Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
Folgendes bekannt: Ende des Jahres scheiden turnusgemäß drei Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau aus. Die Fraktion der SPD schlägt
als Nachfolger für den Kollegen Klaus Brandner den
Kollegen Jörg-Otto Spiller vor. Die Fraktion der CDU/
CSU schlägt für eine weitere Amtszeit wieder den Kollegen Dietrich Austermann und die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wieder die Kollegin Christine
Scheel vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die genannte Kollegin
und die beiden Kollegen als Mitglieder im Verwaltungsrat der KfW bestellt.
Die Fraktion der SPD möchte im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ einen Wechsel vornehmen. Der Kollege Marco
Bülow - bisher ordentliches Mitglied - soll nunmehr
stellvertretendes Mitglied und die Kollegin Gisela
Hilbrecht - bisher stellvertretendes Mitglied - soll nunmehr ordentliches Mitglied werden. Sind Sie auch mit
diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Abgeordneten wie
vorgesehen in die jeweiligen Gremien entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
ZP 1 Vereinbarte Debatte: Die Demokratie in der Ukraine festigen
({0})
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Marie-Luise Dött, Dr. Rolf Bietmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Klima-
schutz-Doppelstrategie - Kioto-Protokoll zu einem
wirksamen Kioto-plus-Abkommen weiterentwickeln
und nationale klimafreundliche Entwicklung konse-
quent fortsetzen
- Drucksache 15/4382 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Das Kioto-Protokoll
national konsequent umsetzen und international ver-
antwortungsvoll weiterentwickeln
- Drucksache 15/4393 -
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zusammenleben auf
der Basis gemeinsamer Grundwerte
- Drucksache 15/4394 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Klaus Haupt, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Kulturelle Vielfalt - Universelle
Werte - Neue Wege zu einer rationalen Integrationspolitik
- Drucksache 15/4401 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Küster,
Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Norbert Röttgen und der Fraktion der CDU/
CSU, der Abgeordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag,
Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich sichern - Patentierung von Computerprogrammen effektiv begrenzen
- Drucksache 15/4403 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({7}), Dr. Ole Schröder, Dirk Fischer ({8}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Promillegrenze in der Seeschifffahrt
- Drucksache 15/4383 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal-
tung der Bundesregierung zur Forschung an embryonalen
Stammzellen nach der Volksabstimmung in der Schweiz und
den damit verbundenen Auswirkungen für die Forschung in
Deutschland
ZP 6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Rainer Funke, Daniel Bahr ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Menschenrechte in der
Volksrepublik China einfordern
- Drucksache 15/4402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke,
Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention
- Drucksache 15/4405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({12})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 7 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Auswärtigen Ausschusses ({13}) zu dem Antrag
der Bundesregierung: Einsatz bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union ({14}) in Darfur/Sudan auf Grundlage der Resolutionen 1556 ({15}) und
1564 ({16}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 30. Juli 2004 und 18. September 2004
- Drucksachen 15/4227, 15/4257 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({17})
Joachim Hörster
Harald Leibrecht
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({18}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/4259 Berichterstattung:
Abgeordnete Alexander Bonde
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Dietrich Austermann
Jürgen Koppelin
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Keine Sperrfrist bei Abschluss eines Abwicklungsvertrags
nach arbeitgeberseitiger betriebsbedingter Kündigung
- Drucksache 15/4407 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({19})
Rechtsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Ferner ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 21 - Zukunft für Tschetschenien - vor dem Tagesordnungspunkt 20 - Parlamentsbeteiligungsgesetz - aufzurufen.
Außerdem möchte ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam machen:
Der in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform
der beruflichen Bildung ({20})
- Drucksache 15/3980 überwiesen:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatz-
punkte 2 a und 2 b auf:
3 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Kioto-Protokoll tritt in Kraft - Ein Erfolg für
den Klimaschutz und eine Verpflichtung für
die Zukunft
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Peter Paziorek, Marie-Luise Dött,
Dr. Rolf Bietmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Klimaschutz-Doppelstrategie - Kioto-Pro-
tokoll zu einem wirksamen Kioto-plus-Ab-
kommen weiterentwickeln und nationale
klimafreundliche Entwicklung konsequent
fortsetzen
- Drucksache 15/4382 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Kioto-Protokoll national konsequent
umsetzen und international verantwortungsvoll weiterentwickeln
- Drucksache 15/4393 Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Präsident Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Russische Föderation hat das Kioto-Protokoll ratifiziert. Es
wird am 16. Februar nächsten Jahres in Kraft treten. Das
ist ein Durchbruch für den internationalen Klimaschutz.
Hier hat sich multilaterale Umweltpolitik gegen unilaterales Beharren durchgesetzt.
({0})
Erstmals gibt es eine völkerrechtlich verbindliche Obergrenze für den Ausstoß von Treibhausgasen. Das InKraft-Treten des Kioto-Protokolls ist ein unüberhörbares
Signal, dass die internationale Staatengemeinschaft den
Klimawandel ernst nimmt. Der Klimawandel ist keine
skeptische Prognose mehr, sondern bittere Realität. In
diesem Sinne hatte uns der Bundeskanzler auf dem
Weltgipfel in Johannesburg gemahnt.
Meine Damen und Herren, das Kioto-Protokoll leitet
eine klimapolitische Trendwende ein. Es gibt ein erstes
Ziel - ich betone: ein erstes Ziel - auf dem Weg zu einer
Industriegesellschaft vor, die entschieden weniger Treibhausgase emittiert und fossile Brennstoffe effizienter
einsetzt als bisher.
Aktive Klimaschutzpolitik erfordert nicht - wie man
gelegentlich hört - den Abschied von der Industriegesellschaft; aktive Klimaschutzpolitik erfordert vielmehr
eine andere Industriepolitik. Tony Blair spricht von einer
„neuen, grünen industriellen Revolution“. Klimaschutz
befördert neue Entwicklungsmodelle in Wirtschaft und
Gesellschaft. Der Boom erneuerbarer Energien in
Deutschland wirkt beispielgebend auch und gerade für
Schwellenländer. Energieeinsparung und die Steigerung
der Energieeffizienz schonen das Klima und die natürlichen Ressourcen und sie zahlen sich für private Haushalte, für den Dienstleistungssektor, aber auch für das
produzierende Gewerbe sehr rasch in Euro aus. Notwendig sind dafür jedoch die richtigen Anreize.
Mit dem Kioto-Protokoll bekommt die Nutzung der
Atmosphäre erstmals einen Preis. Das Protokoll setzt einen verbindlichen Rahmen, den wir innerhalb der EU
und hier in Deutschland umsetzen.
Eine aktive Klimaschutzpolitik bedeutet aber auch,
alle Sektoren und alle Akteure auf den verschiedenen
Ebenen miteinzubeziehen. Nur damit schaffen wir die
notwendige Akzeptanz in der Gesellschaft für solche
nachhaltigen Lösungsansätze. In diesem Sinne schreiben
wir das Nationale Klimaschutzprogramm derzeit fort.
Wenn man die Entwicklung des Ölpreises und die Rahmenbedingungen an den Weltenergiemärkten analysiert,
kann das nur eines heißen: Wir haben erhebliche ökonomische Chancen mit einer konsequenten Klimaschutzpolitik. Wir müssen vom Öl wegkommen. Anhaltend hohe
Ölpreise bedrohen den Aufschwung gerade in den entwickelten Volkswirtschaften. Aber die Mehrkosten für Öl
machen in den Ländern des Südens die Bekämpfung von
Hunger und Armut noch schwerer. Gleichzeitig wird
durch Entwicklungen im Mittleren Osten auf dramatische Weise deutlich, welche sicherheitspolitischen Risiken Abhängigkeiten von nur diesem einen Energieträger
bergen.
Eine nachhaltige Gestaltung der Energiepolitik weltweit ist für uns auch und gerade aus Sicherheitsgründen
notwendig. Eine intelligente Verknüpfung von Energiepolitik und Klimaschutzpolitik ist entscheidend. Unser
Engagement für erneuerbare Energien demonstriert: Klimaschutzpolitik ist machbar und vorteilhaft. Wir wurden
durch diese Politik zum Technologieführer. Wir belegen
weltweit in der Technologie der Windkraft den ersten
Platz und in der Photovoltaik hinter Japan den zweiten.
Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energieträgern,
wie der Bundeskanzler zu Recht festgestellt hat.
Meine Damen und Herren, über das In-Kraft-Treten
des Kioto-Protokolls dürfen wir uns alle freuen.
Deutschland gehört - ich sage das parteiübergreifend zu den Hauptarchitekten der internationalen Klimaschutzpolitik. Grundlage war eine breite Übereinstimmung über alle Parteigrenzen hinweg. Die EnqueteKommission „Schutz der Erdatmosphäre“ des Bundestags hatte sich schon 1990 für eine konsequente Klimaschutzpolitik ausgesprochen und unter anderem eine
Minderung der Treibhausgasemissionen der Industriestaaten um 80 Prozent bis zum Jahr 2050 empfohlen.
Die Verhandlungen über das Kioto-Protokoll wurden
durch die Annahme des Berliner Mandats bei der ersten
Klimakonferenz 1995 initiiert. In Bonn gelang dann im
Jahre 2001 der entscheidende Durchbruch für die Beschlüsse zur Anwendung des Protokolls. Die Bundesregierung hat sich danach wiederholt und auf allen Ebenen
mit Nachdruck bei unseren Gesprächspartnern in Russland für die Ratifikation des Kioto-Protokolls eingesetzt.
Wir alle, der Bundestag, können das Kioto-Protokoll
als einen gemeinsamen Erfolg deutscher Klimapolitik
würdigen.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle Ihnen allen - ausdrücklich
meiner Vorgängerin, Frau Merkel, für ihre Verdienste dafür danken.
({2})
Die Klimakonferenz in Buenos Aires im Dezember
dieses Jahres findet im Jahr 10 nach dem In-Kraft-Treten
der Klimarahmenkonvention statt. Wir können hier auf
das Erreichte zurückblicken und andererseits Weichen
stellen, um die internationale Klimaschutzpolitik in den
kommenden Jahren fortzuentwickeln. Deutschland wird
hier im Rahmen der Europäischen Union seine Rolle
ernsthaft weiter spielen. Wir können als Europäer und
insbesondere als Deutsche in der Klimaschutzpolitik auf
beachtliche Erfolge verweisen. Im Januar 2005 wird europaweit der Emissionshandel beginnen. Was viele Anfang dieses Jahres noch nicht geglaubt haben, wird jetzt
Wirklichkeit. Mit der Umsetzung des Kioto-Protokolls
prägen wir den internationalen Prozess. Damit haben wir
bewiesen, dass man als Vorreiter in Europa weltweit tätig werden kann. Aber auch innerhalb Europas gehen wir
mit dem Emissionshandel einen völlig neuen Weg. Die
EU-Kommission genehmigte den deutschen Nationalen
Allokationsplan schon in der ersten Handelsperiode. Wir
sehen bereits in dieser Handelsperiode eine Reduzierung
des klimaschädlichen Gases CO2 vor. Der Emissionshandel wird helfen, das Klima dort zu schützen, wo es
ökonomisch am sinnvollsten ist. Kohlenstoff erhält einen Preis, sodass der Markt seine Funktion als Suchmechanismus für die günstigste Vermeidungsoption und die
beste Technik erfüllen kann.
Deutschland hat mit seiner aktiven Klimapolitik den
Ausstoß von Treibhausgasen wesentlich verringern können. Mit einer Reduktion der Treibhausgasemissionen
um 237 Millionen Tonnen liegen wir derzeit etwa
2 Prozentpunkte vor der Kioto-Zielmarke von 21 Prozent. Zusammen mit dem Vereinigten Königreich von
Großbritannien hat Deutschland wesentlich dazu beigetragen, dass die Europäische Union beachtliche Fortschritte auf der internationalen Bühne vorzeigen kann.
Die EU hat bis 2002 die Treibhausgasemissionen um
knapp 3 Prozentpunkte gesenkt. Ohne die Anstrengungen, die in Deutschland und im Vereinigten Königreich
unternommen worden sind, läge die EU hingegen bei einem Plus von 10 Prozent.
Deutschland spielt beim Schutz des Klimas innerhalb
der EU - wir hoffen: auch global - weiterhin ganz vorne
mit. Gesetzliche Maßnahmen und Regeln zum Klimaschutz in Deutschland werden von anderen Ländern als
Vorbild angesehen. Das gilt für das Erneuerbare-Energien-Gesetz, aber auch für unseren Ansatz, externe Kosten etwa über die Ökosteuer wieder zu internalisieren.
Wir können im Bereich der erneuerbaren Energien sehen: Wir haben im Jahre 2004 erstmals 10 Prozent unseres Stroms regenerativ erzeugt. Zusammen mit den Einsparungen im Bereich der erneuerbaren Wärme - eine
vielfach unbeachtete Säule der Energiepolitik - sparen
wir inzwischen bis zu 60 Millionen Tonnen Kohlendioxid ein. Damit schützen wir sehr endliche Ressourcen.
Wir haben auf der internationalen Konferenz für erneuerbare Energien im Juni 2004 in Bonn und mit dem
dort beschlossenen Aktionsprogramm den globalen Ausbau der Energieerzeugung aus Sonne, Wind, Biomasse
und Wasser weit vorangebracht. Mit der Umsetzung dieses Aktionsprogramms werden zugleich bedeutende Klimagasminderungen erreicht. Wenn wir, wie im Aktionsprogramm vorgesehen, über diese Instrumente bis
2015 1 Milliarde Menschen Zugang zu moderner Energie verschaffen wollen, dann werden wir damit nicht nur
einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass diese
Menschen Armut überwinden, sondern wir werden auch
jährlich bis zu 1,2 Milliarden Tonnen Treibhausgase
weltweit einsparen. - Nur so viel zur Rolle der erneuerbaren Energien beim globalen Klimaschutz.
({3})
Auch bei der effizienteren und sparsameren Nutzung
von Energie gibt es riesige Potenziale. Wir wollen mit
Blick auf die erste Verpflichtungsperiode des Kioto-Protokolls mit dem neuen Nationalen Klimaschutzprogramm sicherstellen, dass auch die privaten Haushalte,
auch der Verkehr, auch das Kleingewerbe ihren Beitrag
zur Reduzierung der CO2-Emissionen leisten. Das ist, so
quantifiziert in unserem Nationalen Allokationsplan, ein
Beitrag von 9 Millionen Tonnen. Das haben wir zu erbringen.
Es wird dabei darauf ankommen, weitere Minderungspotenziale zu erschließen. Ich finde es ermutigend,
dass es in den letzten Jahren gelungen ist, die CO2-Emissionen im PKW-Verkehr kontinuierlich zu reduzieren.
Diesen Trend müssen wir aufrechterhalten. Aber wir
müssen auch im Güterverkehr zu einer Trendwende
kommen. Ich erwarte, dass die LKW-Maut, das heißt der
Umstand, dass erstmals Umweltkosten in die Nutzung
von Verkehrswegen und damit in die Kalkulation einfließen, hier einen weiteren Schub bringt.
Im Gebäudebereich wollen wir die bewährten Instrumente - von der Energieeinsparverordnung bis zur gezielten Förderung der energetischen Altbausanierung fortentwickeln. Gerade hier lassen sich erhebliche Minderungspotenziale kosteneffizient erschließen. Mit der
verbindlichen Einführung des Energieausweises ab
2006 auch für Altbauten wird die energetische Qualität
eines Gebäudes künftig ein wichtiges Entscheidungskriterium beim Verkauf und bei der Vermietung von Wohnungen und Gebäuden sein. Dieser Ausweis schafft so
einen zusätzlichen Anreiz für Wärmeschutzmaßnahmen.
Aufgrund der langen Lebensdauer von Gebäuden sind
Investitionen in die Verbesserung der Wärmedämmung
und der Heizungseffizienz besonders lange wirksam.
Wir haben hier noch ein großes Potenzial.
Wir setzen mit diesem Plan das um, was der Bundeskanzler einmal so formuliert hat:
Wer in der Klimadebatte glaubwürdig bleiben will,
der muss der Welt zeigen, dass er tatsächlich große
Anstrengungen unternimmt. Er muss zu Hause das
umsetzen, was er auf der internationalen Bühne
versprochen hat.
({4})
Die Anzeichen der von Menschen mit verursachten
Klimaänderung werden immer stärker. Meldungen und
Warnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern häufen sich: zunehmende Stürme, Dürren und Überschwemmungen. Die Gletscher in den Alpen und das
Polareis schmelzen ab, und zwar in einem Tempo, das
Wissenschaftler noch vor zehn Jahren vielleicht für das
Jahr 2020 oder 2025 prophezeit haben. Wir werden uns
deshalb in Buenos Aires auf der Klimakonferenz vor alBundesminister Jürgen Trittin
len Dingen mit den Folgen der Klimaänderung zu beschäftigen haben. Die Anpassung an den Klimawandel
wird mit auf der Tagesordnung stehen.
Anpassungsmaßnahmen sind in Entwicklungsländern wie in Industriestaaten dringlich und unausweichlich. Die Entwicklungsländer sind von den Folgen des
globalen Klimawandels am stärksten betroffen. Gleichzeitig fehlen ihnen die Mittel, um diese zu handhaben.
Drei nach der Klimakonferenz in Bonn 2001 neu eingerichtete Fonds werden Mittel für Anpassungsmaßnahmen zur Verfügung stellen. Die EU-Mitgliedstaaten werden gemeinsam mit anderen Industrieländern ab dem
Jahr 2005 jährlich insgesamt 410 Millionen US-Dollar
für den Klimaschutz und für die Anpassung an den Klimawandel zur Verfügung stellen.
Die Bundesregierung wird sich bei der Konferenz in
Buenos Aires konstruktiv an der Diskussion gerade um
die Auswirkungen des Klimawandels und die notwendigen Anpassungsmaßnahmen beteiligen. Die Beratungen
müssen zusammen mit der Diskussion über die Weiterentwicklung des internationalen Klimaschutzes nach
2012 voranschreiten; denn ohne zukünftige Emissionsminderung und ohne eine Stabilisierung des Klimasystems wird Anpassung in vielen Fällen unbezahlbar oder
gar unmöglich.
Wenn wir über Klimaschutzpolitik reden, müssen wir
auch über die Konsequenzen des Untätigbleibens reden.
Die Kosten der Flutkatastrophe in Europa 2002 werden auf 16 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Die Hitzewelle 2003 hat zum frühzeitigen Tod vieler, besonders
älterer Menschen geführt und volkswirtschaftliche Kosten in Europa von 13,5 Milliarden US-Dollar verursacht.
In Grenadas Hauptstadt Georgetown wurden in diesem
Sommer 90 Prozent der Häuser durch einen der vier
Wirbelstürme der diesjährigen Hurrikansaison zerstört.
Allein in Florida summieren sich die unmittelbaren
Schäden der Hurrikans in diesem Herbst auf mehr als
25 Milliarden US-Dollar. Solche Ereignisse werden sich
häufen. Klimaschutz ist machbar. Ein Untätigbleiben
können wir uns jedoch nicht leisten.
Die nächsten Jahre werden entscheidend dafür sein,
ob nicht mehr hinnehmbare Folgen des Klimawandels
wirklich verhindert werden können. Unsere Leitlinie ist
klar: Eine globale Erwärmung um mehr als zwei Grad
gegenüber den vorindustriellen Werten muss verhindert
werden. Kioto ist ein wichtiger, aber nur ein erster
Schritt. Weitere ehrgeizige Schritte müssen folgen.
Was sind die nächsten Schritte? Der Europäische Rat
wird sich auf dem kommenden Frühjahrsgipfel mit Strategien und Zielvorgaben zur mittel- und langfristigen
Emissionsminderung beschäftigen, die auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen. Wissenschaftliche Abschätzungen zeigen, dass die Treibhausgasemissionen
weltweit bis 2050 um etwa die Hälfte zurückgehen müssen. Da die Emissionen in Entwicklungsländern zunächst aber noch steigen werden, bedeutet das für die Industriestaaten eine Minderung um etwa 80 Prozent.
Erste Notwendigkeit: Die Industrieländer müssen sich
auf ehrgeizige Reduktionsziele verständigen. Dabei ist
eine ausgewogene Verteilung der Klimaschutzanstrengungen auf die beteiligten Staaten erforderlich. In diesem Zusammenhang setzt sich die Bundesregierung
dafür ein, dass sich die EU ein mittelfristiges Reduktionsziel von 30 Prozent bis 2020 setzt. Unter dieser Voraussetzung wird Deutschland seine Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber dem Niveau von 1990 um
40 Prozent reduzieren. Wir müssen aber auch die USA
wieder in den internationalen Klimaschutzprozess einbinden. Der größte Verursacher von Treibhausgasemissionen muss seiner Verantwortung endlich gerecht werden.
({5})
Zweitens. Auch Schwellen- und Entwicklungsländer mit hohen und rasch wachsenden Emissionen müssen erste wirksame Klimaschutzverpflichtungen übernehmen. Wir können es uns global nicht leisten, dass
diese Länder - ich sage es einmal so - die gleichen Fehler begehen wie wir. Wir brauchen eine globale Energiewende. Ziel ist eine weltweit nachhaltige Energieversorgung durch den Ausbau erneuerbarer Energien und
die massive Erhöhung der Energieeffizienz beim Einsatz
fossiler Energieträger. Bei der Deckung des absehbaren
zusätzlichen Energiebedarfs in Schwellen- und Entwicklungsländern wird der Nutzung erneuerbarer Energien
eine Schlüsselrolle zukommen.
Ich finde es ermutigend, dass sich China, das sein
Bruttosozialprodukt bis 2020 vervierfachen will, gleichzeitig vorgenommen hat, bis 2010 10 Prozent seines
Stroms regenerativ zu erzeugen. Das zeigt übrigens, dass
hier ein Markt von durchaus großem Interesse auch für
deutsche Firmen entsteht.
Drittens. Wir brauchen Politiken und Maßnahmen für
den bisher nicht erfassten grenzüberschreitenden Flugund Schiffsverkehr. Internationale Wettbewerbsgesichtspunkte sind dabei zu berücksichtigen. Die Treibhausgasemissionen des internationalen Flug- und Schiffsverkehrs nehmen weiter zu und gefährden die Erfolge
der Klimaschutzpolitik. Der UNEP-Chef Klaus Töpfer
hat Recht - ich zitiere ihn -: Es ist ökologisch ein Unding, dass der Treibstoff so weit heruntersubventioniert
wird, dass Flüge für 10, 20 oder 30 Euro zu haben sind.
({6})
Meine Damen und Herren, wir stehen an einem Wendepunkt. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den
Bundeskanzler zitieren:
Wer beim Klimaschutz bremst oder auch nur auf
der Stelle tritt, wird in nur wenigen Jahren den Anschluss an die wichtigsten Märkte des nächsten
Jahrhunderts verpassen.
Bei aller Freude über das In-Kraft-Treten des KiotoProtokolls - es bleibt kaum Zeit zum Feiern. Wir müssen
weiter an der Bekämpfung des globalen Klimawandels
arbeiten. Aktive Klimaschutzpolitik bietet eine Chance,
Katastrophen abzuschwächen bzw. zu vermeiden.
Aktive Klimaschutzpolitik bietet eine Chance für größere Unabhängigkeit vom Öl und damit für mehr Versorgungssicherheit im Energiebereich. Aktive Klimaschutzpolitik bietet auch und gerade eine Chance für
nachhaltiges globales Wachstum und für mehr Beschäftigung. Vor allen Dingen stehen wir aber vor der Herausforderung, unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen gerecht zu werden.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Lippold, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sieben Jahre sind vergangen, seit die internationale Staatengemeinschaft das Kioto-Protokoll
angenommen hat. In dieser Zeit - so müssen wir feststellen - haben sich die Trends, auf die wir damals beschwörend hingewiesen haben, ganz entscheidend verstärkt:
Ich denke an die Abschmelzung der Polkappen sowie
zunehmende Versteppung und Desertifikation, das heißt
die Verwüstung von Böden. Darüber hinaus geht es aber
auch um Fragen wie die Vernichtung der tropischen Regenwälder und um die möglichen Folgen eines Anstiegs
des Meeresspiegels. Ich glaube, wir sind über den Punkt
hinaus, dass man infrage stellen könnte, dass sich die
Dinge katastrophal entwickeln werden, wenn wir nicht
endlich handeln.
({0})
Das ist für uns deshalb von besonderer Bedeutung, weil
die großen Schadensfolgen, die damit verbunden sind,
noch von keinem richtig eingeschätzt werden. Ich
glaube, die Schätzungen, die wir vorliegen haben, stellen
eher die Untergrenze der auf uns zukommenden Bedrohungen als die Obergrenze dar.
Für uns in der CDU/CSU-Fraktion ist das Anlass, unserer eigenen Politik im Klimaschutz- und Umweltbereich eine ethische Fundierung zu geben. Wir meinen
nämlich, aus umweltethischen Gründen ist es geboten,
den nachfolgenden Generationen eine bewohnbare, die
wachsende Bevölkerung menschenwürdig versorgende
und deren Entwicklungschancen berücksichtigende Welt
zu übergeben. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass die
Armutsgrenze zwischen Nord und Süd überwunden
wird. Wir im Norden müssen unseren Verpflichtungen
dem Süden gegenüber nachkommen. Notwendig ist
auch, dass wir den Artenreichtum der Schöpfung bewahren. Gerade hier gibt es zurzeit ganz ernste Probleme.
({1})
Vor dem Hintergrund der Vision einer ungeteilten bewohnbaren Welt müssen wir bei aller Freude über das
In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls auch sehen, dass
dieses - da teilen wir Ihre Einschätzung, Herr Minister nur einen ersten wichtigen Schritt darstellt.
Wissenschaftler warnen uns davor, Umwelt- und Klimaschutzpolitik nur als Symbolpolitik zu betreiben. Wir
müssen weitere harte, konkrete Verpflichtungen nachfolgen lassen, um die Probleme zu lösen. Deshalb will ich,
bei aller Notwendigkeit, in Buenos Aires über Anpassungsmaßnahmen zu sprechen, noch einmal darauf hinweisen, dass wir darüber hinaus an der Weiterentwicklung der Vorsorgepolitik zwingend arbeiten müssen;
denn mit Anpassungsmaßnahmen allein werden wir die
Probleme nicht lösen.
({2})
Da diese Anpassungsmaßnahmen zum Beispiel in den
Inselstaaten des Pazifik überhaupt nicht möglich sind,
müssen wir von vornherein auf andere Regelungen hinarbeiten.
Ich freue mich darüber, dass Russland für die Ratifikation des Protokolls gewonnen werden konnte; das ist
ein ganz entscheidender Schritt. Wir sollten nun gemeinsam mit der Russischen Föderation darüber nachdenken,
wie wir auch bilateral in diesen Fragen Positionen weiterentwickeln können.
Ich will damit aber auch die Aufforderung an die
Bundesregierung verbinden, dass wir uns darum bemühen, auch die USA für diesen Prozess zu gewinnen. Es
gibt erfreuliche Anzeichen im Kongress - ich denke an
McCaine - und im Senat. Amerikanische Politiker überlegen jetzt offensichtlich, ob sie sich diesen Fragen nicht
in anderer Form zuwenden sollten, als das früher der Fall
war. Wir sollten mit diesen das Gespräch suchen und den
Ansatz weiterentwickeln, um die USA für die Lösung
unseres Problems zu gewinnen.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir
nicht handeln, werden jährlich allein 500 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich ausgestoßen. Das überspielt die bisherigen Erfolge, die wir in der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel durch den Ausstieg aus FCKW, den
Fluorkohlenwasserstoffen, erreicht haben. Das war ein
guter und richtiger Schritt, aber es macht deutlich, dass
unser Handeln allein nicht ausreichend ist. Wir müssen
über Russland und die USA hinaus insbesondere die
Schwellenländer in den weiteren Prozess einbeziehen.
Dabei müssen wir als Industrieländer uns nach wie vor
unserer besonderen Rolle in diesem Prozess bewusst
sein.
Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, China
wolle 10 Prozent seiner Energie regenerativ erzeugen.
Das ist positiv. Aber bei der Explosion des Energieverbrauchs in China stellt sich natürlich die Frage: Was ist
mit den verbleibenden 90 Prozent? Wie wird sich dies in
Zukunft entwickeln? Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, werden alle Einsparmaßnahmen in den Industrieländern der westlichen Welt durch die Entwicklung in
Dr. Klaus W. Lippold ({4})
den Schwellenländern überspielt. Deshalb ist das für uns
ein ganz zentraler Punkt, an dem wir ansetzen müssen.
Ich glaube, das können wir nicht so laufen lassen.
({5})
Gleichzeitig sollte Deutschland auf die EU einwirken,
in Richtung der anderen Wirtschaftsblöcke - APEC,
AFTA, NAFTA - eine vergleichbare Politik zu betreiben
wie innerhalb der Europäischen Union. Wir müssen auch
auf dieser Ebene Mitstreiter gewinnen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Das heißt aber auch, dass wir beispielhaft sein müssen bei der Reduzierung von Emissionen
über verschiedene Instrumente. Auf europäischer Ebene
haben wir jetzt Emissions Trading, den Handel mit
Emissionsrechten, eingeführt. Das ist ein guter Schritt.
Wir müssten solche Vereinbarungen aber nicht nur auf
der Ebene der EU, sondern weltweit haben. Erst dann
wird das Instrument voll funktionsfähig.
({6})
Ich bitte auch darum, Herr Minister, dass wir die Möglichkeiten, die über Clean Development Mechanism und
Joint Implementation gegeben sind, in vollem Umfang
und nicht begrenzt nutzen.
({7})
Es ist egal, wo Kohlendioxid emittiert wird; es kommt
darauf an, dass diese Emissionen reduziert werden. Deshalb ist wichtig, hier keine Begrenzung vorzusehen. Reduktionsleistungen sollten dort erbracht werden, wo sie
kostengünstig möglich sind.
Sie haben in der letzten Diskussion zu dieser Frage
noch einmal darauf hingewiesen, dass das bei der
Selbstverpflichtung nicht der Fall sei. Herr Minister,
die Selbstverpflichtung hatte ein anderes Ziel und in dieser Hinsicht waren wir in der Bundesrepublik erfolgreich. Die Selbstverpflichtung zielte darauf ab, dass wir
für die Bundesrepublik Deutschland ein Ziel vorgeben,
aber der Wirtschaft die kostengünstigste Möglichkeit belassen, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb ist eine Selbstverpflichtung nach wie vor sinnvoll und nicht so zu qualifizieren, wie Sie es damals gemacht haben.
({8})
Ich gehe davon aus, dass wir heute, Herr Minister, so
viel Übereinstimmung haben wie selten zuvor in einer
Debatte in diesem Hause. Ich halte das nicht für falsch,
weil ich glaube, dass unsere gemeinschaftlichen Anstrengungen weltweit - Sie haben auf die Klimaschutzkommissionen verwiesen - von Erfolg gekrönt waren.
Aber, Herr Minister, das erspart uns natürlich nicht,
auch einmal darauf hinzuweisen, dass das eine oder andere nicht geschehen ist und dass Sie sich klammheimlich von dem einen oder anderen verabschiedet haben.
Sie schreiben in dem Antrag, den Sie heute als Koalition
vorlegen, dass Deutschland seine nationale Reduktionspflicht - 21 Prozent der Emission von Treibhausgasen
gegenüber dem Basisjahr 1990 - in dem vorgesehenen
Zeitraum, der erst später liegt, erfülle. Sie sagen aber
nicht, dass wir ursprünglich einmal von einer Verpflichtung von 25 Prozent Reduktion ausgegangen sind. Der
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der
BUND, ruft das sehr deutlich in Erinnerung und sagt:
Deshalb wird das nationale Klimaschutzziel zur
Verringerung der Kohlendioxid-Emissionen um
25 Prozent bis 2005 gegenüber 1990 mit großem
Abstand verfehlt werden.
Herr Minister, Sie sollten sehen, was Sie verpasst haben,
warum Sie es verpasst haben und wie wichtig es ist, etwas zu tun.
Gerade der letzte Ansatz, Herr Minister, ist ganz entscheidend, damit wir über Ankündigungen hinauskommen. Sie haben zu Beginn dieses Jahres gesagt, Sie wollten ein überarbeitetes Klimaschutzprogramm vorlegen.
({9})
Wir haben jetzt Ende des Jahres 2004 und ich sehe nicht,
Herr Minister, dass dieses überarbeitete Klimaschutzprogramm vorläge. Ankündigungen genügen nicht.
({10})
Die Frage, was wir 2020 und 2040 erreichen, ist sicherlich von Bedeutung. Aber wichtiger ist, dass wir die
Nahziele erreichen und uns nicht mit Fernzielen über das
Nichterreichen von Nahzielen hinwegtäuschen. Das kann
es nicht sein; deshalb müssen wir da anders vorgehen.
({11})
Wir erwarten, dass Sie dies mit einem energiepolitischen Gesamtkonzept leisten, das Sie in dieses Klimaschutzprogramm einbauen. Wir gehen nach wie vor davon aus, dass wir einen vollständigen Energiemix
brauchen, nicht einen eingeschränkten, wie Sie ihn vorsehen,
({12})
weil Sie das Ziel auf diese Art und Weise nicht erreichen
können. Ich bitte Sie auch, Herr Minister, sehr deutlich
zu machen, dass wir auf internationaler Ebene noch stärker als bisher vorgehen müssen.
Lassen Sie mich aber noch einen Punkt aufgreifen,
den Sie angesprochen haben: Gebäudesanierung. Wir
gehen nach wie vor davon aus, dass hier ein entscheidendes, großes Potenzial liegt. Aber wir bitten Sie, das wahr
zu machen, was Sie in Ihr Koalitionspapier geschrieben
haben, nämlich hier steuerliche Anreize zu verankern.
Dieser Punkt fehlt. Damit könnte eine CO2-Minderung
in einer Höhe erreicht werden, die wir mit den bisherigen Instrumenten nicht erreichen. Bitte reden Sie nicht
nur darüber, sondern handeln Sie auch.
({13})
Dann kommen wir weiter.
Dr. Klaus W. Lippold ({14})
Wir werden Sie auch unterstützen, wenn es darum
geht, im Bereich der Reduktion der Emissionen im Verkehr, der autobezogenen Emissionen, weiterzukommen.
Ich glaube, dass hier ein weiterer deutlicher und wichtiger Ansatzpunkt liegt.
Wir müssen, Herr Minister, die internationale Umweltpolitik reformieren. Dem UNEP fehlen Mandat und
Ressourcen. Die CSD kann die Richtung der globalen
Umweltpolitik kaum beeinflussen. Die Sekretariate der
Umweltkonventionen sind weltweit verstreut. Die Global Environmental Facility ist unterfinanziert. Hier gibt
es genügend Ansatzpunkte, bei denen wir etwas tun
müssen, etwas ändern müssen.
Ich glaube, wir werden über alle Fraktionen hinweg
mit unseren Wirtschaftspolitikern noch einmal über die
Vereinbarkeit von Umweltschutz und WTO sprechen
müssen.
({15})
Das ist ein Ansatz, den ich für wichtig und richtig halte.
So wie wir in der Union das Klimaschutzziel in der Gesamtzielsetzung unserer politischen Arbeit verankern
wollen, müssen wir dieses Ziel auch gemeinschaftlich
verknüpfen und die WTO-Regeln mit dem Umweltschutz in Einklang bringen.
Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, dass
wir uns gemeinschaftlich darum bemühen sollten, unseren Beitrag zu einem schnelleren Erreichen des globalen
Ziels zu leisten. Es ist wahrscheinlich die bedeutendste
Herausforderung, die vor uns liegt. Wir sollten sie, wie
gesagt, gemeinschaftlich angehen. Das hilft unseren
Bürgern und den Menschen weltweit.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Kelber, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wird immer deutlicher: Der durch Menschen verursachte Klimawandel ist die größte globale Herausforderung unserer Zeit. Bundeskanzler Gerhard Schröder
hat es auf dem Weltnachhaltigkeitsgipfel 2002 in Johannesburg festgehalten:
Die weltweite Zunahme extremer Wetterereignisse
zeigt eines ganz klar: Der Klimawandel ist keine
skeptische Prognose mehr - er ist bittere Realität,
weltweit, in allen Kontinenten ... Diese Herausforderung verlangt von uns entschiedenes Handeln.
Diese Ansicht wird von immer mehr politischen Führern
geteilt. Ich nenne beispielsweise Tony Blair, dessen wissenschaftlicher Chefberater den Klimawandel für eine
größere Bedrohung hält als den internationalen Terrorismus.
Aber auch in den Unternehmen setzt sich diese Einsicht durch. In der letzten Sitzungswoche gab es eine
Veranstaltung von BP Deutschland, auf der der Vorstandsvorsitzende Dr. Franke den Klimawandel ebenfalls als die „größte Herausforderung“ bezeichnet hat
und die Politik aufgefordert hat, schnell Klimaschutzziele für den Zeitraum bis zum Jahr 2050 zu nennen, damit der Investitionsrahmen geklärt werden kann.
({0})
Angesichts der Größe dieser Herausforderung ist die
Tatsache, dass das Kioto-Protokoll unwiderruflich am
16. Februar nächsten Jahres in Kraft tritt, gar nicht hoch
genug einzuschätzen. Die Ratifizierung des Kioto-Protokolls durch Russland ist auch ein Erfolg europäischer
und deutscher Diplomatie; denn der Druck der USA auf
Russland, nicht zu ratifizieren, war enorm. Deswegen
sage ich: Es ist auch ein persönlicher Erfolg des Bundeskanzlers, der dieses Thema immer wieder in Moskau angesprochen hat.
({1})
Ich spreche übrigens ganz bewusst von der „Herausforderung Klimawandel“ und nicht von der „Bedrohung
Klimawandel“. Natürlich sind die Gefahren durch den
Klimawandel so dramatisch, dass sich sowohl Nichthandeln als auch zögerliches Handeln von selbst verbieten.
Aber bloß Negativszenarien zu beschreiben löst in der
Öffentlichkeit nichts anderes aus als Resignation. Deswegen müssen wir die großen Chancen, die die Klimaschutzpolitik mit sich bringt, betonen. Es sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Chancen, für die es sich
zu engagieren lohnt. Davon muss man die Menschen
überzeugen.
({2})
Es sind neue, energieeffiziente Produkte, die der Klimaschutz hervorbringt und mit denen Deutschland auf
dem Weltmarkt punkten kann. Es sind die eingesparten
Kosten für die Energieträger, die in die Finanzierung von
Dienstleistungen fließen und dort neue Arbeitsplätze
schaffen können. Ich will es einmal so sagen: Ich finanziere doch lieber den Handwerker, der auf meinem Dach
Wärmedämmungen anbringt, als fundamentalistische
Strukturen in Saudi-Arabien über das Begleichen meiner
Ölrechnung.
({3})
- Ich bin kein Außenpolitiker und darf das deswegen
einmal deutlich aussprechen.
Angesichts der Tatsache, dass in der verarbeitenden
Industrie in Deutschland Löhne und Nebenkosten nur
21 Prozent, aber Material- und Energiekosten 56 Prozent
der Gesamtkosten ausmachen, wird deutlich, dass der
Klimaschutz ein sehr großes Kostensenkungspotenzial
auch in der verarbeitenden Industrie hat. Das ist für den
Standort Deutschland sehr wichtig. Klimaschutz kann
dazu beitragen, dass die Kosten der Unternehmen, die
von schwankenden Energiepreisen sehr betroffen sind,
gesenkt werden können.
Klimaschutz bietet aber auch gesellschaftliche Chancen. Es muss offen angesprochen werden: Unser weltweites System der Versorgung mit Rohstoffen und Energie funktioniert leidlich für 1 Milliarde Menschen und
das auch nur für einen sehr eng begrenzten Zeitraum,
nämlich in der Gegenwart. Es bietet dem Großteil der
Menschheit aber keine Chance, Wohlstand zu erlangen,
und nimmt den kommenden Generationen diese Chance
für die Zukunft. Deswegen ist es richtig, aus jeder Tonne
Öl, aus jeder Kilowattstunde Strom und aus jeder
Schiffsladung Rohstoffe wesentlich mehr Wohlstand herauszuholen, um damit heute mehr Menschen und auch
den kommenden Generationen zu ermöglichen, in Wohlstand leben zu können.
({4})
Wenn am 16. Februar das Kioto-Protokoll in Kraft
tritt, dann sind die Klimaschutzziele bis 2010/2012 festgelegt. Aber wir müssen schon heute über das KiotoProtokoll hinausdenken. Was kommt dann? Diese Debatte wird in Buenos Aires beginnen und nächstes Jahr
innerhalb der Europäischen Union und der G 8 fortgeführt. Es geht darum - dies ist erwähnt worden -, den
Anstieg der Durchschnittstemperatur auf der Erde auf
maximal 2 Grad zu beschränken. Nur dann - so die Meinung der Wissenschaft - ist dieser Klimawandel einigermaßen zu bewältigen.
Früher haben die Lobbyisten einfach geleugnet, dass
es einen Klimawandel gibt. Heute sind sie etwas geschickter. Sie wollen uns weismachen, es sei viel besser
und billiger, sich an die höheren Temperaturen anzupassen, als die Emissionen von Treibhausgasen drastisch zu
senken.
Man sollte sich einmal die entsprechenden Zahlen
und Ereignisse anschauen. Das Deutsche Institut für
Wirtschaft schätzt, dass selbst ein gemäßigter Klimawandel allein in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten Kosten von fast 150 Milliarden Euro - es spricht
noch von 137 Milliarden und mehr - verursachen wird.
Das sind die Folgekosten vermehrter Wetterextreme, von
Dürreschäden, Deichbauten und anderem mehr.
Nicht enthalten sind in dieser Schätzung die zu erwartenden Opfer an Menschenleben. Gestern wurde eine
Studie renommierter europäischer Wissenschaftler aus
dem Bereich Wetter und Klima veröffentlicht, die besagt, dass der Extremsommer 2003 zu 90-prozentiger
Wahrscheinlichkeit bereits auf den menschlich verursachten Klimawandel zurückzuführen ist. Man hat einen
statistischen Abgleich mit den Zahlen in anderen Sommern durchgeführt und ist zu dem Ergebnis gekommen:
Es gab allein in Deutschland 7 000 zusätzliche Hitzetote,
35 000 in Europa. Das sind Größenordnungen, die wir
uns vor Augen führen müssen.
Was werden wohl die Angehörigen der Todesopfer
der Stürme in Haiti und Japan davon halten, dass es eine
Diskussion darüber gibt, ob man sich statt des Klimaschutzes einfach an den Klimawandel anpassen sollte?
Seit Menschengedenken sind noch nie in so kurzer Zeit
so starke Stürme in so kurzen Abständen über diese Regionen hereingebrochen.
Reine Anpassung ist keine Lösung; wir brauchen eine
deutliche Senkung der Emissionen. Wer etwas anderes
vorschlägt, setzt seine eigenen kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteile vor das Allgemeinwohl.
({5})
Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages
hat festgestellt, dass in den Industriestaaten zur Begrenzung des Klimawandels eine Reduktion der Emissionen von Treibhausgasen um 80 Prozent bis 2050 notwendig ist. Diese Einschätzung wurde von den
führenden Wissenschaftlern der Welt immer wieder bestätigt.
SPD und Grüne haben sich vorgenommen, bis 2020
die Emissionen in Deutschland um 40 Prozent zu senken, wenn sich die EU zu einer Senkung um 30 Prozent
verpflichtet. Außerdem - auch das können Sie dem
heutigen Antrag entnehmen - wollen wir die Initiativen anderer europäischer Staaten, zum Beispiel die
Schwedens und Großbritanniens, bis 2050 die Emissionen in der EU um 60 Prozent zu senken, aufgreifen und
zu einer gemeinsamen europäischen Initiative weiterentwickeln.
({6})
Ich erinnere an das Zitat des Chefs von BP Deutschland: Die Wirtschaft will diese langfristigen Perspektiven. Sie will wissen, in welche Richtung sie investieren
soll, weil sie Wirtschaftsgüter benötigt, die über 30 oder
40 Jahre abgeschrieben werden müssen.
Wir wollen auch die Entwicklungs- und Schwellenländer in den Klimaschutz einbinden. Wir bekennen uns
in unserem heutigen Antrag dazu, dass in dieser Frage
auf lange Sicht weltweit nur ein für alle Menschen gleiches, einziges Recht existieren kann. Niemand kann sich
auf Dauer das Recht herausnehmen, mehr Treibhausgase
emittieren zu dürfen als Menschen in anderen Regionen
dieser Welt.
({7})
Wenn die Industriestaaten dieses Bekenntnis abgeben,
wird dies die Entwicklungs- und Schwellenländer dazu
bewegen, ebenfalls Verpflichtungen im Rahmen des Klimaschutzes zu übernehmen.
Wenn das die Entwicklungs- und Schwellenländer
tun, hat das einen weiteren Vorteil; denn das Nichteinbinden der Entwicklungs- und Schwellenländer war immer ein von den Vereinigten Staaten vorgetragenes
Argument dafür, sich nicht an den weltweiten Anstrengungen zum Klimaschutz zu beteiligen. Dieses Argument wäre weg. Wir sollten dann nicht in dem Druck
nachlassen, darauf hinzuwirken, dass die USA entweder
das Kioto-Protokoll oder spätestens die Nachfolgevereinbarungen ebenfalls ratifizieren und als weltweit größter Emittent ihrer Verantwortung an dieser Stelle nachkommen.
({8})
Ich möchte dazu einen weiteren Vorschlag machen.
Um den Druck weiter zu erhöhen, sollte die Europäische
Union anbieten, dass einzelne Bundesstaaten der USA
dem europäischen Emissionshandel beitreten können.
Denn auf der Ebene der Bundesstaaten gibt es einen großen Widerspruch zur Klimaschutzpolitik von George
Bush. Diese Kritik muss gestärkt werden, um an dieser
Stelle zu einem anderen Ergebnis zu kommen.
Beruhigend ist in diesem Zusammenhang, dass es die
US-Wirtschaft ist, die beginnt, den Druck auf den Präsidenten zu erhöhen. Denn sie befürchtet erstens, nicht mit
wettbewerbsfähigen Produkten auf dem Weltmarkt auftreten zu können. Zweitens achten die weltweit agierenden Investmentfonds, die zur Refinanzierung der wirtschaftlichen Tätigkeit dienen, immer stärker darauf, ob
eine Firma auf eine Welt mit mehr Klimaschutz vorbereitet ist. In dieser Hinsicht bekommen die amerikanischen Unternehmen immer schlechtere Noten und damit
Probleme mit ihrer Refinanzierung. Von daher beginnt
auch das Weltfinanzsystem, den Klimaschutz stückweise
zu unterstützen.
Die Enquete-Kommission des Bundestages hat nachgewiesen, dass Klimaschutz keine wirtschaftlichen
Nachteile mit sich bringt. Im Gegenteil, mit dem Emissionshandel, der Förderung erneuerbarer Energien und
auch dem fortzuschreibenden Klimaschutzprogramm haben wir effiziente Instrumente. Wir werden aber neue
Instrumente entwickeln müssen. Ich schlage zum Beispiel vor, dass man von dem japanischen Beispiel lernt
und ein deutsches und europäisches Top-Runner-Programm einführt. Das heißt, man identifiziert die wichtigsten Energie verbrauchenden Produkte - PCs, Klimaanlagen, Kühlschränke, Autos - und schreibt vor, dass
jedes Produkt innerhalb kürzester Zeit den Energieeffizienzstandard des zu dem Zeitpunkt effizientesten Produkts erreichen muss. Es wird also etwa in 2004 gesagt:
In 2010 darf kein PC mehr verkauft werden, der nicht
wenigstens die Energieeffizienz des besten PCs des Jahres 2004 erreicht. Die Japaner werden dies tun und allein
damit ihre CO2-Emissionen vermutlich um 16 Prozent in
den nächsten 15 Jahren reduzieren.
({9})
Klimaschutz bietet also neue Produkte, neue Jobs,
neue Möglichkeiten und mehr Nachhaltigkeit. Der Klimaschutz ist eine große Chance. Diese Chance müssen
wir beherzt und konsequent ergreifen.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte gibt uns Gelegenheit, noch einmal über
die Situation des internationalen Klimaschutzes kurz vor
dem Beginn der nächsten Klimakonferenz zu sprechen.
Die FDP begrüßt, dass durch die Ratifizierung des
Kioto-Protokolls durch Russland ein Durchbruch für den
internationalen Klimaschutz erzielt wurde. Endlich kann
nun das Kioto-Protokoll in Kraft treten.
({0})
Das ist auf der einen Seite ein Verdienst des Deutschen Bundestages, dessen Enquete-Kommission zum
Schutz der Erdatmosphäre schon vor 14 Jahren für eine
konsequente Klimaschutzpolitik votiert hat. Die Verhandlungen über das Kioto-Protokoll wurden allesamt in
den 90er-Jahren begonnen und 1997 beendet, unter Regierungsbeteiligung der FDP. Herr Minister Trittin, da
Sie hier heute Morgen ausgeführt haben, dass die Unterschrift Russlands auch ein Erfolg der jetzigen Regierung
war, hätten Sie dazusagen sollen, dass das auch ein Erfolg der parlamentarischen Bemühungen war; denn hier
haben sich vor allen Dingen die Parlamente - auch der
Umweltausschuss des Deutschen Bundestages - eingeschaltet und Gespräche geführt. Deshalb ist das ein Gesamterfolg der Parlamente auf der Welt.
({1})
Jetzt ist von entscheidender Bedeutung, dass der
Kioto-Prozess in Gang gehalten wird und dass weitere
Länder, insbesondere die USA, dazu bewogen werden,
der Kioto-Gemeinschaft beizutreten. Es müssen rechtzeitig tragfähige Konzepte für das Kioto-Protokoll und
seine Instrumente auch für die Zeit nach 2012 entwickelt
werden. Ich kann Ihnen vonseiten der FDP weiterhin
eine konstruktive Zusammenarbeit anbieten. Ich muss
Ihnen aber sagen, Herr Minister Trittin, dass ich erwartet
hätte, dass Sie hier heute Morgen etwas dazu sagen, wie
Sie auf internationaler Ebene in den Klimaverhandlungen weiter verfahren wollen. Da Sie das nicht getan haben, wird die FDP-Bundestagsfraktion für die nächste
Sitzung des Umweltausschusses einen Bericht anfordern, damit Sie uns Rede und Antwort stehen und uns
sagen, wie Sie diesen internationalen Prozess befördern
wollen.
({2})
Sie haben ja so schön gesagt, Herr Trittin, dass
Deutschland der Hauptarchitekt der internationalen Klimapolitik sei. Leider kann man nicht behaupten, dass
dies unter Ihrer Ressortverantwortung zutrifft. Wenn ich
mir anschaue, wie die Bedingungen in Europa zustande
gekommen sind, dann muss ich feststellen, dass
Deutschland dies nicht wirklich beeinflusst hat. Die Voraussetzungen zur Nutzung der flexiblen Instrumente des
Kioto-Protokolls - Joint Implementation, CDM und
Kohlenstoffsenken - sind in Deutschland nach wie vor
nicht geschaffen. Die FDP hat hier in den letzten Jahren
in insgesamt acht Anträgen konkrete Vorschläge unterbreitet. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht, wie wir
Deutschland auf den Emissionshandel und die Absenkung von Emissionen vorbereiten können. All diese Anträge haben Sie mit den Stimmen von Rot-Grün abgelehnt.
({3})
Ich habe mit Verwunderung das große Lob, das Sie
heute Morgen dem Emissionshandel erteilt haben, zur
Kenntnis genommen. Ich kann mich noch gut erinnern,
wie lange Sie sich dagegen gesträubt haben, den Emissionshandel in Deutschland einzuführen. Letztendlich
wird der Emissionshandel in Deutschland durch den
Zwang der EU zum 1. Januar nächsten Jahres eingeführt.
Wenn es nach uns gegangen wäre, wäre dieses effiziente
Instrument zur Erreichung von Klimaschutzzielen in
Deutschland sehr viel früher eingeführt worden.
({4})
Die FDP bekennt sich dazu, dass wir auch auf nationaler Ebene Anstrengungen unternehmen und verstärken
müssen, um zu einem wirksamen und auch wirtschaftlichen Klimaschutz zu kommen. Dazu muss für Deutschland allerdings ein schlüssiges Gesamtkonzept unter
Einbeziehung aller Instrumente und Sektoren erarbeitet
werden. Im Augenblick gilt der Emissionshandel nur für
die Industrie. Wir haben Sie aufgefordert, dieses Instrument auf die Bereiche Verkehr und Haushalte auszuweiten. Wir brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept. Das
von Ihnen angekündigte überarbeitete Klimaschutzprogramm liegt immer noch nicht vor.
Ihre Aussage, Sie wollten sich für eine Emissionsminderung innerhalb der EU um insgesamt 30 Prozent und
- unter dieser Voraussetzung - in Deutschland um
40 Prozent einsetzen, ist, Herr Minister Trittin, ein hilfloser Versuch, zu überdecken, dass Sie für Deutschland
kein klimapolitisches Gesamtkonzept haben.
({5})
Wir brauchen Energieeinsparungen, wir brauchen Anstrengungen zur Steigerung der Energieeffizienz und wir
brauchen Anstrengungen im Bereich der erneuerbaren
Energien. Aber das, was bis jetzt vorliegt, ist Stückwerk.
Wir brauchen in Deutschland ein Energiegesamtkonzept.
Wir haben auch dazu einen Antrag vorgelegt.
Herr Minister, Sie haben gesagt, dass die Abhängigkeit vom Öl verringert werden soll. Sie haben aber nicht
gesagt, dass auch die Abhängigkeit vom Gas verringert
werden soll. Sie haben im Zusammenhang mit dem
Emissionshandel Anreize für eine verstärkte Nutzung
von Gas gesetzt. Sie haben aber keinen Ton dazu gesagt,
dass bereits in 20 Jahren die Gasvorräte überwiegend in
Russland und Turkmenistan sein werden. Das sind nicht
unbedingt die stabilen Regionen dieser Erde.
({6})
Wenn Sie davon reden, dass wir die Abhängigkeit vom
Öl verringern sollen, sollte das auch für andere Bereiche
gelten.
Hier stellt sich die Frage, Herr Trittin: Was sagen Sie
eigentlich zu dem glorreichen Vorstoß des Kanzlers,
({7})
die Nutzung von Gas und Öl aus Russland in Deutschland zu stärken und eine Initiative zu ergreifen für ein
deutsches Finanzkonsortium zur Beteiligung an dem lukrativen Gasgeschäft in Russland? Sehr verehrter Herr
Minister Trittin, ich bin der Meinung, dass diese Bundesregierung hier einen großen Fehler macht. Sie erhöhen damit zum einen die Abhängigkeit von einer bestimmten Region. Zum anderen - das ist für uns ein ganz
besonderer Punkt - ist die Firma Jukos in Russland enteignet worden; dem bisherigen Eigentümer wird ein
rechtsstaatswidriger Prozess gemacht. Wenn dann die
deutsche Bundesregierung dazu auffordert, das Kernstück dieses Konzerns zu kaufen bzw. sich daran zu beteiligen, ist das aus deutscher Sicht nicht nur klimapolitischer, sondern auch energiepolitischer Unsinn. Das ist
vor allen Dingen auch unter dem Gesichtspunkt der
Wahrung der Menschenrechte ein unmögliches Verhalten dieser Bundesregierung.
({8})
Sie verkennen, dass in wenigen Jahrzehnten mehr als
die Hälfte aller Treibhausgasemissionen in Schwellenund Entwicklungsländern auftreten werden. Mit flexiblen Instrumenten könnten wir hier eine kostengünstige Reduzierung der Emissionen erreichen. Gerade in
diesen Ländern gibt es riesige Potenziale für die Senkung von Emissionen, und zwar sowohl ökologisch als
auch ökonomisch, weil man dort die Emissionen zu
deutlich niedrigen Kosten mindern kann. Da das Weltklima an Grenzen nicht Halt macht, sollten wir dieses
Potenzial endlich nutzen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Hier haben Sie versagt! Andere Länder in Europa
haben aufgrund des Kioto-Protokolls bereits heute Vereinbarungen getroffen, damit diese flexiblen Instrumente
zur Reduzierung von Klimagasemissionen genutzt werden können. Dazu gehören die Niederlande, Österreich,
Dänemark und Norwegen. Ich könnte Ihnen auch noch
andere Länder aufzählen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: In Deutschland ist all das noch nicht gemacht worden. Es hätte aber gemacht werden müssen. Hier haben
Sie schlicht und ergreifend versagt.
({9})
Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, dass
die Bundesregierung mit geeigneten Schwellen- und Entwicklungsländern baldmöglichst in Verhandlungen über
zwischenstaatliche Übereinkommen zur gemeinsamen
Durchführung von Klimaschutzprojekten tritt. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass deutsche und ausländische
Unternehmen gemeinsam diese Emissionsminderungen
auf rechtlich sicherem Boden durchführen können.
Dabei geht es im Übrigen nicht darum, dass die
Schwellen- und Entwicklungsländer, wie Sie es ausgedrückt haben, nicht dieselben Fehler machen wie wir,
sondern darum, dass wir Technologietransfer gewährleisten, was mit den Instrumenten des Kioto-Protokolls
auf hervorragende Weise möglich ist. Auf der einen
Seite können wir in diesem Bereich Technologie- und
Kapitaltransfer durchführen, auf der anderen Seite Entscheidendes für das Weltklima erreichen. Deswegen
wollen wir, dass diese Instrumente endlich auch in
Deutschland genutzt werden.
({10})
Wir fordern Sie auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der europäischen Richtlinie, der so
genannten Linking Directive, vorzulegen, die am
13. November dieses Jahres in Kraft getreten ist. Darin
wird festgelegt, dass genau diese Instrumente zur Reduzierung der Kosten beim Klimaschutz auch in Deutschland genutzt werden können. Sie haben jetzt ein Jahr
Zeit, um diese Richtlinie umzusetzen. Ich hoffe, Sie werden dieses eine Jahr nicht brauchen. Sie wissen nämlich
schon seit langem, dass diese Richtlinie umgesetzt werden muss. Daher fordern wir Sie auf, sofort einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
({11})
Frau Kollegin, ich muss Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Herr Präsident, Klimaschutz ist eine nationale und
eine internationale Herausforderung. Wir werden sie nur
gemeinsam meistern können. Die FDP wird sich weiterhin konstruktiv daran beteiligen. Herr Minister Trittin,
machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben! Wir feiern das
In-Kraft-Treten des Klimaschutzprotokolls. Diese Bundesregierung allerdings kann man in keiner Weise feiern.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu meinen Ausführungen komme, will ich kurz
dem Kollegen Lippold und der Kollegin Homburger antworten. Herr Lippold, ich finde es gut, dass in diesem
Hohen Hause in Sachen Klimaschutzpolitik offenbar
nach wie vor ein breiter Konsens besteht. Auch finde ich
es richtig, dass man sich, wenn man ein Ziel wie das
2005-Ziel verfehlt, darüber Gedanken macht, warum das
geschehen ist, und dass man darüber Rechenschaft ablegt. Aber ich finde es unstimmig, wenn Sie einerseits
beklagen, dass das 2005-Ziel nicht erreicht worden ist,
andererseits aber jede Klimaschutzmaßnahme, die wir
vorschlagen, ablehnen. Das passt vorne und hinten nicht
zusammen.
({0})
Nun zu Ihnen, Frau Homburger. Sie haben wieder das
Hohelied der flexiblen Instrumente gesungen und von
Clean Development Mechanism und Joint Implementation gesprochen. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer sage
ich: Das bedeutet im Wesentlichen, dass man Klimaschutz außerhalb der eigenen Landesgrenzen betreibt,
weil es dort angeblich billiger ist.
({1})
Unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen, dass ökologische Innovationen und Strukturwandel hier geschehen,
weil wir glauben, dadurch auf den Weltmärkten der Zukunft ganz vorne zu sein. Deswegen brauchen wir hier
im Lande Strukturwandel und Innovationen. Bitte folgen
Sie uns auf diesem Pfad! Das wäre vernünftig.
({2})
Sie haben über unsere Abhängigkeit von Öl und
Gas gesprochen - hier stimme ich Ihnen voll zu -, die zu
groß ist. Beim Öl beträgt sie über 90 Prozent, beim Gas
75 Prozent. Diese Abhängigkeit wird noch stärker werden. Die Diversifizierungsstrategie, der zufolge wir unsere Energie aus verschiedenen Bezugsländern bekommen, ist zwar richtig, aber nur begrenzt möglich. Denn
diese Ressourcen konzentrieren sich nun einmal in einer
bestimmten Region der Welt; das ist so. Übrigens habe
ich nichts gegen Turkmenistan. Bei Ihnen klang im Unterton immer mit: Ausgerechnet Turkmenistan! Meine
Güte, die Gasressourcen sind nun einmal dort. Die beste
Versicherung gegen eine allzu große Abhängigkeit von
Öl und Gas - hier sollten wir uns einig sein - ist Energieeinsparung. Daran müssen wir arbeiten.
({3})
Jetzt komme ich auf die Rahmenbedingungen der Klimapolitik zu sprechen. Es ist sehr wichtig, dass das
Kioto-Protokoll am 16. Februar 2005 in Kraft tritt. Es ist
eine gemeinsame Anstrengung von Bundesregierung
und Bundestag gewesen, sich dafür einzusetzen; das war
richtig. Denn auch in diesem Hause hat es Leute gegeben, die eine andere Tonlage angestimmt haben und für
den Fall, dass das Kioto-Protokoll nicht in Kraft tritt,
über einen Plan B nachdenken wollten. Manche haben
gesagt, das wird sowieso nicht kommen, oder das stillschweigend gehofft. Man kann nur sagen: Es ist gut,
dass wir in dieser Sache einen langen Atem gehabt haben. Man kann nur all denjenigen danken, die sich dafür
eingesetzt haben. Denn ohne das In-Kraft-Treten des
Kioto-Protokolls - darüber müssen wir uns im Klaren
sein - wäre der Klimaschutzprozess erlahmt; das wäre
ganz schlimm gewesen.
({4})
Zum nationalen Klimaschutzprogramm. Auch das
ist eine Randbedingung, die wir sehr ernst nehmen müssen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie uns
sehr bald sagt, was sie zu tun gedenkt, um das Klimaschutzziel zu erreichen. Ich sehe ein ganz großes Hoffnungszeichen darin - Uli Kelber hat es bereits angesprochen -, dass die Briten sowohl die Präsidentschaft in der
EU als auch die bei der G 8 übernehmen. Es ist ein Zeichen von strategischer Außenpolitik, wenn Blair jetzt
sagt, dass er die G-8-Präsidentschaft vor allen Dingen
nutzen will, um den Klimaschutz voranzubringen und
das mit dem Thema Afrika, also der Nord-Süd-Gerechtigkeit, zu verknüpfen - das ist genau der richtige Ansatz -, und wenn er sagt, er will die EU-Ratspräsidentschaft dafür nutzen, dass wir uns Gedanken über die
zweite Verpflichtungsperiode ab 2012 machen. Ferner
meint er, dass der Luftverkehr endlich in das Klimaschutzregime einbezogen werden soll. Es kann doch
nicht angehen, dass ein Bereich mit einer derartigen Dynamik systematisch ausgespart wird.
({5})
Das sind sehr positive Vorschläge und da mache ich
mir eine Menge Hoffnung. Ich glaube, wir können es uns
in der Tat nicht mehr leisten, den Luftverkehr aus dem
Kioto-Regime und dem EU-Klimaschutzregime herauszulassen - er gehört hinein. Es wird einen Wettbewerb
um die besten Instrumente geben, also ob es der Emissionshandel sein soll, wie die Briten meinen, oder eher
fiskalische Elemente, die wir bevorzugen. Man wird sehen. Aber klar ist: Da muss etwas passieren. Ich betrachte das als positiven Wettbewerb zwischen Großbritannien und Deutschland um die Vorreiterrolle im
europäischen Klimaschutz; das sehe ich mit einer gewissen Freude. Diese Art von Wettbewerb finde ich sehr
gut. Wenn zwei so große Staaten wie Großbritannien und
Deutschland das Thema auf der Agenda so weit nach
oben setzen, dann kommt der internationale Klimaschutzprozess in Europa und in den Vereinten Nationen
hoffentlich voran.
({6})
Zu den Rahmenbedingungen noch Folgendes: Wir
hatten in den 70er-Jahren eine sehr starke Debatte über
die Endlichkeit der Ressourcen. Die Sorge stand im Vordergrund, dass uns die Ressourcen ausgehen, vor allen
Dingen Öl und Gas. In den 80er- und 90er-Jahren wurde
mehr über Klimaschutz geredet, über die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre in Bezug auf Spurengase. Die Einsicht nahm zu, dass die Grenze dabei nicht
so sehr am Boden liegt, sondern am Himmel: nämlich in
der Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre. Ich glaube, die
Synthese muss jetzt, im vor uns liegenden Jahrhundert,
darin bestehen, dass wir beide Themen zusammendenken: die Ressourcenverfügbarkeit und die Klimafrage.
Denn beides gehört zusammen. Wer die richtigen Antworten für den Klimaschutz und eine Strategie weg vom
Öl findet, der wird die Nase vorn haben. Wir müssen das
zusammendenken; das ist ganz zentral.
({7})
Uli Kelber hat gemeint, wir sollten nicht die negativen
Dinge in den Vordergrund stellen. Ich will trotzdem, um
noch einmal klar zu machen, wie wichtig es ist, dass wir
jetzt handeln, ein paar Meldungen der letzten Wochen
und Monate aufgreifen. Wenn wir abstrakt reden - die
Klimaforschung sagt dieses und jenes; die Wetterextreme
nehmen zu -, ist das zwar richtig, klingt aber auch irgendwie leblos. Deswegen werde ich ein paar konkrete Dinge
nennen: Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation sterben schon heute jährlich mehr als 150 000 Menschen an den Folgen des Klimawandels; eine sehr traurige Zahl, wie ich finde.
Das Internationale Komitee für Arktiswissenschaften
und der Arktis-Rat haben eine gemeinsame Studie vorgelegt, in der sie zu dem Schluss gekommen sind, dass
die Arktis in besonderer Weise anfällig ist für die globale
Erderwärmung. Die Wissenschaftler befürchten, dass die
Eisbären in der Arktis aussterben werden; das halte ich
für eine sehr traurige Nachricht, übrigens auch für meine
Kinder, für viele Kinder.
Die Universität Zürich hat eine Studie vorgelegt, nach
der zwischen 1985 und 2000 die Gletscher in der
Schweiz bereits 18 Prozent ihrer Fläche verloren haben;
in den gesamten Alpen sind es 22 Prozent gewesen.
Der Deutsche Wetterdienst hat vor wenigen Tagen
erklärt: Nach Einschätzung der Klimaforscher könnten
die Jahresdurchschnittstemperaturen in Deutschland bis
zum Jahr 2100 von heute 8,3 Grad Celsius auf rund
11 Grad Celsius steigen. Die damit verbundenen nasseren Winter und trockeneren Sommer würden zu mehr
Hochwasser im Winter und größerem Wassermangel im
Sommer führen. Wir haben es also mit fundamentalen
Veränderungen zu tun.
Ich hatte eigentlich gehofft, Herr Brüderle wäre auch
hier; für ihn habe ich eine besonders traurige Nachricht
herausgesucht: Dietmar Rupp von der Staatlichen Lehrund Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in BadenWürttemberg warnt davor, dass infolge des Klimawandels die Eisweinlese in Deutschland völlig ausfallen
könnte. Der Eiswein, ein hohes Kulturgut, wird also
möglicherweise auch verschwinden. Das ist eine
schlimme Nachricht, nicht nur für Herrn Brüderle, sondern für uns alle.
({8})
Im zweiten Teil meiner Ausführungen möchte ich etwas zu unserem Antrag sagen. Was sind die Kernelemente des Antrages? Zunächst einmal ist es für uns ganz
wichtig, dass sich Deutschland das Ziel setzt, den Ausstoß seiner Klimagase bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Wir wollen, dass die Bundesregierung in der
Klimaschutzstrategie Pfade dafür aufzeigt, wie dieses
Ziel erreicht werden kann. Das ist eine sehr zentrale Forderung von uns. Gleichzeitig wollen wir, dass sich die
Bundesregierung in Brüssel dafür einsetzt, dass der Ausstoß bis 2020 EU-weit um 30 Prozent reduziert wird.
Frau Homburger, Sie sprachen vorhin von einem Ablenkungsmanöver. Das ist völliger Blödsinn. Wir alle wissen, dass wir gemeinsam handeln müssen. Die EU der 25,
also nach der Erweiterung um die neuen Beitrittsländer,
bietet ganz andere Einsparmöglichkeiten als die alte EU
der 15. Diese Potenziale müssen und wollen wir ausschöpfen.
Zweiter wichtiger Punkt unseres Antrages. Wir müssen Vorreiterallianzen schmieden. Die Länder, die gemeinsam handeln wollen, sollen das auch tun. Man sollte
nicht darauf warten, bis auch der Letzte noch auf den
Zug aufspringt. In dem weiten Feld zwischen nationalen
Alleingängen und vollständiger Harmonisierung gibt es
sehr viele Handlungsmöglichkeiten. Gleichgesinnte können gemeinsam handeln. Wir benötigen im Klimaschutz
Koalitionen der Willigen.
({9})
Den dritten Punkt, der in diesem Antrag für uns sehr
wichtig ist, möchte ich als „gerechtigkeitsorientierten
Klimaschutz“ bezeichnen. Mit dem Ansatz, der besagt,
wer viel emittiert, der erhält auch viele Emissionsrechte,
und wer wenig emittiert, der erhält auch nur wenige
Emissionsrechte, werden wir die Entwicklungsländer
niemals ins Boot der internationalen Klimapolitik holen
können. Das wäre nicht nur unmoralisch, sondern auch
unrealistisch. Es ist aber ganz zwingend, dass wir sie ins
Boot holen. Deswegen schlagen wir in unserem Antrag
den Ansatz vor, dass alle Erdenbürgerinnen und Erdenbürger langfristig die gleichen Pro-Kopf-Rechte haben;
denn dieses Gerechtigkeitskriterium ist eine wichtige
Voraussetzung dafür, dass die Entwicklungsländer hinzukommen.
({10})
Im Englischen wird es mit „contract and converge“
bezeichnet. Die Industrieländer müssen ihre Emissionen
also senken und die Emissionen der Entwicklungsländer
dürfen zwar noch moderat wachsen, aber es gibt eine
Obergrenze, ein Cap, die nicht überschritten werden
darf. Das zusammengenommen könnte dazu führen, dass
die Blockade der internationalen Politik überwunden
wird. Uli Kelber sprach es bereits an: Das war immer einer der Haupteinwände des US-Senats. Er hat nämlich
gesagt, man brauche die Einbeziehung der Entwicklungsländer. Mit dem, was wir hier vorschlagen, beziehen wir die Entwicklungsländer mit ein, stellen aber
gleichzeitig klar: Die Hauptverantwortung - das richtet
sich an die USA - tragen natürlich die Industrieländer;
denn sie haben das Problem verursacht. Deswegen müssen die USA wieder an Bord kommen. Das ist zwingend
erforderlich.
({11})
In dieser Angelegenheit sehe ich in den USA durchaus auch den einen oder anderen Hoffnungsschimmer.
Es gibt die Initiative zum Emissionshandel der Senatoren McCain und Lieberman, die im Senat, ich glaube,
über 40 Stimmen bekommen hat. Wir sehen, dass die
amerikanische Öffentlichkeit die Ergebnisse der ArktisStudie und anderer Studien mit Erschrecken zur Kenntnis nimmt und dass sich in vielen US-Bundesstaaten
- New York State, Kalifornien und andere - in Sachen
Klimaschutz durchaus eine ganze Menge tut. Das heißt,
die USA sind kein verlorenes Land in Sachen Klimaschutz. Ich muss zwar leider sagen, dass von der Bundesebene im Moment wenig zu erwarten ist; die Ebene
darunter ist aber durchaus agil. Bezogen auf die Bundesebene versprechen wir uns von den guten Beziehungen
zwischen Blair und Bush bzw. zwischen Großbritannien
und den USA eine gewisse Belebung des transatlantischen Klimadialogs.
Zum Thema Joint Implementation und CDM, die hier
bereits angesprochen wurden. Es ist klar, dass wir diese
Instrumente nutzen wollen und dass wir es unserer Wirtschaft ermöglichen müssen, dass sie sie nutzt. Für uns ist
aber auch klar, dass wir hohe Qualitätsstandards brauchen. Es muss sicher sein, dass es hier keinen Missbrauch gibt. Deswegen halte ich eine Orientierung an einem goldenen Standard, also an der besten verfügbaren
Technologie, zumindest dort, wo öffentliche Mittel fließen, für das Allermindeste, was wir anstreben sollten.
Grundsätzlich sind wir ohnehin der Meinung, dass
man von dem Denken wegkommen muss, es sei alles nur
eine Bürde, eine Last und ein Kostenfaktor. Wir müssen
viel stärker die Chancen sehen und die Herausforderungen begreifen; denn es ist doch ganz offenkundig, dass
der Klimaschutz der Innovationsmotor der Zukunft werden kann und muss.
({12})
Wir glauben, dass derjenige, der auf die Fragen Antworten hat, wie man Öl oder auch ganz allgemein fossile
Energieträger am besten ersetzt und wie man das Klima
am besten schützen kann, auch den größten wirtschaftlichen Erfolg haben wird, und zwar deshalb, weil er auf
den Weltmärkten der Zukunft ganz vorne mitspielen
wird. Wir wollen das und wir hoffen, dass das ein gemeinsames Anliegen des Hohen Hauses ist.
Danke schön.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Paziorek, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn am 16. Februar des nächsten Jahres erstmals völkerrechtlich verbindlich ein Klimaschutzsystem in Kraft
tritt, das verbindliche Verpflichtungen zur Treibhausgasreduzierung vorgibt, dann ist das ein Meilenstein für den
internationalen Klimaschutz. Gerade wir als Umweltpolitiker müssen klar und deutlich sagen: Das ist wahrhaft
ein historischer Schritt. Wir als Union freuen uns, dass
wir seit 1990 auch international in den verschiedenen
Positionen daran mitgewirkt haben, einen solchen Erfolg
im Februar nächsten Jahres zu ermöglichen.
({0})
Weil das aus unserer Sicht ein Meilenstein ist, lieber
Kollege Reinhard Loske, möchte ich Sie persönlich ansprechen, da Sie zu Beginn völlig zu Recht konstatiert
haben, dass bis jetzt aufgrund der vorliegenden Anträge
und Redebeiträge glücklicherweise festzustellen ist: In
den Grundsätzen der Klimaschutzpolitik gibt es in diesem Haus einen großen Konsens. In dem Fall hätten wir
uns als Union gewünscht, dass wir dazu einen gemeinsamen Antrag formuliert hätten. Bis 1998 verhielt es sich
so: Wenn wir - ich war mehrfach dabei - auf internationale Konferenzen mussten, haben wir zuvor als Mehrheitsfraktion immer das Gespräch mit der Opposition gesucht, um beim Klimaschutz die gemeinsame Basis
herauszustellen. Wir wollten so deutlich machen, dass
das Parlament in Grundsätzen der internationalen Klimaschutzpolitik hinter der Regierung steht. Das haben wir
bis 1998 als Mehrheitsfraktion angeboten. Das wissen
Sie, Herr Müller, und auch Sie, Frau Mehl. Wir sind oft
persönlich auf Sie zugegangen.
Deshalb lautet heute unsere kritische Frage: Warum
haben Sie das nicht gemacht, sondern wollen eigene Anträge durchsetzen? Es wäre besser gewesen, wir hätten
den Konsens in gemeinsamen Anträgen betont. Es wäre
besser gewesen, Sie wären auf uns zugegangen. Damit
wäre dokumentiert gewesen, dass wir dieses Ziel weltweit gemeinsam erreichen wollen.
