetzes 1996 untersucht, in deren Rahmen der Schwellenwert von fünf auf zehn Arbeitnehmer angehoben wurde. Ebenso wurden die Auswirkungen der Absenkung des Schwellenwertes von zehn auf fünf Arbeitnehmer nach der Regierungsübernahme von Rot-Grün untersucht. Die Studie ergab, dass aufgrund dessen keine signifikante Änderung festzustellen sei. Ist Ihnen bekannt, dass ein Autor der Studie medienöffentlich auf die Frage, wie es denn bei anderen Schwellenwerten von 50 oder 20 Arbeitnehmern gewesen wäre, geantwortet hat, dass unter diesen Umständen das Einstellungsverhalten deutlich verändert gewesen sein könnte, weil eine derartige Veränderung des Schwellenwertes tatsächlich die Einstellungsbarriere aufgehoben hätte?

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Niebel, es ist richtig, dass der von Ihnen angesprochene Autor die genannte Position vertreten hat - in diesem Zusammenhang stimme ich Ihnen ausdrücklich zu -, aber er hat eine Hypothese aufgestellt, die in dem konkreten Fall nicht nachgewiesen wurde. ({0}) Vielleicht verbindet er damit auch eine Hoffnung. Von daher ist das auch keine seriöse Aussage, sondern eher Wunschdenken eines Autors, ({1}) der hier einen Zusammenhang konstruiert, der zunächst einmal empirisch nachgewiesen werden müsste. Herr Fuchs, ich will noch einmal auf zwei Punkte eingehen, die Sie hier genannt haben. Das Verbandsklagerecht ist ein schwieriges Thema, bei dem ich nichts von populistischen Aktivitäten halte. Mir ist sehr wohl bekannt, dass die Planungsprozesse sehr lange bzw. zu lange dauern und dass wir hart daran arbeiten müssen, sie zu verkürzen; auch das ist kein Thema. Ich komme aus Südhessen und weiß, was im Zusammenhang mit der neuen Halle am Frankfurter Flughafen geschehen ist. Dabei kann einem wirklich angst und bange werden. Aber das Verbandsklagerecht kann nach meiner Auffassung nicht so pauschal beurteilt werden, wie Sie es hier getan haben. ({2}) Das Verbandsklagerecht dient auch zum Schutz von Belangen der Allgemeinheit; das ist unumstritten. Es greift auch in solchen Fällen, in denen nicht mit der Klage eines individuell Betroffenen zu rechnen ist. Das Verbandsklagerecht dient in vielen Fällen auch dazu, eine Bündelung von Klagen zu Massenverfahren zu erleichtern. Damit trägt es zur Entbürokratisierung und zur Entlastung der Gerichte bei. Es ist also nicht unbedingt ein Fortschritt - wir würden ihn allerdings begrüßen -, das Verbandsklagerecht abzuschaffen oder zumindest einzuschränken. Vielmehr muss man es meiner Auffassung nach im konkreten Fall sehr differenziert bewerten. Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt ansprechen, den Sie erwähnt haben: das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. - Mein Gott, was für ein Wort! ({3}) Sie fordern in Ihrem Antrag die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes, das aus dem Jahre 1991 stammt. Diesen Antrag haben Sie schon im Herbst letzten Jahres gestellt. Er wurde von uns abgelehnt, weil sein Inhalt schon damals überholt war. Am 25. November dieses Jahres - das haben Sie selbst angesprochen - haben wir die Geltungsdauer dieses Gesetz um ein Jahr verlängert. Wir haben sie aber nicht deshalb nur um ein Jahr verlängert, weil wir nicht mutig genug gewesen wären, sie sofort um mehrere Jahre zu verlängern, sondern deshalb, weil zurzeit an Eckpunkten gearbeitet wird, durch die das gesamte Planfeststellungsverfahren beschleunigt werden soll. Parallel dazu gibt es Abstimmungsprozesse mit den Ländern, vor allem mit den Verkehrsministern der Länder, die sich im Oktober dieses Jahres getroffen haben. Diese Eckpunkte sollen meines Wissens im Frühjahr nächsten Jahres in konkreten Regelungen zur Beschleunigung des Planfeststellungsverfahrens münden. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Da Ihre Redezeit, wie Ihnen möglicherweise entgangen ist, inzwischen überschritten ist, kann ich nicht zur Verlängerung derselben Zusatzfragen zulassen. ({0})

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich wenigstens einen Abschiedssatz sagen?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Mit Vergnügen. ({0})

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen, meine Herren, ich möchte kurz und in wenigen Sätzen eine persönliche Erfahrung schildern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie hatten von einem Abschlusssatz gesprochen, den Sie jetzt zu multiplizieren androhen. ({0})

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich mache aus meinem Abschlusssatz ein oder zwei Nebensätze, wenn Sie erlauben. - Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir die beschlossenen Gesetze umsetzen sollten; denn wenn ich zum Beispiel mit Unternehmern spreche, fällt mir immer wieder auf: Sie beklagen sich darüber, dass es zu viel Bürokratie gibt, dass ihnen die beschlossenen Gesetze kaum bekannt sind und dass sie nicht umgesetzt werden. Daher meine ich: Es gibt keinen Mangel an Beschlussfassung, sondern einen konkreten Mangel an der operativen Umsetzung unserer Maßnahmen. Hier sollten wir den entscheidenden Schwerpunkt setzen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel für die FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass ich meinen Flieger umgebucht habe; denn dieses Thema ist wichtig. Gestern haben wir die aktuellen Arbeitslosenzahlen erfahren. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiterhin. Wir haben die Ausführungen des Verwaltungsratsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit gehört und die hektische Reaktion der Herren Müntefering und Clement vernommen. Die Tatsache, dass die Bundesagentur für Arbeit mit den Aufgaben, die Rot-Grün ihr zugewiesen hat, schlichtweg überfordert ist, zeigt, dass hier in ein Wespennest gestochen worden ist. Manchmal frage ich mich, wie die Diskussion über die Arbeitsmarktpolitik in diesem Land eigentlich verläuft. Da wird von Hartz I bis Hartz IV und von der Agenda 2010 geredet und so getan, als würde dadurch das Problem der Massenarbeitslosigkeit bewältigt. ({0}) Das ist mitnichten der Fall. Im besten Falle - allerdings wirklich nur im allerbesten Fall - werden dadurch Arbeitsplätze in der Bundesagentur für Arbeit geschaffen. Um das Problem der Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen, müssen wir die Rahmenbedingungen verändern. Nur dann können Arbeitsplätze erhalten bzw. geschaffen werden. Hier hat sich Rot-Grün eine Reformpause verordnet. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg, um Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. ({1}) Aber weil Sie sich diese Reformpause nun einmal verordnet haben, müssen wir versuchen, wenigstens die gröbsten bürokratischen Fehler rückgängig zu machen, die Sie begangen haben. Daher hat die FDP-Fraktion drei Anträge in den Bundestag eingebracht, die wir in der heutigen Debatte beraten. Im ersten geht es um die Aufhebung des Verbotes wiederholter Befristungen. Wissen Sie eigentlich, was Sie mit diesem Gesetz gemacht haben? Das bedeutet in der Konsequenz: Wenn ein Studierender in Heidelberg als Hilfskraft in der Unibibliothek arbeitet, dann wird er zeitlebens beim Land Baden-Württemberg - das ist nämlich der Arbeitgeber - nicht mehr sachgrundlos befristet beschäftigt werden können, weil er ein Recht hat, sich auf eine Dauerstelle einzuklagen. Ich erkenne an, dass Sie Kettenbefristungen verhindern wollen. Aber dann folgen Sie unserem Vorschlag, ein Verbot wiederholter Beschäftigung vor Ablauf von drei Monaten einzuführen. Nach drei Monaten muss man die Möglichkeit haben, wieder hereinzukommen. Das schafft Arbeitsmöglichkeiten, übrigens auch für Ältere, die irgendwann in grauer Vorzeit bei demselben Betrieb auch nur einen einzigen Tag befristet beschäftigt waren. ({2}) Ein zweiter Punkt, der eigentlich jedem eingängig sein müsste: Sorgen Sie dafür, dass bei Abwicklungsverträgen bei der Bundesagentur für Arbeit keine Sperrzeiten verhängt werden. Sie haben das Arbeitsrecht so bürokratisch gestaltet, dass Abwicklungsverträge bei betriebsbedingten Kündigungen die einzige Möglichkeit sind, sich ohne einen Prozess vor dem Arbeitsgericht gütlich zu einigen, wie man sich voneinander trennt. Wenn jetzt durch die Bundesagentur für Arbeit Sperrzeiten verhängt werden, wie das der Fall ist, bedeutet das doch, dass man bei einer betriebsbedingten Kündigung, die nicht von vornherein als unwirksam erkannt wird, zum Arbeitsgericht geht und dort einen Vergleich schließt - dann gibt es keine Sperrzeit. Das Ergebnis ist das gleiche wie beim Abwicklungsvertrag, bloß mit viel mehr Bürokratie, mit viel mehr Folgekosten für die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber: Die Kosten der Prozesse vor dem Arbeitsgericht werden hälftig aufgeteilt. Und wir haben dadurch viel mehr Rechtsunsicherheit, weil man als Arbeitgeber bis zu dem Moment, wo ein Vergleich oder ein Urteil vorliegt, nie weiß, ob man den Arbeitnehmer weiterhin beschäftigen und ihm rückwirkend das Gehalt zahlen muss. Das sind alles Kleinigkeiten, obwohl es viel richtiger wäre - damit komme ich zu unserem dritten und letzten Antrag -, das Kündigungsschutzgesetz insgesamt zu verändern. Denn es ist tatsächlich so, Kollege Hoffmann, dass das besondere Kündigungsschutzgesetz ein Einstellungshemmnis ist. Wenn wir den Schwellenwert für seine Geltung bei 50 Arbeitnehmern setzen, wie wir es vorschlagen, dann beseitigen wir diese Einstellungsbarriere. Sie können sich das nicht nur in Ländern wie Neuseeland oder Australien oder Holland anschauen, sondern auch in dem viel geliebten Dänemark, bei dessen Sozialpolitik das Herz eines jeden Sozialdemokraten höher schlägt: Hier gibt es fast keinen Kündigungsschutz, viel weniger, als wir vorschlagen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. - In diesen Ländern gibt es auch mehr Entlassungen, aber es gibt bei kleinsten wirtschaftlichen Verbesserungen auch mehr Einstellungen, also mehr Chancen, sich selbst den Lebensunterhalt zu finanzieren. Wir haben unter Ihrer Regierung wenn überhaupt nur kleinste Chancen für das Wachstum der Wirtschaft, sodass wir jedes Potenzial ausnutzen müssen. Springen Sie über Ihren eigenen Schatten und unterstützen Sie wenigstens, wenn Sie schon nicht weiterreformieren wollen, diese kleinen, wesentlichen, notwendigen Änderungen! Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben gerade von Herrn Niebel gehört, dass wir eine „Reformpause“ machten. Herr Niebel, ich glaube, Sie sind der Einzige hier im Saal und auch im Lande, der so etwas diagnostizieren würde. ({0}) Ich erinnere nur an Ihre Kollegen, die sich allwöchentlich darüber beklagen, dass wir zu viele Gesetzentwürfe einbringen, dass wir Gesetzentwürfe zu schnell einbringen; das ist doch Ihr Problem. ({1}) Nein, meine Damen und Herren, das wirkliche Problem ist doch, dass es bei der Opposition Tabula rasa gibt, wenn es um neue Vorschläge geht. Das lässt sich wunderbar an dem Antrag zeigen, der heute vorliegt und zu dem Herr Fuchs von der CDU uns eben vorgetragen hat. Darin sind lauter Ladenhüter, das ist eine Sammlung alter Vorschläge. Ich habe mit Interesse nach etwas Neuem gesucht, ich habe sogar etwas gefunden: Sie schreiben, dass es nunmehr um die „materielle Entbürokratisierung“ geht. Ich habe mir überlegt, was das sein soll. Ich habe in dem Antrag gesucht: Sie schlagen unter anderem vor, die Ausbildungsplatzabgabe abzuschaffen. ({2}) Herr Fuchs, ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass eine Ausbildungsplatzabgabe nicht existiert. ({3}) Wir haben einen Ausbildungspakt abgeschlossen - mit der Drohung einer Ausbildungsplatzumlage; das ist etwas ganz anderes. ({4}) Wir haben der Wirtschaft Beine gemacht und sie dazu gebracht, mit uns den Ausbildungspakt abzuschließen, für den heute eine erste Zwischenbilanz vorgestellt wurde. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchs?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ist Ihnen entgangen, dass das Gesetz zur Ausbildungsförderung, welches eine Ausbildungsplatzabgabe vorsieht, nur ruht und dass es in diesem Hohen Haus von heute auf morgen mit Kanzlermehrheit beschlossen werden kann, sodass es immer noch als Damoklesschwert über der Wirtschaft hängt? ({0}) Das ist Ihnen wahrscheinlich entgangen. Ist Ihnen nicht bekannt, dass sich das Gesetz noch im parlamentarischen Verfahren befindet?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Fuchs, es mag sein, dass Ihnen entgangen ist, dass Sie permanent über eine Ausbildungsplatzabgabe - ein Instrument, das wir niemals entwickelt haben - schwadroniert und uns etwas unterstellt haben. Sie haben Recht, dass wir über eine Ausbildungsplatzumlage diskutiert und sie entwickelt haben. Dabei hatten wir das zentrale Ziel, die Ausbildungssituation der Jugendlichen in diesem Lande zu verbessern, weil sie unhaltbar ist. ({0}) Wir haben jetzt einen Ausbildungspakt und keine Ausbildungsplatzabgabe. Heute wurde die Zwischenbilanz dieses Ausbildungspaktes vorgestellt. Wir können feststellen, dass er gewirkt hat. Zum Beispiel bilden jetzt 25 000 Betriebe mehr aus. Ich bedauere es allerdings sehr, dass immer noch 17 500 Jugendliche eine Ausbildungsstelle suchen. Das ist schlecht. Daneben gibt es noch einige in der Warteschleife. Auch das ist schlecht. Bezogen auf Ihre Frage muss ich aber feststellen, dass der Ausbildungspakt Bewegung gebracht hat. Das ist auch ein Erfolg der Debatte, die wir über die Ausbildungsplatzumlage geführt haben. Insgesamt befinden wir uns zwar auf einem guten Weg, für die Jugendlichen ist die Situation im Moment aber noch nicht gut genug. ({1}) Ich will damit sagen, dass Sie etwas streichen wollen, was nicht existiert, nämlich eine Ausbildungsplatzabgabe als materielle Entbürokratisierung. Ich glaube, das beweist den immateriellen Gehalt Ihres Antrages. Man könnte ihn als eine Art Nichts oder wehendes Vakuum bezeichnen. Sie schlagen in Ihrem Antrag materielle Entbürokratisierungen vor. In einem ersten Punkt sprachen Sie eben darüber, dass das Verbandsklagerecht abgeschafft werden muss. Ich möchte nicht pingelig sein, Sie aber doch darauf hinweisen, dass es unter anderem im EU-Recht explizite Vorgaben gibt und dass sich die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise im Rahmen der AarhusKonvention verpflichtet hat, Verbandsklagerechte einzuräumen. Um den zweiten Punkt geht es mir hier viel eher. Beim Verbandsklagerecht für Verbraucherschutzverbände geht es zum Beispiel um den unlauteren Wettbewerb. Einzelne sind nicht stark genug, sich wehren zu können. Verbände können sich gegen die schwarzen Schafe in diesem Bereich zur Wehr setzen. Herr Fuchs, ich sage Ihnen: Das ist symptomatisch. Egal ob es sich ums Arbeitsrecht oder andere Rechte handelt, bei Ihren Anträgen geht es immer darum, Schutzrechte abzubauen. ({2}) Das hat mit Entbürokratisierung überhaupt nichts zu tun. Das sind Schutzrechte für die Menschen und ist geltendes Recht. Ich bin froh, dass wir die Verbraucherinnen und Verbraucher im Hinblick auf den Verbraucherschutz gegenüber dem Gesamtmarkt endlich stärken können. Darum geht es in diesem Fall. ({3}) Ihr Antrag ist sozusagen ein Warenhaus älterer Vorschläge. Sie schlagen vor, mit der Heraufsetzung von Schwellenwerten zu entbürokratisieren. Ich will nur ein Beispiel nennen. Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass auch das wieder den Abbau von Schutzrechten bedeuten würde. Nach Ihren Vorschlägen sollen für jugendliche Azubis zum Beispiel bei Betriebsratswahlen keine Schwellenwerte mehr berücksichtigt werden. Meine Damen und Herren, das würde schlichtweg den Abbau von Schutzrechten für Jugendliche bedeuten. ({4}) Sie sind Mitarbeiter in diesen Betrieben und haben als solche das gute Recht, ihre Jugendvertreter zu wählen und im Betriebsrat aktiv zu sein. Das sind also Vorschläge von gestern. ({5}) Wir wollen, dass die jungen Menschen in den Betrieben in den demokratischen Mitgestaltungsprozess eingebunden werden; denn es geht um ihre Rechte. Das ist ein wichtiger Punkt. Sie wollen beim Teilzeitgesetz die Schwellenwerte heraufsetzen und werden auf Ihrem Parteitag in der kommenden Woche verkünden, dass Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen. Damit wird deutlich, dass Sie hier eine Verdummung der Bevölkerung betreiben. Teilzeitarbeit für Frauen zur Vereinbarung von Familie und Beruf ist ein ganz wichtiger Baustein in Deutschland. ({6}) Wir liegen im europäischen Vergleich noch nicht weit genug vorne. Heute können 88 Prozent der Betriebe nach diesem Gesetz keine Teilzeitarbeit anbieten und Sie wollen diese Schwellenwerte auch noch heraufsetzen. Nein, ich sage Ihnen: Der Abbau von Wahlmöglichkeiten und Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist mit uns nicht zu machen. ({7}) Wie ich sehe, Herr Präsident, muss ich zum Schluss kommen. Das will ich dieses Mal freiwillig tun, wenngleich es noch viel zu sagen gäbe. Ich möchte Ihnen nur mit auf den Weg geben - das ist mein Rat für Ihren Parteitag -: Führen Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in der Union einmal eine ehrliche Debatte über dieses Thema. ({8}) Ich bin froh, dass es bei Ihnen eine ganze Reihe Kollegen gibt, die diese Politik des Abbaus von Arbeitnehmerrechten nicht mitmachen. Aber sie finden leider kein Gehör, sondern dürfen nur hin und wieder eine Pressemitteilung herausgeben. Dabei bleibt es. Leute wie Seehofer müssen in der CSU sogar gehen. Das ist schade. ({9}) Führen Sie innerhalb der Union eine Debatte und kommen Sie nicht wieder mit solch merkwürdigen Anträgen, wie sie hier vorliegen. Danke. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Seit November 2002 versucht Bundeswirtschaftsminister Clement verzweifelt, den groß angekündigten Masterplan Bürokratieabbau mit Inhalt zu füllen. Die Bilanz ist leider Gottes mehr als dürftig. Ihr Masterplan Bürokratieabbau hat sich vielmehr als Desasterplan herausgestellt. ({0}) So schreibt der „Focus“ ({1}) in seiner letzten Ausgabe beispielsweise - ich zitiere -: Doch der Entfesselungskünstler verhedderte sich, Clements Bilanz bis heute ist mager … In den drei ausgewählten Testregionen haben Sie zunächst einmal über 1 000 Deregulierungsvorschläge gesammelt - das ist eine beachtliche Zahl -, aber von den 1 000 Vorschlägen haben Sie nur ganze 29 Vorhaben für wert befunden, im Bundeskabinett beraten und umgesetzt zu werden. Das Schizophrene ist überdies, dass die drei Regionen, denen Sie zunächst das Label Innovationsregion verpasst haben, bis heute zwar testen wollten, aber nicht testen durften. Sie haben diese Regionen mit großem Tamtam als bürokratiefreie Regionen angepriesen, aber letztendlich ist die Bilanz mehr als bedauerlich. ({2}) Wenn man nun einen Blick auf die Website des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit wirft, stellt man fest, dass Sie dort vollmundig den Start einer zweiten Runde mit Testregionen verkünden. Glauben Sie denn wirklich, dass sich in Deutschland noch eine Region freiwillig zur Testregion küren lassen will, nachdem Sie mit den bisherigen Testregionen so stiefmütterlich und dilettantisch umgegangen sind? Dies ist ein beredtes Beispiel dafür, wie Rot-Grün das Vertrauen von Bürgern, Kommunen und eben auch Regionen fahrlässig verspielt. ({3}) Ihre Ankündigung, neuerlich Testregionen auszuwählen, dürfte von den meisten Regionen in Deutschland eher als Bedrohung denn als Motivation empfunden werden. Frau Dückert, sehr verräterisch war die Aussage in Ihrer Rede: Wir haben es geschafft, der Wirtschaft mit der Ausbildungszwangsabgabe Beine zu machen. ({4}) Dies hat in verräterischer Art und Weise signifikant gezeigt, wie Sie dazu stehen und wie Ihre Herangehensweise beim Bürokratieabbau ist. ({5}) Man müsse nur mit Zwang, Dirigismus und Sanktionen reagieren, damit die Wirtschaft so agiere, wie man wolle. ({6}) Die Herangehensweise von der Union ist eine vollkommen andere. Wir setzen auf Eigeninitiative. ({7}) Wir setzen auf die Initialzündung, die dadurch entsteht, dass man der Wirtschaft mehr Spielräume lässt, statt wie Sie auf Kontrolle und Dirigismus zu setzen. Wir haben einen ersten Antrag mit dem Titel „Freiheit wagen - Bürokratie abbauen“ eingebracht. Damit haben wir Ihnen einen methodischen Werkzeugkasten in die Hand gegeben, wie man den Bürokratieabbau langfristig erfolgreich umsetzen kann. Dieser erste Antrag wird jetzt durch einen zweiten unterstützt, in dem wir einige ganz konkrete Vorschläge machen. Sie wären gut beraten, diese aufzugreifen. Erster Vorschlag. Verstecken Sie diese Ausbildungszwangsabgabe nicht nur einfach in der Schublade, in der sie momentan liegt, sondern werfen Sie sie in den Papiereimer. ({8}) Ich möchte noch einmal in aller Deutlichkeit darauf hinweisen: Die Ausbildungszwangsabgabe ist nicht vom Tisch. Sie hängt nach wie vor als Damoklesschwert über der Wirtschaft und kann jederzeit, wenn die Wirtschaft nicht so pariert, wie Sie das wollen - Stichwort: der Wirtschaft Beine machen -, wieder herausgeholt werden. Zweiter Vorschlag. Vergessen Sie die geplante Einrichtung des Bürokratiemonsters Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, die allein 6 000 Mitarbeiter umfassen würde. Nun ganz konkret zu einigen unserer Vorschläge: Die betrieblichen Doppelprüfungen, die in vielen Unternehmen stattfinden, sind ein Wahnsinn. Ich möchte Ihnen dazu ein konkretes Beispiel aus meinem Wahlkreis bringen. Ein Bäckermeister ist innerhalb kurzer Zeit von mehreren Behörden besucht worden. Die erste Behörde hat ihn gelobt, weil er seine Backstube mit großen, glatten Fliesen ausgelegt hat. Stephan Mayer ({9}) ({10}) Kurze Zeit später kam ein Vertreter einer zweiten Behörde und hat genau dies mit dem Hinweis kritisiert, beim nächsten Mal müsste er kleinere, gerillte Fliesen anbringen, um die Rutschgefahr zu beseitigen. ({11}) Die unterschiedlichen Behörden stellen beispielsweise auch verschiedene Anforderungen an das Anbringen von Feuerlöschern. Das ist ein Wahnsinn und wird vor allem vom Mittelstand als absolut überflüssig erachtet. ({12}) Beispiel Statistikwesen. Wir fordern: Wer die Statistik in Auftrag gibt, soll auch dafür bezahlen. Das Bundesverkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz - nächstes Beispiel - hat sich in den neuen Bundesländern bewährt, war erfolgreich und sollte deshalb nicht nur über das eine jetzt beschlossene Jahr hinaus verlängert werden, sondern auch in ganz Deutschland gelten. Ein weiteres konkretes Beispiel dazu aus meinem Wahlkreis betrifft die A94, Herr Hoffmann. Sie ist eine wichtige Verkehrsader für die südostoberbayerische Region und wird seit sage und schreibe 1970 geplant, also seit 34 Jahren. Das verstehen die Bürger vor Ort nicht. ({13}) Wir brauchen schneller wirkende Instrumentarien, wir brauchen gesetzgeberische Maßnahmen, um die Verfahrensdauer von Großinvestitionsmaßnahmen entsprechend zu verkürzen. Beispiel Verbandsklagerecht: Herr Hoffmann, ich gebe Ihnen nicht Recht, wenn Sie sagen, das Verbandsklagerecht sei erforderlich, um den Interessen der Öffentlichkeit bei Großinvestitionsmaßnahmen zur Geltung zu verhelfen. Dem Interesse der Öffentlichkeit wird dadurch Rechnung getragen, dass bei Großinvestitionsmaßnahmen zahlreiche Träger öffentlicher Belange - viele sagen sogar: zu viele - beteiligt werden. Aber was ist das Verbandsklagerecht in der heutigen Form tatsächlich? ({14}) Es dient der Vertretung von Partikularinteressen. Glauben Sie, dass der NABU letztendlich die Interessen der Öffentlichkeit vertritt? Er vertritt reine Partikularinteressen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie schauen gelegentlich auch einmal auf die Uhr?