({1})
- Herr Kelber, das ist jetzt nur noch Nachkarten. Wenn
Sie hier dazwischenrufen: „Dann hätten Sie uns beim
Emissionshandel ein bisschen mehr entgegenkommen
müssen“,
({2})
frage ich Sie: Haben Sie denn immer noch nicht verstanden, dass es darum geht, einerseits Grundsätze herauszustellen, um deutlich zu machen, was wir wollen, andererseits um den richtigen Weg zu ringen? Das ist die
Aufgabe des Parlaments. Karten Sie doch nicht mit solchen Zwischenrufen nach!
({3})
Heute, wenige Tage vor einer wichtigen Klimavertragsstaatenkonferenz in Buenos Aires, wäre es sicher
interessant gewesen, Antworten auf einige zentrale Fragen zu geben, die Position unseres Landes auf dieser
Konferenz zu erläutern und - das geht darüber hinaus aufzuzeigen, was nach 2012 geschehen soll. Es hätte
heute konkret eine Antwort auf die zentralen Fragen der
Klimaschutzpolitik gegeben werden müssen, nämlich
wie weit der globale Klimaschutz gehen soll, darf und
muss. Es geht also um die Frage: Was passiert nach
2012?
Ich muss deutlich sagen: Es reicht nicht, was Sie an
Zielvorstellungen genannt haben, zum Beispiel dass
dann, wenn die EU eine Reduktion von 30 Prozent erreichen will, bei uns 40 Prozent angestrebt werden sollen.
Wie dieser Klimaprozess nach 2012 völkerrechtlich
weltweit flankiert werden soll, haben Sie im Detail nicht
gesagt. Sie haben das bekannte Ziel auf europäischer
Ebene dargelegt. Sie haben aber nicht erklärt, welche
Konzeption Sie nach 2012 wirklich anstreben. Es wäre
doch wenige Tage vor der Konferenz in Buenos Aires interessant gewesen, hier im Deutschen Bundestag über
solche konkreten Fragen zu diskutieren. Damit hätten
Sie deutlich machen können, in welche Richtung es gehen soll, ob man dafür noch Verbündete gewinnen muss
und ob daran eventuell Fraktionen aus diesem Hause
mitwirken müssen, weil das die Regierung nicht allein
machen kann. - Diese konkreten Punkte haben heute in
der Berichterstattung der Regierung leider gefehlt.
({4})
- Es kann nicht die Aufgabe der Regierung sein, zu erklären: Wir als Regierung machen das nicht - das haben
Sie gerade gesagt -, sondern das ist Aufgabe der Opposition. - In dem Fall können Sie auch gleich abdanken und
darauf verzichten, Politik zu machen.
({5})
Es gibt leider in den letzten Tagen eine Diskussion in
Deutschland über die Frage: Wie viel Klimaschutz können wir uns in Deutschland vor dem Hintergrund der
wirtschaftlichen Entwicklung noch leisten? Zeigen Sie
jetzt mit dem Finger bitte nicht auf Wirtschaftsorganisationen. Sie selbst haben zum Beispiel die Stellungnahme
des neuen Vorstandsvorsitzenden von BP zitiert. Es gibt
Stellungnahmen von noch vielen anderen. Man hat
manchmal das Gefühl, als ob einige Wirtschaftsleute viel
weiter sind, als das in der Politik wahrgenommen wird.
Ich will darauf abzielen, dass es in der Regierung höchstwahrscheinlich keine einheitliche Position gibt; denn
wenn ich die Stellungnahme von Herrn Clement im Wirtschaftsbericht lese, nämlich dass sich die Wirtschaftspolitiker gegen überzogene Standards der Umweltpolitiker
wehren müssten, und wenn ich heute feststelle, dass der
Umweltminister sehr stark in seinen Reden betont, dass
Deutschland bei den erneuerbaren Energien Weltmeister
ist und man in dem Bereich tatsächlich Gutes erreicht
hat, wir aber gleichzeitig nirgendwo ein belastbares
Energiekonzept finden, das Wirtschaftspolitik und Umweltpolitik zusammenführt, dann kann ich nur sagen:
Dieses Konzept gibt es in dieser Regierung höchstwahrscheinlich nicht, weil es einen Dissens zwischen denen,
die Wirtschaftspolitik machen, und denen, die Umweltpolitik machen, also zwischen dem Umweltminister und
dem Wirtschaftsminister, gibt. Sie haben keine Linie und
das müssen wir Ihnen vorwerfen.
({6})
Kollege Paziorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hustedt?
Gerne.
({0})
Herr Paziorek, Sie haben sich mit Ihrem Kollegen
Seehofer im Fraktionsvorstand sehr heftig dafür eingesetzt, dass die CDU/CSU-Fraktion hier im Bundestag
dem EEG zustimmt. Stimmt es, dass Herr Merz und Frau
Merkel das verhindert haben? Kann man daraus schließen, dass in Ihrer Fraktion in dieser Frage diametral entgegengesetzte Positionen vertreten werden?
({0})
Frau Hustedt, ich kann Ihnen klar und deutlich antworten: Frau Merkel und Herr Merz haben nichts verhindert.
({0})
Das, was Sie hier in der Öffentlichkeit wiedergeben, ist
völlig falsch. Richtig ist, dass sich viele Umweltpolitiker, auch ich, in der Bundestagsfraktion dafür eingesetzt
haben, dass die erneuerbaren Energien eine realistische
Perspektive bekommen. Für uns sind erneuerbare Energien mehr als nur Windenergie. Das will ich deutlich sagen. Da gibt es andere Ansatzpunkte.
({1})
Aber der Ansatz, der dann in der Fraktion gefunden worden ist, ist richtig. Wir alle sagen gemeinsam: Wir wollen in 2007/08 prüfen, wie wir den Emissionshandel
und die Förderung der erneuerbaren Energien eventuell rechtlich miteinander verbinden können. Das war
der Kompromiss im Fraktionsvorstand. Das war kein
Votum gegen die erneuerbaren Energien. Das war ein
Votum dafür, dass wir zu einem geeigneten Zeitpunkt
eine Zwischenbilanz ziehen, um die Fördermechanismen
eventuell besser aufeinander abzustimmen.
({2})
An diesem Bereich wird deutlich, wie sehr im Detail
um die einzelnen Schritte, zum Beispiel die Verbindung
des Emissionshandels mit der Förderung erneuerbarer
Energien, gerungen werden muss, ohne dass man das
große Ziel aus den Augen verlieren darf. Die Zusammenfassung von Umweltpolitik, Klimaschutzpolitik und
Wirtschaftspolitik erfordert eine kluge Politik. Deshalb
möchte ich für unsere Fraktion die Akzente in vier Punkten etwas anders setzen, als es der Minister in seiner Regierungserklärung getan hat.
Erstens. Eine Klimaschutzpolitik, die nicht durch ein
Energiekonzept flankiert wird, wird auf Dauer scheitern.
Wir können nicht einerseits Klimaschutzpolitik betreiben, andererseits in der Energiepolitik gegenläufige
Ziele anstreben. Das ist der große Vorwurf, den wir Ihnen machen müssen.
({3})
Es gibt keine Rahmendaten und keine Vereinbarung darüber, wie der Kraftwerkpark in Deutschland nach 2010
erneuert werden soll. Wenn wir die Verbesserung der
Wirkungsgrade erreichen, dann haben wir Hervorragendes geleistet. Wir werden eine Summe von 40 Milliarden
Euro in die deutsche Wirtschaft pumpen. Das bedeutet
Arbeitsplätze und das bedeutet Technologiefortschritt.
Deshalb sagen wir: Beides gehört zusammen. Legen Sie
bitte solch ein Konzept vor! Erst dann wird eine Klimaschutzpolitik auch im nationalen Rahmen glaubwürdig.
({4})
Zweitens. Es kann nicht sein, dass wir auf europäischer Ebene Vereinbarungen treffen und Zielvorstellungen über die Verringerung des CO2-Ausstoßes entwickeln, dann aber nicht mehr nachprüfen, ob die anderen
Staaten in Europa tatsächlich diese Ziele erreichen. Es
kann nicht sein, dass große Ziele auf europäischer Ebene
nur verkündet werden und dann keiner prüft, ob die Reduktion des CO2-Ausstoßes in anderen Staaten tatsächlich realisiert wird. Dass nur wir in Deutschland auf diesem Weg erfolgreich sind, die anderen Staaten die
Reduktion aber nur versprechen und in Wirklichkeit den
CO2-Ausstoß beispielsweise um 9 Prozent erhöhen - ich
will die Staaten nicht nennen -, darf auf europäischer
Ebene nicht toleriert werden. Deshalb fordern wir von
der Regierung klare Worte gegenüber einem solchen falschen Geleitzug auf europäischer Ebene.
({5})
Drittens. Es reicht nicht, Ankündigungen zu machen;
wir müssen vielmehr darauf achten, wie die Haushaltspolitik tatsächlich gestaltet wird. Wir haben bei den
Haushaltsplanberatungen in den letzten Sitzungen des
Umweltausschusses erfahren, dass es Haushaltsansätze
zur Förderung der erneuerbaren Energien im Ausland
gibt, dass aber die dafür zur Verfügung stehenden Mittel
nicht abgerufen werden.
In einer Diskussion in diesem Hause ist darauf hingewiesen worden, dass ausreichend Mittel für die Gebäudesanierung vorhanden sind. Später war festzustellen,
dass die Mittel bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau
nicht in dem Maße abgerufen worden sind, wie es die
Haushaltsansätze ermöglichen. Erlauben Sie mir deshalb
ein kritisches Wort gegenüber Ankündigungen wie denen, die Sie heute Morgen gemacht haben, Herr Minister.
Wir brauchen eine Bilanz, aus der hervorgeht, inwieweit die Mittel, die Sie im Haushalt veranschlagt haben,
auch tatsächlich abgerufen und die entsprechenden Vorhaben realisiert werden. Denn das ist die Schwachstelle
Ihrer Regierung: Es reicht nicht, Vorhaben anzukündigen; vielmehr muss klar und deutlich gesagt werden, inwiefern wir konkret mithelfen können, dass all das, was
versprochen wird, auch realisiert wird. An dieser Stelle
gibt es bei Ihnen Defizite.
Deshalb halten wir auch die Anregungen und Forderungen der FDP für richtig und unterstützen sie. Wir
müssen uns im Umweltausschuss damit befassen, welche die konkreten Ziele der internationalen Klimaschutzpolitik sind und was für die Zeit nach 2012 vorgesehen
ist. Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, wie
es sich mit den Ankündigungen und der anschließenden
Realisierung verhält. Es geht nicht an, hier immer wieder
ein großes Wolkengebäude aufzubauen, hinter dem sich
die Tatsache verbirgt, dass die Realisierung nicht sehr
positiv verläuft. Das werden wir als Union nicht mehr
tolerieren.
({6})
Viertens. Lieber Kollege Reinhard Loske, ich kann
nicht verstehen, dass Sie Ihr grundsätzliches Bekenntnis,
es sei richtig, die flexiblen Instrumente stärker zu nutzen, einschränken, indem Sie sagen, das sei nur dann
möglich, wenn der beste technische und ökologische
Standard in den Schwellen- und Entwicklungsländern
realisiert wird. Wenn in China der Wirkungskreis eines
Kohlekraftwerks von 19 Prozent auf beispielsweise
40 Prozent hochgesetzt wird, dann wird damit zwar nicht
der beste Wirkungsgrad von 45 Prozent erreicht, aber
weltweit bedeutet dies doch einen gewaltigen Fortschritt. Deshalb sind wir sehr enttäuscht darüber, dass
auch von Ihnen, Herr Kelber, immer wieder darauf hingewiesen wird,
({7})
dass die Anrechnung und die flexiblen Instrumente ein
Ausweichen von deutscher Seite bedeuteten. Das stimmt
aber nicht. Wir müssen die Chancen nutzen. Von Ihnen
müssen wir konkret wissen, wie Sie die EU-Richtlinie
umsetzen wollen, die innerhalb eines Jahres umgesetzt
werden muss.
Dass entsprechende Maßnahmen in Entwicklungsund Schwellenländern auch mit deutschen Mitteln finanziert werden können, wäre ein Fortschritt und damit
könnten wir den Klimaschutz auf internationaler Ebene
weiterbringen. Hören Sie auf zu blockieren und von
vornherein die Einführung des bestmöglichen Standards
zu fordern! Denn damit machen Sie eine gute Idee kaputt
und das wäre ein Rückschritt für den internationalen Klimaschutz.
({8})
Ich erteile Kollegen Hermann Scheer, SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
wissen - das ist auch in der heutigen Debatte wieder
zum Ausdruck gekommen -, dass das Kioto-Protokoll
eine schwere Geburt war. Die Verhandlungen dauerten
nahezu zehn Jahre und das Ergebnis ist, gemessen an
dem tatsächlichen Problem, minimal.
Wir wissen zwar, dass wir wegen der großen Zahl der
Beteiligten auf internationaler Ebene häufig mit Minimalergebnissen leben müssen; denn diese sind besser als
gar kein Ergebnis. Wir wissen aber auch, dass nach den
Vorstellungen des Intergovernmental Panel on Climate
Change - es hält eine Minderung der Treibhausgasemissionen um 60 Prozent bis 2050 für notwendig - ein Klimaschutz, der eine Reduktion um 5 Prozent bis zum Jahr
2012 nur bei den beteiligten Industrieländern vorsieht,
nicht das Maß aller Dinge sein kann.
({0})
Wenn man die Gründe für die bestehenden Widerstände kennt, dann ist es sicherlich nicht sehr realistisch,
bezogen auf alle Länder der Erde davon auszugehen,
dass das angestrebte Ziel bis zum Jahr 2050 auch nur annähernd erreicht werden kann, wenn nicht die Voraussetzung erfüllt ist, dass wir über Kioto - das ist auch von
Uli Kelber und Reinhard Loske angesprochen worden bzw. über die Prämissen der bisherigen Verhandlungen
und der versuchten Entscheidungsfindung sowie über
die bisher praktizierten Methoden hinausdenken.
Nicht alles, was notwendig ist, lässt sich international
aushandeln. Es gibt nämlich in der gesamten internationalen Diskussion - das ist für meine Begriffe eines der
Hauptprobleme - einen unüberbrückbaren politikmethodischen Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, Maßnahmen und Initiativen zu beschleunigen und auszubauen, und dem Willen, alles im weltweiten Konsens zu
erreichen. Beides zugleich geht nicht. Die Schlussfolgerung, die daraus gezogen werden muss, ist, dass man neben den Versuchen, zumindest Minimalkonsense international zu erreichen, verstärkt auf andere und
insbesondere eigene Initiativen setzen muss.
({1})
Das ist deshalb so wichtig, weil die Darstellung von Klimaschutzmaßnahmen im Kioto-Protokoll als Last - das
ist schon in psychologischer Hinsicht nicht vorteilhaft im Grunde genommen die Vorbedingung dafür war, dass
anschließend um die Lastenverteilung gefeilscht
wurde, und die Hinweise, dass dies ein riesiger Vorteil
ist, ständig unter den Tisch fallen und nicht mehr ein wesentliches Element der Entscheidungsfindung bei solchen Verhandlungen sind.
Das Kioto-Protokoll setzt ein Minimalziel und seine
Umsetzung bereitet natürlich Probleme. Aber wir müssen
weiter denken; denn die Clean Development Mechanism
haben unter anderem den Effekt, dass dieses Minimalziel
zum Maximalziel wird. Schließlich werden ökonomische
Anreize nur für das Erreichen des Minimalziels gegeben.
Deswegen müssen wir - das sollten wir schon in unserem
jetzigen Handeln berücksichtigen - auf der einen Seite
das Kioto-Protokoll umsetzen und auf der anderen Seite
weitere Initiativen vorantreiben. Das ist die zwingende
Schlussfolgerung, die sich aus dem geschilderten objektiven Problem ergibt.
({2})
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang sind
- darüber muss auch auf internationaler Ebene reflektiert
werden - die Kalkulationsmethoden einer optimalen
Kostenallokation für klimaschützende Maßnahmen;
denn diese würden in letzter Konsequenz bedeuten, dass
jedwede Umweltinvestition in Deutschland unverantwortlich wäre, weil mit dem gleichen Geld etwa im Senegal oder in Thailand mehr CO2-Emissionsreduktion
als bei uns erreichbar wäre. Diese gewissermaßen konzeptionell angelegte Konsequenz kann aber niemand
verantwortlich ziehen. Im Kioto-Protokoll sind in dieser
Hinsicht zwar gewisse Bremsen eingebaut worden. Aber
diese gedankliche Prämisse begegnet uns ständig in wirtschaftswissenschaftlichen Gutachten. Manche gehen sogar so weit und sagen: Aus diesen Gründen sollte man
etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen. Eine geradezu absurde Konsequenz, die daraus gezogen
wird!
({3})
Bei den beschriebenen Kalkulationsmethoden, die zunehmend auch Gutachten von bestimmten Umweltinstituten prägen, fallen - neben dem Klimaschutz - automatisch andere harte ökonomische Fakten und ethische
Motive flach, die eigentlich zu neuen Initiativen führen
müssen. Die Gesundheitsschäden des herkömmlichen
Energiesystems lassen sich mit CO2-Minderungkalkulationen nicht erfassen, ebenso nicht die Sicherheitsvorteile, die sich aus einer „Weg vom Öl“-Strategie und der
damit einhergehenden Minderung der militärischen Sicherheitskosten ergeben, die sicherlich auch bei uns weiter steigen werden. Im Moment gehen diese Kosten in
den USA und in Großbritannien nicht zuletzt zulasten
des Klimaschutzes und ökologischer Investitionen.
Ein weiteres Problem ist der unglaublich hohe Wasserverbrauch von herkömmlichen Kraftwerken. Die Einsparung von Wasser durch den Wechsel zu Systemen,
die mit erneuerbaren Energien arbeiten, lässt sich ebenfalls nicht mit CO2-Minderungskalkulationen erfassen.
Schon gar nicht lässt sich das Problem der Entwicklungsländer damit lösen. Viele dieser Länder müssen
schon heute mehr für den Import von Erdöl zahlen, als
sie durch den Export überhaupt erwirtschaften. Die Konsequenz ist, dass diese Länder, volkswirtschaftlich gesehen, eindeutige Vorteile haben, wenn sie von Ölimporten
zur Produktion heimischer Energieträger, insbesondere
eigener Bio-Treibstoffe - darauf ist ihre Infrastruktur besonders angewiesen -, wechseln.
Das alles sind Belege dafür, dass wir zusätzlich zur
Fortsetzung von Klimaschutzverhandlungen und ihrer
Optimierung weitere Initiativen brauchen. Dazu gehören
Appelle und das Insistieren auf der Ethik der individuellen Verantwortung; denn das, was man selbst aus ethischen Gründen, in eigener Verantwortung und mit eigenem Spielraum - so er gegeben ist - macht, lässt sich mit
keinem Modell verrechnen, wie immer es aussieht.
({4})
Aus diesem Grunde nenne ich ein paar Hinweise, wo
Ansatzpunkte liegen könnten.
Ein Ansatzpunkt zur Eindämmung des Energieverbrauchs im Flugverkehr könnte die WTO sein. Die
Steuerbefreiung der Flug- und Schiffstreibstoffe ist ein
klarer Fall der Diskriminierung der Verkehrsträger des
Landverkehrs; denn die Treibstoffe dieser Verkehrsträger sind besteuert.
({5})
Insofern hätte sich die WTO schon längst damit beschäftigen müssen. Sie hätte für eine Beseitigung dieser Diskriminierung eintreten können, und zwar nicht mit dem
Ziel, die Treibstoffe des Landverkehrs von der Steuer zu
befreien, sondern mit dem Ziel, auch die Treibstoffe des
Schiffs- und des Flugverkehrs zu besteuern.
({6})
Ein anderer Ansatzpunkt ist der Energiehandel. Die
WTO hätte schon längst im Energiehandel tätig werden
müssen. Wenn sie es nicht von sich aus tut, dann muss
man versuchen, sie dazu zu bringen. Wir haben es heute
mit der absurden Situation zu tun, dass der Handel mit
fossilen Energien quasi zollfrei ist, dass aber der Handel
mit Energieeffizienztechniken und mit Solarenergietechniken teilweise mit Zöllen von bis zu 80 Prozent belegt
ist. Wenn wir vorankommen wollten, müsste es eigentlich genau umgekehrt sein. Das läge im Interesse aller
Länder, nicht zuletzt der Dritten Welt und sogar der eigenen Exportwirtschaft.
({7})
Schließlich sollten wir zwingend die Initiative ergreifen - wir sollten nicht warten, wie sich das internationale
System, das in dieser Frage bisher versagt hat, dazu verhält -, die Förderung erneuerbarer Energien auf internationaler Ebene zu institutionalisieren. Die Regierungsfraktionen haben einen entsprechenden Beschluss
gefasst. Auch der Koalitionsvertrag enthält dieses Ziel.
Auf dem internationalen Parlamentarierforum in Bonn
am 2. Juni parallel zur Konferenz „Renewables 2004“ ist
der Antrag, eine internationale Agentur für erneuerbare Energien einzurichten, einstimmig, also auch mit
den Stimmen der Kollegen aller Fraktionen aus diesem
Hause, verabschiedet worden.
Man kann dies nicht davon abhängig machen, ob das
UN-System und die anderen UN-Organisationen damit
einverstanden sind. Sie sind damit nicht einverstanden.
Wenn sie nämlich damit einverstanden wären, dann
müssten sie zugeben, dass sie in dieser Frage das Notwendige bisher nicht zustande gebracht haben oder zustande bringen durften, weil ihre Statuten es ihnen untersagen.
Aus diesem Grunde kann man nicht einfach nur auf
die Internationale Energie-Agentur verweisen. Sie hat
gerade einen Zuwachs der Nutzung fossiler Energieträger um 80 Prozent bis zum Jahr 2050 als unabweisbar
notwendig dargestellt. Es gibt Organisationen, die wie
die IEA für fossile Energien oder wie die Internationale
Atomenergiebehörde für die Mobilisierung und den
Technologietransfer der Atomenergie da sind. Es gibt
auf der institutionellen Ebene nichts Vergleichbares zur
internationalen Mobilisierung erneuerbarer Energien.
Deswegen dringen wir darauf, nun die notwendigen
Schritte zur Umsetzung einzuleiten. Wir müssen hier initiativ werden; denn wir haben diese Idee entwickelt. Daher sollten wir hier voranschreiten und andere mitziehen,
auch wenn sie im Moment noch zögerlich sind. Wenn sie
nicht heute mitmachen, dann machen sie eben morgen
mit.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Franz Obermeier, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist in
der Tat so, dass in der Klimaschutzpolitik über die Zielsetzung offenbar fraktionsübergreifend Konsens besteht.
({0})
Insofern war die Regierungserklärung des Bundesumweltministers auch wenig angreifbar. Sie enthielt wenige
Einzelheiten und war sehr allgemein gehalten.
Ich möchte auf die Aussagen meines Vorredners zurückkommen. Zur Besteuerung von Kerosin im Flugverkehr beispielsweise haben wir in allen Fraktionen eindeutige Festlegungen. Die Frage ist nur: Warum sind wir
bei diesem Einzelthema in den zurückliegenden Jahren
- immerhin haben wir seit sechs Jahren einen grünen
Umweltminister - keinen Schritt vorangekommen? Ist
das Untätigkeit oder Unvermögen?
Der Bundesumweltminister hat eine Rede gehalten,
ohne irgendwo einmal eine Quelle für seine Zahlen anzugeben. Ich möchte mich auf Zahlen der Internationalen Energie-Agentur beziehen. Wenn man diese Zahlen
verinnerlicht, dann erkennt man, dass das Bild in der internationalen Klimapolitik nicht ganz so rosig ist, wie es
heute gemalt wird.
({1})
Nehmen wir beispielsweise die Prognosen für den
Zeitraum von 1990 bis 2010: In diesem Zeitraum werden
alle Industrie- und Transformationsländer bei den CO2Emissionen statt eines Minus von 5,2 Prozent ein Plus
von 9 Prozent erreichen. In der Europäischen Union
wollten wir eigentlich um 8 Prozent reduzieren. Nach
diesen Prognosen, die auch von anderen Instituten gestützt werden, erreichen wir in Europa aber allenfalls
eine schwarze Null. Sehen wir nach Russland: In Russland haben wir eine CO2-Reduzierung um ein Drittel zu
verzeichnen. Die Russen sind Gott sei Dank dem KiotoProtokoll beigetreten. Nach der Ratifizierung setzt der
Handel für 1,5 Milliarden Tonnen CO2 ein. Wo bleibt der
positive Klimaeffekt? In den Entwicklungsländern werden die CO2-Emissionen um 98,6 Prozent steigen.
({2})
Dies bedeutet, dass wir in dem genannten Zeitraum weltweit insgesamt mit einer Steigerung auf 29,4 Milliarden
Tonnen zu rechnen haben. Es gibt namhafte Wissenschaftler, national und international, die aufgrund dieser
Zahlen davon reden, dass das Kioto-Protokoll gescheitert ist. In der CDU/CSU-Fraktion gehen wir nicht so
weit. Aber wir müssen diese Problematik sehr wohl konstatieren.
({3})
Jetzt komme ich auf die nationale Politik zurück. Wo
bleibt der Ansatz der Bundesregierung dafür, innerhalb
der nächsten sechs Jahre eine weltweite Klimapolitik zu
forcieren? Zu Zeiten unserer Regierung, 1993, hat man
in der COP schon eindeutige Zielsetzungen beschlossen:
„Verabschiedung und Durchführung von Programmen
und Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimaveränderung“ oder „Entwicklung und Transfer von Techniken
zur Reduktion von Klimagasen“. Meine Damen und
Herren von den Regierungsfraktionen, das beschränkte
sich bei Ihnen ausschließlich auf Windenergie und erneuerbare Energien, was nicht ganz verkehrt ist, aber bei
weitem nicht ausreicht. Sie haben die Forschung und
Entwicklung bei den fossilen Energieträgern fast zum
Erliegen gebracht.
Wenn Sie nun den Blick nach China oder Indien richten, um zu sehen, wie dort der Energiehunger gestillt
wird, dann erkennen Sie: Es rächt sich ganz bitter, dass
wir in Deutschland als führende Nation bei der Forschung und Nutzung fossiler Energieträger nahezu ausfallen.
Die Technikfeindlichkeit von Rot-Grün treibt hier
ganz besondere Blüten.
({4})
Man beschränkt sich ausschließlich auf das, was - ({5})
- Der Emissionshandel, Frau Kollegin, hat nichts mit
Technik und Technologien zu tun. Nur am Rande
bemerkt: Vor dem Hintergrund dessen, was auf internationaler Ebene und insbesondere in den genannten Ländern in Sachen Kernenergie in den nächsten Jahren alles
passiert, ist es ganz bitter, dass wir uns auch aus diesem
Bereich, wenn es nach Ihnen geht, verabschieden sollen.
({6})
- Ich rede allen Energieträgern das Wort, weil der weltweite Energiehunger in den nächsten Jahren und Jahrzehnten so groß sein wird, dass wir sämtliche Register
zur Erzeugung von Energie - das geht von Treibstoffgewinnung bis hin zu Stromerzeugung - ziehen müssen.
({7})
Herr Dr. Scheer, wir stimmen darin überein, dass wir
unsere Konzepte den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht überstülpen können. Eines muss aber klar
sein: Das, was wir können - das beginnt bei erneuerbaren Energien und geht bis zur Kernenergie -, müssen wir
im Sinne eines effektiven Klimaschutzes Staaten auf der
ganzen Welt günstig anbieten.
({8})
Im Übrigen wird das im Moment auch auf den Klimarahmenkonferenzen so diskutiert. Das können Sie überall nachlesen.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik
Deutschland muss sich öffnen und wieder zur Entwicklung der bestmöglichen Techniken zurückkehren, um
sie in Deutschland und in den Ländern, die in den nächsten Jahren eine gewaltige Entwicklung nehmen werden,
einsetzen zu können. Ich habe den Eindruck, dass wir international gesehen eine einäugige Politik betreiben,
weil wir uns nicht trauen, Ländern wie China einsatzfähige effiziente Techniken auf der Basis fossiler Energieträger anzubieten.
Zum Schluss lassen Sie mich festhalten: Vorbeugender Klimaschutz muss sinnvoll sein. Im Saldo dürfen wir
nur teilweise auf teure Techniken zum Klimaschutz setzen. Wir müssen auch immer volkswirtschaftliche Aspekte im Auge haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Jahr 2005 wird ein sehr bedeutsames Jahr für den Klimaschutz werden: Das Kioto-Protokoll tritt in Kraft und es
beginnt die Debatte über ein Kioto-plus-Abkommen; der
Emissionshandel in Deutschland und in Europa beginnt;
Deutschland wird ein neues Klimaschutzprogramm auflegen und Großbritannien hat angekündigt - das wurde
schon gesagt -, während seiner EU- und G-8-Präsidentschaft den Klimaschutz zu einem Schwerpunktthema zu
machen.
Großbritannien hat sich im Übrigen ohne kleinliches
Schielen auf die EU das ganz klare Ziel gesetzt, bis zum
Jahre 2050 die CO2-Emissionen im eigenen Land um
60 Prozent zu reduzieren. Ich finde, es ist an der Zeit,
dass auch wir in Deutschland uns das nächste Ziel vornehmen: Das wäre eine Reduktion der CO2-Emissionen
um 40 Prozent bis zum Jahre 2020.
({0})
Angesichts der aktuellen Fakten, die uns im Augenblick geballt erreichen, sind wir uns, Herr Obermeier,
Herr Lippold und Herr Paziorek, anscheinend in der sehr
traurigen Analyse einig, dass der Treibhauseffekt schon
längst zur Wirklichkeit geworden ist und es auch schon
für unsere Generation und nicht erst für zukünftige weit
reichende Folgen für die Ökologie haben wird, wenn wir
nicht sehr schnell und sehr entschieden handeln. Ansonsten könnte ein Umsteuern noch viel teurer werden.
Eines möchte ich dabei schon anmerken: Was nützen die
Sonntagsreden der Umweltpolitiker von der CDU/CSU,
bei denen im Gegensatz zu den Politikern der FDP Hopfen und Malz nicht ganz verloren sind, wenn sie sich
nicht gegen Merz und Merkel durchsetzen
({1})
und dafür sorgen, dass tatsächlich auch aktive Maßnahmen für den Klimaschutz auf den Tisch gelegt werden?
({2})
Überzeugen Sie Ihre Fraktionsspitze, dass sie nicht immer gegen die erneuerbaren Energien zu Felde zieht, und
helfen Sie uns bei unseren Bemühungen, für Akzeptanz
in der Gesellschaft zu sorgen, Akzeptanz auch dafür,
dass es etwas kostet.
({3})
Unterstützen Sie uns in der Strategie „Power vom
Bauer“, in der es um nachwachsende, durch den Landwirt produzierte Rohstoffe für Treibstoffe, für die chemische Industrie und für Wärme und Strom geht.
({4})
- Das ist für uns nicht neu, aber in Ihrer Fraktion setzen
Sie sich nicht durch.
({5})
Begleiten Sie konstruktiv den CO2-Emissionshandel!
Durch diesen Prozess werden Innovationen angestoßen,
damit in der neuen Investitionsperiode für neue Kraftwerke auf moderne und neueste Technologien gesetzt
wird.
Abschließend möchte ich noch etwas zum Bereich
Wärme sagen, einem Thema, das mir für den Rest der
Legislaturperiode sehr am Herzen liegt. In den anderen
Bereichen haben wir schon sehr viele Maßnahmen beschlossen, aber Sie haben alle Initiativen - das wurde
schon gesagt - abgelehnt.
({6})
35 Prozent des Primärenergieverbrauchs entfallen auf
das Heizen.
({7})
Das bedeutet, wir haben ein gigantisches Einsparpotenzial von jährlich 114 000 Terawattstunden. 25 Millionen
Tonnen CO2 pro Jahr könnten hier eingespart werden.
Wir könnten damit einen sehr großen Beitrag für den
Klimaschutz leisten. Die Erhöhung der Öl- und Gaspreise belastet auch die Menschen, die in diesem Jahr
häufig schon 10 oder 20 Euro pro Monat mehr für Heizkosten ausgeben müssen.
18 Milliarden Euro Investitionen wären in diesem Bereich nötig. Damit könnten Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden, die nicht exportiert werden können. Es geht dabei um Arbeitsplätze bei
Handwerkern, in der notleidenden Bauindustrie oder in
der Dämmstoffindustrie, bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Eine Offensive weg vom Öl
brächte uns in eine umweltfreundliche Win-Win-Situation.
({8})
Bei zwei Dritteln aller Häuser, die zurzeit modernisiert werden, werden nur Schönheitsreparaturen durchgeführt. Obwohl an diesen Häusern wegen dieser Arbeiten
sowieso ein Gerüst steht, findet keine Modernisierung im
Hinblick auf energetische Aspekte statt. Das ist ein Skandal und eine Herausforderung, der wir uns stellen sollten.
({9})
Auch im Gebäudebereich haben wir mehr gemacht,
als Sie je auf den Weg gebracht haben. Unser CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist weltweit einmalig und hat
tatsächlich zu 100 000 Sanierungen geführt. Aber es ist
zu wenig.
({10})
Ich möchte auch Sie mitnehmen und hoffe, dass wir gemeinsam in nächster Zeit Initiativen vorschlagen.
({11})
Dazu gehören die ambitionierte und bedarfsgerechte
Umsetzung der Idee des Gebäudepasses und eine Aufstockung des CO2-Gebäudesanierungsprogramms ebenso
wie ein Wärmegesetz zur Förderung der erneuerbaren
Energien und ein Vorrang für die Biogaseinspeisung
beim Energiewirtschaftsgesetz, das zurzeit in der Beratung ist. Ich bin gespannt, ob Sie diese Vorschläge, die
wir in nächster Zeit auf den Weg bringen wollen, ablehnen werden.
({12})
Dann sind Sie allerdings genauso unglaubwürdig wie
bisher. Sie werden nur glaubwürdig, wenn Sie bereit
sind, auch in diesem Bereich Schritte voranzugehen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Kurt-Dieter Grill,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Hustedt, die „Sonntagsreden“ - ganz
abgesehen davon, ob man den Sonntag für diesen Begriff missbrauchen sollte - gebe ich gerne zurück. Ich
bin davon ausgegangen, dass wir heute eine wahrhaftige
Debatte führen, und habe deshalb nicht alle Unterlagen
mitgebracht.
Sie haben in Ihrer Rede insbesondere den Gebäudebereich und den Wärmebereich sehr stark aufgeblasen und
die Situation so dargestellt, als hinge alles davon ab, ob
wir als Opposition mitmachen. Sie haben versucht, davon abzulenken, dass der Nachhaltigkeitsrat Ihnen bescheinigt hat, dass Sie bei der Energieeinsparung am wenigsten getan haben. Da sind wir aber mitten im
Gebäudebereich und dazu kann ich nur sagen: Sie haben
ein Problem geschildert, aber verschwiegen, dass Sie in
den letzten sechs Jahren genau für dieses Problem keine
Lösung erarbeitet haben. Das ist Ihre Bilanz.
({0})
Mich regt in dieser Debatte am meisten auf, dass Sie
die Probleme zwar an vielen Stellen richtig beschreiben
- auch überhöht -, dass aber das, was Sie an Lösungen
anzubieten haben, in einem krassen Widerspruch zu der
Beschreibung der Probleme steht. Ich mache das einmal
an der Rede von Herrn Scheer deutlich: Abgesehen von
der Frage, ob das Steuerkonzept richtig ist, steht die Beschreibung, die Herr Scheer hier abgegeben hat, in einem
krassen Widerspruch zu dem, was diese Bundesregierung, dieser Bundeskanzler auf internationalen Konferenzen vorgetragen hat.
({1})
Die Kollegin Homburger hat auf Russland hingewiesen. Wir haben gestern in einer Debatte über die Ukraine
gemeinsam demonstriert, worum es uns geht. Aber wenn
Sie Russland hier als Erfolgsbeispiel darstellen - wir werden uns mit Russland noch sehr nachhaltig beschäftigen
müssen -, dann sage ich Ihnen als Sozialdemokraten: Fragen Sie einmal - ich will das hier jetzt nicht vortragen,
weil mir daran liegt, dass wir über die Frage noch einmal
intern reden; im Übrigen haben Sie sich an dieser Stelle so
verhalten, dass Sie mit uns keinen gemeinsamen Antrag
formuliert haben; zu Amerika würden Sie jeden Tag mit
uns gemeinsam einen Antrag erarbeiten - den Kollegen
Erler, was er aus Moskau in Bezug auf das Kioto-Abkommen mitgebracht hat. Ich rate Ihnen dringend dazu. Angesichts dessen haben wir alle keine Veranlassung, zu feiern, dass irgendjemand ratifiziert hat. Es stellt sich die
Frage: Nutzen die Russen das Kioto-Protokoll als Instrument für die ökonomische und ökologische Erneuerung
Russlands? Dahinter mache ich - nach den Gesprächen,
die ich in dieser Woche geführt habe - immer noch ein
Fragezeichen.
Im Zusammenhang mit der fossilen Energie sage ich
Ihnen zwei Dinge:
Erstens. Schauen Sie sich einmal die Energieforschungspolitik an. Dann werden Sie zu der Erkenntnis
gelangen, dass es - angesichts der Tatsache, dass die
Kohle in den nächsten 400 Jahren eine bedeutende Rolle
in der Weltenergieversorgung spielen wird, was auch immer Sie hier vortragen - in der Forschung zu fossilen
Energieträgern ein schweres Versäumnis gibt.
Zweitens. Ich kann Ihnen drei, vier Reden des Bundeskanzlers beibringen, in denen er sich über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland und in Europa auslässt und die Solarenergie sozusagen nach ganz
hinten schiebt. Er spricht sich dafür aus, dass die Kernkraftwerke in Deutschland durch Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke ersetzt werden. Das sind die Reden des
Bundeskanzlers, Ihres Regierungschefs. Sie haben nichts
dazu gesagt, auch heute hier nicht, wie eine konsistente
Politik denn aussehen kann.
({2})
Das sagt Ihnen im Übrigen auch der Nachhaltigkeitsrat: kein Konzept, zu wenig Forschung und zu wenig
Energieeinsparung. Das ist die Kritik des Nachhaltigkeitsrates unter Vorsitz von Volker Hauff.
Ein Weiteres. Ich bin mit Herrn Loske durchaus einverstanden, wenn er sagt, dass wir das zusammen bedenken müssen. Ich bin sehr dafür, auch unter dem Gesichtspunkt der europäischen Politik. Peter Paziorek hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, auch als Europäer, uns angesichts dessen, was jetzt an Bilanz vorliegt, nicht als Musterknabe im globalen Maßstab aufspielen dürfen und
dass wir alle, auch unsere europäischen Nachbarn und
nicht nur Amerika, Veranlassung haben, uns um Fortschritte zu bemühen.
Wenn wir ein Scheitern der Lissabon-Strategie, der
Wachstumsstrategie, konstatieren müssen, dann stellt
sich doch die Frage: Was tun wir, um die ökonomisch effizientesten Felder der Klimapolitik zu identifizieren und
als Erste in Angriff zu nehmen,
({3})
damit wir ökonomische und ökologische Effizienz in
Europa zusammenbringen und die Lissabon-Strategie als
Wachstumsstrategie und als Nachhaltigkeitsstrategie vorantreiben können?
({4})
Daran zu arbeiten bedeutet mehr als die Reden, die Sie
heute hier gehalten haben.
({5})
Ich kann in den sechs Minuten meiner Redezeit nicht
alle Punkte anführen. Ich will zum Schluss aber noch eines sagen: Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben in Ihren Reden viele Punkte
angesprochen. Herr Kelber, Sie haben aus der Rede des
Kanzlers, die er auf dem Gipfel in Johannesburg gehalten hat, zitiert.
({6})
In Johannesburg wurde beschlossen - dazu hat der
Kanzler beigetragen -, 645 Millionen Dollar für die Lösung der Weltenergieprobleme bereitzustellen. Auf dem
Gipfel in Bonn wurde dann ein bisschen nachgebessert.
Ich rate Ihnen dringend, sich einmal den Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung anzuschauen: Der Etat ist nicht größer als vorher.
Die G-8-Staaten haben 2001 in Buenos Aires auf der
Weltenergiekonferenz ein Konzept hinsichtlich erneuerbarer Energien - das habe ich hier schon einmal vorgetragen - für 1 Milliarde Menschen präsentiert. Kapitalbedarf: 500 Milliarden Dollar in 20 Jahren.Wenn man
sich dann aber ansieht, was bisher umgesetzt wurde,
dann muss man sagen, dass Ihre Reden Schall und
Rauch sind.
({7})
Denn das zentrale Problem der Kapitalbeschaffung
- dieses Kapital ist notwendig, damit die Beschlüsse der
G 8 umgesetzt werden können - ist nicht gelöst.
Ich denke, wir müssen zur Wahrhaftigkeit und zu einer konsistenten Politik zurückkehren.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Müller, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Grill, es ist ein Widerspruch, einerseits von Wahrhaftigkeit zu reden, aber andererseits Einzelpunkte aus dem
Zusammenhang zu reißen und daraus eine willkürliche
Strategie zu entwickeln. Das passt nicht zusammen.
({0})
Michael Müller ({1})
Ich finde es, ehrlich gesagt, intellektuell unredlich,
wenn man bei einem so großen Problem der Menschheit
wie dem der Klimaänderung vordergründig parteitaktisch operiert.
({2})
Das hilft uns nicht weiter. Wir hatten in diesem Haus bezüglich dieser zentralen Zukunftsfrage immer einen breiten Konsens. Man kann ihn auch durch Nickeligkeiten
zerstören. Dagegen wehre ich mich.
Um was geht es? Es geht um den zentralen Punkt,
dass die Menschheit dabei ist, in der Stratosphäre die
Fenster zu schließen. Wir verändern damit ihre Chemie
und Dynamik sowie die Wärmebilanz und den Energiehaushalt. Dies hat nicht nur zur Folge, dass es auf der
Erde immer wärmer wird, sondern auch, dass sich die
Lebensbedingungen auf der Erde in einer immer größeren Geschwindigkeit gravierend verändern.
Es ist kein - im engeren Sinne - ökologisches Thema.
Es ist vielmehr die zentrale Frage, wie die Zukunft unserer Zivilisation gesichert werden kann. Es ist weit
mehr als ein Fachthema. Es ist eine Herausforderung an
die gesamte Menschheit. Denn es geht um die Frage, ob
die industrielle Zivilisation eine Zukunft hat oder nicht.
Darauf kann man nicht mit Klein-Klein antworten.
({3})
Aus meiner Sicht gibt es bei der Klimafrage folgende
entscheidende Punkte:
Erster Punkt. Wir erleben, dass sich beim Thema Klimaveränderung und nachholende Industrialisierung
unsere Diskussion auf die großen Debatten der letzten
30 Jahre, sozusagen wie in einem Brennglas, fokussiert.
Unsere Welt ist im Kern auf die Industrieländer ausgerichtet. Dort lebt aber nur ein Viertel der Menschheit.
Diese Strukturen müssen nun auf die restlichen 5 Milliarden bis 6 Milliarden Menschen erweitert werden. Die
bisherigen Strukturen sind aber nicht übertragbar. Wir
müssen also begreifen - das ist eine unglaublich große
Herausforderung -, dass wir eine Welt geschaffen haben,
die aus wenigen reichen und sehr vielen armen Ländern
besteht. Aufgrund der Industrialisierung werden die armen Länder jetzt reicher. Daraus folgt, dass wir mit der
Natur nicht mehr so umgehen dürften, wie wir es bisher
getan haben.
Der zweite Punkt. Es besteht nach wie vor ein hohes
Bevölkerungswachstum in Höhe von 75 Millionen
Menschen pro Jahr. Es ist zwar nicht die entscheidende
Ursache unseres Problems, aber dadurch wird die Problematik zugespitzt. Nach wie vor verbrauchen die Industrieländer, die ein niedriges Bevölkerungswachstum
haben, überdurchschnittlich viele Ressourcen.
Der dritte Punkt. Wir erleben zum ersten Mal, dass
wir hinsichtlich der Natur an Grenzen stoßen. Seit etwa
500 Jahren ist der Fortschrittsgedanke der Menschheit
auf ein Immer-Mehr, Immer-Schneller und Immer-Höher ausgerichtet. Auf einmal müssen wir feststellen, dass
es Grenzen gibt, die wir nicht überspringen dürfen.
Dieses sind entscheidende Punkte. Es stellt sich daher
die Frage, wie wir unser Denken und Handeln verändern
können. Lassen Sie mich ein paar Punkte nennen, die
mich in diesem Zusammenhang sehr bewegen:
Erstens. Ich muss feststellen, dass, betrachtet man die
großen Umweltgefahren, wie zum Beispiel die Belastung des Wasserrücklaufs und der Atmosphäre oder die
Zerstörung der Artenvielfalt, mehr als die Hälfte der
heute feststellbaren Zerstörungen in den letzten 20 Jahren eingetreten sind. Ein zentrales Problem ist, welchen
unglaublichen Beschleunigungsmechanismus wir bei der
Umweltzerstörung haben.
Zweitens. Wir erleben den Widerspruch zwischen
dem Heute und der Zukunftsverantwortung, weil wir einen Großteil der Probleme, insbesondere bei den Klimaveränderungen, heute anrichten, aber ihre Auswirkungen
erst in der Zukunft feststellen werden. Was bedeutet es
in einer Welt, die nur auf Kurzfristigkeit ausgerichtet ist,
dass wir mit einer solchen Gefahr konfrontiert sind?
Auch da kann man nicht in einem engeren Sinne parteipolitisch operieren, sondern muss sehr viel weiter denken.
({4})
Welche Verantwortungslosigkeit der Politik ist es, wenn
wir trotz unseres Wissens immer erst dann reagieren,
wenn eine Katastrophe eingetreten ist? Das können wir
uns bei diesem Thema nicht leisten. Darum geht es.
({5})
Drittens. Auch den Punkt „Umgang mit Unwissenheit“ halte ich für ungeheuer wichtig. Wir haben es mit
so komplexen Herausforderungen zu tun, dass wir feststellen müssen: In vielen Bereichen kennen wir zwar die
Trends der Gefahren. Aber wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie nicht möglicherweise noch sehr viel
schneller und umfangreicher eintreten, als wir es befürchten.
Die internationale Gemeinde der Klimawissenschaftler geht bei der Erwärmung von einer Bandbreite zwischen 1,4 und 5,8 Grad bis Ende dieses Jahrhunderts aus.
Wahrscheinlich werden es 2,5 Grad sein; aber es kann
auch eine Erwärmung um 5,8 Grad geben. Eine solche
Erwärmung kann die Erde überhaupt nicht verkraften.
Schon eine Erwärmung um 2,5 Grad ist mehr als das,
was eigentlich verträglich wäre. Aber eine Erwärmung
um 5,8 Grad wäre zum Beispiel für die Ernährungslage
in der Welt undenkbar. Das wäre die Programmierung
von Unfrieden auf der Erde und neuer gewalttätiger
Konflikte.
Deshalb können wir uns nicht mit der These zufrieden
geben, die Erwärmung sei ein globales Thema und deshalb müsse global gehandelt werden. Wenn global unzureichend gehandelt wird, dann kommen wir aus dem Dilemma nicht heraus. Antworten müssen gegeben
werden. Natürlich wollen wir globale Antworten geben.
Aber was machen wir denn, wenn dies schon auf nationaler Ebene schwierig ist und wir zu langsam operieren
Michael Müller ({6})
und es auf globaler Ebene erst recht schwierig ist und
wir noch langsamer reagieren?
Es gibt doch gar nichts anderes als die Dreistufenstrategie, mit der wir begonnen haben, nämlich erstens
national, wo es ökonomisch verträglich und sozial sinnvoll ist, Vorreiterrollen einzunehmen - es gibt doch gar
keine andere Position -, zweitens in Europa das Feld zu
bereiten, eine gemeinsame Strategie in Angriff zu nehmen - da sind wir Gott sei Dank ein Stück vorangekommen -, und drittens, wo immer es geht, internationale
und globale Verträge abzuschließen.
Zu Letzterem muss man allerdings sagen: Das scheitert vielfach an dem Widerspruch zwischen den Interessen der Industrieländer und den Nachholbedürfnissen
der Entwicklungsländer. Wir können das nicht einfach
wegdiskutieren. Es hat auch viel damit zu tun, dass vor
allem die reichen Länder Angst davor haben, etwas zu
verändern, weil sie in der Ökologie nur eine Bedrohung,
nicht aber eine Chance für die Zukunft sehen.
({7})
Wir müssen deutlich machen, dass die Ökologie eine
Chance ist. Das ist gerade in der Klimadebatte unsere
Aufgabe.
Ein weiterer zentraler Punkt ist: Wie kann man einen
solchen Paradigmenwechsel hin zum Klimaschutz in einer Welt hinbekommen, die auf immer kurzfristigere
Entscheidungen ausgerichtet ist? Das zentrale Thema
des Klimaschutzes ist es, in größeren Zeiträumen zu
denken. Aber wir haben vor allem in der Wirtschaftswissenschaft eine Eindimensionalität, ein dort vorherrschendes Denken, das sich nur an denDreimonatszyklen
der Vierteljahresberichte orientiert. Mit Vierteljahresberichten kann ich die langfristigen Veränderungsprozesse
in der Natur und vor allem in den Klimasystemen nicht
erfassen.
({8})
Die Kurzfristigkeit, die die Ökonomie seit einigen Jahren beherrscht, ist gesellschaftspolitisch und ökologisch
das Furchtbarste, was es überhaupt gibt.
({9})
Wir müssen uns gemeinsam dagegen wehren. Eine ökologische Modernisierung kann keine Kurzfristpolitik
sein, sondern ganz im Gegenteil: Verantwortungsübernahme auch für größere Zeiträume.
Wir müssen weiterhin sagen: Natürlich haben wir als
Nationalstaat eine begrenzte Handlungsfähigkeit; natürlich sind die Kohlendioxidemissionen der Bundesrepublik global gesehen relativ gering. Aber ich frage: Kann
das eine Beruhigung sein oder was heißt es, wenn ich
sage: „Wir sind doch nur mit einem geringen Teil beteiligt; schauen Sie doch einmal nach China“?
({10})
- Das hat nichts mit Realismus zu tun; das ist Versagen.
Denn es ist ganz klar: China orientiert sich an der Modernität der Industriestaaten.
({11})
Wenn die Modernität der Industriestaaten eine Anpassung an globale Zwänge bedeutet, dann orientiert sich
auch China daran. Modernität muss Innovation bedeuten, vor allem auf dem Feld der ökologischen Modernisierung.
({12})
Genau da sind wir Vorreiter; denn Sie haben überhaupt
nicht begriffen, dass eine moderne Energiepolitik eben
nicht der Austausch von Energieträgern ist. Es geht nicht
darum, wie Sie jetzt beispielsweise wieder meinen, mehr
Atomenergie zu haben.
({13})
Nein, moderne Energiepolitik ist etwas völlig anderes, nämlich wo immer es geht, Energieumsätze zu vermeiden. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Dieser Ansatz,
Energieumsätze zu vermeiden, ergibt sich eben nicht nur
aus der Wahl der Energieträger, sondern aus dem Gesamtkonzept. Es müssen optimale Strukturen geschaffen
werden, um möglichst wenig Energie zu verbrauchen.
150 Jahre lang galt die Philosophie, dass nur mit immer
mehr Energieeinsatz Fortschritt möglich sei. Wir müssen
die Philosophie entwickeln, dass mit immer weniger
Energie- und Ressourcenverbrauch Fortschritt möglich
wird. Das ist ein anderes Verständnis, ein innovatives
Verständnis. Unterstellen Sie uns insofern nicht, wir hätten kein Energiekonzept. Wir haben ein anderes Konzept
als Sie - das richtige Konzept.
({14})
Bleiben wir also bei den Fakten. Der natürliche Gehalt von Kohlenstoff in der Atmosphäre würde etwa bei
280 Teile auf 1 Million Teile liegen - dieser Wert
stammt aus der Zeit zu Beginn der Industrialisierung,
also etwa 1850 -; heute liegt dieser Wert, wenn man alle
Treibhausgase auf Kohlenstoff umrechnet, etwa bei
430 ppm. Wir wissen, dass eine Erhöhung auf 560 ppm,
also die Verdopplung gegenüber dem natürlichen Wert,
eine Erwärmung von 2 Grad Celsius bedeutet; das ist in
der Diskussion inzwischen unbestritten. Das heißt, wir
haben auch vor dem Hintergrund der Zeitverzögerung,
die ich angesprochen habe - Klimaänderungen haben einen Vorlauf von etwa 40 bis 50 Jahren -, nur noch verdammt wenig Zeit, eine Katastrophe zu verhindern. Deshalb kommt es darauf an, zu begreifen, dass wir
zukünftige Klimaprobleme nur heute verhindern können. In der Zukunft bleiben die Anpassungskosten. Die
Anpassungskosten werden jede Ökonomie in ihren Fähigkeiten weit überfordern. Wir werden dann nichts
Michael Müller ({15})
mehr lösen können. Insofern heißt für uns die entscheidende Aufgabe, Vorsorge mit moderner Innovationspolitik zu verbinden. Dieser Aufgabe nehmen wir uns an.
({16})
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch etwas
sagen. Viele glauben, die Klimaproblematik sei vor allem ein Thema der tropischen und subtropischen Breiten; ich weiß, Herr Paziorek, Sie glauben das nicht. In
der Zwischenzeit ist aber klar: Die Klimaproblematik
wird zu einer zentralen Herausforderung für Europa,
vor allem für Nordeuropa. Ich will hierzu zum Abschluss nur drei Punkte nennen.
Drei Punkte sind zu viel.
Wenn man sieht, dass sich das Phytoplankton, also die
biologische Pumpe in den Meeressystemen, nach Norden zurückzieht, wenn man sieht, dass sich der Salzgehalt im Atlantik verändert, wenn man sieht, dass der
Druckwirbel schwächer wird, und wenn man sieht, dass
das so genannte Heinrich-Ereignis, nämlich das Abschmelzen von Gletschern, dramatisch zunimmt, dann
wird man begreifen müssen: Die Klimaproblematik wird
zu einem europäischen Problem. Deshalb ist es keine
Frage unserer Großzügigkeit gegenüber dem Rest der
Welt, es ist eine Frage unseres ureigenen Interesses, Vorreiter beim Klimaschutz zu sein und zu bleiben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/
4398. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/4382 mit dem Titel „Klimaschutz-Doppelstrategie - Kioto-Protokoll zu einem
wirksamen Kioto-plus-Abkommen weiterentwickeln
und nationale klimafreundliche Entwicklung konsequent
fortsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/4393 mit dem Titel „Das Kioto-Protokoll national konsequent umsetzen und international
verantwortungsvoll weiterentwickeln“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Kristina
Köhler ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Politischen Islamismus bekämpfen - Verfassungstreue Muslime unterstützen
- Drucksache 15/4260 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zusammenleben auf der Basis gemeinsamer Grundwerte
- Drucksache 15/4394 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Max Stadler, Klaus Haupt, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Kulturelle Vielfalt - Universelle Werte Neue Wege zu einer rationalen Integrationspolitik
- Drucksache 15/4401 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Wolfgang Bosbach.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Helmut
Schmidt hat vor wenigen Tagen behauptet, es sei ein
Fehler gewesen, Gastarbeiter aus anderen Kulturkreisen
anzuwerben. Insbesondere eigene Parteifreunde haben
ihn dafür heftig kritisiert. Man kann darüber streiten, ob
diese Aussage in der Sache richtig und politisch vernünftig ist, aber ein solcher Streit ist müßig. Seit Jahrzehnten
leben Menschen aus anderen Kulturkreisen mitten unter
uns. Sie sind längst ein Teil unserer Gesellschaft geworden. Es geht also nicht um die Frage, ob wir mit ihnen
zusammenleben oder zusammenleben wollen, sondern
um die Frage, wie wir das wollen.
Bemerkenswert ist die Äußerung von Helmut
Schmidt auf jeden Fall: Erstens. Wir können nicht jeder
Forderung der Wirtschaft nach mehr ausländischen Arbeitskräften nachkommen. Angesichts der dramatischen
Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt müssen wir
uns zunächst darum bemühen, die inländischen Arbeitslosen in Brot und Arbeit zu bringen, bevor wir weitere
Zuwanderung nach Deutschland organisieren.
({0})
Außerdem findet Zuwanderung nie nur auf Arbeitsplätze
statt, sondern immer auch in unsere Gesellschaft. Deswegen muss die Integrationskraft unserer Gesellschaft
Maßstab für die Zuwanderung nach Deutschland sein
und diese Integrationskraft ist nicht unbegrenzt.
Zweitens. Unter Integrationsgesichtspunkten ist Zuwanderung nicht gleich Zuwanderung. Wenn wir Menschen - wie in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend geschehen - aus anderen Kulturkreisen nach
Deutschland kommen lassen, ist das für Staat und Gesellschaft eine andere Herausforderung als beispielsweise die Binnenmigration innerhalb der Staaten der
Europäischen Union.
Drittens. Es gibt im Zusammenhang mit Zuwanderung insbesondere aus anderen Kulturkreisen nicht nur
Besorgnis erregende Fehlentwicklungen, sondern es gibt
dramatische Probleme. Diese Probleme muss man offen
ansprechen dürfen, ohne dass sofort reflexartig die Rassismuskeule gezogen wird.
({1})
Es kann nicht sein, dass man offenkundige Probleme
nicht anspricht, weil man befürchten muss, sofort mit
dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit konfrontiert zu
werden.
({2})
In Deutschland leben heute über 3 Millionen Muslime, davon fast 750 000 mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das sind unsere Nachbarn, unsere Arbeitskollegen,
unsere Mitschülerinnen und Mitschüler. Der allergrößte
Teil von ihnen ist friedlich, rechtstreu und bemüht sich
zumindest um Integration in unsere Gesellschaft. Ihnen
müssen wir entgegenkommen. Deswegen ist es richtig,
dass im neuen Zuwanderungsgesetz ein eindeutiger
Schwerpunkt auf dem Bereich der Integration liegt.
({3})
Wenn über den Islam oder über Islamismus gesprochen wird, ist eine Differenzierung wichtig. Wir müssen
unterscheiden zwischen dem Islam als Religion, als
Glaubensgemeinschaft einerseits und dem Islamismus
sowie dem religiös motivierten Terrorismus andererseits.
Es wird immer wieder gesagt, wir dürften niemanden
unter Generalverdacht stellen. Das ist richtig und deswegen tut das auch niemand.
({4})
Richtig ist aber auch: Der islamistisch motivierte Terrorismus hat seine Wurzeln in religiösem Fanatismus.
Wer dies leugnet, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Deswegen müssen wir diesen islamistischen
Extremismus viel entschiedener bekämpfen, als das in
der Vergangenheit der Fall war.
({5})
Religionsfreiheit heißt nicht Narrenfreiheit. Religionsfreiheit heißt nicht Freiheit für religiöse Fanatiker.
In Deutschland leben inzwischen über 30 000 Islamisten. Von ihnen gelten gut 3 000 als gewaltgeneigt; sie befürworten also die Anwendung von Gewalt. Oder sie
sind sogar gewaltbereit, das heißt, sie sind bereit, zur
Durchsetzung ihrer Ziele selbst Gewalt anzuwenden.
Von denen müssen wir uns trennen, lieber heute als morgen. Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt
nichts zu tun.
({6})
Wir sind ein tolerantes Land. Aber wenn wir das auf
Dauer bleiben wollen, dann muss gelten: keine Toleranz
gegenüber Intoleranten und kein Wegducken, wenn unsere religiöse Toleranz dazu missbraucht wird, für eine
islamistische Ordnung zu werben, die exakt diese Toleranz abschaffen will.
({7})
Dagegen vorzugehen, das ist nicht nur unser Recht, sondern sogar unsere Pflicht. Niemand kann sich auf Religionsfreiheit berufen, der seine religiöse Überzeugung
dazu nutzen will, den demokratischen Rechtsstaat und
den Pluralismus zu zertrümmern, um anschließend auf
diesen Trümmern einen islamistischen Gottesstaat zu errichten.
In Deutschland gibt es fast 3 000 Moscheen und Gebetshäuser. Davon gelten etwa 100 als nachrichtendienstlich relevant. Daher unsere Forderung: Wir müssen genauer hinsehen und hinhören. Wir müssen unsere
Dienste und Sicherheitsbehörden so ausstatten, dass sie
in der Lage sind, Gefahren rechtzeitig zu erkennen und
abzuwehren. Der Islamismus ist in erster Linie keine religiöse, sondern eine politische Bewegung. Sein Ziel ist
es, die Trennung von Kirche und Staat aufzuheben,
({8})
um einen islamistischen Gottesstaat zu errichten.
Nicht Recht und Gesetz einer demokratisch gewählten verfassunggebenden Versammlung sollen maßgeblich sein, sondern nur der Koran und die Worte und Taten des Propheten. Dieser islamistischen Ordnung hat
sich nach der Vorstellung der Islamisten jede private Lebensführung und jede Staatsgewalt zu unterwerfen. Das
ist eine neue Form von Totalitarismus. Demokratie und
Islamismus sind ein Widerspruch in sich. Das ist ein
Grund dafür, warum es kein islamistisches Land gibt,
das eine Demokratie ist, jedenfalls keine Demokratie in
unserem Sinne. Diese islamistischen Länder sind absolute Monarchien, Diktaturen oder - wie beispielsweise
der Iran - Theokratien.
Für uns muss auch an dieser Stelle gelten: Wehret den
Anfängen! In einer Moschee wurde beispielsweise Folgendes gepredigt - ich zitiere wörtlich -:
Amerika ist ein großer Teufel, Großbritannien ein
kleiner, Israel ein Blut saugender Vampir. Einst waren die Europäer unsere Sklaven, heute sind es die
Muslime. Dies muss sich ändern. … Wir müssen
die Ungläubigen bis in die tiefste Hölle treiben. Wir
müssen zusammenhalten und uns ruhig verhalten,
bis es soweit ist. … Wir müssen die Demokratie für
unsere Sache nutzen. Wir müssen Europa mit Moscheen und Schulen überziehen.
Solche Sätze kennzeichnen eine Geisteshaltung, die mit
unserer Verfassung unvereinbar ist.
({9})
Wer sich in dieser Form äußert, hat sein Aufenthaltsrecht
in Deutschland spätestens am Ende seiner Predigt verloren.
({10})
Wer sich so äußert, der weist sich selbst aus Deutschland
aus.
Wir beschäftigen uns in unserem Antrag sehr intensiv
mit islamischen und islamistischen Glaubenseinrichtungen. Hundertprozentig politisch korrekt ist es sicherlich,
aus einem Gutachten, das das Land Nordrhein-Westfalen
in Auftrag gegeben hat, zu zitieren. Darin geht es um
das, was in den Schulbüchern der berühmten KönigFahd-Akademie in Bonn-Bad Godesberg steht. Durch
die Schulbücher werden die Kinder auf den „Kampf gegen Ungläubige“ vorbereitet. Nach einer Pressemeldung
heißt es:
So stehe „das Töten nicht unter Tabu, sondern wird,
wenn es um den Glauben geht, für notwendig gehalten“. Den Schülern werde „eingetrichtert, dass
der Islam und damit alle Muslime seit den Kreuzzügen bis heute durch die Juden und die Christen
existenziell bedroht seien“. Es sei „erste Pflicht eines jeden Muslims, sich auf den Kampf gegen diese
Feinde vorzubereiten“.
Nein, die erste Pflicht ist die Integration in dieses Land,
nicht aber der Kampf gegen die Ungläubigen.
({11})
Wenn Imame aus der Türkei oder aus anderen islamischen Ländern in Deutschland ankommen und hier wirken, ohne unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere verfassungsmäßige Ordnung und unsere ganz alltägliche
gesellschaftliche Realität zu kennen, dann kann das Wirken dieser Imame die Integration nicht fördern, sondern
sie nur erschweren. Das wollen wir ändern. Daher machen wir ganz konkrete Vorschläge. Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund, unsere Vorschläge abzulehnen.
Die Kritik an unserem Antrag hat sich bislang nur an
einem einzigen Punkt festgemacht: an der Verwendung
des Begriffes „Leitkultur“. Lassen Sie mich einmal zitieren, was der Schöpfer dieses Begriffes, Professor
Bassam Tibi, dazu gesagt hat.
({12})
- Bleiben Sie ganz entspannt. - Ich zitiere ihn:
Es schmerzt mich mitzuerleben, mit welchen Diffamierungen die Parteien im Streit um die „Leitkultur“ arbeiten. Diesen Begriff in die Verbindung mit
der unheilvollen deutschen Geschichte von 1933
bis 1945 zu bringen, wie es Marieluise Beck getan
hat, grenzt an Rufmord. Solche Äußerungen gegen
das Konzept der Leitkultur haben eine Wirkung wie
Steine und Gummigeschosse des Hasses im Nahen
Osten. Ich erwarte eine rationale Diskussion über
den Gegenstand.
Darüber sollten die Kritiker einmal in Ruhe nachdenken.
({13})
Multikulti ist kein Zukunftsmodell, Multikulti ist gescheitert.
({14})
Wenn wir ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Hautfarbe oder Religion
wollen, dann brauchen wir einen gemeinsamen, werteorientierten gesellschaftlichen Konsens.
({15})
Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Beck?
Ja.
Lieber Herr Kollege Bosbach, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass dieser von Herrn Tibi geäußerte Zusammenhang von mir so nicht hergestellt worden ist, und sind Sie bereit, das Weitertragen dieses Gerüchts, der Zuschreibung zu mir, zu unterlassen?
Das nehme ich gerne zur Kenntnis und hoffe, dass ich
damit auch zur Kenntnis nehmen kann, dass Sie diesen
Begriff nicht mehr für einen Kampfbegriff
({0})
gegen die vielfältigen, pluralen Lebensäußerungen in
unserem Volk halten, sondern für eine Selbstverständlichkeit, die das Fundament beschreibt, auf dem wir alle
gemeinsam stehen.
({1})
Warum sollten wir diesen Konsens, die Orientierung
an uns alle - das gilt übrigens auch für die Deutschen verpflichtende Normen und Werte nicht „freiheitliche
demokratische Leitkultur“ nennen? Wir brauchen mehr
Integration einerseits und mehr Entschlossenheit gegen
jede Form von Extremismus andererseits. Wer dies mit
uns gemeinsam will, der kann dem Antrag zustimmen.
Danke fürs Zuhören.
({2})
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Franz Müntefering.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Titel der
beiden Anträge, die wir heute hier diskutieren,
({0})
sind schon symptomatisch.
({1})
Der Antrag der Koalition heißt „Zusammenleben auf
der Basis gemeinsamer Grundwerte“, der der CDU/CSU
heißt „Politischen Islamismus bekämpfen“.
({2}): Lesen Sie den ganzen Text
vor! - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist
schofelig!)
Das ist ein bisschen Programm bei Ihnen. Ihr Problem
ist, dass Sie das Thema der Integration und das Thema
Extremismus oder gar internationaler Terrorismus leichtfertig miteinander verknüpfen; das ist die Schwäche Ihrer Argumentation.
({3})
Herr Fraktionsvorsitzender, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Einen Moment, bitte. - Hören Sie noch ein bisschen
zu; vielleicht habe ich ja doch Recht.
({0})
Die Sache ist doch eindeutig: Wer gegen unsere Gesetze
verstößt - und die Gesetze sind klar und eindeutig -, der
muss zur Rechenschaft gezogen werden, ob Deutscher
oder Ausländer. Gewalt ist nicht erlaubt, auch nicht in
Familien. Hass predigen ist nicht erlaubt, auch nicht in
Moscheen. Eine Frage von Integration ist das aber nicht,
({1})
das ist eine Frage der Gesetze. Wir sind dafür, dass diese
Gesetze angewandt werden.
({2})
Integration ist eine ganz praktische Frage: eine Frage
des Alltags, eine Frage der Nachbarschaft, eine Frage
des Miteinanders. Wir haben seit 40 Jahren Menschen
eingeladen, in dieses Land zu kommen. Wir haben darum geworben, mitzuhelfen, dass Deutschland Wohlstandsland bleibt. Viele sind gekommen. Wir haben Arbeitskräfte zu uns geholt, zu denen wir lange Zeit
Gastarbeiter gesagt haben. Eines ist auf diesem Weg klar
geworden: Weil viele Menschen zu uns gekommen sind,
müssen wir jetzt über das Problem der Integration diskutieren.
Noch eines: Dadurch, dass wir Arbeitskräfte zu uns
geholt haben, leben jetzt 7,3 Millionen Ausländer bei
uns, wovon 3,3 Millionen Muslime sind. Viele von ihnen
sind in Sportvereinen, am Arbeitsplatz und als Geschäftsleute in großen und kleinen Betrieben aktiv. Es
gibt übrigens 50 000 türkische Unternehmerinnen und
Unternehmer, die 300 000 Menschen beschäftigen. Muslime und Ausländer insgesamt aus allen Teilen der Gesellschaft sind in Vereinen und Verbänden. In Moscheen
gehen sie weniger. 80 Prozent der Muslime sind religiös
nicht aktiv. Das alles klingt ziemlich deutsch.
({3})
Ganz zweifelsfrei gibt es aber auch Probleme, zum
Beispiel hinsichtlich der Sprache: bei der frühkindlichen Erziehung, in der Schule, beim Religionsunterricht,
im Beruf und wegen der Chancen, die Frauen und Mädchen genommen werden, weil sie keine Gelegenheit haben, die Sprache zu erlernen. Es ist wichtig, die Sprache
zu erlernen. Das gehört zentral mit zur Integration. Ich
glaube, dass wir hier sehr nah beieinander und uns einig
sind.
Es ist vielleicht gut, an dieser Stelle zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Wenn in diesem Land gegen Gesetze
verstoßen wird - ob von Deutschen oder von Ausländern -, muss dies sanktioniert werden. Zweitens. Um in
unserem Land bestehen zu können, muss unsere Sprache
gelernt werden. Das müssen die Ausländer von sich aus
wollen. Wir wollen ihnen dabei helfen. In diesen beiden
Punkten sehe ich keine Differenz zwischen unseren Ansichten.
({4})
Herr Bosbach, es ist problematisch, dass Ihr Antrag
danach Passagen enthält, durch die deutlich wird, was
Sie mit Ihrer Diskussion im Schilde führen. In Ihrem
Forderungskatalog gibt es den sehr interessanten
Punkt 4. Sie stellen dort fest, dass es um ein Konzept
geht, mit dem langfristig ein friedliches und fruchtbares
Miteinander der religiösen und der nicht religiösen Menschen in Deutschland erreicht werden soll. Das haben
Sie wahrscheinlich ein wenig schnell hingeschrieben.
Ich will das nicht näher untersuchen; denn das hat mit
Ausländern und Integration überhaupt nichts mehr zu
tun. Hier bewegen Sie sich auf einem ganz anderen Feld.
({5})
Sie stellen in Ihrem Antrag weiter fest, dass Integration nicht Assimilation meint. Das sehen wir auch so.
Das ist gut und ein dritter Punkt, in dem wir übereinstimmen.
({6})
In Ihrem Antrag heißt es unter Nr. 4 weiter:
Integration meint … die Anerkennung des Verfassungsstaates und der freiheitlich demokratischen
Leitkultur in Deutschland …
Diese Formulierung finde ich interessant. Hier haben Sie
die Leitkultur endlich einmal aus dem pathetischen Nebel herausgeholt und festgestellt, dass Sie mit der Leitkultur grundgesetzliche Regelungen meinen. Wenn Sie
das meinen, dann ist es okay. Dann heißt es eben nicht
mehr FDGO, sondern FDLK, also freiheitlich-demokratische Leitkultur. Das ist etwas seltsam und nicht besonders aufregend.
Leider geht der Satz an dieser Stelle aber noch weiter.
Sie schreiben nämlich, dass Integration auch das Erlernen der in diesem Land gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen meint. Das wurde additiv formuliert.
Neben der Anerkennung des Grundgesetzes steht also
das Erlernen gewachsener kultureller Grundvorstellungen als Bedingung für Integration. Was meinen Sie damit?
Welche kulturellen Grundvorstellungen sollen die
Muslime obligatorisch über das hinaus erlernen, was in
unserem Grundgesetz steht?
({7})
Ich nehme an, dass Sie Art. 3 Grundgesetz - Gleichheit
vor dem Gesetz - nicht infrage stellen. In Abs. 3 steht:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner
Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner
Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Ich nehme an, dazu stehen Sie nicht im Widerspruch.
Für Art. 4 des Grundgesetzes - Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit - gilt das wahrscheinlich
genauso. In Abs. 1 steht:
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
In Abs. 2 steht:
Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
({8})
Herr Bosbach, meine Damen und Herren von der
Opposition, es bleibt die Frage, was Sie meinen.
({9})
Wenn Sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung,
wie sie im Grundgesetz steht, und die Gesetze, die aus
ihm abgeleitet werden, zu Ihrer so genannten Leitkultur
erklären, dann frage ich mich, was die kulturellen
Grundvorstellungen sind, die Zuwanderer in unser Land
Ihrer Meinung nach zusätzlich zwingend erlernen müssen. Das ist hier nicht erklärt. Das, was Sie eben dazu gesagt haben, hat die Sache nicht deutlicher und klarer gemacht, Herr Bosbach.
({10})
Herr Kollege Müntefering, es gibt eine Reihe von
Wünschen nach Zwischenfragen. Zunächst möchte Herr
Kollege Stadler eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie
sie zu?
Zwei lasse ich gerne zu.
Herr Müntefering, nun haben Sie einige Zeit Ihre Gedanken entwickelt, woran ich Sie auch gar nicht hindern
wollte. Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zu
bestätigen, dass wir uns in der heutigen Debatte nicht
mit zwei Anträgen, wie Sie gemeint haben, sondern mit
drei Anträgen befassen.
Ich bin deswegen zu der Frage gekommen, weil Sie
darauf abgestellt haben, dass aus der Titelbezeichnung
von Anträgen ein Rückschluss auf den Inhalt gezogen
werden kann, und der Antrag der FDP den Titel trägt:
„Kulturelle Vielfalt - Universelle Werte - Neue Wege zu
einer rationalen Integrationspolitik“. Es wäre schön gewesen, wenn Sie diesen Antrag in Ihre Überlegungen
einbezogen hätten. Dann hätten wir erfahren, wie Sie
sich dazu verhalten.
({0})
Wenn ich eine Minute mehr Redezeit gehabt hätte,
hätte ich Ihren Titel ebenfalls nennen können. Jetzt haben Sie es getan. Ich kann nur bestätigen, dass der Antrag vorliegt.
({0})
Jetzt hat der Kollege Bosbach das Wort.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben gerade unter
Hinweis auf die entsprechende Formulierung in unserem
Antrag begrüßt, dass wir keine Assimilation, aber Integration erwarten. Sie haben wörtlich gesagt: Assimilation lehnen wir ab. Meine Frage ist: Wer ist „wir“? Sind
das die Eheleute Müntefering, die gesamte SPD oder die
SPD-Bundestagsfraktion?
({0})
Es ist keine zweieinhalb Jahre her, dass der Bundesminister des Innern die Assimilation von Ausländern in
Deutschland gefordert hat.
({1})
Hier im Deutschen Bundestag hat er die Forderung nach
Assimilation unter Hinweis darauf verteidigt, dies heiße
doch nur ähnlich werden, Anpassung, und dies könne
man doch mit guten Gründen fordern. Lehnen Sie das
ab? Oder schließen Sie in dieses „wir“ den Bundesinnenminister mit seiner Meinung nicht ein?
Ich habe festgestellt, Herr Bosbach, dass Sie in Ihrem
Antrag erklären: Assimilation wollen wir nicht. Das
habe ich für gut befunden; denn das wollen wir auch
nicht. Deutlicher kann man doch gar nicht sein. Meine
Worte sind doch klar verständlich.
({0})
Ich spreche als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und als Mitglied dieser Partei. Das ist wahrscheinlich bekannt; darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen.
({1})
Da ich aber noch nicht ganz fertig bin, will ich Sie,
Herr Bosbach, weiterhin ansprechen. Unter Nr. 4 Ihres
Antrags heißt es, dass das Grundgesetz die Leitkultur
sei.
({2})
Das ist interessant, aber uns nicht fremd. Wenn Sie Ihre
Aussage darauf reduzieren, dann wäre das ein Fortschritt.
({3})
- Wenn Sie Ihre Aussage nicht darauf reduzieren, dann
ist das noch interessanter; denn Sie haben weitere kulturelle Grundvorstellungen eingefordert. Ich habe Sie daraufhin gefragt: Was meinen Sie damit? Wenn man das
mit dem abgleicht, was im Grundgesetz steht, dann stellt
sich die Frage: Was bleibt Ihnen denn dann noch?
({4})
Deshalb ist für mich zweifelhaft, ob das, worüber jetzt
diskutiert wird, von Ihnen wirklich ehrlich gemeint ist.
Ich vermute, dass dahinter etwas ganz anderes steckt. Ich
glaube, Herr Bosbach, die CDU/CSU hat entdeckt, dass
man mit diesem Thema Wahlkampf machen könnte.
({5})
Ich denke, dass es Ihnen darum geht und Sie nicht an der
Klärung der Tatbestände interessiert sind, über die wir
hier miteinander reden.
Sie entdecken die Möglichkeit, mit diesen kulturellen
Grundvorstellungen im deutschen Interesse, das Frau
Merkel immer im Munde führt, in Verbindung mit Patriotismus ein Thema aufzubauen, das auch für den Parteitag
ab Sonntag angekündigt ist. Die Sache mit dem deutschen Interesse ist deshalb so interessant, weil Sie, als
wir damit im Zusammenhang mit dem Irakkrieg argumentiert haben, empört aufgeschrien haben, dass das
nicht angehe.
({6})
- Das ist zur Sache.
({7})
Vielleicht wissen Sie nicht, was Ihre Vorderen wollen.
Als die Sache mit dem deutschen Interesse auf unseren
Plakaten zur Europawahl stand, haben Sie versucht, das
zu karikieren. Jetzt sind Sie dabei, zu formulieren, was
das deutsche Interesse ist. Sie müssten für das Plagiat eigentlich Lizenzgebühren bezahlen.
({8})
Vergleichbar sind Ihre Aussagen zum Patriotismus.
Wir haben in unserer 141-jährigen Geschichte vieles für
das Land erreicht. Das Land gehört uns nicht und es gehört auch Ihnen nicht. Das, was uns miteinander verbindet, ist, dass alle Menschen, die in diesem Lande wohnen, ob Deutsche oder nicht, ob Mitglieder Ihrer Partei,
meiner Partei oder anderer Parteien, denselben Anspruch, dasselbe Recht und die Aufgabe haben, diesem
Land zu dienen. Wenn eine Partei sagt „Wir sind die Patrioten“, dann kann vielleicht ein Wort von Johannes Rau
helfen, der einmal gesagt hat: „Patrioten sind Menschen,
die ihr Land lieben.
({9})
Nationalisten sind Menschen, die die Heimatländer anderer missachten.“ Dies gilt auch für Menschen aus anderen Ländern, die bei uns sind. Deshalb gehört das sehr
wohl zum Thema der Integration.
Wir alle sind gut beraten, wenn wir in großer Achtung
voreinander, auch vor anderen Völkern und anderen
Ländern, unseren Patriotismus hier im Land nicht überhöhen.
({10})
Wir sind so gute Patrioten wie Sie. Auch das nehmen wir
als Sozialdemokraten für uns in Anspruch. Den Beweis
dafür kann man gut und einfach führen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Zu einer Kurzintervention erhält zunächst der Abgeordnete Pflüger das Wort.
Herr Müntefering, Sie haben eben den Titel des CDU/
CSU-Antrages mit den Worten „Politischen Islamismus
bekämpfen“ zitiert und ergänzt, dass man schon an dem
Titel sehen könne, dass die Union, wenn es um Islam
und Islamismus gehe, vor allen Dingen eine Kampfposition einnehme.
({0})
Sie haben damit den Eindruck vermittelt, es sei heute unser Bestreben, eine Kampflinie aufzubauen. Sie haben
den Menschen nur die halbe Wahrheit gesagt. Das ist
manchmal noch schlimmer als die Unwahrheit; denn der
Antrag heißt „Politischen Islamismus bekämpfen - Verfassungstreue Muslime unterstützen“. Warum haben Sie
eigentlich diesen zweiten Teil verschwiegen? Uns geht
es darum, dass wir der überwältigenden Mehrheit der
Muslime, die bei uns vernünftig leben, arbeiten und
Steuern zahlen und sich hier integrieren wollen, Brücken
bauen.
Wir reden im dritten Absatz von Punkt I dieses Antrags davon, dass 1 Prozent der Muslime laut Verfassungsschutzbericht dem extremen Islamismus zuneigt.
Wie können Sie es mit sich selbst und ihrer Politik vereinbaren, mit der verkürzten Wiedergabe der Überschrift
eine ganze Fraktion in eine bestimmte Ecke zu drängen
und den Eindruck zu vermitteln, als ob ein Teil dieses
Hauses nicht mit den Ausländern, die bei uns leben,
friedlich zusammenleben will? Das ist unerträglich und
das müssen Sie hier zurücknehmen.
({1})
Dasselbe gilt für das Thema Patriotismus. Auch ich
bin dagegen, einem anderen im Rahmen einer normalen
politischen Debatte Patriotismus abzusprechen.
({2})
Wer wollte bestreiten, dass sich auch die Sozialdemokraten für dieses Land eingesetzt haben? Patriotismus darf
man nicht in erster Linie als Keule benutzen.
({3})
Sie haben auch mit der Aussage Recht, dass Patriotismus nicht in der Weise geäußert werden darf, dass man
auf andere Länder herabschaut. Aber wenn Bundesminister Trittin kurz vor seinem Amtsantritt 1998 erklärt, er
habe in der Vergangenheit nie die deutsche Nationalhymne gesungen und er werde sie auch nicht in Zukunft
singen,
({4})
wenn diese Bundesregierung einen nationalen Feiertag
abschaffen will und Herr Trittin eine Woche später erklärt, er möchte einen islamischen Feiertag einführen,
({5})
dann zweifle ich in der Tat daran, dass bei allen Mitgliedern der Regierungsfraktionen patriotisches Verständnis
herrscht. Uns geht es um aufgeklärte Vaterlandsliebe.
Das ist nichts Schlimmes; sie ist vielmehr etwas Gutes
und Richtiges.
({6})
Herr Kollege.
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Zum Begriff der
Leitkultur werden die Kollegin Köhler und der Kollege
Grindel, die den Antrag im Wesentlichen formuliert haben, gleich noch etwas ausführen. Lassen Sie mich nur
so viel anmerken: Dass der Begriff Leitkultur hier als
Kampfbegriff nach dem Motto „Diejenigen, die ihn verwenden, wollen andere Kulturen und Religionen gering
schätzen“ aufgebaut wird, ist schwer erträglich.
({0})
Wir sind sehr für Religionsfreiheit und wir sind sehr
dafür, dass sich andere Menschen nicht assimilieren
müssen.
({1})
Wir meinen aber auch, dass eine Gesellschaft, die darauf
verzichtet, über das Grundgesetz hinaus eine Leitkultur
zu definieren - die sich zum Beispiel in der deutschen
Sprache zeigt -, dazu herausfordert, parallele Gesellschaften zu schaffen. Deswegen glauben wir, dass der
Begriff der Leitkultur, sofern er in einer vernünftigen
Weise verwendet wird, weiterführt.
({2})
Bitte, Herr Müntefering.
Der Antrag Ihrer Fraktion trägt die Überschrift „Politischen Islamismus bekämpfen - Verfassungstreue Muslime unterstützen“.
({0})
Dass Sie die Bekämpfung des politischen Islamismus
zum Kernpunkt dieses Antrags und der Ausführungen
von Herrn Bosbach gemacht haben,
({1})
steht doch außer Zweifel.
({2})
Was ich Ihnen nahe legen wollte, ist - hören Sie gut
zu, Herr Bosbach und Herr Pflüger! ({3})
- das kann schon sein; dann stellen wir das eben gemeinsam fest -, dass der Verstoß gegen Gesetze und das
Thema Integration auseinander gehalten werden sollten.
({4})
Menschen, die gegen Gesetze verstoßen, müssen mit
Sanktionen rechnen, und zwar unabhängig davon, ob sie
zum Beispiel Ausländer sind, ob sie Muslime sind.
({5})
Insofern gilt: Wer hetzt und Gewalt anwendet, unterliegt
unseren Gesetzen. Das muss man nicht unter der Überschrift „Politischen Islamismus bekämpfen“ beschreiben; es unterliegt unseren Gesetzen. Die Frage der Integration geht darüber hinaus; es geht dabei um das
Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen in
unserem Land.
({6})
Sie haben Punkt 4 Ihres Antrags angesprochen. Ich
habe nichts dagegen, wenn Sie von der Leitkultur sprechen. Ich habe es lediglich begrüßt und freue mich wirklich darüber, dass Sie bereit sind, diesen Begriff zu präzisieren. Viele Menschen im Land fragen sich, was Sie
damit meinen. Sie haben diesen Begriff seinerzeit eingeführt, um sich, die CDU, als eine Partei mit einem besonderen kulturellen Hintergrund vorzustellen.
({7})
Ich habe mich immer wieder gefragt, was Sie eigentlich meinen und wer Sie eigentlich sind. In diesem Punkt
verstehe ich Sie nicht. In Ihrem Antrag haben Sie erstmals schriftlich formuliert, dass es Ihnen im Kern um
unseren Verfassungsstaat und um unser Grundgesetz
geht.
Ich betone noch einmal: Wenn Sie sagen, die Leitkultur entspreche unserem Grundgesetz, dann ist das in
Ordnung. Das können Sie ruhig als Leitkultur beschreiben. Dagegen habe ich nichts. Ich würde zwar nicht diesen Begriff dafür verwenden, weil es sich um eine Erhöhung besonderer Art handelt, aber darüber hinaus
kommen wir uns schon näher.
Sie haben aber noch nicht erläutert, Herr Pflüger - das
werden Sie möglicherweise noch tun -, was Sie mit dem
Erlernen der „gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen“ - additiv zum Grundgesetz, obligatorisch für alle
Menschen, die zu uns ins Land kommen - meinen. Sie
meinen damit hoffentlich nicht, dass sie alle Mitglieder
der CDU werden sollen. Das haben Sie sicherlich nicht
gemeint.
({8})
Jetzt hat der Abgeordnete und Innenminister Otto
Schily das Wort zu einer Kurzintervention.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Mein Kollege Müntefering hat eben für die SPDFraktion erklärt, dass wir Assimilation nicht erzwingen
wollen. Damit spricht er auch für den Abgeordneten
Otto Schily.
Aber ich will auch darauf hinweisen, dass Assimilierung erlaubt ist.
({0})
Insofern haben Sie mich völlig falsch zitiert, Herr
Bosbach. Ich habe in dem Interview, das Sie vielleicht
meinen - Herr Prantl zitiert mich falsch und Sie zitieren
mich falsch -, keine Assimilierung gefordert.
({1})
- Nein, ich habe nie Assimilierung gefordert. Das ist
völlig falsch.
Ich meine, auch Assimilierung kann eine Form der Integration sein; wir sollten sie nicht aus Gründen der Political Correctness für beklagenswert halten. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt es viele
Integrationsvorgänge, die nichts anderes als Assimilierung sind. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen - Herr
Professor Frankenberg, Wissenschaftsminister in BadenWürttemberg, hat mir diese Anekdote gerade berichtet -:
Als er sich kürzlich - wie das auf einer langen Autofahrt
schon einmal geschieht - mit seinem Fahrer, der deutscher Staatsbürger serbischer Abstammung ist und einen
serbischen Namen trägt, über die Probleme BadenWürttembergs unterhalten hat, hat dieser gesagt: Frau
Schavan kann nicht Ministerpräsidentin von BadenWürttemberg werden, weil sie nicht zu uns gehört. Dazu
kann ich nur sagen: Dieser Mann ist assimiliert und integriert. Das finde ich in Ordnung.
({2})
Ein weiteres Beispiel: Cem Özdemir spricht reines
Schwäbisch. Auch das ist eine gewisse Form von Assimilierung. Ich wüsste nicht, was daran beklagenswert
sein sollte.
({3})
Trotzdem kennt er sich in der Türkei noch gut aus und
spricht fließend Türkisch. Er bildet also eine interkulturelle Brücke.
Lassen Sie uns doch nicht dogmatische Grabenkämpfe führen! Wir sollten die Beantwortung der hier
zur Diskussion stehenden Fragen viel lockerer angehen.
Es gibt viele Formen der Integration. Assimilierung ist
nicht des Teufels, sondern unter den Bedingungen des
Grundgesetzes erlaubt.
Vielen Dank.
({4})
Noch eine dritte Kurzintervention des Abgeordneten
von Klaeden. Weitere Kurzinterventionen lasse ich dann
aber nicht mehr zu.
Bitte, Herr von Klaeden.
Herr Müntefering, ich möchte gerne auf Ihre Ausführungen zum Begriff der freiheitlich-demokratischen
Leitkultur eingehen. Sie haben gesagt - ich glaube, damit gebe ich Sie richtig wieder -, dies sei für Sie nur
dann verständlich, wenn damit das Grundgesetz gemeint
sei. Für uns gehören zur freiheitlich-demokratischen
Leitkultur in Deutschland auch das geschichtliche Erbe
und die Verantwortung aus der Geschichte, zum Beispiel
die besondere Verantwortung unseres Landes gegenüber
Israel, obwohl davon kein Wort im Grundgesetz steht.
({0})
- In der Präambel des Grundgesetzes steht nichts von der
besonderen Verantwortung für Israel. Aber diese Verantwortung gehört aufgrund unserer Geschichte zur freiheitlich-demokratischen Leitkultur unseres Landes.
Ich finde, dass jeder, der nach Deutschland kommt
und die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben will, diese
besondere Verantwortung akzeptieren muss. Wer das
nicht will, der, finde ich, gehört auch nicht in dieses
Land.
({1})
Herr Müntefering, möchten Sie erwidern? - Nein.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Michael
Goldmann.
Sehr verehrte, geschätzte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat in dieser Woche ein breit angelegtes Integrationspapier, an
dessen Erarbeitung insbesondere der Kollege Haupt beteiligt war, beschlossen und wird damit das Thema in
Partei und Gesellschaft angehen. Sie hat außerdem einen
Antrag im Bundestag eingebracht; dieser ist vorhin angesprochen worden. Herr Müntefering, es ist schade,
dass Sie sich, der Sie sich sonst sehr viel mit Sprache beschäftigen, mit den Grundaussagen unseres Antrags
nicht befasst haben. Wir heben darin den Wert kultureller Vielfalt hervor und fordern die Orientierung an allgemeingültigen Werten und das Beschreiten neuer, rationaler Wege in der Integrationspolitik. Ich frage mich, ob
das, was wir eben erlebt haben, dazu geeignet ist, eine
rationale und von den Menschen getragene Integrationspolitik in unserem Land voranzubringen.
({0})
- Herr Schmidt, wir können uns sehr gerne darüber unterhalten. Aber mir ist das Thema zu ernst, als dass ich
es dauernd durch Zwischenbemerkungen und Unklarheiten weiter verwässern will.
({1})
Sehr gelehrter Herr Kollege Bosbach, ich habe Sie
heute Morgen im Frühstücksfernsehen und auch hier
wieder als einen Mann des scharfen Wortes erlebt. Ich
finde, dass manche Ihrer Formulierungen in der Schärfe
etwas unglücklich sind. Religionsfreiheit in Verbindung
mit Narrenfreiheit zu bringen - in welcher Form auch
immer -, halte ich für unqualifiziert.
({2})
- Herr Bosbach, Sie können so lange dazwischenrufen,
wie Sie wollen. Hören Sie lieber gut zu!
Ich habe mir die Mühe gemacht, mich mit dem berühmten Punkt vier des CDU/CSU-Antrags auseinander
zu setzen. Es liegt sicherlich an mir, dass ich ihn nicht in
Gänze verstanden habe. Aber wir wollen doch festhalten, dass Sie zwischen den Worten „Anerkennung des
Verfassungsstaates“ und den Worten „der freiheitlichen
demokratischen Leitkultur“ das Verbindungswort „und“
gesetzt haben. Das heißt, es gibt so etwas wie die Anerkennung des Verfassungsstaates und es gibt daneben etwas anderes, nämlich eine freiheitliche demokratische
Leitkultur.
({3})
- Können Sie mir einmal sagen, was das ist?
({4})
- Bevor Sie den Mund aufmachen, hören Sie mir lieber
zu und denken Sie einmal nach!
({5})
- Herr Bosbach, Sie legen bei diesem Thema schon wieder diese integrative Art an den Tag. Sie brüllen in der
Gegend herum und produzieren Sprechblasen.
({6})
Man kann es eigentlich ganz einfach machen. Sie sind
ja ein Sprachakrobat und wissen daher, was ein Hauptwort und was ein Wiewort ist.
({7})
In Ihrem Antrag ist das Hauptwort „Leitkultur“ und sind
die Wiewörter „freiheitlich“ und „demokratisch“. Nach
meinem Verständnis sollten bei der Integration „Demokratie“, „Freiheit“ und „Gleichheit“ die Hauptwörter
sein.
({8})
Wenn man das praktiziert, dann kann man durchaus eine
Kultur entwickeln, die einen in bestimmten Lebensbereichen leitet; aber der Oberbegriff für unser demokratisches, für unser emanzipatorisches, für unser integratives Tun darf nicht der diffuse Begriff der Leitkultur sein,
den Sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen.
({9})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Geis?
Nein, das möchte ich jetzt nicht, weil ich mir viel
Mühe gegeben habe, diesen Gedanken zu entwickeln.
({0})
- Herr Bosbach, das unterscheidet uns vielleicht. Ich
weiß wenigstens, was in Ihrem Antrag steht. Bei einigen,
die eben geredet haben, hatte ich nicht unbedingt den
Eindruck, dass sie alles verstanden haben, was darin
steht.
({1})
Herr Kollege Bosbach, wir sollten uns vielleicht ein
wenig mehr auf den Begriff der Rechtskultur verständigen. Ich denke, es ist völlig klar: Wer sich an das hält,
was im vorderen Teil Ihres Antrags angesprochen wird,
nämlich an die Anerkennung des Verfassungsstaates und
unserer Rechtskultur - das fängt damit an, dass man
nicht die Zeitung liest, wenn man von einem Kollegen
direkt angesprochen wird; aber das, was Sie machen, ist
wahrscheinlich eine Variante der Leitkultur -,
({2})
der soll bei uns aufgenommen und integriert werden; das
ist überhaupt keine Frage. Derjenige, der das nicht tut,
der hat in unserer Demokratie, in unserem Rechtsstaat
nichts zu suchen. Da sind wir uns völlig einig.
Mit Ihrem Begriff der Leitkultur - ich habe eben versucht, darzustellen, dass er falsch ist - machen Sie etwas
anderes - ich halte das für gefährlich -: Im Grunde genommen reduzieren Sie das Ganze auf das Erscheinungsbild eines Menschen: auf das Tun, auf das Essen,
auf das Hören von Musik, möglicherweise sogar auf das
Aussehen.
({3})
Damit stellen Sie Menschen anderer Kulturkreise in eine
gefährliche Ecke unserer Gesellschaft. Deswegen kann
ich Sie nur herzlich darum bitten: Verabschieden Sie sich
eindeutig von dem Begriff der Leitkultur!
({4})
Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass die
Menschen, die zu uns gekommen sind, an Demokratie
und Kultur teilnehmen! Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass diese Menschen bereit und willens sind, unsere
Sprache zu lernen, damit sie begreifen, was wir unter
Ehe und Partnerschaft verstehen. Lassen Sie uns dann
klar sagen, dass zum Beispiel eine Zwangsheirat mit unserem demokratischen Verständnis überhaupt nicht in
Einklang zu bringen ist.
({5})
Lassen Sie uns darauf hinarbeiten, dass sich die Muslime
in Deutschland ein Stück mehr zusammenfinden, damit
wir den runden Tisch der Religionen an vielen Stellen
gemeinsam ausgestalten können.
Das Thema Integration in unsere Gesellschaft erfordert nach meiner Auffassung eine gründliche, eine tiefer
gehende Beratung. Wir sind dazu gerne bereit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.
({0})
Ich freue mich, dass Sie sich schon freuen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich frage mich schon, was diese Debatte leisten muss.
Sie muss verantwortlich geführt werden und sie darf
keine Stimmungsmache sein. Sie muss Probleme benennen, aber sie darf keine Ängste schüren.
({0})
Sie muss vor allem mit Polemik aufhören und muss konstruktive Vorschläge für die Verbesserung der Integration leisten;
({1})
das vermisse ich bei Ihnen sehr.
Diese Debatte muss auch mit einer Lebenslüge
Schluss machen. Es geht um die Anerkennung unserer
Realität,
({2})
ob einem das passt oder nicht. Ich komme aus Bayern.
Da passt es vielen nicht, aber es ist so: Deutschland ist
ein Einwanderungsland. Das ist die Anerkennung unserer Realität.
({3})
Wir haben Menschen und nicht Gäste und nicht bloß
Arbeitskräfte in dieses Land geholt. Max Frisch und
Gustav Heinemann haben das sehr früh erkannt. Diese
Migranten haben den Wohlstand in diesem Land mit gefördert und dieses Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit geprägt. Unser Land ist Lebensmittelpunkt für
Millionen von ausländischen Neubürgern geworden. Sie
sind hier, sie wollen hier sein und sie sollen bitte hier
bleiben. Diese Sicherheit müssen wir ihnen geben. Wir
müssen ihnen und ihren Kindern das Gefühl geben, dass
Deutschland auch ihre Heimat ist. Das tun Sie in den seltensten Fällen; zu dem Schluss komme ich, wenn ich mir
die öffentliche Debatte der letzten Woche vergegenwärtige.
({4})
Deutschland ist eine multikulturelle Gesellschaft,
Herr Bosbach, und das wissen Sie auch. Das ist die Realität. Die Realität ist nicht gescheitert. Jede fünfte Ehe in
diesem Land ist binational. Jedes fünfte Kind hat einen
Migrationshintergrund. Deutschland ist auch ein multireligiöses Land. 3,3 Millionen Moslems leben in diesem
Land. Diese Moslems sollten sich endlich eine entsprechende Repräsentanz geben. Das halten wir für sehr notwendig.
({5})
Wer etwas für Integration tun will, wer zusammenführen und nicht spalten will, der darf sich dieser Realität nicht verweigern. Sie ablehnen oder rückgängig machen zu wollen ist illusionär. Ausgrenzung verbaut die
Chancen von Integration.
Herr Bosbach, Sie sind wirklich ein Akrobat, was die
Sprache angeht. In Ihrem Antrag ist von der Leitkultur
die Rede. Heute Morgen laufen Sie aber wieder mit dem
Begriff der deutschen Leitkultur durch alle Agenturen.
({6})
Das ist nicht das, was Bassam Tibi sagt. Der redet von
der europäischen Leitkultur. So wie Sie landauf, landab
über deutsche Leitkultur, über deutsche kulturelle Umgangsformen - da frage ich mich wirklich, was das sein
soll - reden, so wie Sie heute in den Agenturen wieder
von der deutschen Leitkultur sprechen - ich kann es Ihnen gern zeigen, Herr Bosbach -, ist das nicht integrativ,
sondern da hierarchisieren Sie. Sie hierarchisieren Kulturen, Sie hierarchisieren Religionen und Sie hierarchisieren Menschen. Es muss aber darum gehen, die gleichberechtigte Teilhabe und Chancengleichheit zu fordern.
({7})
Claudia Roth ({8})
Das tun Sie nicht, obwohl Sie jetzt in Ihrem Antrag das
Wörtchen „deutsch“ gestrichen haben.
({9})
Anerkennung der Realität, das heißt auch anzuerkennen: Ja, es gibt Schwierigkeiten. Ja, es gibt Konflikte. Ja,
es gibt Probleme. Aber Integration funktioniert in weiten Bereichen auch. Drei Viertel der Migranten leben
nicht in ethnisch geprägten Vierteln. Die Zahl der Kontakte der Deutschen der jüngeren Generation zu Migranten nimmt zu. Das Schlechtreden von erfolgreicher Integration ist das pure Gegenteil von Patriotismus, von dem
Sie immer reden.
({10})
Die Stigmatisierung von Menschen in Bezirken mit
hohem Ausländeranteil löst überhaupt kein Problem.
({11})
Was wir nicht brauchen, Herr Grindel, ganz sicher nicht,
ist eine Ausländerquote, wie Herr Schönbohm sie gefordert hat,
({12})
was auf Zwangsumsiedlungen hinauslaufen würde. Was
wir nicht brauchen, ist die Forderung von Frau Schavan,
dass plötzlich nur noch in Deutsch gebetet werden darf.
({13})
Das ist keine Integration, sondern das spaltet und das ist
ein Signal für Ausgrenzung. Das ist Gift für die politische Stimmung in diesem Land.
({14})
Was wir brauchen, ist eine systematische Integrationspolitik. Das ist über Jahrzehnte, auch dank Ihnen,
versäumt worden. Sie betrifft nicht nur die Neuzuwanderer - das ist jetzt im Zuwanderungsgesetz festgelegt -;
sie ist auch nachholende Politik. Sie fordert von allen
Seiten Integrationsbereitschaft ein. Integrationspolitik
heißt zuallererst Sprachförderung im frühkindlichen
Alter - das muss uns sehr viel wert sein -, heißt weiter
Öffnung des öffentlichen Dienstes, der Polizei und des
Verfassungsschutzes für Menschen mit einem Migrationshintergrund. Sie reden immer davon. Aber wie sieht
denn die Praxis in den Ländern, die Sie regieren, aus? Da
passiert doch das pure Gegenteil.
({15})
Integrationspolitik beinhaltet gezielte Förderung von
Migranten bei Ausbildung, Bildung und auf dem Arbeitsmarkt, gezielte Förderung von Frauen und Mädchen. Man redet zwar immer darüber, aber in Bayern
werden die Mittel für Integration im Haushalt gerade um
50 Prozent gekürzt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Klaeden?
Ein bisschen später kann er sie gerne stellen.
({0})
Integration beinhaltet auch - das unterstützen wir sehr Ausbildung von Imamen an deutschen Universitäten und
deutschsprachigen islamischen Religionsunterricht.
Ich denke, dass von dieser Debatte heute das Signal
ausgehen muss, dass Moslems in diesem Land nicht unter Generalverdacht stehen.
({1})
Das heißt überhaupt nicht, dass wir nicht selbstverständlich für eine entschiedene Bekämpfung islamistischextremistischer Bestrebungen sind. Auch Sie wissen,
dass wir keine Aufhetzung zu Gewalt und keinen Antisemitismus in den Moscheen dulden. Sie wissen auch, dass
wir uns offensiv mit Vorstellungen von religiös oder kulturell begründeten Formen von Unfreiheit oder Ungleichheit auseinander setzen und dass wir Maßnahmen
zum Beispiel gegen die Zwangsverheiratung ergriffen
haben.
Wir treten ein für die Religionsfreiheit: hier bei uns
auch für Moslems, in der Türkei auch für Christen und
Aleviten. Religionsfreiheit heißt aber nicht, dass religiöse Vorstellungen über die demokratische Rechtsordnung gestellt werden dürfen.
({2})
Deswegen darf aber Integrationspolitik doch nicht auf
Ordnungspolitik reduziert werden, wie es meiner Meinung nach in Ihrem Antrag der Fall ist. Integrationspolitik muss doch den Islam als gleichberechtigte Religion
anerkennen und zum Ziel haben, den Islam quasi bei uns
einzubürgern. Denn ein europäischer Islam ist doch der
beste Beitrag im internationalen Kampf gegen den islamistischen Extremismus.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Multikulturalität
ist nicht nur Realität, sie stellt für uns auch ein starkes
Ideal dar, womit wir Freiheit, Vielfalt und die Achtung
unterschiedlicher Lebensweisen und Lebensentwürfe
verbinden. Sie erfordert eine Kultur der Differenz sowie
eine Kultur der Toleranz und des Respekts. Toleranz in
einer multikulturellen Demokratie bewegt sich immer im
Rahmen unserer Verfassungsordnung. Die Zukunft liegt
Claudia Roth ({3})
also im Pluralismus, nicht in der Monokultur. Die Zukunft erfordert einen viel stärkeren interreligiösen und
interkulturellen Dialog, nicht den Kampf der Kulturen
oder die Hierarchisierung von Kulturen und Religionen.
Das gemeinsame Fundament, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das ist das Grundgesetz, das ist unsere Verfassung, das sind die universellen Menschenrechte, das ist
unsere Demokratie. In diesem, aber nur in diesem Sinn
bin ich gerne Verfassungspatriotin.
({4})
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete
Bosbach das Wort.
({0})
Frau Kollegin Roth, ich habe mich zu Wort gemeldet,
weil Sie glaubten, darauf hinweisen zu müssen, dass ein
erheblicher Unterschied zwischen den Wortpaaren „Leitkultur in Deutschland“ und „deutsche Leitkultur“ bestehe. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was die CDU
Deutschlands vor genau vier Jahren beschlossen hat:
Integration erfordert deshalb, neben dem Erlernen
der deutschen Sprache sich für unsere Staats- und
Verfassungsordnung klar zu entscheiden und sich in
unsere sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse
einzuordnen. Dies bedeutet, dass die Werteordnung
unserer christlich-abendländischen Kultur, die vom
Christentum, Judentum, antiker Philosophie, Humanismus, römischen Recht und der Aufklärung
geprägt wurde, in Deutschland akzeptiert wird. Das
heißt nicht Aufgabe der eigenen kulturellen und religiösen Prägung, aber Bejahung und Einordnung in
den bei uns für das Zusammenleben geltenden
Werte- und Ordnungsrahmen.
… Multikulturalismus und Parallelgesellschaften
sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel muss eine
Kultur der Toleranz und des Miteinander sein - auf
dem Boden unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der eigenen Identität. In diesem Sinne ist
es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte
als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird.
({0})
Wenn Sie, Frau Kollegin Roth, bei der Frage, was
deutsche Leitkultur bzw. was Leitkultur in Deutschland
ist, minutenlang nur in rhetorische Erregungszustände bis
hin zum Brüllen verfallen, dann kann das nur heißen, dass
Sie in der Sache überhaupt nichts dagegensetzen können.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kristina Köhler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Herr Abgeordnete Müntefering - er ist leider nicht da ({0})
- Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen - hat uns
eben vorgeworfen, im Antrag der CDU/CSU-Fraktion
stehe das Thema Islamismus im Fokus. In der Tat haben
Sie damit gar nicht Unrecht; das Thema Islamismus steht
im Fokus. Aber ich frage: Wer sind denn die ersten Opfer der Islamisten? Die ersten Opfer sind doch die verfassungstreuen Muslime hier in Deutschland. Deshalb
haben wir in der Überschrift unseres Antrags den Zweiklang „Politischen Islamismus bekämpfen - Verfassungstreue Muslime unterstützen“ gewählt. Diesen
Zweiklang wollten Sie in Ihrem Zitat nicht wahrhaben.
({1})
Wir haben das Thema Islamismus auch deshalb in den
Fokus gestellt, weil hier ein unglaublicher Handlungsbedarf besteht. Ein Wegwerfsatz „Wir wollen jeden Extremismus bekämpfen“ reicht nicht. Nachdem Frau Roth
gerade versichert hat, diese Bundesregierung dulde
keine Aufhetzung zur Gewalt hier in Deutschland,
muss ich Ihnen leider ein Beispiel vortragen:
Ich habe gestern am Bahnhof Zoo die türkischsprachige Zeitung „Vakit“ gekauft. Hier habe ich sie liegen.
Nach Angaben ihres Verlages in Mörfelden-Walldorf im
Kreis Groß-Gerau erscheint diese Zeitung in einer Auflage von 10 000 Exemplaren. Allein in der gestrigen
Ausgabe finden sich einige verabscheuenswürdige Aussagen. Ich zitiere nur drei Sätze aus einer beglaubigten
Übersetzung dieser Ausgabe:
Die Wahrheit ist: Es gab keinen Holocaust. Auch
die so genannten Gaskammern sind eine Lüge. Das
ist alles nichts anderes als zionistische Musik.
({2})
Meine Damen und Herren, das sind ungeheuerliche Aussagen.
({3})
- Das ist strafbar, richtig.
({4})
Ich habe lange überlegt, ob ich diese Aussagen hier
wörtlich vortragen soll, aber ich tue es, weil ich will,
dass wir aufwachen und dass uns klar wird: Wir reden
hier nicht über Kleinigkeiten oder über missverständliche oder ungeschickte Formulierungen,
({5})
Kristina Köhler ({6})
sondern über Antisemitismus in seiner krassesten Form.
({7})
- Sie fragen: Wo ist der Handlungsbedarf?
({8})
Meine Damen und Herren, wir sind hier in Deutschland zu Recht sehr sensibel beim Thema Antisemitismus
({9})
und deswegen frage ich Sie zum Thema „Handlungsbedarf“: Warum können solche islamistischen Hetzblätter
unbeanstandet am Bahnhof Zoo hier mitten in Berlin
verkauft werden?
({10})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Streb-Hesse?
Ja.
Frau Kollegin, ich denke, Sie haben an den Reaktionen gemerkt, dass es nicht streitig ist, dass das Hetze
ist und dass dagegen strafrechtlich vorgegangen werden
muss.
({0})
Ist es aber dann nicht auch Hetze - dazu würde ich gerne
Ihre Meinung hören -, wenn die CDU im hessischen
Landtag in der letzten Woche fordert
({1})
- hören Sie bitte zu! -, dass sich die Einwanderer zur
Verfassung und zu den christlich-humanistischen Werten
bekennen,
({2})
sich aber anschließend in einer weiteren Debatte die
CDU-Landesregierung und die CDU-Landtagsfraktion
geschlossen hinter den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Irmer stellen, der mehrfach in den Zeitungen, die
er selbst herausgibt, und in anderen Äußerungen fordert,
({3})
dass - jetzt hören Sie genau zu - EU-Kommissar
Verheugen des Hochverrats angeklagt wird, weil er sich
für den Beitritt der Türkei zur EU ausgesprochen hat,
({4})
und dass eine Umerziehung von Homosexuellen stattfinden muss,
({5})
der - jetzt geht es noch weiter - seit Jahren den Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Tarek al-Wazir, aus einer
binationalen Ehe stammend, mit dem Beinamen
„Mohammed“ tituliert und der die Bundesjustizministerin - da weiblich - des Schwachsinns bezichtigt?
Es ist gefordert worden, dass der Kollege diese Äußerungen zurücknimmt und sich entschuldigt. Ich denke, in
einigen Punkten müsste er zivilrechtlich belangt werden.
Ich bin erstaunt, wenn die gleiche Fraktion hier im Bundestag -
Frau Kollegin, Sie wollten eine Zwischenfrage stellen. Es ist doch recht schwierig, auf eine Frage zu antworten, die sich auf Vorgänge in einem anderen Parlament bezieht.
({0})
Aber Sie können das gerne versuchen, Frau Köhler.
Ich habe durchaus eine Frage gehört, Frau StrebHesse, nämlich ob ich das nicht ebenso unglaublich
finde. Da sage ich Ihnen: nein. Ich möchte das nicht mit
der Leugnung des Holocausts gleichsetzen.
({0})
Frau Kollegin, auch der Kollege Volker Beck möchte
eine Zwischenfrage stellen.
Entschuldigung, ich möchte jetzt fortfahren.
({0})
Meine Damen und Herren, das wirklich Unglaubliche
ist, dass diese Blätter hier in Deutschland neben der
„Frankfurter Rundschau“ und der „Welt“ einfach so verkauft werden können.
Der Islamismus führt aber auch zu einer tagtäglichen
Unterdrückung von so genannten Ungläubigen. Dabei sind „Ungläubige“ nicht nur Christen oder Nichtmuslime, sondern „Ungläubige“ im Sinne der Islamisten
sind auch die ganz große Mehrheit der verfassungstreuen
Kristina Köhler ({1})
Muslime hier in Deutschland. Diese Gruppe ist das erste
Opfer der Islamisten und vielleicht sogar ihr größtes.
Deswegen tun wir den verfassungstreuen Muslimen
bitter Unrecht, wenn wir islamistische Organisationen
als Vertreter der Muslime in Deutschland anerkennen.
({2})
- Ich finde es schön, dass Sie mir da zustimmen; denn in
dem Antrag von der FDP steht, dass Sie hier keine Tabus
kennen wollen, dass Sie einen Dialog mit den Repräsentanten aller muslimischen Gruppen führen wollen. Ich
sage Ihnen: Für die CDU/CSU sind Organisationen tabu,
die sich nicht eindeutig zu unserer Verfassung bekennen.
({3})
Denn wir können es den verfassungstreuen Muslimen in
Deutschland einfach nicht zumuten, Islamisten als ihre
Repräsentanten anzuerkennen, weil wir nämlich ganz
genau wissen, dass die riesige Mehrheit der Muslime in
Deutschland mit dem Islamismus nichts zu tun hat.
({4})
Die Bundesregierung - ich meine nicht Sie, Herr Minister Schily - hat hier weniger Berührungsängste. Da
gibt es zum Beispiel den Islamrat. Der Islamrat wird
dominiert von der islamistischen Vereinigung Milli
Görüs, die wiederum vom Verfassungsschutz beobachtet
wird. Genau dieser Islamrat ist für unseren Bundesumweltminister Jürgen Trittin ein wichtiger Partner im
Kampf für eine ökologischere Welt. Denn Herr Bundesumweltminister Trittin hat in seinem Haushalt ein gemeinsames Projekt mit dem Islamrat mit dem Titel
„Islam und Umweltschutz am Beispiel des Wassers“.
({5})
Ich will einmal wohlmeinend unterstellen, dass der Herr
Bundesumweltminister hier aus Naivität handelt.
({6})
Aber genau diese Naivität können wir uns hier in
Deutschland nicht mehr leisten. Wir müssen klar zwischen den Islamisten und den verfassungstreuen Muslimen unterscheiden und wir müssen uns auch endlich Gedanken darüber machen, wie wir die verfassungstreuen
Muslime in ihrem Kampf gegen die Islamisten unterstützen wollen.
({7})
Noch eine Bemerkung zu der notwendigen und sehr
wichtigen Differenzierung zwischen Islam und Islamismus. Die Islamisten missbrauchen den Islam. Das ist
das eine. Das andere ist: Es ist unerträglich, dass man
sich bei jedem Satz gegen den Islamismus des Vorwurfs
erwehren muss, man habe den Islam in Gänze gemeint.
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt fortfahren.
Für die CDU/CSU möchte ich ein für alle Mal klarstellen, wo unsere Trennlinie liegt. Sie liegt nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern sie liegt zwischen denen - das können Christen und Muslime sein -,
die unsere grundlegenden Normen anerkennen und auf
dem Boden unserer Verfassung stehen,
({0})
und denen, die Intoleranz und Unterdrückung predigen
und die unsere Verfassung zerstören wollen. Es geht
nicht um eine Auseinandersetzung der Religionen, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen Freiheit und
Unterdrückung.
({1})
An dieser Stelle bin ich nicht zu einem Dialog bereit.
Ich weiß, dass unter dem Begriff „Dialog der Kulturen“
viel Gutes geschieht. Aber ich bin nicht bereit, über
Demokratie und Menschenrechte zu verhandeln.
({2})
Die Beachtung der Menschenrechte ist eine Mindestanforderung an jeden, der in unserem Land leben möchte.
Über diese Mindestanforderungen müssen wir an dieser
Stelle sprechen.
({3})
Damit sind wir bei der demokratischen Leitkultur.
({4})
Ich weiß, dass viele von Ihnen diesen Begriff nicht mögen. Ich habe aber, ehrlich gesagt, von Ihnen noch keinen besseren Vorschlag gehört.
({5})
Unbestritten ist doch, dass eine funktionierende Gesellschaft einen Kern an gemeinsamen Normen und Werten benötigt.
({6})
Durch diese wird die Gemeinschaft begründet, erhalten
und weiterentwickelt. Dazu gehört nicht nur, die Werte
unserer Verfassung anzuerkennen, sondern beispielsweise auch - Sie wollten ja Beispiele hören -, dass eine
gewisse Kenntnis über die Geschichte unseres Landes
vorhanden ist.
({7})
Kristina Köhler ({8})
Denn wer in Deutschland leben will, muss auch willens
sein, die Lehren anzuerkennen, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben.
({9})
Wer nämlich die demokratische Leitkultur anerkennt,
der wird nicht über eine „zionistische Weltverschwörung“ räsonieren. Zur demokratischen Leitkultur gehört
insbesondere: keine Toleranz der Intoleranz.
({10})
Zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete
Deligöz das Wort.
Frau Kollegin Köhler, eigentlich wollte ich wegen eines wichtigen Termins an dieser Debatte nicht teilnehmen. Ich habe die Debatte aber am Bildschirm verfolgt
und bin jetzt in den Plenarsaal gekommen, weil ich Ihnen Folgendes sagen muss: Ich bin bekennende Muslimin, aber - das gebe ich gerne zu - nicht besonders religiös. Bei solchen Debatten allerdings entdecke ich
plötzlich die Religion in mir. Durch die Art und Weise,
mit der Sie in dieser Debatte pauschalieren und uns alle
über einen Kamm scheren,
({0})
machen Sie mich zu einer bekennenden und religiösen
Muslimin. Das ist das Ergebnis Ihres Umgangs mit diesem Thema!
({1})
Wenn Sie schon eine Zeitung wie „Vakit“ zitieren
- ich gebe gerne zu, dass es ein wirklich verabscheuungswürdiges Zitat war -, dann müssen Sie aber auch erwähnen, dass es in Deutschland auch Zeitungen wie beispielsweise „Deutsche Stimme“, „Junge Freiheit“, und
„Deutsche Nationalzeitung“ gibt. In denen finden Sie
viele Stellen, die ich mindestens genauso verabscheuungswürdig finde. Trotzdem kann man nicht sagen, dass
alle Christen oder alle Menschen in Deutschland hinter
den Aussagen dieser Zeitungen stehen.
Hinsichtlich Ihres Zitats will ich noch hinzufügen: Es
gibt Medienvielfalt und es gibt die Pressefreiheit. Solche
Meinungen zu äußern wie die, die Sie gerade zitiert haben, steht in Deutschland unter Strafe.
({2})
- Getroffene Hunde bellen. Was wollen Sie eigentlich?
Ich finde Ihre Reaktion nicht richtig.
Ich will noch eines sagen: Die Hinwendung zur Religion ist auch Folge einer gescheiterten Integrationspolitik, die Sie zu verantworten haben. Es hat sich in diesem
Land aber etwas geändert. Denn diese Regierung hat
sich zum ersten Mal zu den Migranten bekannt, also
auch zur Generation meiner Eltern und zu meiner Generation. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Auch wenn
Ihnen das nicht passt, dürfen Sie noch lange nicht diese
richtige Politik torpedieren.
Wir leben in diesem Land und sind ein Teil dieser Gesellschaft. Ich bekenne mich dazu, in diesem Land sehr
bewusst Verantwortung zu übernehmen. Ich wehre mich
aber gegen pauschale Anschuldigungen gegen Muslime,
die ebenfalls einen Anspruch auf die Ausübung ihrer Religion haben.
({3})
Frau Kollegin Deligöz, Sie haben mir eben Pauschalierung vorgeworfen. Ich möchte Sie bitten, mir im Anschluss, wenn das Protokoll meiner Rede vorliegt, zu
zeigen, in welchem Satz ich pauschaliert habe. Ich habe
den Unterschied zwischen Muslimen und Islamisten
ganz deutlich herausgestellt. Ich habe mich genau dagegen verwahrt, dass ein Angriff auf den Islamismus immer als ein Angriff auf den Islam umgedeutet wird. Entschuldigung, das haben Sie eben wieder getan.
({0})
Zum Zweiten. Sie haben die Zeitung „Vakit“ angesprochen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die von
mir zitierte Aussage auf keinen Fall von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, sondern Volksverhetzung ist.
({1})
- Ja, das hat sie gesagt. - Es wäre doch hier der richtige
Ort, die Verantwortlichen in diesem Hause zu fragen,
warum das einfach so geschieht und warum zum Beispiel der Verfassungsschutz nichts tut.
({2})
Warum kann eine Zeitung mit einer solchen Aussage in
Deutschland verkauft werden?
({3})
Ich glaube nicht, dass ich gestern zufällig auf das erste
Exemplar gestoßen bin, in dem eine solche antisemitische Hetze stattfindet.
Wir dulden das hier in Deutschland und das muss sich
ändern!
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.
({0})
- Ich möchte alle Seiten bitten, die Emotionen ein bisschen herunterzukochen. Wir alle wissen, dass das eine
besonders schwierige Debatte ist; dafür sprechen ja auch
die Reaktionen. Aber man sollte sich gegenseitig noch
zuhören können. - Bitte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Köhler, Sie haben Recht: Das Wissen um
deutsche Geschichte zu mehren muss unser aller Anliegen sein. Mein Vater ist in Indien geboren worden. Er
hat mir vor kurzem erzählt, dass er bei einem Skatabend,
als er das Stichwort „Bismarck“ aufbrachte, gefragt worden ist, ob das der mit dem Hering sei. Das war eine
Antwort eines deutschen Mitbürgers. Insofern hat dieses
Anliegen nicht viel mit dem Thema „Leitkultur“ oder
gar „Integration“ zu tun.
({0})
Die Debatte über das Thema Integration hat in den
vergangenen Wochen mitunter Züge getragen, angesichts deren ich mich bisweilen gefragt habe, über welches Land eigentlich geredet wird. Über Deutschland,
dessen Geschichte und Gegenwart stets von Migration
mitgeprägt wurde und wird und das sich durch Pluralität auszeichnet? Unser Land hat mit seiner Heterogenität
überwiegend gute Erfahrungen gemacht, mit Ideologien
des Homogenitätsstrebens aber stets nur schlechte. Deshalb kann man sagen: Die große Vielseitigkeit unseres
Landes gehört eindeutig eher zu seinen Stärken als zu
seinen Schwächen.
({1})
Meine Damen und Herren, zu den diesjährigen Preisträgern des Wettbewerbs „Jugend forscht“ gehören
Jakob Bierwagen und Julia Oberland ebenso wie Giuseppe Nicolaci, Nikon Rasumov und Masud Sultan. Auf
die Leistungen dieser jungen Leute können wir gleichermaßen stolz sein.
Einer der populärsten zeitgenössischen Autoren hierzulande ist Wladimir Kaminer. Der erste deutsche Film,
der nach 20 Jahren wieder einen Goldenen Bären gewann, wurde von Fatih Akin gedreht. Xavier Naidoo ist
einer der meistgehörten deutschen Popkünstler. Ohne
Gerald Asamoah, Miroslav Klose und Kevin Kuranyi
wäre es - auch das ist richtig - um die Offensivkraft der
deutschen Fußballnationalmannschaft eher schlecht bestellt.
({2})
Was verbindet die Menschen unseres Landes gleich
welcher Herkunft oder Religion? Im demokratischen
und sozialen Rechtsstaat Deutschland kann es darauf nur
eine Antwort geben: Die - ausreichende - Grundlage für
das Zusammenleben aller Menschen in diesem Land ist
das Grundgesetz, unsere Verfassung, sonst nichts.
({3})
Über die Einhaltung dieser Verfassung - auch das gehört zur Realität im Einwanderungsland Deutschland wacht übrigens unter anderem Verfassungsrichter Udo
Di Fabio, der Enkel eines Zechenarbeiters, der aus Italien in das Ruhrgebiet eingewandert ist.
Wir waren uns in diesem Hause nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 darüber einig, dass wir
nicht der falschen These vom Kampf der Kulturen,
festgemacht am Religionsbegriff, das Wort reden. Es
wäre falsch, es wäre verheerend, diese gemeinsame Position aufzugeben oder hinter sie zurückzufallen. Es ist
gleichermaßen falsch, eine Debatte über Integrationsfragen zuvorderst als sicherheitspolitische Debatte zu führen. Diesen Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU, muss man Ihnen an dieser Stelle machen.
({4})
Es wäre verwerflich und zutiefst beleidigend, wenn
man bei den über 3 Millionen Menschen muslimischen
Glaubens in Deutschland auch nur annähernd den Eindruck erweckte - in den letzten Wochen könnte dies
auch aufgrund mancher unbedachter Worte leider geschehen sein -, sie würden unter den Pauschalverdacht
gestellt, potenzielle Extremisten zu sein. Das wäre
falsch. Islamismus hat mit dem Islam ebenso wenig zu
tun wie seinerzeit die Kreuzzüge mit den Grundwerten
des Christentums.
({5})
Friedrich der Große - nicht unbedingt ein Republikaner - hat einmal zutreffend bemerkt:
Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die
Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute
sind.
({6})
Meine Damen und Herren, aus guten Gründen ist die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Bestandteil des Grundgesetzes. Zugleich gilt: Das
Wirken von Hasspredigern, gleich welcher religiöser
oder ideologischer Couleur, kann und darf nicht geduldet
werden. Unsere Demokratie ist wehrhaft; Extremismus,
egal welcher Art, wird stets den gemeinsamen Widerstand der Demokraten finden.
Wie Sie vielleicht wissen, bin ich Mitglied der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover. Ich weiß
nicht, ob ich hier der einzige bin; Herr Goldmann, wie
ist das mit Ihnen?
({7})
- Na ja!
({8})
Als Mitglied dieser Landeskirche sage ich: Wer meint,
als Christ in Deutschland den Muslimen in Deutschland
Integrationsbereitschaft pauschal absprechen zu dürfen,
({9})
der sei insbesondere an das neunte Gebot erinnert, das da
lautet:
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen
Nächsten.
({10})
Denn es ist doch wahr: Das Zusammenleben in Deutschland gestaltet sich ganz überwiegend friedlich und zivilisiert. Das spricht für die Stärke und Stabilität unserer
Gesellschaftsordnung. Diese Stärke und Stabilität zu
bestreiten, wäre falsch und würde die Wirklichkeit verzerren; es wäre zudem höchst unpatriotisch.
Wahr ist aber auch: Es gibt Defizite. Der Anteil von
Schulabbrechern mit Migrationshintergrund ist zu hoch,
die Beherrschung der deutschen Sprache als entscheidender Schlüssel für gelingende Integration vielfach
nicht ausreichend. Hier wirken sich Versäumnisse der
Vergangenheitsfolgen schwer aus.
CDU und CSU haben lange Zeit verneint, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass viele
der Menschen, die in dieses Land kamen, nicht Gäste
waren, sondern Nachbarn und neue Mitbürger wurden.
Von dieser Realitätsverweigerung war in den 80er-Jahren und in weiten Teilen der 90er-Jahre die Bundespolitik geprägt.
({11})
Eine zeitgemäße Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes
und ein Zuwanderungsgesetz, das unter anderem eine
systematische Sprachförderung vorsieht, konnten im
Interesse unseres Landes erst von einer rot-grünen Bundestagsmehrheit durchgesetzt werden.
({12})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, ist es nicht angebracht, wenn Sie in den Mittelpunkt Ihrer Äußerungen die Klage darüber stellen, dass
diejenigen, denen Sie lange Zeit die Zugehörigkeit zu
unserem Gemeinwesen abgesprochen haben, zu wenig
Zugehörigkeitsgefühle entwickelt hätten und dass diejenigen, denen man die Schlüssel zur Öffnung der Türen
in unsere Gesellschaft lange Zeit vorenthalten hat, im
gemeinsamen deutschen Haus ihre Zimmer zu selten
verlassen. Helfen Sie mit, insbesondere in den von Ihnen
regierten Bundesländern - so, wie wir es auf Bundesebene tun -, Integrationsprozesse zu fördern und zu unterstützen, auch materiell und finanziell.
({13})
Achten wir gemeinsam darauf, soziale Probleme nicht
zu ethnisieren oder zur Angelegenheit einer Religionsgemeinschaft zu erklären. Es sind ja nicht die Kinder von
aus der Türkei kommenden Chirurgen oder - wenn ich
an meinen Vater denke - indischstämmigen Pastoren, die
Schwierigkeiten haben, ihre Teilhabechancen in unserem
Land zu nutzen. Vielmehr reden wir doch von unterprivilegierten, sozial schwachen Menschen, und dabei nicht
nur von Menschen mit Migrationshintergrund, deren Familien seit kurzem oder seit wenigen Generationen in
Deutschland leben. Wir reden auch von Nichtmigrantenfamilien, in denen es Tendenzen zur Verfestigung eines
Status der Benachteiligung gibt.
Wir sind es nicht zuletzt unserer Selbstachtung als
Mitglieder einer offenen, keinem Klassendenken verhafteten Gesellschaft schuldig, gemeinsam dafür Sorge zu
tragen, dass insbesondere mit Blick auf heranwachsende
Generationen das Motto der Jugenddörfer auch unser
Leitsatz wird: Keiner darf verloren gehen!
Einige Bausteine zum Erreichen dieses Ziels sind der
Ausbau der Betreuung von Kindern im Vorschulalter, wo
nötig eine möglichst früh einsetzende Sprachförderung,
mehr Durchlässigkeit im Schulwesen, Religionsunterricht unter staatlicher Aufsicht und eine Ausweitung von
Qualifizierungsmaßnahmen für junge Bürger ohne
Schulabschluss.
({14})
Denn wir stellen fest: Anfällig für extremistische Parolen sind Menschen, die keine Perspektive sehen. Das gilt
für den Rechtsextremismus genauso wie für den Islamismus. Dem entgegenzuwirken, ist unsere gemeinsame
Aufgabe.
({15})
Ein Zusammenleben in Respekt der Menschen untereinander, in Achtung vor der Würde des anderen, ohne
Angst vor Verschiedenheit ist möglich. Dieses Zusammenleben zu gestalten, ist zugleich der Auftrag des
Grundgesetzes, den zu erfüllen wir immer wieder aufs
Neue gefordert sind.
Am Vorabend des 60. Jahrestages des Kriegsendes
können wir selbstbewusst feststellen: Das Maß an Zivilisierung der deutschen Gesellschaft war noch nie so
groß wie heute. Darauf können wir gemeinsam stolz
sein. Wir müssen aber zugleich darauf achten, dies nicht
als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Wir müssen
vielmehr dafür Sorge tragen, dieses kostbare Gut zu
wahren und zu mehren. Dazu gehört, Konflikte, die es in
einem offenen Land immer geben wird, friedlich auszutragen.
Unserer Gesellschaft tut es nicht gut und sie entwickelt sich nicht gut weiter, wenn man sie in Gruppen, in
Teile spaltet. Nicht um Teile, sondern um das Ganze geht
es. Das im Auge zu behalten, rational und mit behutsamer Sprache zu argumentieren statt zu stigmatisieren,
die breite Grundlage unseres Gemeinwesens zu stärken
und in dessen Vielseitigkeit nicht zuerst ein Risiko, sondern zuerst eine Chance zu erblicken, sollte uns leiten.
Auf diesem schwierigen Weg gab und gibt es viele Unwägbarkeiten - das wird auch so bleiben - und dieser
Weg ist bisweilen steinig. Aber es gibt nur diesen Weg;
denn alle anderen würden in eine Sackgasse führen.
Auf ein Deutschland, in dem das Zusammenleben von
Menschen verschiedenster Herkunft, Religionen und
Weltanschauungen auf der Basis der gemeinsamen
Werte unseres Grundgesetzes nicht nur gelingt, sondern
selbstverständlich geworden ist, können wir zu Recht
stolz sein. An der Weiterentwicklung unseres Landes in
diesem Sinne zu arbeiten, ist unser aller Verpflichtung.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die FDP-Fraktion will mit ihrem heutigen Antrag und insbesondere mit dem von meinem Kollegen
Klaus Haupt entwickelten Integrationskonzept einen
Beitrag zur Versachlichung der Integrationsdebatte leisten. Dies scheint mir angesichts des Verlaufs der heutigen Debatte dringend erforderlich.
({0})
Wir haben heute wieder gesehen, dass die Verwendung ideologisch besetzter Begriffe wie „Multikulti“
oder „Leitkultur“
({1})
eher dazu führt, dass die Kontrahenten aneinander vorbeireden. Das führt ebenso wenig weiter, wie es etwas
bringen würde, wenn man sich in der Argumentation
ausschließlich auf Negativbeispiele stützen oder gar die
Augen vor den Problemen verschließen würde.
({2})
Frau Kollegin Köhler, die unerträgliche Passage aus
einer Zeitung, die Sie vorhin zitiert haben, ist ein Fall für
die Staatsanwaltschaft in Berlin.
({3})
Wenn sie davon Kenntnis erlangt, muss sie einschreiten.
Das ist völlig selbstverständlich. Bei uns gilt zwar das
Recht auf Meinungsfreiheit, aber das hat Grenzen. Es ist
wichtig, das festzuhalten, weil wir gleich darauf zurückkommen.
({4})
In der jetzigen Situation brauchen wir pragmatische
Lösungen. Diese pragmatischen Lösungen haben ihre
Basis in den Grundwerten unserer Verfassung. Ich nenne
Ihnen aus dem Konzept der FDP-Fraktion ein Beispiel:
Wir wollen - wie viele andere dies jetzt auch fordern -,
dass für Kinder im Vorschulalter Sprachtests verpflichtend sind, damit man die Kinder gegebenenfalls entsprechend fördern kann, damit in der ersten Grundschulklasse alle so viele Deutschkenntnisse haben, dass ihre
Bildungschancen nicht gemindert sind. Ein zentraler
Grundsatz unseres Grundgesetzes lautet: gleiche Bildungschancen für alle.
Bei dieser Debatte können wir immer wieder auf das
Grundgesetz zurückgreifen. Im Zentrum steht natürlich
die Achtung der Menschenwürde, die in Art. 1 niedergeschrieben ist und vorangeschickt werden muss. Ich darf
aber darauf aufmerksam machen, dass das Grundgesetz
noch drei weitere deutliche Aussagen enthält, die für die
Integrationsdebatte bedeutsam sind, nämlich erstens die
Gewährleistung der persönlichen Freiheit, zweitens die
Grenzen, die die Freiheitsrechte finden, und drittens die
Chance auf gesellschaftliche Teilhabe.
Zum Ersten. Das Grundgesetz sichert jedem Einzelnen seine persönliche Freiheit zu, auch die persönliche
Freiheit, gemäß den eigenen kulturellen Wurzeln zu leben. Kulturelle Vielfalt wird im Grundgesetz somit ausdrücklich anerkannt.
Zum Zweiten. Das Grundgesetz kennt nicht nur
Grundrechte, sondern auch Grundpflichten. Ich nenne
in diesem Zusammenhang ganz bewusst das Beispiel,
dass es nicht nur ein Erziehungsrecht der Eltern gibt,
sondern dass in Art. 6 des Grundgesetzes ausdrücklich
von der elterlichen Pflicht zur Erziehung gesprochen
wird.
({5})
In Art. 2 des Grundgesetzes wird jedem das Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit verbürgt, soweit er
nicht die Rechte anderer verletzt. Das heißt, kulturelle
Eigenheiten und Freiheitsrechte finden ihre Grenzen in
Grundpflichten und in der Wahrung der Rechte anderer.
Deswegen ist es selbstverständlich ein liberales Grundanliegen, wenn wir etwa mit aller Entschiedenheit gegen
Zwangsverheiratungen von Frauen vorgehen.
({6})
Dazu hat die FDP in Baden-Württemberg eine Initiative
gestartet.
Zum Dritten. Die Grundrechte - dieser Punkt ist
wichtig; allerdings gerät er manchmal in Vergessenheit sind auch dadurch gekennzeichnet, dass sie jedem Einzelnen das Recht auf aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an politischen Entscheidungen zubilligen. Deswegen stelle ich die Frage: Warum sollten
Menschen, die bereits länger als fünf Jahre rechtmäßig
in Deutschland leben, über kommunale Angelegenheiten, also über ihren eigenen unmittelbaren Lebensbereich, nicht mitbestimmen dürfen?
({7})
Meine Damen und Herren, auch in der heutigen Debatte dürfen wir nicht so tun, als gäbe es die Bemühungen um Integration erst seit zwei oder drei Wochen.
Selbstverständlich arbeiten viele Menschen seit Jahren
und zum Teil auch mit großem Erfolg daran. Aber wir
hätten mit dem Zuwanderungsgesetz schon vor Jahren
eine neue Qualität der Integrationspolitik schaffen können, wenn wir nicht viel zu viel Zeit durch unnötigen
Streit verloren hätten.
({8})
Das zum Beispiel von der SPD-Fraktion wohlmeinend
ausgerufene „Jahrzehnt der Integration“ ließ bisher auf
sich warten. Das muss jetzt endlich angepackt werden.
({9})
Meine Damen und Herren, wir waren, was den Integrationsteil des Zuwanderungsgesetzes betrifft, nicht
mutig genug. Die nachholende Integration blieb nahezu
ausgespart. Das heißt auf Deutsch: Was macht es für einen Sinn, dass jemandem, der am 2. Januar nächsten
Jahres nach Deutschland einreist, ein Deutschkurs angeboten wird, jemandem, der am heutigen 2. Dezember
einreist, aber nicht, obwohl beide wahrscheinlich ungefähr die gleiche Zeit hier bleiben werden? Ich halte das
für einen schweren Fehler.
Warum gibt es eigentlich keine angemessene Regelung, die vorsieht, dass wir Menschen, die seit vielen
Jahren mit ihren Familien hier leben, deren Kinder hier
geboren sind und die bestens integriert sind, hier behalten und ihnen erlauben können, dauerhaft in Deutschland zu leben? Auch eine solche Regelung zu schaffen,
das ist im Zuwanderungsgesetz nicht gelungen.
({10})
Wahrscheinlich war es falsch, dass wir Juristen am Ende
der Verhandlungen unter uns waren. Integration ist nämlich eine Aufgabe für alle.
Daher greift die FDP-Fraktion den Vorschlag von
Guido Westerwelle auf, der verlangt hat, einen „Runden
Tisch der Religionen“ ins Leben zu rufen. Wir brauchen,
wie ich es vorgeschlagen habe,
Herr Kollege Stadler!
- tatsächlich einen pragmatischen Dialog ohne Berührungsängste mit all denen, die bereit sind, die Wertvorstellungen des Grundgesetzes weiter zu transportieren, sodass sie bei allen Menschen, die in Deutschland
leben, bald Gemeingut sind.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Marieluise Beck.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Stadler, Sie haben mir in vielen Punkten aus dem Herzen gesprochen.
({0})
Wir haben noch einen langen Weg vor uns, was die integrationspolitischen Angebote von uns als aufnehmender
Gesellschaft anbelangt. Wir werden uns sicherlich noch
viele Male damit auseinander setzen, in diesem Haus
und auf der Ebene der Länder und Kommunen, wo ein
wesentlicher Teil der Integrationsarbeit geleistet wird.
Wir sind uns einig, dass jeder Extremismus, der die
Religion über die Gesetze des Staates stellt, mit einem
demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar ist. Deswegen soll und muss der demokratische Staat den Islamismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen.
Dazu gehört das Strafrecht, Frau Köhler, dazu gehört
- wie ich auch gefordert habe - mehr Fremdsprachenkompetenz bei der Polizei und beim Verfassungsschutz,
damit islamistische Quellen ausgemacht werden.
Doch wir alle sagen: Islamismus ist nicht gleichzusetzen mit Islam. Ich füge hinzu: Auch religiöser Konservativismus ist nicht gleichzusetzen mit Islamismus.
({1})
Wir haben die Aufgabe, uns jeder Generalverdächtigung
von Muslimen entgegenzustellen, weil wir nicht ausgrenzen wollen; es würde sich ja eines Tages gegen uns
wenden, wenn wir ausgrenzen würden. Wenn wir wollen, dass sich jemand zu diesem Land und zu seinen
Werten bekennt, dürfen wir ihn nicht von vornherein unter Verdacht stellen.
({2})
Wir brauchen den Dialog mit den Muslimen und wir
müssen ehrlich bezeugen, dass wir gewillt sind, den Islam als Religion gleich zu behandeln. Aus Dialog, Anerkennung und Repression besteht der Dreischritt, mit dem
wir den politischen Islamismus austrocknen können.
In den letzten vierzig Jahren sind Anhänger einer uns
weitgehend fremden Religionsgemeinschaft zugewandert. Lange war diese Religion in unserem Lande nicht
sichtbar und wir haben als aufnehmende Gesellschaft
viel zu lange nicht gehandelt. Noch immer ist der
deutschsprachige islamische Religionsunterricht in unseren Schulen über Modellprojekte nicht hinausgekommen. Noch immer steckt die Ausbildung von Imamen an
deutschen Universitäten in den Kinderschuhen und es
fehlt an einem kontinuierlichen Dialog mit den MusliParl. Staatssekretärin Marieluise Beck
men. Dieser ist nicht leicht - ich weiß, wovon ich spreche -, weil die Organisationen oft undurchsichtig sind
und man sich durchaus auf einem schwierigen Terrain
befindet, wenn man mit den Verbänden zusammentrifft.
Es gibt immer noch kaum kluge Ansätze, wie auch die
Muslime zu einer institutionellen Organisationsform
kommen können, in der der Staat ein verlässliches Gegenüber hat. Der Kollege Koschyk ist jetzt nicht da, daher bitte ich, es ihm auszurichten: Das ist das, was unter
Staatskirchenrecht zu verstehen ist.
({3})
Spannend ist, was der neu gewählte Vorsitzende der
bürgerlich-konservativen französischen Regierungspartei, Nicolas Sarkozy, seinen Franzosen ins Stammbuch
schreibt:
Die Integration setzt weiterhin voraus, daß die Republik Platz macht. Viele unserer muslimischen
Mitbürger haben das nicht unbegründete Gefühl,
daß es ihnen schwerer gemacht wird als anderen
Franzosen, einen Platz zu finden.
Diese Beschreibung, meine Damen und Herren, trifft leider auch auf Deutschland zu.
Pluralität ist Kennzeichen von Einwanderungsgesellschaften, von modernen Gesellschaften überhaupt.
Gerade deshalb müssen auch wir fragen, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Im Kern geht es um die Frage
des Zusammenlebens in unserem demokratischen
Rechtsstaat; auf der Grundlage unserer Verfassungswerte.
Ich habe vorgeschlagen, dass wir die Einwanderer
zum Patriotismus einladen. Die Einladung bedeutet, dass
unsere Verfassung auch ihre Verfassung ist. Wer nicht
eingeladen wird, der gesellt sich auch nicht dazu.
({4})
Wer nicht anerkannt wird, der identifiziert sich auch
nicht. Es darf nicht um Ausgrenzung gehen, sondern es
muss immer um Einbeziehung gehen.
({5})
Wir sollten unsere Kraft darein legen, dass die Dazugekommenen sich wirklich zugehörig fühlen können, ohne
dass sie der Herkunft ihrer Eltern, ihrer Religion oder ihrer Kultur abschwören müssten. Das schafft Identifikation und öffnet die Türen für Integration.
Unsere Verfassung fordert Freiheit der Meinungen
und Religionen, nicht ihre Übereinstimmung. Unsere
Verfassung lässt kulturelle Differenz zu, ja sie begreift
sie als Recht: Es gibt ein Recht auf Differenz, es gibt ein
Recht auf Anderssein. Es geht darum, abweichende Lebensweisen - auf der Basis gemeinsamer Grundwerte anzuerkennen.
Weil der Begriff „Leitkultur“ so unscharf ist, hat der
Kollege Schäuble nicht umsonst gesagt, er schlage vor,
ihn besser nicht weiter zu verwenden.
({6})
Toleranz heißt deshalb auch: Zumutungen aushalten.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. - Für die einen ist das Kopftuch eine Zumutung,
für die anderen eine künstlerische Persiflage auf den Koran oder die Bibel.
Es gibt nicht die Muslime, die Türken und auch nicht
die Deutschen.
({0})
Das sollte unsere Grundhaltung sein.
Frau Präsidentin, zum Schluss möchte ich die Kolleginnen und Kollegen gerne noch dazu auffordern, ins
Kino zu gehen. Gönnen Sie sich den Film „Rhythm is
it!“ In ihm können Sie sehen, wie die bewundernswerten
Künstler Sir Simon Rattle und Royston Maldoom junge
Menschen - unter ihnen sind viele Migranten - zu einer
atemberaubenden künstlerischen Hochleistung bringen.
Sie verlangen diesen Menschen viel ab.
Frau Kollegin, bitte. Ich glaube, Ihr Tipp ist angekommen.
Sie fordern Anstrengung und Disziplin und glauben
an ihre Fähigkeiten. Dies könnte auch unser integrationspolitisches Motto sein.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Grindel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Bundespräsident Horst Köhler hat sich gestern in
Tübingen erstmals zur Integrationsdebatte geäußert. Er
sagte:
Keine Gruppe darf aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, keiner aber darf sich auch selber
ausschließen.
Toleranz sei deshalb nicht mit Gleichgültigkeit und
Ignoranz zu verwechseln.
Es ist sicher richtig und muss festgehalten werden:
Die Mehrheit der Muslime bei uns ist integrationsbereit
und achtet unsere Gesetze und Verfassungsprinzipien. Es
wächst aber die Zahl derjenigen, die auf Abschottung
setzen, die über Moscheevereine fundamentalistisches
Gedankengut verbreiten, die Eltern zwingen, ihre Kinder
in die Koranschule zu schicken, sodass sie nicht mit ihren deutschen Mitschülern spielen können, und die Integration verhindern wollen. Zentrale Aufgabe der Politik
muss es daher sein, die integrationswilligen und weltoffenen ausländischen Mitbürger zu unterstützen und sie in
ihrem Wunsch zu stärken, in Deutschland selbstbestimmt zu leben. Das ist unsere Aufgabe. Daran müssen
wir härter als bisher arbeiten.
({0})
Die Vorsitzenden der Grünen haben in diesen Tagen
dagegen einen Aufsatz im „Tagesspiegel“ unter dem
Motto „Multikulti ist Freiheit“ veröffentlicht.
({1})
Frau Roth, das ist abwegig. Multikulti toleriert islamisierte Räume in unseren Städten und Verhaltensweisen
von Ausländern, die zu Unfreiheit führen. Keine Toleranz gegenüber Intoleranten - das schafft Freiheit und
Rahmenbedingungen, die wir für die Integration brauchen. So muss es sein. Frau Roth, das, was Sie multikultimäßig als Freiheit definiert haben, brauchen wir nicht.
Die türkischstämmige Schauspielern Sibel Kekilli hat
in dieser Woche dem „Focus“ ein eindrucksvolles Interview gegeben, in dem sie die Unterdrückung muslimischer Frauen und Mädchen anprangert. Sie sagt:
Aber ich finde, von deutscher Seite darf auch nicht
weggeguckt werden. Es fängt im Kleinen an: Deutsche Gerichte fällten Urteile, dass muslimische
Mädchen wegen der Religion ihrer Eltern nicht zum
Sport und auf Klassenfahrten durften. Was ist denn
das für eine Toleranz, die auf Kosten der Mädchen
geht?
({2})
Ich frage vor allem die Grünen: Was ist eigentlich aus
Ihrem Anspruch auf Emanzipation geworden?
({3})
Frau Roth, Sie lassen die Mädchen, von denen Sibel
Kekilli zu Recht spricht, im Stich und machen die Unterdrückung noch schlimmer, indem Sie solche Mädchen
am liebsten auch noch in den Schulen mit Kopftuch tragenden Lehrerinnen konfrontieren wollen. Das ist ein
völlig falscher Weg, mit dem Sie gerade diesen Mädchen
nicht gerecht werden.
({4})
Wir wollen Selbstbestimmung und Integration. Wir
wollen kein Klima des Nebeneinanders, aus dem schnell
ein Gegeneinander wird, wir wollen ein Klima des Miteinanders. Mich bedrückt es, dass immer erst etwas
Schlimmes wie der Anschlag auf Theo van Gogh geschehen muss, bevor wir über die wirklichen Probleme
beim Zusammenleben von Ausländern und Deutschen
sprechen.
({5})
Jetzt sagen alle, Deutsch sei der Schlüssel zur Integration. Das haben wir als Union immer gesagt. SPD und
Grüne schreiben in ihrem Antrag zum Thema Integrationskurse:
Nach dem Grundsatz des „Förderns und Forderns“
werden Rechte und Pflichten klar formuliert.
Schön wär’s, kann ich dazu nur sagen. Wir haben bei
den Zuwanderungsverhandlungen eindringlich und
nachdrücklich an Sie appelliert, Integrationskurse verpflichtend zu machen. Wir wollten, dass künftig niemand eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bekommt, der nicht erfolgreich einen Integrationskurs
besucht hat. Damit wollten wir erreichen, dass auch diejenigen, die in einer Parallelgesellschaft leben, den
Zwang spüren, einen Integrationskurs zu besuchen, sodass wir über diesen Weg an die Menschen herankommen, um ihnen auch Beratungsangebote zu machen.
Das wäre ein überzeugendes Integrationskonzept.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Sonntag-Wolgast?
Ich möchte erst diesen Gedanken zu Ende führen. Sie haben den Ansatz, Integrationskurse verpflichtend
zu machen, aus ideologischen Gründen verhindert. In Ihrem Antrag schreiben Sie:
Mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes
sind die vielfältigen integrationspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit aber nicht vollständig
ausgeräumt.
Dazu kann ich nur sagen: Fassen Sie sich an Ihre eigene
Nase. An CDU und CSU liegt es wirklich nicht.
({0})
Herr Kollege Grindel, nun sind Sie zwar erst seit dieser Legislaturperiode Mitglied des Deutschen Bundestages. Aber es sollte doch auch vorher Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, wo die Hauptversäumnisse
der Integrationspolitik der letzten drei bis vier Jahrzehnte lagen und dass es die rot-grüne Koalition war, die
zum Beispiel mit der Staatsbürgerschaftsreform Anforderungen an die Sprachkenntnisse und die VerfassungsDr. Cornelie Sonntag-Wolgast
treue der Eingewanderten stellte. Im Zuwanderungsgesetz, das weite Teile Ihrer Partei nach Kräften bekämpft
haben, wird endlich auch das Kernstück der Integration,
Sprachkurse nach dem Grundsatz des Förderns und Forderns, konsequent als Ziel verfolgt. Das kann doch Ihrer
Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, sodass Sie hier zu
behaupten wagen, es gebe tief greifende Versäumnisse.
({0})
Erste Antwort: Ich kann nicht erkennen, dass die
wachsende Zahl von Einbürgerungen die Integration
tatsächlich gefördert hätte. Genau das Gegenteil ist der
Fall.
({0})
Mit der Optionsregelung, die Sie bei der Staatsbürgerschaft eingeführt haben, mit der ausländische Kinder
Deutsche werden können, ohne Deutsch sprechen zu
können und ohne einen Bezug zu unserem Land zu haben, sorgen Sie dafür, dass Integration eben nicht erreicht wird, Frau Dr. Sonntag-Wolgast.
({1})
Zweite Antwort: Die PISA-Studie beweist - das ist
ein Beispiel für Integration -, dass ausländische Kinder
in Bayern einen größeren Schulerfolg haben als deutsche
Kinder in Bremen. Das sollte Ihnen zu denken geben.
({2})
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel: Länder und
Kommunen warten seit Monaten auf die Verordnung zu
den Integrationskursen. Die Grünen haben diese lange
verhindert. Sie haben versucht - der Bundesinnenminister weiß das -, die Anforderungen an das Sprachniveau
zu senken. Darüber hinaus haben Sie Ausnahmetatbestände durchgedrückt, bei denen Ausländer die Kurse
doch nicht besuchen müssen. Erst gestern ist die Verordnung nun endlich beschlossen worden. Eine gute Vorbereitung für die Integrationskurse, die wir wohl alle als
wichtig erachten, ist dadurch um Monate verzögert worden. Bei der ersten Nagelprobe, bei der Sie zeigen konnten, wie ernst Sie es mit der Integration nehmen, war Ihnen Ideologie wichtiger, als ein ordentliches Konzept
vorzubereiten, mit dem vor Ort tatsächlich Probleme gelöst werden können, statt Ideologien zu frönen.