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- Ich schaue selbstverständlich auf die Zeit, Herr Präsident, und komme zum Ende. Es wäre wichtig, die Verbandsklagerechte neu zu evaluieren, keine neuen Verbandsklagerechte mehr zu benennen und die alten abzuschaffen. Mit diesem Antrag haben wir Ihnen konkrete Hilfestellungen an die Hand gegeben. Sie sind gut beraten, wenn Sie sie übernehmen und endlich mit der Flickschusterei aufhören, die Sie mit dem so genannten Masterplan Bürokratieabbau begonnen haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD-Fraktion das Wort.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einen kleinen sechsjährigen Freund. Er ist ein großer Fan von Benjamin Blümchen. Immer wenn sich der Kleine langweilt, stößt er ein kräftiges „Törö!“ aus. Ich bin mir sicher, dass er genau das Gleiche machen würde, wenn er jetzt hier wäre. Meine Damen und Herren der Opposition, Sie langweilen dieses Haus in schrecklicher Weise. ({0}) Alle Tage wieder prasseln Ihre Anträge auf den Bundestag nieder. ({1}) Ihre Anträge sind aber nicht lustig wie mein kleiner Freund. Es ist vielmehr so, dass selbst der Schneemann Frostbeulen ob der Kälte Ihrer Forderungen bekommen würde. Sie sind mittlerweile in Ihrer Politik nur noch hart, zynisch und ohne menschliches Antlitz. ({2}) Sie haben sich gemeinschaftlich darauf geeinigt, dass der Kündigungsschutz geändert werden darf. Natürlich gibt es Differenzierungen. Die Union fordert, dass der Kündigungsschutz ab 20 Arbeitnehmer gelten soll. Die FDP muss natürlich ihrem guten Ruf gerecht werden und sagt: 20, das reicht nicht aus, wir müssen auf 50 hochgehen. ({3}) Meine Damen und Herren, sind Sie sich darüber im Klaren, wie viele Arbeitnehmer Sie damit vom Schutz ausnehmen? Bei der CDU/CSU ist es so: 90 Prozent der Betriebe unterliegen dem Kündigungsschutz nicht mehr; 28 Prozent der Arbeitnehmer wären nicht mehr geschützt. Herr Niebel von der FDP, jetzt hören Sie genau zu: Bei Ihrem Vorschlag würden 94 Prozent der Betriebe und 42 Prozent der Arbeitnehmer herausfallen. ({4}) Ihr Vorgehen ist schlichtweg rechtsbrecherisch. Sie handeln rechtswidrig. ({5}) Betrachten Sie an dieser Stelle einmal die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Kleinbetriebsklausel. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass nur dann von einem einheitlichen Gesetz abgewichen werden kann, wenn ein besonderer Grund hierfür vorliegt. Bei der Kleinbetriebsklausel ist der Hintergrund ganz einfach: Es sind die persönlichen Kontakte zwischen dem Betriebsinhaber einerseits und den Arbeitnehmern andererseits, die es gestatten, hiervon abzuweichen. Aber Ihre Forderungen, meine Damen und Herren von der Opposition, sind nicht nur rechtswidrig, sie sind schlichtweg wirtschaftlich unsinnig. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Kündigungsschutzgesetz und der Arbeitslosigkeit als solcher. ({6}) Ich will an dieser Stelle vier Studien zitieren. Zunächst die Studie von Zachert und Schramm von der Universität Hamburg aus dem Jahre 2004: Vier Fünftel der 22 Personalverantwortlichen gaben an, dass das Kündigungsschutzgesetz für ihren Betrieb kein Einstellungshindernis darstelle, eine unmaßgebliche Rolle spiele oder sogar völlig irrelevant sei. Friedrich und Hägele in einer Auftragsarbeit, die Sie zu Ihren Regierungszeiten über das damalige Kündigungsschutzgesetz veranlasst haben: Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die erhofften Beschäftigungswirkungen noch nicht eingetreten sind, sondern sogar Beschäftigung abgebaut wurde.... Allerdings warnen die Befragungsergebnisse vor übertriebener Hoffnung bezüglich der Beschäftigungswirksamkeit. OECD-Beschäftigungsausblick von 1999: Was die Effekte des Beschäftigungsschutzes auf die Arbeitsmarktergebnisse betrifft, so stehen die Ergebnisse dieser Analyse in qualitativer Hinsicht vielfach im Einklang mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen. Sie erhärten in der Tat die Schlussfolgerung, dass die Rigidität der Beschäftigungsschutzbedingungen praktisch nur einen geringen bzw. gar keinen Effekt auf das globale Niveau der Arbeitslosigkeit hat. ({7}) Mein Kollege hat bereits den IAB-Kurzbericht zitiert; deshalb will ich an dieser Stelle darauf verzichten. ({8}) Meine Damen und Herren von der Opposition, für Sie sind Arbeitnehmer Handelsware, nichts anderes. ({9}) Sie behandeln sie wie ein Handy oder ein Auto, das gekauft wird. Und dann wundern Sie sich, dass diese Behandlung auch volkswirtschaftliche Auswirkungen hat. ({10}) Wie soll ein solcher Arbeitnehmer, der immer unter der Fuchtel des Arbeitgebers und der Fuchtel der willkürlichen Kündigung steht, eine Identifikation mit seinem Unternehmen entwickeln? ({11}) Auch noch etwas anderes ist wichtig: Wie soll er Kaufbereitschaft entwickeln, wie soll er einen Kredit für ein Auto aufnehmen, wenn er nicht weiß, was morgen mit seinem Arbeitsplatz sein wird? ({12}) Meine Damen und Herren von der FDP, Ihre einzigartig dynamische Partei muss natürlich weitere Vorschläge zum Kündigungsschutz machen. ({13}) Der Kündigungsschutz soll demzufolge nur dann gelten, wenn ein Arbeitnehmer mehr als vier Jahre in einem Betrieb beschäftigt ist. ({14}) Der Arbeitnehmer soll bei der Einstellung eine Option zwischen Kündigungsschutz und materiellem Nachteilsausgleich haben. Meine Damen und Herren von der Dagobert-DuckPartei, insbesondere der Kollege Niebel schreibt sich seine vermeintliche Redekunst auf die Fahnen. ({15}) Zu einer guten Rede gehört deren Verständlichkeit. Ich schlage daher vor, dass Sie Ihre Anträge künftig einfacher formulieren, und gestatte mir, an dieser Stelle eine Formulierungshilfe zu reichen. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Mit der Formulierungshilfe müssen Sie sich jetzt aber sehr beeilen.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bundesregierung wird aufgefordert, das gesamte Arbeitsrecht abzuschaffen - das fasst Ihre Politik als FDP zusammen. Meine Damen und Herren der Opposition, ich hoffe, dass Sie Ihre Anträge jedem Betrieb dieses Landes und jedem Arbeitnehmer und jeder Arbeitnehmerin aushändigen. ({0}) Ich bin mir sicher, dass das eintreten wird, was in der „Berliner Zeitung“ gestanden hat. Die Kunst, sich um Kopf und Kragen zu reden, ({1}) versteht in der Bundesrepublik Deutschland, abgesehen von Guido Westerwelle, derzeit niemand so gut wie Angela Merkel. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4156, 15/3724 und 15/4407 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2804 zur Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3990, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mehrheitlich abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt ({0}) - Drucksachen 15/3931, 15/4237 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 15/4416 Berichterstattung: Abgordnete Joachim Stünker Siegfried Kauder ({3}) Rainer Funke Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch und Petra Pau sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese Debatte 30 Minuten dauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bekämpfung der Weiterverbreitung insbesondere von Massenvernichtungswaffen ist eine nach wie vor wichtige Aufgabe, zu der sich Deutschland auch auf internationaler Ebene verpflichtet hat. Unsere Aufgabe ist es, die zuständigen Behörden mit den notwendigen Instrumenten auszustatten, damit sie den eingegangenen internationalen Verpflichtungen nachkommen können. Dabei reicht es nicht aus, begangene Straftaten in diesem Bereich mit den Mitteln der Strafprozessordnung zu verfolgen und Straftäter gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen; denn in solchen Fällen haben die Waffen in den meisten Fällen Deutschland bereits verlassen und der außenpolitische Schaden ist eingetreten. Deshalb müssen wir durch geeignete Maßnahmen dafür sorgen, dass solche unerlaubten Ausfuhren bereits im Vorfeld verhindert werden können. Zu den notwendigen Maßnahmen zählt auch die 1992 geschaffene Möglichkeit der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung, die durch das Zollkriminalamt bisher restriktiv und mit größter Sorgfalt gehandhabt wurde. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die bisherigen Regelungen im Außenwirtschaftsgesetz insbesondere wegen mangelnder Normenklarheit und -bestimmtheit im März dieses Jahres für verfassungswidrig erklärte, wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine neue und vor allem verfassungsgemäße Grundlage hergestellt. Hierzu sieht der Gesetzentwurf nach der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses eine Reihe von Regelungen vor, die ich mit Blick auf die Zeitknappheit und die nachfolgenden Tagesordnungspunkte jetzt nicht einzeln aufführen will. ({0}) Einen Punkt will ich allerdings ansprechen. Unter anderem werden die Datenerhebungs- und -übermittlungsregelungen konkretisiert. Dazu gehören auch Protokollierungs-, Kennzeichnungs- und Löschungspflichten, die bei Übermittlungen durch den Datenempfänger zu beachten sind. Diese Verfahrensvorschriften binden auch Landesbehörden. Deswegen halten wir - wie vom Bundesrat gefordert - das Gesetz für zustimmungsbedürftig. Mit einigen der Einzelregelungen sind wir der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen, die von ihm aufgestellten Grundsätze aus seinen Urteilen zum G-10-Gesetz sowie zur akustischen Wohnraumüberwachung zu beachten. Offen geblieben ist dabei, in welchem Umfang diese Grundsätze auf die Neuregelung der präventiven Überwachungsmaßnahmen durch das Zollkriminalamt zu übertragen sind. Soweit die FDP insofern in einem Entschließungsantrag den Vorwurf erhebt, der Entwurf missachte insbesondere die Vorgaben zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und sei damit verfassungswidrig, sind die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen und die CDU/CSU-Fraktion der Auffassung, dass dieser Vorwurf nicht haltbar ist. Wir verkennen nicht, dass bei der Umsetzung des Urteils zur akustischen Wohnraumüberwachung eine ausführliche parlamentarische Diskussion gerade auch zu diesem Punkte stattfinden muss. Der Gesetzentwurf sieht daher im Hinblick auf die beabsichtigte Herstellung vergleichbarer Regelungen sowohl für die präventive als auch für die repressive Telekommunikationsüberwachung nur eine Geltungsdauer bis zum Ende des kommenden Jahres vor. Aus der Sicht der Wirtschaft und insbesondere der neuen Bundesländer ist es besonders wichtig, dass in den vorliegenden Gesetzentwurf auch Änderungen der Investitionszulagengesetze 2005 und 1999 aufgenommen worden sind. Wie Sie wissen, steht das Investitionszulagengesetz 2005 unter dem Genehmigungsvorbehalt der EU-Kommission. Ohne diese Genehmigung kann das Investitionszulagengesetz 2005 nicht in Kraft treten. Mit der Änderung der beiden Investitionszulagengesetze sind wir der erst wenigen Tage alten Forderung der EU-Kommission nach einer nochmaligen Anpassung der Investitionszulagengesetze an die Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten vom 1. Oktober 2004 noch in diesem Jahr nachgekommen. Wir haben damit das hoffentlich letzte Hindernis für eine baldige Genehmigung aus dem Weg geräumt. Investoren, die bereit sind, sich 2005 in den neuen Ländern zu engagieren, müssen nämlich so schnell wie möglich Rechts- und Planungssicherheit erhalten. Ich bedanke mich und hoffe, einen Beitrag zur Beschleunigung des Sitzungsablaufs geleistet zu haben. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, ich bin hingerissen. Ich bestätige, dass das so ist, und würde mir wünschen, dass es in Zukunft so bleibt. ({0}) Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Siegfried Kauder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So schnell wie der Herr Staatssekretär kann ich meine Rede nicht herunterhaspeln; ich halte sie nämlich frei. Ich bin auch der Meinung, dass das Thema viel zu ernst ist, um die Rede einfach herunterzulesen. ({0}) Worüber reden wir eigentlich? Wir reden über das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz. Die Diskussion zu dem Gesetzentwurf, über den wir heute abstimmen werden, begann im Jahr 1989. Ein deutsches Unternehmen hatte unter Umgehung eines Embargos eine Giftgasfabrik nach Libyen geliefert. Das Entsetzen darüber war groß. Dabei geht es um Straftaten, die gut und gerne Freiheitsstrafen zwischen drei und fünf Jahren nach sich ziehen können. So etwas können weder ein deutscher Staat noch andere friedfertige Staaten zulassen. Völker wollen und müssen in Frieden leben. Die Beziehungen zwischen den Völkern werden gestört, wenn solchen Fällen nicht massiv Einhalt geboten wird. Aus diesem Grund ist ein Gesetz erarbeitet und verabschiedet worden, das dem Zoll die Möglichkeit bieten sollte, nicht erst dann, wenn Verdachtsmomente aufgetreten sind, sondern bereits in der Planungsphase Telefonüberwachungen - wie es damals noch hieß - und Postüberwachungen durchzuführen. Das Gesetz wurde im Jahr 1992 erlassen. Heute reden wir über die sechste Befristung dieses Gesetzes. Das meine ich nicht als Vorwurf gegenüber den Verantwortlichen; es zeigt vielmehr das Ringen vor dem Hintergrund, dass mit der Post- und Telekommunikationsüberwachung Grundrechte Dritter und im Bereich der Planungsphase auch solcher Bürger, die in strafrechtlich relevanter Hinsicht möglicherweise nichts damit zu tun haben, berührt werden. Insofern ist es kein Wunder, dass das Gesetzgebungsverfahren in den Bereichen, in denen es um Telefon- und Postüberwachung geht, von vielen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts begleitet ist. Nun steht zur Diskussion, dass das Bundesverfassungsgericht die § § 39 bis 41 des Außenwirtschaftsgesetzes für verfassungswidrig hält und dass am selben Tag eine Entscheidung des Senats zum großen Lauschangriff ergangen ist. Für Außenstehende ist es überraschend, dass, obwohl derselbe Senat über die beiden Themen entschieden hat, in keiner der beiden Entscheidungen auf die jeweils andere Bezug genommen wird. ({1}) Siegfried Kauder ({2}) Trotzdem müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob die Grundsätze, die im Zusammenhang mit dem großen Lauschangriff entwickelt worden sind, nicht auch den Bereich des Außenwirtschaftsgesetzes betreffen. Dabei handelt es sich um ein Dilemma, an dem wir noch arbeiten müssen. Die § 39 bis 41 des Außenwirtschaftsgesetzes sind bis zum Jahresende befristet. In dieser kurzen Zeit können wir diskussionswürdige verfassungsrechtliche Themen kaum mehr in der notwendigen Ruhe diskutieren. Deswegen sind wir zu einem anderen Ergebnis gekommen: Man sollte die Argumentation am Wortlaut der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausrichten. Das Bundesverfassungsgericht hat die § 39 bis 41 des Außenwirtschaftsgesetzes nur unter dem Gesichtspunkt für verfassungswidrig erklärt, dass es an der Normenklarheit und Normenbestimmtheit fehle. Es waren zu langgliedrige Verweisungsketten vom AWG über das Kriegswaffenkontrollgesetz bis hin zu Rechtsverordnungen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird meines Erachtens mit der notwendigen Klarheit versucht, diesen Mangel zu beseitigen. Deswegen ist eine Verlängerung der gesetzlichen Ausführungsfrist gerechtfertigt, allerdings nicht um zwei oder drei Jahre, sondern nur bis zum Ende des Jahres 2005. Über die Frage, ob die Rechtsgrundsätze, die das Bundesverfassungsgericht zum großen Lauschangriff erarbeitet hat, überhaupt auf die Telekommunikationsund Postüberwachung anwendbar sind, sollte man mit sehr großer Zurückhaltung diskutieren; denn es sind unterschiedliche Grundrechte berührt. Es geht zum einen um Grundrechte betreffend den persönlichen Lebensbereich und zum anderen um das Post- und Fernmeldegeheimnis. Dort, wo es um den persönlichen Lebensbereich geht, ist der Grundrechtsschutz wesentlich weiter ausgestaltet. Hier gibt es einen so genannten qualifizierten Gesetzesvorbehalt, während es bei der Telekommunikations- und Postüberwachung nur um einen einfachen Gesetzesvorbehalt geht. Es ist also Vorsicht geboten, wenn man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff eins zu eins auf die Regelungen betreffend die Telekommunikations- und Postüberwachung übertragen will. Das Gesetz, das wir heute verabschieden, hat trotzdem in einem entscheidenden Bereich eine Schwäche. Es lässt die Überwachung auch Drittbetroffener zu, die nach der so genannten IMEI-Gerätenummer aussortiert werden. Jeder, der den Akku aus seinem Handy nimmt, sieht auf der Rückseite des Gehäuses die aufgedruckte IMEI-Gerätenummer. Der Außenstehende meint, dass diese Nummer genauso einmalig und sicher wie die Fahrgestellnummer eines Fahrzeuges ist. Dem ist aber nicht so. Die IMEI-Gerätenummer kann elektronisch verändert werden und wird vom Gerätehersteller nicht nur für ein bestimmtes Gerät herausgegeben, weswegen es Fälle geben kann, in denen die gleiche Nummer mehrfach vergeben worden ist. Es ist also absolute Vorsicht geboten. Ich habe zu diesem Thema eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1989 gefunden. Der damalige Richter hat - es ging um einen Haftbefehl - erhebliche Bedenken gehabt und ausgeführt, die IMEI-Gerätenummer dürfe nur dann kontrolliert werden, wenn ein besonders starker Verdacht bestehe. Schon damals hat man also erkannt, dass dort, wo Dritte betroffen sind und wo es um Vorfeldermittlungen geht, besonders sorgfältig gearbeitet werden muss. Deswegen wäre es uns am liebsten gewesen, wenn die Möglichkeit der Telekommunikations- und Postüberwachung unter Bezugnahme auf die IMEI-Gerätenummer ausgeschlossen worden wäre. Man hat sich jetzt mit einer Krücke beholfen, indem festgelegt worden ist, dass mithilfe der IMEI-Gerätenummer nur dann kontrolliert werden darf, wenn diese Nummer einem bestimmten Betreiber zuordenbar ist. Ich habe das technisch nachgeprüft und bin zu dem Schluss gekommen, dass das nicht machbar ist. Deswegen sollten wir uns Gedanken darüber machen - wir haben noch ein Jahr Zeit -, ob wir diese Eingriffsmöglichkeit völlig streichen. Uns liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Lötzsch und Pau vor, der von der Sache her durchaus diskussionswürdig ist. Es gibt in den § 39 bis 41 AWG eine Berichtspflicht. Da der Berichtszeitraum drei Jahre beträgt, die Geltungsdauer des Gesetzes aber nur um ein Jahr verlängert wird, wird diese Pflicht für die Bundesregierung gar nicht zum Tragen kommen. Dieses Problem haben wir sehr wohl erkannt. Wir müssen das aber nicht weiter vertiefen; denn wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wollen das eine Jahr, das uns bleibt, nutzen, um uns Gedanken über die Verfassungsmäßigkeit und die Praktikabilität des Gesetzes zu machen und in der ersten Hälfte des nächsten Jahres eine Sachverständigenanhörung zu beantragen, von der wir uns die notwendigen Informationen erhoffen. Eines sollte man nicht vergessen: Wie groß ist denn der Anwendungsbereich der Überwachungsmöglichkeiten nach § 39 bis 41 des Außenwirtschaftsgesetzes? Das Zollkriminalamt leitet nur wenige Verfahren ein. Ich habe der Statistik entnommen, dass es vom Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes - 1992 - bis zum April 1998 insgesamt 27 Maßnahmen gab. Von diesen 27 Maßnahmen mündeten zwölf - das darf man nicht verkennen - in ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren. Die Trefferquote ist also außerordentlich hoch. Wenn man die Risiken einschätzt, die jemand - möglicherweise unter Umgehung eines Embargos - durch die Lieferung von Kriegswaffen und Dual-use-Gütern heraufbeschwört, sind solche Maßnahmen meines Erachtens durchaus gerechtfertigt. Es gibt also keinen Grund zur Panik. Nutzen wir die Zeit bis zum Ende des Jahres 2005, um darüber nachzudenken, wie wir dafür sorgen können, dass wir die Geltungsdauer dieses Gesetzes nicht ein weiteres Mal verlängern müssen! Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung - dabei geht es nicht nur um die Überwachung von Telefon und Post - durch das Zollkriminalamt schaffen wir ein verfassungswidriges Gesetz ab. Wir beschließen ein verfassungsgemäßes Gesetz, das an einem anderen Ort angesiedelt ist. ({0}) § 39 ff. AWG sind - darauf ist schon hingewiesen worden - vom Bundesverfassungsgericht im März für verfassungswidrig erklärt worden. Wir kommen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, die in dessen Beschluss enthalten, in vollem Umfang nach. Das muss man einmal ganz klar sagen. Herr Kollege Funke, Sie werfen uns vor, auch dieses Gesetz sei verfassungswidrig. Sie haben aber keinen einzigen Punkt in diesem Gesetzentwurf gefunden, mit dem dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung getragen würde. Wir haben alles berücksichtigt; deshalb ist dieses Gesetz verfassungsgemäß. ({1}) Sie waren es, die vor zwölf Jahren ein Gesetz geschaffen haben - 1998 haben Sie es uns hinterlassen -, das für verfassungswidrig erklärt worden ist. Daher wehre ich mich entschieden dagegen, dass Sie nun uns darüber belehren wollen, wie ein verfassungsgemäßes Gesetz in diesem Bereich aussieht. ({2}) Wir haben mit dieser Neuformulierung gezeigt, dass wir allen Petita des Bundesverfassungsgerichts folgen und sie alle berücksichtigen. Was dieses Gesetz auszeichnet, ist nicht nur, dass es verfassungsgemäß ist, sondern auch, dass es die Bürgerinnen und Bürger, zumindest die Juristen, verstehen können. Noch der Gesetzentwurf, über den wir hier in erster Lesung beraten haben, war wiederum so kompliziert und mit so vielen Verweisen versehen, dass selbst Juristen - ich bin auch einer - und andere in diesem Hause ihn nach mehrmaligem Lesen nicht verstanden haben. Es war unklar, in welchen Fällen - das ist für die Bürgerinnen und Bürger das Entscheidende -, das Telefon abgehört und die Post kontrolliert werden darf und in welchen Fällen nicht. Wir haben es mit einer, wie ich finde, einmaligen Aktion geschafft, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz, vor allen Dingen in Bezug auf die Befugnisnorm, so schlank und übersichtlich geworden ist, dass man, wenn man es liest, verstehen kann, in welchen Fällen das Zollkriminalamt befugt ist zu handeln. Wir haben ebenfalls dafür gesorgt, dass dieses Gesetz auch in anderen Bereichen verfassungskonform ist. Wir haben festgelegt, wann nur die Gerichte eine Überwachungsanordnung treffen können. Wir haben uns aber nicht darüber verständigen können, ob - darauf haben Sie bereits hingewiesen - das Parallelurteil des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff auch hier einschlägig ist, ob also der Kernbereich der Lebensführung auch bei solchen Maßnahmen gesetzlich geschützt werden muss. Um diese Frage ausführlich zu diskutieren und zu klären, wollen wir eine Evaluation und eine Anhörung durchführen. Daher haben wir dieses Gesetz nochmals befristet. Die Zeit bis zum Ende dieses Jahres hat einfach nicht ausgereicht, eine wirklich verfassungsfeste Formulierung zu finden. Die Zeit, eine solche Formulierung zu finden, müssen wir uns im nächsten Jahr nehmen. Ich bin froh darüber, dass die Befristung kurz ist. Dadurch stehen wir unter Handlungsdruck. Im nächsten Jahr werden wir dieses Gesetz überdenken. Zumindest im Hinblick auf diesen Punkt werden wir uns überlegen, ob es ergänzt werden muss. Wir werden sehen, ob wir in dieses Gesetz eine Formulierung aufnehmen, die auch hier diesen Kernbereich schützt. Es gibt vielleicht keinen absoluten Schutz, aber möglicherweise ein Verbot der Verwertung solcher überwachten Telefonate und Briefe, die den Intimbereich des Menschen betreffen. Die Resultate solcher Überwachungen müssten dann ausgesondert und sofort vernichtet werden. Solch eine Regelung wäre vorstellbar. Im Endergebnis sagen wir: Wir haben hiermit einen großen Schritt voran getan. Die gesetzliche Regelung ist meines Erachtens auch nicht in dem Maße eine Bagatelle, wie Sie es geschildert haben. Von den Möglichkeiten ist zwar sparsam Gebrauch gemacht worden - seit Bestehen der noch geltenden § 39 ff. AWG sollen es 41 Maßnahmen gewesen sein -, aber es soll eine große Zahl von Telefonanschlüssen und Gegenständen des Postverkehrs betroffen sein. Auch diese Zahlen müssen wir jetzt bekommen. Wir müssen wissen: Sind es Tausende oder sind es Zehntausende? Wir wissen es jetzt nicht genau. Aber zu sagen, es seien nur wenige Dutzend Maßnahmen gewesen, ist nicht richtig. Der Deutsche Bundestag hat sich bei dieser Gesetzesberatung bewährt. Der Deutsche Bundestag hat gezeigt, dass er sich auch einen Gesetzentwurf, der von der Bundesregierung eingebracht worden ist, ganz genau anschaut. Dass ein solcher Gesetzentwurf aus dem Bundestag nicht so herausgehen muss, wie er hereingekommen ist, hat sich in diesem Fall ganz besonders gezeigt. Der Gesetzentwurf ist jetzt deutlich besser. Deshalb bitte ich Sie alle, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir haben dann ein verfassungsgemäßes, bürgerfreundlicheres Gesetz. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ströbele, ich gebe Ihnen natürlich darin Recht, dass der Gesetzentwurf, so wie er in den Bundestag eingebracht worden ist, die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt hat und sehr verbesserungsbedürftig gewesen ist, weil es erneut an der Normenklarheit gefehlt hat. Wir haben in letzter Minute mit den Formulierungshilfen der Bundesregierung sicherlich Verbesserungen herbeiführen können, aber im Ergebnis kommt der Entwurf trotz dieser Verbesserungen in einem zentralen Punkt der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts nicht nach. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss deutlich darauf hingewiesen, dass bei der Neuregelung die Grundsätze zu beachten sind, die der Senat in seinem Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung niedergelegt hat. Damit sind insbesondere die Grundsätze zur Menschenwürde und zum Kernbereich privater Lebensgestaltung gemeint. Hierzu findet sich auch in der jetzt vorliegenden Fassung des Gesetzentwurfs keine einzige Aussage. Bei den im Zollfahndungsdienstgesetz enthaltenen Eingriffsbefugnissen geht es um präventive Maßnahmen, bei denen es an einem abgeschlossenen oder in Verwirklichung begriffenen strafbaren Handeln fehlt. Nach den Worten des Gerichts besteht daher ein erhebliches Risiko, dass die Überwachungsmaßnahmen an ein Verhalten anknüpfen, das sich im Nachhinein als strafrechtlich irrelevant erweist. Die FDP ist sich bewusst, dass es sich bei den Straftaten nach dem Außenwirtschaftsgesetz im Zusammenhang mit der Lieferung von Gütern und Technologie zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen um besonders schwerwiegende Straftaten handelt. Befugnisse des Zollkriminalamtes zur Verhinderung dieser Straftaten sind daher - darüber sind wir uns völlig einig - dringend geboten. Gesetzliche Ermächtigungsvorschriften für präventive Überwachungsmaßnahmen müssen jedoch in besonderer Weise rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich einwandfrei ausgestaltet sein. Da die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf von jeglichen den Kernbereich schützenden Regelungen absieht, ist der Gesetzentwurf zweifelsohne mit einem hohen verfassungsrechtlichen Risiko verbunden. ({0}) Das sehen Sie doch genauso; denn sonst würden Sie die Befristung bis zum 31. Dezember 2005 gar nicht vornehmen. Sie sehen sich jetzt nur unter dem Druck, dass eine Zeit lang kein vernünftiges Gesetz da ist, dazu gezwungen, Ihre verfassungsrechtlichen Bedenken zurückzustellen, und rechtfertigen sich damit, dass dieses Gesetz im Jahre 2005 erneut überprüft werden soll. Ich bin gespannt, was bei dieser Überprüfung am Ende nächsten Jahres herauskommt. Wir sind jedenfalls bereit, mitzuwirken, ein verfassungsrechtlich zweifelsfreies Gesetz zu schaffen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat zum Schluss dieses Tagesordnungspunkts der Kollege Joachim Stünker, SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Neuregelung, die wir heute Nachmittag hier verabschieden, liefern wir, wie ich meine, einen guten Beweis für die in diesem Fall wirklich fraktionsübergreifende sachliche Zusammenarbeit im Rechtsausschuss. Wir liefern auch einen Beweis dafür, dass wir dort über Fraktionsgrenzen hinweg sehr problemorientiert und streng am Rechtsstaatgedanken ausgerichtet zusammenarbeiten können. Ich bedanke mich dafür ausdrücklich, insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, aber auch bei den Kollegen von der Fraktion der Grünen. Wir mussten hier in kürzester Zeit eine Lösung finden, wie wir einerseits den Schutz ganz überragender Gemeinschaftsgüter - es könnte um das Leben von Millionen von Menschen gehen - gewährleisten können und andererseits individuelle Freiheitsrechte wie das Recht auf informelle Selbstbestimmung des Einzelnen verfassungskonform wahren können. Es war sicher nicht immer ganz einfach, diese beiden Pole zusammenzuführen. Das Bundesverfassungsgericht hatte uns mit seiner Entscheidung vom 3. März abverlangt, die gesetzlichen Anforderungen an die Anordnung einer Telefonüberwachungsmaßnahme im präventiven, also im polizeirechtlichen Bereich nicht niederschwelliger anzusetzen als im strafprozessrechtlichen Bereich. Es hat daher - darauf wurde schon hingewiesen - die Vorschriften, die unter Ihrer Federführung, Herr Kollege Funke, im Jahre 1992 ins Außenwirtschaftsgesetz geschrieben worden sind, in wesentlichen Bereichen für verfassungswidrig erklärt. Aber - der Kollege Kauder hat darauf hingewiesen - das eigentliche Petitum dieser Entscheidung war, für Normklarheit für den Normadressaten zu sorgen. Mit dem Fehlen dieser Klarheit hat sich das Gericht eingehend beschäftigt. Ich meine, man darf diese gesetzliche Regelung auch nicht gering schätzen. Wenn wir nicht in dieser kurzen Zeit bis zum 31. Dezember dieses Jahres zu einer Neuregelung gekommen wären, Herr Kollege Funke, dann wäre eine Präventionslücke entstanden. Ich möchte nicht wissen, was in der öffentlichen Diskussion dazu gesagt worden wäre, wenn die Bundesrepublik Deutschland einen Beweis dafür abgeliefert hätte, dass sie nicht in der Lage ist, auf nationalstaatlicher Ebene polizeirechtliche Schutzmechanismen dafür zu schaffen, dass keine gefährlichen Massenvernichtungswaffen oder Chemikalien, die in ihrem Zusammenwirken als Massenvernichtungswaffen verwendet werden können, exportiert werden. ({0}) Von daher, Herr Kollege Funke, machen Sie sich ein Stück weit als Liberaler - entschuldigen Sie, wenn ich das so sage; Sie wissen, dass ich Sie persönlich sehr schätze - einen schlanken Fuß, wenn Sie in diesem Fall sagen, Sie machen da nicht mit, weil eine Frage, die nach einem ganz anderen Urteil des Gerichtes noch offen war, in diesem Gesetz Ihrer Meinung nach nicht befriedigend geregelt wird. Ich sage Ihnen ebenso wie die Kollegen Kauder und Ströbele ganz deutlich: Wir nehmen für uns in Anspruch und gehen davon aus, dass wir hier eine verfassungskonforme Regelung gefunden haben. Eine Entscheidung über die Frage, ob das so ist oder nicht, hat letzten Endes nur das Gericht zu treffen. Sie sind 1992 ja auch davon ausgegangen, dass Ihre Regelungen verfassungskonform gewesen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie damals anderer Meinung gewesen sind, Herr Kollege Funke. ({1}) Lassen Sie mich deshalb noch einmal ganz kurz zusammenfassen, was die wesentlichen Verbesserungen sind, die wir vorgenommen haben: Wir haben mit der Neuregelung einen hinreichenden Rechtsschutz für sämtliche Betroffenen sichergestellt. Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs sind in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt worden. Die Ermächtigung lässt erkennen, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten zu einer Überwachung führen kann. Der Normbefehl ist für den Adressaten erkennbar konkret definiert, und die Behörden, an die Überwachungserkenntnisse weiter übermittelt werden dürfen, sind im Text des Gesetzes sicher definiert. Es ist sichergestellt, dass der Übermittlungszweck mit dem ursprünglichen Eingriffszweck wertungsmäßig übereinstimmt. Außerdem haben wir die Regelung geschaffen, dass ein Gericht die Verwertbarkeit der gewonnenen Informationen überprüfen kann. Wir haben die Anforderungen an die gerichtliche Kontrolle wesentlich restriktiver gefasst, als das im alten Recht der Fall gewesen ist. Ich denke, wir können deshalb heute Nachmittag mit gutem Gewissen dieser Neuregelung zustimmen. Wir geben damit den Ermittlungsbehörden das Instrumentarium, das sie brauchen; denn wir wissen, dass Telefonüberwachung kriminologisch eines der ganz wesentlichen Ermittlungsinstrumente ist. Mit der erneut gefundenen Befristung nehmen wir aber auch uns selber in die Pflicht, hier weiterzuarbeiten und weitere Feinarbeit zu leisten, um in diesem sensiblen Bereich der Grundgesetzartikel 1 und 2 - Schutz der Persönlichkeitsrechte und 10 - Post- und Fernmeldegeheimnis - im Ergebnis sattelfeste rechtsstaatliche Lösungen zu finden. Schönen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neurege- lung der präventiven Telekommunikations- und Post- überwachung durch das Zollkriminalamt, Drucksachen 15/3931 und 15/4237. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4416, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordne- ten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau auf Drucksache 15/4448 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Das wird nicht reichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ände- rungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit großer Mehrheit angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz- entwurf ist mit der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages angenommen. Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4435. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen - Drucksache 15/1709 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 15/4417 - Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Strässer Jerzy Montag Vizepräsident Dr. Norbert Lammert b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für ein modernes Biopatentrecht - zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut Heiderich, Dr. Norbert Röttgen, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die europäische Biopatentrichtlinie von 1998 umsetzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrike Flach, Daniel Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtssicherheit für biotechnologische Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatentrichtlinie - Drucksachen 15/2657, 15/1024 ({4}), 15/1219, 15/4417 Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Strässer Jerzy Montag Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen liegt ein Änderungsantrag der FDP-Fraktion vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen vor. Was sich so lapidar anhört, ist eine der wichtigsten Regelungen für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland. Denn wir müssen, um den Lebensstandard unserer Gesellschaft zu sichern, unsere Anstrengungen auf die Märkte der Zukunft konzentrieren. Dazu gehört die Bio- und Gentechnologie. Wir wollen die hier bestehenden Chancen nutzen. Dazu brauchen wir auch ein leistungsfähiges Biopatentrecht. Das hat die Europäische Union erkannt. Sie hat eine Richtlinie verabschiedet, die wir jetzt mit diesem Gesetz umsetzen; zu spät, wie wir alle wissen, das will ich gar nicht beschönigen. Sie war bis zum 30. Juli 2000 in nationales Recht umzusetzen. Darüber hat es im Deutschen Bundestag lange Diskussionen gegeben. Ich bin froh, dass diese Diskussionen jetzt beendet werden konnten und wir damit Rechtstreue gegenüber der Europäischen Union dokumentieren. Der Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, orientiert sich sehr eng an den Vorgaben der Richtlinie. Das hat die Sachverständigenanhörung am 29. September hier im Hause gezeigt. Die große Mehrheit der Sachverständigen hat den Regierungsentwurf in allen streitigen Punkten als richtlinienkonform bestätigt. Im Rechtsausschuss hat der Entwurf jetzt noch eine Änderung erfahren. Dabei geht es um die Einschränkung des absoluten Stoffschutzes für natürliche menschliche Gensequenzen. Diese letztlich ethisch begründete Sonderregel ist meines Erachtens mit den Vorgaben der Richtlinie und des WTO-TRIPS-Abkommens noch vereinbar. ({0}) Die Diskussion um das Biopatentrecht ist mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzes nicht zu Ende. Die grundsätzliche Frage, was aus dem Patentrecht werden soll, wird ebenso wie die mehr spezielle Frage, wie die Situation beim Biopatentrecht ist, seit längerem in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert. Dies ist hinsichtlich der Biopatentrechts nur allzu verständlich; denn schließlich bringt die Biotechnologie neben großen Chancen auch sehr schwierige ethische Fragestellungen mit sich. Auf der einen Seite gibt es große Hoffnungen auf medizinischen Fortschritt. Auf der anderen Seite gibt es die Sorge, dass der Homunkulus irgendwann aus der Flasche kommt und nicht mehr einzufangen ist. Die Widersprüche zu den ethischen Grundwerten unserer Gesellschaft werden also immer wieder deutlich. Ich glaube aber, dass gerade die Skeptiker die Reichweite des Patentrechts in diesem Zusammenhang deutlich überschätzen. Denn Schwerpunkt im Patentrecht ist, dass dem Erfinder ein Schutzrecht für seine schöpferische Leistung gegeben wird, mehr eben aber nicht. Es ist keine Erlaubnis damit verbunden, das Patent zu nutzen und damit in einer bestimmten Art und Weise umgehen zu können. Das Patentrecht regelt nämlich nicht - darauf muss man immer wieder hinweisen -, was Forschern erlaubt und was ihnen verboten ist. Das richtet sich nach den jeweils einschlägigen Fachgesetzen, wie zum Beispiel dem Embryonenschutzgesetz. Die Debatte darüber, was wir eigentlich dürfen, sollte man also sinnvollerweise von der Debatte über die Reichweite eines Patentes abtrennen, weil die Frage, was erforscht werden darf, vorgelagert ist. Die zum Teil sehr emotionale Kritik an der Biopatentrichtlinie ist deshalb weitgehend unberechtigt. Das Schlagwort „Kein Patent auf Leben“ ist zwar griffig, aber irreführend. Denn es gibt kein Patent auf Leben. Patentiert werden vielmehr Ideen des Erfinders, die sich zum Beispiel in einem bestimmten technischen Verfahren oder in einem neuen Stoff niederschlagen. Das Leben selbst ist natürlich sehr viel mehr als eine patentierbare chemische Substanz. ({1}) Die Richtlinie will auch kein neues Patentrecht schaffen. Ihr Ziel war es, das geltende Patentrecht im Bereich der Biotechnologie EU-weit zu harmonisieren und zu verbessern. Sie stellt auch unter dem Blickwinkel der Ethik eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage dar, weil sie die Grenzen der Patentierbarkeit klarer umschreibt. Die Richtlinie weitet das Patentrecht also nicht aus, sondern schränkt es ein, auch und gerade aus ethischen Gründen. Indem die Richtlinie die bestehenden allgemeinen Patentverbote konkretisiert, bringt sie eine zusätzliche bioethische Sensibilität in unser Patentrecht. Ich habe vorhin schon gesagt, dass die Debatte über das Patentrecht mit der Verabschiedung dieses Gesetzes nicht abgeschlossen sein wird. Denn die technischen Entwicklungen auf diesem Gebiet zwingen uns alle, weiter zu diskutieren und die bestehenden Regelungen immer wieder zu überprüfen. Deutschland wird diesen Diskussionsprozess innerhalb der Europäischen Union vorantreiben. Die Richtlinie war, so meinen wir, ein Fortschritt. Aber sie kann nicht der Weisheit letzter Schluss bleiben. Deshalb werden wir die Aufforderung aus dem Antrag der Koalitionsfraktionen, dass sich die Bundesregierung EU-weit für eine Verbesserung einsetzen möge, sehr ernst nehmen. Darauf können Sie sich verlassen. ({2}) Heute geht es aber erst einmal darum, den notwendigen ersten Schritt zu tun und für die Umsetzung der Richtlinie zu sorgen. Solange wir sie nicht umgesetzt und uns damit vertragstreu und europatreu verhalten haben, wird es auch keine Diskussion auf europäischer Ebene über Veränderungen geben. Diese Erfahrung mussten wir schon auf anderen Gebieten machen. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte und der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, drehen sich um den Schutz von Erfindungen auf dem Gebiet der Biotechnologie. Dieses Thema wirft ein ganzes Bündel von grundsätzlichen und bedeutenden Fragestellungen auf. Das ist ein Bündel von moralischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und forschungspolitischen Fragen. Dieser Komplexität müssen wir gerecht werden. Ich glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf den Anforderungen gerecht wird. Es geht insbesondere um die moralische Frage des Schutzes vor Patentierung. Es geht darum, zu regeln, dass der menschliche Körper in all seinen Phasen und in all seinen Teilen nicht patentfähig ist. Dies ist eine im Gesetzentwurf ausdrücklich vorgesehene Regelung. Es geht rechtspolitisch um den Schutz des Eigentums. Es ist ein Fundament unserer Verfassungsordnung bzw. Gesellschaftsordnung, aber auch der grundrechtlichen Entfaltungsfreiheit der Forscher, diesen zu gewährleisten. Bei dem Schutz biotechnologischer Erfindungen geht es forschungspolitisch um den Schutz der Ergebnisse von Forschung, um den Schutz der Möglichkeit der Verwertung durch den Forscher. Es ist eine elementare Basis der Forschung, wenn man dem Forscher sagen kann: Deine Innovation, die du aufgrund persönlichen Einsatzes erzielst, wird am Ende geschützt werden. Das ist eine wesentliche Bedingung für Forschung. Es geht schließlich um die wirtschaftspolitische Bedeutung der Biotechnologie. Das ist ein riesiger Markt. Es geht um den Schutz von Investitionen in Innovationen. Weil sich die Bedeutung dieses Themas so auffächert und schon in jedem Segment beachtlich ist, aber in der Bündelung allemal sehr hoch ist, stimmt Ihre Feststellung, Frau Ministerin, dass es sich um ein ganz grundlegendes, wichtiges Gesetz im Sinne der Freiheit, im Sinne des Schutzes des Menschen und im Sinne der Forschung und der wirtschaftlichen Bedeutung handelt. Daher müssen wir auf die Vorgeschichte dieses Gesetzes eingehen. ({0}) Denn diese Bedeutung fordert von der Politik eine besondere Verantwortung; das kann gar nicht bestritten werden. Wenn die Bedeutung so fundamental ist - das ist ja Konsens; das haben Sie festgestellt; auch ich habe es gerade festgestellt; die Zurufe bestätigen es -, dann bedeutet dies eine besondere Verantwortung der Politik in diesem Bereich. ({1}) - Ich bedanke mich für diesen Zuspruch. Darum müssten Sie meiner weiteren Feststellung zustimmen, nämlich der Schlussfolgerung daraus: dass die Bundesregierung dieser Verantwortung nicht gerecht geworden ist. Das kann gar nicht bestritten werden. ({2}) - Das ist keine Polemik; das ist Logik, Herr Kollege. Denn wenn die Bedeutung so ist, dann hätte es zwingend erfolgen müssen, dass Sie die nötige Umsetzung in den letzten sechs Jahren erreicht hätten. Wenn es so ist, dann hätten Sie nicht einfach den Zeitraum von sechs Jahren verstreichen lassen können, sondern hätten schon seit sechs Jahren die Möglichkeit gehabt, die nötigen Antworten zu geben, die wir heute geben. Sechs Jahre lang haben Sie dies nicht getan; sechs Jahre lang haben Sie die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für Forscher, für Bürger, für Menschen, die sich moralisch für dieses Thema interessieren, nicht hergestellt. Das ist Ihre Verantwortung und Ihr Versagen. Daran besteht kein Zweifel; das kann nicht bestritten werden. ({3}) Es sind nicht nur diese sechs Jahre, in denen Sie der Bedeutung dieses Themas nicht gerecht wurden, ins Land gegangen. Über vier Jahre lang hatte es die Bundesregierung zudem zu verantworten, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Pflichten als Mitgliedstaat der Europäischen Union verletzt hat. ({4}) - Nicht „na, na!