({3})
Der SPD-Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz
Buschkowsky, hat in diesen Tagen immer wieder erklärt,
es gebe bei der Integration Rückschritte und in den Parallelgesellschaften seines Bezirks hätten junge Muslime
wenig Zukunftsperspektiven. Die Zahl junger Menschen, die dort ohne Abschluss die Schule verlassen,
wachse ständig an. - Ich will darauf verweisen, dass es
an deutschen Hochschulen rund 30 000 muslimische
Studentinnen gibt, die sehr erfolgreich sind. Aber kaum
eine von ihnen trägt ein Kopftuch. Ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen guter
beruflicher Perspektive und der Frage gibt, ob Eltern ihren Kindern die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben
in Deutschland geben, bei dem die Kinder selbst entscheiden dürfen, welchen Weg sie gehen wollen.
Viele Moscheen - das hat unsere öffentliche Anhörung zu islamistischen Einflüssen auf Staat und Gesellschaft gezeigt - sind mittlerweile weniger Gotteshäuser
als vielmehr umfassende Kulturzentren, in denen Bildung, politische Informationen und Freizeitgestaltung
stattfinden und in denen Kinder ihr Wochenende verbringen müssen. Deshalb darf uns nicht gleichgültig
sein, was dort vermittelt wird. Deshalb ist die Forderung
richtig, dass Imame Deutsch können und unser kulturelles Leben kennen müssen.
({4})
Wir haben - einige Vertreter Ihrer Fraktion wie Frau
Akgün waren dabei - mit einer Gruppe des Innenausschusses bereits bei einem Besuch im Juni in Ankara den
Leiter des türkischen Amtes für Religionsfragen darum
gebeten, dass Imame Deutschkurse besuchen, bevor sie
zu uns kommen und auch länger bei uns bleiben dürfen.
Er hat dem zwar sehr zugestimmt und gesagt, es solle
sich etwas ändern; aber geschehen - Frau Kollegin Roth,
Sie wissen das - ist bis heute nichts. Ich fordere von dieser Stelle gerade die türkische Regierung auf, uns bei unseren Integrationsbemühungen wirklich zu unterstützen
und den Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen.
({5})
Wahr ist leider auch: Moscheen werden immer mehr
zum Treffpunkt für radikale und gewaltbereite Islamisten und zu Orten von Indoktrination und Volksverhetzung. SPD und Grüne schreiben stolz in ihrem Antrag:
Das neue Zuwanderungsgesetz ermöglicht die Ausweisung von gefährlichen ... Hetzern, die die Freiheitsrechte unserer verfassungsrechtlichen Grundordnung missbrauchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von
den Grünen, fair wäre es gewesen, wenn Sie in Ihrem
Antrag hinzugefügt hätten: Und wir danken CDU und
CSU dafür, dass sie so nachdrücklich dafür gesorgt haben, dass im Zuwanderungsgesetz etwas für mehr Sicherheit getan wird. - Wenn es nach Ihnen gegangen
wäre, könnten wir Hassprediger und Terrorverdächtige
in Zukunft nicht ausweisen.
({6})
Es waren wir - die CDU/CSU -, die - auch über unsere
Kollegen in den Bundesländern - diese Bestimmung in
das Zuwanderungsgesetz hineingebracht haben.
({7})
Das gilt es festzuhalten.
({8})
Ich komme zum Schluss.
({9})
Multikulti ist in Wahrheit Kuddelmuddel. Es ist eine Lebenslüge, weil Multikulti in vielen Vierteln eben nur
Monokultur geschaffen hat, wo Anreize zur Integration
fehlen. Sibel Kekilli meint dazu in ihrem „Focus“-Interview, das ich bereits erwähnt habe:
Die Politiker müssen unbedingt klar machen, dass
ein Nebeneinander nicht geht.
Dem kann man nur zustimmen. CDU und CSU haben
immer gesagt: Wir brauchen mehr Integration
({10})
und wir brauchen mehr politische Unterstützung für Integrationswillige. Sonst fährt die Ausländerpolitik in
Deutschland gegen die Wand.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich war neun Jahre alt, als ich 1962 nach
Deutschland kam. Konrad Adenauer war Bundeskanzler
und Conny Froboess sang das Lied „Zwei kleine Italiener“, die erste poetische Beschreibung des Gastarbeiterdaseins in Deutschland. Damals gab es in Deutschland
670 000 Ausländer. Sie galten als interessant und exotisch, aber keinesfalls als belastend oder gar gefährlich.
Sie lebten in Arbeiterheimen und hatten keinerlei Kontakt zur deutschen Gesellschaft, aber merkwürdigerweise sprach niemand von „Parallelgesellschaften“. Das
Wort Integration kannten nur Soziologen.
Ganz anders stellt sich die Situation heute dar. Die
Debatte, die wir heute zu den Themen Integration, Islamismus und Extremismus erleben, droht sich hochzuschaukeln und das politische Klima in Deutschland zu
vergiften, vor allem dann, wenn man sich in der Argumentation nicht auf sachliche Inhalte konzentriert, sondern Vorurteile durch ständiges Wiederholen zu zementieren versucht.
({0})
In dieser Situation bedauere ich es zutiefst, dass es einige Politiker aus den Reihen der CDU/CSU gibt, die die
Debatte auf eine theoretische Ebene heben, die Stimmung anheizen, Angst vor Überfremdung schüren und
sich dabei unkritisch altbekannter unsinniger Argumente
aus der rechten politischen Ecke bedienen.
({1})
Wenn ich mir anschaue, dass Sie nun zum dritten Mal
die Leitkulturdebatte anheizen, dann muss ich mich
nicht mehr fragen, welche Wirkung Sie damit beabsichtigen. Das macht mir Sorgen, Kolleginnen und Kollegen
der Union.
Sie, Frau Köhler, haben eben mit Leidenschaft vorgetragen, dass Sie für die Bekämpfung des Islamismus sind
und dass Sie in keiner Weise mit Islamisten oder mit
Fundamentalisten reden würden. Frau Köhler, ich
möchte Sie darauf hinweisen, dass der bayerische Innenminister, Herr Beckstein, am 29. September bei einer
Caritas-Veranstaltung hier in Berlin mit mir auf dem Podium sehr offen dargestellt hat, dass er in den letzten drei
Monaten mindestens vier Mal bei Milli Görüs war und
dort gerne war.
({2})
Nun frage ich mich, ob Sie in Ihrer Partei verschiedene
Linien verfolgen, und ich frage mich, ob Sie uns hier etwas anderes erzählen, als die CSU hintenherum macht.
({3})
Deutschland ist ein demokratischer und weltoffener
Staat. Gerade deshalb werden wir es nicht tolerieren,
dass Extremisten die demokratischen Freiheiten missbrauchen und Andersgläubige und Andersdenkende verunglimpfen oder gar bedrohen. Ich denke, darin sind wir
uns in diesem Hause über alle Fraktionsgrenzen hinweg
im Grundsatz einig.
Ich fordere ebenso energisch dazu auf, in der Debatte
die Trennlinie zwischen dem Islam als Religion und dem
Islamismus - also der politischen Instrumentalisierung
der Religion - nicht zu verwischen. Wir dürfen nicht
pauschal eine der großen Weltreligionen für die Verbrechen einiger Terroristen verantwortlich machen. Diese
Klischees schüren Rassismus und Islamophobie
({4})
und liefern den Neonazis die Steilvorlage für die menschenverachtende Hetze gegen die Einwanderer und den
Islam. Ich will an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass
in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland über
100 Menschen Opfer rassistischer Gewalt geworden
sind.
Die große Mehrheit der Muslime in Deutschland bekennt sich ohne Wenn und Aber zu den Werten der Verfassung, nicht nur verbal, sondern aus innerster Überzeugung und in dem Bewusstsein, dass Extremismus und
Islamismus alle Menschen bedrohen, besonders auch die
Muslime, die demokratisch denken und jede Form von
Extremismus ablehnen.
Demokratischen Muslimen fällt übrigens nichts leichter, als einen Eid auf das Grundgesetz abzulegen, wenn
dies als Teil der Einbürgerungszeremonie eingeführt
werden sollte. Dann sollte dies aber nicht nur für die
Muslime, sondern für alle Einzubürgernden gelten. Ich
betone das bewusst, weil ich aus eigener Erfahrung spreche. Sie kennen meine Position hinsichtlich der Integration und des Rechts auf gleichberechtigte Religionsausübung für Muslime, die ich auch im Zuge der Diskussion
über das Kopftuchtragen von Lehrerinnen immer wieder
vorgetragen habe.
Das alles hat mir viel Kritik und hässliche Drohungen
von Rechtsextremen und Islamisten gleichermaßen beschert. Das alles ist zu ertragen, weil ich weiß, wie viel
Zuspruch ich andererseits aus der Mitte unserer Gesellschaft von Deutschen und Migranten, von Muslimen wie
Christen bekomme.
Aber es gibt einen Punkt, bei dem auch bei mir das
Fass innerlich überläuft, und zwar immer dann, wenn ich
als Muslimin generell stigmatisiert werde, wenn ich von
Journalisten gefragt werde, ob ich um 22 Uhr abends
noch ein Interview geben darf, ob mein Mann mir das erlaubt und ob auch ich zwangsverheiratet sei. Ich merke
deutlich, dass in der öffentlichen Diskussion etwas aus
dem Ruder gelaufen ist.
({5})
Jede Zwangsehe ist eine zu viel. Aber sie ist im normalen Alltag doch nicht der Regelfall. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich zurzeit viel zu sehr mit Sensationen
und viel zu wenig mit der Realität der Zugewanderten.
Alle reden von Integration. Aber wie definiert man
sie? In soziologischer Hinsicht besteht die Minimalanforderung an die Integration darin, Steuern zu zahlen
und seine Kinder in die Schule zu schicken. Integration
kann aber auch heißen, gesellschaftliche und politische
Verantwortung zu übernehmen. Dazwischen gibt es unzählige Schattierungen und Möglichkeiten.
Wir sollten uns davor hüten, die Definitionsmacht
über Integration und Desintegration zu beanspruchen
und Menschen zu Objekten unserer Integrationsvorstellungen machen zu wollen. Machen wir uns eines klar:
Die Politik kann niemanden integrieren. Wir können
aber die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Zugewanderten die Chance bekommen und den Wunsch verspüren, in dieser Gesellschaft anzukommen.
Wenn Herr Schönbohm meint, dass er Zwangsmittel
zur Integration nicht ausschließen will, dann kann ich
ihn nur bedauern, weil er den Sinn und das Ziel von Integration nicht verstanden hat. Aber ebenso bedaure ich
diejenigen, die er zwangsintegrieren möchte.
Wir von der Koalitionsfraktion haben einen Antrag
vorgelegt, der den Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeit
in diesem Land und auf das Zusammenleben auf der
Grundlage gemeinsamer Werte legt. Es geht um Versöhnen statt Spalten, um es mit den Worten von Johannes
Rau auszudrücken, und zwar nicht durch Wegsehen und
beliebiges Nebeneinander, sondern durch ein bewusstes,
aktives Miteinander. Dem entspricht unser Verständnis
von Integration. Wir wollen allen Menschen - auch den
Zugewanderten - die gleichberechtigte Teilhabe am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen. Verschiedenheit ist für uns kein Ausschlusskriterium, sondern ein Anlass, die individuellen Potenziale
der Menschen zu fordern und zu fördern.
Lassen Sie uns nach vorne schauen und das tun, was
im Bereich der Integration über das Zuwanderungsgesetz hinaus getan werden muss. Im Bereich der Erstintegration durch die Sprache ist der Bund bei der Schaffung
dieser Voraussetzungen einen großen Schritt vorausgegangen, indem er die Kosten für die Kurse übernommen
hat. Nun müssen wir aber auch die Bundesländer in die
Pflicht nehmen und sicherstellen, dass sie ihre Zusagen
betreffend die Finanzierung der kursbegleitenden Kindererziehung und Nachholintegration einhalten.
({6})
Daher der Appell an die Unionsfraktion: Nutzen Sie
Ihren Einfluss auf die unionsregierten Bundesländer und
sorgen Sie dafür, dass sie die Integrationsmittel nicht
kürzen, sondern ihrer Verantwortung gerecht werden!
Stimmen Sie im Bundestag für unsere sinnvollen Vorschläge, zum Beispiel die Abschaffung der Eigenheimzulage und die Verwendung der dadurch frei werdenden
Mittel für die Bildung. Auch das ist ein Schritt hin zu
mehr Integration.
({7})
Übrigens sagen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, viele richtige Dinge, was die
Integration betrifft: Die zugewanderten Menschen müssen richtig Deutsch sprechen. Sie müssen sich um Bildung und berufliche Qualifizierung bemühen. Sie müssen Kontakte knüpfen. Trotzdem gehen Ihre Appelle
nicht in die Herzen der zugewanderten Menschen, weil
Sie sie nicht als Teil der deutschen Gesellschaft begreifen. Das spüren die Zugewanderten. Das Wirgefühl, das
eine Gesellschaft ausmacht und das die Grundlage eines
gesunden Patriotismus werden könnte, bleibt aus.
Apropos Patriotismusdebatte: Sie sollte nicht geführt
werden, um einen Teil der Bevölkerung auszuschließen,
sondern um alle einzuschließen. Dieses Land ist auf der
Suche nach dem Wirgefühl. Ob Ost und West oder Einheimische und Zugewanderte - die trennenden Schneisen gehen durch die Bevölkerung. Wenn jedoch jemand
glaubt, dass ein Wirgefühl auf Kosten der Zugewanderten erzeugt werden kann, und zudem Angstgefühle in
der Bevölkerung hervorruft und diese instrumentalisiert,
schadet er diesem Land. Das ist das pure Gegenteil von
Patriotismus.
({8})
Angesichts der demographischen Entwicklung in
unserem Land haben wir nur dann eine Chance,
Deutschland auf Weltniveau zu halten, wenn wir ein
Wirgefühl entwickeln. Wir können es uns nicht leisten,
einen erheblichen Teil unseres Nachwuchses als Ausländer auszuschließen. In meiner Heimatstadt Köln beispielsweise beträgt der Ausländeranteil 30 Prozent.
Frau Kollegin Akgün, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Ich appelliere an alle in diesem Haus: Werden
wir ruhig ein wenig patriotisch! Reden wir von den letzten 50 Jahren bundesdeutscher Geschichte! Es ist die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Zugewanderten, auf die wir alle ein wenig stolz sein dürfen.
Einheimische und Zugewanderte müssen endlich begreifen, dass dieses Land ihr gemeinsames Land ist und dass
sie gemeinsam Verantwortung für dieses Land und seine
Menschen tragen. Das ist Patriotismus, wie ich ihn verstehe. Unter diesen Voraussetzungen bin ich eine überzeugte Patriotin.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Politischen Islamismus bekämpfen - Verfassungstreue
Muslime unterstützen“ - so lautet der Titel des CDU/
CSU-Antrags. So weit, so gut, und zwar auch deshalb,
weil „-ismen“ immer ideologische Dogmen und damit
Gefahren für die Gesellschaft und ihre Mitglieder bergen. Das Dumme am Antrag der CDU/CSU ist: Er wirbt
in warmer Prosa und zielt auf eiskalte Fakten.
({0})
So wird betont: „Der Islam ist eine große Weltreligion.“
Dann wird ein spezifischer EU-Islam erfunden. Was
würde wohl der Papst von einem weiß-blauen Bayernkatholizismus halten?
({1})
Wie könnte ein EU-Islam aussehen: mit dem Katholiken
Stoiber und dem Evangelen Beckstein als Propheten?
Oder wie stellen Sie sich das vor?
({2})
Gefährlicher ist aber die wieder belebte Forderung
nach einer deutschen Leitkultur. Was ist das: die Weißwurst, die Bulette oder der Döner, die Französische Revolution, der Tag der Befreiung oder Bayern München?
Immer wenn die Debatte über Ihre angeblich notwendige
Leitkultur sachlicher wird, bleiben von Ihren Forderungen nur zwei richtige und wichtige übrig: Wer hier lebt,
sollte Deutsch sprechen und verstehen können sowie das
Grundgesetz achten. Dazu lädt der Antrag der CDU/
CSU aber nicht ein. Die Union macht keine Angebote,
sondern droht mit Aussperrung.
Nun wissen wir wohl: Manche Antragsteller denken
noch mehr in die vermeintliche deutsche Leitkultur hinein. Sie geraten damit in eine böse Falle; denn wer
Menschen mit einer anderen Kultur gering schätzt, der
missachtet ihre Würde, der bricht mit Art. 1 des Grundgesetzes.
({3})
Wer das tut, der signalisiert, die deutsche Kultur - was
immer das ist - sei höherwertig. Wohin das führen kann,
sollten alle bedenken, und zwar vorher. Die ganze Leitkulturdebatte ist falsch. Sie ist gefährlich. Aus meiner
Sicht erweist sie der Integration einen Bärendienst.
({4})
Hinzu kommt im vorliegenden CDU/CSU-Antrag das
übliche Spiel: Sie wollen Bürgerrechte abbauen und den
Datenschutz schänden. Sie wollen noch mehr persönliche Daten sammeln, speichern und austauschen. Auch
das steckt in Ihrem Antrag. Das ist - leider - Trend, bedauerlicherweise zunehmend auch bei der SPD und bei
einigen Grünen. Die PDS lehnt das ab.
({5})
Dann gibt es in der ganzen Debatte noch richtige
Treppenwitze. Wer nach Deutschland kommt, solle einen Eid auf das Grundgesetz leisten, meinte Edmund
Stoiber gestern wieder. Ausgerechnet der Ministerpräsident Bayerns, dessen Landtag im Mai 1949 das Grundgesetz mit Mehrheit abgelehnt hat, schlägt jetzt vor, es
solle ein Eid geleistet werden.
({6})
Ich finde, die historische Schmach dieser Abstimmung ist tilgbar, indem alle Bürgerinnen und Bürger
Bayerns, Herr Kollege Geis, einen Eid aufs Grundgesetz
leisten.
({7})
Bitte keine Extrawurst für Nichtdeutsche, gleiches Recht
für alle, auch für Deutsche, auch für Bayern!
({8})
Da wir schon bei diesem Thema sind: Man kann das
Grundgesetz nicht hochhalten, wenn man es zugleich
aushöhlt. Das ist aber seit 1990 Usus, in der Ära Kohl
ebenso wie unter der Regierung Schröder. Wie wir prakPetra Pau
tisch erfahren haben, wog ein persönliches Versprechen
für Kanzler Kohl in der CDU-Spendenaffäre mehr als
sein Amtseid auf das Grundgesetz.
Man schafft keine bürgernahe Verfassung, indem man
die Bürgerinnen und Bürger von Verfassungsentscheiden
ausschließt. Die Forderung nach Volksabstimmungen,
zum Beispiel zur EU-Verfassung, bleibt aktuell.
({9})
In nahezu allen EU-Ländern gehört das zur demokratischen Kultur. Nur die „besonders leitenden“ Deutschen,
übrigens nicht nur bei der CDU/CSU, wollen davon
noch immer nichts wissen.
Ein Schlussgedanke. Bis in die SPD hinein wurde dieser Tage verkündet, die multikulturelle Gesellschaft sei
gescheitert und sie sei eine gefährliche Illusion. Ich finde
das genauso langweilig wie die Diskussion darüber, ob
Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht. Wir
sind beides: multikulturell und ein Einwanderungsland.
Die eigentliche Frage ist, wie wir damit positiv umgehen. Darauf gibt der CDU/CSU-Antrag keine Antworten. Das finde ich schade; aber das war wohl Ihre Absicht.
({10})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
beim Bundesminister des Innern, Ute Vogt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir haben in Deutschland ab und zu Anlass, einmal zu
schauen, was wir zu leisten in der Lage sind oder schon
einmal gewesen sind. Ich will deshalb einen Blick in die
Geschichte werfen, in das Jahr 1699. Damals hat der
württembergische Herzog Eberhard Ludwig 3 000 Glaubensflüchtlinge, Waldenser genannt, aufgenommen. Sie
waren aus ihrer ehemaligen Heimat vertrieben worden.
Eberhard Ludwig wollte damit die Landwirtschaft voranbringen; er wollte in seinem Herzogtum Bauern ansiedeln. Er hat angeordnet, dass jede Familie etwa acht
Personen in den Scheunen der entsprechenden Gehöfte
aufzunehmen hat.
Die Anwohner haben sich beklagt und sie haben dagegen protestiert. Als Folge dessen hat der Herzog verfügt, dass die Waldenser selbst preiswert und kostengünstig Ackerland erwerben dürfen. Sie haben eigene
Schulen aufgemacht. Sie haben französisch gesprochen.
Sie waren alles andere als verbunden mit der Gesellschaft.
Auch in meinem Wahlkreis leben Waldenser.
({0})
An den Ortsnamen Perouse, Serres, Großvillars und
Kleinvillars erkennt man, dass Waldenser einmal dorthin
gezogen sind. Die einzelnen Familien sind heute ganz
genauso deutsch wie alle anderen auch. Ausgrenzung ist
in ihrem Leben überhaupt nicht mehr spürbar, und das,
obwohl sie eine unterschiedliche kulturelle Prägung und
eine unterschiedliche Religion haben, die sie - auch
heute noch - leben.
Ich habe das deshalb gesagt, weil das ein Beispiel dafür ist, wie Integration positiv funktioniert hat - in einer
Zeit, in der diese Zuwanderer für die damalige Landbevölkerung mit Sicherheit genauso fremd waren, wie
heute dem einen oder anderen in Deutschland die Zuwanderer aus einem anderen Kulturkreis fremd sind. Wir
sollten uns darauf besinnen, dass wir durchaus in der
Lage sind, eine solche Integration zu meistern; zu vielen
Zeiten unserer Geschichte waren wir dazu in der Lage.
Wir sollten ehrlich miteinander umgehen, von gegenseitigen Schuldzuweisungen wegkommen und einmal
feststellen: Wir alle miteinander haben in vielen Jahrzehnten bei der Integration die Anforderungen an uns
unterschätzt.
({1})
Zu jeder Zeit - das ist schon richtig; das hat der Kollege Stadler angesprochen - haben sich viele um das
Thema Integration gekümmert. Zu nennen sind Initiativen, Wohlfahrtsverbände, Vereine und Kommunen.
Auch Länder haben Projekte durchgeführt. Der Bund hat
hier und da einmal etwas gefördert. Dass wir insgesamt
in der Gesellschaft tatsächlich erkannt haben, dass es
eine Aufgabe ist, die wir als gemeinsames Projekt, vor
allem als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und auch
als Verpflichtung der politischen Landschaft annehmen
müssen, war später. Die Verantwortung und die Verpflichtung daraus haben wir erst jetzt mit dem Zuwanderungsgesetz gemeinsam übernommen.
({2})
Wir haben überwunden, denke ich, was uns in der Debatte lange getrennt hat, nämlich dass sich die einen immer nur auf die Bedrohungen und auf die Schilderung
dessen konzentriert haben, was uns geschehen kann,
wenn Menschen aus anderen Ländern kommen, und dass
sich die anderen darauf konzentriert haben, darzustellen,
was die Chancen und die Bereicherungen sind. Dabei hat
man nur reflexartig aufeinander reagiert. Wir sollten
nicht gering schätzen, was wir mit dem Zuwanderungsgesetz geschafft haben. Wir sind an einen Punkt gelangt,
wo wir erkannt haben, dass beides notwendig ist: zum
einen deutlich zu machen, dass Integration bedeutet,
dass es die Verpflichtung derer gibt, die in ein Land zuwandern, sich dieser Integrationsanforderung zu stellen,
und zum anderen die Verpflichtung zu übernehmen, Integrationsangebote zu machen. Da sind wir tatsächlich
viel weiter, als wir in der öffentlichen Debatte und im öffentlichen Streit manchmal zu erkennen geben.
({3})
John Locke hat einmal formuliert: Die Sprache ist der
große Kanal, durch den die Menschen einander ihre Entdeckungen, Folgerungen und Erkenntnisse vermitteln. Ich glaube, dass das eine Schlüsselbeschreibung auch für
das ist, was wir unter Integration verstehen sollten. Wir
müssen uns miteinander auf die gemeinsamen Rechtsgrundlagen verständigen bzw. müssen anerkennen, dass
wir auf der Grundlage der hier geltenden Gesetze friedlich zusammenleben. Wir sollten gleichzeitig aber auch
aufgeschlossen und offen bleiben dafür, voneinander Erkenntnisse über das Leben zu gewinnen, ohne daraus
eine Ausschließlichkeit zu formulieren.
Es wurde schon angesprochen: Wir haben im Kabinett gestern die Verordnung zu den Integrationskursen
beschlossen.
({4})
- Es hätte auch früher sein können; damit hätte ich kein
Problem gehabt. - 208 Millionen Euro stehen jetzt für
Integrationskurse zur Verfügung. Es steht nicht nur Geld
für diejenigen zur Verfügung, die neu zuwandern. Es ist
gelungen, zumindest einen Teil der Mittel für diejenigen
zur Verfügung zu stellen, die bereits in Deutschland leben, aber trotzdem noch Bedarf haben, die deutsche
Sprache zu lernen.
Deshalb glaube ich schon, dass wir eine wichtige Vorleistung vonseiten des Bundes erbringen; das ist ein
wichtiger Meilenstein. Dazu gehört aber, das Ganze mit
Leben zu füllen, auch in den Ländern, auch in den Kommunen.
Das Thema Bildung wurde schon angesprochen. Für
mich ist entscheidend, dass wir nicht warten, bis die Kinder in der Schule Probleme haben, bis die Jugendlichen
den Hauptschulabschluss nicht schaffen und zum
Schluss keinen Beruf bekommen, weil ihnen die Sprache
als Grundlage fehlt, sondern dass in den Ländern Initiativen ergriffen werden, nach denen zum Beispiel verpflichtend der Sprachstand festzustellen ist, bevor die
Kinder eingeschult werden, oder im Kindergartenbereich
etwas getan wird, damit Sprache gelernt wird, sodass die
Kinder mit ausreichenden Sprachkenntnissen in die
Schule gehen können und nicht erst dort festgestellt werden muss, dass die Anforderungen gar nicht erfüllt werden können.
({5})
Eine Erkenntnis, die wir in vielen unterschiedlichen
Regelungen im Zuwanderungsgesetz auch festgeschrieben haben, ist wesentlich dafür, dass Integration und Zusammenleben unterschiedlicher Menschen in Deutschland organisiert werden kann. So werden in dem Gesetz
ganz deutlich diejenigen, die hier kein Aufenthaltsrecht
bekommen können, weil sie sich verfassungswidrig verhalten, gegenüber allen anderen abgegrenzt. Dadurch
nehmen wir die vorhandenen Ängste der Menschen
ernst, verstärken sie aber nicht, sondern ergreifen durch
entsprechende Gesetzgebung alle notwendigen Maßnahmen.
Nachdem Sie, Herr Kollege Grindel, in Ihrer Rede
vorhin darauf abgestellt haben, was man tun muss, um
sich gegenüber denjenigen abzugrenzen, die sich feindlich gegenüber der Verfassung verhalten, möchte ich Sie
noch einmal daran erinnern, dass es die SPD-geführte
Bundesregierung zusammen mit dem grünen Koalitionspartner war, die dafür gesorgt hat, dass sich Extremisten
nicht mehr als religiöse Gruppe tarnen können, indem
sie sich unter dem Mäntelchen einer Glaubensgemeinschaft sammeln und einen vom Grundgesetz geschützten
Tarnverein aufmachen.
Das haben wir durchgesetzt; in Ihrer Regierungszeit
sind Sie in dieser Frage nicht aktiv geworden.
({6})
Metin Kaplan ist nicht zu Ihrer Zeit ausgewiesen worden.
({7})
Nach den damals geltenden Gesetzen hätten wir weder
das Vereinsverbot noch die Ausweisung durchsetzen
können. Der Fairness halber bitte ich Sie, das in dieser
Debatte anzuerkennen und sich nicht immer nur auf billige Polemik zu stützen.
({8})
Diese klare Unterscheidung, die das Zuwanderungsgesetz zwischen denen, die sich gegen die Verfassung
stellen, und denen, die hier dauerhaft friedlich leben
wollen - denen wendet man sich sogar positiv zu -,
macht, ist der Knackpunkt dafür, dass durch gemeinsame Anstrengung die Integration derer gelingt, die hier
friedlich mit uns leben wollen. Zugleich wird auch der
Dialog gefördert, indem wir die Benennung von Ansprechpartnern für die staatliche Seite fordern. Es ist ja
häufig schwierig, bei den Muslimen einen Ansprechpartner zu finden. Zugleich erachten wir es als notwendig,
von den Glaubensgemeinschaften legitimierte Ansprechpartner als Gegenüber zu haben. Darum müssen wir werben und das müssen wir auch einfordern. Diese Forderung kann man, wie ich glaube, auch von unserer Seite
aufstellen.
Zu einem weiteren Punkt, den Sie angemahnt haben,
möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Von der Bundesregierung geförderte Deutschkurse für türkische Imame
gibt es bereits seit dem Jahr 2002. Wir finanzieren gemeinsam mit Diyanet und der Botschaft in Ankara
Sprachkurse, in denen sie Deutsch lernen und sich zugleich auf die hiesige Kultur einlassen können. Wir sind
also in vielem weiter, als Sie denken. Wenn Sie sich einfach nur einmal erkundigen oder im Ausschuss dann,
wenn man etwas vorträgt, zuhören würden, dann würden
manche Aufgeregtheiten gar nicht erst entstehen und
müssten manche Versäumnisse nicht angemahnt werden,
da viele Dinge schon seit langem vonseiten der Regierung erledigt worden sind.
({9})
Frau Kollegin Vogt, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss. - Ich denke, dass wir uns
der Thematik Integration auch in der Tradition der Aufklärung, in der wir stehen, annehmen sollten. Da gerade
das Thema „Leitkultur“ immer wieder zu einem
Reizthema wird, schlage ich vor, dass wir uns gemeinsam an der Haltung eines Mannes orientieren, die für einige aus Ihren Reihen durchaus hilfreich sein kann. Halten wir es mit der Leitkultur so, wie es Heiner Geißler
formuliert hat: Unsere Leitkultur ist unsere Verfassung
und die ist auf der Grundlage unserer historischen Erfahrungen entstanden. - Davon sollten wir uns leiten lassen,
also weg von der Propagierung von Schlüsselbegriffen
hin zur praktischen Verfassungstreue. Das ist der legitime und richtige Weg für Deutsche und für diejenigen,
die aus anderen Ländern zu uns kommen.
({0})
Das Wort hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Norbert Geis von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns alle einig, dass die Integration der
bei uns lebenden zugewanderten ehemaligen Ausländer
die wichtigste Aufgabe unseres Staates, aber auch eine
wichtige Aufgabe unserer Gesellschaft insgesamt ist.
Der Mord in den Niederlanden hat uns schlagartig bewusst gemacht, dass es auch bei uns Parallelkulturen und
Parallelgesellschaften gibt. Wenn sich diese Strukturen
verfestigen, sind Konflikte vorprogrammiert. Insofern
müssen wir nicht mit dem Finger auf die Niederlande
deuten. Eine solche Situation kann auch bei uns entstehen, wenn es nicht gelingt, diese Strukturen abzubauen
und die Integration voranzubringen.
Die Integration ist ohne Alternative, aber sie ist nicht
einfach. Sie ist nicht einfach, weil die Kulturen natürlich
unterschiedlich sind. Ich habe immer vollen Respekt vor
jedem Muslim, der in Treue seinen Glauben lebt, sich zu
seinem Glauben bekennt und versucht, sich nach den islamischen Regeln zu richten. Aber die Regeln des Islam
und die Regeln, die ihren Ursprung in unserer Kultur haben, sind nicht dieselben.
({0})
Wir müssen den Versuch unternehmen - wir können gar
nicht anders -, beide Regeln zwar nicht in Einklang, aber
in einen Zusammenklang zu bringen, um ein vernünftiges Miteinander zu ermöglichen.
({1})
Die Regeln werden bestimmt von dem jeweiligen
Menschenbild und das Menschenbild des Islam ist ein
anderes als das unserer Kultur, das aus dem Christentum
heraus verständlich ist.
({2})
Im Islam ist der Mensch Gott bedingungslos unterworfen; im Christentum versteht sich der Mensch als Kind
Gottes, als Partner Gottes, als Ebenbild Gottes. Diese
Ebenbildlichkeit Gottes hat nach Paul Kirchhof zu dem
radikalsten Freiheits- und Gleichheitssatz der gesamten
Rechtsgeschichte geführt und die Kultur unseres Abendlandes bestimmt. Deshalb haben wir eine andere Entwicklung genommen als beispielsweise der islamisch
bestimmte Orient. Das ist der Grund für die Unterschiede.
({3})
Für uns sind die Einmaligkeit, die Unvergleichbarkeit
jedes Einzelnen, seine Freiheit und seine unverletzbare
Würde höchste Güter. Beim Islam bestimmt die Umma,
die Gemeinschaft der Gläubigen, das Leben des Einzelnen. Die Freiheit des Einzelnen steht nicht so im Vordergrund wie beispielsweise im abendländischen Westen. Das ist der Unterschied. Wir müssen in einem
Prozess des Dialogs versuchen, diesen Unterschied vielleicht nicht auszugleichen, aber Verständnis füreinander
zu wecken, um eines Tages eine Angleichung zu erreichen. Ich glaube, Integration kann nur gelingen, wenn
auch die Angleichung gelingt. Das ist ein Prozess, der
nicht von heute auf morgen abgeschlossen werden kann;
es ist ein langwieriger Prozess.
Aus erwähntem Freiheitssatz heraus ist im Westen die
Demokratie entstanden. Die Demokratie setzt die individuelle Freiheit und die Unverletzlichkeit des Menschen voraus und bietet gleichzeitig den verfassungsrechtlichen Rahmen, in dem eine solche Lebensform
gelebt werden kann. Das finden wir in diesem Maße in
den islamisch regierten Ländern nicht. Diese Feststellung muss auch in einer solchen Debatte erlaubt sein,
({4})
ohne deswegen gleich in die Ecke zu geraten, man
würde sich überheben. Ich denke gar nicht daran, hier
Wertungen vorzunehmen. Ich möchte nur einmal den
Unterschied herausstellen, um die Schwierigkeiten bei
der Integration deutlich zu machen. Integration ist ein
schweres Werk, aber wir können uns nicht davor drücken. Wir müssen diese Aufgabe meistern.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine wichtige Aufgabe unserer Gesellschaft und vor allem unseres
Staates besteht darin, alles zu unternehmen, um den bei
uns lebenden Muslimen, insbesondere den jugendlichen
Muslimen, eine gute Ausbildung zu ermöglichen.
({6})
Wir müssen erreichen, dass die Muslime in den Mittelstand hineinkommen. Dann werden sie nämlich ihre abgekapselten Straßenzüge, ihre Parallelgesellschaft, verlassen und in andere Wohngegenden ziehen;
({7})
dann wird es zu einem vernünftigeren Miteinander kommen. Die soziale Lage ist im Augenblick ein Hemmnis
bei der Integration. Dieses Problem muss gemeistert
werden. Das ist allerdings in erster Linie unsere Aufgabe, also eine Aufgabe unseres Staates und unserer Gesellschaft.
Aber Integration ist nie eingleisig. Integration ist immer eine Sache zwischen Zugewanderten und aufnehmender Gesellschaft. Natürlich müssen diejenigen bei
uns, die zugewandert sind, unsere Sprache sprechen.
Das ist aber nur der erste Schritt. Wir wissen, dass in
Frankreich Muslime leben, die, weil sie beispielsweise
aus Marokko kommen, von Kindheit an Französisch
sprechen, dass es aber dort trotzdem große Unterschiede,
dass es Parallelgesellschaften gibt. Die Sprache ist sehr
wichtig, aber sie ist nur der erste Schritt.
Der zweite Schritt ist die Anerkennung unserer Verfassung. Das ist richtig und das ist heute auch schon gesagt worden. Allerdings ist das nicht ganz so einfach,
wie es sich manchmal angehört hat. Denn in jeder Verfassung - und in unserer Verfassung erst recht - sind Lebensformen niedergeschrieben. Die diesen Lebensformen zugrunde liegenden Überzeugungen drücken sich
also in der Verfassung aus.
Damit sind wir schon mitten in einer Kulturdebatte.
Sie können die Verfassung nicht losgelöst von der Kultur
sehen. Da bin ich anderer Meinung als Sie.
({8})
Sie können die Verfassung nicht nur rechtspositivistisch
sehen, sondern müssen sie in einen Kulturzusammenhang stellen. Aus diesem Kulturzusammenhang ist die
Verfassung entstanden.
({9})
- Lassen Sie mich das bitte in aller Ruhe ausführen. Sie
können ja anderer Meinung sein; darüber brauchen wir
nicht zu streiten.
Deswegen haben die Väter und Mütter unseres
Grundgesetzes in die Präambel ausdrücklich den Gottesbezug hineingeschrieben. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, dass unsere Verfassung, dass unser staatliches Leben nicht ohne unsere christliche Tradition
gesehen werden darf.
Angesichts der in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten Lebensformen, Überzeugungen und Wertvorstellungen müssen Sie eine Kulturdebatte führen. Die
„Leitkultur“ ist zwar ein Reizwort; das gebe ich zu. Aber
wenn Sie die Verfassung als Grundlage unseres Zusammenlebens ansehen, kommen Sie nicht an dem Gedanken vorbei, dass Sie damit auch verlangen, dass die kulturellen Vorstellungen und die Geschichte unseres
Volkes angenommen werden.
({10})
Herr Kollege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hartmann?
Bitte.
Herr Hartmann, bitte.
Herr Kollege Geis, ich bin Ihnen ausdrücklich dankbar für diesen sehr nachdenklichen, abwägenden und
auch philosophisch fundierten Beitrag, den Sie zum
Schluss dieser Debatte leisten. Sie wägen verschiedene
Kulturen und verschiedene Werthaftigkeiten gegeneinander ab. Ich teile das. Ich teile auch die Orientierung
am christlichen Menschenbild. Gestatten Sie mir die
Frage - ich meine sie völlig unpolemisch, eher als Anregung für Ihren Wortbeitrag -: Würden Sie mir zugestehen, dass die Orientierung am Personsein, am christlichen Menschenbild nicht verhindert hat, dass in Europa
und in Deutschland schreckliche Barbarei möglich war,
dass also diese Orientierung alleine keineswegs ausreichen kann, um ein gefestigtes demokratisches Staatswesen aufzubauen?
({0})
Das ist zweifellos richtig. Aber Sie müssen natürlich
sehen, dass es in der Geschichte immer Brüche gibt und
dass jeder Mensch Brüche in sich trägt. Jeder Mensch
kann versagen und so kann auch ein Volk versagen. Sie
dürfen dabei aber den Grundansatz nicht außer Acht lassen. Wir kommen aus unserer abendländischen Geschichte nicht heraus; sie ist 2 000 Jahre alt. Niemand
kann aus seiner Geschichte aussteigen und unsere Geschichte ist nun einmal vom christlich-jüdischen Erbe
bestimmt. Dazu kommen viele andere Momente: die
Aufklärung, die ganze Gedankenwelt der Renaissance.
Sie müssen im Grunde genommen die Griechen und die
Römer mit einbeziehen. Dann kommen Sie letztendlich
nicht zu einer 2 000-jährigen, sondern sogar zu einer
3 000-jährigen Geschichte. Vor diesem Hintergrund
existiert unsere Kultur.
Ich stimme Ihnen zu, dass es furchtbare Brüche in unserer Geschichte gab. Aber ich glaube, dass sie nicht mit
dem Ansatz unserer Kultur in Einklang gebracht werden
müssen, sondern dass sie einfach furchtbare Brüche gewesen sind.
({0})
- Hat es uns nicht bewahrt. Kein Mensch ist davor bewahrt, so auch ein Volk nicht.
Ein Schlussgedanke noch. Hier ist vom Eid auf die
Verfassung und von Verfassungspatriotismus gesprochen worden. Ich will nicht sagen, dass das verkehrt ist.
Aber es reicht nicht. Zur Annahme der Verfassung gehört auch, die Geschichte zu akzeptieren. Herr von
Klaeden hat dies vorhin in seinem sehr guten Wortbeitrag gesagt.
Wenn wir es mit der Integration ernst meinen, dann
müssen wir von den bei uns lebenden Muslimen verlangen, dass sie die Verantwortung für unsere Geschichte
mittragen. Es kann nicht sein, dass in einem Volk eine
Gruppe Verantwortung trägt und die andere Gruppe
nicht. Auch die Zugewanderten müssen die Verantwortung für unsere Geschichte, sowohl für den guten als
auch für den schrecklichen Teil, mittragen. Das ist mehr
als der Eid auf die Verfassung und mehr als Verfassungspatriotismus. Das ist echter Patriotismus.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4260, 15/4394 und 15/4401 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis 30 c sowie
den Zusatzpunkt 4 auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/4294 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({1}), Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther ({2}), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Feldversuche über die Vor- und Nachteile von
60-Tonnen-LKW starten
- Drucksache 15/3951 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({3}),
Joachim Günther ({4}), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Wasserstraßenausbaugesetz vorlegen
- Drucksache 15/4039 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe
Küster, Dirk Manzewski, Jörg Tauss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Norbert
Röttgen und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Grietje Bettin, Jerzy Montag, Volker
Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Karl
Addicks, Daniel Bahr ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich sichern - Patentierung von Computerprogrammen effektiv begrenzen
- Drucksache 15/4403 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({8}), Dr. Ole Schröder,
Dirk Fischer ({9}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Promillegrenze in der Seeschifffahrt
- Drucksache 15/4383 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 31 a
bis 31 f. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vor-
lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({11}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({12}),
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Daniel Bahr ({13}), Rainer Brüderle und weiterer Abgeordneter
Engpass zwischen Wiesbadener Kreuz und
Krifteler Dreieck ({14}) beseitigen
- Drucksachen 15/3104, 15/4095 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Weis ({15})
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
15/3104 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 164 zu Petitionen
- Drucksache 15/4273 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 164 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 165 zu Petitionen
- Drucksache 15/4274 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 165 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 166 zu Petitionen
- Drucksache 15/4275 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 166 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 167 zu Petitionen
- Drucksache 15/4276 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 167 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der ersten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses zu 23 gegen die
Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des
sechsten Europäischen Parlaments aus der
Bundesrepublik Deutschland eingegangenen
Wahleinsprüchen
- Drucksache 15/4250 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Hermann Bachmaier
Hans-Joachim Hacker
Petra-Evelyne Merkel
Dr. Hans-Peter Friedrich ({20})
Manfred Grund
Thomas Strobl ({21})
Jürgen Koppelin
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur Forschung
an embryonalen Stammzellen nach der Volksabstimmung in der Schweiz und den damit
verbundenen Auswirkungen für die Forschung in Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antragstellende Fraktion hat die Kollegin Ulrike Flach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland wird eine Insel, eine Insel des moralischen Diskurses in einem Meer der Bewegung und des Fortschrittes.
({0})
Überall in der Welt werden die Chancen, die die embryonale Stammzellforschung bietet, offensiv aufgegriffen.
In Deutschland hegen und pflegen wir den Status quo.
Die Wahlberechtigten in der Schweiz - da sollten gerade diejenigen, die eben so aufheulten, zuhören ({1})
haben mit 66,4 Prozent für die Forschung an embryonalen Stammzellen gestimmt, für eine Forschung an solchen Stammzellen, die bei der künstlichen Befruchtung
überzählig bleiben, um bessere Therapien, wie man dort
formulierte, gegen Diabetes, Parkinson oder Alzheimer
zu entwickeln. Zwei Drittel haben für die Forschungsfreiheit gestimmt.
({2})
Das ist der breite gesellschaftliche Konsens, den viele
von uns immer wieder einfordern. Das ist ein Zeichen einer reifen Demokratie, in der komplexe Themen wie die
Stammzellforschung von den Bürgern verstanden und
entschieden werden.
Ich bin sicher, dass diese Entscheidung in Deutschland nicht viel anders ausfiele.
({3})
Ein informiertes Volk wird sich, wenn wir es fragen, die
Möglichkeit, eine medizinische Innovation zu fördern
und zu nutzen, nicht nehmen lassen.
({4})
Die Fundamentalposition von Rot und Grün und Teilen der Union isoliert uns immer mehr. In den letzten
fünf Jahren haben die Briten die Forschung an embryonalen Stammzellen und das therapeutische Klonen erlaubt. Sie rechnen in fünf Jahren mit den ersten Therapieerfolgen. Die Franzosen haben die Forschung auf
fünf Jahre befristet zugelassen. Kalifornien wird
3 Milliarden Dollar für die Stammzellforschung ausgeben. Israel, Indien, die skandinavischen Länder, China,
Südkorea, überall werden und wurden Gesetze geändert,
um Forschung zu erlauben und langfristig Menschen mit
schweren Krankheiten zu helfen. Auch die EU - darüber
haben wir in diesem Hause diskutiert - hat bereits zwei
Vorhaben gefördert, bei denen embryonale humane
Stammzellen verwendet wurden.
Und bei uns? Der Bundeskanzler beklagte Ende Oktober die enorme Zurückhaltung bei der Umsetzung der
Bio- und Gentechnik, die sich - man höre und staune aus dem Gedankengut der Umweltbewegung, traditioneller Technikskepsis und christlicher Motivation speise
und uns auf den Weltmärkten schwäche und Innovationen nicht befördere.
({5})
„Hört! Hört!“ kann man da nur sagen.
Wirtschaftsminister Clement forderte an dieser Stelle
eine Lockerung der Bremsen bei der Bio- und Gentechnik. Ich frage mich natürlich zunehmend: Wer regiert
denn eigentlich in diesem Lande?
({6})
Sie könnten doch die gesetzlichen Vorgaben ändern.
Aber weder der Kanzler noch Herr Clement, auch nicht
Frau Zypries mit ihrem sehr liberalen Verständnis des
Grundgesetzes und schon gar nicht die Ministerin
Bulmahn haben in den Koalitionsfraktionen eine Mehrheit. Die Union mit Frau Böhmer an der Spitze beteiligt
sich - das tut mir Leid - zumindest in Teilen an diesem
Stillhalteabkommen.
({7})
Anstatt Innovationen anzuschieben, schieben Sie die
Forscher aus diesem Lande.
Der Direktor des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg, Professor Wiestler, beklagt zu Recht
die rigide Stichtagsregelung im Stammzellgesetz und die
Strafandrohung gegen deutsche Wissenschaftler im Ausland. Wir alle wollen Spitzenforscher aus dem Ausland
zurückholen. Aber wenn sie dann hier sind und dort drüben mit embryonalen Stammzellen geforscht haben,
werden sie hier kriminalisiert und mit hohen Strafen belegt.
({8})
- Das ist kein Unsinn. Die DFG hat es erst kürzlich wieder dargelegt.
Professor Hescheler, einer der renommiertesten deutschen Stammzellforscher, erklärt: Vor 15 Jahren waren
wir in der Stammzellforschung top. Wir brauchen dringend neue humane embryonale Stammzelllinien, die wir
aufgrund der deutschen Gesetzeslage nicht über therapeutisches Klonen gewinnen können.
Meine Damen und Herren, Sie geben unseren Wissenschaftlern weder durch den Import noch durch die
Vermehrung von Linien die Zellen, die wir für unsere
Spitzenforschung brauchen. Das ist angesichts der Sorgen von Forschern und Kranken grotesk.
({9})
Wir fordern seit langem die Abschaffung der Stichtagsregelung. Wir wollen eine Streichung der darauf beruhenden Strafandrohung. Wir fordern eine Änderung
des Embryonenschutzgesetzes, um so wie die Schweiz
an überzähligen Embryonen zu forschen und Stammzellen durch therapeutisches Klonen vermehren zu können.
({10})
Im Jahr der Innovationen hat Deutschland seine führende Position in der Stammzellforschung verloren. Die
anderen schieben sich an uns vorbei. Blair, Chirac,
Schwarzenegger und die Schweiz - die Liste der Innovationsförderer wird immer länger. Nur der Name
Schröder taucht nicht auf. Die FDP sagt Ihnen erneut
- heute noch in einer Aktuellen Stunde, im Januar in
Form eines Antrages -: Ändern Sie endlich diese Geisteshaltung, die Sie hier seit vielen Monaten präsentiert
haben! Geben Sie den Weg frei für eine innovative Forschungsförderung! Gehen Sie diesen Weg mit uns und
nehmen Sie die Fehler der Vergangenheit zurück!
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Carola Reimann
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Schweiz hat am Wochenende mit Zweidrittelmehrheit
- das ist wirklich erstaunlich - ein Stammzellforschungsgesetz beschlossen, das Forschung mit humanen
embryonalen Stammzellen unter strengen Auflagen erlaubt. Wenn man das Gesetz liest, kommen einem viele
Elemente bekannt vor. Die Kriterien für die Bewilligung
beim Bundesamt für Gesundheit, wie es in der Schweiz
heißt, weisen doch sehr große Ähnlichkeit zu unserem
deutschen Stammzellgesetz, das wir Anfang 2002 in diesem Haus beschlossen haben, auf.
Es ist nicht so, dass es bei uns keine Stammzellforschung gibt.
({0})
- Sie haben uns da aber als Insel bezeichnet. ({1})
Auch in Deutschland ist unter Auflagen - unter strengen
Auflagen, das will ich gar nicht abstreiten - Forschung
mit humanen embryonalen Stammzellen erlaubt und
wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch
finanziell gefördert.
Im Sommer hat die Bundesregierung den Ersten Erfahrungsbericht über die Durchführung des Stammzellgesetzes vorgelegt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren fünf
Projekte bewilligt worden, darunter auch das Projekt des
von Ihnen genannten Professors Hescheler, das als zweites Projekt im Jahre 2003 bewilligt wurde.
({2})
Mittlerweile sind sieben Forschungsprojekte bewilligt
worden, es sind also noch zwei Projekte hinzugekommen. Erst im Oktober ist ein weiteres Projekt hier in Berlin bewilligt worden. Sie alle können sich über den aktuellen Stand jederzeit auf den Webseiten des Robert
Koch-Institutes informieren.
Wir haben in Deutschland die Regelung, dass Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen durchaus erlaubt ist, und zwar - das ist der Unterschied zu der
Schweiz - an Zelllinien, die vor dem 1. Januar 2002 hergestellt wurden und die im Register des NIH gelistet
sind.
({3})
Bei allen genehmigten Anträgen handelt es sich um Forschungsvorhaben, die mit diesen Zelllinien auskommen.
Dabei geht es vor allen Dingen um Grundlagenforschung, die sich, wie ich glaube, auch sehr gut betreiben
lässt, ohne dass man an der Stelle Chancen vergibt.
({4})
Allen beantragten Forschungsvorhaben ist gemeinsam,
dass sie Differenzierungsvorgänge von Zellen untersuchen, zum Beispiel die Differenzierung zu neuralen Vorläuferzellen, zu dopaminergen Neuronen oder zu Kardiomyozyten. In vielen Fällen untersuchen sie auch
Migrationsprozesse in Zellverbänden, zum Beispiel in
Herzmuskelzellen - auch hier ist Herr Hescheler zu nennen -, in Hepatozyten und in Rattenhirnen. Ein Projekt
soll auch die Frage nach der Auslösung der Differenzierung beantworten. All diese Forschungsprojekte sind
also sehr abstrakt und grundlagenbezogen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aus meinem
Herzen gar keine Mördergrube machen: Dem Schweizer
Gesetz mit der Möglichkeit der Nutzung so genannter
überzähliger Embryonen stehe ich offen gegenüber. Ich
will aber auf keinen Fall, dass sich permanente Lieferbeziehungen zwischen Fortpflanzungsmedizin und Forschung ergeben.
({5})
Dies ist nach meiner Ansicht durch das Schweizer Gesetz nicht ausgeschlossen.
Bei aller Offenheit für die Nutzung überzähliger Embryonen kann ich derzeit keine sachliche Notwendigkeit
erkennen, unser Stammzellgesetz zu ändern. Denn außer
der von den Verbandsvertretern vorgebrachten allgemeinen Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Forschung - die sie im Übrigen zu allen Zeiten vorgetragen haben - gibt es keine Forschergruppe - auch nicht
die des Professor Hescheler -, die mit einem konkreten
Projekt an uns herangetreten wäre, bei dem die vorhandenen Zelllinien nicht ausreichen würden.
({6})
- Aber an dieses Gremium ist er nicht herangetreten.
Wenn das der Fall wäre, würde ich das hier jederzeit
diskutieren. Es muss aber sehr sachlich und seriös fundiert vorgetragen werden,
({7})
welche Stammzelllinien dazu genutzt werden und warum die Zelllinien, die zurzeit zur Verfügung stehen, für
diese Grundlagenforschung nicht ausreichen. Das muss
schon begründet werden können.
({8})
Ich halte die Regelungen in unserem Stammzellgesetz
nach wie vor für sehr ausgewogen. Sie ermöglichen den
Wissenschaftlern in unserem Land Grundlagenforschung
mithilfe humaner embryonaler Stammzellen und tragen
gleichzeitig dem Wunsch einer großen Gruppe in unserem Land und - das darf man auch nicht vergessen auch hier in unserem Parlament Rechnung, die großen
Wert auf ein hohes Schutzniveau für Embryonen legt.
Das ist in unserem Embryonenschutzgesetz verankert.
Wir sollten daher an unserem Stammzellgesetz in der jetzigen Form festhalten.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Professor Maria
Böhmer von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Forderung der FDP, den Stichtag beim Stammzellgesetz
aufzuheben und - wie wir heute gehört haben - am besten alle Gesetze, die in diese Richtung gehen,
({0})
also auch das Embryonenschutzgesetz, abzuschaffen, hat
schon Ritualcharakter, liebe Kollegin Flach.
({1})
Sie wird dadurch auch nicht besser oder überzeugender.
Fakt ist: Seitdem das Stammzellgesetz Mitte 2002 in
Kraft getreten ist, hat das Robert Koch-Institut sieben
Genehmigungen erteilt. Damit ist belegt, dass Forschung
an menschlichen embryonalen Stammzellen in Deutschland möglich ist. Wir haben die Forschung nicht behindert und nicht blockiert. Wir haben sie unter sehr restriktiven Bedingungen zugelassen, und zwar an den
Stammzelllinien, die bereits existieren. Der Stichtag ist
wichtig. Er verhindert nicht Forschung; denn es geht
zurzeit um Grundlagenforschung, um nichts anderes. Jeder seriöse Wissenschaftler, der auf diesem Feld tätig ist,
bestätigt uns:
({2})
Dafür reichen die Stammzellen völlig aus.
({3})
- Liebe Frau Flach, ich gehe gern darauf ein. Wir haben
engsten Kontakt zu den Wissenschaftlern. Sie wissen,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Beirat für
Fragen der Bio- und Gentechnologie mit exzellenten
Stammzellwissenschaftlern berufen hat.
({4})
Wir haben erst vor kurzem einen großen Kongress
durchgeführt. Dabei waren die Professoren Schöler,
Hescheler und Franz zu Gast. Die Professoren Hescheler
und Franz arbeiten an Projekten im Rahmen der menschlichen embryonalen Stammzellforschung. Wir haben außerdem Professor Ho zu Gast gehabt, der ein exzellenter
Wissenschaftler im Bereich der adulten Stammzellforschung ist. Übereinstimmende Meinung war: Die existierenden Stammzelllinien reichen für die Grundlagenforschung in Deutschland völlig aus.
({5})
Um nichts anderes geht es.
({6})
Da Sie immer wieder dagegen anrennen, will ich Ihnen
an dieser Stelle sagen: Es würde sich lohnen, von diesen
ritualisierten Debatten, die Sie führen, wegzukommen
und nach den wirklichen Gründen zu fragen, warum die
Stammzellforschung nicht vorankommt. Ich war vor wenigen Wochen im NIH in Washington und habe mich vor
Ort kundig gemacht. Die Amerikaner sind in der gleichen
Situation. Hier wie dort verbinden sich zwei Dinge miteinander: Wir wollen zum einen die Grundlagenforschung sicherstellen, zum anderen aber die ethischen
Grenzen achten. Leitgedanke war für uns im Deutschen
Bundestag bei jeder dieser Entscheidungen: Kein
menschlicher Embryo soll für die Forschung in Deutschland getötet werden. Dabei werden wir auch bleiben.
({7})
Beim NIH hat sich herausgestellt - das können wir,
glaube ich, auch für Deutschland sagen -: Es gibt erstens
nur wenige Forscher, die in der Lage sind, Stammzellforschung zu betreiben. Das NIH hat daraus die Konsequenz gezogen und bietet inzwischen Trainingskurse für
Forscher an. Das ist vernünftig; denn dort, wo Forschung
zugelassen ist, muss auch die entsprechende Technik
vorhanden sein.
Zweitens - ich finde, das ist ein ganz wichtiger
Schritt, der möglicherweise Forschern in Deutschland
sehr helfen wird - ist das NIH dabei, die zugelassenen
Stammzelllinien zu einer Stammzellbank auszubauen.
Sie werden charakterisiert und katalogisiert. Damit will
man vor allen Dingen ein Hemmnis nehmen - dieses
Hemmnis nehme ich sehr ernst, Frau Flach -, das den
wahren Grund darstellt, warum einzelne Forscher sagen:
Wir brauchen andere Stammzelllinien. Der Hinderungsgrund für Forscher in Deutschland liegt nämlich nicht in
der Stammzellgesetzgebung bei uns,
({8})
sondern in den Patentregelungen in den USA. Das ist der
Punkt.
({9})
Wenn man von dort Stammzelllinien anfordert und sie
hier nutzt, ist man ein Stück abhängig, weil man aufgrund der Patentregelungen seine Forschungserkenntnisse teilen muss. Man muss die Dinge beim Namen
nennen, um voranzukommen, und darf nicht wie Sie
stets an der falschen Stelle bohren.
An einem anderen Punkt will ich nachhaken: Professor Hescheler, den Sie gerne und viel zitieren, wäre sehr
daran interessiert, hier in Deutschland ein bestimmtes
Forschungsvorhaben durchzuführen. Er möchte gerne
ausloten, ob menschliche embryonale Stammzellen zu
gewinnen sind, ohne dass die Embryos sterben müssen.
({10})
Das würde uns aus dem Dilemma herausführen. Aber
merkwürdigerweise ist sein Forschungsantrag nicht genehmigt worden. Da ich davon überzeugt bin, dass dies
die Ansicht auch bei SPD und Grünen ist, die wie wir
Verantwortung für das Stammzellgesetz tragen, muss ich
sagen: Wir sollten ein großes Interesse daran haben,
Wege zu eröffnen, damit Stammzellforschung in Zukunft in der Art möglich ist, dass dafür kein Embryo getötet werden muss. Darauf müssen wir unsere Kräfte
konzentrieren, nicht auf irgendwelche spekulativen
Überlegungen, die Sie immer wieder anstellen.
({11})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich will in aller Deutlichkeit sagen - dabei stützte ich
mich nicht nur auf den Stammzellbericht der Bundesregierung, sondern auch auf die weltweit gesammelten Erkenntnisse, die uns bis jetzt vorliegen -: Das Stammzellgesetz hat sich bewährt. Es bedarf keiner Änderung. Wir
werden an dem Grundsatz festhalten: Grundlagenforschung ja, aber kein Verbrauch von Embryonen für die
Forschung in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
hat in der Tat Ritualcharakter: Die FDP will immer wieder ein Alleinstellungsmerkmal für sich reklamieren.
Die Wahrheit ist allerdings, dass sich alle Menschen damit quälen, die Balance zwischen ethischen Grenzen auf
der einen Seite und dem hohen Gut der Forschungsfreiheit auf der anderen Seite zu finden.
({0})
Dass Sie das Alleinstellungsmerkmal in dieser Frage dadurch erlangen wollen, dass Sie nur die eine Seite der
Medaille betrachten, ist sehr traurig. Das muss ich Ihnen
sagen.
({1})
Nun zum Gesetz - hierzu haben Sie eine Fehlinformation abgegeben; ich habe mich im Vorfeld genau
informiert -: Das Gesetz, über das in der Schweiz eine
Volksabstimmung stattgefunden hat, stammt vom
19. Dezember 2003. Es betrifft Fragen der Forschung an
überzähligen Embryonen und embryonalen Stammzellen. Es erlaubt die Gewinnung von embryonalen Stammzellen aus so genannten überzähligen Embryonen.
({2})
Gegen dieses Gesetz wurde ein Referendum durchgeführt. Dieses Referendum hatte das bekannte Ergebnis:
Eine Zweidrittelmehrheit war für das Gesetz.
Allerdings muss man festhalten - es ist falsch, was
Sie hierzu gesagt haben -: Hier geht es nur um die
Stammzellforschung, nicht um das Forschungsklonen.
Sie haben gesagt, in der Schweiz seien die embryonale
Stammzellforschung und das Forschungsklonen möglich. Das ist nicht zutreffend; denn das Forschungsklonen ist in der Schweiz nicht möglich. Hier haben Sie
dem Parlament eine Falschinformation gegeben.
({3})
- Das ist nicht sophistisch; das ist so. Lesen Sie das im
Protokoll nach. Vielleicht haben Sie sich auch versprochen; das kann ja passieren. Aber man darf nicht so tun,
als würden alle Formen, die Sie für richtig halten, in der
Schweiz genehmigt. Das Ganze dient Ihnen nur dazu,
die Argumentation zu stützen, die da lautet: In Sachen
verbrauchende Embryonenforschung wird es einsam um
Deutschland.
({4})
In Wahrheit ist das Bild wesentlich differenzierter. Darauf hat die Kollegin Reimann - wie ich finde: zu
Recht - hingewiesen.
Nun zur Situation in Deutschland. Im Embryonenschutzgesetz von 1990 ist die „Produktion“ von überzähligen Embryonen explizit verboten. Das heißt, in
Deutschland gibt es keine überzähligen Embryonen.
({5})
- Einen Moment, lassen Sie mich diesen Gedanken weiterführen. - Wenn Sie wollen, dass verbrauchende Embryonenforschung betrieben wird, dann müssten Sie den
Zweck des Embryonenschutzgesetzes ändern.
({6})
Sie müssten es von einem Schutzgesetz in ein Ressourcenbeschaffungsgesetz umwandeln. Das machen wir
nicht mit. Das muss ich ganz klar sagen.
({7})
Denken Sie nur an die In-vitro-Fertilisation. Diese
wird bei uns so gehandhabt, dass dabei nicht mehr befruchtete Eizellen entstehen, als letztlich eingesetzt werden. Denken Sie nun noch an die Präimplantationsdiagnostik, die Sie wahrscheinlich - darüber wurde jetzt
allerdings nicht geredet - ebenfalls befürworten.
({8})
Hierbei werden bewusst mehrere Eizellen befruchtet.
Eine Konstruktion, bei der eine große Zahl von „überzähligen Embryonen“ entsteht, ist nichts anderes als eine
Einladung, sie im Rahmen der Forschung auch zu verbrauchen. Eine solche Konstruktion können wir nicht
mittragen.
Dann müssen Sie sich schon dazu bekennen, dann
müssen Sie sagen: Der Gesetzeszweck soll geändert
werden; der Zweck sollen Maßnahmen zur Beschaffung
von Ressourcen für die embryonale Stammzellforschung
sein. So viel Ehrlichkeit muss sein.
({9})
Ich will abschließend noch auf eine Sache hinweisen
- es wurde ja von mehreren Rednern schon gesagt -: Es
gibt sieben genehmigte Anträge. Forschung an embryonalen Stammzellen ist in Deutschland möglich, wenn
diese Stammzellen vor einem bestimmten Stichtag entstanden sind. Die Qualität der Kulturen wird zwar hier und
da einmal beklagt - das gebe ich zu; man hört das ja -, aber
es ist doch nicht so, dass das der Grundtenor der ganzen
Debatte wäre; es sind nur einzelne Leute, die darüber
klagen.
({10})
Das ist nun einmal so in einer pluralen Gesellschaft; es
wäre auch schlimm, wenn es nicht so wäre. Aber daraus
jetzt abzuleiten, man könne es gar nicht anders machen,
als den Weg völlig freizumachen, das ist falsch.
Außerdem will ich auf die Fortschritte bei der Forschung an adulten Stammzellen hinweisen. Die sind
nämlich erheblich:
({11})
Die Nähe zu therapeutischen Anwendungen ist viel größer als im Bereich der Forschung an embryonalen
Stammzellen; diese ist noch eine reine Grundlagenforschung.
({12})
Ich will zwei Projekte aus der wissenschaftlichen
Fachzeitschrift „The Lancet“ von 2004 anführen: Adulte
Stammzellen, aus Skelettmuskulatur gewonnen, zeigen
in Tierversuchen Differenzierungen zu Muskelfaserzellen. Anderes Beispiel: Einsatz adulter Stammzellen aus
dem Knochenmark zur Reparatur von Herzgewebe; auch
hier große Fortschritte.
({13})
- Sie tun immer so, als wäre die Forschung an adulten
Stammzellen im Gegensatz zur embryonalen Stammzellenforschung eine Randerscheinung. Nein, das Gegenteil
ist der Fall.
({14})
Ich will das gar nicht weiter ausführen, ich will nur zu
dem Schluss kommen: Das Stammzellgesetz in der jetzigen Fassung ist der Versuch einer Abwägung zwischen
ethischen Grenzen und dem Ziel der Forschungsfreiheit.
Es ist ein gutes Gesetz, das uns im Moment keine Probleme bereitet; deswegen müssen wir es auch nicht ändern.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich verwahre mich ganz entschieden dagegen, dass das Anstoßen von Diskussionen über sehr
wichtige gesellschaftliche Fragen in diesem Haus als Ritual angesehen wird.
({0})
Das kann es wohl nicht sein. Wenn die Fundamentalisten
in den so genannten Volksparteien verhindern, dass diese
Fragen öffentlich diskutiert werden, dann ist es Aufgabe
der FDP, dieses hier anzustoßen. Ich meine, wir haben
dieses ordentlich gemacht.
({1})
Frau Böhmer, ich darf Ihnen noch das eine sagen - es
stammt zwar nicht von einem CDU-Kollegen; es stammt
von Peter Glotz -: Der Embryo ist in Deutschland so
lange geschützt, bis er abgetrieben wird. - Ich meine,
wir müssen uns auch dieser Diskussion stellen.
({2})
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ist
zurzeit in erster Linie Grundlagenforschung; darüber
sind wir alle uns einig. Die Grundlagenforschung wiederum ist so gut, wie es die Zelllinien sind, auf denen sie
beruht. Auch Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates
der CDU haben mir am Telefon gesagt, sie brauchen
dringend Zugang zu den neuen Zelllinien, damit ihre
Grundlagenforschung, in die wir viel Geld investieren
wollen, auch so gut ist, wie sie sein sollte.
({3})
Reden Sie mit ihnen nicht unter der Vorbedingung, das
zu verhindern; behalten Sie, wenn Sie mit ihnen reden,
folgende Aspekte im Auge: Was wollen sie? Was brauchen sie? Wie wichtig ist Grundlagenforschung im Bereich der Stammzellforschung? Dann werden Sie hören:
Auch die Forscher in Deutschland brauchen diese neuen
Zelllinien wegen ihrer Qualität.
Stammzellforschung ermöglicht ein vertieftes Verständnis elementarer biologischer Vorgänge wie Zelldifferenzierung oder Tumorentwicklung. Die Qualität dieser
Forschung ist Basis und Fundament aller angewandten
Forschung. Grundlagenforschung ist eine öffentliche
Aufgabe; zumindest in dem Punkt sind wir einer Meinung. Aber in der Stammzellforschung werden außerdem Chancen gesehen, Krankheiten zu heilen. Wir brauchen eine Ethik des Heilens,
({4})
des Heilens von Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer,
Diabetes. Auch die davon betroffenen Menschen haben
ein Anrecht darauf, Hoffnung zu haben.
Das Stammzellgesetz, das der Deutsche Bundestag in
der letzten Legislaturperiode beschlossen hat, ist unbefriedigend, weil es den Import neuer Zelllinien verhindert, die von Forschern und Forscherinnen dringend gebraucht werden. Sie haben ethische Bedenken angeführt.
Ebenso gibt es die Hoffnung kranker Menschen und ihrer Angehörigen, durch neue, in der Stammzellforschung
entwickelte Therapien Hilfe zu erhalten. Auch diese
Menschen brauchen eine Antwort von uns.
({5})
Im Vorfeld der Verabschiedung des Stammzellgesetzes hat eine Bildungsministerin eines deutschen Bundeslandes gesagt:
Die medizinische Forschung … befindet sich auf
hohem Niveau, auch und gerade im Bereich der
Humangenomforschung und in der Gentechnologie.
Gerade die öffentliche Förderung von Forschung
auf diesem Gebiet ermöglicht erst Transparenz und
eröffnet Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie uns als
Zuschauer von ausländischen Entwicklungen nämlich verwehrt würden. Eine Selbstbescheidung …
auf bloße Lizenzfertigung oder Anwenderlösungen
würde im Zeitalter von Binnenmarkt und Internet
nur dazu führen, dass wir das importieren, was bei
uns verboten, aber in unseren Nachbarländern erlaubt ist. Ich finde, auch das wäre eine moralisch
fragwürdige Praxis.
({6})
Wir würden Wissenschaftler verlieren, die ihre
gesellschaftliche Verantwortung in Deutschland wahrnehmen wollen, die hier Forschung betreiben wollen, und zwar unter verlässlichen Rahmenbedingungen.
Dies sagte die Bildungsministerin des Bundeslandes
Schleswig-Holstein, Frau Ute Erdsiek-Rave, SPD.
({7})
Ich bitte um Beifall, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD.
({8})
Herr Kollege Rossmann, ich glaube, wir sind uns einig,
dass wir diese Kollegin schätzen. Ich finde es schade,
dass Sie ihr keinen Beifall geben.
Wir diskutieren in Deutschland über Elitehochschulen
und wir alle sind uns darin einig, dass es nicht nur eine
Frage der Finanzen, sondern auch der Exzellenz der
Wissenschaftler ist. Wir wissen, dass Wissenschaftler einen gesetzlichen Rahmen,
({9})
gesellschaftliche Akzeptanz und - das will ich deutlich
sagen - Vertrauen brauchen.
({10})
Ich meine, unsere Wissenschaftler verdienen dieses Vertrauen. Herr Loske hat es angesprochen: Wir wissen,
dass wir bei der In-vitro-Fertilisation nur sehr wenige
überzählige Embryonen haben, einige haben wir aber.
Das zeigt, dass unsere Forscher sehr sorgfältig und sehr
verantwortungsbewusst mit den Gesetzen umgehen. Nur
selbstbewusste Menschen können Vertrauen schenken.
Seien wir im Deutschen Bundestag bitte selbstbewusst
und schenken wir unseren Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern Vertrauen!
Die Zustimmung der Bevölkerung in der Schweiz zur
Stammzellforschung sollte für uns Anstoß sein, erneut
die Diskussion über die Stammzellforschung aufzunehmen und die unsägliche Stichtagslösung abzuschaffen.
Wir brauchen ein neues Gesetz!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Manchmal erinnert mich die FDP durchaus an
meine kleinen Kinder zu Hause.
({0})
Der Tobias geht an die Spielzeugkiste, nimmt sich ein
Spielzeug heraus und die kleine Randi kommt sofort angesaust und will genau das Spielzeug haben, das er sich
herausgesucht hat; ihr eigenes tolles Spielzeug lässt sie
liegen.
({1})
- Meine Kinder plärren allerdings nicht so und ich bin
mir ziemlich sicher, dass sie ihren Konkurrenzkomplex
und den Futterneid ablegen. Das ist nämlich Bestandteil
der menschlichen Entwicklung.
({2})
Bei der FDP bin ich mir manchmal nicht so sicher.
({3})
Was ist geschehen? Die Schweiz hat ein Referendum
mit einer Wahlbeteiligung von 36 Prozent durchgeführt.
Zwei Drittel davon haben sich für die Einführung der
Stammzellforschung ausgesprochen. Die FDP fragt sofort, welche Auswirkungen das auf die Forschung in
Deutschland und auf unseren Forschungsstandort hat.
({4})
Ist das eine neue Situation? Ich behaupte, nein. Bezogen
auf die Schweiz ist sie neu, insgesamt erleben wir das
aber seit Jahren. In Frankreich, Großbritannien, Schweden, Belgien und in den Niederlanden wird diese Forschung in dem Ausmaß betrieben, wie sich die FDP das
wünscht.
({5})
Bisher ist dabei allerdings noch nichts herausgekommen.
Jetzt kommt die Schweiz noch hinzu. Ändert sich für die
deutsche Situation grundlegend etwas? - Nein.
({6})
Lassen Sie mich eine Nebenbemerkung machen: Ich
fände es interessant, wenn das Referendum genau das
entgegengesetzte Ergebnis gehabt hätte
({7})
oder wenn die Schweiz demnächst ein Biopatentgesetz
bekäme, durch das die Patente viel stärker eingeschränkt
würden, als Sie sich das wünschen. Würden Sie auch
dann eine Aktuelle Stunde durchführen wollen?
({8})
Die wesentliche Frage ist allerdings, ob unsere Forscher nun benachteiligt sind oder nicht. Ich sage, nein.
Ich will das auch begründen - Frau Happach-Kasan, Sie
waren nicht dabei -: Vor gerade einmal zwei Jahren, im
Januar 2002, haben wir in einer fünfstündigen Debatte,
die, wie ich glaube, ein sehr hohes Niveau hatte und die
auch öffentliche Beachtung gefunden hat, sehr intensiv
darüber gesprochen, ob wir Forschung an embryonalen
Stammzellen zulassen und Embryonen zerstören lassen
wollen. Die große Mehrheit dieses Hauses hat entschieden: Wir wollen nicht, dass Embryonen zu Forschungszwecken zerstört werden.
({9})
Wir wollen auch niemandem im Ausland den Anreiz geben, für deutsche Forschungsprojekte Embryonen zu
zerstören. Bei der Diskussion ist aber auch das Stammzellimportgesetz herausgekommen, um deutschen Forschern auf der Basis von Zelllinien, die nicht für die
deutsche Forschung hergestellt wurden, aber schon existieren, Forschung zu ermöglichen.
Man kann zwar eine gewisse Inkonsequenz feststellen, aber im Ergebnis bleibt klar: Wir haben vor zwei
Jahren deutschen Forschern mit den importierten
Stammzelllinien die Werkzeuge an die Hand gegeben,
um all das zu erforschen, was möglich ist. Das ist eben
nicht eine Pflege des Status quo, wie Sie gesagt haben,
Frau Flach. Vielmehr hat die Forschung einen echten
Sprung gemacht. Die Forscher in Deutschland sind aufgerufen, mit diesen Zellen zu arbeiten. Sieben Arbeitsgruppen haben diese Anregung in der Tat aufgenommen
und arbeiten seit einem halben oder einem Jahr daran.
Wer wirklich ernsthaft daran arbeitet, der kann nicht
schon nach einem halben Jahr feststellen: Diese Zellen
reichen nicht, wir brauchen neue. Es ist nun an den Forschern, zu zeigen, was möglich ist. Dabei sind sie noch
lange nicht am Ende ihrer Möglichkeiten.
Forschung in Deutschland wird nicht behindert. Zwei
Gründe: Erstens. Die Forschung in Deutschland im Bereich der adulten oder somatischen Stammzellen, also
der Zellen, die man ohne ethische Probleme vom erwachsenen Menschen gewinnen kann, ist nach wie vor
Spitze. Diesen Forschungsbereich müssen wir alle miteinander fördern.
({10})
Zweitens. Wir geben den Forschern, die es wollen,
die Möglichkeit, mit embryonalen Stammzelllinien, die
vor dem 1. Januar 2002 hergestellt worden sind, die stabil und verlässlich sind und in Kultur gehalten werden,
zu arbeiten. Für die Grundlagenforschung - das habe ich
gerade gehört - ist das völlig ausreichend. Die Forscher
werden Jahre brauchen, um zu zeigen, ob sie überhaupt
an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kommen.
({11})
Ich muss allerdings auch Kritik äußern: Sie haben gesagt, es gehe um die Grundlagenforschung. Aber im
gleichen Atemzug führen Sie wieder die ganzen Heilungsversprechungen in Bezug auf Krankheiten wie
Parkinson, Alzheimer und Diabetes an. Sie könnten mir
garantiert nicht erklären, wie man Diabetes mit Stammzellen heilen kann. Ich sage Ihnen: Das ist wirklich unverantwortlich. Wir sollten uns darauf einigen, dass es
um Grundlagenforschung geht. Schon jetzt Heilungsversprechungen für Kranke zu machen, die davon wahrscheinlich nie profitieren werden, weil die Forschung
mindestens zehn bis 20 Jahre dauern wird, halte ich für
unverantwortlich. Damit sollten wir in der Diskussion
sehr zurückhaltend sein.
({12})
Fazit meiner fünfminütigen Rede: Erstens. Es gibt
keine neuen Erkenntnisse - Sie können auch nichts dafür
anführen -, die es notwendig machen würden, diesen
ausführlich diskutierten Grundsatzbeschluss von vor
zwei Jahren zu revidieren.
Zweitens. Den deutschen Forschern sind mit dem Beschluss von vor zwei Jahren mehr Möglichkeiten gegeben worden, als sie in den nächsten Jahren ernsthaft nutzen können. Die Forscher haben den Beweis zu führen,
dass diese Möglichkeiten nicht ausreichend sind. Von
dieser Stelle der Appell: Nutzt die Möglichkeiten und
forscht!
Drittens. Deutschland ist ein guter Forschungsstandort, seit Rot-Grün regiert. Endlich gibt es wieder mehr
Geld für Bildung und Forschung und damit mehr Motivation und Möglichkeiten, hier etwas zu tun.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Rachel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es erstaunt nicht, dass die FDP eine Aktuelle Stunde zum
Thema embryonale Stammzellforschung beantragt hat,
waren doch in der jüngsten Vergangenheit wiederholt
Forderungen des Bundeskanzlers und des Wirtschaftsministers Clement zu vernehmen, dass die Stammzellforschung in Deutschland unbegrenzt zugelassen werden
solle.
({0})
Im September hat dies Herr Westerwelle in der „Welt“
kommentiert. Zitat: Die FDP werde Herrn Clement
durch Anträge im Bundestag die Gelegenheit geben, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Mit der Volksabstimmung in der Schweiz hat die FDP
nun endlich den Anlass gefunden, den noch jungen
Stammzellkompromiss infrage zu stellen. Dabei verkennen Sie allerdings die Relevanz der Schweizer Abstimmung; denn durch die Abstimmung haben sich die
Argumente für und gegen die verbrauchende Embryonenforschung überhaupt nicht geändert.
({1})
Weder sehen wir einen Bedarf nach Novellierung noch
wäre eine Novellierung des Stammzellgesetzes sinnvoll.
({2})
Bundeskanzler Schröder und Minister Clement haben
sich mit ihrer eigenen Forderung in Widerspruch zum
Stammzellbericht der eigenen Bundesregierung gestellt.
Denn im Bericht der Bundesregierung heißt es wörtlich
- ich zitiere -:
Die aufgrund des Stammzellgesetzes verfügbaren
humanen embryonalen Stammzellen, die vor dem
Stichtag 1. Januar 2002 gewonnen worden sein
müssen, sind für die derzeitige Grundlagenforschung ausreichend geeignet.
Die rechtlichen Bedingungen sind also in Deutschland
ausreichend, können wir feststellen.
({3})
Es stellt sich also die Frage, warum sich Schröder und
Clement so schwer tun, diesen Beschluss des Bundestages zu akzeptieren. Es scheint eher so, als dienten die
Regelungen des Stammzellgesetzes der Regierung als
Sündenbock. Sie sollen hier ein Alibi für Fehlentwicklungen im Bereich der Forschung und für die Nachteile
des Biotechnologiestandortes Deutschland verschaffen.
Nicht etwa die rechtlichen Einschränkungen bei der humanen embryonalen Stammzellforschung, sondern eine
schlechte Forschungspolitik und unzureichende Finanzierung sind die wahren Ursachen der Schwächen des
deutschen Forschungsstandortes.
({4})
Für den Bereich der Stammzellforschung gilt eben
nicht das Gleiche, Frau Flach, wie für andere Technologien. Es handelt sich hier eben nicht um eine reine Wirtschaftsdebatte oder eine reine Wettbewerbsdebatte.
Meine Damen und Herren von der FDP, bevor wir über
Wirtschaftswachstum und Wettbewerb reden,
({5})
sollten wir uns erst einmal darüber verständigen, inwiefern sich dieser auch ethisch vertreten lässt.
({6})
Ich füge hinzu, dass wir auch nicht aus vermeintlich
wirtschaftlichen Gründen übersehen dürfen, welchen
großen politischen Wert der Stammzellkompromiss für
die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland gehabt hat.
({7})
Weiterhin gilt, was Grundlage der Entscheidung des
Bundestages gewesen ist: Die Zerstörung eines Embryos
zur Herstellung von embryonalen Stammzellen verstößt
gegen die Menschenwürde des Embryos und dessen
Recht auf Leben.
({8})
- Frau Flach, da bin ich nicht alleine. Das war nämlich
die Mehrheitsmeinung des Deutschen Bundestages.
({9})
Diese ethische und verfassungsrechtliche Bewertung
hängt auch nicht von der Entwicklung der Gesetzgebung
in unseren Nachbarländern ab.
Für die embryonale Stammzellforschung werden etliche Heilversprechen ins Feld geführt. Keines hat sich
bisher konkretisiert.
({10})
Greifbare positive Ergebnisse mit Therapien sind bislang
nicht im Bereich der embryonalen Stammzellen erzielt
worden; allerdings gibt es interessante Ansätze im Bereich der adulten Stammzellen. Ich will hier nur die Erfolge von Bodo Strauer in Düsseldorf erwähnen, der mit
adulten Stammzellen Herzinfarktpatienten hat helfen
können. Wir brauchen eine verstärkte Förderung in diesem Bereich der ethisch unproblematischen Forschung.
Ferner zeichnen sich unter Umständen Möglichkeiten
ab, embryonale Stammzellen ohne die Zerstörung von
Embryos zu gewinnen. Der Neurophysiologe Professor
Hescheler verfolgt zurzeit diese Idee, bei der Stammzellen aus einer Blastozyste entfernt und gewonnen werden
können, ohne dass die Blastozyste und der Embryo zerstört werden. Ich finde es geradezu alarmierend, dass er
für diesen interessanten, zukunftsweisenden Ansatz trotz
zermürbender Suche keine finanzielle Unterstützung gefunden hat, und zwar weder bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft noch im Förderprogramm des Bildungs- und Forschungsministeriums. Dies muss uns zu
denken geben, wenn es uns gemeinsam darum geht, wie
auf nicht umstrittenen Wegen neue Stammzelllinien gewonnen werden können.
Wir sollten nicht voreilig unsere grundlegenden Überlegungen über Bord werfen
({11})
und uns in Fragen der Menschenwürde und des Lebensschutzes von anderen Ländern in unseren anerkannten,
überlegten ethischen Standards relativieren lassen.
({12})
Unser nach intensiver Diskussion in diesem Hause gefundener Kompromiss ist tragfähig, er beruht auf einer
ernsten Debatte und er hat auch eine friedensstiftende
Wirkung in Deutschland gehabt. Diesen Kompromiss
nach so kurzer Zeit anzugreifen, wie Sie das tun, erscheint mir weder nötig noch sinnvoll.
({13})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Menschenwürde ist ein Maßstab auch für die Forschungsfreiheit.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Bischof Huber, hat sehr klug ergänzt:
Ein Gebrauch der Freiheit zur Forschung, der die
Menschenwürde selbst relativiert oder gar aushöhlt,
hebt sich selbst auf. Je exponierter Forschungen
sind, desto sorgfältiger ist das zu bedenken.
Ich denke, er hat mit dieser Bemerkung Recht.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Das Ergebnis des Schweizer Volksentscheides zur verbrauchenden Embryonenforschung ist
tatsächlich sehr bemerkenswert. Immerhin hat sich die
Mehrheit eines Volkes, welches als konservativ und an
christlichen Grundwerten orientiert gilt, für den Verbrauch von überzähligen humanen Embryonen zu Forschungszwecken ausgesprochen. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass dies nur mit dem Töten dieser
Embryonen möglich ist. Damit ist ein wichtiger Grundsatz der christlichen Ethik - der Schutz des Lebens auch
von Embryonen und der Menschenwürde der Embryonen - verletzt.
Triebfeder der Volksentscheidung ist die Heilserwartung, die viele Menschen in der embryonalen Stammzellforschung sehen.
({0})
Es wird immer wieder angeführt, dass man alles unternehmen müsse, um die Menschen von Geißeln wie Alzheimer, multipler Sklerose und anderen bisher unheilbaren Krankheiten zu befreien. Dies ist ohne Zweifel ein
wichtiges Ziel der Forschung, das nicht ernsthaft infrage
gestellt werden kann.
({1})
Dennoch ist eine nähere Betrachtung notwendig,
meine Damen und Herren von der FDP. Ich möchte in
diesem Zusammenhang drei entscheidende Fragen stellen.
Erstens: Sind die Heilsversprechungen in der embryonalen Stammzellforschung wirklich haltbar und realistisch?
({2})
Zweitens: Gibt es nicht auch Alternativen, die eine
ähnliche Heilserwartung versprechen, ohne die ethischen Grundsätze infrage zu stellen?
Drittens: Gibt es gar vernachlässigte Krankheitsbereiche, die eine stärkere Forschungsunterstützung benötigen, aber keine oder keine angemessene Unterstützung
bekommen, weil zum Beispiel das kommerzielle Interesse daran fehlt?
({3})
Die Beantwortung aller drei Fragen führt mich zu der
Erkenntnis, dass die Forschung an Stammzellen aus humanen Embryonen nicht notwendig ist und daher die
Menschenwürde von Embryonen nicht der Forschungsfreiheit geopfert werden muss.
({4})
Zur ersten Frage: Neuere Erkenntnisse gerade aus den
jüngeren Kongressen von Alzheimerforschern belegen
immer deutlicher, dass die Heilserwartung nicht belegbar ist. Immer mehr Forscher sehen in einer Stammzelltherapie keine oder nur geringe Heilungsmöglichkeiten.
Trotz großer Forschungsanstrengungen in den letzten
Jahren gibt es praktisch keine positiven Forschungsergebnisse.
({5})
Es gehört auch zu einer verantwortungsvollen Politik,
keine unrealistischen Heilserwartungen bei Kranken zu
wecken. Denn auch dies ist in ethischer Hinsicht verwerflich.
Zur zweiten Frage: Mit adulten Stammzellen oder mit
Stammzellen aus Nabelschnurblut gibt es Alternativen
zu embryonalen Stammzellen. Mein Kollege Reinhard
Loske hat einige Beispiele genannt; ich könnte die Liste
der Beispiele noch weiter fortführen, etwa mit adulten
Stammzellen zur Bekämpfung von Blasenschwäche
- das sind große Erkenntnisse - oder mit der Gewinnung
von Stammzellen aus der Bauchspeicheldrüse. Es gibt
eine beachtenswerte Liste von Erfolgen, die mindestens
ähnliche Potenziale erwarten lassen wie die embryonale
Stammzellforschung, aber ohne die damit verbundenen
ethischen Probleme.
Zur dritten Frage: Es gibt eine große Anzahl von
Krankheiten, für die es weltweit nur wenige wirksame
Medikamente gibt. Dennoch gibt es kaum Forschungsanstrengungen der öffentlichen Hand oder der privaten
Wirtschaft, obwohl Millionen von Menschen darunter
leiden. Ein Beispiel ist die Schlafkrankheit, die 60 Millionen Menschen südlich der Sahara bedroht und für die
es bis heute kein wirksames Heilmittel gibt. Zu diesen
vernachlässigten Krankheiten gehören auch die ChagasKrankheit oder die Leishmaniose. Das alles sind Krankheiten, die Millionen von Menschen leiden und sterben
lassen.
Bei diesen vernachlässigten Krankheiten gibt es ein
offensichtliches Marktversagen. Es gibt nur wenige Politiker, die sich darum kümmern. Es gibt weltweit keine
nennenswerten Forschungsmittel dafür
({6})
und es gibt schon gar keine Pharmakonzerne, die sich
ernsthaft darum bemühen.
Auch bei diesen Krankheiten gibt es das Argument
der Heilserwartung. Aber da sie in den ärmsten Weltregionen auftreten, werden kaum Geschäfte durch den
Verkauf von Medikamenten gegen diese Krankheiten erwartet. Dieser bedauerliche Zustand wirft ein besonderes
Licht auf die Heilserwartung bei der Stammzellforschung aus humanen embryonalen Stammzellen. Offensichtlich ist hier neben der Heilserwartung die kommerzielle Gewinnerwartung eine wichtige Triebfeder.
({7})
Ich stimme Herrn Rachel zu: Die Stammzelldebatte
darf keine reine Wirtschaftsdebatte sein. Wir sollten die
Forschung in der Medizin viel stärker an den Krankheiten der gesamten Menschheit und weniger an Medikamenten ausrichten, die nur von einem ganz kleinen Teil
der Menschen bezahlt werden können. Jedenfalls sollten
wir Medikamentenforschung viel stärker an solchen Kriterien ausrichten. Ethische Probleme wie zum Beispiel
der Schutz der Menschenwürde von Embryonen sind
dann nicht berührt. Das deutsche Stammzellgesetz lässt
hier ausreichend Forschung zu. Eine Aufgabe des Embryonenschutzgesetzes ist nicht notwendig.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Lensing von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In meinem ständigen objektiven Bemühen, einer
Person oder einer Sache gerecht zu werden, habe ich wenig Anlass, Ihnen, Herr Kollege Fell, uneingeschränkt
beizupflichten. Es tut mir ein bisschen Leid für Sie, aber
heute bin ich ganz auf Ihrer Seite.
({0})
Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung unseres Nachbarn Schweiz und dessen ehrwürdiger Demokratie. Aber ich meine, dass sich die Schweizer mit ihrem aktuellen Votum auf Dauer keinen ausreichenden
Gefallen getan haben dürften. Offensichtlich bildet die
Zulassung der nunmehr wenig eingeschränkten Forschung mit embryonalen Stammzellen eine weitere
Etappe bei der Verschiebung ethischer Wertmaßstäbe und dies nicht in Richtung Fortschritt.
({1})
Die Schweizer Regelung mit all ihren Auswirkungen
- bis hin zum therapeutischen Klonen - findet bei mir
keine Zustimmung, ebenso nicht in diesem Zusammenhang das 7. Europäische Forschungsrahmenprogramm.
Mit dem Verzicht auf eine Stichtagsregelung in der
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen wird
ein erster Anreiz - man muss es nach wie vor so sagen
dürfen - für die Tötung von Embryonen zum Zwecke
der Stammzellherstellung geschaffen. Bei aller Bereitschaft, sich zu öffnen, kann ich hierin keinen Fortschritt
erkennen.
({2})
Das alles dient nur der Versachlichung und Verzweckung
des Menschen.
Überragend scheint nun das Nützlichkeitsdenken zu
sein. Der Kollege Rachel hat wiederholt und zu Recht
auf die Missachtung des Lebensrechts und der Menschenwürde hingewiesen. Wenn die Basis für gegebenenfalls gute Taten fehlt, dann fehlt die eigentlich tragende Grundlage. Deswegen empfinde ich das Ergebnis
des Schweizer Volksentscheids als einen Tabubruch.
Nun wird von einigen Kritikern am deutschen
Stammzellgesetz vom 25. April 2002 kurzerhand behauptet, eine fehlende Öffnung in der Stammzellforschung treibe viele Wissenschaftler ins Ausland. Frau
Flach, auch Sie haben das behauptet.
({3})
Aber das stimmt nicht. Ich könnte Ihnen aufzählen, wer
alles unter anderem unter Einsatz von Frau Böhmer wieder den Weg zu uns, zum Beispiel nach Münster, in die
Kulturstätte des Münsterlandes, gefunden hat.
({4})
In Deutschland ist der Mensch in der Petrischale geschützter als im Mutterleib - darauf haben wir oft hingewiesen; wir alle wissen das -, was dazu führt, dass es
hier Hunderttausende Abtreibungen gibt. Dazu möchte
ich anmerken - ich nehme das auf meine Kappe -: Wenn
man sich hier große Gedanken über den Beginn und das
Werden des Lebens - ich möchte hinzufügen: damit
auch über das Ende des Lebens - macht, dann darf man
dabei die Abtreibungen nicht vergessen, nur weil der
Gedanke daran unbequem ist.
({5})
Planungssicherheit in der Forschungsförderung
würde uns helfen. Fokussierung auf die Genom- und
Proteinforschung würde uns dienen, diverse erweiterte
Möglichkeiten zur Einwerbung von privatem Kapital
ebenfalls. Ich erhoffe mir, dass wir alle, egal wo wir jetzt
stehen, für die Forschung Freiheit fordern und dass die
Patienten ihren berechtigten Anspruch auf medizinische
Versorgung behalten. Außerdem erhoffe ich mir, dass
wir immer die Bereitschaft zeigen, zu sagen: Wir sind
für neue Entwicklungen offen. Auch wenn ich sehr für
die Stichtagsregelung bin: Wir dürfen nicht nur verharren. Das meine ich sehr ernst.
Gerade wenn wir im Hinblick auf die Stichtagsregelung etwas tun müssen - vielleicht im Jahre 2005 oder
2006 -, dann erwarte ich, dass die Wissenschaftler, auch
die deutschen, zuvor entsprechende Appelle und Begründungen formulieren. Zum jetzigen Zeitpunkt liegen
sie allerdings nicht vor. Das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man meint, den Fortschritt auf seine Fahnen
geschrieben zu haben.
Ein letzter Gedanke. Eines muss ich uns allen zum
jetzigen Zeitpunkt mit auf den Weg geben: Das bestehende Moratorium in der deutschen Stammzellforschung
reicht verantwortbar aus. Ohne einen triftigen Grund zu
haben, sollen und dürfen wir am Status quo unseres
Stammzellgesetzes nicht rütteln, zumal es auf einer parlamentarischen Entscheidung basiert, die von einem beispielhaften Niveau einschließlich aller ethischen Verantwortbarkeit in diesem Hause geprägt war.
Vielen Dank.
({6})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Wochenende haben sich 36 Prozent der wahlberechtigten
Schweizer an einer Abstimmung beteiligt. 66 Prozent
dieser Wahlberechtigten haben einer Vorlage für ein
neues Stammzellforschungsgesetz zugestimmt. Nach
diesem Gesetz ist es möglich, an menschlichen embryonalen Stammzellen zu forschen sowie Stammzellen aus
überzähligen Embryonen zu gewinnen, allerdings unter
sehr strengen Voraussetzungen.
Eine ähnliche Regelung hat sich Frankreich gegeben.
Wenn man sich die Europakarte vor Augen führt, sieht
man, dass wir in Europa sehr verschiedene Regelungen
zu dieser sehr komplizierten Frage haben. Auch die Behandlung dieses Themas im 6. Europäischen Forschungsrahmenprogramm zeigt, dass wir in Europa sehr
verschiedene ethische Beurteilungen der Frage haben,
ob man an embryonalen Stammzellen arbeiten sollte und
ob man Stammzellen dafür gewinnen darf.
Es gibt in Europa sehr unterschiedliche Auslegungen
und Regelungsansätze. Die Situation in Europa sieht so
aus, dass bioethische Fragen in erster Linie auf nationaler Ebene diskutiert und entschieden werden müssen.
Das haben wir mit dem vom Deutschen Bundestag im
April 2002 beschlossenen Stammzellgesetz getan.
Diesem Gesetz ist eine sehr intensive und sehr verantwortungsbewusste Debatte vorausgegangen, die nicht
nur hier im Deutschen Bundestag stattgefunden hat, sondern auch in der Wissenschaft, in der Gesellschaft und in
der Politik. Wir haben es uns mit diesem Thema - ich erinnere mich an diese Debatten noch sehr gut - wirklich
nicht leicht gemacht. Die Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages und der Nationale Ethikrat haben sich damit befasst. Ihre in der Tendenz gegenläufigen Aussagen und auch der Diskussionsverlauf selbst
bei den Debatten im Bundestag zeigen, dass es selbst auf
nationaler Ebene sehr mühsam gewesen ist, zu einer Lösung zu kommen.
Dennoch ist gerade unser Stammzellgesetz ein, wie
ich finde, gelungenes Beispiel dafür, dass Politik auch in
ethischen Grenzfragen geeignete Lösungen entwickeln
kann, die einerseits gegenläufige moralische Bewertungen sowie die unterschiedlichen Interessen respektieren
und andererseits klare Regelungen schaffen, durch die
sichergestellt wird, dass dieses wichtige Forschungsgebiet in Deutschland weiterhin bearbeitet werden kann.
({0})
- Der Deutsche Bundestag hat anders entschieden.
Das Gesetz trägt den ethischen Bedenken Rechnung.
Es gewährleistet die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen in Deutschland. Es gewährleistet
auch, dass kein weiterer Embryonenverbrauch zur
Stammzellgewinnung veranlasst wird. Damit ergänzt
dieses Gesetz das Embryonenschutzgesetz.
Der Erste Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu
dem Gesetz, der im Juli dieses Jahres vorgelegt wurde,
ist schon angesprochen worden. Dieser Erfahrungsbericht zeigt: Die Regelungen haben sich im Grunde bewährt. Die eröffneten Möglichkeiten sind von der Forschung angenommen worden. Deutsche Forscher arbeiten mit diesen Stammzellen.
({1})
Vom Robert Koch-Institut wurden bisher sieben Anträge
genehmigt. Durch die Forschung werden gegenwärtig
sowohl mit embryonalen wie auch mit adulten Stammzellen neue Erkenntnisse gewonnen.
Wir werden uns in Europa weiterhin dafür einsetzen,
dass ein dauerhaft tragfähiger rechtlicher Wertekanon
entwickelt werden kann, der es auch im europäischen
Raum ermöglicht, zu mehr Gemeinsamkeiten und Standards zu kommen. Aus unserer Sicht ist eine Änderung
der geltenden nationalen Regelungen zum Umgang mit
Embryonen und menschlichen Stammzellen gegenwärtig nicht geboten.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Verabschiedung des Stammzellgesetzes hat die Mehrheit
meiner Fraktion gegen den Import embryonaler Stammzellen gestimmt. Wir befürchteten bereits damals, dass
mit der Zulassung des Imports von Stammzellen nach
Deutschland die Diskussion nicht zu Ende sein würde.
Nach dem „Ersten Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Durchführung des Stammzellgesetzes“ ist
eine Diskussion über die Abschaffung der Stichtagsregelung völlig überflüssig. Dieser Bericht stellt klar, dass
das Gesetz die Forschung nicht behindert.
Die ethische Problematik der Verwendung humaner
embryonaler Stammzellen - Frau Böhmer und andere
haben das schon angesprochen - gilt unverändert. Die
Verschmelzung von Samen- und Eizelle ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein neuer Mensch entsteht. Die Existenz jedes geborenen Kindes geht darauf
zurück. Die Reproduktionsmedizin macht sich dieses
Faktum bei der IVF zunutze. Die befruchtete Eizelle in
ihrem frühesten Stadium hat eine enorme Potenz der
Entwicklung bis hin zu einem erwachsenen Menschen
mit einer Lebenserwartung von durchschnittlich
75 Jahren. Der Staat ist zum Schutz und zur Förderung
allen menschlichen Lebens verpflichtet - vom frühesten
Beginn bis zu seinem Ende. Vor diesem Hintergrund
muss die Politik die Rahmenbedingungen für die Entwicklung in der Forschung und deren Anwendung setzen.
Die Menschenwürde steht nicht zur Disposition. Sie
ist ein universelles Prinzip. Deshalb müssen die Würde
und der Schutz des Menschen höher stehen als die Interessen von Forschung und Wirtschaft.
({0})
Die Unverfügbarkeit des Lebens lässt nicht zu, dass Embryonen zu Forschungszwecken zerstört werden.
Mit der Forschung an embryonalen Stammzellen wird
die Hoffnung verbunden, bisher unheilbare Krankheiten
therapieren zu können. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass Forscher mit den ethisch unbedenklichen adulten Stammzellen sehr beachtliche Erfolge erzielen können. Erst Ende Oktober haben deutsche
Forscher bei einem Symposium in Bern Verfahren der
Gewinnung und Anwendung adulter Stammzellen vorgestellt, welche erstaunliche Verbesserungen der Herzleistung oder der Leberregeneration bringen.
Adulte Stammzellen werden heute meist aus dem
Knochenmark der Patienten gewonnen, bei denen die
Anwendung geplant ist. Sie sind im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen nicht nur ethisch unbedenklich;
({1})
bei der Anwendung treten auch keine Abstoßreaktionen
auf, wie dies bei embryonalen Stammzellen der Fall ist.
Daher wird der Patient von einer lebenslänglichen Medikamenteneinnahme verschont.
Erhebliche Bedenken gegen die Anwendung humaner
embryonaler Stammzellen werden in einer neuen Studie
des Kölner Max-Planck-Institutes für neurologische Forschung und der Universität Köln geäußert. Im Tierversuch wurde in 75 bis 100 Prozent der Fälle die Bildung
bösartiger Tumore beobachtet,
({2})
wenn embryonale Stammzellen der Maus oder daraus
abgeleitete Vorläuferzellen in Mäuse transplantiert wurden. Sämtliche heute vorweisbaren Therapieerfolge
beim Menschen sind auf die ethisch unbedenklichen
adulten Stammzellen zurückzuführen. Deutsche Forscher haben daran einen herausragenden Anteil.
({3})
Daher müssen wir die Forschung und Therapie mit adulten Stammzellen ausbauen.
Der Druck, der von interessierter Seite immer wieder
aufgebaut wird, um eine Abschaffung der Stichtagsregelung im Stammzellgesetz von 2002 zu erreichen, ist unnötig und geht an den Tatsachen vorbei. Deutsche
Stammzellforscher befinden sich heute im internationalen Spitzenfeld.
({4})
Ich habe hohen Respekt vor der Leistung der Forscher.
Die Würde des Menschen ist jedoch nicht relativierbar. Deshalb müssen wir auch hohe ethische Maßstäbe
für Medizin und wissenschaftliche Forschung setzen.
({5})
Die unbedingte Achtung vor jedem menschlichen Leben
muss Maßstab für unser Tun sein.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es passt
sehr gut, dass wir heute Morgen schon sehr viel über Kultur und Werte diskutiert haben. In seinem Stück „Der Besuch der alten Dame“ zeigt uns der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt eine reiche Frau, die nach
Jahrzehnten in ihr Heimatdorf Güllen zurückkehrt, um
sich an ihrem früheren Geliebten Alfred Ill zu rächen. Sie
bietet den Bewohnern des Dorfes sehr viel Geld an, wenn
sie ihn töten. Zunächst lehnen die Dorfbewohner dies natürlich im Namen von Menschlichkeit und Christentum
entrüstet ab. Nach und nach aber sieht man, dass sie alle
diese sündhaft teuren gelben Schuhe tragen, die sich eigentlich keiner von ihnen leisten kann, und am Ende wird
Alfred Ill von ihnen gemeinschaftlich ermordet.
Der Philosoph Robert Spaemann hat diese Schweizer
Parabel, die von der Verführungskraft von Hoffnungen
und Wünschen handelt, vor einiger Zeit auf das Thema
verbrauchende Embryonenforschung übertragen. Ich zitiere ihn deshalb. Spaemann sagt:
… mit der Zeit fangen sie an, zu überlegen: Was
kostet es uns, diesen Menschen am Leben zu lassen,
wie viele Millionen? … Und in dem Augenblick,
wo sie diese Frage stellen, was kostet es uns, den
Menschen am Leben zu lassen, ist im Grunde die
Korruption geschehen und die Würfel sind gefallen.
Denn in Wahrheit kostet es sie gar nichts, diesen
Menschen am Leben zu lassen. Nur, der Tod
brächte ihnen etwas, und sie verrechnen den entgangenen Gewinn als Verlust. Und so ist es auch
hier. Wenn wir davon ausgehen, dass bestimmte
Mittel uns nicht zur Disposition stehen, dann kann
ein noch so großer therapeutischer Gewinn daran
nichts ändern.
({0})
Wenn man aber einmal vor Augen führt, all die
Menschen, denen geholfen wird, und dann wird
man gefragt: Ja und dieser winzige Embryo, das ist
dir mehr wert als all diese Scharen von geheilten
Menschen? - dann ist die Korruption passiert.
Die Schweiz hat also am vergangenen Sonntag die
„gelben Schuhe“ angezogen.
({1})
Den Schweizern wurde, wie uns damals auch, Hoffnung
auf Heilung von schweren Krankheiten gemacht. Der
Preis für diesen möglichen Nutzen sei gar nicht so hoch,
denn überzählige Embryonen müssten ohnehin sterben
und deshalb solle es doch erlaubt sein, sie zu töten,
({2})
um aus ihnen Chancen für die Medizin und vielleicht
Chancen für Kranke zu gewinnen. Genau das haben wir
von Ihnen heute immer wieder gehört. Mit einer extra
dafür entwickelten Ethik des Heilens wurde das Töten
menschlichen Lebens als angemessener Preis für den
medizinischen Fortschritt eingefordert. Für die FDP ist
das erneut ein willkommener Anlass, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Debatte vom Zaun zu brechen, die wir in diesem Haus bereits vor rund drei Jahren
intensiv und auf höchstem Niveau geführt haben.
({3})
Ich weiß natürlich, dass das Ergebnis, zu dem die damalige Debatte führte, ein schwieriger Kompromiss war,
der einigen zu weit und anderen nicht weit genug ging.
Wir können mit diesem Kompromiss hingegen auch in
der deutschen Forschung sehr gut auskommen - das haben wir heute gehört ({4})
und sehen keinen Grund für eine Revision des Stammzellgesetzes.
({5})
Die FDP hat offenbar die Wertefrage für sich entschieden.
({6})
Sie ist bereit, am Lebensanfang und am Lebensende
({7})
menschliches Leben aus Nützlichkeitserwägungen bzw.
aus zivilrechtlichen Erwägungen zur Disposition zu stellen.
({8})
Man darf aber die Frage stellen, was das alles mit der
Entscheidung in der Schweiz zu tun haben soll. Die Antwort darauf ist zum Glück wieder ganz einfach. Sie lautet: gar nichts. An den grundsätzlichen Argumenten für
und wider ändert sich nämlich durch die Entscheidung,
die in der Schweiz getroffen wurde, nicht das Geringste.
Das scheint man aber in der FDP anders zu sehen und
ich frage mich schon: Was für eine ethische Position
steht eigentlich dahinter? „Die anderen machen das doch
auch“ ist jedenfalls kein guter und schon gar kein ethischer Grund, auch dafür zu sein.
({9})
Schauen wir uns doch Beispiele für das an, was in anderen Ländern alles gemacht wird. In Belgien ist beispielsweise seit kurzem die so genannte aktive Sterbehilfe auch in Fällen von Depression erlaubt.
({10})
Sie können dort also von einem Arzt verlangen, dass er
Sie tötet, weil Sie in Ihrer Depression keinen anderen
Ausweg sehen. Müssen wir das jetzt in Deutschland
ebenfalls zulassen, nur weil die Belgier es zulassen?
({11})
Beispielsweise erlaubt Großbritannien schon seit einiger
Zeit das Klonen von menschlichen Embryonen.
({12})
Müssen wir das jetzt in Deutschland zulassen, nur weil
es in England erlaubt ist? Oder nehmen wir die Schweiz
selbst: Dort ist seit einigen Jahren der ärztlich assistierte
Suizid geduldete Praxis. Müssen wir ihn deshalb auch in
Deutschland erlauben?
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich zum Abschluss bemerken: Wenn es um die verbrauchende Embryonenforschung geht, sind wir alle Bewohner von Güllen. Trotzdem und gerade deswegen
sollte für uns gelten: Nur weil andere gelbe Schuhe anziehen, müssen wir das noch lange nicht tun.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Fell hat mehrmals von der Menschenwürde der Embryonen, auch der überzähligen, gesprochen. Ich finde
diesen Ausdruck gespenstisch angesichts der Tatsache,
dass in Deutschland behinderte Föten, die außerhalb des
Mutterleibs bereits lebensfähig sind, straffrei getötet
werden können. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass
vonseiten der Koalition etwas dagegen getan wird.
({0})
Anlass für die heutige Debatte ist das Ergebnis der
Volksabstimmung in der Schweiz. Der Deutsche Bundestag hat bereits eine Entscheidung zur Stammzellforschung getroffen. Der Kompromiss, dem ich damals zugestimmt habe, erweist sich zunehmend als Hemmnis
für die deutsche Forschung.
({1})
Er schließt nämlich die deutsche Forschung von neuen
Entwicklungen aus.
Seit der Debatte vor drei Jahren hat sich vieles getan;
das ist von den Rednern der FDP bereits gesagt worden.
Ich möchte zu gegensätzlichen Meinungen, die es zur
Forschung an embryonalen und an adulten Stammzellen
gibt, einige Sätze sagen. Die Forschung an embryonalen
und an adulten Stammzellen sind zwei völlig verschiedene Dinge mit unterschiedlichen Zielen. Die Forschung
an embryonalen Stammzellen dient der Grundlagenforschung. Bei der Grundlagenforschung ist das Ergebnis
offen; wenn ein Ergebnis erzielt wurde, ist die Grundlagenforschung eigentlich überflüssig. Deshalb ist die Forderung, die Forschung müsse zu einem Ergebnis führen,
nicht gerechtfertigt.
({2})
Ich finde, es ist auch nicht unethisch, für Menschen
vorzusorgen, die erst in 20 oder 50 Jahren erkranken.
({3})
Es hat sich bestätigt: Embryonale Stammzellen des Menschen haben eine außergewöhnliche Bedeutung für die
Grundlagenforschung.
({4})
Deutsche Forscher dürfen von dieser Entwicklung nicht
ausgeschlossen oder in die zweite Reihe verwiesen werden, was gegenwärtig leider der Fall ist.
({5})
Dr. Martin Mayer ({6})
Deshalb ist es notwendig, dass wir die Debatte der Jahre
2001 und 2002 wieder aufnehmen. Dabei darf es in den
Fraktionen im Vorfeld keine Festlegungen über das Abstimmungsverhalten geben. Ich weiß, dass ich in meiner
Fraktion hier eher eine Minderheitenposition vertrete,
aber ich halte die Debatte für notwendig.
({7})
Dabei müssen wir auch Grundsatzfragen nachgehen.
Ich möchte allen Gegnern der Forschung an embryonalen Stammzellen des Menschen die Frage stellen: Wollen Sie der Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Israel,
Schweden und anderen Staaten ethisch begründetes, verantwortliches Handeln absprechen,
({8})
nur weil diese Länder bei der Stammzellforschung eine
forschungsfreundlichere Regelung haben als wir in
Deutschland?
({9})
Vor solchem Hochmut sollten wir uns hüten.
({10})
Bei der Entscheidung über die Forschung an Embryonen geht es im Grundsatz um den Status von so genannten überzähligen oder verwaisten Embryonen. Das sind
befruchtete Eizellen aus der Zeugung im Reagenzglas,
bei denen absolut keine Chance besteht, dass sie jemals
in den Mutterleib eingepflanzt werden. Sie haben damit
nie die Chance, ein Mensch zu werden, und müssen deshalb, wenn sie aufgetaut werden, absterben.
({11})
Die Gegner der Forschung an diesen Embryonen stützen ihre Ablehnung im Wesentlichen auf die falsche Ansicht, die befruchtete Eizelle sei bereits ein Mensch. Dies
ist nicht so.
({12})
Richtig ist: Die befruchtete Eizelle kann nur unter der
Voraussetzung ein Mensch werden, dass sie sich in die
Gebärmutter einnistet.
({13})
Deshalb muss sie auch, solange diese Chance besteht,
wie ein Mensch geschützt werden. Kann sie allerdings
kein Mensch mehr werden,
({14})
kann für sie nicht der gleiche uneingeschränkte Schutz
gelten. Dann muss dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und dem Interesse der lebenden Menschen innerhalb
bestimmter, vom Grundgesetz garantierter Grenzen der
Vorrang eingeräumt werden.
Ich wiederhole: Solange auch nur die geringste konkrete Aussicht besteht, dass aus einer Eizelle ein Mensch
entsteht, muss sie geschützt werden wie ein Mensch. Die
befruchtete Eizelle selbst ist jedoch noch kein Mensch,
wie das Ei keine Henne ist. Es gibt keine nachvollziehbare Argumentation, die das Gegenteil untermauern
würde. Auch die Debatte hier hat keine neuen Gesichtspunkte gebracht. Unsere Entscheidungen aber können
doch nur auf nachvollziehbaren Argumenten beruhen
und nicht auf unverständlichen philosophischen Überlegungen, mit denen krampfhaft versucht wird, etwas zu
beweisen, was nicht der Wirklichkeit entspricht.
({15})
Nach der Abstimmung in der Schweiz hat der Journalist Mattias Kamann in der Zeitung „Die Welt“ Folgendes geschrieben: Die Bioethikdebatte, in die Deutschland vor Jahren verfiel, erscheint „wie ein Rausch
fundamentaler Erregungen, nach dessen Ende sich die
Frage stellt, ob man es nicht noch einmal mit nüchternem Kopf versuchen sollte“. Ich werbe sehr für diesen
Vorschlag.
({16})
Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde hat die
Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
vielen Berichten über die Entscheidung in der Schweiz
stand die Formulierung: Nach langem politischem Ringen ist ein Stammzellforschungsgesetz in der Schweiz
verabschiedet worden. - Diese Formulierung erinnert
- wie ich finde, zu Recht - an die Diskussionen, die wir
hier vor zweieinhalb Jahren über die Gesetzgebung in
diesem Bereich hatten. Weil diese Debatte eine, wie Sie
sich vielleicht erinnern, sehr hochrangige, niveauvolle
Debatte war, die über die Fraktionsgrenzen hinweg geführt worden ist, bitte ich darum, dass das Niveau in dieser Diskussion erhalten bleibt.
({0})
Frau Flach, deshalb verbietet sich für mich ein Zwischenruf wie der, den Sie gerade bei einem der Redner
aus meiner Fraktion gemacht haben: Wir wollen Menschen heilen und Sie nicht. Ich bitte Sie wirklich, so etwas nicht mehr zu formulieren,
({1})
weil das dem notwendigen Niveau dieser Debatte nicht
angemessen ist.
({2})
Ich sage Ihnen ausdrücklich, dass ich es für richtig
halte, dass es in solchen ethischen Fragen unterschiedliche Bewertungen und Meinungen der einzelnen Menschen und Abgeordneten geben kann und muss.
Aber es verbietet sich, denjenigen, die aus Gewissensgründen eine andere Meinung haben, vorzuwerfen,
sie würden Forschung verhindern. Denn die Regelung,
die wir gefunden haben, ermöglicht die Grundlagenforschung in Deutschland. Ich möchte Sie wirklich bitten,
dass wir anders miteinander umgehen. Alles andere wäre
Polemik, die absolut nicht angebracht ist.
({3})
Das Recht der Forscher auf Forschungsfreiheit darf
nicht ausgehebelt werden. Mit unserer Entscheidung ist
es auch nicht ausgehebelt worden. Damals haben wir abgewogen zwischen den Möglichkeiten, die die Forschung haben muss, und den ethischen Ansprüchen, die
wir formuliert haben. Zu diesen Ansprüchen sollten wir
weiterhin stehen.
({4})
Wir sollten einmal schauen, was die Überprüfungen
in diesem Bereich ergeben haben. Sie wissen, dass dieses Gesetz von der deutschen Wissenschaft angenommen worden ist. Es ist schon mehrfach angesprochen
worden, dass mehrere Forschungsanträge innerhalb der
gesetzten Fristen genehmigt worden sind.
({5})
Die ersten Erfahrungen zeigen, dass sich das Stammzellengesetz, das wir beschlossen haben, bewährt hat. Ich
halte es für absolut notwendig, die Ergebnisse von solchen Evaluierungen ernst zu nehmen und nicht einfach
beiseite zu schieben.
({6})
Ich will noch einmal ausdrücklich betonen, dass wir
im Moment keinen Grund sehen, neue Regelungen zu
treffen. Diese würden auch nur zu Verunsicherungen im
Forschungsbereich führen.
({7})
Da wir erst vor zweieinhalb Jahren klare und eindeutige
Regelungen getroffen haben, macht es keinen Sinn, im
Forschungs- und Wissenschaftsbereich Änderungen auf
die Schnelle durchzuführen. Dies halten wir, wie gesagt,
nicht für sinnvoll. Wir sollten uns gemeinsam vornehmen, in jedem dieser Fälle zwischen den berechtigten Interessen der Forscherinnen und Forscher und der ethischen Verpflichtung der Politik abzuwägen. Daran
sollten wir uns immer halten.
Vielen Dank.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Schaaf, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jutta Dümpe-Krüger, Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({0}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der Freiwilligendienste - Ausbau der
Jugendfreiwilligendienste und der generationsübergreifenden Freiwilligendienste als zivilgesellschaftlicher Generationenvertrag für
Deutschland
- Drucksache 15/4395 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Haushaltsausschuss
Die Fraktionen haben sich auf eine Beratungszeit von
45 Minuten verständigt. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
Sonntag feiern wir den Internationalen Tag des Ehrenamtes. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, wollen das Ehrenamt, die ehrenamtliche Tätigkeit und das bürgerschaftliche Engagement aber nicht nur feiern, sondern
vor allem fördern. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir
heute den von der Koalition eingebrachten Antrag „Zukunft der Freiwilligendienste“ im Deutschen Bundestag
beraten.
Wir möchten diesen Antrag auch verstanden wissen
als Zeichen der Anerkennung und des Respekts für all
die Menschen, die sich in unserem Lande in Vereinen,
Verbänden, Selbsthilfegruppen und an vielen anderen
Stellen engagieren.
Im vorliegenden Antrag geht es um eine besondere
- und zwar um die einzige gesetzlich geregelte - Form
des Engagements: die Jugendfreiwilligendienste. Das
freiwillige soziale Jahr hat in diesem Jahr 40-jähriges Jubiläum, das freiwillige ökologische Jahr immerhin schon
10-jähriges Jubiläum. 300 000 junge Menschen haben
sich in dieser Zeit jeweils für ein Jahr engagiert. Entgegen der weitläufigen Auffassung, dass sich junge Menschen nicht engagieren wollen, steigen die Bewerberzahlen deutlich: Drei bis vier Bewerberinnen und Bewerber
gibt es für jeden der 15 500 Freiwilligendienstplätze.
Die Tätigkeitsfelder wurden 2002 erweitert und sind
nunmehr fast ebenso vielfältig wie die Interessen junger
Menschen. Ein Freiwilligendienst kann als ökologisches
oder soziales Jahr, als Jahr in der Kultur, im Sport wie
auch in der Denkmalpflege im In- und im Ausland abgeleistet werden.
Besonders auffällig ist der hohe prozentuale Anteil
junger Frauen, die bereit sind, sich freiwillig zu engagieren. Dies hat sicherlich zwei Aspekte. Einer ist: Wir
müssen gemeinsam darauf achten, dass Freiwilligkeit
nicht vornehmlich weiblich bleibt. Der zweite ist, sich
vor Augen zu führen, welche enormen Potenziale in Bezug auf Freiwilligkeit wir bei den jungen Menschen haben. Wir sollten sie nutzen und deutlich fördern.
Vor diesem Hintergrund ist es für mich nicht erklärlich, warum der eine oder andere eine allgemeine
Dienstpflicht fordert.
({0})
Auf der einen Seite wird die Dienstpflicht gefordert; auf
der anderen Seite gibt es viele jungen Menschen, die
sich freiwillig engagieren wollen und denen wir keinen
Platz zur Verfügung stellen können.
Mit dem vorliegenden Antrag machen wir uns trotz
der bekanntermaßen schwierigen Haushaltssituation auf
den Weg, mehr jungen Menschen ein Angebot zu machen. Das wird sicher nur Schritt für Schritt gehen. Aber
in diesem Antrag ist klar das Ziel beschrieben, das wir
erreichen wollen: 30 000 Plätze im Bereich der Jugendfreiwilligendienste. Die Träger haben angeboten, diese
Zahl an Plätzen bei entsprechender Förderung zur Verfügung zu stellen. Das ist, wie ich finde, ein dankenswertes
Angebot und auch realistisch. Aufgaben und damit Einsatzstellen gibt es genug.
Einen Teil des Antrags haben wir in diesem Jahr sozusagen haushaltstechnisch schon umgesetzt. Zur Errichtung von Modellprojekten zum Aufbau generationsübergreifender Freiwilligendienste stehen im Haushalt
des Familienministeriums 10 Millionen Euro bereit. Damit setzen wir eine Empfehlung der Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ um, die von der Bundesministerin Renate Schmidt im letzten Jahr eingesetzt
worden ist.
Der vorliegende Antrag ist ein Teil der Umsetzung
des Kommissionsberichtes. Denn im Bericht der Kommission heißt es, dass es unabhängig von den Fragen zur
Zukunft der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes
notwendig und richtig ist, Freiwilligendienste auszubauen. Das und nur das ist mit diesem Antrag gewollt.
Die Öffnung der Freiwilligendienste für Menschen aller Altersgruppen ist eine aktive, innovative Gesellschaftspolitik und angesichts der demographischen Entwicklung vernünftig und geboten. Deshalb müssen die
schon bestehenden Jugendfreiwilligendienste verstärkt
gefördert werden. Zudem ist es notwendig, neue Formen
generationsübergreifender Freiwilligendienste zu erproben. Dabei können Menschen Verantwortung übernehmen, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen, neue
Kompetenzen erwerben und sich persönlich wie beruflich orientieren.
Die Freiwilligendienste bieten Bildung und Orientierung und stellen zudem einen besonderen Lernort für
bürgerschaftliches Engagement dar. Viele ehemalige
Dienstleistende sind weiterhin freiwillig oder bürgerschaftlich tätig und können sich zu Multiplikatoren für
eine starke Zivilgesellschaft entwickeln.
Mittlerweile hat sich ein weit verzweigtes Netzwerk
zur Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements gebildet. Wir gewährleisten durch unsere Arbeit Kontinuität. Den Anfang machte die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“. Im
Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ setzt
sich die Arbeit der Enquete-Kommission fort. Zum anderen ist, unterstützt vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement eingerichtet worden. Das sind,
wie ich finde, deutliche Belege für unser politisches Engagement und für den Ausbau und die Stärkung der Engagementbereitschaft in unserer Gesellschaft.
Meist haben wir die Beschlüsse dazu fraktionsübergreifend beschlossen. Ich hoffe, dass es in den weiteren
Beratungen auch dieses Antrags gelingt, das bisherige
parteiübergreifende Interesse an einer Engagementförderung deutlich zu machen. Vielleicht steht am Ende ein
gemeinsamer Antrag.
Eine Kultur der Freiwilligkeit, eine selbstverständliche Freiwilligkeit, das ist das, was ich mir wünschen
würde. Sich freiwillig für das Gemeinwesen engagieren
zu wollen ist aus meiner Sicht allemal besser als die
Pflicht, sich zu engagieren.
({1})
Am Sonntag feiern wir den Internationalen Tag des
Ehrenamtes. Dies ist ein Tag zum Feiern und für die Koalition Anlass, unsere Ziele im Hinblick auf die Engagementförderung zu benennen. Ich möchte Sie auffordern
mitzumachen. Zeigen Sie mit uns gemeinsam Engagement für diejenigen, die sich engagieren wollen.
Danke schön.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir am
kommenden Sonntag den Internationalen Tag des Ehrenamtes feiern, Herr Kollege Schaaf, dann ist das ein guter
Anlass für diese Debatte. Wir sind uns völlig einig, dass
auch in dieser Debatte zunächst einmal ein Dank sowie
ein Wort der Anerkennung und des Respekts an all diejenigen, die sich in diesem Land als Freiwillige ehrenamtlich oder bürgerschaftlich engagieren, gerichtet werden
muss. Sie werden mir nachsehen, dass ich in diesen
Dank mit besonderer Herzlichkeit die 270 00 Mitglieder
des deutschen Kolpingwerks einschließe.
({0})
- Das ist schön.
Diese Männer und Frauen leisten einen wichtigen
Beitrag zum Gelingen unseres Gemeinwesens, und zwar
nicht so sehr deswegen, weil das, was sie tun, ansonsten
durch die öffentliche Hand finanziert werden müsste
- das ist nicht der wesentliche Punkt -, und auch nicht
nur deswegen, weil das, was sie in freiwilliger Tätigkeit
ausüben, möglicherweise eine Ergänzung oder Fortbildung dessen sein kann, was sie beruflich tun oder zu tun
gedenken, sondern deswegen, weil das, was sie ehrenamtlich und freiwillig tun, ein ganz wesentliches Moment für das Gelingen dieser Gesellschaft beschreibt,
nämlich dass jeder für den anderen und jede für die andere etwas tun muss. Insofern, Herr Kollege Schaaf, teilen wir den Ansatz, den Sie in Ihrem Antrag formulieren,
Freiwilligendienste generationsübergreifend zu organisieren, ausdrücklich. Wir nehmen Ihre Bereitschaft
gerne auf und signalisieren die unsrige, im Beratungsverfahren möglicherweise zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen, was dem Thema durchaus angemessen
wäre. Gestatten Sie mir allerdings, dass ich mich auch
mit einigen kritischen Bemerkungen an diesen Antrag
heranwage.
({1})
Erster Punkt. Herr Kollege Schaaf, Sie haben in Ihrer
Rede selbst die Frage der allgemeinen Wehrpflicht angesprochen. Es wäre natürlich hilfreich, wenn Sie, allein
um dem Verdacht zu entgehen, die Freiwilligendienste
als einen Ersatz des Wehrdienstes und des Zivildienstes
zu positionieren, vorab klären würden, wie die Koalition
zu dieser Frage steht. Ich habe von dieser Stelle aus immer kritisiert, dass sich Rot und Grün in dieser Frage
nicht einig sind. Jetzt haben wir insofern einen Fortschritt gemacht, als sich inzwischen auch die SPD in dieser Frage nicht mehr einig ist. Wir haben einen Bundesinnenminister, der sich relativ unverhohlen - ich erwähne dies, weil Sie das Thema angesprochen haben,
Herr Kollege Schaaf - für einen allgemeinen Pflichtdienst ausgesprochen hat. Wir haben eine Parlamentarische Staatssekretärin des gleichen Ministeriums, die öffentlich davon ausgeht und es auch wünscht, dass die
Wehrpflicht abgeschafft wird.
({2})
Wir haben aber gleichzeitig auch den Bundesminister
der Verteidigung und einen Verteidigungspolitiker Ihrer
Fraktion, nämlich Reinhold Robbe, die sich vehement
für einen Erhalt der allgemeinen Wehrpflicht aussprechen. Nun wäre mein Rat, dass Sie möglichst bald zu einer gemeinsamen Position finden - zunächst einmal als
SPD, aber auch als SPD-Bundestagsfraktion - und dies
nicht bis möglicherweise ins Jahr 2006 hinausschieben.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
({0})
Vom Kollegen Schaaf immer gerne.
Bitte schön.
In weiten Teilen stimmen wir ja überein, Herr
Dörflinger. Nur, würden Sie mir bitte bestätigen, dass ich
in meiner Rede ausdrücklich gesagt habe - ausdrücklich;
das ist sicherlich auch nachzulesen -, dass jenseits der
Frage der Zukunft der Wehrpflicht und der Zukunft des
Zivildienstes die Freiwilligendienste deutlich ausgebaut
werden müssen - so heißt es im Kommissionsbericht aus
Brüssel zum Thema Zivilgesellschaft und das ist auch
vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung
ein Gebot - und dass dieser Antrag mit keinem Wort die
Wehrpflicht oder den Zivildienst erwähnt, sondern sich
ausdrücklich nur auf das Ziel des Ausbaus der Freiwilligendienste bezieht?
Dass Sie das so gesagt haben, bestätige ich Ihnen
gerne. Ich bestätige Ihnen aber auch gerne einen zweiten
Punkt, und zwar dass in dem Antrag sehr wohl ein Zusammenhang zwischen der allgemeinen Wehrpflicht und
dem Zivildienst auf der einen Seite und dem Thema
Freiwilligendienst auf der anderen Seite hergestellt wird.
In dem Antrag heißt es auf Seite 5:
Ein erster Schritt zur Transferierung von Zivildienstmitteln in den Bereich der Freiwilligendienste
wurde mit der Änderung des Zivildienstgesetzes
2002 gemacht.
Wenn Sie einen ersten Schritt feststellen, dann gehen Sie
offensichtlich auch von einem zweiten, einem dritten
oder möglicherweise noch mehr Schritten aus.
({0})
Also scheint es offensichtlich doch Mehrheitsmeinung
Ihrer Fraktion zu sein, dass wir von der Abschaffung von
Wehrpflicht und Zivildienst auszugehen haben und dass
insofern doch ein Zusammenhang besteht.
({1})
Es ist auch interessant, einen Blick auf die Genese
dieses Antrags zu werfen. Wir wurden als CDU/CSUBundestagsfraktion vor wenigen Wochen interessanterweise von Verbandsseite darauf aufmerksam gemacht,
dass das zuständige Bundesministerium offensichtlich
etwas im Bereich generationsübergreifende Freiwilligendienste plane. Mich hat das insofern erstaunt, als ich
zu diesem Zeitpunkt von dem Vorhaben nichts wusste.
({2})
Von Verbandsseite berichtete man, man sei ausdrücklich
aufgefordert worden, Projekte im Ministerium anzumelden, was mich zu der Frage veranlasst hat, wo denn die
Haushaltsmittel für diese Projekte veranschlagt sind. Interessanterweise tauchten in der Bereinigungssitzung
wie aus dem Nichts, wie Phönix aus der Asche,
10 Millionen Euro auf - wohlgemerkt: eine globale Minderausgabe, die nicht definiert ist, steht auch im Haushalt -, um diese Projekte zu finanzieren.
({3})
Ich halte das Verfahren insofern für merkwürdig, als
der zuständige Ausschuss des Deutschen Bundestages
mit dieser Frage nicht ordnungsgemäß befasst wurde,
sondern erst indem uns heute dieser Antrag vorgelegt
wird, nachdem Sie mit dem Haushalt aber bereits Fakten
geschaffen haben
({4})
und Sie mit denjenigen, die Sie sich möglicherweise als
Trägerinnen und Träger vorstellen können, zuerst reden,
bevor Sie im Deutschen Bundestag die Kolleginnen und
Kollegen mit dieser Sache konfrontieren.
({5})
- Selbstverständlich habe ich den Kommissionsbericht
gelesen, Frau Kumpf.
({6})
Darin und auch im letzten Protokoll des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement steht, dass man sich
mit der Frage befasse, aber nicht, dass man konkrete
Projekte plane, die in diesem Haushalt bzw. im Haushalt
des Jahres 2005 bereits Wirkung zeigen sollen. Das steht
nicht darin. Genau diesen Umstand habe ich kritisiert.
({7})
Ich bin der Auffassung, wir tun gut daran, den Antrag
zum Anlass zu nehmen, in der kommenden Beratung das
Thema Freiwilligendienste noch etwas umfassender in
den Blick zu nehmen, als das Gegenstand des Antrages
ist. Ich mache das an zwei Sachen fest:
Erster Punkt. Wir müssen uns auch im Interesse der
Freiwilligendienste und mit Blick auf das, was die Föderalismuskommission gegenwärtig diskutiert, darüber
klar werden, und zwar fraktionsübergreifend, am besten
noch im Konsens mit den Ländern, wo das zukünftig
ressortieren soll, ob beim Bund, bei den Ländern oder
bei beiden.
Zweiter Punkt. Wir sollten eine Angelegenheit mit in
den Blick nehmen, die die Freiwilligendienste im Ausland betrifft.
({8})
Es gibt da ein Problem, welches begründet ist in unserem redlichen Bemühen, für eine soziale Absicherung zu
sorgen, und der Definition eines Arbeitnehmerstatus in
einigen Ländern, in die wir Freiwillige entsenden. Hier
besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Wir sollten
die Chance nutzen, das im Beratungsverfahren mit den
Betroffenen zu klären und möglicherweise einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.
Ich stehe einem Punkt in Ihrem Antrag sehr skeptisch
gegenüber, und zwar dem Punkt, in dem es um die „Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung der Freiwilligendienste“ geht. Ich stelle gar nicht das redliche Bemühen in Abrede, dass Sie das verbessern wollen, aber
die Erfahrung mit sämtlichen Öffentlichkeitstiteln in den
Einzelplänen des Bundeshaushalts legt den Verdacht
nahe, dass es Ihnen bei der Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung weniger um das Projekt als vielmehr um die öffentliche Wahrnehmung des Bundesministers oder der Bundesministerin geht.
({9})
An dieser Stelle - das werden Sie uns nachsehen - sind
wir etwas skeptisch.
Ich bin der Auffassung - das gilt auch für meine Fraktion -, dass die beste Werbung für Freiwilligendienste
die ist - darin sind wir uns wieder einig -, möglichst vielen jungen und möglicherweise auch älteren Menschen
die Möglichkeit zu eröffnen, einen Freiwilligendienst zu
machen, um diese dann in die Lage zu versetzen, anschließend über ihre Erfahrungen zu berichten. Das ist
die beste Werbung für Freiwilligendienste, die wir uns
vorstellen können. Das ist wesentlich besser, als wenn
wir versuchen würden, dies werbetechnisch mit Hochglanzbroschüren zu unterstützen.
({10})
Interessant ist natürlich auch, dass Sie zum Schluss
des Antrages - wobei ich mir eine Bemerkung über das
Verhältnis zwischen dem lyrischen Einführungsteil und
dem Forderungskatalog verkneife - die Aufforderung an
die Bundesregierung richten, zu prüfen und dann möglicherweise darüber zu berichten, was da zu tun ist. Ich
habe etwas Ähnliches schon einmal gelesen und mir den
entsprechenden Abschnitt aus dem Internet gezogen.
Damals hörte sich das etwas anders an:
Wir werden auf der Grundlage der Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements“ prüfen,
- diese Kommission hat ihre Arbeit abgeschlossen 13488
wie der gesetzliche Rahmen für die Freiwilligenarbeit weiter entwickelt werden kann und weitere Initiativen zur Verbesserung des freiwilligen Engagements starten.
Das stammt aus der Koalitionsvereinbarung des Jahres 2002. Wenn Sie Ende 2004 die Aufforderung an die
Bundesregierung richten, das zu tun, was im Koalitionsvertrag des Jahres 2002 steht, dann frage ich: Was ist eigentlich in der Zwischenzeit, in den zwei zurückliegenden Jahren, geschehen, wenn Sie Ihre eigene Forderung
nach zwei Jahren wiederholen müssen?
({11})
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal
ausdrücklich unsere Bereitschaft, an diesem Antrag konstruktiv mitzuwirken, um, wie beschrieben, möglicherweise ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen. In diesem Sinne freue ich mich auf gute Beratungen.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile jetzt der Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Freiwilliges Engagement ist ein wesentliches Gestaltungselement moderner Demokratie und nachhaltiger
gesellschaftlicher Verantwortung. Mit unserem Antrag
stehen wir für eine neue Kultur der Freiwilligkeit in
Deutschland; denn unser Konzept integriert die Potenziale aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
Unsere wichtigsten Forderungen sind folgende:
Erstens. Wir wollen die klassischen Jugendfreiwilligendienste ausbauen, und zwar auf die 30 000 Plätze,
die uns die Träger angeboten haben. Wir wissen genau,
dass wir in diesem Bereich eigentlich noch viel mehr tun
könnten. Wir haben in unserem Antrag ausdrücklich die
Auslandsfreiwilligendienste berücksichtigt. Herr Dörflinger,
zur öffentlichen Wahrnehmung sage ich Ihnen: Wir werden erst dann wieder dafür werben, dass sich mehr junge
Menschen bewerben, wenn wir mehr Plätze zur Verfügung haben. Das würde im Moment überhaupt keinen
Sinn machen;
({0})
denn im Moment erleben wir, dass sich zwei bis drei Jugendliche um einen Platz bewerben. Es sind also nicht
genug Plätze vorhanden, um das große Interesse abzudecken. Deswegen werden wir uns erst dann darum kümmern, wenn wieder genug Plätze für die jungen Leute
zur Verfügung gestellt werden können.
({1})
Zweitens. Wir wollen Modellprojekte zum Aufbau
neuer, generationenübergreifender Freiwilligendienste.
Mit dem Konzept der altersoffenen Freiwilligendienste
wollen wir möglichst viele Menschen in unserem Land
erreichen: ältere wie junge, die noch nicht engagiert
sind, und solche, deren Engagement wir fördern und
stärken wollen. Mit diesen Modellen - davon bin ich
überzeugt - lässt sich auch Partizipation entwickeln. Wir
können außerhalb bestehender Organisationen Austauschebenen schaffen. Dadurch können wir in Vereinen, Verbänden und Initiativen für ein Klima sorgen, das ein
vielfältiges und längerfristiges Engagement möglich
macht; denn engagierte Freiwillige mit positiven Erfahrungen werden als positive Multiplikatoren wirken.
Meine Damen und Herren, bis heute haben sich mehr
als 300 000 Jugendliche in den klassischen Freiwilligendiensten engagiert. In den letzten zehn Jahren ist die
Nachfrage ständig gestiegen. Seit 2002 erleben wir auch,
dass sich in beiden Freiwilligendiensten mehr junge
Männer engagieren. Diese positive Entwicklung hängt
unter anderem damit zusammen, dass das freiwillige soziale Jahr um die Einsatzfelder Kultur, Sport und Denkmalpflege erweitert wurde.
Wir stellen fest: Die Freiwilligendienste haben sich
nicht nur unter jugend-, sondern auch unter sozial- und
umweltpolitischen Aspekten bewährt. Sie müssen insgesamt deutlich an Anerkennung gewinnen. Diese Kultur
der Anerkennung kann die Politik nicht verordnen. Aber
wir können ihre Entwicklung fördern, zum Beispiel
durch verbesserte Rahmenbedingungen, qualifizierte
Zeugnisse oder Freiwilligendienstausweise.
Seit der Änderung des Zivildienstgesetzes im
Jahre 2002 entschieden sich - ich finde das erfreulich immer mehr Kriegsdienstverweigerer, ein FSJ oder ein
FÖJ, also ein freiwilliges ökologisches Jahr, und keinen
Zivildienst zu leisten. Rund 6 500 Kriegsdienstverweigerer haben in den Jahren 2003 und 2004 nach § 14 c des
Zivildienstgesetzes ein FSJ oder ein FÖJ geleistet. Sie
engagieren sich in den Bereichen, die für den Zivildienst
typisch sind, wie Altenpflege, Behindertenhilfe und Rettungsdienst.
Das zeigt ganz deutlich: Hier ist bereits eine Konversion ehemaliger Zivildienstplätze in Freiwilligendienstplätze zu beobachten. Das lässt sich auch in Zahlen festhalten: Der Anteil der jungen Männer, die ein FSJ
leisten, ist von 12 Prozent auf 24 Prozent gestiegen.
Beim FÖJ ist eine Steigerung von 27 Prozent auf
32 Prozent zu verzeichnen. Damit lässt sich doch feststellen: Mit der gesetzlichen Möglichkeit, die wir über
§ 14 c ZDG geschaffen haben, ist eine Schnittstelle zwischen Pflichtdienst und Freiwilligendienst entstanden.
Diese gilt es weiter auszubauen.
({2})
Die Einsatzstellen beobachten darüber hinaus, dass
die jungen Freiwilligen während ihres Dienstes eine zunehmende Bereitschaft zu Engagement im Allgemeinen
entwickeln. Das heißt, sie werden durch ihr FSJ und ihr
FÖJ dazu motiviert, sich weiterhin bürgerschaftlich zu
engagieren. Damit holen wir junge Menschen genau da
ab, wo sie sich befinden, und wir entwickeln gleichzeitig
eine starke Zivilgesellschaft und setzen Rahmenbedingungen für eine neue Kultur der Freiwilligkeit.
Ich weiß nicht, ob Sie den Film kennen, in dem
250 Kinder und Jugendliche aus 25 Nationen zur Musik
von Strawinski tanzen; er heißt „Rhythm is it“. Er zeigt,
welches Potenzial Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben; sie müssen nur eine Chance bekommen, ihr Potenzial zu entfalten. Ich sage Ihnen, warum ich das erzähle: Dieser Film war in meinem
Bundesland Nordrhein-Westfalen der Anstoß für junge
Migranten einer technischen Berufsschule, gemeinsam
mit ihrem Lehrer zu sagen: Wir sind doch auch wer, wir
können doch auch was. Diese jungen Menschen wollen
jetzt gemeinsam mit Fachleuten in einer gelungenen Mischung aus bürgerschaftlichem Engagement, Integration
und Kooperation mit Unternehmen eine Bürgerstiftung
gründen, die eine Grundlage dafür sein soll, dass jugendliche Migranten in Arbeit und Ausbildung kommen, indem sie ein kleines Unternehmen aufbauen und dabei
auch noch etwas für die Umwelt tun: Sie wollen kleine
Blockheizkraftwerke und komplexe Regelungssysteme
bauen.
Das ist nur eine Idee für bürgerschaftliches Engagement. Ich finde, es ist eine tolle Idee, es ist ein Leuchtturmprojekt.
({3})
Es zeigt, welche Ressourcen in unserer Gesellschaft vorhanden sind - wir müssen sie nur aktivieren. Es zeigt
Engagement, das auf gleichberechtigten und respektvollen Umgang miteinander setzt, trotz aller Verschiedenheit. Wenn wir alle freiwilliges Engagement so verstehen, dann befinden wir uns, wie ich glaube, auf einem
guten Weg in eine offene und in eine tolerante Gesellschaft und auf dem Weg, diese offene und tolerante Gesellschaft auch weiterzuentwickeln.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Laurischk für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ehrlich gesagt, passt der vorliegende Entwurf so gar
nicht in das Bild, das meine Fraktion bisher von der
recht guten Arbeit in diesem Bereich des zuständigen
Ministeriums unter Renate Schmidt hat. Wir mögen im
Detail anderer Auffassung sein, in der großen Linie sind
die Liberalen den Auffassungen der Ministerin oft näher
als ihre eigene Fraktion.
({0})
- Denken Sie nur an das Thema Aussetzung der Wehrpflicht; Herr Kollege Dörflinger hat es ja angeschnitten.
Bürgerschaftliches Engagement und Freiwilligendienste haben in der Öffentlichkeit einen sehr guten Ruf
und sind in einer Gesellschaft, die dem demographischen Wandel unterliegt, nicht zu unterschätzen. Wir haben diese Auffassung schon gehört - dem kann ich mich
nur anschließen -: Wir müssen den Freiwilligendiensten
erhebliche Aufmerksamkeit schenken.
Allerdings müssen wir das dann auch mit der notwendigen Sorgfalt tun. Der Antrag, der uns hier in buchstäblich letzter Sekunde präsentiert wurde, wird dem Thema
nicht gerecht. Es wäre ja noch zu ertragen, dass er so
kurzfristig vorgelegt wird, wenn er das wichtige Politikfeld substanziell bereichern würde. Leider ist das nicht
der Fall: Dem Antrag ist anzumerken, dass er mit heißer
Nadel gestrickt wurde. Aussagen wie „eine nicht genau
bekannte Zahl von schätzungsweise rund“ - ich zitiere
von Seite 2 - vermitteln einen Eindruck von der mangelnden Sorgfalt bei der Redaktion des Antrags. Auch
Allgemeinplätze wie folgende Aussage helfen nicht:
Die Freiwilligendienste als Lernort für bürgerschaftliches Engagement bieten einen Spielraum
für Problemlösungen, die unterschiedlichsten Formen des Experimentierens und des Ausprobierens,
Erfahrungsräume und Lernmöglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation.
Auch das steht auf Seite 2.
({1})
- Es wäre sehr nett, wenn Sie mir zuhören würden.
({2})
Demzufolge kann ich nur hoffen, dass Form und Stil
dieser Vorlage nicht als erster Schritt für Ihre Forderung
nach „Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung der
Freiwilligendienste durch Öffentlichkeits- und Informationsinitiativen“ zu verstehen sind, die auf Seite 5 Ihres
Antrages steht. Es ist auch schade, dass Sie die Ministerin so wenig fundiert in die Spur setzen wollen. Wir
trauen Frau Schmidt in diesem Bereich mehr zu, als Sie
hier vortragen.
Kommen wir zu einer der wenigen Aussagen im Antrag. Sie fordern, dass im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel verbesserte Rahmenbedingungen für die Freiwilligendienste zu schaffen sind. Abgesehen davon, dass
die FDP unter verbesserten Rahmenbedingungen gesetzliche Regelungen beispielsweise zur Zertifizierung versteht, was kaum haushaltsrelevant wäre, verstehen Sie
darunter anscheinend, die Anzahl der geförderten Plätze
erheblich zu erhöhen. Das wäre eine durchaus berechtigte Forderung, wenn Sie uns gleichzeitig Ihre Vorstellungen zur Gegenfinanzierung verraten würden.
Ebenso unverständlich bleibt, warum Sie den Ausbau
der Auslandsdienste und des Europäischen Freiwilligendienstes berechtigterweise fordern und sich im Antragstitel nur auf Deutschland beziehen. Unverständlich ist
auch, aus welchem Grund Sie die Einrichtung von Modellprojekten zum Aufbau generationsübergreifender
Freiwilligendienste fordern. Dies ist bereits beschlossen
und soll in 2005 umgesetzt werden.
Vollkommen unverständlich ist mir als Liberale, warum Sie wieder einmal einen Bericht einfordern wollen,
insbesondere deshalb, weil dies ein Bericht zu einem
Freiwilligendienstgesetz sein soll. Bereits am 26. Juni
2001 forderte die damalige Bundesministerin Christine
Bergmann anlässlich des Kongresses zur Zukunft der
Freiwilligendienste:
Wir müssen die Freiwilligendienste in unserer Gesellschaft ausbauen und umstrukturieren.
Damit war eigentlich die Vorlage eines umfassenden
Freiwilligendienstgesetzes für das Internationale Jahr
der Freiwilligen im Jahr 2001 gemeint, welches dann nur
in der bekannten Rumpffassung verabschiedet wurde.
Wir brauchen keinen neuen Bericht hierüber, sondern die
erfolgten Vorarbeiten sind endlich in die Tat umzusetzen.
Auf Seite 3 Ihres Antrags ist von einem „Freiwilligendienst für alle Jugendlichen“ die Rede. So umschrieben wäre der Dienst nicht mehr freiwillig, sondern
ein Pflichtdienst, wie Mitglieder der Bundesregierung
ihn bereits forderten. Die FDP lehnt jede Form des Freiwilligendienstes, der für alle Jugendlichen verpflichtend
wäre, entschieden ab.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Michael Bürsch, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
brauchte jetzt die dreifache Zeit, um all die Irrtümer und
Missverständnisse auszuräumen, die die Kollegen beim
Lesen des Antrags in deutscher Sprache in diesen offenbar hineingedeutet haben.
({0})
Ich nehme mir nur ganz kurz Zeit, um vier Punkte zu
nennen.
Frau Kollegin, es war keine heiße Nadel im Spiel. Wir
haben Jahre an dem Antrag gestrickt.
({1})
Die Ergebnisse der dreijährigen Beratungen der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
({2})
und die Empfehlungen der Enquete-Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“, die ihren Bericht Anfang
des Jahres abgegeben hat, sind darin enthalten.
({3})
Ich vergebe Ihnen gern, weil Sie in diesem Thema nicht
so drin sind wie wir. Das ist für mich Grund genug, Ihnen vorzuschlagen, dass wir in ein Privatissimum gehen,
in dem ich Ihnen die 851 Seiten des Berichts der Enquete-Kommission erkläre.
({4})
Ich könnte Ihnen dann all das rauf- und runterbeten, was
in diesem hervorragenden Antrag enthalten ist.
({5})
Herr Kollege Dörflinger, Ihnen sage ich: Der Antrag hat
nichts mit der Wehrpflicht zu tun. Alles, was Sie in ihn
hineingedeutet haben, ist reine Kaffeesatzleserei. Auch
wenn Sie die Buchstaben und Worte noch so sehr hinund herwenden, es geht doch um die Freiwilligendienste.
Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass wir Gelder aus
dem Zivildiensttitel umschichten.
({6})
Wenn Sie das in den letzten Jahren verfolgt haben, dann
wissen Sie, dass die Zahl der Zivildienstplätze in den
vergangenen Jahren bereits mehrfach reduziert worden
ist.
({7})
Es ist das Privileg einer großen Volkspartei, das abzuwarten, was diese Partei in ihrer großen Weisheit im
nächsten Jahr entscheiden wird. Bis dahin gibt es jedenfalls bei uns die Freiheit, sich zu äußern, ob man dafür
oder dagegen ist. Das zeichnet uns aus. Wenn Sie das
nicht so machen, ist das Ihre Sache.
({8})
Herr Dörflinger, das ist keine PR-Maßnahme. Auch
da haben Sie einen Satz in Ihrem Sinne gedeutet, der das
aber gar nicht hergibt. Es geht darum, im Zuge der Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung für dieses
Instrument zu werben. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus
Amerika, das ich gerne anführe. Dort wird praktisch von
jedem Schüler und jeder Schülerin in der elften Klasse
erwartet, dass er oder sie sich in einem Projekt engagiert
und dies mitorganisiert, wofür zwei bis drei Stunden in
der Woche an Zeit investiert werden sollen. Am Ende
liefert er oder sie einen Bericht darüber ab, was sich im
Zeugnis niederschlägt. So etwas soll es bei uns im Rahmen des freiwilligen Engagements geben, aber bisher
gibt es das noch nicht.
Ich werbe wie andere dafür, dass es bei dem Thema
Freiwilligendienste wahrhaftig nicht nur um Staatsknete
geht, sondern dass wir zum Beispiel wie auch in anderen
Ländern die Wirtschaft mit ins Boot nehmen. Das ist die
Werbung für das Projekt Freiwilligendienste, die wir
meinen. Sie werden keine Hochglanzbroschüren bekommen.
({9})
Es wird darum gehen, dass wir für dieses wichtige Projekt gemeinsam mehr Mitstreiter finden.
Herr Dörflinger, das können Sie wahrscheinlich auch
nicht wissen: In den letzten zwei Jahren ist etliches passiert, was die Freiwilligendienste betrifft. Es ist darauf
verwiesen worden, dass die Enquete-Kommission unter
meinem Vorsitz eine Reihe von Vorschlägen auch zu
dem Thema Freiwilligendienste gemacht hat. Wir haben
dann - das ist eine erstmalige Einrichtung - einen Unterausschuss installiert, damit diese ganzen Empfehlungen
- so praktisch sie auch sind - nicht irgendwo im Bücherschrank verschwinden. Das ist mit dem Unterausschuss
„Bürgerschaftliches Engagement“ gelungen.
Ich lade Sie überaus herzlich ein: Kommen Sie alle
vier Wochen am Mittwoch zu uns, um zu sehen, was sich
bei jeder Sitzung praktisch verändert. Das Thema
„Schutz der Engagierten“ haben wir in den letzten anderthalb Jahren wirklich vorangebracht; allein dazu kann
ich Ihnen einen Meter an Material vorlegen.
({10})
Das betrifft auch die Freiwilligen im In- und Ausland.
Es ist also einiges passiert. Der Fortschritt ist zwar
- das wissen wir alle - eine Schnecke, aber sie bewegt
sich voran.