“. Das ist der Tatbestand, Herr Kollege. ({5}) Sie können diesen Tatbestand schlicht nicht bestreiten oder Sie ignorieren die Wirklichkeit. Sie verletzen über vier Jahre sehenden Auges die Pflichten, die die Bundesrepublik Deutschland auf einem wichtigen Gebiet, wie wir alle anerkennen, eingegangen ist. Wenn es kein Versagen der Politik ist, wenn man pflichtwidrig handelt, dann weiß ich nicht, was noch als Versagen der Politik bezeichnet werden kann. ({6}) Frau Justizministerin, was sollen eigentlich die Bürger denken, von denen der Staat Rechtsgehorsam erwartet? Ordnungswidrigkeiten werden belangt. Wenn sich der Bürger rechtswidrig verhält, führt dies zu Sanktionen. Das Wesen des Staates ist es, dass er Recht kreiert und Recht durchsetzt. Der Staat verstrickt sich in einen immensen Widerspruch, wenn er selber die von ihm übernommenen Rechtspflichten zum Schaden der Bürger und zu seinem eigenen Schaden verletzt. Es torpediert die Glaubwürdigkeit des Staates, wenn er die Pflichten, die er selber eingeht, anschließend nicht erfüllt. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen, meine Damen und Herren. ({7}) Sie haben jahrelang Ihre Pflichten verletzt, aber nicht wegen der Komplexität des Themas oder wegen der Richtlinie, sondern einzig und allein wegen der Uneinigkeit in der Koalition, die zum Schaden des Landes nicht in der Lage war, diese Anforderung umzusetzen. Sie nehmen sozusagen das Land und die Interessen der Bürger als Geisel Ihrer politischen Uneinigkeit. ({8}) Sie haben moralisch verwerflich gehandelt. ({9}) Nach Jahren der Untätigkeit - wir haben gerade Aktivitätsankündigungen gehört - kam dann endlich der Entwurf aus dem Bundesjustizministerium. ({10}) Was war sein Inhalt? Frau Zypries, die Bundesjustizministerin, hat die Richtlinie einfach abgeschrieben. Jahrelang passiert gar nichts; die Bundesrepublik wird vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Was macht die Ministerin? Sie schreibt einfach die Richtlinie ab. Es ist eine wahnsinnig kreative, führungsstarke Leistung, die Richtlinie schlicht abzuschreiben. Was hätte die Umsetzung einer solchen Regelung bewirkt? Sie hätte erneut die politische Schwäche der Koalition dokumentiert. Alle wichtigen Fragen wären offen geblieben. Nicht eine einzige Frage - jedenfalls nicht die Kernfragen, die sich auf diesem Gebiet stellen - wäre durch Ihre Eins-zu-eins-Umsetzung beantwortet worden; alles wäre offen geblieben. Dies hätte bedeutet, dass über Jahre hinaus Rechtsunsicherheit bestanden hätte, die von Ihnen zu verantworten gewesen wäre. So haben Sie es gewollt. ({11}) Außerdem wäre dies eine Verlagerung der Entscheidungshoheit gewesen. Es stellt sich doch die Frage, wer eigentlich über die moralischen, die wirtschafts- und forschungsrechtspolitischen Fragen entscheidet. ({12}) Wir waren immer der Auffassung, dass hierüber die Politik, der Deutsche Bundestag als Repräsentant des deutschen Volkes entscheiden muss. Das ist völlig richtig. Wenn es aber nach dem Entwurf von Frau Zypries gegangen wäre, hätten wir hier gar nichts entschieden; stattdessen hätten die Gerichte entschieden. Das ist der falsche Ort für politische Entscheidungen. Darum hat unser Antrag dies thematisiert und kritisiert. Nun ist es endlich so weit: Der Gesetzentwurf liegt vor. Wir haben ihn verändert. Er ist nicht inhaltsgleich mit dem Entwurf, den die Bundesjustizministerin eingebracht hat. Er hat im Parlament substanzielle Veränderungen erfahren; ({13}) dies begrüßen wir. Deshalb sind wir da; auch das begrüße ich. Der Gesetzentwurf beinhaltet nun nach jahrelangen Verzögerungen und jahrelanger Untätigkeit in seinen entscheidenden Teilen die Aspekte, die wir als CDU/CSU immer befürwortet und gefordert haben. ({14}) Auch andere, auch die Grünen haben sich für Veränderungen eingesetzt. Wir waren diesbezüglich immer einer Meinung. Bei der SPD war es nicht so klar erkennbar. Die Bundesregierung jedenfalls hat eine völlig andere Position. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der inhaltlich dem entspricht, was wir immer gefordert haben. Wir hätten das Gleiche schon Jahre früher haben können; das wäre zum Vorteil unseres Landes gewesen. Es handelt sich also gewissermaßen formal um einen Gesetzentwurf der Bundesregierung. Inhaltlich ist es der Gesetzentwurf von CDU/CSU und auch von Teilen der Grünen, ({15}) die ermöglicht haben, dass es zu diesem Entwurf gekommen ist. Das ist überhaupt keine Frage. Noch in der letzten Woche hat es an einer ganz entscheidenden Stelle eine substanzielle Veränderung gegeben. Frau Zypries hat es eben auch selber gesagt. Sie war dafür, einen uneingeschränkten Patentschutz einzuräumen, so wie das bei Chemikalien, bei Stoffpatenten anderer Art, bei physikalischen Patenten der Fall ist. Damit wäre der Besonderheit des menschlichen Genoms eben nicht Rechnung getragen worden. Es ist übereinstimmende Auffassung, dass wir gerade im Hinblick auf die Reichweite des Patentschutzes den Besonderheiten des menschlichen Genoms Rechnung tragen müssen, indem wir den Patentschutz darauf beschränken, was Gegenstand der Erfindung ist. Eine Überbelohnung muss sowohl aus Erwägungen hinsichtlich der Gerechtigkeit als auch aus forschungspolitischen Erwägungen unterbleiben. Das hätte der Entwurf der Regierung nicht gewährleistet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende, weil ich die wesentlichen Punkte vorgetragen habe.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, weil Ihre Redezeit zu Ende ist.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dass wir jetzt einen guten Gesetzentwurf haben, ist dem Parlament zu danken. Das ist eine Leistung des Parlaments, die es in überfraktioneller Arbeit vollbracht hat. Die Bundesregierung hat auf diesem entscheidenden Gebiet versagt; insofern ist es gut, dass es das Parlament gibt, das an dieser Stelle korrigiert hat. Dazu gratuliere ich uns. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jenseits des wortreichen Lamentos von Norbert Röttgen stelle ich fest: Die CDU/CSU-Fraktion stimmt unserem Gesetzentwurf zu und das ist gut so. ({0}) Wir reden heute über eine EU-Richtlinie, die schon zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung, im Jahre 1998, nicht mehr auf der Höhe der Zeit war und die es heute erst recht nicht mehr ist: die Biopatentrichtlinie. Durch sie werden Stoffpatente auf Gene oder Gensequenzen gewährt. Dabei wird von einem Stoffbegriff ausgegangen, der dem Chemikalienrecht entlehnt ist. Aber mittlerweile wissen wir, dass Gene nicht nur Stoffe sind, sondern dass sie auch Informationsträger innerhalb eines äußerst komplexen Wirkungsgefüges sind, ({1}) weshalb der Primitivindikator Stoffpatent einfach nicht mehr angemessen ist. ({2}) An der Stoffpatentierung von Genen wird umfassende gesellschaftliche Kritik geäußert, die sich aus den verschiedensten Quellen speist. Da gibt es zum einen den sehr fundamentalen ethischen Kritikpunkt, dass es grundsätzlich keine Patente auf Leben geben darf und dass es sich bei einem Genom um ein gemeinsames Erbe der Menschheit handelt, das allen gehört und deshalb nicht privatisiert werden darf. Diese Position ist in der Vergangenheit vor allen Dingen von den Kirchen, aber auch von Organisationen wie „Kein Patent auf Leben“ oder „Greenpeace“ vertreten worden. Wir finden: zu Recht. ({3}) Da ist zum anderen die Sorge, dass es zu Biomonopolen kommt und dass dadurch große Konzerne ihre Preise für Medikamente, Therapien oder pflanzliches Saatgut in die Höhe treiben könnten. Dieser Kritikpunkt ist immer wieder von den Krankenkassen, der Bundesärztekammer oder dem Bauernverband vorgetragen worden. Wir finden: zu Recht. ({4}) Da ist die Sorge, dass sich großzügige Stoffpatente auf Gene forschungsfeindlich auswirken könnten, weil sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon abhalten, an bereits patentierten Genen zu forschen. Diese Position hat übrigens auch einmal die Deutsche Forschungsgemeinschaft vertreten. Jetzt hat sie sie allerdings gemeinsam mit dem VCI verändert. Ich jedenfalls glaube, dass auch diese Sorge, die von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgetragen wird, nachvollziehbar ist. ({5}) Last but not least wird darauf hingewiesen, dass eine zu großzügige und zu umfassende Biopatentierung im Nord-Süd-Verhältnis zu dem führen könnte, was man gemeinhin als Biopiraterie bezeichnet: dass sich große Konzerne die genetische Vielfalt in den Entwicklungsländern aneignen könnten. Diese verschiedenen Quellen der Kritik können wir nachvollziehen. Viele dieser Kritikpunkte teilen wir. Deswegen haben wir immer für eine Doppelstrategie plädiert: Auf der einen Seite soll die unvermeidliche Umsetzung der Biopatentrichtlinie in nationales Recht - die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass wir natürlich EU-rechtstreu sind - unter Ausschöpfung vorhandener Handlungsspielräume erfolgen. Auf der anderen Seite setzen wir uns dafür ein, dass die Biopatentrichtlinie in Brüssel überarbeitet wird mit dem Ziel, dass sie auf der Höhe der Zeit ist; denn sie ist und bleibt das eigentliche Problem. Im Rahmen unserer nationalen Gesetzgebung können wir den Sinn und Charakter der EUPatentrichtlinie, wie sie heute ausgestaltet ist - ich sage: leider -, nicht außer Kraft setzen. Ziel muss es sein, ein EU-weit einheitliches Biopatentrecht zu schaffen, das - darauf hat Kollege Röttgen zu Recht hingewiesen - Erfindungen belohnt und Überprivilegierungen ausschließt ({6}) - in diesem Spannungsfeld bewegen wir uns -, das für ein fairen Interessenausgleich sorgt und sicherstellt, dass die internationalen Verträge zur biologischen Vielfalt und zur biologischen Sicherheit umgesetzt werden. Deswegen behandeln wir heute zweierlei: zum einen unseren Gesetzentwurf, den wir - darauf komme ich gleich noch kurz zu sprechen - unter Ausschöpfung unserer Handlungsmöglichkeiten gestaltet haben, zum anderen unseren Antrag, in dem wir die Bundesregierung auffordern, sich in Brüssel dafür einzusetzen, dass die Biopatentrichtlinie den Erfordernissen unserer Zeit angepasst wird. Wir wissen natürlich, dass die Kommission das alleinige Initiativrecht hat. Aber ich glaube: Wenn insgesamt fünf Mitgliedstaaten die Möglichkeit ergreifen, ihre Gestaltungsspielräume auszuschöpfen, dann signalisiert das der Kommission, dass es hier Veränderungsbedarf gibt. Nun zu unserem Gesetzentwurf. Was uns sehr wichtig ist und in der Tat keine Eins-zu-eins-Umsetzung darstellt, ist Folgendes: Wir haben in § 1 des Gesetzentwurfs geschrieben, dass der Stoffschutz auf menschliche Gene deutlich eingeschränkt wird. Das war eine gemeinsame Position von vielen Kolleginnen und Kollegen. Es ist in der Tat gut, dass diese Formulierung in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Im Begründungsteil des Gesetzentwurfes stellen wir klar, dass wir davon ausgehen, dass es in Zukunft auch bei tierischen und pflanzlichen Genen keinen umfassenden Stoffschutz mehr gibt, weil die bloße Sequenzierung mithilfe von Maschinen bzw. Technik keine erfinderische Leistung mehr ist. Wo ist das Erfinderische daran? Wir haben im Gesetzentwurf noch einmal klargestellt, dass Keimzellen grundsätzlich nicht patentierungsfähig sind. Wir haben in den Ausschussberatungen präzisiert, dass auch biologische Verfahren nicht patentierbar sind. Wir haben für die Landwirtschaft Regelungen zum Züchterprivileg und zum Sortenschutz getroffen. Wir haben in dem Gesetzentwurf auch einen Herkunftsnachweis vorgesehen - auch das ist durch die ursprüngliche Richtlinie nicht vorgegeben -: Wenn bekannt ist, woher das biologische Material kommt, dann muss dies bekannt gegeben werden. Wir wollen, dass der Herkunftsnachweis eines Tages zwingend wird, damit es nicht zu Biopiraterie kommt. Mit dem Antrag, von dem ich bereits sprach, fordern wir die Bundesregierung auf, sich entsprechend einzusetzen. Ich weise abschließend noch einmal darauf hin: Das, was wir hier machen, ist keineswegs - wie wir von der FDP wahrscheinlich gleich wieder hören werden - ein nationaler Alleingang: Wir sind nach Spanien, Italien, Portugal und Frankreich das fünfte Land, das Einschränkungen beim Stoffpatent vornimmt; das muss die Kommission zur Kenntnis nehmen. Übrigens setzt auch die Schweiz, die dem Europäischen Patentübereinkommen angehört, obwohl sie nicht Mitglied der Europäischen Union ist, diese Richtlinie ganz ähnlich um wie wir. Wir brauchen ein Biopatentrecht, das den Erfordernissen unserer Zeit gerecht wird und das vor allen Dingen ethisch verantwortbar ist. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist kaum zu glauben: Über vier Jahre, nachdem die Frist zur Umsetzung der Biopatentrichtlinie abgelaufen ist, wird der Bundestag heute die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht beschließen. ({0}) - Wunder dauern etwas länger. - Erst Ende Oktober dieses Jahres hat der Europäische Gerichtshof Deutschland wegen der Nichtumsetzung der Richtlinie verurteilt; der Bundesregierung wurden hohe Strafen angedroht. Der Spruch der Richter hat Wirkung gezeigt. Dass die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht endlich gelingt, müsste eigentlich ein Grund zur Freude sein. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist das leider nicht der Fall. ({1}) Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung im vergangenen Jahr vorgelegt hat, sah eine Eins-zu-einsUmsetzung der Richtlinie vor. Eine Eins-zu-einsUmsetzung bedeutet die Erteilung eines Stoffpatentes auf die DNA-Sequenz ohne Beschränkung auf die konkrete Anwendung. Dessen ungeachtet hat sich die Koalition in den letzten Wochen auf eine Einschränkung beim Stoffschutz geeinigt. Nun soll der Stoffschutz auf die im Patentanspruch beschriebene konkrete Anwendung beschränkt werden. Leider konnten Sie, Frau Ministerin, sich mit Ihren ersten Vorstellungen in der Koalition nicht durchsetzen. Die allgemeine Meinung der Fachjuristen und Patentrechtler trat leider in den Hintergrund. Dies ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sehr bedauerlich. ({2}) Die Anhörung, die der Rechtsausschuss im September zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung durchführte, ergab ein eindeutiges Bild: Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen hat sich für eine Eins-zu-eins-Umsetzung ausgesprochen. Die Entscheidung der Koalition wird erhebliche Auswirkungen auf den Forschungsstandort Deutschland haben. Insgesamt hat Rot-Grün im Jahr der Innovation eine erschreckende Bilanz: ({3}) In der Stammzellenforschung, in der Grünen Gentechnik und jetzt auch im Bereich der biotechnologischen Erfindungen entwickelt sich Deutschland immer mehr zum Schlusslicht in Europa. ({4}) - Dann sprechen Sie einmal mit Vertretern der Forschung und mit denjenigen, die in Deutschland wirtschaftlich arbeiten müssen. - Die hoch entwickelte deutsche Volkswirtschaft, meine Damen und Herren insbesondere von den Sozialdemokraten, ist auf ständige Innovation angewiesen. ({5}) Dazu stimmen die gesetzlichen Rahmenbedingungen leider nicht mehr. Gerade für die Vertreter von kleinen, mittelständischen Unternehmen und so genannten Start-ups wird der Kompromiss der Koalition erhebliche Konsequenzen haben. Ein umfassend gesichertes Patent auf ihr geistiges Eigentum ist oft ihr einziges Kapital, mit dem sie auf dem Markt bestehen können. Es ist daher falsch, zu behaupten, ein umfassender Patentschutz schütze einseitig die Interessen großer Konzerne. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es - ich zitiere -: Dieser „absolute“ Stoffschutz ist notwendig, nicht zuletzt im Interesse eines effektiven Innovationsschutzes. Dies soll nun aber nicht mehr gelten. Es entspricht bereits heute der internationalen Rechtspraxis, dass der Stoffschutz im Biotechnologiebereich umfassend gewährleistet wird. Diese Aussage ist dem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Rechtssicherheit für biotechnologische Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatentrichtlinie“ wortwörtlich zu entnehmen. Das Europäische Patentamt orientiert sich seit Jahren eng an der Richtlinie. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es weiter: Ziel der Richtlinie sei es, gemeinschaftsweit harmonisierte Regelungen für die Patentierung von Innovationen auf dem Gebiet der belebten Natur festzuschreiben. - Das Gegenteil wird nun erreicht. Deutschland wird mit der eingeschränkten Umsetzung der Richtlinie hinter internationalen Standards zurückbleiben. Die von den Kritikern gegen eine Eins-zu-eins-Umsetzung vorgebrachten Argumente sind leicht zu widerlegen. So wird beispielsweise der gefürchteten Monopolbildung durch die Möglichkeit der Vergabe von Zwangslizenzen und durch das TRIPS-Übereinkommen der WTO ausreichend entgegengewirkt. Gerade die Vertreter der Rechtsprechung betonen, dass marktbeherrschende Patentinhaber dem Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 20 GWB unterliegen. Auch der immer wieder geäußerten Gefahr von Überbelohnungen kann begegnet werden. Insbesondere dann, wenn die erfinderische Leistung in der bloßen Zurverfügungstellung einer Sequenz mit einer bestimmten Funktion liegt, muss der Schutz auf die Funktion begrenzt werden. In der Anhörung wurde deutlich, dass der Rechtsprechung ausreichende gesetzliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um eine Überprivilegierung von Patentinhabern zu vermeiden. So sehr die FDP die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht auch begrüßt: Den zögerlichen und halbherzigen Weg, den Rot-Grün dafür wählt, lehnen wir ab. Er ist inkonsequent, patentrechtlich völlig verfehlt und ein weiteres Armutszeugnis für die Kompetenz der Bundesregierung im Bereich von Wissenschaft und Forschung. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPDFraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich 1999 das erste Mal in Berührung mit der Biopatentrichtlinie kam - ich war erst seit einigen Monaten Mitglied des Bundestages -, war ich als Biologe doch sehr erstaunt, dass man Gene erfinden kann und dass das patentierbar ist. Bis dahin war ich davon ausgegangen, dass sie im Menschen vorhanden sind und höchstens entdeckt werden können. Es stellte sich mir die Frage, ob man sie erfinden und ein Patent dafür erhalten kann. ({0}) Ich habe mich von den Juristen schnell belehren lassen, dass es relativ üblich und auch Bestandteil der Rechtsprechung ist, Naturstoffe patentieren lassen zu können, wenn sie aus der Natur isoliert werden. Diesen Lernprozess habe ich hinter mir. Auf der anderen Seite haben die Naturwissenschaftler und Mediziner, die an der Diskussion beteiligt waren, den Juristen mitunter erklären müssen, dass menschliche Gene, also das menschliche Erbgut, keine normalen Naturstoffe sind und dass sie eben nicht ohne weiteres patentiert werden können, wie das zum Beispiel in der Richtlinie der Europäischen Union steht. ({1}) Es war ein sehr interessanter und langer Diskussionsprozess. Ich glaube, alle Seiten haben dazugelernt. Dieser Prozess war auch notwendig. Das Problem der Richtlinie, die 1998 verabschiedet worden ist und eigentlich schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Technik war - Reinhard Loske hat es gesagt -, war nämlich, dass man ein Gen, welches man mit einer Funktion beschrieb, für alle Anwendungen und Funktionen, die mit diesem Gen zusammenhingen, patentieren lassen konnte. Das heißt, jemandem, der ein Gen patentieren ließ, wurden gleichzeitig auch alle Anwendungen und Funktionen geschützt. Dabei war es egal, ob er sie genannt oder nicht genannt hat und ob er sie gekannt bzw. geahnt hat oder nicht. Das kann aus unserer Sicht nicht richtig sein, weil es nicht zur Leistung desjenigen gehört, der das Patent erhält, ({2}) und weil es alle anderen, die andere Funktionen dieses einen Gens untersuchen, in ihrer Forschung stört und behindert, wodurch Probleme für sie geschaffen werden. Das ist das Kernproblem dieser Richtlinie, über das wir in der letzten Legislaturperiode nicht nur in der rotgrünen Koalition und in der Enquete-Kommission, sondern auch mit vielen Verbänden außerhalb des Parlamentes sehr intensiv diskutiert haben: mit den Kirchen, die das sehr kritisch sahen und sehen, mit Misereor, mit den Forschern, die daran beteiligt waren und sind, mit Greenpeace, mit Krankenkassen und mit den Krankenhausverbänden. Diese sagen: Wenn ihr diesen umfassenden Stoffschutz erteilt, dann, so befürchten wir, werden Monopole dazu führen, dass zum Beispiel Medikamente, Therapie- und Diagnostikverfahren viel teurer werden. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass sich zum Beispiel die Kosten für eine Brustkrebsuntersuchung wegen der Patentproblematik verdreifacht haben. Wir haben fünf Jahre lang sehr intensiv diskutiert. Ich glaube, es war eine sinnvolle und notwendige Diskussion, ({3}) an deren Ende ein guter Kompromiss steht. Er ist nicht das, was ich für nötig erachte, aber es ist mehr, als ich noch vor Wochen und Monaten für möglich gehalten habe. Schließlich müssen wir berücksichtigen, was wir in nationales Recht umsetzen können und was uns die europäische Richtlinie vorschreibt. Insofern ist es ein guter Kompromiss, weil wir den Stoffschutz beschränken. Es soll nur noch das patentiert werden können, was als Anwendung genannt wird, nicht mehr das, was nicht genannt worden ist. Wir haben in Deutschland das Machbare getan. Deutschland setzt die Richtlinie kritisch um. Damit geben wir ein Signal nach Europa. Das ist wichtig; denn das ist die Ebene, auf der nachträglich in Verhandlungen eine Änderung erzielt werden kann. Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Bemerkungen an Herrn Röttgen und an die FDP richten. Herr Röttgen, wenn Sie die Protokolle der letzten Jahre wirklich genau durchschauen, werden Sie Folgendes feststellen: Wenn wir so gehandelt hätten, wie es die CDU/CSU immer gefordert hat, nämlich die Richtlinie schnell eins zu eins umzusetzen ({4}) - schauen Sie bitte in die Protokolle, auch wenn es eine löbliche Ausnahme in der Enquete-Kommission gab -, dann hätten wir heute in unserem Gesetzentwurf nicht die vernünftige und sinnvolle Formulierung, die von vielen mitgetragen wird. An die FDP gewandt: Sie haben gesagt, wir hätten fünf Jahre gebraucht, um eine juristisch einwandfreie Formulierung zu finden. Ich frage mich, warum Sie fünf Jahre lang nichts anderes gemacht haben, als eine Einszu-eins-Umsetzung zu fordern. Es war daher erstaunlich, dass Sie am letzten Mittwoch vor der Ausschusssitzung einen Formulierungsvorschlag zu einem Teilpunkt gemacht haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überschritten.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben lange genug Zeit gehabt. Wir haben eine vernünftige Lösung gefunden. Deutschland hat seine Aufgaben gemacht. Jetzt ist wieder Europa an der Reihe. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Helmut Heiderich, CDU/ CSU-Fraktion.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Endlich haben sich die Fraktionen von SPD und Grünen nach jahrelangen Streitereien auf die Verabschiedung der so genannten Biopatentrichtlinie geeinigt. Die Behauptung von Kollegen Röspel, dies sei die Leistung der Koalition, geht völlig fehl. Sie als Regierung haben bis vor zwei Wochen jahrelang auf der Eins-zu-eins-Umsetzung bestanden. In der Koalition haben Sie sich ständig gestritten, weil Sie immer wieder den falschen Ratgebern Ihr Ohr geliehen haben. Herr Kollege Röspel, spätestens seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von 2001 aufgrund der Klage von Italien und den Niederlanden war doch völlig klar, dass am Ende der Debatte nichts anderes als ein Stoffpatent stehen würde. Dass Sie sich diesmal am Schluss nicht wie am vergangenen Freitag bei der Verabschiedung des Gentechnikgesetzes den emotionalen Ratgebern angeschlossen haben, ist gut für unser Land. Aber deswegen sollten Sie sich nun nicht zum Erfinder dieser Lösung machen. ({1}) Sie haben nur das vollzogen, was Ihnen andere vor anderthalb Jahren vorgelegt haben. ({2}) Meine verehrten Kollegen von Rot-Grün, wir haben in unserem Antrag sehr genau beschrieben - das können Sie dort nachlesen -, welche Lösung wir vorschlagen. Wir haben diese Lösung schon vor anderthalb Jahren hier im Parlament präsentiert. Ich will sie einmal schlagwortartig darstellen. Wir haben gesagt - das ist auch unsere jetzige Auffassung -: Stoffschutz: ja; Überbelohnung: nein. Diese Lösung bedeutet, dass Forscher und Unternehmer einen unanfechtbaren Patentschutz für ihre Erfindungen brauchen. Das ist einfach unumgänglich, weil nur so - das wissen Sie genauso wie wir - die hohen Investitionskosten für eine Produktentwicklung gesichert werden können. ({3}) Wenn heute für die Entwicklung eines einzigen Medikaments 500 Millionen Euro benötigt werden, dann ist der volle Patentschutz dafür eine zwingende Voraussetzung. Verfahrenspatente oder ähnliche Vorschläge, die Sie jahrelang präsentiert haben, reichen nicht, weil sonst kein Investor mehr das Entwicklungsrisiko eingehen wird. Damit widerlegt sich auch das Argument, das eben wieder genannt worden ist, durch Patentierung würden Medikamente teurer, verehrter Kollege Loske. Vielmehr ist der Umkehrschluss richtig: Ohne eine verlässliche Patentierung würden moderne Medikamente erst gar nicht entwickelt und damit den Patienten zu deren Heilung auch nicht zur Verfügung stehen. In Deutschland haben wir heute bereits immerhin mehr als 100 Produkte aus gentechnischer Herstellung. Also brauchen wir die Patentierung und sollten nicht ständig so tun, als wäre dieses Problem anderweitig lösbar. ({4}) Andererseits, Herr Kollege Tauss, ist der Wissensstand über das menschliche Genom heute ein anderer als 1998. Damals hätte sich sicherlich niemand träumen lassen, dass unsere persönliche genetische Ausstattung inzwischen auf drei Stellen hinter dem Komma genau, also zu 99,999 Prozent, entschlüsselt ist und dass von den ursprünglich einmal perspektivisch genannten 100 000 Genen, die man dem Menschen sozusagen als Krönung der Schöpfung zurechnete, gerade einmal 22 000 übrig geblieben sind. Das aber heißt doch gerade, dass humane Gene nicht eindimensional, wie man damals glaubte, sondern mehrdimensional oder multifunktional sind. Wenn also mehrere Erfindungen auf demselben Gen möglich sind, wäre es eine Überbelohnung, dem Ersterfinder gleich das gesamte Gen für seinen Patentanspruch zu sichern. ({5}) Deswegen haben wir als CDU/CSU schon vor anderthalb Jahren in unserem Antrag vorgeschlagen, die Reichweite eines Patents zu begrenzen und diese Reichweite konkret auf den Umfang festzulegen, den der Erfinder funktionell und gewerblich nachgewiesen sowie in seiner Patentschrift beschrieben hat. ({6}) Das ist ganz konkret der Inhalt unseres Antrags und der liegt diesem Hause immerhin seit anderthalb Jahren vor. Wenn Sie sich etwas mehr beeilt und sich diesem Vorschlag angeschlossen hätten, wäre die Verabschiedung des Biopatentrechtes schon über die Bühne gegangen. ({7}) - Herr Kollege Loske, ich kann verstehen, wenn es Ihnen etwas Mühe macht, unserer vorauseilenden Arbeit zu folgen, aber dass diese Arbeit richtig und gut war, sollten Sie anerkennen. Das wäre das Mindeste, was Sie tun können. ({8}) Erlauben Sie mir, an dieser Stelle zu den Einwendungen der FDP Stellung zu nehmen, die Forschung würde dadurch behindert. ({9}) Ich glaube, genau das Gegenteil ist der Fall. Würden wir die zu weit gehenden Ansprüche zulassen, die als so genannte Vorratspatente oder auch strategische Patente bezeichnet werden, dann wäre doch kaum noch ein Wissenschaftler oder Unternehmer bereit, in dem schon abgesteckten Claim noch initiativ zu werden und dort forschend weiterzuarbeiten. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wodarg?

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Heiderich, ich habe eine Frage. Sie haben davon gesprochen, dass Gene multifunktional seien und dass die gefundene Regelung deshalb gut sei. Wir haben hier immer über das menschliche Genom gesprochen. Können Sie mir darin zustimmen, dass auch pflanzliche Gene multifunktional sind? Welche Konsequenz sollte man Ihrer Meinung nach daraus ziehen?

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum einen kann ich Ihnen an dieser Stelle nicht voll zustimmen, weil die Forschung auf diesem Gebiet noch nicht so weit ist. ({0}) Zum anderen - das ist vorhin schon gesagt worden ist es auch aus ethischer Sicht ein Unterschied, ob man über das menschliche Genom oder über das Genom einer Pflanze spricht. ({1}) Wir haben immer gesagt - das können Sie auch in unserem Antrag nachlesen -, dass wir aus dieser ethischen Überlegung heraus der Auffassung sind, dass wir die Reichweitenbeschränkung beim menschlichen Genom vertreten können, nicht aber bei Pflanzen und in anderen Bereichen. Dem entsprechend sieht auch unser Vorschlag aus. Dass Sie ihm gefolgt sind, zeigt, dass Sie letztendlich zu denselben Erkenntnissen gekommen sind. ({2}) Die „FAZ“ hat kürzlich sehr anschaulich eine Analogie mit der Goldgräberzeit hergestellt: Findet jemand eine Goldader und kann deren Existenz nachweisen, so soll er für deren Umfeld ein Schutzrecht erhalten, aber nicht gleich einen Anspruch auf eine ganze Region oder gar ein ganzes Land. Ich glaube, dieses Beispiel macht deutlich, worum es bei der Begrenzung der Reichweite geht. Ich glaube, sie behindert die Forschung nicht. Sie gibt im Gegenteil den Anreiz, auch die noch unerforschten Gebiete unverzüglich in Angriff zu nehmen und dort weiter zu forschen. Meine Damen und Herren, wir haben eben schon gesagt: Wir freuen uns, dass wir zu dieser gemeinsamen Lösung gekommen sind. Wir hätten sie längst haben können, wenn Sie uns früher gefolgt wären. Wir wollen aber noch einmal deutlich machen - das hat Herr Wodarg angesprochen -, dass mit der heutigen Entscheidung zum ersten Mal ethisch-moralische Grundsätze ins Patentrecht aufgenommen werden, das eigentlich ein reines Wirtschaftsrecht ist; das sollte man nicht übersehen. Vorschriften etwa zum Schutz von Embryonen und zum Schutz der menschlichen Identität werden nun konkret im Patentrecht verankert. Das ist, glaube ich, ein ganz wesentlicher Fortschritt gegenüber dem, was wir bisher im Patentrecht hatten. Dieses Ergebnis hätte es durchaus verdient, dass wir schneller zu ihm gekommen wären. Dass die Patentrichtlinie auf europäischer Ebene fortentwickelt werden muss, ist selbstverständlich. Die Wissenschaft schreitet fort. Es gibt völlig neue Gebiete der Wissenschaft. Ich denke hier nur an die Stammzellforschung, an davon abgeleitete Therapien und an spätere Medikamente. Auch diese Fragen sind in der Patentrichtlinie noch nicht enthalten, weil man 1998 daran überhaupt noch nicht denken konnte. Um noch einmal auf die Pflanzen zurückzukommen: Letztlich ist eine klare Regelung zum Vorrang des Sortenschutzes in dieser Richtlinie verankert. Auch das ist ein entscheidender Fortschritt. Meine sehr veehrten Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis - einerseits ein eindeutiger Schutz für den Erfinder, andererseits eine ebenso eindeutige Begrenzung der Reichweite des Patents beim menschlichen Genom ist eine gute, nach unserer Auffassung die beste Lösung für die Zukunft des Biotechnologiestandortes Deutschlands. Deswegen werden wir dem, was wir Ihnen schon lange vorgelegt haben und worauf wir uns jetzt einigen, natürlich gerne zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer, SPDFraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den vielfältigen unterschiedlichen Einschätzungen zum Geburtsrecht an diesem Gesetzentwurf möchte ich nur an eine Geburtswehe erinnern, die nicht von der rot-grünen Koalition und dieser Bundesregierung verursacht wurde, sondern in Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Die Zustimmung zur und die Erwirkung der Biopatentrichtlinie im Jahre 1998 - nach einer zehnjährigen Diskussion, ({0}) zu einem Zeitpunkt, als diese, wie Kollege Loske richtig gesagt hat, schon überhaupt nicht mehr in Übereinstimmung mit den konkreten Entwicklungen in der Technik sowie in der ethischen, rechtlichen und patentrechtlichen Forschung zu bringen war - war der eigentliche Geburtsfehler, ({1}) mit dem wir jetzt über Jahre zu tun hatten. Das war ein Ereignis Ihrer Regierungstätigkeit. Ich möchte das, wenn wir über Urheberschaft reden, noch einmal deutlich erwähnen. ({2}) Das Zweite sage ich in Richtung FDP. Ich glaube, hier wird einfach ignoriert, was wir in unseren Diskussionen in den letzten fünf, sechs Jahren nachvollzogen haben und was jetzt - ich sage: endlich - in einen konkreten Gesetzentwurf mündet. ({3}) Es geht nämlich um die Frage, wie das Patentrecht und insbesondere das europäische Patentrecht auszugestalten und zu organisieren ist. Sie haben über die Anhörung geredet. Sie müssten die Mehrheit der Sachverständigen, die dort geredet haben, so wie wir verstanden haben: ({4}) In der aktuellen Patentrechtspraxis ist es ohnehin ausgesprochen selten, dass noch Stoffschutz gewährt wird. Das gilt für Stoffe aller Art, aber insbesondere für biotechnologische Erfindungen. Das haben sowohl die Richter des Patentrechts und die Patentanwälte als auch der anwesende BGH-Richter sehr deutlich bestätigt. Wir vollziehen nach, was in der patentrechtlichen Praxis seit langem üblich ist. Deshalb ist es völlig falsch, zu sagen, wir machten hier ein neues Patentrecht und schränkten Patente ein. Vielmehr schaffen wir eine konsequente und rechtsstaatlich saubere Lösung für die Gerichte, die hier schon anders entscheiden, als es nach dem deutschen Patentrecht möglich ist. Deshalb ist das eine gute Regelung. ({5}) Lassen Sie mich dazu eine Ergänzung machen. Ich denke, dass man die Positionen an dieser Stelle wirklich klarstellen muss. ({6}) Ich will die Frage der Entwicklung und der Beschreibung von Funktionen natürlicher und menschlicher Gene nicht wiederholen. Die zentrale Frage ist, wie der Stoffschutz organisiert werden soll. Konkrete Formulierungen haben Sie übrigens nicht vorgelegt. Es ist zwar schön, Entschließungsanträge zu schreiben; aber als es ans Eingemachte ging - das gilt auch für die erste Lesung -, haben Sie sich nicht wirklich an dieser Diskussion beteiligt. ({7}) Sie vergießen jetzt Krokodilstränen. Das, was wir gemacht haben, ist das konkrete Ergebnis einer ganz konkreten Politik. Darüber sollten wir uns jetzt streiten. ({8}) - Auf dem Markt sind Sie; das ist richtig. Die Frage ist nur, wessen Interessen Sie vertreten. Das müssen wir nicht weiter thematisieren. Das ist ganz klar. Es gibt einen Punkt, über den wir uns in Zukunft streiten werden und streiten müssen - deshalb ist auch Ihre Kritik leider nicht berechtigt -, den wir hier nicht regeln konnten, den wir aber regeln müssen. Es geht um die Frage des Nebeneinanders von Patenten, die nach deutschem Patentrecht beantragt werden, und den Patenten, die beim Europäischen Patentamt über das EPÜ beantragt werden. Wenn Sie sich die Statistiken anschauen, dann wissen Sie, dass ein Großteil der Patente, um die es auch hier geht, über das EPÜ beantragt wird. Diese Patente erfassen wir gegenwärtig mit dem deutschen Patentrecht nicht. Das war der Konfliktpunkt, über den wir uns in den letzten Tagen, Wochen und Monaten sehr intensiv Gedanken gemacht haben. Ich finde es vernünftig und richtig, dass wir diese Diskussion zum Anlass nehmen, auch an die Fragen des europäischen Patentrechts und des europäischen Patentschutzes heranzugehen; denn es kann nicht sein, dass durch das EPÜ rechtliche Normen zur Disposition gestellt werden und es niemanden gibt, der über die Einhaltung dieser Normen wacht. Das gilt auch für den EuGH. Vielmehr betreibt das Europäische Patentamt seine eigene Politik. Wenn es Ergebnis dieser Diskussion ist, an diese Fragen heranzugehen, dann haben wir auch für das Patentrecht und für die Entwicklung des Patentrechts einiges getan. Darüber werden wir sicherlich in den nächsten Wochen und Monaten noch weiter diskutieren. Ich glaube, wir haben ein gutes Gesetz und Rechtsicherheit geschaffen. Die Wirtschaft, die Forschung und auch diejenigen, die ethische Bedenken haben, sollten hiermit leben können. Deshalb sage ich: Stimmen Sie zu, dann haben wir ein gutes Gesetz. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- zung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotech- nologischer Erfindungen auf Drucksache 15/1709. Dazu liegen uns Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung von den Kollegen Dr. Hermann Scheer, Ernst Kranz, Dr. Wolfgang Wodarg sowie 25 MdBs des Bündnis- ses 90/Die Grünen vor.1) Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4417, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4436 vor, über den wir zuerst abstim- men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan- trag ist mit den Stimmen der Koalition und der CDU/ CSU gegen die Stimmen der FDP abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- men der Koalition und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen. 1) Anlage 9 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 25 b: Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/4417 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2657 mit dem Titel „Für ein modernes Biopatentrecht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Rechtsausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1024 ({0}) mit dem Titel „Die europäische Biopatentrichtlinie von 1998 umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? ({1}) Ich wiederhole die Abstimmung: Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Rechtsausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1024 ({2}). Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. ({3}) - Herr Kollege Ramsauer.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, das eben Geschehene veranlasst mich zu der Frage, was an der Abstimmung, die wir zunächst durchgeführt haben, so fehlerhaft gewesen sein soll, dass eine Wiederholung erforderlich war. Das Abstimmungsverhalten der SPD war eindeutig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Klarheit der Abstimmung war nicht gegeben. Es war unübersichtlich, Herr Kollege Ramsauer. ({0}) Wir setzen die Abstimmungen fort. Schließlich emp- fiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschluss- empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1219 mit dem Titel „Rechtssi- cherheit für biotechnologische Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatentrichtlinie“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalition und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ange- nommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 26 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich ({1}) - Drucksache 15/4132 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich ({3}) - Drucksachen 15/4229, 15/4299 ({4}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Freigabe der Personalstruktur an Hochschulen ({5}) - Drucksache 15/3924 ({6}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) - Drucksache 15/4418 - Berichterstattung: Abgordnete Ulrike Flach Thomas Rachel bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 15/4428, 15/4429 - Berichterstattung: Abgordnete Carsten Schneider Klaus-Peter Willsch Anna Lührmann Jürgen Koppelin b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Flexiblere Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hochschulbereich schaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren - Drucksachen 15/4131, 15/4151, 15/4418 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Flach Thomas Rachel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion. ({10})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen, den wir heute verabschieden wollen, schaffen wir Rechtssicherheit für die Hochschulen und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das ist notwendig geworden, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Juli mit seiner Entscheidung zur Juniorprofessur auch das neue Befristungsrecht außer Kraft gesetzt hat. ({0}) Die Regelungen für befristete Arbeitsverträge der fünften HRG-Novelle haben wir - übrigens nach Abstimmung mit den Wissenschaftsministerinnen und -ministern der Länder - in modifizierter Form in den neuen Gesetzentwurf übernommen. ({1}) Der Bundesrat hat daher am vergangenen Freitag keine Einwände gegen den Gesetzentwurf erhoben. In meiner Rede am 12. November habe ich sehr stark auf die Juniorprofessur Bezug genommen und die Chancen dargestellt, die sich daraus für den wissenschaftlichen Nachwuchs und den Wissenschaftsstandort Deutschland ergeben. Heute gehe ich stärker auf die Zeitvertragsregelungen ein. Dabei handelt es sich zwar auf den ersten Blick um eine sehr trockene Materie, die aber ebenso existenzielle Auswirkungen für die betroffenen Menschen und die Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland hat. Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, vor welchem Problem wir in der Praxis stehen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Schwierigkeiten, nach ihrer Qualifikationsphase eine dauerhafte Beschäftigung unterhalb der Professur zu bekommen. Das liegt daran, dass eine unbefristete Beschäftigung im öffentlichen Dienst praktisch mit einem unkündbaren Arbeitsverhältnis gleichzusetzen ist. Wer 15 Jahre im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, wird unkündbar. Daher stellen Wissenschaftseinrichtungen, insbesondere Universitäten, nur in Ausnahmefällen unbefristet ein. Sie binden sich damit nämlich sozusagen lebenslänglich, zumindest was das Berufsleben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrifft. Sie können dann in der Personalplanung nicht mehr flexibel auf Herausforderungen im Wissenschafts- und Forschungsbereich reagieren. Die Lösung dieses Problems liegt aber nicht, wie Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, vorschlagen, in einer Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten nach der Qualifikationsphase. Das wäre nicht nur für die betroffenen Menschen eine Zumutung, die sich ständig von Befristung zu Befristung hangeln müssten, sondern auch europa- und verfassungsrechtlich höchst problematisch. Sowohl das deutsche als auch das europäische Arbeitsrecht sehen als Regelfall das unbefristete Arbeitsverhältnis vor. Befristete Arbeitsverhältnisse müssen Ausnahmecharakter haben. ({2}) Auch der Wissenschaftsrat spricht sich explizit gegen zusätzliche Befristungsmöglichkeiten aus, also explizit gegen das, was Sie in Ihrem Antrag als Ergänzung vorschlagen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. ({3}) - Das steht in Ihrem Antrag; ich kann das zitieren. Wir wollen wie der Wissenschaftsrat stattdessen das Kündigungsrecht wissenschaftsspezifisch erweitern. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bergner? - Herr Kollege Bergner, ich weise aber darauf hin, dass es schon sehr spät ist, dass es noch viele Tagesordnungspunkte gibt und dass es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Hause gibt, die irgendwann einmal in das wohlverdiente Wochenende gehen wollen. ({0}) Bitte, Frau Berg.