({11})
Das Schönste ist, dass wir uns bei diesem Thema insgesamt, wenn ich einmal diese manchmal etwas kleinkarierte Kritik außen vor lasse, einig sind. Bei den Freiwilligendiensten muss etwas geschehen. Das Neue, das
in diesem Antrag enthalten ist - ich bitte Sie, dem Klub
beizutreten bzw. mit ins Boot zu kommen -, ist der generationenübergreifende Ansatz. Wir werden nur gesellschaftlich bestehen können, wenn wir bei der demographischen Entwicklung, die wir alle voraussehen können,
Jung und Alt zusammenbringen.
Es gibt hier viele gute Beispiele; die Kollegin
Dümpe-Krüger hat eins genannt. Mir ist ein anderes zur
Kenntnis gebracht worden. Bei der Kölner Initiative „Jugendhilfe und Schule“ arbeiten deutsche Senioren mit
ausländischen Jugendlichen zusammen. Das ist ein wunderbares Projekt des gegenseitigen Kennenlernens und
des Diskutierens. Die Älteren geben ihre Erfahrungen
weiter und machen sich damit vertraut, wie junge ausländische Menschen denken, die vielleicht etwas anders
sind. Umgekehrt hat dieser Austausch durchaus einen erhellenden Wert für die jungen Ausländer, wenn sie von
Älteren etwas lernen und ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten helfen. Von dieser Art gibt es viele Projekte.
Wir haben einige Möglichkeiten, diesen Projekten
Rechnung zu tragen. Heute Abend wird zum Beispiel in
einer Feier der Preis der Sparkassen vergeben. Damit
werden Projekte zum Thema Jung und Alt gewürdigt.
Dieses Stichwort durchzieht unsere ganze Arbeit und
zieht sich wie ein roter Faden durch den Enquete-Bericht
und den Kommissionsbericht des Familienministeriums
über die Zivilgesellschaft.
Was wir in der Tat tun müssen - Herr Dörflinger, das
haben Sie am Anfang sehr schön gesagt -: Wir können
nicht oft genug anerkennen, was die 23 Millionen engagierten Menschen in Deutschland machen. Das ist wirklich ein Sozialkapital erster Güte.
({12})
An dieser Stelle zitiere ich gerne den alten Konfuzius:
Man ahnt ja gar nicht, wie viel Lob man vertragen kann.
Das sollten wir beherzigen.
({13})
Von vielen Geburtstagsfeiern weiß man, dass die Betroffenen ein erhebliches Volumen vertragen können.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Andreas Scheuer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Hoch geschätzter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
({0})
- Das fängt gut an, Herr Kollege. - Der kommende
Sonntag ist der Tag des Ehrenamtes. Die CDU/CSUBundestagsfraktion dankt sehr herzlich allen ehrenamtlich und freiwillig Engagierten. Die Aktiven leisten einen unschätzbaren Dienst für unsere Gesellschaft. Sie
verkörpern eine solidarische Leistungsgesellschaft, in
der es ein Zusammenspiel von Rechten, aber auch
Pflichten für die Bürger gibt und in der mehr Verantwortung und weniger Vollkaskomentalität mit staatlicher
Rundumversorgung vorherrschen. Wir als Unionsfraktion wollen im Deutschen Bundestag mithelfen, das
Klima für bürgerschaftliches Engagement weiter zu verbessern. Ich spreche auch im Namen von Klaus Riegert,
unseres Obmanns im zuständigen Unterausschuss, in
dem wir fraktionsübergreifend in einem guten Klima zusammenarbeiten.
Heute debattieren wir über einen besonderen Teil bürgerschaftlichen Engagements, die Freiwilligendienste.
Viele Menschen bringen ihre Potenziale in die Gesellschaft ein, ob Jüngere oder Ältere. Ich danke den Freiwilligen jedes Alters für ihren Einsatz. Jugendfreiwilligendienste erfahren einen regelrechten Run. Es mag an
den Problemen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt liegen - ausgelöst durch eine miserable Politik
von Rot-Grün -,
({1})
dass junge Menschen hierin eine Chance sehen, wenn sie
keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommen haben.
Was ich hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass es
so viele junge Bewerber für den Freiwilligendienst gibt.
Vielerorts hat sich das Image von Jugend über die Jahre
leider nicht verändert. Jeder kennt die Vorurteile, die herumgeistern, und die Eigenschaften, die man jungen
Menschen zuschreibt. Hat sich etwas grundlegend seit
der babylonischen Toninschrift vor einigen Tausend Jahren vor Christus geändert, die lautet: Jugend ist träge,
gottlos und faul und verachtet die Eltern? Das entspricht
nicht der Realität. Auch die Politik kann dabei mithelfen,
diese Vorurteile abzubauen.
({2})
- Ich bin richtiggehend überrascht, dass ich einmal von
der SPD Applaus bekomme.
Rund drei junge Bewerber auf einen Freiwilligendienstplatz sprechen eine andere Sprache. Unsere Jugend will sich in die Gesellschaft einbringen und mithelfen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion findet es Spitze,
dass sich junge Menschen für Ehrenamt und Freiwilligendienst interessieren. Das ist eine Investition in die
Zukunft unserer Gesellschaft. Unser Staat wäre schlimm
dran, wenn es dieses Engagement nicht gäbe. Aber wir
müssen auch mithelfen, dass sich das Image und die Anerkennungskultur verbessern. Die Fleißigen dürfen in
unserer Gesellschaft nicht die Dummen sein.
Jetzt flattert uns ein Antrag von Rot-Grün in die Büros. Ich sage das deshalb so flapsig, weil darin sehr viel
Prosa geboten wird. Den Text, meine Damen und Herren
von der Koalition, können Sie gut für Sonntagsreden benutzen. Er ist windelweich, wenig verfänglich, wenig
konkret, aber er hört sich halt gut an. Viele Worte wie
„grundsätzlich bewährt“, „könnte“, „hätte“ und „sollte“
kommen darin vor. Was wollen Sie denn?
({3})
Werden Sie konkreter und mutiger! Wir nehmen gerne
Ihre Einladung an, Herr Kollege Schaaf, uns bei den folgenden Beratungen zusammenzusetzen, um eine Lösung
zu finden. Wenn wir bei den Inhalten zusammenkommen, helfen wir Ihnen auch gerne, den Antrag zu schreiben, damit etwas Konkretes herauskommt.
({4})
Der ganze Themenkomplex spiegelt die Widersprüchlichkeit von Rot-Grün wider. Es ist falsch, wenn man dabei Wehrpflicht und Zivildienst ausblendet. Das gehört
zu einer Gesamtbetrachtung. Erstens. Bei der Wehrpflicht haben wir zwei aufeinander zurasende Ministerien. Der Verteidigungsminister will die Wehrpflicht
beibehalten, die Familienministerin will sie abschaffen.
Ebenso verhält es sich mit der SPD. Ein Teil ist für die
Wehrpflicht, ein Teil dagegen. Zu allem Überdruss zickt
hier auch noch ein Koalitionspartner herum und will eine
Entscheidung. Ich wünsche der Koalition viel Spaß dabei, noch in dieser Legislaturperiode zu einer Entscheidung zu kommen.
({5})
Zweitens. Beim Zivildienst haben wir dasselbe Herumeiern. Ständig gibt es Blockaden für die Träger, es
findet ein Hinauszögern und Auf-Zeit-Spielen statt. Dabei werden Strukturen zerstört.
({6})
Die Ministerin - sie hatte gestern ihren Auftritt bei
Kerner; vielleicht muss sie sich noch ausruhen, aber die
Staatssekretärin kann es ihr mitteilen ({7})
geht damit hausieren, dass die 800 Millionen Euro für
den Zivildienst auch bei einer Abschaffung den Trägern
zur Verfügung stehen, um diese zu beruhigen. Da werden wir genau hinschauen müssen.
Drittens. Jetzt komme ich zum Freiwilligendienst.
Natürlich gehören die Punkte zusammen, weil Rot-Grün
die Abschaffung des Zivildienstes durch die Freiwilligendienste auffangen will. Aus dem vorliegenden Antrag lese ich heraus, dass Sie, meine Damen und Herren
von der Koalition, vor allem den Ausbau der Jugendfreiwilligendienste wegen der hohen Nachfrage garantiert bekommen wollen. Das ist grundsätzlich okay.
({8})
Aber wie soll man Folgendes bewerten? Im Internet
wirbt das Ministerium vor allem mit den generationsübergreifenden Freiwilligendiensten, also vor allem mit
der Zielgruppe ältere Menschen.
({9})
Die Koalitionsfraktionen wollen mehr Jugendfreiwilligendienste. Und der zuständige Staatssekretär
Ruhenstroth-Bauer führte dazu in der Sitzung des Bundesrates am 2. April 2004 aus:
Der mit der Entschließung geforderte Ausbau der
Jugendfreiwilligendienste wäre somit nicht zielführend und angesichts der Lage der öffentlichen
Haushalte wohl auch kaum finanzierbar. Denn er
würde nicht nur auf Bundes-, sondern vor allem auf
Länderseite zusätzliche Haushaltsmittel voraussetzen …
({10})
Da haben wir den Beweis doch schwarz auf weiß! Was
wollen Sie? Stellen Sie die Mittel für den Ausbau endlich bereit oder nicht? Bei dem Schlingerkurs soll sich
noch einer auskennen.
({11})
Sie laden uns ein, mitzumachen. Das ist in Ordnung.
Miteinander reden kostet nichts. Wir werden sehen, was
sich daraus ergibt. Die Opposition muss Ihnen wieder
einmal dabei helfen, aus Ihrer Vielstimmigkeit herauszufinden.
({12})
Den im Antrag enthaltenen Prüfauftrag - er wurde
schon angesprochen -, inwieweit ein Bundesfreiwilligendienstplan und ein Freiwilligendienstgesetz die Freiwilligendienste nachhaltig sichern und fördern könnten,
können wir unterstützen; denn diese Forderung ist nicht
neu.
({13})
Herr Kollege.
Lassen Sie mich noch den Gedanken zu Ende führen.
Dem Ministerium stehen Haushaltsmittel zur Verfügung, um Modellprojekte im Freiwilligendienst durchzuführen.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen,
aber es wurden in einer Hauruckaktion 10 Millionen Euro sozusagen aus der Hüfte geschossen,
({1})
die nicht im Haushaltsentwurf aufgeführt waren,
({2})
sondern erst in einer Bereinigungssitzung eingebracht
wurden.
Nun hat sich der Kollege Schaaf zu der vorbestellten
Zwischenfrage gemeldet.
Herr Kollege Schaaf hat sich die Frage schon lange
überlegen können. Wenn meine Redezeit entsprechend
verlängert wird, dann kann er sie gerne stellen.
Was Ihre letzten Sätze angeht, wäre es sinnvoll, wenn
es von Ihrer Redezeit abgezogen würde.
({0})
Aber lassen wir das beiseite.
Sehr geehrter Herr Kollege Scheuer, würden Sie mir
Recht geben, dass sich das Zitat von Staatssekretär
Ruhenstroth-Bauer auf einen im Bundesrat eingebrachten Antrag des Bundeslandes Saarland zum Ausbau der
Jugendfreiwilligendienste bezog und dass die Antwort
besagte, dass prioritär die generationsübergreifenden
Freiwilligendienste aufgebaut werden müssen - weil
diese noch nicht existieren -, ohne die Jugendfreiwilligendienste zu gefährden, und dass die Koalition mitgeteilt hat, dass sie Mittel im Haushalt eingestellt hat, dass
erste Projekte gemeldet worden sind, dass die generationsübergreifenden Freiwilligendienste im kommenden
Jahr anlaufen werden und dass im nächsten Haushaltsjahr die Jugendfreiwilligendienste gestärkt werden sollen? Würden Sie konstatieren, dass sich die Antwort von
Ruhenstroth-Bauer hinsichtlich des Ausbaus der Freiwilligendienste auf den Antrag des CDU-regierten Saarlands bezog?
({1})
Herr Kollege Schaaf, der Staatssekretär hat sich im
Bundesrat zu diesem Antrag geäußert. Er hat den weiteren Ausbau der Jugendfreiwilligendienste abgelehnt.
Das geht aus dem Protokoll hervor.
({0})
Insofern ist es durchaus ein Kunstgriff - um zu meinem
vorhin begonnenen Gedanken zurückzukehren -, in den
Haushaltsberatungen plötzlich die 10 Millionen Euro in
den Haushalt einzustellen. Das ist soweit in Ordnung.
Darüber müssen wir nicht diskutieren.
({1})
Auch die Verpflichtungsermächtigung über weitere
9 Millionen Euro ist in Ordnung. Das Problem besteht
aber darin - das hat auch der Staatssekretär festgestellt -,
dass der weitere Ausbau der Freiwilligendienste nicht
zielführend ist. Wir prangern die Vielstimmigkeit zwischen der Koalition und der Regierungsbank an.
({2})
Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Ich warte schon darauf.
Ich möchte aber wechselseitig um etwas Disziplin bitten. Es muss nicht unbedingt sein, dass jeder, der ohnehin als Redner gemeldet war und bereits gesprochen hat,
noch eine Zwischenfrage stellt.
({0})
- Wenn es der Wahrheitsfindung diente, dann wäre ich
weniger zurückhaltend, Herr Kollege.
Herr Kollege, ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen, die hoffentlich der Wahrheitsfindung dient. Würden
Sie mir zustimmen, dass wir nicht 10 Millionen, sondern
11 Millionen Euro nicht gerade aus der Hüfte geschossen haben, wie Sie es formuliert haben, sondern aus den
Mitteln des Zivildienstes in den Haushalt eingestellt haben, und zwar 1 Million Euro für die klassischen Jugendfreiwilligendienste und 10 Millionen Euro für die
neuen generationsübergreifenden Freiwilligendienste?
({0})
Herr Kollege Bürsch, das ist eine hervorragende
Frage ist; das kann ich nur bestätigen.
Frau Dümpe-Krüger, wir prangern das Vorgehen an.
Sie hätten schon im Haushaltsentwurf deutlich machen
können, dass Sie Geld aus dem Zivildiensttitel herausnehmen. Es gibt keine Planungssicherheit auf diesem
Gebiet. Man muss sich ja nur vor Augen führen, welche
Meinung der Staatssekretär laut Protokoll vor ein paar
Wochen vertreten hat.
({0})
- Bei euch ändert sich schnell etwas, auch die Meinungen.
Nun möchte noch der Kollege Riegert eine Zwischenfrage stellen. Das ist die letzte Zwischenfrage, die ich
zuzulassen beabsichtige.
Herr Präsident, wir können gerne noch ein bisschen
weitermachen.
({0})
Das mag ja sein.
Bitte, Herr Riegert.
Herr Kollege Scheuer, stimmen Sie mir zu, dass es typisch für die Koalition und ihr Gebaren ist, dass wir in
den Fachausschüssen - das gilt offensichtlich auch für
den Sport- und den Familienausschuss - nicht über solche Anträge zu beraten haben, und dass es komisch ist,
dass das, was in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses beschlossen wurde - der Kollege Dörflinger
hat ausgeführt, dass dieser Punkt bereits in der Koalitionsvereinbarung 2002 enthalten sei, und der Kollege
Bürsch hat richtigerweise gesagt, dass man an dem vorliegenden Antrag jahrelang gearbeitet habe -, im Familiensausschuss nicht beschlossen werden konnte?
({0})
Herr Kollege Riegert, mit Abscheu und Empörung
weise ich das Gebaren der Bundesregierung zurück. Dafür gibt es schon mehrere Beispiele. Als stellvertretendes
Mitglied des Haushaltsausschusses ist man öfter mit so
etwas betraut. Der anwesende Kollege Fricke wird sicherlich bestätigen, dass erst gestern dem Haushaltsausschuss gut 1 Milliarde Euro kurz zur Kenntnis gegeben
wurde. So sieht das Gebaren der Bundesregierung aus.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Frage; denn sie hat
mir Gelegenheit gegeben, das der deutschen Öffentlichkeit klar zu machen.
({0})
Ich fahre fort. Die zentrale Frage ist: Darf der Bund
bzw. die Ministerin die hier zur Diskussion stehenden
Projekte überhaupt weiter ausbauen? Wir unterstützen
den Prüfauftrag, weil dann endlich geklärt sein wird, ob
die Ministerin das ausbauen darf, was sie ständig ankündigt. Wie heißt es in der „FAZ“ vom 30. November dieses Jahres:
Eine Abschaffung des Zivildienstes sei „kein Problem“, wenn ein Teil des Geldes für die Freiwilligendienste verwendet werde, sagte die für den Zivildienst zuständige Ministerin.
Ich weiß nicht, inwieweit die Ministerin das Grundgesetz beachtet. Vielleicht geht sie ja nach dem Prinzip
vor: Wenn schon der ganze Haushalt verfassungswidrig
ist, dann spielt es ohnehin keine Rolle mehr, wie ich
- gleichsam als Kavaliersdelikt - meinen Haushalt handhabe.
({1})
Sie sollten die Fußnoten des Kommissionsberichtes
lesen.
({2})
Auf Seite 11 befindet sich ein kleines Sternchen mit großer Bedeutung - ich gebe zu, dass man bei Augenproblemen eine starke Lesebrille braucht; aber ich helfe Ihnen -:
Eine Mitfinanzierung neuer Modellvorhaben durch
den Bund setzt bei der derzeitigen Haushaltslage
eine Gegenfinanzierung im jeweiligen Haushaltsplan voraus. Für die Finanzierung von Mindeststandards zu neuen generationsübergreifenden Freiwilligendiensten hat der Bund grundsätzlich keine
Finanzierungskompetenz; denn selbst wenn eine
Gesetzgebungskompetenz des Bundes für neue generationsübergreifende Freiwilligendienste bejaht
werden könnte - was bislang ungeklärt ist -, läge
doch die Finanzierungsverantwortung aufseiten der
Länder, die diese gesetzlichen Regelungen auszuführen hätten ({3}).
Was denn nun?
({4})
Wir werden jedenfalls bei Ihrer Parallelstrategie, den Zivildienst langsam dahinsiechen und einschlafen zu lassen und gleichzeitig alternative Angebote aufzubauen,
sehr genau hinschauen.
Ich komme zum Schluss. Wir danken der Koalition
sehr herzlich dafür, dass sie in ihrem vorliegenden Antrag gesellschaftspolitische Begriffe wie zum Beispiel
die „aktive Bürgergesellschaft“ aus den Programmen der
CDU/CSU übernommen hat.
({5})
Wenn wir Ihnen zum Beispiel auch bei der Wertediskussion Nachhilfeunterricht geben sollen, dann wenden Sie
sich bitte vertrauensvoll an uns. Wir haben damit kein
Problem. Nichtsdestotrotz kann das nicht über die offenen inhaltlichen Fragen des vorliegenden Antrags hinwegtäuschen. Lassen Sie uns in den weiteren Beratungen hart an einer Lösung arbeiten, damit vor allem die
jungen Menschen Raum bekommen, um sich zu engagieren und einzubringen.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Kumpf.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich werde versuchen, mich an meine Redezeit
zu halten, obwohl ich nach Ihren Ausführungen, Herr
Dörflinger und Herr Scheuer, das Gefühl habe, Nachhilfe leisten zu müssen.
Auch wenn ich nicht oberlehrerinnenhaft sein möchte
- ich bin keine Lehrerin -, muss ich Sie einfach darum
bitten - Sie sind noch jung genug, um das ohne Brille zu
tun -, den Bericht der Enquete-Kommission und vielleicht auch andere Berichte zu lesen.
({0})
Vor allem in Richtung der Fraktion der CDU/CSU
- sie rühmt sich sonst immer so, dass ihre Mitglieder im
ehrenamtlichen Bereich verankert sind - sage ich: Es
wäre ganz ratsam, die Kontakte zu den jeweiligen Organisationen zu halten, sodass man weiß, worüber diskutiert wird. In Baden-Württemberg werden ehrenamtliche
Sportler am nächsten Wochenende zum ersten Mal streiken. Diese Sportler feiern ihre Landesregierung sonst
immer; daher ist das ein bisschen seltsam. Es müsste Sie
eigentlich ganz schön ärgern, dass die Landesregierung
in Baden-Württemberg den Zuschuss für Übungsleiter in
Sportvereinen streicht.
({1})
Herr Riegert und Herr Dörflinger, wir geben am Tag
des Ehrenamtes keine schönen Worte von uns - solche
Worte haben wir auch heute hier wieder gehört -; vielmehr setzen wir das, was wir in der Enquete-Kommission alle gemeinsam beschlossen haben, Stück für Stück
um.
({2})
Ein Beschluss ist, die Freiwilligendienste auszubauen.
Ich möchte eine weitere Anmerkung zu diesem
Thema machen. Herr Scheuer, Sie gehen davon aus, dass
Freiwilligendienste eine attraktive Alternative für junge
Männer sind. Bislang waren Freiwilligendienste eine typisch weibliche Angelegenheit. Der Freiwilligendienst
wurde vor 40 Jahren von der Diakonie in Baden-Württemberg ins Leben gerufen, um Frauen eine Möglichkeit zu
geben, sich in die Diakonie einzubringen. Außerdem
wurde der Freiwilligendienst geschaffen, weil es im sozialen Bereich einen riesigen Arbeitskräftemangel gab.
Bislang tummeln sich in den Freiwilligendiensten
noch sehr wenige Männer. In den vergangenen 40 Jahren
haben insgesamt etwa 300 000 Menschen Freiwilligenarbeit geleistet. Der überwiegende Anteil dieser Menschen waren Frauen. Seit 2001, 2002 liegt der Anteil
junger Mädchen bei 23 Prozent und der Anteil der Männer bei 17 Prozent. Wir möchten ganz gern mehr Männern eine Chance geben, im Bereich der neuen Freiwilligendienste zu arbeiten.
Bislang wurden Freiwilligendienste vor allem von älteren jungen Menschen geleistet. Ich denke dabei an jemanden, der gerade Abitur gemacht hat und auf der
Suche nach seiner beruflichen Orientierung ist. Wir wollen, dass Freiwilligendienste auch Jüngeren möglich
sind. Sie sollen die Chance haben, einen Lernort vorzufinden und sich eine Freiwilligenkultur zu erschließen,
um auf diese Weise Erfahrungen zu machen und zu
wachsen.
Ganz wichtig ist Folgendes - das wissen Sie selbst -:
Derjenige, der Freiwilligenarbeit gemacht hat oder sich
in irgendeiner Art und Weise in die Freiwilligenarbeit
eingebracht hat, wird auch später bürgerschaftlich engagiert sein. Das zeigen Untersuchungen. Es muss uns ein
wichtiges Anliegen sein, die Bereitschaft, sich für die
Gesellschaft zu engagieren, zu fördern. Wir müssen die
entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen und die
notwendigen Maßnahmen ergreifen. Stichworte sind:
Ausbau der ehrenamtlichen Tätigkeitsfelder, generationenübergreifender Ansatz. Ich wiederhole: Wir müssen
dafür sorgen, dass die Freiwilligenarbeit von uns politisch begleitet und anerkannt wird.
Da immer wieder behauptet wird, die Jungen, die Älteren oder die Menschen in den neuen Bundesländern
schwächelten,
({3})
möchte ich Sie noch auf Folgendes hinweisen: Mittlerweile liegt der „Zweite Freiwilligensurvey“ vor. Er besagt - darüber dürfen wir uns alle freuen -, dass das Engagement und die Bereitschaft zum Engagement sowohl
der Jungen als auch der Älteren ungebrochen sind. Wir
können sogar einen Zuwachs feststellen, und zwar von
34 Prozent auf 36 Prozent.
({4})
Vor allem wollen sich junge Menschen freiwillig engagieren und wollen entsprechende Angebote haben - die
Zahlen wurden vorhin schon genannt -, sodass wir gar
nicht damit nachkommen, die notwendigen Plätze bereitzustellen. In der letzten Zeit, seit 1999 - es hat ja immer geheißen, die Senioren und Seniorinnen seien gar
nicht so aktiv, wie wir uns das eigentlich vorstellen -,
zeigen aber auch die Älteren - das sind die zwischen 56
und 65 - mehr Engagement. Anders als vielleicht nach
mancher Sichtweise des konservativen Lagers - da denkt
man, die Migranten und Migrantinnen seien bürgerschaftlich gar nicht unterwegs - gilt das auch für die Migranten und Migrantinnen.
Wir wollen mit unserem Antrag einen weiteren Baustein in unserer erfolgreichen Förderung des bürgerschaftlichen Engagements schaffen. Wir wollen es
nicht dabei belassen, dass wir den Versicherungsschutz
erweitert und das bundesweite Netzwerk initiiert haben.
Sie sind bei den Diskussionen leider nicht dabei; vielleicht wissen Sie nicht, was in der so genannten Engagement-Community diskutiert wird. Auch durch die Gründung des Unterausschusses, der diese Diskussion ständig
begleitet
({5})
- Sie sind Mitglied; Sie werden diese Arbeit, denke ich,
gut begleiten -, werden wir dafür sorgen, dass das
Thema „Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement“
nicht auf ein Jahr oder auf eine Enquete-Kommission fokussiert bleibt. Wir werden weiter dafür sorgen, dass dieses soziale Kapital, das sich nicht verbraucht, wenn wir
als Gesellschaft es gebrauchen, Anerkennung und Wertschätzung erfährt.
Nachdem das Ganze von Ihnen vorher sehr heftig debattiert und kritisiert worden ist, hoffe und wünsche ich,
dass das, was eingangs gesagt worden ist, für uns alle
zutrifft: Wir wollen gemeinsam die Freiwilligenkultur in
die Zukunft gerichtet konstruieren und begleiten. Wir laden Sie herzlich dazu ein.
Danke schön.
({6})
Frau Kollegin Kumpf, haben Sie Bedenken, wenn ich
die Debatte jetzt schließe?
({0})
Möchten Sie vielleicht noch einen Satz hinzufügen? Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich hiermit die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/4395 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sowie zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss zu
überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Angela Merkel, Michael Glos, Siegfried
Kauder ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 15/4285 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Gehb für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meiner
langjährigen Tätigkeit als Richter, zuletzt am Hessischen
Verwaltungsgerichtshof, habe ich nicht nur viele Urteile
fällen und begründen müssen, sondern noch viel mehr
solche von Kolleginnen und Kollegen lesen müssen. Wie
das in der Verwaltungsgerichtsbarkeit üblich ist, hat dabei natürlich so manche Institution und Behörde ihr Fett
abbekommen. Aber an keiner Stelle und von niemandem
habe ich einen auch nur annähernd so schwerwiegenden
Vorwurf lesen müssen wie den folgenden: Das war ein
kalter Putsch der politischen Leitung des Auswärtigen
Amtes gegen die bestehenden Gesetze.
({0})
Mit diesen harschen Worten hat der Vorsitzende Richter
am Landgericht Köln im Februar dieses Jahres bei der
Verkündung des Urteils gegen den Chef einer Schleuserbande die von der rot-grünen Bundesregierung umgestaltete Praxis der Visumerteilung geradezu gegeißelt.
Die harschen Worte des Richters weisen auf einen unglaublichen Skandal hin, den die Bundesregierung zu
verantworten hat. Der Richter hat damit zutreffend beschrieben, was sich im Bereich der Einreisepolitik seit
dem Antritt der Regierung Schröder/Fischer im Oktober
1998 abspielt: Grüne Multikultiträume werden notfalls
auch schon mal gegen Recht und Gesetz verwirklicht.
Die Interessen unseres Landes und insbesondere auch
seiner Sicherheit müssen dahinter zurücktreten. Der Innenminister bläst die Backen auf, kann sich aber gegen
die vom Außenminister angeführten grünen Ideologen
nicht durchsetzen und der Bundeskanzler lässt alle gewähren.
({1})
Es geht um glatten Rechtsbruch, um politischen
Missbrauch und um Gefährdung unseres Landes: keine
schönen Vorwürfe, denen sich die Bundesregierung ausgesetzt sieht.
({2})
Diese außerordentlich schwer wiegenden Vorwürfe bedürfen der Aufklärung. Daher ist dieser Untersuchungsausschuss, der so genannte Schleuserausschuss, so notwendig und so berechtigt.
({3})
Das Handeln der politischen Leitung des Auswärtigen
Amtes vollzog sich dabei auch nicht im luftleeren Raum.
({4})
Sollte der Rechtsbruch vonseiten der Grünen systematisch vorbereitet worden sein? Unter dem Vorwand,
Deutschland müsse weltoffener werden, wurde jedenfalls unmittelbar nach der Regierungsübernahme damit
begonnen, die Visumerteilungspraxis grundlegend zu
verändern. Ziel war dabei nicht mehr primär die Gewährleistung der Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland, sondern der ungehemmte Zustrom in unser
Land.
({5})
Dieses Ziel verfolgen die Grünen bekanntlich seit ihrer
Gründung. In allen Debatten, in denen es um die Begrenzung der Zuwanderung ging, haben sie sich verweigert.
({6})
Wir erinnern uns zum Beispiel an die Debatte um das
Asylrecht, in der die Grünen nicht bereit waren, angesichts eines Zustroms von mehr als 400 000 Asylbewerbern pro Jahr an der notwendigen Reform des Art. 16
des Grundgesetzes mitzuwirken. Es ging weiter mit der
doppelten Staatsangehörigkeit, die die Grünen praktisch uneingeschränkt zulassen wollten. Ein weiteres
Beispiel ist das Zuwanderungsgesetz.
({7})
Auch dort haben die Grünen der ungebremsten Einwanderung das Wort geredet.
({8})
Bekanntlich ist auch dieses Konzept, das Rot-Grün sogar
mithilfe eines Verfassungsbruchs - Wowereit lässt grüßen - verwirklichen wollte, nicht Gesetz geworden.
Dank CDU und CSU haben wir heute ein Zuwanderungsgesetz, das auch die Interessen unseres Landes berücksichtigt.
({9})
Das alles passt Ihnen natürlich nicht, meine Damen
und Herren von den Grünen. Und weil die Gesetze nicht
so geworden sind, wie Sie sich das vorgestellt haben,
verfallen Sie auf eine andere trickreiche Lösung. Warum
nicht den Vollzug so ändern, dass die Ergebnisse, die Sie
auf der legislativen Ebene immer gewollt haben, auch
erzielt werden können?
({10})
Warum sich neben der kreativen Buchführung nicht auch
auf eine kreative Rechtsauslegung einlassen? Warum
nicht geltendes Recht dehnen, getreu dem alten Spontispruch, - ohne mir die Diktion zu Eigen zu machen -: legal, illegal, scheißegal?
({11})
In der ersten rot-grünen Koalitionsvereinbarung von
1998 ist die Rede davon, dass die illegale Einwanderung und insbesondere die Schleuserkriminalität bekämpft werden sollten. Getan haben Sie nachgerade das
Gegenteil. Besonders deutlich hat dies die damalige Europaabgeordnete der Grünen Ilka Schröder auf den
Punkt gebracht, indem sie die „Subventionierung der
Schleuserbranche an der EU-Ostgrenze“ forderte und die
Tätigkeit von Schleuserbanden als „humanitäre Maßnahmen“ bezeichnete.
({12})
Diesen Weg der direkten Subventionierung von
Schleuserbanden haben Sie, meine Damen und Herren
von Rot-Grün, dann zwar nicht ausdrücklich beschritten.
Aber im Ergebnis lief Ihre Politik doch auf eine Förderung dieser Gruppierungen hinaus. So wurden im Laufe
des Jahres 1999 bereits einige Erlasse des Auswärtigen
Amtes an die Auslandsvertretungen gerichtet, in denen
die Voraussetzungen zur Visumerteilung gelockert wurden. Das Ganze gipfelte dann in dem berüchtigten
Fischer/Volmer-Erlass vom 3. März 2000, mit dem der
vermeintlich hehre Grundsatz „Im Zweifel für die Reisefreiheit“ - Sie wissen, dass ich gerne lateinisch rede,
also: in dubio pro libertate ({13})
verkündet wurde. Die Folge war, dass Schleuserbanden
quasi mit staatlicher Hilfe ihr Unwesen treiben konnten.
({14})
Treffender, als es der verurteilte Schleuserchef auf seiner
Homepage zum Ausdruck brachte, kann man es nicht
formulieren: www.visafabrik.de.
({15})
Statt, meine Damen und Herren, nach einem schmissigen Begriff aus dem Volksmund zu suchen, mit dem
man den Ursachenzusammenhang zwischen der Weisung des Außenministers und der massenhaften Einreise
von zweifelhaften Personen zutreffend beschreiben
könnte, will ich es juristisch ganz trocken auf die den
Rechtskundigen unter Ihnen geläufige und bekannte Formel der Conditio sine qua non bringen:
({16})
Herr Fischer hat mit seiner Weisung „im Zweifel für die
Reisefreiheit“ eine Bedingung geschaffen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg, nämlich
die Einreise dieser zweifelhaften Personen, jedenfalls
dem Umfang nach, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Die Frage nach einer vorwerfbaren Schuld des Außenministers muss in diesem Schleuserausschuss mindestens mit geklärt werden. Wir können
davon nicht ablassen, selbst wenn Joschka Fischer neben
Dieter Bohlen, Boris Becker oder Daniel Küblböck jetzt
zu den Promis zählt, die man sehr, sehr lieb zu haben hat,
({17})
jedenfalls wenn man zu den Lesern einer gewissen Boulevardzeitung gehört.
({18})
Trotz medialen Heiligenscheins und des Versuchs, ihn
unter Denkmalschutz zu stellen: Herr Fischer ist und
bleibt der Chef des Auswärtigen Amtes
({19})
und muss zur Verantwortung gezogen werden.
({20})
Wir können ja nicht wegen der geringeren Popularität
von Frau Künast oder Herrn Trittin
({21})
diese zum Gegenstand unseres Untersuchungsausschusses machen und ins Visier nehmen.
Meine Damen und Herren, ich will einige Sätze aus
der Begründung des Urteils des Landgerichts Köln zitieren:
Als besonders stark wirkender Strafmilderungsgrund wirkte sich aus, dass dem Angeklagten die
Begehung seiner Straftaten gegen das Ausländergesetz auf allen Ebenen von den zuständigen Behörden sehr leicht gemacht wurde. Der Angeklagte B.
handelte unter den Augen der staatlichen Stellen.
Weiter heißt es:
Im Gegenteil wurden die Mitarbeiter der Visumabteilung der Botschaft in Kiew faktisch durch Erlasse der politischen Führung des Auswärtigen Amtes angewiesen …
Bei dem Fehlverhalten der staatlichen Stellen handelte
es sich auch nicht um „Entgleisungen“ im Einzelfall.
Vielmehr war das Versagen der mit den anstehenden Fragen beschäftigten Behörden „flächendeckend und allumfassend“.
({22})
Mit dem Urteil ist der Komplex strafrechtlich aber
noch gar nicht aufgearbeitet. Gegen mindestens fünf Bedienstete der Bundesregierung und gegen mehrere Botschaftsbedienstete laufen weitere strafrechtliche Ermittlungsverfahren.
({23})
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen sage ich
nur Folgendes: Wir beantragen heute die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der von der Presse schon
treffend als „Schleuserausschuss“ bezeichnet worden ist.
Dabei möchte ich klarstellen: Es geht nicht um die Mitarbeiter an den Botschaften. Es geht um das Fehlverhalten der politischen Leitung. Die Hinweise darauf sind
massiv.
({24})
Wann, wenn nicht jetzt, nach einem solchen Urteil eines
Strafgerichts, sollte man überhaupt einen Untersuchungsausschuss einrichten?
Wir werden auch nicht klaglos eine Überweisung unseres in jeder Hinsicht eindeutigen und verfassungsmäßigen Antrags in den Geschäftsordnungsausschuss hinnehmen, die erkennbar eine verfassungswidrige Bepackung
zum Ziel hat. Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie
auch nur einen Deut von Ihren Missständen ablenken
können, wenn Sie zur Not noch die Visapraxis seit der
Kanzlerschaft Konrad Adenauers ins Auge fassen wollen.
({25})
Wir Christdemokraten stehen für Sicherheit und Weltoffenheit. Freiheit und Weltoffenheit bedeuten keinen
Verzicht auf Kontrolle. Die Begriffe schließen sich nicht
aus; sie bedingen sich geradezu. So wollen wir Christdemokraten schon heute - gemäß dem Motto der WM
2006 -, dass „die Welt zu Gast bei Freunden“ ist. Doch
auf Kriminelle und Menschenhändler als Gäste und
Freunde können wir gern verzichten.
Herzlichen Dank.
({26})
Das Wort hat nun der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, Herr Gehb hat etwas missverstanden. In dem
Untersuchungsausschuss, den er beantragt, geht es nicht
um das, was er schon immer an den Grünen nicht leiden
konnte.
({0})
Es ist über zwei wichtige gute Dinge zu berichten, die
Gegenstand des Untersuchungsausschusses werden sollen und die dazu führen, dass wir uns jetzt mit den Problematiken beschäftigen müssen und auch wollen.
Erstens. Wir leben in einem schönen Land. Deutschland ist ein schönes Land. Es ist wirtschaftlich stark.
Seine Unternehmen haben weltweite Kontakte
({1})
und viele Menschen wollen mit diesen Unternehmen Geschäftsbeziehungen haben. Dazu gehört, dass man einander begegnet.
Wir sind ein gutes Land, was die Wissenschaft und
die Bildung betrifft; wir sind ein guter Wissenschaftsstandort. Das ist der Grund, warum viele Menschen in
dieses Land reisen:
({2})
Sie wollen von unserer Bildung und unserer Wissenschaft profitieren. Wir brauchen weltweite Kontakte für
die Wissenschaft dieses Landes.
({3})
Hier leben freundliche, gute Menschen, die auch besucht werden wollen. Deshalb ist es wichtig, dass das geschehen kann.
({4})
Deutschland ist ein Land, das sicher ist. Es gibt hier
keine No-go-Areas wie in anderen Ländern; Touristen
müssen nicht vor bestimmten Gegenden gewarnt werden. Auch das ist ein Grund, warum viele Menschen
gerne hierherkommen: Sie wollen das erleben, sie wollen dieses schöne, sichere und gute Land bereisen. Das
ist der eine Grund, warum viele Menschen nach
Deutschland kommen wollen.
Der zweite Grund ist ein Ereignis, das noch gar nicht
so lange zurückliegt, das wir uns aber immer wieder in
Erinnerung rufen müssen: Die Spaltung der Welt in Ost
und West wurde aufgehoben, der Eiserne Vorhang ist
verschwunden. Das hat dazu geführt, dass Bürger aus
vielen Staaten, die wegen der dortigen diktatorischen
Regime festgehalten wurden und denen es unmöglich
gemacht wurde, hierher zu kommen, wovon sie ein Leben lang geträumt haben, dieses Land jetzt bereisen wollen. Das ist seit 1989/90 ein Phänomen in Europa und
wir sind froh und glücklich darüber, dass die Freiheit in
all diesen Ländern endlich Platz gegriffen hat.
({5})
Endlich dürfen diese Menschen zu uns kommen. Deshalb ist es seit 1989/90 die Aufgabe aller Bundesregierungen, die gerade Verantwortung tragen, dafür zu sorgen, dass die Menschen kommen können, indem dazu
geeignete und sinnvolle Verfahren entwickelt werden.
Zum Beispiel haben die Minister Kinkel und Kanther zusammen mit dem ADAC ein Carnet de Touriste eingeführt, das vielen Bürgern aus einigen dieser Länder die
Reise nach Deutschland möglich gemacht hat. Die Sache
ist später problematisch geworden, aber das Grundanliegen war nicht falsch. Es stammt aus dem Jahre 1995 und
wir müssen uns mit den Schwierigkeiten, die dabei aufgetreten sind, befassen. All die Dinge, die auch weiterhin eine Rolle spielen - der Reiseschutzpass, das Travel
Voucher, der Travel Care Pass der Hanse-Merkur Reiseversicherung -, liegen auf dieser Linie und müssen im
Zusammenhang betrachtet werden. Das gilt auch für die
Frage des Reisebüroverfahrens, das aus der Zeit der früheren Regierung Kohl/Kanther/Kinkel stammt und das
auch dem Motiv folgt, von dem ich eben berichtet habe.
Zwei schöne, wichtige Dinge sind also die Ursache
für das, womit wir uns jetzt beschäftigen müssen.
Es gibt einen weiteren Gesichtspunkt und der ist nicht
so schön. Wenn viele Menschen kommen, dann sind darunter auch welche, die wir hier nicht haben wollen,
({6})
die die Sicherheit unseres - und nicht nur unseres Landes bedrohen. Wir müssen alle Vorkehrungen treffen, dass ihnen das nicht gelingen kann.
Es gibt Leute, die einreisen wollen, um hier zu bleiben, oder sie wollen durchreisen, um etwa in ein anderes
Land innerhalb des Schengen-Bereiches zu gelangen
und dort zu arbeiten. Es gibt Menschen, die kriminelle
Handlungen planen. Sicherlich müssen wir immer darauf achten, dass hier niemand einreist, der terroristische
Bestrebungen hat.
({7})
Aus meiner Sicht ist das ein ganz wichtiges und zentrales Anliegen, das sowohl die Regierung mit den Ministern Kinkel und Kanther zu verfolgen hatte als auch
die Minister, die jetzt Verantwortung für diesen Bereich
tragen, zu verfolgen haben. Ich glaube, dass gerade unser weltweit so angesehenes und wirtschaftlich starkes
Land eigentlich so etwas wie eine Gemeinsamkeit der
politischen Parteien beim Vorgehen in dieser Frage benötigt; denn wie wir das regeln, hängt auch davon ab,
wie wir die Wirtschaftskraft, die Attraktivität unseres
Landes im weltweiten Wettbewerb, aber auch im Wettbewerb um Vorbildliches, zum Beispiel mit Blick auf
unsere Demokratie, zum Tragen bringen können.
Deshalb ist es schon richtig, dass wir schauen, was
wir besser und anders machen können. Aber wir müssen
immer genau wissen, was wir tun. Das, was wir den Bürgern vieler Länder, auch derjenigen, über die ich gerade
gesprochen habe und die erst seit kurzem Freiheit erproben und erfahren können, an Reisebeschränkungen vorschreiben, wollten wir unseren Bürgern nicht bieten lassen, wenn sie in andere Länder reisen.
({8})
Weil wir Sicherheitsprobleme haben, ist es richtig,
dass wir den Bürgern aus Ländern wie beispielsweise
der Ukraine die Einreise schwerer machen, als dies für
unsere Bürger gilt, die oft ohne große Formalitäten in
andere Länder reisen können. Wir müssen uns immer
wieder in Erinnerung rufen, dass wir schon jetzt diesen
Menschen - zu Recht - Schwierigkeiten zumuten, und
zwar solche, von denen wir nicht wollen, dass sie unseren Bürgern zugemutet werden. Auch das gehört zu dieser Betrachtung, und das muss man gemeinsam bewältigen.
({9})
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich in Orange
erscheinen soll. Gestern haben wir an dieser Stelle über
die ukrainische Demokratiebewegung gesprochen.
({10})
Wir haben darüber diskutiert, wie wir ihr helfen und wie
wir sie unterstützen können. Das müssen wir gemeinsam
tun. Wir sehen an dieser Bewegung, welche Attraktivität
Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Bildungsstaat
und Sozialstaat - all das haben wir in Deutschland vorbildhaft entwickelt - für andere Länder besitzen und
welche Sogkraft von unserer Freiheit ausgeht und auf die
ganze Welt ausstrahlt.
Im Übrigen bin ich im Gegensatz zu vielen anderen
der Meinung, dass die Fähigkeit zur Demokratie keine
Frage der ethnischen Zugehörigkeit ist. Alle Menschen
sind wie wir in der Lage, Demokratie zu entwickeln und
dafür zu sorgen, dass sich Freiheit entfalten kann.
({11})
Was sollen die Menschen in Kiew, die in Orange demonstrieren, denken, wenn wir ihnen sagen: Wir unterstützen euch zwar, aber es soll keiner von euch kommen?
({12})
Das wäre eine schlechte Botschaft.
({13})
- Herr Kollege, mit einer Büttenrede haben Sie sich in
diesem Parlament dauerhaft verewigt.
({14})
Weil wir nicht sagen können, dass keiner von diesen
Menschen kommen kann, müssen wir mit Schwierigkeiten bei der Einreise rechnen.
({15})
Auch die ehemaligen Minister Kanther und Kinkel hatten Schwierigkeiten damit. Diese Schwierigkeiten kann
man aber nicht leugnen. Wir müssen vielmehr darüber
diskutieren, was zu tun ist.
Meine Damen und Herren, ich habe drei Bitten.
({16})
Erste Bitte: Bleiben Sie gelassen!
({17})
Es ist wichtig, in einem Untersuchungsausschuss gelassen zu bleiben. Denn Gelassenheit ist notwendig, um
sich ohne Vorurteile mit einer Sache zu befassen.
({18})
Man sollte nicht meinen, dass man schon vorher weiß,
wie es hinterher ausgehen wird. Man sollte eine gewisse
Neugier und auch die Bereitschaft mitbringen, zu akzepOlaf Scholz
tieren, dass es vielleicht anders kommt, als man vorher
gedacht hat.
({19})
Ich sage deswegen noch einmal: Bitte etwas mehr Gelassenheit! Weil Sie so gern lateinisch sprechen, will ich Ihnen sagen: Im Ausschuss geht es darum, dass wir uns der
Sache sine ira et studio widmen.
({20})
Zweite Bitte. Wir sollten die Bereitschaft mitbringen,
dazuzulernen. Wir sollten gemeinsam herausfinden - das
sind wir unserem attraktiven Land schuldig -, wie wir
die Sicherheitsanforderungen möglichst effizient und
sorgfältig erfüllen können. Deshalb ist es wichtig, dass
man sich in einem solchen Ausschuss nicht nur Bekanntes sagt, sondern auch Schlussfolgerungen zieht, die zu
einer Verbesserung in der Praxis führen. Auch das ist
eine Bitte an Sie: Machen Sie dabei mit!
Dritte Bitte: Passen Sie auf!
({21})
Ein Untersuchungsausschuss ist ein wenig wie das Fischen in einem Teich. Sie werfen eine Angel aus und
hoffen, dass ein Vorwurf gegen die Regierung anbeißt.
({22})
Aber wie gesagt: Passen Sie dabei auf! Während Sie davon träumen, einen großen Fisch am Haken zu haben,
({23})
landen plötzlich Kinkel und Kanther auf dem Teller.
({24})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Hellmut
Königshaus das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDPFraktion steht der Einsetzung des Untersuchungsausschusses, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, skeptisch gegenüber. Ich glaube, der bisherige Verlauf der
Debatte hat diese Skepsis sehr bestätigt.
Da kommt der Kollege Scholz und tut so, als gebe es
überhaupt keine Probleme.
({0})
- Nein, das steht nicht in meinem Manuskript. Sie können es gerne haben, wenn Sie einmal das Manuskript einer guten Rede haben wollen. - Der Kollege Dr. Gehb
tut so, als seien die Vorwürfe, die er hier erhoben hat,
schon erwiesen. Beides ist ersichtlich falsch.
({1})
Auch ich war einmal Richter. Ich weiß: Ein Richter kann
in der Tat - jedenfalls in der Urteilsbegründung und bis
zur nächsten Instanz - schreiben, was er will.
({2})
Daraus Schlüsse zu ziehen ist allerdings etwas voreilig.
Eines ist allerdings auch klar: Der Volmer-Erlass ist
jedenfalls in Teilen rechtswidrig. Davon kann man sich
überzeugen, indem man ihn liest. Aber dafür brauchen
wir keinen Untersuchungsausschuss.
Wir werden natürlich in diesem Untersuchungsausschuss, wenn er denn eingerichtet wird, ganz konstruktiv
mitarbeiten. Denn es ist in der Tat notwendig, dass wir
prüfen, ob bei der Visaerteilung Missstände geherrscht
haben, ob es Versäumnisse oder Missbräuche gab und ob
es sie womöglich - das wäre das Gravierendste - immer
noch gibt. Aber wir hätten natürlich ganz gerne das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abgewartet. Denn wir wollen uns nicht an die Stelle eines
Staatsanwaltes setzen, sondern uns auf die parlamentarische Kontrolle von Regierungshandeln konzentrieren
und uns nicht in Kleinigkeiten verlieren.
({3})
Individuelles Fehlverhalten von Einzelnen können Sie
nie ausschließen. Wenn wir in so einem Fall jedes Mal
mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen reagierten, hätten wir sehr viel zu tun.
({4})
Ob es aber über den Volmer-Erlass hinaus - Herr
Volmer, so lustig ist das nicht - politisch zu verantwortendes Fehlverhalten gibt, können wir noch nicht beurteilen. Das werden wir dann im Untersuchungsausschuss
näher feststellen können. Bisher kennen wir Eindrücke
einer Strafkammer. Das ist in Ordnung; das mag sich
dort so dargestellt haben. Das sind Behauptungen, Vermutungen, Verdächtigungen. Es gibt also Indizien. Wir
werden prüfen, ob es im Einzelfall über den VolmerErlass hinaus - ich nenne ihn jetzt einmal so - Fehlverhalten gegeben hat.
Wir nehmen allerdings einen Vorwurf sehr ernst - der
das zuständige Gericht offenbar unmittelbar aus der
mündlichen Verhandlung gewonnen hat -: dass sich
auch hochrangige Angehörige des Auswärtigen Amtes
bemüht hätten, zu täuschen, zu mauern, zu vertuschen,
kurz: die Ermittlungen zu stören.
({5})
Das können wir sicherlich nicht akzeptieren. Dem werden wir auch im Untersuchungsausschuss nachgehen.
Wir werden ebenso versuchen - da können Sie sicher
sein -, den Sachverhalt in den übrigen Bereichen aufzuklären und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Der Versuch der Koalition - das will ich hinzufügen -, das Untersuchungsthema auszuweiten,
({6})
ist eine Nebenkampflinie. Das können Sie gerne tun; es
ist aber vollkommen kontraproduktiv und nutzlos; denn
es geht uns darum - es geht ja um unser Land -, wie wir
in Zukunft etwaige Missstände beseitigen können, und
nicht darum, irgendwelche Schuldzuweisungen in Bezug
auf die Vergangenheit zu treffen.
({7})
Wir haben keine Angst vor Prüfungen; Sie können das
also gerne tun. Aber wir finden es nachgerade abwegig,
bei einem so ernsten Thema in kleinliches parteipolitisches Gezänk abgleiten zu wollen. Das sehen wir als
eine unzumutbare Handhabung des Ganzen an.
Wir sehen auch die Gefahr, dass durch diese bisher
noch überhaupt nicht bewiesenen Verdächtigungen die
Mitarbeiter in den RK-Stellen der Auslandsvertretungen
verunsichert und zu einer restriktiven Handhabung gedrängt werden.
({8})
Das wäre in gleicher Weise schädlich, wie es im umgekehrten Fall das behauptete Fehlverhalten wäre.
Wir sind ein freies Land. Das haben Sie gesagt; da
gebe ich Ihnen ausnahmsweise wirklich Recht. Wir sind
ein freizügiges Land. Das wollen wir auch bleiben. Wir
wollen keine Einreisepolitik, die abschottet und gerade
diejenigen abschreckt, die wir eigentlich hier haben wollen.
({9})
Denn es sind gerade die Gutwilligen, die sich abschrecken lassen. Jeder Straftäter sucht ein Schlupfloch
und findet in der Regel - das ist die bedauerliche Erkenntnis - auch eines.
Wir wollen den Tourismus, den wissenschaftlichen
Austausch und den Geschäftsreiseverkehr nicht behindern. All dies ist schon gesagt worden; deshalb will ich
es nicht wiederholen. Die USA sind in diesem Punkt
wirklich ein warnendes Beispiel.
Eines ist mir besonders wichtig: Wir können es nicht
zulassen - egal von welcher Seite man das betrachtet -,
dass uns letzten Endes Schleuserbanden oder andere
Kriminelle diktieren, wie wir uns in der Einreisepolitik
verhalten. Denn wer Restriktionen verhängt und dies nur
tut, weil es diese Schleuserbanden gibt, ist im Grunde
genommen genauso von den Schleuserbanden abhängig
wie einer, der in Kenntnis von Schleuserbanden nichts
tut. Nein, meine Damen und Herren, wir als Liberale
wollen sicherstellen, dass Recht und Gesetz angewandt
und durchgesetzt werden - nicht mehr, aber übrigens
auch nicht weniger.
({10})
Deshalb müssen wir uns sehr eingehend mit diesem
zweifelhaften Erlass befassen. Es kann nicht sein, dass
selbst dann, wenn Zweifel bestehen, ob Sicherheitsbelange unseres Landes berührt sind - das steht unbestreitbar darin -, in dubio pro libertate - auch ich kann
Latein - eine Entscheidung zugunsten der Einreise getroffen werden soll.
({11})
- Das war so schön, dass wir es wirklich im Protokoll
ganz dick ausdrucken sollten.
Der Grundsatz „in dubio pro libertate“ wird hier ersichtlich falsch angewandt. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass sowohl Sicherheitsinteressen als auch die
Einreisepolitik einer Abwägung bedürfen, wobei im
Zweifel dann eben tatsächlich auch einmal zugunsten
des Einreiseverbotes entschieden werden muss. Dieses
Hin- und Herpendeln zwischen den Extremen, wie es
sich nun in dem Chrobog-Erlass zeigt, verdeutlicht, wie
verunsichert die politische Führung in diesem Hause ist.
({12})
Denjenigen, die vor Ort verantwortungsvoll handeln
und unter schwierigen Bedingungen aufopferungsvolle
Arbeit leisten - das können wir hier ruhig einmal gemeinsam sagen -, gilt unsere ausdrückliche Anerkennung; denn das ist ein Job, den wohl niemand machen
möchte.
({13})
Selbstverständlich wollen wir auch der Frage nachgehen, ob die Leitung des Auswärtigen Amtes die Mitarbeiter in den RK-Stellen durch personelle Ausstattung
überhaupt in die Lage versetzt hat, ihre Arbeit ordnungsgemäß zu erledigen. Dazu haben wir einiges gehört, was
sehr bedenklich stimmt. Ich erinnere daran, dass es in
der letzten Legislaturperiode gerade die FDP war, die
sich gegen globale Kürzungen bei genau diesen Stellen
gewehrt und übrigens auch durchgesetzt hat, dass sie davon ausgenommen wurden.
Meine Damen und Herren, wir teilen nicht die Auffassung, dass Mitarbeiter aus dem Bereich des BMI in
die Auslandsvertretungen abgeordnet werden sollten,
aber wir können uns durchaus vorstellen, dass geeignete
Mitarbeiter aus diesem Bereich herausgelöst und anschließend in den auswärtigen Dienst übernommen werden; denn dann könnte die Sachbearbeitung auf entsandte Mitarbeiter übertragen werden. Nur wenn mehr
entsandte Mitarbeiter als Visaentscheider zur Verfügung
stehen und auftreten, kann die oftmals durchaus problematische Betrauung von Ortskräften mit sicherheitsrelevanten Aufgaben reduziert werden. Aber es macht keinen Sinn, wenn wir hier im Inland aufgrund eines
Personalmangels an anderer Stelle Straftätern mit einem
Vielfachen an Aufwand hinterherlaufen müssen. Wir
fordern deshalb Vorrang für die Prävention, notfalls
auch durch Umschichtung von Planstellen, aber nicht
durch Umschichtung von Zuständigkeiten.
({14})
Ich komme zum Schluss: Alles dies werden wir im
Ausschuss, wenn er denn kommt, ohne Vorverurteilung,
aber selbstverständlich auch ohne Ansehen der Person
prüfen. Wir werden auch darauf achten, dass sich diese
Untersuchungen nicht in kleinliches Gezänk verirren,
wie es sich heute Morgen gezeigt hat. Die Sicherheit unseres Landes und übrigens auch der freiheitliche Charakter unseres Landes sind uns viel zu wichtig; sie sind auch
viel wichtiger als dieser kleinliche Parteienstreit.
Ich danke Ihnen.
({15})
Bevor nun der fröhliche Wettbewerb in Latein weitergeht, weise ich auf unsere Geschäftsordnung hin, wonach Reden im Deutschen Bundestag auch komplett in
deutscher Sprache vorgetragen werden dürfen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Opposition, die den
Antrag, über den wir heute beraten, unterschrieben haben, von Merkel und Glos bis Zeitlmann und Zöller,
wollen mit einem Visaausschuss Mitglieder unserer Regierung des Rechtsbruchs bezichtigen und sie in die
Nähe von Prostitution, Menschenhandel und organisierter Kriminalität rücken. Das ist unanständig und verleumderisch.
({0})
Diese Verleumdungen weisen wir ganz entschieden zurück. Wir werden auch im Untersuchungsausschuss dafür sorgen, dass Sie auf diese Art und Weise nicht zum
Erfolg kommen können.
({1})
Sie wollen mit dem Visaausschuss Sachverhalte untersuchen, die in diesem Hause schon dutzende Male besprochen und erklärt worden sind. Ihre Anfragen und die
Antworten der Bundesregierung füllen bereits ganze Aktenbände. Es gibt in der Visavergabepraxis des Auswärtigen Amtes nichts mehr aufzudecken, weil alle Fakten seit
Monaten bekannt sind. Kollege Volker Neumann hat in
der letzten Debatte zu diesem Thema, am 12. November,
einen vollständigen Abriss der Rechtslage und Verwaltungspraxis gegeben. Also: Der Ausschuss ist eigentlich
überflüssig.
({2})
Sie wollen mit Ihrem Visaausschuss
({3})
in Wahrheit einen Keil zwischen Bundesaußenminister
Fischer und Bundesinnenminister Schily treiben.
({4})
Da führt kein Weg hin. Mit dieser Leichtmatrosenmannschaft werden Sie bei diesem Vorhaben Schiffbruch erleiden.
({5})
Fischer und Schily - das weiß jeder hier im Hause -, das
ist ein ganz altes Gespann,
({6})
das Sie jedenfalls nicht auseinander bringen werden.
({7})
Im Übrigen überschreiten Ihre Versuche in dieser
Richtung das Recht des Untersuchungsausschusses. Die
ist verfassungswidrig, weil sie die geschützte Sphäre der
politischen Meinungsbildung in der Bundesregierung
nicht achten, sondern ausforschen wollen. Deshalb werden wir Ihren Antrag heute in den Geschäftsordnungsausschuss überweisen,
({8})
wo er geprüft, vervollständigt und verfassungsfest gemacht wird.
({9})
Sie wollen sich mit Ihrem Visaausschuss
({10})
einen Traum erfüllen: den seit Jahren beliebtesten Politiker in der Bundesregierung madig zu machen.
Herr Kollege Gehb, ich gratuliere Ihnen. Seit gestern
sind Sie designierter Obmann des Untersuchungsausschusses in spe. Sie haben dies jedenfalls sehr schön in
der gestrigen Ausgabe der „Sächsischen Zeitung“ ausgeführt. Sinngemäß heißt es dort:
({11})
Wir werden Herrn Fischer in den Dunstkreis einer Fehlentscheidung stellen und nehmen billigend in Kauf, dass
dabei ein bisschen von seiner Popularität verloren geht.
({12})
Entlarvender kann man sich nicht äußern, als Sie es tun.
({13})
Sie werden sich überheben. Das Schwergewicht Fischer
- das meine ich diesmal ausschließlich politisch ({14})
spielt in einer anderen Preisklasse. Da können Sie mit
Kreisverwaltungsreferenten aus München oder Impulsbolzen aus Hessen nicht kommen.
({15})
Schließlich wollen Sie mit Ihrem Visaausschuss die
kommenden Wahlkampfzeiten erreichen. In Ihren Reihen wird fortwährend über mögliche Untersuchungsausschüsse verhandelt. Dabei ist die Hauptfrage nicht, was
man aufdecken kann, sondern: Womit können wir der
Bundesregierung am meisten schaden?
({16})
Das Rennen hat jetzt der Visaausschuss gemacht, und
zwar offensichtlich, weil Sie in diesem das größte Skandalisierungspotenzial sehen.
Sie haben sich mit dem Antrag aber - um den Ausschuss in die kommenden Wahlkampfzeiten zu platzieren - sehr viel Zeit gelassen. Angeblich - Sie, Herr Kollege Gehb, haben das heute hier gesagt - war das Urteil
des Landgerichts Köln der Auslöser für Ihre Entscheidung.
({17})
Nur, das Urteil datiert vom 9. Februar und wir haben Dezember.
({18})
Der Kollege Gehb - so hat er sich gestern jedenfalls
geäußert - wurde durch das Urteil - Zitat - ganz hellhörig und bei ihm gingen alle Alarmglocken an. Bei Ihnen,
Herr Kollege Gehb, haben diese Glocken jetzt zehn Monate lang geschrillt, ehe Sie auf die Idee mit dem Untersuchungsausschuss gekommen sind.
({19})
Das Recht auf Einberufung eines Untersuchungsausschusses ist ein Minderheitenrecht. Und Sie sind eine
Minderheit;
({20})
also werden Sie Ihren Ausschuss auch bekommen.
Aber dieser Untersuchungsausschuss wird sich umfassend mit dem Thema der Anwendung des geltenden
Ausländerrechts und der Visaerteilungspraxis der deutschen Auslandsvertretungen insbesondere in den MOEund GUS-Staaten beschäftigen müssen. Die Geschichte
der Visaerteilung und Visahandhabung für Osteuropäer fängt nicht im Oktober 1998 an. Sie glauben, die
Thematisierung im Ausschuss auf den Zeitraum nach
1998 begrenzen zu können. Mit dem Fall des Eisernen
Vorhangs, der Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in zwei gegnerische Teile geteilt hat, erhielten
Millionen von Menschen die Reisefreiheit, die ihnen bis
dahin nicht vergönnt war. Sie nutzen diese Freiheit, so
gut sie können. Ihre Unterstellungen - seit Monaten suggerieren Sie in vielen Ihrer Reden, dass es sich hierbei
größtenteils um Schwarzarbeiter, Prostituierte und Kriminelle handelt - sind durch und durch perfide.
({21})
Meine Damen und Herren, diese Menschen haben
wirklich wenig Geld. Sie kratzen alles zusammen, was
sie haben, um sich die Reise in den Westen erlauben zu
können. Unter diesen Menschen gibt es auch solche, die
vorübergehend schwarzarbeiten.
({22})
Auch gibt es Fälle von Zwangsprostitution und organisierter Kriminalität; sie sind nicht zu dulden.
({23})
Damit beschäftigen sich die Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane bei uns im Lande. Aber die meisten dieser
Menschen wollten nur einmal erleben, was für uns seit
Jahrzehnten selbstverständlich ist: die Welt sehen und
sich Neues anschauen. Danach wollten sie wieder in ihre
Heimat zurückkehren.
Wir werden uns deshalb auch von Ihrem Antrag auf
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der von
den Engstirnigen in Ihren Reihen unterstützt wird, nicht
davon abbringen lassen, dafür zu arbeiten, dass Deutschland ein weltoffenes und gastfreundliches Land ist und
bleibt,
({24})
so auf seine Nachbarn im Osten Europas zugeht,
({25})
und dass Weltoffenheit und Humanität auch in Zukunft
wichtige, verpflichtende Elemente der Arbeit unserer
Auslandsvertretungen bleiben.
({26})
Gerade heute sind Ihre Angriffe auf Menschen aus der
Ukraine besonders heuchlerisch.
({27})
Dabei beziehe ich mich ganz ausdrücklich auf das, was
mein Kollege Olaf Scholz dazu gesagt hat.
({28})
Es ist unglaublich, dass Sie glauben, Sie könnten wohlfeile Reden zugunsten der Demonstranten in Kiew und
Lwow halten und gleichzeitig die Masse der Ukrainer so
verleumden, wie Sie das tun.
({29})
Die schon am Anfang, besonders aber Mitte der 90erJahre anschwellende Zahl von Visaanträgen führte bei
der Bearbeitung der Anträge tatsächlich zu großen Problemen. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurden sowohl
das Reisebüroverfahren als auch das Reiseschutzpassverfahren eingeführt. Ersteres hat die Notwendigkeit abgeschafft, persönlich bei der Visastelle vorzusprechen, das Zweite hat für den Staat die Gewährleistung
einer unbürokratischen Ausfallbürgschaft für eventuelle
Kosten übernommen.
Es ist richtig: Schlepperringe haben sich dieser beiden
Instrumente bemächtigt und sie in vielen Einzelfällen
zur Täuschung der Auslandsvertretungen missbraucht.
({30})
Nur, meine Damen und Herren, das Reisebüroverfahren
und das Reiseschutzpassverfahren stammen nicht aus
unserer Regierungszeit, sondern sind von der Regierung
Kohl in den 90er-Jahren eingeführt worden.
Sie berufen sich immer auf das Urteil des Landgerichts Köln vom 9. Februar dieses Jahres, zitieren es allerdings völlig aus dem Zusammenhang gerissen und
verfälschen es komplett.
({31})
Ich habe mir vielleicht als einer der wenigen die Mühe
gemacht, das Urteil von A bis Z zu lesen. Darin wird auf
mehreren Hundert Seiten akribisch ausgeführt, dass der
Straftäter, der abgeurteilt worden ist, nicht den VolmerErlass, den er wahrscheinlich gar nicht kannte, benutzt
hat, um nach Deutschland zu schleusen, sondern dass er
ausschließlich die beiden Instrumente, die in Ihrer Regierungszeit geboren worden sind - das Reisebüroverfahren und das Reiseschutzpassverfahren -, missbraucht
hat, um in Deutschland seine Straftaten zu begehen.
({32})
Deswegen ist der in diesem Zusammenhang gegen die
Bundesregierung erhobene Vorwurf auch so zu verstehen, dass er sich gegen Sie von der CDU/CSU richtet,
die Sie mit erhobenem Finger auf die rot-grüne Bundesregierung zeigen.
({33})
All diese Zustände, die im Einzelnen bekannt sind, sind
inzwischen durch die Aktivitäten der Regierung und des
Auswärtigen Amtes beendet worden. Am 3. August 2001
ist zum Stichtag 1. Oktober 2001 die erste undichte
Stelle, das Reisebüroverfahren, gestopft worden. Im
März 2003 ist das andere Loch gestopft worden, indem
das Reiseschutzpassverfahren auf einen reinen Krankenversicherungsnachweis zurückgeführt worden ist.
Was nicht abgestellt ist
({34})
und was wir auch nicht abstellen wollen, meine Damen
und Herren, ist die persönliche Einflussnahme von Abgeordneten der CDU/CSU auf die Visumserteilung für
viele Ukrainer.
({35})
Wer hat sich nicht alles für eine humane und menschenfreundliche Behandlung von Einreisewilligen
eingesetzt! An erster Stelle Herr Kollege Dr. Uhl,
({36})
aber viele andere Ihrer Fraktion auch. Sie alle haben um
die Anwendung des Volmer-Erlasses gebeten:
({37})
Bitte nach Recht und Gesetz, aber doch nicht immer so
kleinlich gegenüber denjenigen Reisewilligen, die sie zu
betreuen haben. Zu Hause im Wahlkreis warteten wohl
Freunde auf Arbeitskräfte, auf Glaubensbrüder, auf Geschäftspartner, auf Heiratswillige. Deswegen haben Sie
sich immer dafür eingesetzt.
({38})
Ich kann nur noch einmal wiederholen: Sie wollen nicht
an die Wahrheit ran, Sie wollen an den Bundesaußenminister ran. Sie wollen mit Dreck werfen und hoffen, dass
etwas hängen bleibt. Freuen Sie sich nicht zu früh.
({39})
Lassen Sie es sich gesagt sein: Für Sie ist unser Außenminister Joschka Fischer wie eine Eiche:
({40})
An der können Sie sich wetzen und schuppern, bis Sie
bluten - die Eiche steht!
({41})
Am Ende der Ermittlungen des Untersuchungsausschusses, den Sie jetzt durchsetzen wollen, werden Sie die
Scherben Ihrer Politik zu besichtigen haben. Sie sind unfähig zu guter Nachbarschaft in Richtung Osteuropa,
({42})
Sie können Sicherheit nur herstellen, indem Sie Fremdenphobie und Ausländerangst schüren, und Sie setzen
die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands aufs Spiel: Sie
würden uns am liebsten von der Welt abschotten. Wir
werden uns anstrengen, dass Ihnen dies nicht gelingt.
({43})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Jerzy Montag aus München, Joschkas Ministrant
mit dem Weihrauchkästle in der Hand, das er betulich in
großer Sorge um seinen Außenminister schwenkt! Haben Sie doch keine Angst! Halten Sie es wie Herr
Scholz: Bleiben Sie ganz gelassen!
({0})
Wir werden niemals versuchen, die geradezu sprichwörtliche Geschlossenheit - bundesweit bekannt - zwischen
dem Exgrünen Schily und dem Obergrünen Joschka
Fischer zu stören. Wir wissen doch: Es passt kein Blatt
Papier zwischen die beiden.
({1})
Wir wollen Ihnen, Herr Montag, aber bei Ihrem neuerlichen Vorschlag, die Ukraine zu retten, indem wir den
Ukrainern Visa ausstellen, nicht folgen. Das machen wir
lieber nicht! Denn die Ukraine - mit Verlaub, das dürften
Sie wissen - hat die gleiche Bevölkerungsgröße wie
Frankreich. Wenn wir alle dort mit Visa ausstatten, damit
sie herkommen können, geht das vielleicht selbst
Joschka einen Schritt zu weit.
({2})
Wie benötigt und berechtigt dieser Schleuseruntersuchungsausschuss ist, zeigen die hilflosen und geradezu
abenteuerlichen Bemühungen der Bundesregierung.
({3})
Jetzt wird Bundestagsabgeordneten der Union vorgehalten, sie hätten sich in mehreren Fällen für Visumserteilungen ausgesprochen. Namen von Abgeordneten werden von der Staatsministerin Kerstin Müller verlesen, so
als hätte sie eigenhändig Ladendiebe erwischt und
könnte sie jetzt an den Pranger stellen.
({4})
Meine verehrten Damen und Herren, es ist und bleibt
das elementare Recht der Bürger, sich an ihren Abgeordneten zu wenden, und es ist unser Recht und auch unsere
Pflicht, Herr Scholz, mit diesen Petitionen an die Bundesregierung heranzutreten und um eine Überprüfung
des Sachverhalts zu bitten. Mich können Sie mit dieser
Methode jedenfalls nicht einschüchtern. In dem Fall, der
hier angeführt wurde, ging es um Folgendes: Das Bayerische Rote Kreuz führt seit Jahren Reisen für jugendliche Pfadfinder aus der Ukraine durch. Eines Tages gab
es Probleme mit dem Visum, kurz vor der Abreise; sie
hatten ihre Rucksäcke schon gepackt. Ich habe mich
dann dafür eingesetzt, dass sie ihre Visa bekommen.
({5})
- Ja, ich bekenne mich dazu. Ich würde es wieder tun
und ich hoffe doch sehr, dass auch Sie es tun würden.
({6})
Ich will Ihnen eines sagen, wovon Sie noch nichts
wissen können: Ich habe gestern schon wieder in einem
Visumsfall an das Auswärtige Amt geschrieben. Ein mir
seit 20 Jahren bekannter Perser mit - mittlerweile deutschem Pass hat eine schwere Krebsoperation vor
sich und will noch einmal Verwandtenbesuch aus Teheran empfangen. Der Cousine und der Tochter wurde die
Erteilung eines Visums abgelehnt, und zwar, wie mir
scheint, aus fadenscheinigen Gründen. Ich habe einen
Brief geschrieben, weil mir der Mann bekannt ist, und
habe ausgeführt, wie der Fall wirklich liegt.
({7})
Ich habe mich dafür eingesetzt und werde mich auch
weiter dafür einsetzen. Ich hoffe sehr, dass auch Sie bereit sind, sich für solche humanitären Fälle einzusetzen.
({8})
Richten Sie es der Staatsministerin Müller aus: Ich bitte
sie sehr, mit diesen perfiden Angriffen unverzüglich aufzuhören.
({9})
Es wäre auch gut, wenn der eine oder andere Journalist
diese perfiden Angriffe nicht blindlings dümmlich abpinseln würde.
({10})
Angesichts der politisch gewollten Praxis, die über
Jahre hinweg zu einem massenhaft unkontrollierten
Visamissbrauch - hunderttausendfach - geführt hat,
muss dieser Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Die Visapraxis auf der Grundlage einer Weisung
des Außenministers Fischer von März 2000 verstößt gegen den Geist des Schengen-Abkommens.
Wir haben mit schriftlichen Anfragen und mit Regierungsbefragungen versucht, Licht ins Dunkel zu bringen.
Die Bundesregierung hat präzise gestellte Fragen aber
nicht beantwortet. Sie hat Fakten dreist abgestritten und
Versäumnisse beschönigt. Das heißt, aus parlamentarischen Gründen müssen wir zum letzten denkbaren Mittel
des Untersuchungsausschusses greifen. Durch Zeugenvernehmungen und Aktenbeiziehungen werden wir
Licht in den Visaskandal bringen.
({11})
Die Aufklärung durch diesen Ausschuss ist auch für
die Zukunft wichtig. Wir alle wissen, dass die Migrationsströme nach Westeuropa und vor allem nach
Deutschland in den nächsten Jahren wachsen werden,
dass die Nachfrage nach Schengen-Visa von Jahr zu Jahr
größer werden wird und dass die Warteschlangen vor
den deutschen Visastellen noch länger werden. Das
heißt, wir müssen wissen, wie wir mit dieser Situation
umgehen können.
Wir müssen bedenken, dass es bei Monatsgehältern in
den GUS-Staaten in Höhe von 100 Euro gar nicht sein
kann, dass Hunderttausende von Menschen als Touristen
oder Geschäftsreisende hierher kommen. Wir wissen
ganz genau, dass die Mehrzahl dieser Menschen
Schwarzarbeiter und Billiglohnarbeiter sein müssen.
Meine Kollegen von der SPD, es wird Ihnen im nächsten
Jahr sehr zu schaffen machen - als Stichwort nenne ich
nur Hartz IV -, wenn Sie den Grünen die Hand für diese
Visapolitik reichen.
({12})
Wir werden es auch nicht zulassen, dass mit Visa ausgestattete Prostituierte in großer Zahl nach Deutschland,
insbesondere nach Berlin, kommen. Darüber wird noch
zu reden sein. Dies alles wird im Visa- bzw. Schleuserausschuss geprüft werden.
Wir brauchen den Ausschuss, um die behördlichen
Versäumnisse der letzten Jahre aufzudecken. Wir brauchen den Ausschuss, um die dafür Verantwortlichen festzustellen. Wir brauchen den Ausschuss, um die bestehende Visapraxis an den deutschen Konsularabteilungen
zu überprüfen und zu verbessern. Ich füge hinzu - Herr
Montag, hier haben Sie uns ganz gezielt, bewusst und
gewollt missverstanden -: Der Untersuchungsausschuss
hat nicht zum Ziel, Deutschland abzuschotten.
Deutschland als Industriestandort und als Exportnation Nummer eins kann niemals auf den freien Verkehr
von Wirtschafts- und Geschäftsleuten sowie auf den
freien Austausch von Wissenschaftlern, Studenten und
Professoren verzichten.
({13})
Deutschland hat niemals versucht, irgendwelche Verwandtenbesuche zu verhindern, die aus humanitären
Gründen gemacht werden sollten. Wir werden uns dafür
einsetzen, dass es zu einem solchen Austausch in noch
größerer Zahl als bisher kommen kann. Wir werden auch
Fälle vortragen, in denen dieser vernünftige und gute
Austausch von Wissenschaftlern, Studenten und Wirtschaftsleuten behindert wurde. Auch das wollen wir in
diesem Ausschuss zur Sprache bringen, sodass das zukünftig nicht mehr möglich ist.
Herr Montag, darin unterscheiden wir uns von Ihnen
und von den Grünen ganz allgemein: Wir wollen keine
Einreise von illegalen Billiglohnarbeitern,
({14})
wir wollen keine Einschleusung von Prostituierten und
wir wollen kein Einsickern von Kriminellen und schon
gar nicht von Terroristen, wie es bereits vorgekommen
ist.
({15})
Sie haben die Möglichkeit, zu sortieren. Die Bundesregierung hat eingespielte Verwaltungsapparate in den
Visastellen. Fangen Sie ja nicht an, die Schuld auf die
Spitzenbeamten der Konsularabteilung zu schieben. Die
Schuld liegt bei der politischen Führung und nicht bei
den kleinen Beamten.