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich bitte Sie, mir die Zeit, die ich dadurch verloren habe, gutzuschreiben; das wäre nett. Wie gesagt, der Wissenschaftsrat spricht sich explizit gegen das aus, was Sie in Ihrem Antrag als Ergänzung vorschlagen. Wir wollen wie der Wissenschaftsrat stattdessen das Kündigungsrecht wissenschaftsspezifisch erweitern. Die Hürden für eine betriebsbedingte Kündigung sollen herabgesetzt und der dauerhafte Wegfall von Drittmitteln soll als Kündigungsgrund anerkannt werden. Wir wollen damit erreichen, dass Wissenschaftseinrichtungen in Zukunft nicht mehr davor zurückschrecken, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach der Qualifizierungsphase unbefristet einzustellen. Damit bieten wir den betroffenen Menschen eine verlässliche Zukunftsperspektive. Die Neuregelung des Kündigungsschutzes muss aber durch eine Reform des BAT flankiert werden. Der steht einer solchen Neuregelung derzeit entgegen. Das heißt, dass § 53 des Bundesangestelltentarifs, der besagt, dass nach 15 Jahren im öffentlichen Dienst die Unkündbarkeit eintritt, aufgehoben werden muss. Nun laufen zurzeit, wie Sie wissen, Verhandlungen über eine grundlegende Reform des BAT. Wir alle sollten als Bundesbildungspolitikerinnen und -politiker dafür kämpfen, dass die Länder wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren und die Tarifverhandlungen nicht weiter boykottieren. ({0}) Bund, Länder, Wissenschaftseinrichtungen und die Interessenvertretungen der Beschäftigten müssen ein massives Interesse daran haben, dass die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden. Solange diese Verhandlungen nicht abgeschlossen sind, können wir keine gesetzlichen Änderungen beschließen; denn das würde als Eingriff in die Tarifautonomie gewertet. Ein entsprechender Beschluss kann also zum jetzigen Zeitpunkt nicht getroffen werden, weil er rechtlich nicht haltbar wäre. Beide Aspekte des Änderungsvorschlags zur Weiterbeschäftigung der Wissenschaftler - der tarifliche und der gesetzliche - müssen in Einklang gebracht werden. ({1}) Um genügend zeitlichen Spielraum dafür zu bekommen, haben wir im neuen Gesetz die Übergangsphase für das Zeitvertragsrecht bis 2008 erweitert. Bis dahin können die betroffenen Wissenschaftler weiterhin sachgrundlos befristet angestellt werden und bis dahin werden wir eine dauerhafte Lösung für die betroffenen Menschen erreicht haben. Ich bin sicher, dass Sie sich der Logik meiner Argumentation nicht verschließen konnten und nun unserem Gesetzentwurf sowie dem Antrag der Koalitionsfraktionen zustimmen werden. Folgerichtig müssen Sie dann natürlich die Anträge von CDU/CSU und FDP sowie den Gesetzentwurf des Bundesrates ablehnen. Dafür bedanke ich mich schon im Voraus sehr herzlich. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da der Herr Kollege Tauss mit Blick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von Prozesshanseln sprach, möchte ich vorausschicken: Nicht Gerichtsschelte, sondern Regierungsschelte ist hier angebracht. ({0}) Frau Bulmahn hat mit der fünften Novelle zum Hochschulrahmengesetz die Wissenschaftsfreiheit beschnitten und in die Kompetenzen der Länder eingegriffen. Letzteres hat zu einer Normenkontrollklage geführt, die erfolgreich war. Sie müssen noch mit weiteren Richtersprüchen wie diesem rechnen. Insoweit wären Regierungsschelte und das Nachdenken über das eigene Handeln sehr viel angebrachter als Gerichtsschelte. ({1}) Wir befinden uns nun in einer fatalen Situation; wir stehen vor einem Scherbenhaufen: Wir müssen den Schaden reparieren, der mit dieser Novelle angerichtet wurde. Wir sind uns einig, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die aufgrund der Befristung ihrer Arbeitsverträge auf rechtlich unsicherem Grund stehen, jetzt Rechtssicherheit brauchen; ({2}) die Befristungsregelungen der fünften HRG-Novelle sind vom Bundesverfassungsgericht nämlich aufgehoben worden. ({3}) - Herr Tauss, hören wir damit auf. - Wir sind uns einig, dass wir für die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler Rechtssicherheit schaffen wollen und dass dies durch die Annahme der Beschlussempfehlung gewährleistet wird. Deshalb werden wir der Beschlussempfehlung zustimmen. ({4}) Ich kann Ihnen allerdings nicht ersparen, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie einer anderen Gruppe die Schaffung eines angemessenen Rahmens schuldig bleiben: den Drittmittelwissenschaftlern. Auf der Internetseite www.maintainbrains.de stellen junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Initiative „Wir wollen forschen - in Deutschland“ vor. Auf dieser Internetseite sind Zuschriften von Betroffenen zu finden. In diesen Zuschriften werden nicht nur die Probleme der Nachwuchswissenschaftler behandelt, sondern auch die Probleme derer, die - weil moderne Wissenschaft projektmittelbezogen ist - ihre Arbeit auf der Basis von Projektmitteln ausführen. Der sachliche Grund für eine Befristung im Nachwuchsbereich auf zwölf oder 15 Jahre ist durchaus sinnvoll; denn es geht um das Erreichen einer Qualifikation. Dafür sollte man keine unendlichen Zeiträume vorgeben. Die pauschale Übertragung dieser Befristung auf den Drittmittelbereich ist dagegen völlig unangemessen und führt zu ausgesprochenen Fehlsteuerungen. Ich verweise nur auf die Proteste auf der erwähnten Internetseite und auf zahlreiche Leserbriefe in überregionalen Zeitungen. Das Ganze ist ein unmittelbares Ergebnis der fünften HRG-Novelle. ({5}) Auch wenn wir der Modifikation der fünften HRGNovelle zustimmen, müssen wir darauf aufmerksam machen: Es wird zu wenig korrigiert. Wir bleiben einem wichtigen Sektor unserer Wissenschaft in Bezug auf seine Entwicklung eine angemessene Antwort schuldig. Moderne Wissenschaft bedeutet projektmittelbezogene Forschung und projektmittelbezogene Forschung bedeutet Mittelvergabe im Wettbewerb. Zeitlich befristete Projektmittel bedürfen eines Rechtsrahmens, damit personal- und arbeitsrechtliche Verhältnisse geklärt sind. ({6}) - Herr Kollege Tauss, sprechen Sie doch einmal mit den Betroffenen. ({7}) Für sie ist das kein Problem. Sie finden es besser, auf einer befristeten Drittmittelstelle zu sitzen und in Deutschland zu forschen, als aufgrund einer fehlenden Regelung im Hochschulrahmengesetz - das ist das eigentliche Problem - ins Ausland verwiesen zu werden. ({8}) Ich entnehme der Rede der Kollegin Berg, dass Einigkeit über das Vorhandensein dieses Problems besteht. Unser Lösungsansatz sieht die Angabe eines sachlichen Grundes für die Verlängerung der Befristigung von Drittmittelstellen vor. Das Ganze könnte über die Einführung eines § 57 b im Hochschulrahmengesetz geregelt werden. Sie lehnen unseren entsprechenden Antrag ab. Das ist nicht zu verstehen. ({9}) - Nein, Herr Kollege Tauss. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg ist rechtlich sehr viel fragwürdiger und sehr viel problematischer. Das, was wir vorschlagen, ist konform mit der EU-Richtlinie. ({10}) Die EU-Richtlinie gibt eine Mindestfrist von 15 Jahren vor; gleichzeitig wird in ihr die Angabe eines sachlichen Grundes zur Verlängerung befristeter Arbeitsverhältnisse gefordert. Die Angabe eines solchen sachlichen Grundes wollen wir in einem § 57 b des Hochschulrahmengesetzes regeln. Damit würden wir uns konform mit der EU-Richtlinie verhalten. Wir haben keine Probleme mit § 53 BAT-West. Auch in ihm wird die Verlängerung der Frist von 15 Jahren mit der Festlegung eines sachlichen Grundes verknüpft. Ich will Ihnen die Schwierigkeiten kurz andeuten, die der Vorschlag des Wissenschaftsrats und Ihre Vorgehensweise nach sich ziehen. Sie wollen wissenschaftsspezifische Kündigungsgründe einführen. Das bedeutet nichts anderes, als dass man jemanden unbefristet einstellen muss, obwohl die Mittel nur befristet vorhanden sind. ({11}) - Das ist genau der Punkt. Sie wollen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und gleichzeitig einen neuen Kündigungsgrund für den Fall des Auslaufens von Drittmitteln. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, ich muss Sie trotz allem an die Redezeit erinnern.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, noch zwei Sätze. - Ich möchte den Kanzler einer Universität sehen, der sich auf ein solches Unternehmen einlässt! Ich möchte aber noch ein Zweites sagen. Jeder Arbeitsrichter wird die Frage stellen: Gibt es nicht noch andere Drittmittelprojekte, mit denen die Stelle dann finanziert werden kann? - Man kommt aber zu einer den Belangen von Wissenschaft nicht adäquaten Zuteilung von Personalressourcen,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bergner!

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

wenn man den Beschäftigten von einer Drittmittelstelle, für die er eine Qualifikation hat,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bergner!

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

auf eine andere Drittmittelstelle setzt, für die er keine Qualifikation hat. Ihr Weg ist der falsche Weg. Sie haben einen großen Fehler gemacht, indem Sie unserem Vorschlag nicht zugestimmt haben. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/ Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute stehen wir vor der Wiederherstellung der Rechtssicherheit für unsere jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. Die Rechtsgrundlage für die Juniorprofessur und die für befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft wird wiederhergestellt. Um diese Rechtssicherheit zu bekommen, haben wir aus grüner Sicht eine Kröte geschluckt. Gern hätten wir diese Novelle für Verbesserungen an der Zwölfjahresregel genutzt. Jetzt soll diese Regel nahezu unverändert im Gesetz stehen bleiben. Zustimmen können wir dem Gesetzentwurf aber trotzdem, weil wir gleichzeitig eine Entschließung vorlegen, erfreulicherweise zusammen mit der FDP. Darin finden wir unsere grünen Ziele sachlich und juristisch gut begründet aufgenommen und dargestellt: Erstens. Wir streben eine Weiterentwicklung des wissenschaftsspezifischen Befristungs- und Kündigungsrechts an, die die notwendige Flexibilität und Rechtssicherheit für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie für Institutionen gleichermaßen schafft. Zweitens. Wir fordern gemeinsam die Einführung eines eigenen Tarifs für Forschung und Lehre, und zwar gemeinsam mit den Tarifpartnern. Die Ausgestaltung der Arbeits- und Qualifikationsbedingungen sowie die Befristungs- und Kündigungsregelungen sollen damit weitgehend in die Hände der Tarifpartner überführt werden. Beides wollen wir im Laufe des nächsten Jahres angehen. Die Neuregelung, die wir heute verabschieden, setzt eine Übergangsfrist bis Februar 2008. So lange können und wollen wir die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nicht warten lassen. Sie brauchen Sicherheit für ihre Lebensplanung. Deswegen muss die Neuregelung bis Ende 2006 stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Die Änderungen, die ich eben beschrieben habe, wären schon heute möglich gewesen, wenn die unionsgeführten Länder nicht die Taktiererei vor die Sachentscheidung gestellt hätten. ({1}) Hätten wir uns sofort nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zusammengesetzt, wie Frau Ministerin Bulmahn vorgeschlagen hatte, hätten wir gut und gern gemeinsam eine Weiterentwicklung auf den Weg bringen können; das zeigen auch die Anträge der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion zu diesem Thema. ({2}) - Tja. Leider gibt es allerdings beunruhigende Neuigkeiten aus der Förderalismuskommission. Derzeit sieht es nämlich so aus, als ob die Personalstruktur und das Dienstrecht nicht mehr im Hochschulrahmengesetz vorgegeben werden sollen, sondern in die Hände der Länder gelegt werden. ({3}) Besonders prekär dabei ist: Die Länder müssen nach dem bisherigen Stand keine einheitlichen Regelungen vereinbaren. Das entspricht dem Entwurf, den der Bundesrat diesem Parlament zur Abstimmung vorgelegt hat. Lieber Herr Frankenberg, damit ist Ihre Beteuerung, Sie wollten den Verhandlungen in der Förderalismuskommission nicht vorgreifen, wohl hinfällig. Ihr Entwurf untermauert, dass es Ihnen nicht um die Sachentscheidung geht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fürchte die Folgen, die sich aus der Verlagerung dieser Kompetenz ergeben können. Die Konsequenz wäre die Preisgabe der Bundeseinheitlichkeit von Qualifikationswegen und Personalkategorien. Um zu verdeutlichen, was das hieße, wiederhole ich: Vor Einführung der bundeseinheitlichen Regelung, wie sie im Rahmengesetz steht, gab es im damaligen Westdeutschland an den Hochschulen rund 70 verschiedene Personalkategorien. Das wäre unserer Einschätzung nach aber noch nicht das Schlimmste. Diese 70 Personalkategorien bezogen sich immerhin auf die klaren Qualifikationsschritte Hochschulabschluss, Promotion und Habilitation. Wenn wir aber auch bei diesen Qualifizierungsschritten den Weg zurück in die Kleinstaaterei wählen, geraten wir schnell in eine Situation, wie sie für Lehramtsstudierende seit jeher ärgerliche Realität ist: ({5}) Ihr Abschluss wird nicht überall in Deutschland anerkannt. Es liegt in der Willkür der Länder, ob im Einzelfall eine Anerkennung ausgesprochen wird oder nicht. Eine solche Entwicklung bei den Abschlüssen von wissenschaftlichen Qualifikationsschritten wäre in höchstem Maß schlecht für die Mobilität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler innerhalb Deutschlands und damit natürlich auch für unser Bestehen im weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe. ({6}) Gerade deshalb kann ich den Antrag, der ja von Ihrer Landesregierung, Herr Frankenberg, in den Bundesrat eingebracht wurde, nicht verstehen. Natürlich werden Sie jetzt sagen, die Länder werden das untereinander koordinieren. Vielleicht geschieht das. Damit wären aber einmal mehr die Parlamente faktisch von der Debatte ausgeschlossen. Stattdessen würde beispielsweise die Landesregierung in Sachsen darüber mitbestimmen, was in Schleswig-Holstein zu gelten hat. Ich habe damit - das tut mir Leid - ein grundsätzliches Problem. Ihre Vorstellung von Föderalismus ist, dass die Regierungen die Sachen ausdealen und die Parlamente nur noch abnicken sollen, ohne selbst gestalten zu können. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Grüne setzen uns dafür ein, zum einen die Parlamente an wichtigen politischen Diskussionen von Anfang an zu beteiligen und zum anderen die Mobilitätschancen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ganz Deutschland aufrechtzuerhalten. Dafür muss der Bund die Zuständigkeit für das Dienstrecht an Hochschulen behalten. Um das zu erreichen, sollten wir aus fachpolitischer Sicht gemeinsam an einem Strang ziehen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition hat uns heute eine Reparaturnovelle vorgelegt, die notwendig wurde - darüber haben wir eben bereits ausführlich gesprochen -, weil das Bundesverfassungsgericht die 5. HRG-Novelle gekippt hat. Ich will an dieser Stelle für die FDP sehr klar und deutlich sagen: Wir werden dieser Reparatur zustimmen, weil wir Sicherheit für die Betroffenen wollen und weil wir die Juniorprofessur für richtig, für zukunftsweisend und für notwendig erachten. Wir werden dieser Novelle zustimmen, auch wenn wir uns mehr Flexibilität für die aus Drittmitteln finanzierten Stellen wissenschaftlicher Mitarbeiter, genau wie es Herr Bergner eben angeführt hat, und mehr Flexibilität im Bereich der Studierenden gewünscht hätten. Ich möchte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, auf drei Punkte hinzuweisen, die über das, was wir heute besprechen, hinausgehen: Erstens. Die finanzielle Situation der deutschen Hochschulen ist kritisch. Das Missverhältnis zwischen Drittmitteleinwerbung und Stellen an Hochschulen ist eklatant. Wir freuen uns natürlich, dass Mittel aus der Wirtschaft eingeworben werden, wir kritisieren aber auf das Schärfste, Herr Professor Frankenberg - ich bitte Sie sehr, das mitzunehmen -, dass die Bundesländer die Stellenzahl an Hochschulen zum Teil drastisch zusammenstreichen. Es besteht aktuell die Gefahr, dass die Juniorprofessuren finanziell unzureichend ausgestattet werden. ({0}) Zweitens. Erhebliche Probleme werden auf die Juniorprofessur auch aufgrund des sich abzeichnenden Ergebnisses der Föderalismuskommission zukommen. Wir haben zurzeit circa 1 000 Juniorprofessoren, wir brauchen 3 000. Dafür brauchten wir eigentlich neues Geld. ({1}) Ich bin sehr gespannt, wie viele Juniorprofessorenstellen nach Auslaufen der Förderung durch den Bund erhalten bleiben. Angesichts der Recherchen des Bundesrechnungshofes - auch das sage ich sehr deutlich - wird die FDP sehr genau danach schauen, was an den Universitäten wirklich passiert: Kommt das Geld wirklich den Juniorprofessuren zugute oder stattet sich vielleicht jemand gut aus oder werden Baumaßnahmen vorgenommen? Solche Vorkommnisse können wir nicht dulden, Frau Bulmahn. ({2}) Drittens. Ihre Reparaturnovelle bringt uns leider auch keinen Schritt weiter bei der Schaffung eines Wissenschaftstarifvertrages. ({3}) Frau Berg, Sie wissen, dass Sie auf die Unterstützung der FDP zählen können. Wir hoffen sehr, dass ein solcher endlich einmal kommen wird. ({4}) Meine Damen und Herren, dieses wird heute, wenn ich das richtig einschätze, was Frau Bettin eben zu den Ergebnissen der Föderalismuskommission gesagt hat, die letzte HRG-Novelle sein, die wir hier zusammen diskutieren. ({5}) Ich bedaure dies für die FDP. Wir waren die Einzigen, die ein wirklich verschlanktes HRG vorgelegt haben. ({6}) Ich hätte mich gefreut, wenn auch Frau Bulmahn das getan hätte, wie sie es immer versprochen hat. Das hätte vielleicht die Verhandlungen mit den Ländern erleichtert. Wir befinden uns also jetzt in der Situation, dass wir eine Bildungsministerin haben, die Gefahr läuft, nur noch Dekorationscharakter zu haben oder zur reinen Forschungsministerin zu verkommen. ({7}) - Das „verkommen“ nehme ich zurück. ({8}) Ich glaube, die Zeit für die deutschen Hochschulen wird trotz Juniorprofessur nicht leichter werden. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über eine Novelle, die notwendig geworden ist, nachdem die 5. HRG-Novelle im Juli dieses Jahres durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil insgesamt für nichtig erklärt wurde. Die Entscheidung war umstritten; das zeigt das Minderheitenvotum. Das nützt aber den Betroffenen überhaupt nichts. Deshalb haben wir diese Novelle sehr schnell erarbeitet und vorgelegt. Um, Herr Bergner, einem kollektiven Gedächtnisverlust vorzubeugen, erinnere ich daran, dass das, was wir in der 5. HRG-Novelle niedergelegt hatten, dem klaren Votum des Wissenschaftsrats entsprach. Im Wissenschaftsrat sind alle Länder und Wissenschaftsorganisationen vertreten - nur so viel zur Auffrischung Ihres Gedächtnisses. ({0}) Mit der jetzt vorliegenden Novelle schaffen wir wieder Rechtssicherheit, sowohl für die Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren als auch für die befristeten Beschäftigungsverhältnisse. Wir mussten so schnell reagieren, weil die Länder, die die Juniorprofessur jetzt in ihre Landesgesetzgebung aufnehmen wollten, praktisch keine bundesrechtliche Grundlage mehr hatten. Das trifft im Übrigen auch für das Land Baden-Württemberg zu. Deshalb habe ich, gemeinsam mit den Wissenschaftsministern und -ministerinnen der Länder, sehr schnell die Eckpunkte erarbeitet und den Gesetzentwurf hier vorgelegt. Ich will mich ausdrücklich bei allen Beteiligten für die konstruktive Mitwirkung bedanken, durch die das so schnell möglich war. Unser Ziel war, dass - ich denke, das wird uns gelingen - zum Anfang des nächsten Jahres wieder für alle Beteiligten Rechtssicherheit hergestellt ist. ({1}) Ich denke, das ist sowohl im Interesse der jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie auch im Interesse der Hochschulen und Forschungseinrichtungen notwendig und wichtig. ({2}) Wir sind uns alle einig - das will ich deutlich unterstreichen -, dass die Juniorprofessur ein wichtiger Karriereweg für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist. Das zeigt sich im Übrigen auch an der großen Zahl der jungen Wissenschaftler, die sich um die Juniorprofessur bewerben. Besonders freut mich, dass sehr viele junge Wissenschaftlerinnen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. ({3}) Wir haben hier einen deutlich höheren Anteil als üblicherweise, nämlich einen Anteil von 30 Prozent. Ebenso ist der Anteil der Bewerbungen aus dem Ausland deutlich höher. Es ist ja auch unser gemeinsames Anliegen, im Ausland wieder attraktiver zu werden. Die Zahlen sprechen dafür, dass die damals getroffene Entscheidung, diesen Karriereweg für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu eröffnen, richtig war. Ich setze darauf, dass die Länder, vor allem aber die Universitäten die Juniorprofessur auch wirklich gut einsetzen. Ich sage das ausdrücklich, weil ich weiß, dass das an den Universitäten manchmal unterschiedlich gehandhabt wird. Es liegt in der Verantwortung der Universitäten, den Juniorprofessoren das zu ermöglichen, was wir gesetzlich garantieren, nämlich eigenständige Wissenschaft und eigenständige Lehre. Dafür sollen die Mittel verwendet werden, die sie aus dem Bundesprogramm erhalten. Das ist ganz klar vereinbart und wird auch immer wieder überprüft. Ich sage allerdings ausdrücklich auch: Es liegt in der Verantwortung der Universitäten, das zu gewährleisten. Das 2002 geschaffene Befristungsrecht, das ebenfalls Bestandteil dieser Novelle ist und durch das für die Qualifikationsphase auf die Angabe eines besonderen Sachgrundes verzichtet wird - das ist ein Fortschritt; wir haben eine zwölfjährige Qualifikationsphase geschaffen, in der nicht immer wieder neu eine inhaltliche Begründung für eine Befristung erfolgen muss -, wird mit dieser Novelle bestätigt. Zudem haben wir in dieser Novelle eine Übergangsregelung bis zum Jahr 2008 vorgesehen. Frau Flach, auch ich hätte gerne eine flexiblere Regelung vorgesehen. Herr Bergner, Sie reden an dem Problem vorbei, wenn Sie sagen, dies könne man allein durch ein Gesetz regeln. Was wir brauchen, ist ein Wissenschaftstarifvertrag. ({4}) Wenn wir den nicht haben, können wir auch durch noch so sinnvolle gesetzliche Regelungen nichts ändern. Ich habe deswegen die ausdrückliche Bitte an die Länder - mehr kann ich ja nicht tun -, aber auch an alle Abgeordneten, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass wir einen solchen Tarifvertrag bekommen. Denn wenn die Länder nicht mit im Boot sitzen, können wir zwar etwas für die außeruniversitäre Forschung auf den Weg bringen, aber nichts für die Universitäten tun, wo die meisten Betroffenen arbeiten. Mein dringlicher Appell an die Länder ist, dass sie mitmachen. Sonst kann die jetzige Situation nicht verändert werden. Ich halte, was bekannt ist, einen Wissenschaftstarifvertrag oder zumindest ein Fenster im BAT, mit dem genau diese Möglichkeit geschaffen werden kann, für zwingend erforderlich. ({5}) Die Bundesregierung unterstützt das Votum des Wissenschaftsrates. Um es einmal klar zu sagen: Was wir von jedem mittelständischen Unternehmen verlangen, muss man auch von einer Universität mit mehreren tausend Beschäftigten verlangen können. Da gibt es übrigens keinen Dissens zwischen Bund und Ländern. Wir müssen und wir wollen diesen Weg gemeinsam gehen. Diese Aufgabe wird von allen sehr wohl erkannt. Ich hoffe, dass wir in Kürze erste Fortschritte sehen werden, Frau Flach. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich mit der klaren Aussage schließen, dass Deutschland insgesamt innovationsfähiger und international wettbewerbsfähiger werden muss. Dazu gehört auch, dass wir mehr Mittel in die Hochschulen investieren. Die Bundesregierung tut das. Sie hat die entsprechenden Mittel um 23 Prozent erhöht. Ich will allerdings als Reaktion auf Ihre Beiträge hier sagen: Wir müssen auch den Mut und das Rückgrat haben, in den öffentlichen Haushalten umzuschichten. ({7}) Das ist keine theoretische Diskussion. Wir diskutieren über eine ganz wesentliche Umschichtung, mit der wir jedes Jahr 6 Milliarden Euro zusätzlich für Wissenschaft und Bildung mobilisieren können. ({8}) Ich kann es einfach nicht verstehen - das sage ich an die Adresse der CDU/CSU -, warum Sie sich dieser notwendigen Einsicht verschließen. ({9}) Das Geld wird nicht à la Sterntaler in unseren Schoß fallen. ({10}) Wir müssen schon den Mut und die Courage haben, diese Entscheidung zu treffen. Deshalb mein Appell: Machen Sie einmal Ernst damit und bestehen Sie die Nagelprobe! ({11}) Das liegt in unserem gemeinsamen Interesse. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Herr Professor Dr. Frankenberg. ({0}) Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf jeden Fall habe ich nicht Herrn Tauss gewählt, ({2}) und dieses zum Wohl unseres Landes. Internationale Hochschulrankings wie das der Jiao Tong University in Schanghai oder von „Times Higher Education Supplement“ zeigen, dass unter den ersten 50 Hochschulen in der Welt höchstens eine deutsche ist. Wie sind diese Hochschulen verfasst? Sie sind eigentlich überhaupt nicht staatlich reglementiert. Sie unterliegen auch keinem Rahmenrecht, was ihre Personalstruktur angeht. Es gibt für sie auch kein Dienstrecht, das landesweit vorgegeben ist. Sie haben vielmehr ihr eigenes Dienstrecht und ihr eigenes Personalrecht. In diesen Ländern gibt es zwischen den Hochschulen auch eine höhere Mobilität, als es in Deutschland mit seiner hohen Reglementierungsdichte der Fall ist. Nicht Reglementierung schafft Mobilität, sondern Attraktivitätsunterschiede, auch im Personal- und Dienstrecht. Diese Freiheit müssen wir unseren Hochschulen geben, damit sie in ihren Strukturen in der Welt konkurrenzfähig werden. ({3}) Auch müssen sie volle Freiheit, was das Personalrecht angeht, haben. Wir haben eine gute Möglichkeit, eine solche Dezentralisierung in Bezug auf das Personalrecht zu schaffen und individuellere Personalrechte der Hochschulen zu verfassen. Diese Möglichkeit ist durch Art. 125 a Abs. 2 des Grundgesetzes gegeben. Demnach kann der Bund den Ländern Regelungsfreiheit im Bereich der Personalstruktur geben. Genau das wollen wir mit unserer Bundesratsinitiative erreichen. Diese Freiheit wollen wir an die Hochschulen möglichst weitergeben. ({4}) - So weit wie möglich, Frau Flach. ({5}) Dies sind die internationalen Standards. ({6}) - Herr Tauss, wenn Sie die Rankings gelesen haben, dann können Sie nicht sagen, dass wir in BadenWürttemberg eine schlechte Hochschullandschaft haben. ({7}) - Sie müssen doch auf Ihr Land stolz sein. ({8}) Minister Dr. Peter Frankenberg ({9}) Wettbewerb ist nur möglich, indem wir Unterschiede zulassen, es Unterschiede von Land zu Land und von Hochschule zu Hochschule gibt und sich die Länder über die notwendigen Mindeststandards verständigen. Diese Freiheit der Institutionen bzw. der Hochschulen sollte auch Leitlinie für die Föderalismuskommission sein. ({10}) Pläne, die Hochschulzulassung, die Abschlüsse oder gar die Qualitätssicherung in eine konkurrierende Zuständigkeit des Bundes zu überführen, sind der Errichtung einer wettbewerblichen und leistungsfähigen Hochschullandschaft nicht gerade förderlich.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher? ({0}) Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}): Ja, bitte.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben die Föderalismuskommission angesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die FDP dort einen Antrag gestellt hat, die Autonomie der Hochschulen im Grundgesetz festzuschreiben, der leider von allen anderen Parteien dort abgelehnt wurde? ({0}) Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}): Mir ist der Antrag bekannt. Meine persönliche Meinung ist: Wir sollten in diese Richtung gehen. Wenn die Autonomie verfassungsmäßig verankert werden könnte, wäre das sicherlich für unsere Hochschulen kein Negativum. ({2}) Wenn die konkurrierende Gesetzgebung so käme, wie es der Bund in der Föderalismuskommission fordert, dann hätte er eine Detailregelungskompetenz. Er könnte, was die Zulassung betrifft, im Grunde genommen ein Bundeshochschulgesetz schaffen, das die modernen Zulassungsrechte der Länder wieder abschafft. Er könnte Bundesevaluationsbehörden schaffen und eine Bundeszulassungsanstalt einrichten. Dann hätten wir kein wettbewerbliches und kein leistungsfähiges Hochschulsystem mehr, sondern ein überreglementiertes, das überhaupt nicht mehr in der Lage wäre, deutsche Hochschulen unter die ersten 50 internationalen Hochschulen zu bringen. ({3}) Ich komme damit zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich oder kurz: zur HRG-Reparaturnovelle. Dieses Gesetz ist nicht der beste Weg; aber es ist der zweitbeste. Der Entwurf der Bundesregierung bzw. der Regierungsfraktionen kommt uns insofern entgegen - wir haben diesen Entwurf mitgestaltet -, als etwa weitere Personalkategorien durch die Länder eingeführt werden können, als die Habilitation nicht mehr diskriminiert wird und als die Regelungsdichte, die zu der Verwerfung vor dem Verfassungsgericht geführt hat, zurückgenommen wird. ({4}) - Junioren werden in Baden-Württemberg nie diskriminiert, Herr Tauss. ({5}) Die Regelungen sind auch deshalb zustande gekommen, weil wir uns als Länder - Frau Bettin, anders als Sie es vermutet haben - sofort nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit dem Bund zusammengesetzt haben, um zu sehen, wie wir auf diesem Wege zu einer einvernehmlichen Regelung kommen, damit eine gesetzliche Regelung nicht wieder in die Grauzone verfassungsrechtlicher Fragwürdigkeit gerät. ({6}) Das jetzige Gesetz ermöglicht eine Öffnung für Länderregelungen, etwa in den Personalkategorien. Es verbessert die Möglichkeiten für Länderregelungen, etwa in der Zweiphasigkeit der Juniorprofessur und in den Einstellungsvoraussetzungen. Ich darf besonders meinem Kollegen Professor Zöllner aus Rheinland-Pfalz, der die A-Seite koordiniert, danken, dass wir insgesamt zu dieser konstruktiven Lösung finden konnten. Der Gesetzentwurf ist eine akzeptable Lösung. Der Mangel ist kommentiert und diskutiert worden, nämlich: Es fehlt eine Regelung für die Drittmittelbeschäftigten jenseits der Zwölfjahresgrenze. Wir müssen die Übergangsfrist bis 2008 nutzen, um wissenschaftsverträgliche und wissenschaftsadäquate Regelungen für die Drittmittelbeschäftigten zu finden. Das ist einer der großen Standortnachteile, die wir gegenüber dem Ausland haben. ({7}) Das rasche Handeln war notwendig. Es ist jetzt auch notwendig, dass dieses Gesetz möglichst bis zum Beginn des nächsten Jahres in Kraft tritt - um der Rechtssicherheit der Beschäftigten willen, aber auch um der Rechtssicherheit der Hochschulen und der Länder willen. Dieser Gesetzentwurf ist keine Entscheidung über die Zukunft des Hochschulrahmengesetzes. Dieser Ansicht Minister Dr. Peter Frankenberg ({8}) ist auch die Bundesregierung in ihren Ausführungen. Sie bekundet ihre Bereitschaft, das HRG insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Die aktuellen Probleme, die durch das gesetzgeberische Fiasko der Bundesregierung mit der 5. HRG-Novelle ausgelöst worden sind, werden durch diese Novelle vernünftig gelöst. Aber zur nachhaltigen Lösung der Zukunftsprobleme unserer Hochschulen, zur größeren und notwendigen institutionellen Freiheit unserer Hochschulen müssen sehr viel mutigere Schritte gegangen werden, als wir sie bis jetzt gegangen sind. Perikles sagte: Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. Von diesem Mut haben wir in Bezug auf die Hochschullandschaft noch viel zu wenig. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich, Drucksache 15/4132. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4418, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung angenommen. Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4418 empfiehlt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich, Drucksachen 15/4229 und 15/4299. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4418, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Hochschulpersonalstrukturfreigabegesetzes auf Drucksache 15/3924. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4418, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Enthaltung der Union abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 26 b: Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/4418 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4131 mit dem Titel „Flexiblere Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hochschulbereich schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4418 empfiehlt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4151 mit dem Titel „Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Ulrich Heinrich, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit China und Indien zu einer Zusammenarbeit in Wirtschaft, Forschung und Ausbildung umbauen - Drucksache 15/3823 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP fünf Minuten Redezeit erhalten soll. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Markus Löning, FDP-Fraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Erlauben Sie mir, vor dem eigentlichen Beginn meiner Rede das Thema China aufzugreifen. Ich habe dem Ticker entnommen, dass der Bundeskanzler nicht beabsichtigt, den mit Zustimmung des ganzen Hauses von uns gefassten Beschluss, das Waffenembargo gegen China aufrechtzuerhalten, zu berücksichtigen. Er hat öffentlich erklärt, dass er sich nicht an dieses Votum halten wird, auch nicht bei der Abstimmung auf dem Europäischen Rat. Ich muss ehrlich sagen: Das ist ein dickes Ding. ({0}) Hier appelliere ich auch die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition: Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. ({1}) Diese Missachtung des deutschen Parlaments ist unerhört. ({2}) Lassen Sie mich zum Thema zurückkommen. Meine Damen und Herren, wenn unsere Entwicklungspolitik erfolgreich gewesen ist, müssen wir das anerkennen. Dann müssen wir unsere klassische Entwicklungspolitik mit Ländern, in denen das der Fall war, einstellen. Das ist im Wesentlichen Inhalt unseres Antrags. Es geht um zwei Länder, Indien und China, die in den letzten Jahren in zwei Bereichen sehr erfolgreich gewesen sind: Erstens haben sie es geschafft, ihre Wirtschaft sehr gut zu entwickeln und hohe Wachstumsraten zu erzielen. Zweitens haben sie es geschafft, den Anteil der absolut Armen in ihren Bevölkerungen deutlich zu reduzieren. Auch der Zusammenhang zwischen diesen beiden Tatsachen ist klar und deutlich: Nur der, der es schafft, Wohlstand zu generieren und die Wirtschaft zu entwickeln, ist auch in der Lage, Armut zu bekämpfen. In Indien wurde in den letzten Jahren ein durchschnittliches Wachstum von circa 8 Prozent pro Jahr erzielt. Diese Entwicklung wurde Mitte der 90er-Jahre mit den Wirtschaftsreformen des jetzigen Premierministers eingeleitet. Es ist den Indern gelungen, den Anteil der absolut Armen in ihrer Bevölkerung auf 25 Prozent zu reduzieren. Das ist eine erhebliche Leistung, wenn man bedenkt, dass noch vor circa 30 Jahren über 60 Prozent, fast zwei Drittel, der Inder unterhalb der Armutsgrenze gelebt haben. ({3}) Auch in China ist es gelungen, den Anteil der absolut Armen auf circa ein Zehntel der Bevölkerung zu reduzieren. Dagegen kann man einwenden, dass das immer noch Hunderte von Millionen Menschen sind; das ist ganz ohne Zweifel richtig. Allerdings sind wir uns in diesem Haus auch ohne Zweifel darin einig, dass weiter daran gearbeitet und dafür gekämpft werden muss, dass diejenigen, die immer noch in absoluter Armut leben, daraus befreit werden. Die Fragen sind allerdings: Wer muss das tun? Sind wir dafür verantwortlich? Oder müssen wir unseren Partnern sagen: Ihr habt gezeigt, dass ihr euch selbst helfen und eure Wirtschaft entwickeln könnt und dass ihr in der Lage seid, Arbeitsplätze zu schaffen und Armut effektiv zu bekämpfen; nun könnt ihr die Armut, die noch vorhanden ist, selbst bekämpfen. Dann könnten wir uns aus der klassischen Entwicklungszusammenarbeit mit diesen beiden Ländern zurückziehen und diese Zusammenarbeit auf zukunftstächtige Füße stellen. ({4}) Die Zusammenarbeit mit diesen Ländern in den Bereichen Wissenschaft und Wirtschaft sowie im kulturellen Bereich muss auf jeden Fall ausgebaut werden. Aber aus unserer Sicht kann unsere klassische Armutsbekämpfung, die klassischen Programme der Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern, eingestellt werden. ({5}) Ich möchte nur auf zwei sehr renommierte Institutionen verweisen: zum einen auf das DIE, zum anderen auf die KfW. Beide machen deutlich, dass die Armutsbekämpfungsprogramme, die aufgelegt worden sind, nicht dazu beigetragen haben, dass die Armut in den letzten Jahren so stark zurückgegangen ist. Ich möchte noch einen weiteren Punkt, den ich für entscheidend halte, ansprechen. Ich möchte, dass wir unseren Partnern, wenn wir auf gleicher Augenhöhe mit ihnen reden und verhandeln, ins Gesicht sagen können: Es ist jetzt eure Verantwortung, nicht mehr unsere. Ihr habt gezeigt, dass ihr sehr viel leisten könnt. Nehmt eure Verantwortung nun auch wahr und sorgt dafür, dass der Wohlstand, der in euren Gesellschaften erarbeitet wird, auch verteilt wird, sodass alle daran teilhaben können! Es war ein Erfolgsmodell in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, dass immer die gesamte Gesellschaft das Gefühl hatte, am steigenden Wohlstand zu partizipieren. Diesen Weg können wir daher nur empfehlen. Aber wir können die Entscheidung, diesen Weg zu gehen, nicht für eine andere Gesellschaft treffen. Wir können den Chinesen oder Indern nicht sagen: Ihr müsst das machen. Diese Verantwortung müssen sie selbst übernehmen. Unsere Aufgabe kann es nur sein, Sie an diese Verantwortung zu erinnern. ({6}) Das, meine Damen und Herren, sollten wir tun. Damit kein Missverständnis entsteht, will ich noch einmal ganz klar sagen: Es geht nicht darum, die Zusammenarbeit einzustellen oder in irgendeiner Form zu vermindern. Im Gegenteil, es geht darum, die Zusammenarbeit mit diesen für uns sehr wichtigen Partnern auf zukunftsträchtige Füße zu stellen, auf die Bereiche zu konzentrieren, die Zukunft haben. Aus meiner Sicht sind das im Wesentlichen die Bereiche Wissenschaft und Wirtschaft.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Das war auch schon mein letztes Wort. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki, SPDFraktion. ({0})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Frau Kollegin Pfeiffer! Liebe Kollegen! Es ist schön, mit Ihnen hier noch gemeinsam zu diskutieren, obwohl ich, Kollege Löning, nachdem ich Ihren Antrag gelesen und jetzt auch Ihre Rede gehört habe, der Meinung bin, dass wir uns diese Diskussion heute eigentlich nicht mehr hätten zumuten müssen. Denn die Entwicklungszusammenarbeit zwischen China bzw. Indien und der Bundesrepublik Deutschland steht auf zukunftsträchtigen Füßen. Sicherlich hätte man manche Details in anderer Runde noch diskutieren können. Aber Ihr Antrag trägt den missverständlichen Titel: Deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit China und Indien zu einer Zusammenarbeit in Wirtschaft, Forschung und Ausbildung umbauen Das „umbauen“ klingt sehr nach „beschränken auf“. Die Bereiche, die Sie angesprochen haben, sind längst Bestandteil der Zusammenarbeit: Das wissen Sie auch, ich unterstelle Ihnen, dass Sie sich mit dem Programm des Ministeriums beschäftigt haben. Ich denke, dass wir gut beraten sind - mein Eindruck war, dass Sie das ebenfalls meinen -, mit beiden Ländern in den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Ausbildung weiterhin intensiv zu kooperieren. Wir tun das nicht nur im Bereich der Entwicklungspolitik - beispielsweise mit Ausbildung- und Dialogprogrammen, die von der Gesellschaft InWEnt sehr erfolgreich durchgeführt werden -, sondern wir tun das auch in anderen Politikbereichen: Es gibt zum Beispiel den Rechtsstaatsdialog gemeinsam mit dem Bundesjustizministerium. Darüber hinaus sind wir auch auf anderen Sektoren entwicklungspolitisch aktiv. Die Forderung nach dem Auslaufen dieser Aktivitäten bildet eigentlich den Kern des FDP-Antrags. ({0}) Sie haben dies damit begründet, dass beide Länder aufgrund ihres beeindruckenden Wirtschaftswachstums in den letzten zehn Jahren quasi über den Berg sind und in der Lage sind, die noch anstehenden Probleme selbst zu lösen; beide hätten - so begründen Sie jedenfalls Ihren Antrag - inzwischen sowohl das fachliche Know-how als auch die Mittel dazu. Wir sind dagegen der Meinung, dass die Fortsetzung der breit angelegten Entwicklungszusammenarbeit mit beiden Ländern auch künftig - übrigens auch in unserem ureigenen Interesse - notwendig sein wird. ({1}) Denn neben den industriellen Wachstumskernen und Innovationspolen haben Indien und China ausgedehnte Armutsräume, in denen 50 Prozent der Armen dieser Welt leben. Wir müssen diese Länder daher in ihren eigenen Reformprozessen unterstützen und so zur Armutsbekämpfung beitragen; ich habe Sie hoffentlich richtig verstanden, dass wir hierüber einen Konsens haben. In den vergangenen Jahren gingen diese Bemühungen Zug um Zug mit mehr Eigenverantwortung und auch mit mehr Eigenleistung der Partnerländer einher; also auch hier rennen Sie offene Türen ein. ({2}) Maßnahmen der direkten Armutsbekämpfung wurden in China bereits 1999 beendet. Die internationale Gebergemeinschaft hatte diese Maßnahmen erfolgreich genutzt, um China für eine aktivere und modernere Politik der Armutsbekämpfung zu gewinnen. Heute stehen andere Themen und Schwerpunkte im Vordergrund der Kooperation mit China. Hierfür einige Beispiele: Die Prognosen zur Ausbreitung von HIV/Aids in Indien und China sind extrem besorgniserregend und von globaler Bedeutung. Daher ist ein EZ-Engagement in beiden Ländern erforderlich. Das gilt im Übrigen auch für Epidemien wie SARS, Polio, Lepra und TBC. Mit der Zusage im Bereich der Gesundheitsförderung und der Bekämpfung von HIV und Aids in China in Höhe von 166 Millionen Euro - 20 Millionen Euro davon stehen allein für Sonderprogramme in Bezug auf die Bekämpfung von HIV/Aids zur Verfügung - haben wir deutliche Signale gesetzt. Als G-8-Mitglied haben wir uns für ein aktives Mitwirken an der Ausrottung von Polio verpflichtet. Einer unserer Schwerpunkte setzt in Indien an. Indien hat hier eine Beispielfunktion für die angrenzenden Länder. Die für die Jahre 2001 bis 2004 gemachten Zusagen in Höhe von 80 Millionen Euro für die Bekämpfung von Polio und HIV/Aids werden Sie sicherlich nicht zurückziehen wollen. Lieber Herr Kollege Löning, ich werde hier nicht umhinkommen, mir die Bemerkung zu erlauben, dass ich mich gewundert habe, dass der Bereich Aids/HIV und die Seuchen, die ich angesprochen habe, in Ihrem Antrag überhaupt keine Rolle spielen, obwohl Sie hier sonst immer zu denen gehören, die am stärksten Kritik üben und sagen, dass wir uns zu wenig darum kümmern. ({3}) Ich sehe hier gewisse Widersprüchlichkeiten und im Grunde auch eine Fehlorientierung, die Sie mit Ihrem auf einen sehr begrenzten Bereich abzielenden Antrag zum Ausdruck bringen. In der Entwicklungszusammenarbeit gerade mit diesen Ländern sollte zum Beispiel auch die gesellschaftspolitische Förderung von Frauen einen Schwerpunkt bilden. Wer sich etwas intensiver mit den gesellschaftlichen Problemen beschäftigt - Ein-Kind-Familie mit allen Folgen und Konsequenzen, Rolle der Frau, Rolle der Familie -, wird mir zustimmen, dass wir uns um diesen wesentlichen Bereich weiterhin kümmern sollten, um insbesondere eine Entwicklung zu fördern und im gesellschaftspolitischen Bereich einen Beitrag dazu zu leisten, die Rolle und die Position der Frauen zu stärken. Meine Damen und Herren, je mehr die Menschen in Indien und China aus der Armut herausgeholt werden und je mehr die Menschen dort beginnen können, sich selbst zu erhalten und sich ihren Gesundheitsbedürfnissen in persönlicher Verantwortung zu widmen, umso mehr wird in diesen Ländern zum Beispiel auch der Bedarf an Ressourcen und Energie steigen. Ich will Ihnen aus dem Energiebereich einige Zahlen nennen: Für die nächsten Jahrzehnte plant allein China zusätzliche Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 350 000 Megawatt. Das ist das Dreieinhalbfache der Menge, die wir in der Bundesrepublik im Augenblick jährlich verbrauchen. ({4}) - Okay, ich bedanke mich für den abendlichen Zwischenruf, der den wissenschaftlichen Wert dieser Debatte sicherlich unterstreicht. Herr Kollege Ramsauer, ich denke aber, dass zum Ausdruck kommt, dass wir aufgrund dieses erhöhten Energieverbrauchs und aufgrund der mangelnden Wirkungsgrade der dortigen Kohlekraftwerke gut beraten sind, zum Beispiel mit fachlichem Know-how