({16})
Das Problem liegt ganz allein bei der grünen politischen
Führung, ihren Instruktionen und Erlassen, die wir Stück
für Stück durchleuchten werden.
Verblendet von der eigenen Ideologie sitzen die Grünen nach wie vor in ihrem Kitschladen von Weltoffenheit und multikultureller Gesellschaft. Nicht einmal die
Ereignisse in Holland haben die Grünen wachgerüttelt.
Eine realitätsbezogene Sicherheitspolitik, wie sie uns
vorschwebt, ist mit den Grünen nicht zu machen.
({17})
Es gibt die Gefahr des massenhaften Visamissbrauchs.
Dies müssen Sie zur Kenntnis nehmen, aber das wollen
vor allem die Grünen nicht wahrhaben. Auch die Probleme der illegalen Einwanderung müssen Sie ernst nehmen. Sie aber wollen sie verdrängen.
Der Untersuchungsausschuss wird zeigen - in dem
Wortlaut des Volmer-Erlasses wird in diesem Zusammenhang von Weltoffenheit schwadroniert -, wie eingangs schon gesagt worden ist, ob der Bundesaußenminister Joschka Fischer die Visapraxis überprüft und
grundlegend geändert hat. Er will die Türen für ein weltoffenes Deutschland nach dem Motto öffnen: Macht
hoch die Tür, die Tor macht weit.
({18})
Das ist grüne Zuwanderungspolitik pur. Diese grüne Zuwanderungspolitik ist gescheitert.
({19})
Sie ist an den Zuständen vor der deutschen Botschaft in
Kiew gescheitert, die sprichwörtlich geworden und
durch die ganze Weltpresse gegangen sind.
({20})
Sie sind mit Ihrer multikulturellen, offenen Zuwanderungspolitik, die die Sicherheitsinteressen Deutschlands
negiert, gescheitert. Dies werden wir deutlich machen.
Dazu brauchen wir den Ausschuss, in dem dies offen gelegt werden wird. Was danach mit Joschka Fischer passiert, werden wir schon sehen. Bleiben Sie gelassen,
Herr Montag.
({21})
Das Wort hat nun die Kollegin Monika Heubaum für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum wiederholten Male haben wir nun heute Gelegenheit, uns in
diesem Hohen Hause mit dem Lieblingsthema einiger
Kollegen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu beschäftigen, nämlich mit dem ungeheuren Vorwurf, die
Bundesregierung leiste durch die Praxis ihrer Visaerteilung kriminellen Machenschaften Vorschub.
({0})
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich hat
die Opposition das Recht, mögliche Missstände oder
Fehlentwicklungen,
({1})
die in den Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung
fallen, aufzudecken oder zu untersuchen.
({2})
Allerdings sollte dieses Vorhaben mit einer gewissen
Seriosität betrieben und nicht zu vordergründigen populistischen Zwecken missbraucht werden.
({3})
Hunderte von Anfragen, mündlich, schriftlich, Große
und Kleine Anfragen,
({4})
hat die Bundesregierung in der Zwischenzeit bearbeitet
und beantwortet.
({5})
Am 12. November dieses Jahres haben wir hier im
Hause die Große Anfrage zum Verdacht der Förderung
der Schleuserkriminalität durch die Bundesregierung debattiert.
({6})
Das öffentliche Interesse an diesem Thema bleibt allerdings begrenzt.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
können Sie mir denn Beispiele für das Medienecho nennen, das diese Debatte damals gefunden hat, die überdies
zur besten Sendezeit am Freitagvormittag übertragen
worden ist?
({8})
Können Sie mir irgendeinen Zeitungsartikel nennen, der
auf genuines Interesse der Medien schließen lässt und
nicht aus Ihren Reihen unterfüttert worden ist?
({9})
Nun werden wir uns also in den nächsten Wochen
weiterhin mit diesen Praktiken, die Sie anwenden, und
mit diesem Thema beschäftigen dürfen.
({10})
In der letzten Woche, der Haushaltswoche, haben wir
aus den Reihen der CDU/CSU schon einen kleinen Vorgeschmack auf das bekommen, was uns in der nächsten
Zeit erwartet. Mit Worten, die ich besser nicht wiederhole, weil ich vom Bundestagspräsidenten nicht gerügt
werden möchte, wurde hier der Außenminister beschimpft. Ihm wurde vorgeworfen, er habe dazu beigeMonika Heubaum
tragen, dass Millionen von Ausländern illegal nach
Deutschland und in andere europäische Länder eingereist seien.
Trotz diverser Entschuldigungen wurden die perfiden
Vorwürfe in der Sache nicht zurückgenommen. Diese
Äußerungen insgesamt machen deutlich, um was es der
CDU/CSU mit diesem Untersuchungsausschuss überhaupt geht: den Außenminister und die politische Führung des Auswärtigen Amtes zu diskreditieren,
({11})
nicht aber, um Aufklärung in der Sache zu betreiben.
({12})
Dass die Union dieses Ziel verfolgt, erkennt man an den
Äußerungen im Plenum. Ich denke hier nicht zuletzt an
den Kollegen Dr. Uhl, der den Staatsminister a. D.
Dr. Ludger Volmer einen einwanderungspolitischen
Triebtäter nannte.
({13})
Man erkennt es auch an den Formulierungen des Einsetzungsantrags.
({14})
Daher kann die Vorlage der CDU/CSU in einem seriös
arbeitenden Parlament, wie wir es sind, nicht akzeptiert
werden und muss an den Geschäftsordnungsausschuss
überwiesen werden.
({15})
Der Auftrag des Untersuchungsausschusses ist in dem
Antrag völlig unklar formuliert. Er bezieht sich nicht auf
Tatsachen und Fakten, sondern enthält Unterstellungen,
durch die die Mitglieder der Bundesregierung sowie ihre
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verunglimpft, beschimpft und vorverurteilt werden.
({16})
So wird etwa suggeriert, dass die Bundesregierung gegen geltendes Recht und internationale Verpflichtungen
verstoßen habe, dass sie die organisierte Kriminalität
fördere und Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schengenstaaten gefährde.
({17})
Ich möchte hier eindringlich darauf hinweisen, in
welch sensiblem Bereich sich die Visapolitik abspielt.
Deutschland ist, wie schon ausgeführt wurde, ein weltoffenes und gastfreundliches Land und wir haben ein großes Interesse an dieser Offenheit, die unsere Gesellschaft nämlich erst zu der macht, die sie ist. Aus vielen
Gründen, seien sie wirtschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher, touristischer oder familiärer Natur, haben
wir ein Interesse an ständigem und regelmäßigem persönlichem Austausch mit dem Ausland. Unsere Offenheit ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa
ein Spiegelbild der Freiheit unserer Gesellschaft. Auf
diese Freiheit und damit auch auf die Offenheit gegenüber Besuchern aus dem Ausland sind wir sehr stolz.
({18})
Wir müssen gerade angesichts terroristischer Bedrohung
weiterhin für sie kämpfen. Denn ohne sie verliert unsere
Gesellschaft nicht nur ihre einzigartige Anziehungskraft,
ohne sie verlieren wir auch ein Stück unserer politischen
Freiheit.
Aber wir müssen natürlich auch die Erfordernisse der
inneren Sicherheit berücksichtigen. Die Anschläge
vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004 in
Madrid haben wohl am deutlichsten gezeigt, dass Offenheit auch Risiken für die Sicherheit mit sich bringt, vor
denen wir die Augen selbstverständlich nicht verschließen. Das tun wir auch nicht. Sicherheitspolitik ist bei der
Koalition in sehr guten Händen.
({19})
Wir sind offen für legale Einreisen. Wir wehren uns gegen Versuche der illegalen Einreise nach Deutschland
und Europa. Schleusertum, Zwangsprostitution, Drogenschmuggel - diesen Verbrechen müssen wir auch mit
unserer Visapolitik vorbeugen. Im Kontext der Globalisierung werden diese Probleme nicht weniger. Im Gegenteil: Sie begegnen uns in ganz neuen Dimensionen.
Aus diesem Grund dürfen die Sicherheitsinteressen
Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger nicht
vernachlässigt werden. Wenn Fälle von Missbrauch und
Korruption auch und gerade im Zusammenhang mit der
Erteilung von Visa auftreten, dann müssen sie entschlossen bekämpft werden. Das tun wir auch.
({20})
In diesem Spannungsbereich von Sicherheit einerseits
und dem Wunsch nach Offenheit andererseits arbeiten
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Visastellen
der deutschen Auslandsvertretungen. Sie haben eine verantwortungsvolle Aufgabe und werden ihr in ganz überwiegendem Maße in hervorragender Weise gerecht.
Der rechtliche Rahmen hat sich dabei im Kern nicht
geändert: Sie sind gebunden an das deutsche Ausländerrecht, das Schengener Durchführungsübereinkommen
und an die Gemeinsame Konsularische Instruktion. Damit spielen im Visumsverfahren nicht nur die Sicherheitsbelange, sondern auch humanitäre Verpflichtungen
eine Rolle. Auch diesen Ansprüchen müssen wir bei der
Erteilung von Visa gerecht werden und dürfen sie keinesfalls als Instrument zur Abschottung missbrauchen.
Dazu gibt es den Bereich der Ermessensentscheidungen, in dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
unserer Botschaften und Konsulate bewegen. Diese
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hervorragende Arbeit leisten, werden sich nun bei der Union dafür bedanken können, dass sie mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses unter Generalverdacht geraten und
verunsichert werden.
({21})
Wie sollen sie ihren Ermessungsspielraum für sachgerechte Entscheidungen noch wahrnehmen können, wenn
ihre Arbeit zum Spielobjekt parlamentarischer Profilierung gemacht wird?
Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, Sie
haben selbstverständlich das Recht, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen. Es findet sich in Ihrem
Antrag jedoch kein einziger der vorgenannten Aspekte
wieder, die dem Untersuchungsausschuss wenigstens ein
bisschen Sinn verleihen würden. Aber wen wundert es?
Ihr Ziel ist es ja nicht, eine sachliche Debatte zu führen,
sondern das Ansehen der politischen Führung des
Auswärtigen Amtes und insbesondere das des Bundesaußenministers zu beschädigen.
({22})
Daher muss, wie gesagt, der Antrag an den GO-Ausschuss überwiesen und dort überarbeitet werden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ja. - Abschließend sage ich den Damen und Herren
von der CDU/CSU-Fraktion, dass sie ihr Ziel, das sie
mit dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verfolgen, nämlich den Außenminister und das
Auswärtige Amt zu diskreditieren, nicht erreichen werden.
({0})
Wir von der SPD-Fraktion sehen diesem Untersuchungsausschuss daher sehr gelassen entgegen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Clemens
Binninger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Angesichts
der Debattenbeiträge von Rot-Grün in den vergangenen
60 Minuten habe ich den Eindruck, dass versucht wird,
einen der größten ausländerrechtlichen Skandale in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit der legalen Praxis der Visaerteilung zu verknüpfen,
({0})
und dass Sie selbst davor nicht zurückschrecken, die Bemühungen der demokratischen Opposition in der Ukraine damit zu verknüpfen. Das ist beschämend!
({1})
Darum geht es weder in dieser Debatte noch bei dem
vorgesehenen Untersuchungsausschuss.
Es geht auch nicht darum, Herr Montag, dass es in der
Vergangenheit möglicherweise immer wieder einmal
Probleme bei der Visaerteilung gegeben hat. Visamissbrauch mag es immer wieder gegeben haben.
Kriminalität ist leider unter allen Regierungen ein
Phänomen, das nicht ganz ausgemerzt werden kann.
Wenn Kriminalität aber eine bestimmte Dimension erreicht hat, dann muss man nachfragen, wie das möglich
ist. Es geht hier um die Tatsache, dass seit dem Jahr 2000
die Zahl der illegalen Schleusungen sowie der Menschenhandel und die Prostitution - ich beziehe mich dabei insbesondere auf die deutsche Botschaft in der
Ukraine - in einem Maße wie noch nie zuvor in der Geschichte dieses Landes zugenommen haben.
({2})
Das steht in Zusammenhang mit dem Erlass, den das
Außenministerium unter Verantwortung des heute schon
viel zitierten Ministers Fischer - ich hätte ihn gar nicht
erwähnt; aber Sie selber reden ja dauernd von ihm - im
Jahr 2000 verfügt hat. Der Fischer/Volmer-Erlass regelt
im Kern Folgendes: Im Zweifel ist bei der Visaerteilung
die Reisefreiheit höher zu bewerten als die Sicherheit der
Menschen in unserem Land. Allein das ist ein Skandal,
dem man nachgehen muss.
({3})
- Doch, ich habe ihn gelesen.
Seit In-Kraft-Treten dieses Erlasses sind die Zahlen
der erteilten Visa und auch der Missbrauchsfälle - das ist
der Zusammenhang - dramatisch gestiegen. Wenn man
sich den Erlass genau anschaut, dann stellt man fest, dass
mit ihm zumindest das gefördert wurde, was wir vermeiden wollen, nämlich dass Menschen illegal in unser
Land kommen. Wenn man sich zudem die gesamte Geschichte des Prozesses in Köln vor Augen führt, dann
muss man leider feststellen: Der Fischer/Volmer-Erlass
war kein taugliches Instrument für eine vernünftige
Visapolitik, sondern ein Weckruf für die organisierte
Kriminalität.
({4})
Ich möchte anhand von ein paar Fakten versuchen
- auch wenn Sie sich darüber genauso wie über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses heute schon
mehrfach empört haben -, der deutschen Öffentlichkeit
die Zusammenhänge aufzuzeigen. 1998 und 1999 - Herr
Erler, damals waren Sie schon an der Regierung - erteilte die deutsche Botschaft in der Ukraine im Durchschnitt 140 000 Visa pro Jahr. Sicherlich wird es auch in
dieser Zeit Missbrauchsfälle gegeben haben. Aber das
scheint das Normalmaß gewesen zu sein. Das kritisiere
ich nicht. Aber als im Jahr 2000 der Fischer/Volmer-Erlass in Kraft trat, stieg die Zahl der durch die deutsche
Botschaft in der Ukraine erteilten Visa schlagartig auf
über 200 000. Als es sich in der Szene herumgesprochen
hatte, wie leicht man hier an Visa kommen kann, ist im
folgenden Jahr die Zahl der erteilten Visa auf 300 000
gestiegen. Angesichts solcher Dimensionen ist es noch
nicht einmal im Ansatz möglich - da können die Mitarbeiter noch so gut sein; allein mengenmäßig geht das
nicht mehr -, zu bewerten, ob der Antrag auf ein Visum
korrekt ist oder ob es sich um kriminelle Aktivitäten
handelt. 300 000 Visa in einem Jahr dank Ihres Erlasses,
in dem die Reisefreiheit im Zweifel höher bewertet wird
als die Sicherheit der Menschen in unserem Land! Das
sind die Fakten, die den Zusammenhang zwischen dem
Fischer/Volmer-Erlass und dem Anstieg der Zahl der
missbräuchlich erteilten Visa belegen.
({5})
- Sicher nicht, Herr Kollege Hartmann. Dass wir uns alle
dafür verwandt haben, mag nur in Einzelfällen stimmen.
Aber den Zusammenhang zwischen dem Fischer/
Volmer-Erlass und den beschriebenen Dimensionen, die
seit In-Kraft-Treten dieses Erlasses erreicht wurden,
können Sie jedenfalls nicht wegdiskutieren.
Wenn dann in einem Gerichtsverfahren noch bekannt
wird, dass ein Verurteilter auf seiner Homepage mit der
Adresse www.visafabrik.de Werbung machen konnte,
dann zeigt das doch, welche Schleusen Sie mit diesem
Erlass geöffnet haben. Deshalb führen wir heute diese
Debatte und deshalb haben wir die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt.
({6})
Wir werden im Untersuchungsausschuss verschiedenen Fragen nachgehen müssen, zum Beispiel der Frage,
wie es sein konnte, dass südeuropäische Nachbarstaaten
Deutschlands schon früher auf den Missbrauch aufmerksam wurden und warum nichts passiert ist, nachdem das
BMI das Außenministerium informiert hatte. Herr
Montag, wir werden außerdem der Frage nachgehen
müssen, wie ein tschetschenischer Terrorist, der an dem
Anschlag auf das Moskauer Musicaltheater beteiligt war,
trotz angeblicher Warnhinweise des russischen Nachrichtendienstes ungehindert mit einem von der deutschen
Botschaft in Moskau erteilten Visum nach Deutschland
einreisen und auch wieder ausreisen konnte.
Wir werden der Frage nachgehen müssen, wie es sein
kann, dass sich das BMI und das Auswärtige Amt bei
der Bundesdruckerei für den später Verurteilten verwandt haben, ohne dabei versicherungsrechtliche Legitimationen hinreichend zu beachten. Außerdem werden
wir der Frage nachgehen müssen, warum Außenminister
Fischer - jetzt erwähne ich ihn doch - diesem Treiben so
lange zugesehen hat - ob informiert oder nicht, das wird
der Untersuchungsausschuss klären -, durch das so viel
kriminelle Energie wie noch nie in unser Land und in
Nachbarstaaten gekommen ist. Deshalb führen wir diese
Debatte und deshalb beantragen wir die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses.
({7})
Wie notwendig die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist, konnten die Kollegen im Innenausschuss gestern beim Auftritt des Vertreters des Auswärtigen Amtes lebhaft erfahren.
({8})
- Ich sehe, dass der Kollege Winkler etwas fragen
möchte.
({9})
Wenn Sie die Redezeit anhalten, dann lasse ich die Frage
zu.
Das mache ich natürlich. Vielen Dank für die Unterstützung bei der Leitung der Sitzung.
Herr Winkler, bitte.
Herr Kollege Binninger, Sie haben gerade sehr lange
und ausführlich über die Situation in der Ukraine und
über die in der dortigen Botschaft aufgetretenen Missstände gesprochen. Sie haben das mit einem Erlass des
Auswärtigen Amtes aus dem Jahre 2000 begründet.
Wie kann es Ihrer Meinung nach zu diesen Missständen durch einen Erlass, der für - wohlgemerkt - alle
Visastellen, also für alle konsularischen Abteilungen und
für alle Botschaften, weltweit gilt, kommen, wenn er
doch angeblich so gemünzt ist, dass jeder einigermaßen
intelligente Verbrecher auf dieser Welt nichts anderes zu
tun hat, als sich auf ihn zu berufen, ihn zu nutzen und
nach Deutschland alles einzuschleusen, was ihm irgendwie über den Weg läuft? Mir ist diese Deduktion noch
nicht wirklich klar. Wie kommen Sie dazu, zu glauben,
dass es an diesem Erlass liegt, dass nur aus diesen Ländern vermehrt eingeschleust worden ist und dass es nur
durch wenige Fälle, die andere hier schon erwähnt haben, aufgefallen ist?
Das kann doch nur daran liegen - ich bitte Sie, zu
sagen, ob Sie mir da zustimmen -, dass es hier um
kriminelle Einzelfälle geht und dass das Ganze mit dem,
was der Richter, der von seiner richterlichen Freiheit Gebrauch gemacht hat, in seinen Urteilsbegründungen an
Dummheiten geschrieben hat, überhaupt nichts zu tun
hat. Dieser Richter hat sich wohl geirrt. Er hat Politik gemacht und keine Sacharbeit vor Gericht.
({0})
- Stimmen Sie mir darin zu?
({1})
Kollege Winkler, ich könnte es mir ganz einfach machen und sagen: Nein, ich stimme Ihnen nicht zu.
Ich will aber den Versuch unternehmen - das liegt
vielleicht an meiner eigenen beruflichen Erfahrung -, Ihnen zu sagen, warum es gerade in der Ukraine oder in ihren Nachbarstaaten zu Unregelmäßigkeiten gekommen
ist. Die Nähe zu Deutschland spielt für Kriminelle natürlich eine Rolle.
({0})
Es ist in den Botschaften all derjenigen osteuropäischen
Länder, die nahe an Deutschland liegen und noch nicht
in der EU sind, zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Das
ist sicherlich ein Aspekt. Das Entscheidende aber ist:
Die Unregelmäßigkeiten haben zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als der Fischer/Volmer-Erlass in Kraft trat. Daran kommen Sie nicht vorbei.
({1})
Ich will noch einen weiteren Grund dafür nennen, warum wir den Untersuchungsausschuss für so notwendig
halten. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes, Staatssekretär Chrobog, hat dafür gestern im Innenausschuss
ein paar treffende Beweise geliefert.
({2})
Herr Chrobog war schon einmal vor zehn Monaten in
unserem Ausschuss und hat über die ganze Sache berichtet. Damals hat er laut Protokoll gesagt:
({3})
In Kiew wurden 16 Ortskräfte wegen Korruption entlassen. Gestern musste er auf Nachfragen einräumen, er
habe sich wohl getäuscht und es seien wohl sechs gewesen. Das kann ja einmal passieren.
({4})
Er hat vor zehn Monaten gesagt, der Fischer/VolmerErlass sei präzisiert worden, man habe die Sache mittlerweile im Griff und die Korrekturmechanismen zeigten
Wirkung. Gestern hat er gesagt, die Erlasslage sei leider
verwirrend, man habe den Fischer/Volmer-Erlass mittlerweile außer Kraft gesetzt und etwas Neues erlassen.
Vor zehn Monaten hat er gesagt, die Korrekturmaßnahmen hätten gegriffen und die Zahl der erteilten Visa sei
wieder auf dem Niveau von 1999. Das wären 140 000.
Gestern musste er einräumen, dass wir nach der Hälfte
des Jahres 2004 schon fast wieder bei 100 000 sind, das
heißt, dass es am Ende dieses Jahres wieder 200 000
Visa sein werden.
Er hat uns beschrieben, wie das Außenministerium
zukünftig Missbräuche verhindern will.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Volmer?
Gerne.
({0})
- Darf ich im Plenum nicht mehr reden?
Herr Binninger, Sie haben gerade dargestellt, wie oft
sich die Erlasslage ändert. Herr Scholz hat in seinem
ersten Beitrag auch schon dargestellt, wie sich die
Erlasslage seit 1989/90 immer wieder geändert hat. Dabei nehmen wir insbesondere auf die Umbrüche in Osteuropa und in ganz besonderer Weise auf die Umbrüche
in der Ukraine Bezug. Würden Sie angesichts dessen
Folgendes zur Kenntnis nehmen?
Im Moment macht sich die Europäische Union Gedanken darüber, wie die Ukraine näher an Europa herangeführt werden kann. Es gibt einen so genannten Action
Plan - Aktionsplan - zur Heranführung - ({0})
- Ich kann nichts dafür, dass Sie kein Englisch sprechen;
({1})
Englisch ist aber nun einmal die Umgangssprache in der
EU. Ich muss den Text gleich ohnehin ins Deutsche
übersetzen, weil er mir nur in Englisch vorliegt.
Der Aktionsplan der Europäischen Union für die
Ukraine, Herr Binninger, enthält ein ganzes Maßnahmenbündel.
({0})
Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Maßnahmenbündel der Europäischen Union, erarbeitet im
Ausschuss für Osteuropa und Zentralasien, am
12. Oktober der Presse vorgestellt - ({1})
Entschuldigen Sie. Einen Moment! - Ich darf einmal
Folgendes klarstellen - weil es diesen Zwischenruf so
oft gibt, wollte ich das den Kollegen der Opposition
schon häufig sagen -: Nach der Geschäftsordnung kann
man Zwischenfragen stellen oder auch Zwischenbemerkungen machen. Was hier passiert, ist also durchaus im
Rahmen der Geschäftsordnung. Deswegen behält der
Kollege Volmer jetzt auch weiterhin das Wort.
({0})
Herr Binninger, es geht darum, dass sich die Weisungslage besonders in Bezug auf die Ukraine immer
wieder verändert. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass
sich in dem neuesten Papier der Europäischen Union zur
Ukraine, in dem Aktionsplan zur Heranführung der
Ukraine an die Europäische Union, der Vorschlag findet
({0})
- nun hören Sie zu! -: Wir sollten darüber nachdenken,
mehr Flexibilität in das existierende Visaregime einzuführen.
({1})
Herr Kollege Volmer, Sie haben mit Ihrer Zwischenfrage oder mit Ihrer Zwischenbemerkung eigentlich das
bestätigt, was ich zu Beginn meiner Rede gesagt habe.
({0})
Sie verknüpfen wieder einmal Legales und politisch Gewolltes mit Illegalem.
({1})
Wir legen aber Wert darauf, dass man illegale Zustände
beendet, die Verursacher benennt, die Konsequenzen
daraus zieht und parallel dazu in allen legalen Bestrebungen nicht nachlässt. Das unterscheidet uns möglicherweise. Das ist Ihr Fehler.
({2})
Ich nehme noch einen dritten Anlauf, um über den
Auftritt von Staatssekretär Chrobog im Innenausschuss zu berichten. Er wollte uns beschreiben, wie das
Außenministerium von Herrn Fischer zukünftig den
Visamissbrauch verhindern will. Er hat gesagt, seit neuestem sei eine Einladerdatei im Einsatz, mit der die
Botschaften abgleichen könnten, wenn immer wieder die
gleichen Einlader, möglicherweise missbräuchlich, in
Erscheinung träten. Keine schlechte Idee; eine von uns
immer wieder erhobene Forderung.
Daran hat uns aber etwas gestört. Wir haben ihn gefragt, wie das sein könne, weil das für uns völlig neu sei.
Daraufhin hat sich Herr Chrobog mit anderen beraten
und dann gesagt, er habe sich leider noch einmal getäuscht; die Einladerdatei werde erst ab 1. Januar 2005
angewandt, wenn das Zuwanderungsgesetz in Kraft getreten sein werde.
({3})
Auch da war die Freude nur kurz. Wir mussten ihm nämlich sagen: Das geht gar nicht, weil beim Zuwanderungskompromiss zwar über die Einladerdatei gesprochen
wurde, aber die Rechtsgrundlage dafür fehlt.
({4})
Wenn das die Instrumente des Ministeriums von
Herrn Fischer sind, mit denen es Visamissbrauch bekämpfen will, nämlich Instrumente, die es noch gar nicht
gibt, dann tut der Untersuchungsausschuss mehr Not
denn je.
({5})
Der Untersuchungsausschuss wird zeigen, dass dieser
Erlass, der mittlerweile nicht mehr in Kraft ist, in den
Jahren 2000 bis 2004 ein Weckruf für die organisierte
Kriminalität war. Sie können so weit zurückgehen, wie
Sie möchten: Aus dieser Verantwortung können Sie sich
nicht stehlen. Der Untersuchungsausschuss wird genau
das zutage bringen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Hartmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe jetzt bei dieser wahrhaftig nicht sehr
kurzen Debatte aufmerksam den Rednern von der Union
zugehört. Man muss ihnen eines attestieren: Sie haben
sich bemüht, sie haben sich angestrengt, sie haben gezappelt, sie haben gekrampft, aber sie haben nicht einen
Grund nennen können, warum dieser Untersuchungsausschuss wirklich notwendig sein soll.
({0})
Vielleicht sind die Nachdenklichen unter Ihnen,
meine Damen und Herren, bereit, einen Moment tatsächlich zuzuhören. Das Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist eines der wichtigsten und höchsten parlamentarischen Rechte, die im Grundgesetz - in
Michael Hartmann ({1})
diesem Fall in Art. 44 - verbrieft sind. Es handelt sich
um ein zentrales Minderheitenrecht, dem wir als
Mehrheitsfraktion natürlich auch in diesem Falle hohe
Achtung entgegenbringen.
({2})
Diese hohe Achtung, Herr Dr. Gehb, verpflichtet uns,
mit besonderer Sorgfalt mit diesem rechtlichen Instrument umzugehen, das der Kontrolle dient. Deshalb
appelliere ich in der Tat an Sie, insbesondere an die
Nachdenklichen unter Ihnen: Setzen Sie doch dann einen
Untersuchungsausschuss ein, wenn es wirklich gerechtfertigt und notwendig ist, und entwerten Sie nicht dieses
wesentliche parlamentarische Element.
({3})
Wer beliebig damit umgeht, darf sich nicht darüber
beklagen - das beklagen ja auch wir in Talkshows,
Sonntagsreden und anderswo -, dass die Parlamente
nicht mehr ernst genommen werden, dass die Menschen
sich von uns abwenden und nichts mehr mit dem zu tun
haben wollen, was wir hier tun. Was Sie da machen,
stellt ein Beispiel dafür dar, wie man nicht vorgehen
sollte.
({4})
Es ist in der Tat so, dass es bei der Visaerteilung an
der Botschaft in Kiew zu Unregelmäßigkeiten kam und
dass vieles nicht so gelaufen ist, wie wir gemeinsam es
gerne wollten. Das haben Sie moniert und kritisiert. Sie
haben den Finger in die Wunde gelegt, indem Sie dafür
gesorgt haben, dass sich der Auswärtige Ausschuss damit auseinander setzt, indem Sie zweimal den Innenausschuss damit befasst haben und indem Sie eine Große
Anfrage, eine Kleine Anfrage und mehr als
100 Einzelfragen gestellt haben, die alle anständig, vollständig und gründlich beantwortet worden sind.
({5})
Deshalb ist es überflüssig, was Sie da heute aufziehen.
({6})
Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns wechselseitig skandalisieren. Wir kommen auch nicht weiter, wenn
wir einen parlamentarischen Stil an den Tag legen, der,
gelinde gesagt, Herr Kollege Dr. Uhl, in sich widersprüchlich ist. Sie haben in der Debatte im März - wir
beschäftigen uns ja schon fast ein Jahr mit dem Thema auf den Hinweis des Kollegen Volmer, dass der Grundsatz „in dubio pro libertate“ gelte, wörtlich folgenden
Satz gesagt:
Sie benutzen eine solche Formulierung, obwohl Sie
genau wissen, dass es um organisierte Kriminalität
- jetzt wird es besonders bemerkenswert -,
um miesesten, finstersten Menschenhandel, um international organisiertes Schleusertum geht.
Derselbe Herr Dr. Uhl, der das gesagt hat, der will nun
ein neutraler Ausschussvorsitzender werden - wir werden schon genau darauf schauen, wie neutral Sie das
handhaben -, und derselbe Dr. Uhl hat eben sogar zugegeben, dass er sich in Briefen in vielen Fällen dafür eingesetzt hat, dass Menschen aus der Ukraine hierher kommen dürfen. Lösen Sie einmal diesen Widerspruch auf:
({7})
Einerseits schüren Sie latent Misstrauen und unterstellen, dass Horden von Illegalen und Kriminellen zu uns
kommen, und andererseits stimmen Sie an Weihnachten
in den Ruf ein, dass die Unterdrückten und Verfolgten zu
uns kommen sollen. Das passt nicht zusammen.
({8})
Wir sind der festen Überzeugung: Wenn man diese
Vorfälle anführt und wenn man sich tatsächlich damit
auseinander setzen will, dann sollten wir es gründlich
und anständig tun. Deshalb werden wir Ihren Antrag in
den Geschäftsordnungsausschuss überweisen, wohl begründet und gut fundiert. Wenn etwas nicht in Ordnung
war, muss man feststellen, wie es dazu kam. Man muss
zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem ADAC und
das Aushandeln der Briefe durch Herrn Kanther und andere Kollegen der damals unionsgeführten Regierung
genau überprüfen. Wenn Herr Kanther einmal fünf Minuten Zeit hat - er ist ja noch anderswo beschäftigt -,
hören wir ihn vielleicht auch zu diesem Thema an.
Schließlich ist er nun untersuchungsausschuss- und gerichtserprobt.
({9})
Herr Dr. Gehb, als Sie vorhin die wirklich unsäglichen Richteräußerungen zitiert haben, habe ich gedacht:
Diese Äußerungen eines Richters sind wirklich starker
Tobak. Danach habe ich festgestellt, dass auch Sie Richter waren. Dann erstaunt mich das allerdings nicht.
({10})
- Herrn Wiefelspütz braucht man nicht in Schutz zu nehmen und genauso wenig muss man andere Personen aus
der Koalition in Schutz nehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nun
einmal wahr, dass wir ein weltoffenes, tolerantes Land
sein wollen und dass all jene zu uns kommen sollen und
dürfen, die sich an Recht und Gesetz halten. Wenn Verfahren nicht in Ordnung sind, wenn Fehler gemacht oder
Straftaten begangen werden, dann funktionieren unsere
rechtsstaatlichen Verfahren gut genug, um all dem ein
Michael Hartmann ({11})
Ende zu setzen, um all das zu unterbinden, wie der Prozess und die Urteile gezeigt haben.
Anstatt also hier pharisäerhaft zu argumentieren, sollten wir nach der letzten Sitzungswoche in die verdiente
Weihnachtspause gehen und uns mit der Stimmung der
Weihnacht überlegen, ob wir nicht auf diesen überflüssigen Untersuchungsausschuss verzichten wollen.
({12})
Nach dem so genannten Lügenausschuss und mit dem
von Ihnen nun beantragten Visaausschuss
({13})
würde diese Legislaturperiode sonst in die Geschichte
eingehen als die Legislaturperiode mit den überflüssigsten von der Unionsfraktion beantragten Untersuchungsausschüssen. Bewahren Sie uns gemeinsam davor!
({14})
Es liegt ein Antrag zur Geschäftsordnung vor. - Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Namens
meiner Fraktion stelle ich den Antrag auf sofortige Abstimmung über unseren Antrag.
({0})
Eine weitere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich widerspreche diesem Antrag. Es ist völlig unsinnig, über
diesen Antrag sofort abzustimmen, weil er weder in seinem Inhalt noch in seinem Titel dem entspricht, was einem Untersuchungsausschuss angemessen wäre. Wir
sind deswegen der Auffassung, dass der Antrag im Geschäftsordnungsausschuss sorgfältig geprüft werden
muss. Dahin werden wir diesen Antrag überweisen.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der
CDU/CSU wünscht sofortige Abstimmung in der Sache.
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
wünschen Überweisung an den Ausschuss für Wahlprü-
fung, Immunität und Geschäftsordnung.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-
überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb zunächst: Wer stimmt für die beantragte Über-
weisung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das
ist eindeutig. Damit ist die Überweisung mit der Mehr-
heit der Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP beschlossen.
Damit stimmen wir heute nicht über den Antrag auf
Drucksache 15/4285 ab.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 f sowie
Zusatzpunkt 6 a und 6 b auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine Bekräftigung des absoluten Folterverbots
- Drucksache 15/4396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christa Nickels, Volker
Beck ({1}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Nepal - Menschenrechte schützen und Gewalt
beenden
- Drucksache 15/4397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Ulrich Heinrich, Daniel Bahr ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einhaltung der Menschenrechte in Nepal
- Drucksache 15/3231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und
Umsetzung des Zusatzprotokolls zur UN-AntiFolter-Konvention
- Drucksache 15/3507 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Haibach, Dr. Martina Krogmann, Melanie
Oßwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Presse- und Meinungsfreiheit im Internet
weltweit durchsetzen - Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und private Internetnutzer besser schützen
- Drucksache 15/3709 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({7}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht zur Menschenrechtslage
Ratsdok. 13449/03
- Drucksachen 15/2636 Nr. 2.16, 15/3001 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Holger Haibach
ZP 6a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Rainer Funke, Daniel Bahr
({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechte in der Volksrepublik China
einfordern
- Drucksache 15/4402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention
- Drucksache 15/4405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Rudolf Bindig, der aber erst anfangen
wird, wenn hier Ruhe eingekehrt ist.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 10. Dezember ist der Internationale Tag der
Menschenrechte. Es ist gute Tradition, dass der Deutsche Bundestag zum Jahresende die Aufmerksamkeit auf
die Menschenrechte lenkt. Menschenrechte sind jedoch
keine freundliche Adventsgabe; sie taugen auch nicht für
Lippenbekenntnisse in politischen Schönwetterlagen.
Menschenrechte müssen sich gerade in politischen Krisensituationen bewähren. Es sind Rechte, die zu jeder
Zeit allen Menschen zustehen, ob arm oder reich, ob in
Afrika oder Europa, ob Frau, Mann oder Kind; sie sollen
ein Leben in Würde sichern.
({0})
Nach der Hälfte der Legislaturperiode stellt sich die
Bilanz der rot-grünen Menschenrechtspolitik positiv dar.
Wir haben viel erreicht. Zunächst ist es erfreulich, dass
die Stelle des Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt wieder besetzt wurde. Mit Tom Koenigs
erhalten wir einen hervorragenden Mitstreiter, der im
Kosovo und zuletzt in Guatemala persönlich erfahren
konnte, wie wichtig die Menschenrechte für Frieden,
Demokratie und Aussöhnung sind.
({1})
Wir wünschen ihm alles Gute für seine schwierige Aufgabe. Zugleich danken wir der bisherigen Amtsinhaberin, Claudia Roth, für ihren engagierten Einsatz.
({2})
Unsere Zwischenbilanz nach zwei Jahren kann sich
sehen lassen. Der nächste Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung wird auf unsere Anregung hin erstmals
einen nationalen Aktionsplan enthalten und dadurch
nicht nur über Ereignisse und Aktionen der beiden letzten Jahre informieren, sondern auch perspektivisch
Pläne und Projekte vorstellen. Mehrere Ratifizierungen
internationaler Abkommen bzw. ihrer Zusatzprotokolle,
so das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention,
das sich mit Kindersoldaten befasst, wurden abgeschlossen bzw. auf den Weg gebracht.
Wir haben uns intensiv mit der menschenrechtlichen
Verantwortung von Unternehmen auseinander gesetzt
und werden weiterhin für die UN-Normen zur menschenrechtlichen Verantwortung und für ein Beschwerdeverfahren zum Sozialpakt eintreten. Seit kurzem gibt
es den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“, der ein wichtiges
Element bei der Prävention von Menschenrechtsverletzungen ist. Auch die Rechte der Frauen wurden weiter
gestärkt. Unter anderem wurde vor wenigen Wochen ein
Gesetz gegen den Menschenhandel verabschiedet.
Ab Januar kann endlich das Zuwanderungsgesetz
umgesetzt werden, das wesentliche Verbesserungen für
Flüchtlinge bringen wird, insbesondere für Opfer nicht
staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung und
für viele Personen, die in Deutschland bislang nur geduldet waren.
Wir haben uns ferner intensiv mit der Vereinbarkeit
von Menschenrechten und islamischem Recht auseinander gesetzt und eine klare Grenzlinie zwischen interkulturellem Dialog und Menschenrechtsdialog gezogen.
Wir haben bei jeder sich bietenden Gelegenheit innenpolitisch wie außenpolitisch darauf hingewiesen, dass es
im Kampf gegen den Terrorismus keinerlei Relativierung der Menschenrechte geben darf.
({3})
Auch den Schutz bedrohter und verfolgter Menschenrechtsverteidiger haben wir gemeinsam gestärkt und in
diesem Kontext zum letztjährigen Tag der Menschenrechte die Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ ins Leben gerufen. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die sich daran aktiv beteiligt und
sich für gefährdete Politiker und Politikerinnen im Ausland eingesetzt haben.
({4})
Selbstverständlich haben wir uns regelmäßig mit
Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern befasst. Nicht immer schlägt sich dies in unmittelbar vorzeigbaren Arbeitsergebnissen nieder, wie zum Beispiel
in einem Antrag, den wir heute zu Nepal vorgelegt haben.
Allerdings sind länderspezifische Anträge nicht immer
hilfreich, auch wenn sich die FDP dies mit ihrem Antrag
zur bevorstehenden Chinareise des Bundeskanzlers einbildet. Manchmal ist ein kritischer Menschenrechtsdialog mit Regierungsvertretern und Parlamentskollegen
oder die Unterstützung einheimischer Menschenrechtsorganisationen und Menschenrechtsverteidiger eher zielführend. Ich jedenfalls habe die Absicht, Menschenrechtsthemen direkt anzusprechen, wenn ich nächste
Woche den Bundeskanzler auf seiner Reise nach China
und Japan begleite.
({5})
Dies sind einige Punkte unserer Halbzeitbilanz. Nicht
weiter ausgeführt habe ich Problembereiche, die wir
über Jahre hinweg bearbeiten. Dazu gehören der Kampf
gegen die Genitalverstümmelung, die Diskriminierung
von Minderheiten, Straflosigkeit oder die EU-Asyl- und
-Flüchtlingspolitik.
Auch der Kampf gegen Folter zählt zu den menschenrechtlichen Kernthemen. Weil dieses Thema so
wichtig und momentan leider hochaktuell ist, haben wir
für die heutige Debatte einen Antrag dazu vorgelegt. Der
Titel „Für eine Bekräftigung des absoluten Folterverbots“ macht bereits klar, dass es nicht darum geht, etwas
Neues zu fordern, sondern darum, Bewährtes beizubehalten. Seit dem 11. September 2001 nämlich bröckelt
das absolute Folterverbot, nicht nur an den Stammtischen dieser Welt, sondern auch in politischen und juristischen Erörterungen.
Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus
scheinen Folter und andere grausame, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Strafen eine unheilvolle Renaissance zu erleben. Plötzlich wird von einigen
Folter als notwendige und legitime Präventivmaßnahme
gerechtfertigt, um durch die Erpressung lebensrettender
Informationen gewaltsame Anschläge verhindern zu
können. Plötzlich wird Folter als „robuste Verhörmethode“ bezeichnet, allenfalls verharmlosend „Rettungsfolter“ genannt. Plötzlich soll es so etwas wie eine „gute
Folter“ geben.
Heiligt in einem solchen Ticking-Bomb-Szenario der
Zweck die Mittel? Der Ermessensspielraum ist groß und
wirft viele Fragen auf: Wer entscheidet über die lebensbedrohende Brisanz einer Situation? Kann ein Verdächtiger mit Gewissheit zum Feind erklärt und damit der Folter preisgegeben werden? Wer foltert - und wie? Darf
sich ein Rechtsstaat auf eine Ebene begeben mit den Folterknechten dieser Welt? Die Antwort muss für uns alle
eindeutig sein: Nein, kein Staat darf foltern, erst recht
nicht ein Rechtsstaat.
({6})
Folter ist ein Anschlag auf die Würde des Menschen.
Nicht umsonst ist das Folterverbot vielfach in internationalen und regionalen Konventionen verankert und gilt
absolut. Ein Rechtsstaat, der zulassen würde, dass es innerhalb seiner Grenzen wieder Folterer und Gefolterte
gibt, würde jede Legitimation und Glaubwürdigkeit verlieren.
({7})
In Deutschland ist Folter auch verfassungsrechtlich
geächtet. Wir sollten uns darin auch nicht durch einige
jüngere rechtsphilosophische Äußerungen und Grundgesetzkommentare verunsichern lassen. Deutschland sollte
nach innen und nach außen klar und konsequent Position
für das absolute Folterverbot beziehen.
Aus der Vorbildfunktion heraus, die Deutschland international in Menschenrechtsfragen einnimmt, wäre es
wünschenswert, dass wir so rasch wie möglich das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention zeichnen
und ratifizieren. Ich appelliere an jene unionsgeführten
Länder, die noch Vorbehalte haben, den Weg für eine
Ratifizierung frei zu machen. Deutschland könnte damit
international ein wichtiges Signal setzen. Ich bin froh,
dass die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern erfreulich verlaufen.
Lassen Sie uns alle dazu beitragen, dass der jahrhundertelange Kampf gegen die Folter nicht vergeblich war!
Lassen Sie uns alle für das absolute Folterverbot eintreten! Den Kampf gegen den Terrorismus können und
werden wir auch mit rechtsstaatlichen Mitteln gewinnen.
Davon bin ich überzeugt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist inzwischen gute Übung hier im Deutschen Bundestag, anlässlich des Tags der Menschenrechte eine Debatte zu führen. Erfreulich ist aus meiner Sicht die weitgehende
Einigkeit über viele Themen im Bereich Menschenrechte. Weniger erfreulich ist allerdings, dass wir uns mit
einer Fülle von menschenrechtlichen Problemen konfrontiert sehen, die in einer solchen Debatte kaum noch
vernünftig und sachgerecht behandelt werden können.
Wo stehen wir also im Jahr 2004, in einer Zeit der
Terrorismusbekämpfung und der Integrationsdebatte?
Wo stehen wir, was den Stellenwert der Menschenrechte
betrifft, zur Halbzeit dieser Legislaturperiode in
Deutschland sowie im Parlament und wo steht die Bundesregierung? Wo liegen neue Herausforderungen? Welche Lösungen haben wir?
Das Zusammenrücken in einer globalisierten Welt
und die Medialisierung unserer Gesellschaft tragen dazu
bei, dass Krisen mehr und mehr erfahrbar werden. Nahost, China, Kuba und zuletzt Sudan und Simbabwe waren dabei die geographischen Stichworte in der Menschenrechtsdebatte der letzten Jahre. Andererseits
drohen Konfliktregionen, die nicht im Fokus der Medienöffentlichkeit stehen, leicht in Vergessenheit zu geraten. Mit Ausnahme von Kolumbien ist Lateinamerika
ein gutes Beispiel hierfür.
Deshalb haben wir als deutsche Parlamentarier die
Aufgabe, Mechanismen zu fördern und zu entwickeln,
die dem Schutz und der Durchsetzung der Menschenrechte weltweit möglichst effizient dienen. Das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“
- Kollege Bindig hat es schon angesprochen - war ein
richtiger und wichtiger Schritt in dieser Hinsicht und ein
erfolgreicher noch dazu. Zahlreiche Kolleginnen und
Kollegen haben die durch unseren Ausschuss aufgebaute
Datenbank bereits genutzt und sich über verfolgte Parlamentarier informiert. Da wir alle gemeinschaftlich die
Einrichtung dieses Programms beschlossen haben, sind
wir nun auch in der Pflicht, die gesammelten Informationen zu nutzen und uns für verfolgte Kolleginnen und
Kollegen einzusetzen.
({0})
Außerdem sollten wir noch mehr Anstrengungen unternehmen, die Öffentlichkeit für dieses Vorhaben zu
sensibilisieren. Immerhin können wir darauf verweisen,
dass die erste Parlamentarierin, für die wir uns im Rahmen einer Petition eingesetzt haben, die kurdische Abgeordnete Leyla Zana, inzwischen aus ihrem türkischen
Gefängnis entlassen worden ist. Es wäre vermessen, zu
behaupten, dass dies auf unser Programm zurückzuführen ist. Aber es ist, so meine ich, doch berechtigt, zu sagen, dass wir mitgeholfen haben, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen.
({1})
Öffentliche Aufmerksamkeit gilt es auch beim Thema
Menschenrechte in der Türkei insgesamt einzufordern.
Ich will an dieser Stelle keinesfalls die Beitrittsdebatte
führen; das ist sicherlich Thema einer anderen Debatte.
Ich frage mich nur ab und an, ob die Bundesregierung
und an ihrer Spitze der Kanzler deutlicher als bisher bereit sind, zu formulieren, dass ungeachtet aller unbestreitbaren Fortschritte die bisher durchgeführten Reformen bei weitem noch nicht im täglichen Leben der
Menschen in der Türkei angekommen sind.
Ich will für die CDU/CSU-Fraktion deutlich machen,
dass wir nach wie vor Defizite sehen, vor allen Dingen
in der Behandlung der Religions- und Minderheitenrechte. Noch immer sind gerade die christlichen Religionsgemeinschaften Behinderungen und Repressalien
ausgesetzt.
So kann nach wie vor das 1971 geschlossene Priesterseminar auf der Insel Halki vor Istanbul seinen Betrieb nicht aufnehmen, obwohl seit zwei Jahren eine Lösung versprochen ist. Bei der Rückerstattung von
Grundstücken und Gebäuden an verschiedene Kirchen
sind von den circa 2 000 Anträgen etwa 300 deswegen
abgelehnt worden, weil die Liegenschaften unter dem
Namen eines Heiligen registriert sind und dessen Zustimmungserklärung zur Umschreibung in das Grundbuch fehlt, weil der Heilige umständehalber nicht zur
Umschreibung erscheinen kann. Hinzu kommen Probleme bei der Wahl von Stiftungsvorständen, der ungeklärte Status von ausländischen Geistlichen und vieles
mehr.
({2})
Darüber redet der Bundeskanzler aber leider nur ausgesprochen selten in der Öffentlichkeit. Ein offenes
Wort, wie er es auch bei anderen Gelegenheiten unter
Freunden für sich beansprucht, wäre auch an dieser
Stelle mehr als angebracht.
({3})
Die Voraussetzung dafür, ein offenes Wort sprechen zu
können, ergibt sich logischerweise nur dann, wenn man
auch die Gelegenheit dazu hat.
In diesem Zusammenhang will ich auf eine neue, aus
meiner Sicht sehr Besorgnis erregende Entwicklung hinweisen: auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit
im Internet, die wir als CDU/CSU-Fraktion heute mit
einem eigenen Antrag zum Thema der Debatte gemacht
haben. In der Türkei zum Beispiel werden Internetseiten
zensiert oder blockiert sowie Internetcafes überwacht.
Aber es gibt neben der Türkei noch viele andere Länder,
die dabei noch wesentlich restriktiver vorgehen und das
Recht auf freie Meinungsäußerung in den neuen Medien
einschränken. Diese Tatsache wiegt umso schwerer, als
die Zahl der Internetnutzer und damit die Bedeutung des
Internets für die Gewinnung von Informationen immer
größer wird.
Hinzu kommt, dass das Internet gerade für diejenigen,
deren Bewegungsfreiheit entweder aufgrund staatlicher
Repression oder aus Mangel an Geld oder wegen der Gefahr von bewaffneten Konflikten eingeschränkt ist, oft
die einzige Möglichkeit zur Meinungsäußerung oder zur
Information bietet. So nimmt es denn auch nicht wunder,
dass gerade die Staaten, die ohnehin für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, insbesondere auf
diesem Feld große Anstrengungen unternehmen, um Internetjournalisten, Menschenrechtsaktivisten und normale Internetnutzer zu behindern und ihnen den Zugang
zum Internet entweder ganz zu verwehren oder diesen
passend zur jeweiligen Ideologie einzuschränken.
Einige Beispiele dafür haben wir in unserem Antrag
aufgelistet. Aufgrund der Kürze der Redezeit will ich
hier nur eines davon nennen: In China ist nicht nur der
Zugang zum Internet und zu E-Mails zensiert und reglementiert; darüber hinaus befinden sich zurzeit 60 oder
61 Cyber-Dissidenten - die Zahl schwankt etwas - wegen Verstoßes gegen die Zensurmaßnahmen in Haft.
Vorgestern meldete der „Spiegel“ in seiner Online-Ausgabe, dass China den Zugang zur Nachrichtenseite der
Internetsuchmaschine Google gesperrt hat, obwohl sich
Google von vornherein zur Selbstzensur entschlossen
und erklärt hat, keine gegenüber dem Regime in China
kritischen Seiten zu veröffentlichen.
Gerade wir, die wir in Deutschland nach unserer Erfahrung im letzten Jahrhundert über Sensibilität verfügen und auch eine entsprechende Gesetzgebung haben,
sind in der Verantwortung, diesen Entwicklungen in aller
Schärfe entgegenzutreten.
({4})
Der Bundestag und insbesondere die Regierung sind hier
gefordert. Das ist einer der vielen Punkte, die der Bundeskanzler und auch Herr Bindig - wenn er mitreist,
freut mich das sehr -, ansprechen sollten, wenn sie demnächst zu einer Reise nach China aufbrechen. Hoffentlich tun sie das dann auch und hoffentlich ist der Bundeskanzler in seiner Wortwahl ebenso deutlich wie die
Mitglieder seiner Koalition oder der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau, wenn es um andere Fragen hinsichtlich der Menschenrechte geht: die Diskriminierung
religiöser Minderheiten wie der Christen oder der FalunGong-Anhänger, die Repression gegenüber ethnischen
Minderheiten, die Unterdrückung der kulturellen Autonomie der Tibeter oder auch die exzessive Verhängung
der Todesstrafe oder die Anwendung von Folter.
Man kann den Kolleginnen und Kollegen der FDP
nur zustimmen, dass seitens der Regierung und des
Kanzlers nicht von dem auch durch seine eigene Koalition vorgegebenen Weg bezüglich des Waffenembargos
abgewichen werden darf.
Glaubwürdigkeit - das ist eine Binsenweisheit - entsteht durch vorbildliches Handeln im eigenen Haus. Wir
können nur dann in der Welt auftreten und zum Beispiel
Misshandlungen und Folter in China geißeln, wenn wir
uns auch in Deutschland ganz klar zu diesem Thema äußern. Deshalb begrüßen es auch CDU und CSU, dass es
nach langem Ringen so scheint, als könnten die Ratifizierung und die Umsetzung des Zusatzprotokolls zur
UN-Anti-Folter-Konvention bald vonstatten gehen.
({5})
Gleichzeitig müssen wir aber auch deutlich machen,
dass in Deutschland kein Platz für Folter sein kann, weder in der Gesellschaft noch bei der Polizei, auch nicht
bei unseren Streitkräften.
({6})
Deutschland sollte hier weiterhin seiner Vorreiterrolle
gerecht werden.
Wenn wir jetzt Resümee ziehen und uns die Frage
vom Beginn meiner Rede nochmals vornehmen, wo wir
denn eigentlich stehen, dann sehen wir, dass wir alle
zwar auf dem Weg sind, aber noch viel vor uns haben.
Insbesondere diese Bundesregierung, die es sich nun
einmal zum Anspruch gemacht hat, Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe zu definieren, hat noch einen sehr weiten Weg vor sich.
„Deutsche Menschenrechtspolitik: widersprüchlich
und entwicklungsfähig“ - so urteilt etwa das Forum
Menschenrechte nach zwei Jahren Rot-Grün in der zweiten Amtszeit. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bleibt erkennbar. Amt gewordenes Symbol für
diese Kluft ist die Position des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, ein „Posten mit großem
Titel und wenig Einfluss“. Damit Sie nicht glauben, das,
was ich hier sage, sei das übliche Oppositionsgenörgle,
will ich Ihnen gern gestehen, dass diese Formulierung
nicht mir, sondern der „Frankfurter Rundschau“ eingefallen ist, die nun wahrlich nicht in dem Verdacht steht,
eine Hauspostille von CDU, CSU oder FDP zu sein.
({7})
In ihrer Ausgabe vom 25. Oktober 2004 schreibt diese
Zeitung anlässlich des Ausscheidens von Claudia Roth
aus diesem Amt, der ich übrigens bei dieser Gelegenheit
noch einmal recht herzlich für ihre wichtige und engagierte Arbeit danken will:
({8})
Das ihr
- Frau Roth Mögliche habe sie aus dem Amt herausgeholt. Das
„Mögliche“ ist schon von Amts wegen klein: ein
kleiner Arbeitsstab, geringe Kompetenzen und noch
dazu muss sich der oder die Menschenrechtsbeauftragte oft auf die Zunge beißen … Denn die „harte“
Außenpolitik machte ohnehin der Minister.
Möge es dem Nachfolger von Frau Roth, Tom
Koenigs, gelingen, seinerseits das Mögliche oder vielleicht sogar das Unmögliche aus dem Amt herauszuholen, und möge es uns in den nächsten Jahren gemeinsam
gelingen, einen Beitrag zur Durchsetzung der Menschenrechte in unserem Lande und weltweit zu leisten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Nickels.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Debatte über Folter möchte ich nicht das wiederholen, was meine Kollegen aus den verschiedenen Fraktionen bereits völlig zu Recht vorgetragen haben. Ich unterstreiche jeden einzelnen Satz.
Wir bringen in diese Debatte zum Tag der Menschenrechte aus gutem Grund einen Antrag ein, der die absolute Gültigkeit des Folterverbots bekräftigt. Es ist eine
fatale Entwicklung, dass im Kampf gegen den Terrorismus sicher geglaubte Grundwerte plötzlich infrage
gestellt werden sollen. Folterstaaten verweisen mit
Häme und Genugtuung darauf, dass sich - ihrer Meinung nach - der freie Westen das Prinzip der unveräußerlichen Menschenrechte offenbar nur zu Schönwetterzeiten leisten will und im Zweifel nur für seine eigenen
Bürger. Doch das Folterverbot gilt notstandsfest und absolut.
Darum bin ich froh, dass Deutschland eine sehr wichtige Rolle bei der Ausarbeitung des 2002 verabschiedeten Zusatzprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention
geleistet hat. Jetzt ist es umso wichtiger, dass die Bundesrepublik dieses Zusatzprotokoll auch zeichnet und
ratifiziert. Das Besondere an diesem Protokoll ist die
Einrichtung eines nationalen, unabhängigen Kontrollgremiums, das regelmäßig Besuche in den Einrichtungen durchführt, in denen Menschen die Freiheit entzogen wird, sei es im Bereich der Polizei und Justiz, sei es
in geschlossenen Abteilungen von Heimen und Psychiatrien.
Hier werden Länderzuständigkeiten berührt. Deshalb
müssen die Länder der Ratifizierung des Protokolls zustimmen. Ich begrüße es sehr, dass Bund und Länder inzwischen konstruktiv an einer pragmatischen Lösung arbeiten. Ich kann nur betonen, wie wichtig eine rasche
Zeichnung und Ratifizierung wäre, um eine innen- und
außenpolitischen Signalwirkung zu erzielen.
({0})
Wir haben gestern den Appell der Vereinten Nationen, mehr Mittel für die humanitäre Arbeit aufzubringen, unterstützt. Herr Morris, der Direktor des World
Food Programm, war anwesend und hat uns noch einmal
nachdrücklich auf die wieder schlechter werdende Situation von Hunderttausenden von Menschen in Darfur aufmerksam gemacht. Unsere Regierung setzt sich auf diesem Gebiet sehr beispielhaft ein. Ich möchte daher noch
einmal darauf hinweisen, dass es absolut wichtig ist,
dass die sudanesische Regierung als deutliches Zeichen
ihres Willens, diese Krise zu beenden und für das Wohl
der Menschen zu sorgen, statt guter, starker Worte, die
verlässliche und konsequente Umsetzung der VN- und
AU-Beschlüsse angeht.
Wir brauchen dringend eine Öffnung und einen unmittelbaren, ungestörten Zugang aller humanitären Organisationen zu den Menschen in Darfur.
({1})
Wir brauchen eine effiziente Zusammenarbeit der sudanesischen Regierung mit der Afrikanischen Union und
den Vereinten Nationen. Wir brauchen endlich eine Entwaffnung der Janjawid und die Festnahme der für Verbrechen, für Massenvergewaltigung, Vertreibung und
Mord Verantwortlichen. Diese Verbrechen sind gerade in
der letzten Woche wieder aufgeflammt. Tausende Menschen waren diesen Verbrechen ausgesetzt und sind ihnen zum Opfer gefallen. Es wäre ein ganz wichtiges Zeichen, wenn einer der berüchtigtsten Milizenführer der
Janjawid, Musa Hilal, der in Khartum frei umhergehen
und seinen Geschäften nachgehen kann, endlich festgenommen, vor Gericht gestellt und zur Verantwortung gezogen würde.
({2})
Ich möchte mit Blick auf Darfur noch einmal darauf
hinweisen, dass im April dieses Jahres in diesem Haus
sehr viele Appelle dahin gehend formuliert wurden, dass
wir alle, zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda,
aufgerufen sind, alles uns Mögliche zu tun, um solch katastrophale Situationen und Massenmorde zu verhindern. Ich glaube, dass gerade vor diesem Hintergrund die
Anstrengungen für die Menschen in Darfur verstärkt
werden müssen.
Auch glaube ich, dass wir in Vorbereitung des zehnten Jahrestags des Massakers von Srebrenica im Juli
nächsten Jahres sehr viel tun müssen, damit der Aktionsplan „Krisenprävention“, den Bundesregierung und Parlament beschlossen haben, umgesetzt wird und effizient
wirken kann. Statt ständig zu klagen, müssen wir mit all
unseren Möglichkeiten dazu beitragen, dass solche Massenmorde nicht noch einmal geschehen können.
({3})
Zur Halbzeitbilanz unseres Ausschusses gehört für
mich, auch auf eigene Aktivitäten hinzuweisen, die wir
im Bereich der Innenpolitik durchführen. Für uns ist es
eine Daueraufgabe, auch dafür zu sorgen, dass den
Flüchtlingen in Deutschland ein vernünftiger und sicherer Aufenthalt gewährt wird. Ich möchte an Afghanistan
erinnern; denn Deutschland fördert den Aufbau der dortigen Polizei in großem Umfang. Trotzdem ist die Sicherheitslage bisher nicht entscheidend verbessert worden. Die Situation ist noch nicht stabil. In einigen
Regionen ist sie sehr fragil oder hat sich sogar verschlechtert.
Darum sehe ich den Beschluss der letzten Innenministerkonferenz vom November dieses Jahres mit Sorge,
dass ab dem 1. Mai nächsten Jahres afghanische FlüchtChrista Nickels
linge in großer Zahl mit Zwang zurückgeführt werden
sollen. Denn ich glaube, dass diese Entscheidung nicht
nur eine Zumutung für die betroffenen Menschen ist,
sondern dass sie auch die Stabilität in Afghanistan nicht
stärkt, sondern eher unterminiert. Diese Menschen werden in eine sehr unsichere Situation zurückgeführt. Sie
haben keine Arbeit, sind nicht sicher und müssen Gefahren für ihr eigenes Leben auf sich nehmen.
Das gilt auch für die Rückführung der Minderheiten
in das Kosovo. Mir ist unbegreiflich, warum die Innenministerkonferenz den seit vielen Jahren hier geduldeten
afghanischen Flüchtlingen, die gut integriert sind, nicht
endlich eine Zukunftsperspektive in Form eines Aufenthaltsrechts zugesteht. Dann könnten sich diese Menschen tatsächlich auf freiwilliger Basis entscheiden, ob
und wann sie es sich und ihrer Familie, vor allen Dingen
den weiblichen Angehörigen ihrer Familie, zumuten
können, nach Afghanistan zurückzukehren, dort wieder
Fuß zu fassen und zu leben.
({4})
Weitere rund 150 000 Ausländerinnen und Ausländer
leben seit mehr als fünf Jahren hier in Deutschland, weil
sie wegen rechtlicher bzw. tatsächlicher Abschiebungshindernisse nicht nach Hause zurückkehren können. Sie
erhalten vielfach über Jahre hinweg eine Duldung, ohne
dass eine abschließende ausländerrechtliche Entscheidung getroffen wird.
Ich sehe mit Sorge, dass die problematische rechtliche Situation von Geduldeten durch die Regelungen
des Zuwanderungsgesetzes nur ansatzweise gelöst wird.
Der überwiegende Teil der Geduldeten wird seinen Status nicht verbessern können. Die im Zuwanderungsgesetz vorgesehene Härtefallregelung kann die Situation
der langjährig Geduldeten nicht substanziell verbessern,
weil die Einrichtung von Härtefallkommissionen im Ermessen der Länder liegt und deshalb ein einheitliches
Verfahren nicht gesichert ist. Außerdem werden die Härtefallkommissionen bei einer großen Anzahl von Anträgen überfordert sein.
Ich möchte als durchaus positiven Aspekt unserer Arbeit die Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ vorstellen. Kollege Haibach, ich finde, dass wir
hier einiges erreicht haben. Uns liegen sehr viele Anfragen von Kollegen in unserem Parlament vor, aber auch
von Kollegen aus den Länderparlamenten und von Ministerpräsidenten. Unser gesamtes Präsidium hat sich dafür eingesetzt. Es ist auch ein Verdienst von Bundestagspräsident Thierse, der auf seiner Reise in die Türkei im
April dieses Jahres, noch einmal ausdrücklich auf unsere
Petition zugunsten von Leyla Zana und vier weiteren
Abgeordneten hingewiesen hat. Ich glaube, das war ein
wichtiger Beitrag dazu, dass diese Abgeordneten im Juni
dieses Jahres aus dem Gefängnis entlassen wurden.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich daran erinnern,
dass viele Menschen in unserem Land einen ganz praktischen Beitrag zur Sicherung der Menschenrechte leisten
können. Ich höre immer wieder, dass viele Menschen
gerne Geld spenden, dass sie aber, wenn sie vom
schrecklichen Schicksal vieler Menschen auf der Welt
hören, voller Ohnmacht und Zweifel sind und nicht wissen, was sie tun können.
Hier gibt es eine ganz praktische Möglichkeit. Das
Bündnis „fair spielt“, dem verschiedene Städte, zum
Beispiel Nürnberg, kirchliche Organisationen wie Misereor und Bürgerinitiativen angehören und das es seit
über zehn Jahren gibt, hat durch jahrelange, zähe Arbeit
erreicht, dass sich zahlreiche deutsche Spielzeughersteller in China für die Einhaltung des Mindeststandards für
Wanderarbeiter in Spielzeugfabriken einsetzen. Deswegen können alle diejenigen, die in der Advents- bzw.
Vorweihnachtszeit Spielzeug für ihre Kinder und Familien kaufen wollen, um ihnen eine Freude zu machen, ein
klares Signal setzen: Wir stellen nicht nur unsere eigene
Familie in den Mittelpunkt, sondern wir kaufen auch so
ein, dass Menschen am anderen Ende der Welt ebenfalls
etwas davon haben. Ich begrüße deshalb sehr, dass unsere Verbraucherschutzministerin bei ihrer letzten Reise
nach China hier ein Signal gesetzt hat, indem sie eine
Spielzeugfabrik besucht hat, wo internationale Mindeststandards zum Schutz der dort Arbeitenden eingehalten
werden.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Menschenrechtsfragen haben im Moment in den Augen der
Weltöffentlichkeit, aber auch bei uns in Deutschland
Hochkonjunktur; leider überwiegend aus wenig erfreulichem Anlass. Deshalb zunächst einmal zum Positiven:
Die Menschen in der Ukraine gehen zu Hunderttausenden auf die Straße und kämpfen für die Demokratie und
auch für die Menschenrechte in ihrem Land. Sie verdienen und brauchen unsere volle Unterstützung und Solidarität.
({0})
Wichtig ist jetzt, dass die Entwicklung in der Ukraine
friedlich bleibt und dass der übermächtige Nachbar
Russland ein wirklich demokratisch zustande gekommenes Ergebnis akzeptiert.
({1})
Es wäre gut, wenn Bundeskanzler Schröder auf seinen Freund Präsident Putin in dieser Richtung einwirken
könnte.
({2})
Bislang hat der Bundeskanzler seitens des russischen
Präsidenten alles geschluckt: die Menschenrechtsverletzungen und die Wahlfarce in Tschetschenien, die Unterstützung für Lukaschenko in Belarus, den rechtsstaatlich
zweifelhaften Jukos-Prozess, die Beschneidung der
Pressefreiheit und die Entmachtung der Gouverneure,
der unabhängigen Abgeordneten der Duma und der kleineren Parteien. Jetzt, mit Blick auf die Demokratiebewegung in der Ukraine, hat selbst der Bundeskanzler offensichtlich erkannt, dass es Zeit ist für das oft zitierte
„offene Wort unter Freunden“.
({3})
Der Bundeskanzler wird auf seiner Chinareise in der
nächsten Woche, auf der ich ihn zusammen mit dem
Kollegen Bindig begleiten darf, gefordert sein, eine
Lanze für die Menschenrechte zu brechen. Der Deutsche
Bundestag hat die Bundesregierung vor einem Monat
aufgefordert, sich erst und nur dann für eine Aufhebung
des EU-Waffenembargos gegenüber China einzusetzen,
wenn sich die Menschenrechtslage in China wirklich
nachhaltig verbessert hat. Der Bundeskanzler sollte sich
in Peking an diesen Parlamentsbeschluss halten. Wir,
Herr Kollege Bindig, werden ihn daran erinnern, wenn
er mit unseren chinesischen Gesprächspartnern spricht.
Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, in dem diese
beiden Forderungen des Deutschen Bundestages an den
Bundeskanzler nochmals unterstrichen werden. Gerade
im Hinblick auf die Reise ist dieser Antrag notwendig,
Herr Kollege Bindig.
({4})
Meine Damen und Herren, auch in Deutschland
selbst sind die Menschenrechte in den letzten Wochen
leider ins Gerede gekommen. Angestoßen durch die Vorgänge in den Niederlanden und vor dem Hintergrund der
Bedrohung durch den islamischen Terrorismus machen
sich viele Menschen in Deutschland große Sorgen darüber, ob und wie der Islam und die Menschenrechte
miteinander vereinbar sind und was das für das Zusammenleben und die Integration islamischer Mitbürger in
Deutschland bedeutet. Wir haben uns im letzten Jahr im
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
schwerpunktmäßig mit diesem Thema auseinander gesetzt. Wir haben in vielen Fachgesprächen und in einer
großen Anhörung erfahren, dass der Islam durchaus eine
Religion ist, die auch auf Versöhnung ausgerichtet ist:
Einflussreiche islamische Theologen haben beispielsweise nachgewiesen, dass die von uns zu Recht immer
wieder kritisierte Steinigung eigentlich unislamisch ist;
ich erinnere an die Gespräche mit den Ajatollahs. Wir
müssen in Deutschland, aber auch weltweit, unbedingt
dazu übergehen, zwischen dem islamistischen Fundamentalismus und dem Islam sorgfältiger zu differenzieren.
({5})
Natürlich müssen wir auch in den islamischen Ländern
weiterhin die Beachtung der Menschenrechte anmahnen. Wir dürfen aber keine antiislamischen Stimmungen - schon gar nicht unter dem Deckmantel der Menschenrechte - bei uns oder im Ausland schüren.
({6})
Natürlich wurde in Deutschland in den letzten Wochen auch intensiv über die Folter geredet. Meine Vorredner haben schon alles gesagt, was zu sagen war. Ich
kann das alles nur unterstützen: Die Folter darf kein Mittel der Verfolgung und Durchsetzung angeblicher Rechte
des Staates sein.
({7})
Wir in Deutschland müssen gerade aufgrund unserer
Vergangenheit nationaler und internationaler Vorreiter
für den Schutz der Menschenrechte sein. Das gilt insbesondere auch für internationale Menschenrechtsabkommen, deren Ratifizierung wir bei anderen Ländern gerne
lautstark einfordern, bei der wir uns aber selbst oft
schwer tun. Deshalb werben wir heute auch für eine Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, mit dem ein eigenständiges
Diskriminierungsverbot etabliert und durchgesetzt werden soll.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend Claudia Roth ebenfalls sehr für ihr engagiertes Eintreten für die Menschenrechte danken. Die Zusammenarbeit mit ihr war ausgezeichnet. Sie war immer im
Ausschuss, wenn wir sie brauchten. Vielen Dank dafür.
({8})
Mein Dank gilt aber auch Christa Nickels für die hervorragende Leitung des Menschenrechtsausschusses.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph
Strässer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahresbericht
der Europäischen Union zur Menschenrechtslage 2004
in Europa ist bereits der sechste dieser Art. Dieser Bericht soll aufzeigen, wie die gemeinsamen Werte der EU
in der praktischen politischen Umsetzung in den Menschenrechtsbereich Eingang finden.
Des Weiteren verdeutlicht dieser Jahresbericht aber
auch vorhandene Defizite und damit auch einen Handlungsbedarf für die europäische Menschenrechtspolitik.
Unter zwei Gesichtspunkten ist die Darstellung der Menschenrechtslage im Bericht 2004 allerdings von besonderer Bedeutung:
Zum Ersten ist dieser Bericht der erste seiner Art, der
die Zusammenarbeit von 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschreibt, also auch die mit den zehn
neuen Mitgliedstaaten, die in dem Bericht insgesamt
eher kritisch bewertet werden. Ich denke auch an die in
unserem Antifolterantrag genannten Länder im Baltikum, die noch bestimmte Abkommen ratifizieren müssen, um gewisse Kriterien erfüllen zu können. Der Bericht beinhaltet eine breitere Diskussionsgrundlage und
verleiht dem europäischen Streben nach universeller
Einhaltung der Menschenrechte noch mehr Gewicht in
der Welt.
Zum Zweiten hat sich im Berichtszeitraum leider wiederum gezeigt, dass die terroristische Bedrohung vor
Europa als Anschlagsziel keinen Halt gemacht hat. Insbesondere die Anschläge in Madrid zu Beginn dieses
Jahres haben uns mehr als deutlich vor Augen geführt,
wie verletzlich unsere offenen demokratischen Gesellschaften tatsächlich sind. Die EU hat am 25. März 2004
die Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus gebilligt. Die Erklärung macht unmissverständlich deutlich,
dass terroristische Handlungen Anschläge gegen die
Grundwerte der Union sind. Die Union hat zudem versichert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um im Einklang mit den Grundprinzipien und den Verpflichtungen
im Rahmen der Resolution 1373 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen.
Dem stimmen wir natürlich ausdrücklich zu. Die
große Herausforderung, die sich der deutschen und der
europäischen Menschenrechtspolitik in dieser schwierigen weltpolitischen Lage und gerade in Zeiten dieses
globalen Terrorismus aber stellt, ist die Verteidigung der
Menschenrechte. Die Preisgabe oder auch die unverhältnismäßige Einschränkung von Menschenrechten wären
bereits ein Sieg der Terroristen über den Rechtsstaat, zu
dessen Verteidigung gerade wir aufgerufen sind.
Deshalb sage ich bei allem Grundkonsens über die
Bedeutung präventiv wirkender Maßnahmen im eigenen
Land und in der EU, gerade auch mit Blick auf die jüngst
bekannt gewordene Entscheidung des Ministerrates der
Innenminister über die Einführung so genannter biometrischer Daten in die Pässe von mehr als
450 Millionen EU-Bürgern: Bei all diesen Maßnahmen
muss die Balance zwischen Sicherheitsaspekten und der
Bewahrung der Freiheitsrechte gewahrt bleiben. Eine
Ausuferung auch in unseren eigenen Ländern, wie beispielsweise die durch das Bundesverfassungsgericht gerügte Abhörpraxis durch Behörden, oder die Beschneidung der Rechte nationaler Parlamente und auch des
EU-Parlaments selbst dürfen wir als Menschenrechtspolitiker und Parlamentarier gerade in diesen höchst sensiblen Bereichen nicht klaglos hinnehmen. Das sollten
wir an dieser Stelle auch in Zukunft deutlich machen.
Wir unterstützen nachhaltig die Forderung des
Berichts der Kommission, dass die Bekämpfung des Terrorismus niemals mit einer Missachtung der Menschenrechte einhergehen darf. Die Terrorismusbekämpfung
muss entsprechend internationaler Menschenrechtsvorschriften vorgehen. Gerade hier besteht die existenzielle
Gefahr der Aufweichung rechtsstaatlicher Grundprinzipien.
({0})
Tschetschenien, Guantanamo und andere Problemfelder sprechen eine deutliche Sprache. Wie ich gehört
habe, fahren Herr Funke und Rudolf Bindig mit nach
China. Nicht nur aus diesem Grunde bin ich ganz sicher,
dass der Bundeskanzler in China die Probleme der Menschenrechtsverletzungen in diesem Land offensiv und
offen ansprechen wird. Was uns vor allem sehr stark
trifft, ist die hohe Zahl der dort willkürlich vollstreckten
Todesurteile.
Ich finde, wir sollten an dieser Stelle auch einen anderen Umstand ansprechen, durch den diese menschenrechtsverachtende Politik in China unterstützt wird,
nämlich die Lieferung von mobilen Hinrichtungsstellen
nach China aus einem befreundeten Land, mit denen
Hinrichtungen praktiziert werden, wie wir das in unserem Ausschuss gesehen haben und wie es auch in der
Öffentlichkeit dargestellt worden ist. Leider hat dies
nicht zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit geführt,
auch wenn ich dies für einen menschenrechtlichen Skandal erster Güte halte.
({1})
Aufgrund der weltpolitischen Lage und der damit verbundenen Angst der Menschen stehen sicher geglaubte
Rechtsprinzipen und Menschenrechte zur Disposition.
Es wird der unbegreifliche Versuch unternommen, Leid
gegen Leid aufzuwiegen. Diese Entwicklung macht auch
die derzeitige innenpolitische Folterdebatte sehr fühlbar,
zu der an dieser Stelle bereits alles Nötige gesagt worden
ist.