dazu beizutragen, eine Effizienzsteigerung dieser Kraftwerke und eine Reduzierung von CO2 - das ist durch die Entwicklungszusammenarbeit ja bereits erfolgreich geschehen - zu erreichen. ({5}) Das ist auch im Interesse Europas und Deutschlands. Wenn man sich all das, was mit dem Kioto-Protokoll zusammenhängt, anschaut, dann wird, klar, dass die Entwicklung beider Länder von zentraler Bedeutung ist. Die lange und vertrauensbildende entwicklungs- und umweltpolitische Kooperation und der daran anknüpfende Politikdialog haben einen maßgeblichen Anteil an der Bereitschaft beider Länder, die absehbaren Emissionssteigerungen durch mehr Energieeffizienz und durch die Nutzung regenerativer Energien zu drosseln. Ich denke, dass hieran deutlich wird, dass in der Zusammenarbeit und in der Vertrauensbildung die entscheidenden Aufgabenfelder liegen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das Vorgehen der klassischen Industrienationen nach dem Prinzip, erst reich zu werden und später sauber zu machen, können wir uns aufgrund der Gefährdungen, denen sich die internationale Gemeinschaft gerade im Bereich der Umweltpolitik gegenübersieht, zukünftig nicht mehr leisten. ({7}) Deswegen - Herr Kollege Tauss, ich sehe das genauso wie Sie - sind wir darauf angewiesen, diese vernünftige Arbeit fortzusetzen. Man muss auch darauf hinweisen, dass wesentliche Teile der finanziellen Mittel der Entwicklungshilfe, die für Indien und China zur Verfügung gestellt werden, Marktmittel sind. Von den 1,4 Milliarden Euro, die im Bereich der Energieeffizienz für beide Länder zur Verfügung gestellt werden, sind 700 Millionen Euro Kreditmittel. Hieran sieht man die wachsende Eigenkraft der Länder. Ich denke, da rennen Sie offene Türen ein. Angesichts dieses Marktes habe ich persönlich überhaupt keine Schwierigkeiten und Probleme damit, dass sich aus einer fairen Zusammenarbeit auch Chancen und Möglichkeiten für die deutsche Wirtschaft ergeben. Wir sind eine exportorientierte Industrienation und stehen in globaler Konkurrenz. Wenn also aus diesen Ländern Aufträge nach Deutschland gehen, so ist das zum Teil auch die Dividende einer vertrauensvollen Entwicklungszusammenarbeit. Aus diesem Grunde werde ich mich immer dafür einsetzen, dass wir hier unsere Arbeit fortsetzen. ({8}) China und Indien analysieren sehr konkret, in welchen Bereichen die Entwicklungszusammenarbeit mit Deutschland komparative Vorteile bietet, und nutzen die Erfahrungen, die sie mit uns machen, um ihre eigenen für die Entwicklung dieser riesigen Länder notwendigen Reformmaßnahmen voranzutreiben. Genau das ist die Art, wie Entwicklungszusammenarbeit - nicht Entwicklungshilfe - heutzutage funktionieren sollte. Anders als die FDP bewertet die internationale Gebergemeinschaft die Chancen und Risiken der Zusammenarbeit mit Indien und China so wie die Bundesregierung. Weltbank, Asiatische Entwicklungsbank und beispielsweise auch Großbritannien streben vor diesem Hintergrund an, die Entwicklungszusammenarbeit mit China auf hohem Niveau zu halten und die Entwicklungszusammenarbeit mit Indien - das gilt jedenfalls für Großbritannien - signifikant zu erhöhen. ({9}) Dort hat man erkannt, dass die Entwicklungszusammenarbeit ein wichtiger Bestandteil einer vertrauensvollen Zusammenarbeit ist und der enge Politikdialog den Austausch gerade auch in sensiblen Bereichen wie Friedenssicherung und Menschenrechtsfragen ermöglicht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aus diesem Grund sind wir gut beraten, in der entwicklungspolitischen Kooperation mit diesen Ländern einen Baustein in der Strategie für friedliche Entwicklung zu sehen, die auch im Interesse unseres Kontinentes ist. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/ CSU-Fraktion.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die hier noch ausharren! Lieber Kollege Dzembritzki, ich widerspreche Ihnen immer sehr ungern; das wissen Sie. Sie haben gesagt: Diese Diskussion können wir uns sparen. - Ich glaube überhaupt nicht, dass wir uns das sparen können. ({0}) - Schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich hoffe, dass Phoenix noch auf Sendung ist. - Unsere steuerzahlenden Bürger haben ein Recht darauf, zu wissen: Was machen Entwicklungspolitiker mit dem Geld? Wir müssen sie alle davon überzeugen, dass wir mit den staatlichen Mitteln sehr sorgfältig umgehen und dass wir uns sehr gut überlegen, wofür wir Geld ausgeben, wo wir etwas unterstützen und was wichtig ist. Wenn sich schon Frau Kolonko von der „FAZ“ - das war am Dienstag - mit diesem Thema auseinander setzt, dann ist es richtig, dass wir darüber auch im Bundestag diskutieren. Deshalb, Kollege Löning, bin ich sehr froh, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben. Es wurde höchste Zeit, dass wir uns dieses Themas annehmen. ({1}) Was wir hier aber tun, ist, uns in Einzelheiten zu zerfleddern. Wir müssen uns erst einmal überlegen: Was wollen wir eigentlich? Was heißt es, Entwicklungshilfe zu betreiben? Was bedeutet es, Entwicklungszusammenarbeit mit Entwicklungsländern, aber auch mit Schwellenländern, wie zum Beispiel China und Indien, zu betreiben? Ich habe einmal auf die Internetseite des BMZ geschaut und dort Folgendes gefunden: Eine Welt ohne Armut, Furcht und ökologische Zerstörung - Entwicklungspolitik hat das Ziel, diesem Ideal ein Stück näher zu kommen. Sie fördert Demokratie und Frieden, wirtschaftliches Wachstum und eine gerechtere Verteilung der Erträge, Chancengleichheit, den Schutz der Umwelt und die Sicherung der natürlichen Ressourcen. So das BMZ. Ich meine, dass Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auch und vielleicht vor allem sein muss, die deutschen Interessen im Bereich der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik so zu vertreten, dass Deutschland etwas davon hat. Sprich: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit aufstrebenden Ländern muss so gestaltet werden, dass dadurch positive Synergien für Deutschland und insbesondere die deutsche Wirtschaft frei werden. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Entwicklungszusammenarbeit für wichtig. Sie muss aber zielführend betrieben werden. Viel schwieriger ist es, die Fragen zu beantworten: Wer braucht eigentlich Entwicklungshilfe? Gehören China und Indien dazu? In beiden Ländern sind in den letzen Jahren beeindruckende Reformen im wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen oder auch gesellschaftlichen Bereich vorgenommen worden, die wahre Änderungsbereitschaft hin zu westlichen Demokratievorstellungen beweisen. Beide Länder haben ein beachtliches Wirtschaftswachstum vorzuweisen, das seinesgleichen sucht. So mancher europäischer - vielleicht auch deutscher - Finanzminister würde tatsächlich vor Neid erblassen. ({2}) - Stimmt. - Beide Länder verfügen über ein großes Potenzial an jungen, gebildeten, zukunftsfähigen und fortschrittsorientierten Menschen. Diesen Trend gilt es aufrechtzuerhalten. China hat genug Geld. China hat so viel Geld, dass es mittlerweile in der Welt sogar als Geberland auftritt, so beispielsweise in Afrika und Südafrika. Es unterhält ein eigenes großes Raumfahrtprogramm und hat hinter den USA und Russland das drittgrößte Verteidigungsbudget in der Welt. Trotzdem gibt es einige Fragen, die es zu beantworten gilt: Reicht es aus, dass diese Länder das Geld, den Willen und das Potenzial für nachhaltige Veränderungen haben, oder brauchen sie Unterstützung? Wenn ja, wie ist sie zu leisten? Ich denke dabei an Probleme, die mit dem Aufbau einer Zivilgesellschaft - das gilt insbesondere für China - verbunden sind, an die Wahrung der Menschenrechte sowie der Religions- und Pressefreiheit. Auch die Stellung der Frau in beiden Gesellschaften ist ein Thema. Beim Umweltschutz sieht es auch nicht viel anders aus. Darauf hat auch der Kollege Dzembritzki hingewiesen. Wir wissen, welche Dramen sich an den Staudämmen abgespielt haben. Bei all dem stellt sich die Frage: Können wir angesichts solch großer Probleme überhaupt Unterstützung leisten? Das bezieht sich insbesondere auf China, ein Land, das ungeheuer groß ist. Weiterhin frage ich mich: Sind deutsches Wissen und deutsche Technologie bei der Unterstützung dieser Länder nicht unbedingt erforderlich? ({3}) - Kommt doch gleich. Auch um die Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Sicherungssysteme ist es in beiden Ländern nicht gut bestellt. Ich nenne hier nur die Themen Armut und staatliche Rente. Wir alle wissen, wovon wir reden. Ich bin fest davon überzeugt, dass sowohl China als auch Indien nach wie vor unsere Unterstützung brauchen. Es fragt sich bloß, in welcher Art und Weise. Ist die Infrastruktur, die wir aufgebaut haben, richtig? Sind die Strukturveränderungen, die wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit in Gang gesetzt haben, richtig? Ich denke, gute Ansätze sind vorhanden. Es wäre nicht richtig, vorhandene Infrastrukturen durch das BMZ und seine Durchführungsorganisationen einfach zu ignorieren. Ich glaube, wir haben das Recht und vor allem die Pflicht, sie zu nutzen, sofern sie vorhanden sind. Ich gestehe - ich denke, man hört das aus meiner Rede heraus -: Ich persönlich bin mit meinen Überlegungen, wie die Entwicklungszusammenarbeit - so sie geleistet wird - anders und damit auch sinnvoller und richtiger eingesetzt werden kann, noch nicht am Ende. Ich gestehe, dass diese Diskussion auch in unserer Arbeitsgemeinschaft noch nicht beendet ist. Gehen Sie aber davon aus, lieber Herr Kollege Löning, dass ich Ihrem Antrag sehr viel Sympathie entgegenbringe. Ich glaube jedoch, er ist nicht ganz durchdacht. Verbunden mit dem Eingeständnis, dass das Thema auch auf unserer Seite noch nicht ganz durchdacht ist, freue ich mich auf die Diskussionen in der Arbeitsgemeinschaft und im Ausschuss. Auch nachdem ich Ihre Rede gehört habe, Herr Kollege Löning, denke ich, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen werden. Es gibt noch viele Fragezeichen im Hinblick auf die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern China und Indien, aber auch mit Schwellenländern überhaupt. Das ist ein großes Thema. Wir werden die Fragen des Wie und Wo gemeinsam diskutieren. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meiner Rede beginne, möchte ich auf Ihren ersten Satz, Herr Löning, eingehen. Die grüne Fraktion hält selbstverständlich die Aufrechterhaltung des Waffenembargos für absolut notwendig, egal was andere Redner dazu sagen. ({0}) Kommen wir jetzt zum Thema der Debatte. Obwohl der FDP-Antrag in seinem lyrischen Teil, in der Situationsanalyse, viel Richtiges sagt, können wir den Forderungsteil aus einem ganz einfachen Grund nicht unterstützen: Die Hauptforderung, Deutschland solle sich in China und in Indien aus der Armutsbekämpfung verabschieden - in zwei Ländern, in denen trotz aller positiven Statistiken noch immer mehr als 50 Prozent aller extrem Armen dieser Welt leben -, ist für uns nicht hinnehmbar. Herr Löning, ich stimme Ihnen zu, dass wir in Indien und China nicht mit den gleichen EZ-Instrumenten wie beispielsweise in Mosambik präsent sein müssen. Die Obleute waren im August letzten Jahres in Indien und haben an der Evaluierung von zwei Projekten mitgewirkt. Wir konnten sie beobachten. In der Tat sind uns Zweifel gekommen, ob es sinnvoll ist, Indien bei der Vermarktung verbilligter Kondome finanziell zu unterstützen. Ich gebe Ihnen Recht: Die indische Regierung muss stärker an ihre eigene Verantwortung erinnert werden. Sie muss mehr Geld in die Basisgesundheitsdienste stecken und deutlich mehr Geld in die Entwicklung ländlicher Räume als in die Raumfahrt und in die Rüstung investieren. Aber unter der neuen indischen Regierung ist eine Trendwende eingeleitet worden. Mit der Vermarktung verbilligter Kondome habe ich ein Beispiel zitiert, das man hinterfragen kann. Wir haben aber auch sehr positive Ansätze gefunden, die sehr sinnvoll sind, zum Beispiel die Unterstützung Indiens im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit durch Beratung beim Aufbau einer solidarischen Krankenversicherung. ({1}) Das ist Armutsbekämpfung par excellence, und zwar mit Instrumenten, die zu den Ankerländern passen. ({2}) Ich kann Ihnen zustimmen, dass Leistungen, die wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in China und Indien erbringen, nicht gratis sein müssen. Aber das sind sie heute schon nicht. Die deutsche bilaterale EZ mit Indien und China basiert auf Konzepten, die der Bedeutung der hier zur Debatte stehenden Ankerländer gerecht werden. Dies gilt vor allem - das hat der Vorredner, Dzembritzki, schon gesagt - für die Rolle und Bedeutung dieser beiden Länder für den weltweiten Klima- und Ressourcenschutz. Dies ist nicht Umweltschutz allein, sondern hat sehr viel mit Armutsbekämpfung zu tun. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen - WBGU - hat gerade vorgestern ein Gutachten mit dem Titel „Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik“ herausgebracht. Der Tenor ist: Globale Armutsbekämpfung setzt globale Umweltpolitik voraus. Von Klimakatastrophen sind Entwicklungsländer in ganz besonderem Maße betroffen. Vor allem sie müssen für die Umweltsünden des Nordens teuer bezahlen. Deshalb gilt es, gemeinsam zu handeln und durch eine engagierte Umweltpolitik die Umsetzung der Millenniumsziele zu unterstützen. Mit anderen Worten: Wenn es uns nicht gelingt, die wirtschaftliche Entwicklung in China und Indien von Ressourcenverbrauch und parallel steigender Umweltbelastung zu entkoppeln, dann öffnen wir nicht nur im engen Sinne des Wortes Tür und Tor für die Verwüstung Chinas. Vielmehr werden dann Millionen von Bangladeschern in den Fluten der ansteigenden Meere untergehen. Gerade im Umweltbereich gilt es, sich besonders zu engagieren - nicht nur um die umweltrelevanten Millenniumsziele der Energie- und Wasserversorgung zu erreichen, sondern auch um etwas für den Klimaschutz und für nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu tun. Genau dies macht die Bundesregierung, indem sie diese Ansätze in der EZ mit China und Indien ganz besonders unterstreicht und sie auf Platz eins setzt. In beiden Ländern ist die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Anstieg des Energieverbrauchs die große Herausforderung. Die Schonung natürlicher Ressourcen zahlt sich konkret aus - umso mehr, je stärker die staatlichen Rahmenbedingungen hierauf ausgerichtet sind und umweltgerechtes Verhalten zum Beispiel durch die Staffelung von Nutzungsgebühren und andere marktwirtschaftliche Instrumente belohnt wird. Gerade in diesem ordnungspolitischen Bereich - bei der Frage, wie eine Mischung von Ordnungsrecht und marktwirtschaftlichen Instrumenten in die gebotene Balance gebracht werden kann - hat Deutschland einiges an Beratungsleistung anzubieten. Im Rahmen der globalen Zukunftssicherung sind China und Indien unverzichtbare Partner, um eine Trendwende beim Weltproblem Armut und eine Wende im globalen Umweltverbrauch zu erzielen. ({3}) Darüber hinaus besitzen sie als regionale Schwerpunktländer so etwas wie eine Lokomotivfunktion. Wie bereits gesagt: Angesichts der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Indiens und Chinas kann bei der FZ durchaus daran gedacht werden, den Zuschussanteil zu reduzieren. Auch für andere EZ-Dienstleistungen können die Förderanteile gesenkt und deshalb auch höhere Rechnungen ausgestellt werden. Wir stimmen Ihnen zu, dass da einiges auf den Prüfstand muss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hoppe, schauen Sie bitte auf die Uhr!

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Umweltschutz und Armutsbekämpfung sollten das überwölbende Ziel bleiben. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich Fritz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Hoppe, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie wenigstens ein Wort zum Verhalten des Bundeskanzlers in China gesagt haben. Diese eklatante Missachtung des Parlaments muss angesprochen werden. Dieses Verhalten war insbesondere bei einem Staatsbesuch nicht richtig. Es ist nicht das erste Mal, dass der Bundeskanzler in dieser Weise mit dem Parlament umgeht. Deshalb muss in der nächsten Sitzungswoche darüber ausführlich gesprochen werden. ({0}) Zu diesem FDP-Antrag: Die FDP stellt die richtigen Fragen. Fragen ist gut, denn - das wissen wir - derjenige, der nicht fragt, bleibt dumm. ({1}) Mich stört aber ein wenig, dass China und Indien in einem Antrag abgehandelt werden; denn zu unterschiedlich sind die Herausforderungen, die Situationen, die Entwicklungsmöglichkeiten und die Bedürfnisse dieser beiden Länder. Wenn Sie gefragt hätten, wie wir in der Entwicklungszusammenarbeit mit Schwellenländern umgehen sollen, dann hätte man eine allgemeine Diskussion führen können, in der es um Kategorien, Größenordnungen usw. gegangen wäre. ({2}) - Die beiden gehören dazu, aber warum eigentlich nur die beiden? Beide haben eine gewisse Größe, ({3}) sie haben eine große Bevölkerung, sie haben ausgezeichnete Wachstumsraten und sie öffnen sich dem Markt, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Warum aber nennen Sie nicht auch Brasilien oder Südafrika? ({4}) Bei diesen Ländern könnte man dieselben Fragen stellen. Auf den ersten Blick ist die Frage, die die FDP stellt, einleuchtend, vor allen Dingen deshalb, weil Japan diese Frage gerade beantwortet und die Notwendigkeit der weiteren Entwicklungszusammenarbeit mit China verneint hat. Ich will nicht alles wiederholen, was hier schon gesagt worden ist. Ich will klar machen, dass es überhaupt nicht darum gehen kann, die EntwicklungszuErich G. Fritz sammenarbeit und alle Projekte von einem Tag auf den anderen einzustellen; denn wenn man sich die Entwicklung in beiden Ländern anschaut, dann stellt man fest, dass der wirtschaftliche Erfolg längst nicht dazu führt, dass die grundlegenden Probleme eines Entwicklungslandes in Kürze verschwinden könnten. Das schaffen die Länder nicht aus eigener Anstrengung. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern vor allem um die Bedürfnisse nach Qualifizierung, Beratung, Zusammenarbeit, Technologietransfer und um das Verbreiten von Know-how, um den Menschen Perspektiven zu geben. ({5}) Das geht weit über die konkrete Zusammenarbeit hinaus und wirkt sich auf die Entwicklung der Demokratie und die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen aus. Das betrifft auch das Bewusstsein, dass es die eigene Aufgabe ist, sich um die Entwicklung von Sozialsystemen zu kümmern und dafür zu sorgen, dass die Armen nicht achtlos am Rande bleiben. Angesichts der Disparitäten, die in China zwischen den sich schnell entwickelnden Küstenregionen und dem Binnenland neu entstehen, und angesichts der Verwerfungen in den armen Regionen, die auch ethnische Wurzeln haben, muss man sich überlegen, ob man vielleicht eine Neukonzentration bzw. eine Neujustierung in diesem Bereich braucht. Das heißt aber nicht, dass wir die Entwicklungszusammenarbeit aufgeben dürfen. Wir wissen, dass dann, wenn bestimmte Regionen zu kurz kommen oder wenn das wirtschaftliche Niveau gegenüber dem ursprünglichen Zustand sinkt, ein Gewaltpotenzial entstehen und schnell Brüche in einer Entwicklung auftreten können, die scheinbar kontinuierlich bergauf geht. Diese Brüche kann man oft nicht mehr kontrollieren. Für solche Gefährdungen braucht man das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit. ({6}) Deshalb ist die Diskussion richtig. Auch die Frage, ob die Mittel richtig eingesetzt sind, muss gestellt werden. Überprüft werden muss auch immer wieder, inwiefern sich für uns Vorteile aus der Entwicklungszusammenarbeit - der SPD-Kollege hat bereits die Wirkung als Türöffner für die Wirtschaft angesprochen - ergeben. Darin gebe ich Ihnen völlig Recht. Wir als Union halten einen ganzheitlichen Ansatz bei der Entwicklungsarbeit für notwendig. Dieser Ansatz - den übrigens auch die EU-Kommission in einem kürzlich gefassten Beschluss erneut bestätigt hat - sieht vor, dass die zwischen der EU und Indien vereinbarte Partnerschaft fortgeführt wird. Sie umfasst folgende Maßnahmen: die Zusammenarbeit bei der Konfliktprävention, Terrorismusbekämpfung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Stärkung der wirtschaftlichen Partnerschaft durch einen politischen Dialog, die Zusammenarbeit bei der Entwicklungspolitik im Sinne der Millenniumsziele - diese dürfen wir ebenfalls nicht aus den Augen verlieren - sowie die Förderung des kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs. Ich bin sehr dafür, zu prüfen, wie die außenwirtschaftlichen Instrumentarien zu verbessern sind und was man tun kann, um gerade für den Mittelstand, der auch regionale Impulse geben kann, den Zugang dazu zu verbessern. Deshalb freue ich mich auf die weitere Diskussion. Ich denke, es ist richtig, Fragen zu stellen. Die Beantwortung dieser Fragen wird aber sicherlich etwas länger dauern als das Fragen selbst. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3823 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Berufsaufsicht über Abschlussprüfer in der Wirtschaftsprüferordnung ({0}) - Drucksache 15/3983 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) - Drucksache 15/4410 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thea Dückert Die Redner Christian Lange, Dr. Rolf Bietmann, Werner Schulz und Rainer Funke haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). Wir kommen deshalb zur Abstimmung über diesen Gesetzentwurf. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4410, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- men. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. 1) Anlage 10 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes - Drucksache 15/4246 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksachen 15/4404, 15/4438 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz Hartmut Koschyk Volker Beck ({5}) Dr. Max Stadler Die Redner Inge Wettig-Danielmeier, Hartmut Koschyk, Hans-Christian Ströbele und Jörg van Essen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf. Der Innen- 1) Anlage 11 ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen, Drucksachen 15/4404 und 15/4438. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Dezember 2004, 13 Uhr, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch unseren Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.