Das Bestreben der EU, den Kampf gegen Rassismus,
Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz
weiter voranzutreiben, wird von uns ohne Abstriche unterstützt. Dies gilt gerade für einen Bereich, der dankenswerterweise im Bericht angesprochen wird, nämlich die
Situation ethnischer Minderheiten, insbesondere von
Roma und Sinti, in Beitrittsländern, aber auch im
Kosovo und in Serbien. Ich konnte mir anlässlich einer
Reise für den Menschenrechtsausschuss ein sehr persönliches Bild der Situation in Teilen dieser Länder machen,
wo Menschen seit 1999 in Camps mehr vegetieren als leben, deren Lebenssituation nur als desaströs bezeichnet
werden kann, und wo von einer Einhaltung menschenrechtlicher Standards, unabhängig von der Sicherheitslage, wirklich nicht mehr geredet werden kann.
Deshalb ist mein Fazit dieser Reise - ich werde das
noch an anderer Stelle ausführlich darstellen - sehr klar
und eindeutig - das sage ich bei vollem Bewusstsein und
Verstand -: Aus menschenrechtlicher Sicht sind Rückführungen solcher Minderheiten unter den obwaltenden
Bedingungen in Lagern wie in Obilic, Mitrovica, Vushtri, Nis und in Novi Sad, die sich in der Wojwodina verschärfen, jetzt und in absehbarer Zeit nicht zu verantworten. Das sage ich an dieser Stelle ganz deutlich.
({2})
In diesem Sinne möchte ich meinen Beitrag mit dem
Wunsch beenden, dass die höhere Anzahl von Mitgliedstaaten der EU, die sich diesen menschenrechtlichen
Standards verpflichtet haben, tatsächlich zu einer
Stärkung der Menschenrechte in der Welt insgesamt beitragen wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Melanie Oßwald.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Heimatstadt Nürnberg ist die Stadt der Menschenrechte.
So freue ich mich besonders, dass wir heute eine Debatte
zum Tag der Menschenrechte führen und ich an dieser
Debatte mitwirken kann.
Wir sollten uns immer wieder aufs Neue die Bedeutung der Menschenrechte in Erinnerung rufen. Wir müssen uns bewusst werden, in wie vielen Regionen dieser
Erde Menschenrechte immer noch massiv missachtet
werden. Menschenrechte kommen jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zu, also unabhängig
von der ethnischen und sozialen Zugehörigkeit, der
Staatsangehörigkeit und dem Geschlecht. Zum Schutz
der Menschenrechte wurde unter dem Dach der UNO in
den vergangenen 60 Jahren ein beeindruckendes Netz
von Menschenrechtsverträgen entwickelt. Um die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen in diesem
Bereich zu überwachen, entstand zusätzlich ein umfangreiches Schutzsystem. Allen Verträgen und Kontrollmechanismen zum Trotz werden dennoch täglich weltweit
Menschenrechte verletzt.
Am Beispiel Nepals wird dies deutlich. Obwohl die
nepalesische Regierung verschiedene Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen unterzeichnet und ratifiziert hat, kommt es immer wieder zu massiven Verstößen gegen die Menschenrechte. Die hohen Erwartungen
an die demokratische Revolution von 1990 wurden hier
leider nicht erfüllt. Es wurden zwar einige Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte erreicht, aber der
seit fast acht Jahren anhaltende Konflikt zwischen der
Regierung und den Maoisten hat die Lage der Menschenrechte in den letzten Jahren wieder massiv verschlechtert.
In dieser Zeit forderte dieser Konflikt mehr als
10 000 Menschenleben. Seit der Auflösung des Parlaments 2002 gibt es zudem keine demokratisch gewählte
Volksvertretung mehr. Stattdessen regieren vom König
eingesetzte Vertreter. Die maoistischen Aufständischen
fordern eine Abschaffung des Königtums und eine Umwandlung Nepals in eine kommunistische Volksrepublik.
Seit dem Ende des Waffenstillstandes im vergangenen
Jahr häufen sich Verstöße gegen die Menschenrechte auf
beiden Seiten. So werden Maoisten für zahlreiche
Tötungen und Hinrichtungen von Sicherheitskräften genauso wie von Zivilisten verantwortlich gemacht. Auch
Entführungen und Folter von Gefangenen und Entführten gehen auf ihr Konto. Laut Amnesty International
kommt es aufseiten der Maoisten regelmäßig zu Entführungen von 15- bis 18-jährigen Jugendlichen, um sie als
Kindersoldaten zu rekrutieren. So sollen in den westlichen Landesteilen Hunderte von Jugendlichen, teilweise
sogar ganze Schulklassen aus ihrer Schule verschleppt
und von den Maoisten vorübergehend zur Indoktrinierung in Gewahrsam genommen worden sein.
({0})
Aber auch die Sicherheitskräfte der Regierung begehen regelmäßig Verstöße gegen die Menschenrechte.
Dazu gehören illegale Hinrichtungen von Maoisten oder
sogar Zivilisten, die im Verdacht stehen, mit den Rebellen zu sympathisieren. Zusätzlich häufen sich Fälle von
Verschwindenlassen. In den letzten beiden Jahren war
Nepal das Land mit der weltweit höchsten Anzahl von
verschwundenen Personen. Nach dem Scheitern der
Waffenruhe verschwanden Berichten zufolge mehr als
150 Menschen. Viele von ihnen werden vermutlich in
Armeekasernen ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Teilweise bleiben Gefangene bis zu einem Jahr in
Haft, ohne Zugang zu einem Anwalt oder zu Familienangehörigen. Laut Berichten soll es in nepalesischen Gefängnissen täglich zu Folter kommen. Dies muss aufs
Schärfste verurteilt werden. Folter ist kein rechtsstaatliches Mittel. Darin sind wir uns alle einig.
({1})
Die VN-Anti-Folter-Konvention wurde von der nepalesischen Regierung unterzeichnet und ratifiziert. Die
Bundesregierung muss endlich die nepalesische Regierung nachdrücklich an die daraus entstehenden Verpflichtungen erinnern.
({2})
Hinzu kommen Menschenrechtsverletzungen wie Versammlungs- und Demonstrationsverbote, Diskriminierungen von Angehörigen bestimmter Kasten und von
Frauen. Ein großes Problem stellt zudem der ausgeprägte Menschenhandel mit Frauen und Mädchen nach
Indien dar. Besonders die Pressefreiheit lässt zu wünschen übrig. Wie die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ berichtet, wurden 2003 in keinem Land der Welt so
viele Journalisten verhaftet wie in Nepal.
Es ist erschreckend, dass der gewalttätige Konflikt
zwischen Regierung und Maoisten und die damit einhergehenden Verletzungen der Menschenrechte international kaum Beachtung finden. Ich möchte die heutige Debatte dazu nutzen, um darauf aufmerksam zu machen.
Die massive Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Nepal wird eklatant unterschätzt und verharmlost.
Deshalb ist es wichtig, die internationale Aufmerksamkeit wieder auf diese Region zu richten.
({3})
Die Bundesregierung muss in diesem Konflikt endlich aktiv werden und gemeinsam mit den EU-Partnern
auf eine Vermittlung zwischen der nepalesischen RegieMelanie Oßwald
rung und den Maoisten drängen. Sie hat es bisher auch
versäumt, sich intensiv für die Wiederherstellung der demokratischen Grundsätze einzusetzen. Die seit zwei Jahren aufgeschobenen Neuwahlen zu einem demokratischen Parlament müssen endlich durchgeführt werden.
({4})
Die Bundesregierung sollte gezielt die deutsche Entwicklungshilfe nutzen, um diesen Prozess zu fördern.
Die Menschenrechte sind zu wichtig, als dass wir deren
Einhaltung dem Zufall überlassen dürften.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Graf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder
regionale und inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. So haben uns zum Beispiel die Entwicklungen nach dem
11. September 2001 nicht nur zu einer nachhaltigen Beschäftigung mit der Situation in Afghanistan veranlasst,
sondern auch zu der Auseinandersetzung mit dem Themenbereich „Menschenrechte und Islam“. Ich erinnere
an die exzellente Anhörung, die wir in diesem Zusammenhang durchgeführt haben. Herr Funke hat sie bereits
erwähnt. Sie hat sich durch ihre wissenschaftliche Sachlichkeit wohltuend von der oft sehr oberflächlichen und
populistischen Sichtweise mancher Medien abgehoben.
Im Jahr 2004 hat sich der Ausschuss schwerpunktmäßig mit der Entwicklung in Afrika befasst. Auch hierzu
wurde eine viel beachtete Anhörung zum Thema „Die
menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen
im Kontext von Gewaltökonomien in Afrika“ durchgeführt. In dieser Anhörung wurde das Verderben bringende Zusammenspiel von international subventionierten Diktaturen, der Implosion staatlicher Strukturen, der
privaten Bereicherung durch verbrecherische Netzwerke
und dem Entstehen neuer Kriege deutlich gemacht. Die
Verantwortung international agierender Wirtschaftsunternehmen wurde überdeutlich. Viele Erkenntnisse aus
dieser Anhörung lassen sich leider auch auf andere Regionen übertragen. Das Protokoll aller Anhörungen kann
übrigens im Internet auf der Ausschusswebsite abgerufen werden.
Die Anträge, die wir im Menschenrechtsbereich bearbeiten, beschäftigen sich aus gutem Grund selten mit der
Situation in einzelnen Ländern. Viele Menschenrechtsverletzungen müssen unter globalen Aspekten thematisiert werden. Das machen nicht nur die erwähnten Anhörungen deutlich, sondern auch der Antrag der Union zur
Presse- und Meinungsfreiheit im Internet, auf den ich
heute wegen der Kürze der Redezeit leider nicht näher
eingehen kann. Aber es gibt Ausnahmen von der Regel.
Eine davon war aus nachvollziehbaren Gründen Afghanistan. Die Situation der Frauen dort hat uns in den letzten Jahren mehrfach beschäftigt.
Licht und Schatten liegen oft eng beieinander. Heute
stehen zwei Anträge über Nepal auf der Agenda; der
eine ist von der Koalition und der andere von der FDP
vorgelegt worden. Nepal ist ein Land mit großen sozialen Problemen, das bei Trekking-Touristen - und nicht
nur bei diesen - wegen des Himalaja und vieler Kulturgüter von unglaublicher Schönheit berühmt ist. Wir
reden heute auch über die Bekräftigung der UN-AntiFolter-Konvention. Kollege Bindig zum Beispiel ist bereits sehr ausführlich darauf eingegangen.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis: Vor wenigen
Tagen meldete die BBC aus Katmandu, die Anzahl der
bekannt gewordenen Folterfälle in Nepal habe sich seit
dem Jahr 1996 - dem Beginn des Aufstandes der Maoisten - jährlich verdoppelt. Einzelheiten über die politische Situation und ihre Hintergründe können Sie dem
Koalitionsantrag und dem Antrag der FDP entnehmen.
Beide Seiten - die Aufständischen und die Vertreter der
Staatsmacht - bedienen sich vermehrt der Folter, obwohl
Nepal die Anti-Folter-Konvention - ebenso wie die
CEDAW-Konvention, die sich gegen die Diskriminierung von Frauen richtet - unterschrieben hat. Trotzdem
werden Frauen und Mädchen unter den Augen der Behörden in Bordelle nach Indien verschleppt.
Das Zentrum für Folteropfer in Nepal berichtet von
1 800 Folterfällen allein in diesem Jahr. Insgesamt seien
der Organisation 17 000 Fälle bekannt. Das sei aber nur
die Spitze eines Eisbergs. Der Direktor der Organisation,
Herr Dr. Sharma, berichtet, dass die meisten Opfer aus
armen Bevölkerungsschichten kämen und oft zu Unrecht
unter dem Verdacht stünden, den maoistischen Rebellen
anzugehören. Eine internationale Fact-Finding-Mission
stellte schon 1994 - also noch vor dem Aufstand - fest,
dass in den Gefängnissen circa 75 Prozent aller Gefangenen gefoltert worden waren.
Es hat sich seitdem offensichtlich nichts zum Positiven verändert. Amnesty International berichtete gestern,
dass nirgendwo auf der Welt so viele Menschen verschwinden wie in Nepal. 622 Fälle von Verschwindenlassen durch staatliche Akteure - nicht 150, wie Sie gesagt haben, Frau Oßwald - führt die Organisation für die
letzten sechs Jahre auf. Mehr als die Hälfte davon datiert
seit dem August 2003. Damals waren die Friedensverhandlungen zwischen den aufständischen Maoisten und
der Regierung gescheitert. Hinzu kommen Tausende Zivilisten und Militärangehörige, die durch die Rebellen
entführt wurden. Man spricht auch von der Rekrutierung
von Kindersoldaten.
Die Züge rasen mit unverminderter Heftigkeit aufeinander zu. Die Mitte Oktober dieses Jahres in Kraft getretene Verschärfung des Antiterrorgesetzes ermöglicht
es den staatlichen Sicherheitskräften, eine so genannte
Präventivhaft von bis zu einem Jahr - ich betone: bis zu
einem Jahr - ohne Anklage und Gerichtsverfahren zu
verhängen. Für mich ist klar: Zu mehr Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechtssicherheit und Demokratie wird das
nicht führen. Dennoch und gerade deshalb ist es wichtig,
im Sinne der in den Anträgen erhobenen Forderungen
politisch Druck auf die Kombattanten in Nepal zu machen und zum Beispiel über die deutsch-südasiatische
Angelika Graf ({0})
Parlamentariergruppe den Kontakt zu den demokratischen Kräften in Nepal zu halten.
({1})
Ich möchte hier einen Zusammenhang zu dem Antrag
auf Bekräftigung des absoluten Folterverbotes herstellen. Mit welchem Recht träten wir dort für mehr Menschenrechte ein, wenn wir selber auch nur im Traum daran dächten, in bestimmten Fällen ein bisschen zu
foltern? Darüber sollten wir ernsthaft nachdenken, wenn
wir solche Diskussionen führen. Mit welchem Recht
würden wir dann Herrn Dr. Shestra im Krankenhaus in
Dhulikhel den Rücken stärken, wenn er und sein Team
unter extrem schwierigen Bedingungen, sozusagen zwischen den Fronten, die gesundheitliche Versorgung für
circa 500 000 Menschen, unter ihnen auch Folteropfer,
sicherstellen? Das Krankenhaus wurde übrigens - so viel
zum Thema Einsatz von Entwicklungshilfe, Frau
Oßwald - mit einer Anschubfinanzierung der GTZ gebaut und wird mit Spenden aus Deutschland gesponsert.
Auch die Mittel des BMZ sind dort gut eingesetzt. Nepal
ist schließlich einer der Schwerpunkte.
Zum Schluss noch einen Satz zu dem China-Antrag
der FDP, der schon von fast jedem Redner angeführt
wurde. Unser Ausschuss steht dafür, Menschenrechtsverletzungen mutig anzusprechen. Unser Kollege Rudolf
Bindig ist für sein großes diesbezügliches Engagement
europaweit bekannt.
({2})
- „Weltweit“ haben Sie gesagt, Herr Haibach. Aber es
stimmt. - Er wird - da bin ich ganz sicher - den Bundeskanzler auf seiner Chinareise mit diesen Themen konfrontieren, wenn er ihn begleitet. Ich nehme an, dass
auch Herr Funke und Frau Vollmer dies tun werden.
Herr Haibach, ich denke daher, dass Ihr geäußertes
Misstrauen nicht ganz gerechtfertigt ist, insbesondere
was das Engagement unserer Kolleginnen und Kollegen
in diesem Bereich betrifft.
Herzlichen Dank.
({3})
Danke schön. - Jetzt hat der Abgeordnete KlausJürgen Hedrich als letzter Redner in dieser Debatte das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Graf, Sie
haben es uns jetzt schwer gemacht, am Schluss Ihrer
Rede zu klatschen; ich hatte mich gerade darauf vorbereitet. Aber ich fand Ihre Ausführungen sehr angemessen; das wollte ich Ihnen gesagt haben.
Die gängige These lautet, dass es bei Menschenrechten keine Kompromisse geben sollte. Aber wie sehen eigentlich die politische Praxis und die Wirklichkeit aus?
Ich kann als Maßstab nur einen Doppelstandard feststellen. Wie es passt und hinhaut, legen wir im jeweiligen Fall den einen oder den anderen Maßstab an. Der
Regelfall ist: Je unwichtiger das Land - gemessen an unserer eigenen Interessenlage - ist, desto strenger achten
wir auf die Erfüllung unseres Anspruchs auf Durchsetzung der Menschenrechte. Je wichtiger das Land ist,
desto zurückhaltender sind wir.
Dafür kann ich eine beliebige Anzahl von Beispielen
nennen. Beispielsweise verhängt die EU scharfe Sanktionen gegen Burma. Kein Mensch würde auf die Idee
kommen, gegen China Sanktionen zu verhängen, obwohl dieses Land den Rekord hält, was Verstöße gegen
Menschenrechte angeht. Burma hingegen behandeln wir
ganz anders. Ein für uns wirtschaftlich wichtiges Land
ist Saudi-Arabien - einer der Terrorstaaten dieser Welt.
Kein Mensch würde auf die Idee kommen, gegen SaudiArabien Sanktionen zu verhängen.
Für die politische Führung von Burma, besonders für
den Staatspräsidenten, den Diktator Than Shwe, besteht
- dafür habe ich bis zu einem gewissen Maße durchaus
Verständnis; Petra Ernstberger und ich durften in dieses
Land vor kurzem nicht einreisen - ein Einreise- und ein
Devisenverbot. Fidel Castro kann sich auf dieser Erde
dagegen frei bewegen. Worin besteht der Unterschied
zwischen Than Shwe und Castro? An diesen Fällen
wollte ich nur deutlich machen, dass wir in unseren Vorgehensweisen doch sehr ambivalent sind.
Natürlich ist es wichtig, dass wir den Finger immer
wieder in die Wunde legen, wie es hier von allen Kollegen gemacht worden ist. Ich glaube, wir beurteilen Länder nicht völlig gerecht, wenn wir uns nicht jeden Einzelfall sorgfältig anschauen und analysieren, ob sich die
Dinge verbessert haben oder nicht. Das Vietnam des Jahres 2004 ist völlig anders als das des Jahres 1994. Das
Mexiko von heute ist völlig anders als das der PRI vor
20 Jahren. Bei der Bewertung der Einhaltung von Menschenrechten, von Rechtsstaatlichkeit, von freiheitlicher
Demokratie und von Pressefreiheit muss man - bei aller
kritischen Bewertung von aktuellen Entwicklungen immer im Auge behalten, ob sich Dinge verbessert haben oder nicht. Das heutige Simbabwe Mugabes ist in einer viel schlechteren Situation als zu der Zeit, als Mugabe sein Amt antrat. Eine Einzelfallbetrachtung gehört
zu einer fairen und soliden Bewertung von Menschenrechten.
Ein besonderer Fall ist - das wurde auch im Menschenrechtsbericht deutlich - Kuba. Ich möchte hier erst
einmal der Bundesregierung ein Kompliment und einen
Dank aussprechen: Bisher vertritt die Bundesregierung
einen sehr deutlichen Standpunkt, zum Beispiel was die
Einladung der Dissidenten angeht.
Wir hören jetzt immer wieder, dass die spanische Regierung eine Änderung dieser Politik anstrebt. Auch ich
bin der Auffassung, dass man gegenüber welchem Regime auch immer gesprächsbereit sein muss, um bestehende Gesprächskontakte aufrechtzuerhalten. Aber im
Fall Kuba müssen eigentlich nicht wir den ersten Schritt
tun, sondern die kubanische Diktatur. Das ist gegenwärtig nicht erkennbar.
Die Taktik Kubas ist manchmal sogar perfide: Personen werden willkürlich verhaftet, für mehrere Monate
eingesperrt, dann freigelassen und das wird dann als ein
Zeichen der Verbesserung der innenpolitischen Verhältnisse ausgegeben. Um es deutlich zu sagen: Kuba ist da
übrigens kein Einzelfall. Wir sollten uns durch solche
Tricks von Diktatoren nicht irreführen lassen.
({0})
Deshalb ist es wichtig, dass wir deutlich machen: Sowohl diejenigen, die in einem konkreten Fall, als auch
diejenigen, die weltweit für Demokratie eintreten, genießen unsere Sympathie.
Hier könnten wir ein sehr deutliches Zeichen setzen.
Eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten, die gegenwärtig für Freiheit und eine demokratische Ordnung in
ihrem Lande eintreten und im Lande wohnen und bleiben wollen, ist Oswaldo Payá. Er ist schon mehrmals für
den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Die Entscheidungen der letzten beiden Jahre halte ich für richtig, aber vielleicht nehmen Kollegen aus diesem Gremium diesen Fall zum Anlass - es wird dazu eine
fraktionsübergreifende Initiative geben -, Oswaldo Payá
im nächsten Jahr für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Der Deutsche Bundestag würde damit ein Zeichen
der Verbundenheit mit einem Bürger setzen, der für die
Freiheit seiner Mitbürger eintritt, der stellvertretend für
die Freiheitsbewegung in seinem Land steht.
Herzlichen Dank.
({1})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/4396 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innenausschuss, den Rechtsausschuss und
den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4397 soll
zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und zur Mitberatung
an den Auswärtigen Ausschuss und den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen werden. Die Vorlagen auf den Drucksachen
15/3231, 15/3507, 15/3709, 15/4402 und 15/4405 sollen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Sind Sie mit alldem einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/3001 zu
dem EU-Jahresbericht zur Menschenrechtslage: Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung auf
Drucksache 15/2636 eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Irmgard Karwatzki, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen Zehn Jahre Novellierung des Art. 3 Abs. 2 des
Grundgesetzes
- Drucksache 15/4146 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Einen
Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern. Es ist gerade einmal zehn Jahre her, als
am 15. November 1994 die Ergänzung des Art. 3 Abs. 2
des Grundgesetzes in Kraft trat:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Wie alle großen Schritte der Gleichberechtigung ist
auch dieser den Frauen nicht geschenkt worden. Es
wurde im Zuge der Verfassungsreform sehr deutlich,
dass wir Frauen Eindrucksvolles erreichen können,
wenn wir gemeinsam Ziele verfolgen und zusammenstehen. Dafür möchte ich an dieser Stelle sehr herzlich denjenigen danken, die sich seinerzeit ganz besonders für
diese Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes
eingesetzt haben.
({0})
Für unsere Fraktion seien stellvertretend genannt:
Ursula Männle, die heute Mitglied des Bayerischen
Landtags ist - sie ist sehr wohl zu nennen, Frau ScheweGerigk -, Irmgard Karwatzki, die heute noch sprechen
wird, Susanne Rahardt-Vahldieck, die Berichterstatterin
zu Art. 3 des Grundgesetzes in der damaligen Gemeinsamen Verfassungskommission, Claudia Nolte, die damalige frauen- und jugendpolitische Sprecherin unserer
Fraktion, Maria Böhmer, die damals Vorsitzende des
Bundesfachausschusses Frauenpolitik war und heute
stellvertretende Vorsitzende unserer Fraktion im Deutschen Bundestag ist, aber eben auch und ganz selbstverständlich unsere Partei- und Fraktionsvorsitzende
Dr. Angela Merkel, die damals Bundesministerin für
Frauen und Jugend war.
({1})
Sie alle haben sich damals mit sehr viel Herz, Mut und
Durchsetzungskraft für unsere Sache eingesetzt.
Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte
wurde mit dieser Ergänzung der Staat verpflichtet, aktiv
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern zu fördern. Erstmals wurde es
ihm zur Aufgabe gemacht, von sich aus auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.
Rot-Grün hat den zehnten Jahrestag dieser wichtigen
Ergänzung des Grundgesetzes in diesem Jahr wohl
schlicht vergessen.
({2})
Das finde ich sehr schade, weil gerade dieses Datum für
uns Frauen insgesamt ein sehr wichtiges ist. Wir Frauen
von der Union haben dieses Jubiläum in unseren Reihen
durchaus begangen. Wir haben im besten Sinne des Wortes in der Vergangenheit geblättert und Zukunftsperspektiven diskutiert.
Die Zeiten haben sich verändert, aber die Grundprobleme sind doch dieselben geblieben. Der Zeitgeist ist
zwar schon lange nicht mehr so kämpferisch frauenbewegt, wie das früher der Fall war. Gleichberechtigte
Partnerschaft lautet heute das Schlüsselwort. Die meisten Frauen möchten sich nicht mehr gegen die Männer
emanzipieren, sie wollen partnerschaftliches Miteinander, und dies auf Augenhöhe. Junge Frauen formulieren
ihre Probleme heute nicht mehr so grundsätzlich, wie es
ihre Mütter taten. Sie haben häufiger eine qualifizierte
Ausbildung oder Hochschulbildung und qualifizierte
Jobs, die denen ihrer männlichen Altersgenossen nur
noch im Verdienst nachstehen, und stellen sich deshalb
die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
durchschnittlich immer später oder eben - das beweist
die hohe Zahl kinderloser Akademikerinnen - leider oft
gar nicht mehr.
Irgendwann kommt fast immer der Punkt, an dem
Ziele und Vorstellungen auf die altbekannten Reibungspunkte stoßen, nämlich ungleiches Gehalt, Beschränkung auf typische Frauenbereiche, keine ausreichend
guten Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie, gläserne Decken auf dem steinigen
Weg in Führungspositionen und viel zu wenig Familienfreundlichkeit. Trotz einiger Bereiche, in denen junge
Frauen spektakuläre Erfolge erzielen - so beim Bildungs- und Ausbildungsniveau oder beim Einstieg ins
Berufsleben -, hat bislang noch immer kein wirklicher
Wandel in den Machtstrukturen und in der Arbeitsplatzorganisation stattgefunden.
({3})
Aufgrund der aktuellen schlechten ökonomischen Lage
erscheinen die Hindernisse in manchen Fällen noch unüberwindbarer als früher. Die katastrophale Lage auf
dem Arbeitsmarkt gefährdet die Fortschritte der
Gleichstellungspolitik mehr als alles andere. Dies gilt im
Übrigen gerade eben auch für ältere Frauen, die zum
Beispiel nach der Familienphase wieder ins Erwerbsleben einsteigen wollen oder ihre Erziehungs- und Pflegezeiten angemessen bei der Rente berücksichtigt wissen
wollen.
Neue Zeitumstände also, aber alte Probleme. Frauen
leben auch im Jahr 2004 weiter zwischen Wunsch und
Wirklichkeit. Die Politik der Bundesregierung konnte in
den letzten sechs Jahren daran nichts Wesentliches ändern. Dabei sind viele ihrer Ansätze - das sagen wir
ganz bewusst - redlich und richtig, wie zum Beispiel das
Setzen auf Freiwilligkeit bei der Durchsetzung der
Chancengleichheit von Frauen in der Privatwirtschaft
oder das Befördern der Familienfreundlichkeit in Unternehmen aus volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekten. Ich glaube wirklich, dass sich
Ministerin Renate Schmidt auf vielen Feldern abmüht.
Aber sie kann gar nicht erfolgreich im Sinne der Frauen
agieren, wenn der ganze wirtschafts-, sozial-, arbeitsmarkt- und finanzpolitische Rest bei Rot-Grün nicht
stimmt.
({4})
Wir von der CDU/CSU teilen die Zielsetzungen der
Stärkung der Frauenerwerbstätigkeit oder des Ausbaus
von Möglichkeiten zur ganztägigen Kinderbetreuung.
Doch, meine Damen und Herren, der Weg zum Ziel ist
entscheidend: Er muss gangbar, realistisch und finanzierbar sein, denn wir wollen unsere Zukunft nicht auf
Sand bauen. Sie hängen teilweise leider jedoch nach wie
vor gesetzgeberischen Wunschträumen nach und haben
keine schlüssigen Finanzierungskonzepte, was am Tagesbetreuungsausbaugesetz wieder einmal deutlich
wurde.
Außerdem müssen unterschiedliche Lebensentwürfe
von Frauen besser berücksichtigt werden. In den Koalitionsfraktionen neigt man immer noch dazu, Frauen, die
sich ausschließlich um die Familie kümmern, am Wegesrand stehen zu lassen. Das wird es mit der Union nicht
geben.
({5})
Achten Sie bitte auf die Zeit. Es wäre jetzt Zeit für
den Schlusssatz.
Jawohl. - Wie damals brauchen wir heute passgenaue
und zeitgemäße Konzepte. Moderne Gleichstellungspolitik ist gestern wie heute eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Es gilt, die Strukturen zu verändern und überholte Rollenbilder zu hinterfragen, jedoch nicht um den
Preis, diese durch neue, quasiverbindliche Rollenbilder
zu ersetzen.
Die Herausforderungen moderner Gleichstellungspolitik können zudem nur im Geschlechterkonsens erfolgreich gemeistert werden. Darauf sollten wir uns in Zukunft stärker konzentrieren. Lassen Sie uns gemeinsam
die Gleichstellungspolitik aus ihrer Nische herausholen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der CDU/
CSU, Sie legen heute einen Antrag vor, der mir tatsächlich Hoffnung für Ihre Fraktion gibt. Schließlich haben
Sie in Ihrer Fraktion mit nur 23 Prozent immer noch den
geringsten Frauenanteil. Auch das könnten Sie mithilfe
Ihres Antrags ändern.
({0})
- Die haben wir auch. Das ist gar keine Frage.
Leider muss ich Ihnen, Frau Widmann-Mauz, sagen,
dass die heutige aktuelle Nachricht lautet: Herr Oettinger
und nicht Frau Schavan liegt in Baden-Württemberg
vorn. Das ist auch ein Beispiel dafür, wie stark das
Gleichstellungskonzept in der CDU/CSU wirkt.
({1})
Aber jetzt zur Sache und zu Ihrem Antrag, Frau
Widmann-Mauz: Viele der Forderungen und Analysen
aus Ihrem Antrag kann ich durchaus teilen und unterstützen. Aber wie so oft ist Papier sehr geduldig und wie bei
vielen anderen Ihrer Politikfelder vermisse ich ein bisschen Fleisch in der Suppe und frage: Wie kann man das,
was Sie in Ihrem Antrag fordern, eigentlich umsetzen?
Was ist Ihr Konzept?
({2})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der CDU/
CSU, Sie fordern eine konsequente Umsetzung von
Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes, das heißt einen höheren Stellenwert der Gleichstellungspolitik in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. Das unterstreichen wir
dreimal. Das empfinden wir genauso.
Weiter heißt es - das ist für die CDU/CSU ein Riesenfortschritt -: Wir möchten Gender Mainstreaming als
Konzept umsetzen. Dazu sagen wir: Gut so! Weiter so!
({3})
Beim zweiten Blick auf Ihren Antrag erkennt man
aber ganz deutlich, dass Ihr Mut zur Veränderung nur
halbherzig ist. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen
aufzeigen. Sie haben gerade in Ihrer Rede gesagt, Frau
Widmann-Mauz, und im Antrag auch geschrieben: Wir
wollen Gleichstellungspolitik nur im Geschlechterkonsens.
({4})
Was heißt das? Hört Ihr Anspruch auf Gleichstellung
auf, wenn der Mann nicht mehr mitmachen möchte?
({5})
Das kann es doch wohl nicht sein. Hätten die Frauen immer auf das Einverständnis der Männer gewartet, wäre
es zum Beispiel der Sozialdemokratin Elisabeth Selbert
schon vor 50 Jahren nicht gelungen, den Art. 3 überhaupt in die Verfassung zu bringen. Und vor zehn Jahren
hätte es die Ergänzung nicht gegeben, die Anlass für die
heutige Debatte ist.
({6})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der CDU/
CSU, Sie fordern die Umsetzung von Gender Mainstreaming. Das ist wunderbar. Aber Sie schreiben gleichzeitig, dass Sie es „angemessen“ und ohne „Bürokratie“
umsetzen möchten.
({7})
Was bedeutet das im Zusammenhang mit dem Thema
Gleichstellung? Gender Mainstreaming heißt, dass wir
jedes Gesetz, das wir auf den Weg bringen, darauf überprüfen, wie es auf Männer und Frauen wirkt, ohne eine
der beiden Gruppen in irgendeiner Form zu benachteiligen. Ist das für Sie Bürokratie? Gender Mainstreaming
wird in die Personalpolitik der Bundesbehörden aufgenommen und die Mitarbeiter werden geschult, damit sie
nach diesem Prinzip überhaupt handeln können. Ist das
für Sie Bürokratie?
In Ihrem Antrag stellen Sie eine Menge richtiger Forderungen, aber gleichzeitig schränken Sie Ihre Forderungen wieder ein. Ihr Antrag erinnert mich ein bisschen an
die Echternacher Springprozession: ein Schritt vor und
zwei Schritte zurück. Das brauchen Männer und Frauen
auf keinen Fall. Was sie brauchen, sind konsequente
Schritte nach vorn, hin zu mehr Gleichstellung. Wir sind
diese Schritte gegangen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen.
Seit 1999 gibt es das Programm der Bundesregierung
„Frau und Beruf“.
({8})
Gender Mainstreaming ist seitdem in der Geschäftsordnung der obersten Bundesbehörden verankert. Seit 2001
gilt dieses Prinzip dank unseres Gleichstellungsdurchsetzungsgesetzes auch für den öffentlichen Dienst des Bundes und seit der letzten Woche gibt es das Gleichstellungsgesetz für die Bundeswehr. All das sind ganz
konkrete und konsequente Schritte hin zu mehr Gleichstellung.
({9})
Meine Herren und Damen von der CDU/CSU, mit Ihrem Antrag fallen Sie leider hinter unsere tatsächliche
Gleichstellungspolitik zurück. „Rolle rückwärts“ ist offensichtlich das Konzept. Das möchte ich Ihnen beweisen. In Ihrem Antrag fordern Sie weiterhin „die Wahlfreiheit von Frauen und Männern zwischen Beruf und
Familie“. Das klingt erst einmal gut. „Wahlfreiheit“ ist
ein schöner Begriff. Aber uns reicht das auf keinen Fall.
Denn wir wollen nicht die Entscheidung „zwischen Beruf und Familie“.
({10})
Diese Entscheidung hatten Männer und Frauen in den
letzten 50 Jahren schon immer - in der Regel mit dem
Ergebnis: Die Frau bleibt zu Hause und versorgt die Kinder; der Mann hat den Beruf.
Wir wollen eine echte Wahlentscheidung für Beruf
und Familie, für Frauen und Männer.
({11})
Das ist der Unterschied zu Ihrem Antrag.
({12})
- Wir sind damit in der Realität, Frau Widmann-Mauz.
Wir wissen: 80 Prozent der jungen Männer und
Frauen und 71 Prozent der Frauen mit Kindern wollen
beides, Beruf und Familie.
({13})
Wir schaffen die Rahmenbedingungen, damit Männer
und Frauen ihre Lebensentwürfe verwirklichen können.
Darum haben wir einen Anspruch auf Teilzeit für
Männer und Frauen durchgesetzt. Sie haben das abgelehnt. Wir haben das Tagesbetreuungsausbaugesetz für
Kinder unter drei Jahren auf den Weg gebracht.
({14})
Wir werden schauen, wie Sie sich im Bundesrat verhalten werden. Werden Sie wieder ablehnen? Warum sperren Sie sich die ganze Zeit gegen unser Ganztagsschulprogramm, für das wir den Ländern 4 Milliarden Euro
zur Verfügung stellen?
({15})
Hier zeigt sich wieder einmal, wie widersprüchlich Ihre
Politik eigentlich ist.
Das Recht auf Teilzeit für Frauen und Männer, die
Flexibilisierung der Elternzeit und qualitativ gute Ganztagsbetreuung sind die wichtigen Rahmenbedingungen,
die Männern und Frauen die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf erst möglich machen. Das sind unsere konsequenten Schritte nach vorn in Richtung zu mehr Gleichstellung von Männern und Frauen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
muss leider feststellen: Sie blockieren diese Rahmenbedingungen aus rein taktischen Länderinteressen im Bundesrat.
({16})
Blockade, das scheint Ihre Politik zu sein.
({17})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, Gesetze und Rahmenbedingungen reichen nicht aus - das wissen wir alle -, um für
Gleichstellung von Männern und Frauen zu sorgen. Wir
müssen - das gehört dazu - Mentalitäten ändern, für eine
andere Unternehmenskultur werben und Frauen ermutigen, sich gegen Benachteiligungen zur Wehr zu setzen.
Die Umsetzung der europäischen Gleichstellungsrichtlinien in einem Antidiskriminierungsgesetz wird im
nächsten Jahr dafür sorgen, dass Frauen ihre Rechte
wahrnehmen können. Das ist ein wichtiger Meilenstein,
den wir nächstes Jahr setzen werden. Das sind die nächsten konsequenten Schritte, die wir gehen, um Gleichstellung von Frauen und Männern zu verwirklichen.
Neben den verbesserten Rahmenbedingungen brauchen wir Veränderungen in den Köpfen. Lassen Sie uns
dafür gemeinsam kämpfen! Nicht länger darf das männliche Lebensmodell der Maßstab sein, an den sich die
Frauen anzupassen haben. Das schwingt in Ihrem Antrag
leider immer noch ein bisschen mit. Wir brauchen neue
Lebensmodelle, die Männern und Frauen die gleichen
Rechte geben. Dann sind wir einen ganz wichtigen
Schritt zur Gleichstellung hin weitergekommen. An dieser Stelle, Frau Widmann-Mauz, nehme ich gerne Ihren
Antrag auf. Kämpfen wir darum weiter, und zwar gemeinsam!
Danke schön.
({18})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sibylle Laurischk.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit
der Novellierung von Art. 3 des Grundgesetzes zum
Ausdruck gebracht, dass es mit der reinen Feststellung
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ nicht getan
ist. Die Forderung nach „Durchsetzung der Gleichberechtigung“ und Hinwirken auf „die Beseitigung bestehender Nachteile“ brachte zum Ausdruck, dass StrukturSibylle Laurischk
veränderungen zur Erreichung des Ziels der
Gleichberechtigung von Männern und Frauen notwendig
sind. Eine Bestandsaufnahme über die Auswirkungen
von Art. 3 Abs. 2 ist also sinnvoll.
({0})
Trotz guter Ausbildungen schaffen es nach wie vor
nur unterdurchschnittlich wenige Frauen in die Führungsetagen großer Unternehmen. Auch an den Universitäten bleiben sie weiter im so genannten Mittelbau hängen und sind bei den Ordinarien unterdurchschnittlich
vertreten. Im internationalen Vergleich mit Frankreich,
den skandinavischen Ländern, aber auch den USA sind
wir in dieser Hinsicht weit abgeschlagen.
({1})
Nicht zuletzt die politischen Parteien sind gefordert,
Frauen mit mehr Selbstverständlichkeit zur Mitarbeit zu
motivieren. Da nehme ich meine eigene Partei nicht aus.
Als Badenerin beobachte ich natürlich den Wettbewerb
der beiden Kandidaten um das Amt des Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg und die sich daraus möglicherweise ergebenden Folgen für die Positionierung
von Frauen in Spitzenämtern in der Union.
({2})
Auch im Erwerbsleben muss sich der Gleichberechtigungsgedanke widerspiegeln. Hier sind die Tarifparteien in besonderer Weise gefordert, indem gleiche oder
gleichwertige Arbeit auch gleich zu bezahlen ist und
keine unterschwellige Ausgrenzung von Frauen mehr
stattfinden darf. Parallel hierzu sind eine gute berufliche
Ausbildung und eine Veränderung des betrieblichen Klimas auch für Frauen bzw. für Eltern, die nach einer
Phase der Kinderbetreuung wieder in den Beruf zurückkehren wollen, Voraussetzung für die Verbindung von
Elternschaft und Berufstätigkeit.
Die rückläufige Geburtenrate in Deutschland ergibt
sich nicht nur aus der Tatsache, dass 40 Prozent aller
Akademikerinnen keine Kinder mehr haben, sondern
auch aus der noch höheren Zahl von Männern, die sich
entscheiden, keine Kinder haben zu wollen. Zum einen
wäre eine verlässliche Kinderbetreuung auch für Kinder
unter drei Jahren und im Schulalter, die staatlicherseits
Angebot, aber für die Eltern nicht Verpflichtung ist, eine
wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe von Eltern
am Erwerbsleben. Ich verweise auf die jetzt auch seitens
der OECD attestierte gute Infrastruktur der Kinderbetreuung in den neuen Bundesländern, ein Faktor, weshalb in der Umgebung Berlins Familien mit Kindern bevorzugt wohnen.
({3})
Im Rahmen der anstehenden Unterhaltsrechtsreform
wird es notwendig sein, die wirtschaftliche Eigenverantwortung von Frauen zu stärken. Die gerade von Männern beklagte Belastung mit Unterhaltsverpflichtungen
ist dann änderbar, wenn Frauen und Mütter eine eigene
berufliche Erwerbsperspektive haben und die dafür notwendigen Voraussetzungen im Rahmen der Kinderbetreuung geschaffen werden.
({4})
Ein belastbares Angebot öffentlicher und privater Träger
zur Kinderbetreuung würde es auch berufstätigen Vätern, die für ihre Kinder sorgen wollen, ermöglichen, Elternarbeit zu übernehmen. Hier sind Strukturveränderungen notwendig, die im Antrag der Union leider nicht
konkret genug aufgezeigt werden.
Die FDP hat in den vergangenen Jahren im Interesse
der Gleichstellung von Frauen und Männern verschiedene Initiativen ergriffen, die ich hier noch einmal klar
skizzieren möchte. Wir fordern die Abschaffung der für
Frauen diskriminierenden Steuerklasse V, dieses unsinnigen Relikts aus Zeiten, in denen der Verdienst des
Mannes in einer Ehe etwas galt und der Lohn der Ehefrau als Zubrot unbedeutend war. Dies ist eine ganz unsinnige Regelung, die gerade Frauen in Trennungssituationen zu spüren bekommen.
Weiter fordern wir die Kinderbetreuung ohne eine
Verpflichtung der Eltern, sie wahrnehmen zu müssen.
Wir fordern ferner die Entlastung von Eltern bei der Beitragszahlung zur Pflegeversicherung und die Sicherung
von Kindererziehungszeiten durch eine kapitalgedeckte
Rentenversicherung, um diese Zeiten nicht im großen
Topf untergehen zu lassen. Wir fordern eine ausgewogene und eine nicht geschlechterdifferenzierende Gesundheitspolitik für Frauen und Männer.
Aber auch die Gleichstellung von Frauen und Männern aus anderen Kulturkreisen, die in Deutschland leben, ist uns wichtig. Neben Integrationsmaßnahmen fordern wir die Strafbarkeit der Zwangsheirat bei
gleichzeitiger Bereitstellung von Schutzräumen.
Gender Mainstreaming wird die Methode zur Durchsetzung der Gleichstellung sein. Dies ist international
wohl schon weiter verankert als in Deutschland.
Meine Damen und Herren, Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz
bleibt uns allen Auftrag, sozusagen als Pfahl im Fleisch
der Gleichstellungsgegner.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Für diesen
scheinbar so selbstverständlich klingenden Satz in Art. 3
des Grundgesetzes haben die Mütter des Grundgesetzes
und allen voran die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert
hart kämpfen müssen. Waschkörbe voller Briefe aus der
Zivilgesellschaft waren nötig, damit dieser Satz 1949 in
das Grundgesetz aufgenommen wurde.
1994 gelang es ein zweites Mal, Frauenrechte im
Grundgesetz zu verankern. Die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung als Staatsziel wurde festgeschrieben. Auch diesmal war dies nur durch die Zusammenarbeit der Frauen innerhalb und außerhalb des
Parlamentes möglich. Ohne Frauen ist eben kein Staat zu
machen.
Das musste letztendlich und sehr spät auch die damalige Frauenministerin Angela Merkel einsehen, obwohl
sich die Sprecherin der Frauen der CDU/CSU, Ursula
Männle, vehement gegen die Festschreibung als Staatsziel aussprach. Frau Karwatzki, die hier ist, hatte - darauf will ich hinweisen - eine andere Position. Paradoxerweise bedurfte es der Unterstützung von CDU-Männern wie Christian Wulff, um in letzter Minute gemeinsam mit den Frauen den Durchbruch zu erreichen.
Ob es auch daran liegt, dass Sie in Ihrem Antrag einen
so verklärten Blick auf die Vergangenheit haben? Sie behaupten, entscheidende Weichenstellungen in der
Frauen- und Familienpolitik würden Ihre Handschrift
tragen und seit der Übernahme der Regierung durch RotGrün stagniere diese Entwicklung.
({0})
- Kein Mensch glaubt Ihnen das, Frau Widmann-Mauz.
({1})
Ich finde dies schon ziemlich dreist. Wenn ich mir
Ihre Weichenstellungen in 16 Jahren Regierungszeit so
ansehe, finde ich das, was Sie durchgesetzt haben, ziemlich mager. Ich erkenne ja an, dass Sie gesetzliche Regelungen im Hinblick auf die Gleichberechtigung eingeführt haben. Das alles war aber doch sehr halbherzig,
weil Sie die konservativen Kräfte Ihrer Fraktion nicht
hinter sich bringen konnten.
({2})
Das ist natürlich auch ein Problem. Nicht umsonst haben
die Frauen 1998 und 2002 Rot-Grün zum Erfolg verholfen. Sie identifizierten sich mit dem Gesellschaftsbild
von Rot-Grün und lehnten Ihre damalige Heim-undHerd-Politik ab. Wir wollen eine moderne Geschlechterpolitik; Sie wollen einen modernen Herd.
({3})
Das, was Sie gemacht haben, war stark reformbedürftig. Nehmen wir das Zweite Gleichberechtigungsgesetz.
Es war so unverbindlich, dass es seine Wirkung verfehlte. 1998 waren zwar 45 Prozent der im Bundesdienst
Beschäftigten Frauen. Auf der Leitungsebene aber waren sie seltene Exemplare. Unser 2001 in Kraft getretenes Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz - es könnte
einen schöneren Namen haben; das finde auch ich - enthält demgegenüber verbindliche Instrumente wie zum
Beispiel die Leistungsquote. Sie hat dafür gesorgt, dass
schon vier Jahre nach In-Kraft-Treten der Anteil der Referatsleiterinnen von 10 auf 16 Prozent und der der Abteilungsleiterinnen von 2 auf 12 Prozent anstiegen. Ich
füge hinzu: Die Quote gilt nur bei gleicher Eignung,
Leistung und Befähigung. Also, keine Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP,
besser qualifizierte Männer werden auch weiterhin eingestellt und befördert. Es gibt sie ja auch tatsächlich.
In der letzten Woche haben wir zudem die Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten beschlossen. Erfreulicherweise hat die CDU/CSU trotz Quote zugestimmt; es geht also.
({4})
Auch die Regelungen zur Elternzeit haben wir modernisiert. Die von Ihnen im Antrag geforderte Wahlfreiheit existiert schon. Sie ist durch einen Rechtsanspruch
auf Reduzierung der Arbeitszeit für Väter und Mütter
während der dreijährigen Elternzeit abgesichert. Nur
müssen die Männer das auch annehmen, was wir ihnen
hier anbieten.
({5})
Ich sehe aber einen Silberstreif am Horizont: 1998, als
wir die Regierung übernahmen, waren es 1,6 Prozent der
Männer, die Erziehungszeit nahmen. Jetzt, nach der Gesetzesänderung, sind es 5 Prozent. Das ist mir natürlich
viel zu wenig; aber wenn Sie die Prozente hochrechnen,
ist es ja doch schon viel.
Zwar hatten Sie damit begonnen, Erziehungs- und
Pflegezeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. Dass eine Mutter, die wegen der Kindererziehung teilzeitbeschäftigt ist oder ein niedriges Einkommen hat, jetzt bis zum zehnten Lebensjahr des
Kindes den durchschnittlichen Rentenversicherungsbetrag auf ihr eigenes Rentenkonto angerechnet bekommt,
hat aber Rot-Grün durchgesetzt.
({6})
Wir haben auch dafür gesorgt, dass eine Frau, die bis zu
drei Jahre ein Kind betreut, jetzt einen Anspruch auf
Arbeitslosengeld sowie auf alle Arbeitsfördermaßnahmen hat. Auch der Anteil der Wissenschaftlerinnen
an den Universitäten, die Sie in Ihrem Antrag auch erwähnen, hat sich seit 1998 stark erhöht. Allerdings sind
weitere gesetzliche Regelungen gerade für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen notwendig; denn sie
verfahren noch nicht so richtig nach dem Gesetz.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn
Sie behaupten, das Prinzip von Gender Mainstreaming
sei in der Praxis bisher wirkungslos geblieben, so frage
ich mich, ob Sie die vielen Verbesserungen nicht kennen
oder nicht kennen wollen. Ich nenne nur einige: die Verbesserungen für behinderte Frauen hinsichtlich einer
beruflichen Tätigkeit, die Riester-Rente, das Betriebsverfassungsgesetz, den Aufbau einer bundesweiten
Gründerinnenagentur und das Gender Kompetenzzentrum. Das alles sind Maßnahmen, die die Situation der
Frauen in bestimmten Politikfeldern ganz besonders berücksichtigen. Derzeit prüfen wir, wie Gender Budgeting
als besondere Form des Gender Mainstreaming in den
Haushalt des Bundes eingeführt werden kann.
({7})
Immer noch verdienen Frauen im Durchschnitt deutlich weniger als Männer und der Anteil von Frauen in
Führungspositionen hinkt europaweit hinterher, aber es
ist nicht einfach, die festgefahrenen Strukturen zu lockern.
Hinsichtlich der freiwilligen Vereinbarung zwischen
der Regierung und den Arbeitgeberverbänden zur Förderung der Chancengleichheit in der Privatwirtschaft hatte
ich nie die Illusion, sie werde wirklich etwas bewegen.
Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Rezzo
Schlauch, sieht es so - ich zitiere mit Genehmigung der
Präsidentin -:
Die freiwillige Selbstverpflichtung der Privatwirtschaft, die beruflichen Chancen von Frauen zu verbessern, ist gescheitert. Das Gleichstellungsgesetz
muss wieder auf die Agenda.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Ich komme zum Schluss: Die rechtliche Gleichstellung haben wir in den letzten Jahren weitgehend erreicht. Bis zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann
und Frau bedarf es aber noch großer Anstrengungen. Es
wäre schön, liebe Kolleginnen von der CDU/CSU, wenn
Sie sich daran beteiligten. Ich rufe Ihnen zu: Kommen
Sie in der Gegenwart und in der Realität der Frauen an!
Das beste Beispiel dafür - ich habe gerade solche Politikfelder angeführt -
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Schluss
kommen. Es darf auch keine Beispiele mehr geben.
Nein. - Kollege Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen
wird zum Bundesparteitag einen Änderungsantrag mit
der Begründung einbringen, er wolle ein neues Frauenbild für die CDU/CSU. Damit, dass es dafür endlich Zeit
wird, hat der Mann vollkommen Recht.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Irmgard Karwatzki, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit
einer kleinen Episode beginnen. In der vorigen Woche
machte ein junger Kollege auf die Frage, ob auch Frauen
im Parlamentarischen Rat gewesen seien, einen halblauten Zwischenruf: Eine! Freundschaftlich korrigierte ich
ihn, es seien vier gewesen.
Wenn er heute hier wäre, könnte er lernen, wer diese
vier gewesen sind: zwei von der SPD, die schon genannte Elisabeth Selbert und Friederike Nadig, sowie
Helene Wessel vom Zentrum und Helene Weber von den
Christdemokraten. Diesen vier Frauen haben wir, die wir
heute Verantwortung tragen, viel zu verdanken. Sie haben den Grundstein für unser Engagement gelegt. Ich
bin der Meinung, man soll bei der Betrachtung von Zeiträumen von zehn Jahren immer versuchen, die Kolleginnen zu benennen, die vor uns schon Verantwortung getragen haben. Das tue ich auch heute gern.
({0})
Schon damals waren sich unsere Vorgängerinnen bewusst, dass die Frage der Gleichberechtigung selbstverständlich zum Komplex der Menschenrechte gehört. Sie
kämpften um ihren Standpunkt - dies hat die Kollegin
Schewe-Gerigk gerade ausgeführt - und erreichten folgende Verfassungsregelung im Grundgesetz:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
Aber es blieb ein mühevoller Kampf; wir wissen, wie
schwierig der Weg zur tatsächlichen Teilhabe war. Manche Gesetze wurden im Bürgerlichen Gesetzbuch zugunsten der Frauen geändert. Aber was nützen die
schönsten Rechtsnormen, wenn sich in den Köpfen und
Herzen der Mehrheit derer, die in den Machtzentren sitzen, nichts oder nur wenig verändert?
({1})
Wir hatten das große Glück der Wiedervereinigung. Im
Zusammenhang damit wurde im Einigungsvertrag festgeschrieben, eine gemeinsame Verfassungskommission
von Bundesrat und Bundestag einzusetzen. Viele, die
Bedenken in Bezug auf das alte Grundgesetz hatten, sahen jetzt die Möglichkeit, ihre Begehrlichkeiten festzuschreiben. Aber auch wir, die Frauen in allen Parteien
unseres Parlaments, erkannten darin die Stunde für eine
Veränderung. Von den Kolleginnen aus den Fraktionen
wurde bereits darauf hingewiesen. Unser damaliger Vorschlag wurde Verfassungswirklichkeit. Es trifft zu, dass
es bezüglich der Festschreibung unterschiedliche Meinungen gab; aber es ist gelungen. Die jetzige Formulierung ist ein sehr guter Kompromiss:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
({2})
Ich meine, wir alle sollten einmal schauen, was daraus geworden ist. Zehn Jahre nach der Ergänzung des
Art. 3 des Grundgesetzes stellt sich uns heute die Frage,
wie diese Präzisierung in der Praxis aussieht und welche
Defizite es gibt. Nachgegangen werden muss unter anderem der Frage, ob nicht auch die Zuwanderinnen aus
anderen Kulturkreisen an dem hiesigen Gleichberechtigungsprozess zu beteiligen sind und warum sich Parallelgesellschaften bilden.
({3})
- Ja. Ich darf das aber ausführen. Wenn wir uns gleich
alle einig sind, ist das eine tolle Sache. Ich muss meine
Überlegungen aber ausführen dürfen. Ich sage das ja
nicht vorwurfsvoll an eine Adresse.
({4})
- Nein, überhaupt nicht. Wenn ich einen Punkt setze, ist
das keine Frage. Lassen wir das jetzt so stehen. Sie werden gleich merken, was ich sagen will.
Vor dem Hintergrund einer starken Zunahme von Familien mit Migrationshintergrund kommt der Frage der
Umsetzung des Gleichberechtigungsgebots des Grundgesetzes eine große Bedeutung zu. Tausende Musliminnen leben in Deutschland unter dem Zwang des Patriarchats, eingesperrt in der Wohnung, hilflos gegen
männliche Gewalt und Zwangsverheiratung. Ohne
Chance auf Integration verschwinden sie in einer Parallelwelt, die von fundamentalistischen Männern dominiert wird.
In einigen wichtigen Bereichen, in denen zurzeit Diskussionen stattfinden, haben wir die Chance, gemeinsam
etwas für diese Frauen zu tun. Ich nenne den Kopftuchstreit, die Zwangsverheiratung und die Situation, dass
türkische Eltern ihren Töchtern den Zugang zum Sportund Sexualunterricht in der Schule verweigern können.
Diese Fragestellungen dürfen wir nicht übersehen. Wir
müssen sie angehen.
({5})
Das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes gilt für alle, ungeachtet der Herkunft und der Religion. Frauen in Deutschland sollen nirgendwo diskriminiert werden: nicht im Bildungsbereich, nicht im
Berufsleben, nicht im Gesundheitswesen und nicht in allen anderen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen
Lebens, nicht in der Ehe und nicht in der Familie. Verboten sind auch - darauf müssen wir immer wieder hinweisen - Frauenhandel und Ausbeutung von Frauen durch
Prostitution. Wir alle müssen unser Augenmerk zukünftig noch mehr auf diese Faktoren richten. Wir alle sind
diesen Frauen zur Solidarität verpflichtet.
({6})
Ich bitte Sie alle - das sage ich auch an unsere
Adresse - gemeinsam etwas für die Frauen auf den Weg
zu bringen, damit im Interesse von Frauen und Kindern
ein wenig mehr Frieden in die Familien einkehren kann.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anfang des Jahres 1995 schreibt eine Leserbriefschreiberin im „Schwarzwälder Boten“ - ich
zitiere -:
Ich bin Gegnerin der Gleichberechtigung der Frau.
Eine echte Frau will geliebt werden und welcher
Mann kann eine Frau lieben, die Gleichberechtigung von ihm verlangt? Außerdem ist sie nicht
gottgewollt. Man lese in der Bibel nach. Eva wurde
aus einer Rippe des Adam gebildet. Wie kann sie da
gleichberechtigt sein?
Das war vor zehn Jahren. Vieles hat sich seither verändert, für die Frauen positiv entwickelt.
Frau Widmann-Mauz, gemeinsam mit vielen anderen
Frauen sind wir auf dem Plakat „Zeit für
Taten - 10 Jahre neues Grundgesetz“ zu sehen, das auf
eine Initiative des baden-württembergischen DGB zurückgeht.
Bei aller so genannten Frauensolidarität gibt es sicher
nicht nur gemeinsame Ziele, sondern auch Trennendes;
das will ich nicht verschleiern. Wenn ich mir den vorliegenden Antrag der CDU/CSU durchlese, fällt mir auf,
dass Sie sich nicht mit dem Thema „Gewalt gegen
Frauen“ auseinander setzen bzw. auseinander setzen
wollen. Als Vorsitzende der CDU-Frauenunion in Baden-Württemberg müssten Sie für das Thema „Gewalt
gegen Frauen“ doch sensibilisiert sein.
({0})
Denn Ihre Spitzenpolitikerinnen haben leider häufig damit zu kämpfen. Frau Schavan wird unterstellt, sie sei lesbisch. Frau Merkel wird seit Jahren auf ihr Äußeres angesprochen. Für mich bzw. für uns ist das diskriminierend.
({1})
Das Spektrum der Gewalt gegen Frauen ist breit. Es
reicht von Übergriffen im Berufsleben und Belästigungen auf der Straße über vielfältige Formen der Missachtung, der Misshandlung und der sexuellen Ausbeutung
bis hin zu Vergewaltigungen und Tötungen. Die SPDgeführte Bundesregierung hat die Rechte der Frauen
deutlich gestärkt. Beispielhaft nenne ich das Programm
„Frau und Beruf“, den Aktionsplan zur Bekämpfung der
Gewalt gegen Frauen und das Aktionsprogramm zum
Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung. Als wichtige Bestandteile des Aktionsprogramms zum Schutz der
Frauen vor Gewalt sind die Prävention, das Strafrecht,
das Gewaltschutzgesetz sowie Beratungs- und Hilfsangebote zu nennen. Bei den letztgenannten Beispielen bedarf es gewaltiger Anstrengungen vor Ort.
Drei wichtige Studien sind kürzlich veröffentlicht
worden: eine Pilotstudie zur Gewalt gegen Männer, eine
Begleitforschung der Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt und die erste repräsentative Untersuchung zur
Gewalt gegen Frauen. Sie zeigt auf, dass 40 Prozent der
befragten Frauen körperliche und/oder sexuelle Gewalt
erlebt haben. Mindestens jede vierte Frau im Alter von
16 bis 85 Jahre, die in einer Partnerschaft gelebt hat, hat
körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch aktuelle
oder frühere Partner ein- oder mehrmals erfahren.
Gewalt im häuslichen Bereich ist leider immer noch
die am weitesten verbreitete Gewaltform. Von ihr sind vor
allem Frauen und Kinder betroffen. Wenn die Polizei in
Stuttgart wegen Gewalttaten alarmiert wird, befindet sich
der Tatort bei drei von vier Streifenwageneinsätzen im
häuslichen Bereich. Unser Gewaltschutzgesetz zeigt Wirkung: Wer schlägt, fliegt raus, wird der Wohnung verwiesen! Im Kreis Freudenstadt im Schwarzwald wurden von
der Polizei in den vergangenen vier Jahren 49 Platzverweise wegen häuslicher Gewalt ausgesprochen. Die Täter
waren nur Männer. In fast allen Fällen wurden anschließend keine weiteren Gewalttätigkeiten bekannt.
Durch unser Gewaltschutzgesetz haben die Frauen
die Wahl: Sie können in ihrer Wohnung bleiben oder ins
Frauenhaus gehen. Leider sind Frauenhäuser immer wieder von Mittelkürzungen oder Schließungen bedroht
oder sie werden sogar geschlossen.
({2})
Frau Widmann-Mauz, Ihre CDU-Kollegin Karen Koop,
frauenpolitische Sprecherin in Hamburg, hält die Schließung eines Frauenhauses für vertretbar. Das konnte ich
im „Hamburger Abendblatt“ vom 22. Juli 2004 nachlesen. Zeit für Taten? Aber doch bitte nicht gegen, sondern
für die Frauen!
Danke.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hannelore Roedel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Frauen, es geht voran!“ - Das berichtete das
Familienministerium im September dieses Jahres den
Vereinten Nationen. Auf dem Papier ist die Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland auf einem guten
Weg. Das tröstet diejenige Frau, die beim beruflichen
Aufstieg an die berühmte gläserne Decke stößt, natürlich
ungemein! Bevor sie sich den Kopf einrennt bei dem
Versuch, in die Chefetage vorzustoßen, kann sie ja zu
diesem Regierungsbericht greifen und nachlesen, dass
mit der Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Wirtschaft ein wichtiger Schritt vollzogen sei. - Vollzogen wurde bisher nur
eines: nichts Nachvollziehbares. Aber das ist ja nichts
Neues bei dieser Regierung, scheint doch besonders in
der Frauenpolitik das Motto von Rot-Grün „Mehr Schein
als Sein“ zu lauten.
({0})
Blicken wir einmal gemeinsam zurück. Ein langer
Weg liegt hinter uns: von der Weimarer Verfassung über
das Grundgesetz von 1949 bis zur Festschreibung der
Gleichberechtigung als Staatsziel vor zehn Jahren, 1994.
Wo stehen wir heute? Immer noch am Anfang. Die
Gleichberechtigung von Frauen ist immer noch keine
Realität.
({1})
Die Bundesregierung hat zwar viele wohlklingende Aktionsprogramme gestartet, etwa „Frauen und Beruf“ oder
„Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“, doch - das müssen Sie zugeben - die damit angestrebten Ziele sind eben nicht erreicht.
({2})
Fakt ist - das müssen Sie zur Kenntnis nehmen -: Die
Zahl der Arbeitslosen ist auf Rekordniveau und eine
Trendwende ist nicht in Sicht. Das ist eindeutig die
Folge der falschen Wirtschafts- und Sozialpolitik dieser Bundesregierung.
({3})
Nach wie vor verdienen Frauen bei gleicher Arbeit im
Durchschnitt 30 Prozent weniger als Männer. In Wissenschaft und Forschung sind Frauen weiterhin unterrepräsentiert. Obwohl mehr Frauen als Männer Hochschulabschlüsse haben, sind nur knapp 10 Prozent aller
Professuren von Frauen besetzt. An den außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist sogar nur jede 20. Führungskraft weiblich. Tatsachen! Auch in der Wirtschaft
liegt der Anteil von Frauen in Führungspositionen unter
10 Prozent und damit unter dem europäischen Durchschnitt. In nur einem der 100 größten börsennotierten
Unternehmen sitzt eine Frau im Vorstand.
({4})
Diese Situation ist paradox: Noch nie gab es so viele
gut ausgebildete Frauen - noch nie so viele Ministerinnen in einem Kabinett -, doch trotz dieser Voraussetzungen haben es Frauen heute schwerer als je zuvor,
({5})
Arbeit zu finden. Ohne die stärkere Beteiligung von
Frauen am Arbeitsmarkt wird es aber keinen Aufschwung in Deutschland geben.
({6})
In Anbetracht des demographischen Wandels werden
Frauen als gut ausgebildete Fachkräfte eine immer bedeutendere Rolle spielen. Diese Erkenntnis muss sich
auch in der Wirtschaft durchsetzen. Frauenförderung
darf sich nicht auf Sonntagsreden beschränken, sondern
muss bereits bei der Einstellung stattfinden und muss
sich beim Aufstieg fortsetzen.
({7})
Was die politischen Rahmenbedingungen angeht, haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierung,
die Zeichen der Zeit leider nicht erkannt. Denn wesentliche Elemente der von Ihnen beschlossenen Reformen
vergrößern die Benachteiligung von Frauen. Nehmen
wir zum Beispiel Hartz: Neuerdings heißt es „Agentur“
statt „Anstalt“, „Jobcenter“ statt „Ämter“, „Fallmanager“ statt „Sachbearbeiter“ und der Arbeitslose ist jetzt
„Kunde“. Klingt alles modern, doch haben Sie Änderungen festgestellt? Die Personal-Service-Agenturen, das
Herzstück von Hartz, sollten 850 000 Stellen im Jahr
bringen. Tatsächlich vermittelt wurden 15 000 Arbeitsuchende - leider die wenigsten davon Frauen. Auch in
den Agenturen selbst beträgt der Anteil der Frauen an
den Beschäftigten lediglich 30 Prozent. Mit Hartz IV
wurden die Weiterbildungsmittel gekürzt. Als Resultat
dieser Kürzungen mussten die Anbieter von Weiterbildungsmaßnahmen Personal entlassen - überwiegend
weibliches, versteht sich. Auch bei der Vergabe von
Weiterbildungsgutscheinen werden Männer als so genannte teure Arbeitslose bevorzugt und die Frauen kommen zu kurz.
({8})
Besonders die für Berufsrückkehrerinnen wichtigen
Weiterbildungsmaßnahmen in Teilzeit werden fast überhaupt nicht mehr durchgeführt. Damit wird diesen
Frauen der erneute Zugang zum Arbeitsmarkt fast unmöglich gemacht. Man darf es fast nicht sagen, aber das
„Risiko Kind“ kommt hier voll zum Tragen.
({9})
Eine weitere Fehlentscheidung in der Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung zulasten von Frauen war die gesetzliche Verankerung des Anspruches auf Teilzeit.
Was nützt ein Anspruch auf Teilzeit, wenn Frauen nicht
einmal die Einladung zum Bewerbungsgespräch bekommen? Unternehmen ziehen den Bewerber vor, von dem
sie vermuten können, dass er später keine Teilzeitwünsche äußert. Diesen Nachweis haben wir.
({10})
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, das Problem der
Frauen lässt sich - anders, als Sie denken - nicht alleine
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung lösen. Frauenpolitik ist nämlich nicht nur Familienpolitik. Mehr Kinderbetreuung allein schafft noch keine Arbeitsplätze für
Frauen. Erkennen Sie die Frauenpolitik doch endlich als
Querschnittsaufgabe an!
({11})
Um eine wirkliche Gleichberechtigung von Frauen und
Männern durchzusetzen, bedarf es mehr als theoretischer
Ansätze. Auch wenn sich Gender Mainstreaming auf
dem Papier gut anhört und Ihren Gesetzentwürfen den
Anschein formaler Gleichberechtigung gibt, reicht dies
nicht aus.
Die notwendigen Maßnahmen finden Sie in unserem
Antrag. Frau Staatssekretärin, ein guter Anfang wäre,
mit den antiquierten Ansichten Ihrer Kabinettskollegen
zum Thema Gleichberechtigung aufzuräumen. Ich nenne
nur den von Herrn Clement im Zusammenhang mit
Hartz IV geäußerten Wunsch, Frauen entweder mit Minijobs abzuspeisen oder an den Herd zu verbannen. Dies
ist doch chauvinistisch. Unsere Unterstützung dazu haben Sie.
({12})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Elke Ferner, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Situation im Jahre 1995 haben die Kolleginnen eben
schon gewürdigt. Vor zehn Jahren gab es auch eine
große außerparlamentarische Bewegung. Wir im Parlament waren dabei nicht alleine. Ich denke, wir sollten an
dieser Stelle noch einmal den Gruppierungen „Frauen in
besserer Verfassung“ und „Frauen vom Runden Tisch“
sowie den Gewerkschaftsfrauen und den Frauen aus den
kirchlichen Frauenorganisationen für ihre Unterstützung
danken; denn ohne sie hätten wir es wahrscheinlich nicht
so weit gebracht.
({0})
Für die Sozialdemokratische Partei waren Jutta
Limbach, Lore Peschel-Gutzeit, Heidi Alm-Merk,
Gisela Böhrk, Ulrike Mascher, Edith Niehuis, Christel
Riemann-Hanewinckel und Konstanze Wegner in der
Verfassungskommission. Sie haben sich für die Fraktion
und für die SPD hauptsächlich darum gekümmert. Natürlich haben auch wir als Frauen in der Fraktion die Positionen gestärkt, wenn es um Art. 3 Grundgesetz ging.
Ich möchte heute noch einmal daran erinnern, warum
wir das damals überhaupt getan haben und weshalb die
Debatte aufgekommen ist. Sie kam auf, weil die Gleichstellungsgesetze in den Ländern und die Frauenförderpläne in den Kommunen reihenweise beklagt worden
sind und einige Gerichte es für richtig gefunden haben,
das Gleichstellungsgebot hinter das Diskriminierungsverbot zu stellen. Ich muss sagen, ich bin froh, dass es
uns geglückt ist, die Ergänzung im Grundgesetz zu erreichen, auch wenn die Vorstellungen der SPD an dieser
Stelle weiter gehend waren.
Ich möchte jetzt noch kurz auf ein oder zwei Forderungen in Ihrem Antrag eingehen. Sie fordern die Bundesregierung auf, die gesellschaftliche Repräsentanz und
die Berücksichtigung von Frauen bei der Besetzung
von Gremien zu fördern. Ich glaube, diese Forderung
sollten Sie besser an Ihre eigene Partei richten.
({1})
Es gab nämlich noch nie so viele Ministerinnen und Parlamentarische Staatssekretärinnen wie in dieser Bundesregierung. Wir haben die Staatsministerin Christine Weiß
mitgezählt und kommen auf insgesamt sieben Ministerinnen und sieben Minister sowie elf Parlamentarische
Staatssekretärinnen und 15 Parlamentarische Staatssekretäre. Lediglich bei den beamteten Staatssekretärinnen
ist noch sehr viel aufzuholen. Ich hoffe, dass das irgendwann der Fall sein wird.
Ich muss sagen: Einen so hohen Frauenanteil hat es
zu Ihren Regierungszeiten nie gegeben.
({2})
Dort, wo Sie Verantwortung tragen, werden die Frauen
sogar noch abgesägt. Im Kabinett Ihres Ministerpräsidenten Müller ist nach der Regierungsumbildung von
vormals drei Ministerinnen gerade einmal eine als Feigenblatt im Kabinett übrig geblieben.
({3})
Von insgesamt 249 Abgeordneten in der Bundestagsfraktion der SPD sind 94 Frauen. In der CDU/CSUFraktion sind es 57 von 247. Ich glaube, wenn man diese
Zahlen sieht, dann erkennt man, dass weder wir noch die
Bundesregierung von Ihnen Nachhilfeunterricht bei der
Frauenförderung brauchen.
({4})
Natürlich sind die Erfolge noch nicht so groß, wie wir
uns das wünschen. Es geht aber voran.
In Ihrem Antrag fehlt die Forderung nach bedarfsgerechten Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen völlig. Ich habe zumindest nichts gefunden.
({5})
Wenn man das in Verbindung mit Ihrer Forderung bringt,
durch geeignete Maßnahmen eine bessere Wahlfreiheit
für Frauen und Männer zwischen Beruf und Familie zu
fördern, dann wird klar, wo das hingehen soll.
({6})
Sie wollen weiterhin, dass sich Frauen und Männer zwischen Beruf und Familie entscheiden.
({7})
Wir wollen, dass sie sich für beides entscheiden können.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Frauenpolitik.
({8})
Ich sage ausdrücklich: Frauen wollen sich nicht nur
zwischen Familie und Beruf entscheiden, sondern
Frauen wollen heute mehr, als nur einen Beruf auszuüben. Da sie alle eine gute Ausbildung haben, wollen sie
im Beruf Karriere machen.
({9})
Ich finde, das sollte man deutlich machen.
Zum Thema Ganztagsbetreuung möchte ich Folgendes sagen: Im Saarland, wo Sie Verantwortung tragen
- ich nehme wieder das Beispiel Saarland -, ruft die
Landesregierung trotz der dort herrschenden Finanzknappheit von den 16 Millionen Euro, die für das letzte
und dieses Jahr zur Verfügung stehen, gerade einmal
4,5 Millionen Euro ab. Das ist der Abrufstand von vor
zwei Wochen. Da fragt man sich schon, was das soll. Sogar ein Land wie Baden-Württemberg ist da weiter.
({10})
- Frau Böhmer, Sie wissen genau, dass die Aktion mit
dem kostenlosen dritten Kindergartenjahr viel Geld kostet, das besser für die Ganztagsbetreuung ausgegeben
werden sollte. Sie können aber zum dritten Kindergartenjahr gerne eine Zwischenfrage stellen.
({11})
Dort, wo Sie Verantwortung tragen, wird ganz deutlich, was für Sie wichtig ist. In diesen Ländern ist nämlich der Versorgungsgrad mit Plätzen an Ganztagsschulen am schlechtesten. Das zeigt, wo die Reise hingeht.
Ich hätte noch gerne etwas zu dem Thema Frauen in
der Wissenschaft gesagt. Aber das schaffe ich aufgrund
meiner knappen Redezeit nicht mehr.
Einen Punkt möchte ich doch noch anmerken. Eben
ist von einem Frauenproblem gesprochen worden. Das
ist wieder ein gravierender Unterschied zwischen uns:
Wir sehen Frauen nicht als Problem. Für uns sind Frauen
die Lösung. Das macht Ihre Haltung deutlich.
({12})
Natürlich gibt es noch viel zu tun. Hier wurde eben
auch die Privatwirtschaft angesprochen: Ich mache keinen Hehl daraus, dass mir ein Gleichstellungsgesetz für
die Privatwirtschaft deutlich lieber gewesen wäre als
diese Vereinbarung. Wir werden das in einiger Zeit zu
bewerten haben und sehen, wie es weitergeht. Ich würde
mich sehr freuen, Sie dann an unserer Seite zu sehen.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2005 ({0})
- Drucksache 15/3596 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Redner Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Max
Straubinger, Otto Bernhardt, Hans-Josef Fell und
Gudrun Kopp haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/3596 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? Gibt es anderweitige Vorschlä-
ge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Norbert Schindler, Peter H.
Carstensen ({2}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Reform des EU-Zuckermarktes ausgewogen
gestalten - Perspektiven für die deutsche
Landwirtschaft und die Erzeuger der Entwicklungsländer sicherstellen
- Drucksache 15/4145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Ulrich Heinrich, Gudrun
Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Marktwirtschaftliche Reform der europäischen Zuckermarktordnung mit Augenmaß
erforderlich
- Drucksache 15/4399 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 2
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
notwendig, dass wir heute über die Zuckermarktordnung
der Zukunft reden. Für die Rübenwirtschaft in Deutschland und die Zuckerindustrie in Europa könnte man angesichts des ersten Advents sagen: Schöne Bescherung.
Die Umsetzung der Vorschläge, die uns die Kommission im Juli vorgelegt hat, nämlich eine Mengen- und
Preisreduzierung, hätte gerade bei der Hauptfrucht im
Ackerbau katastrophale Auswirkungen. Man kann natürlich geteilter Auffassung sein. Wir kritisieren ganz deutlich, dass der damalige Agrarkommissar, Herr Franz
Fischler, voreilig und ohne Not einen solchen Vorschlag
gemacht hat.
Diese Vorschläge der EU-Kommission könnte man
mit den WTO-Verhandlungen und der GAP-Reform erklären. Diese müssen aber in Einklang mit dem Anbau
der Ackerbaufrüchte gebracht werden; sonst gerät man
in Zugzwang. Auf der anderen Seite ist der Druck der
Ernährungsindustrie, vor allem der Zucker verarbeitenden Industrie, immer wieder zu spüren. Mit einem gewissen Wohlwollen könnte man die Überlegung anstellen: Wie weit kommt die Europäische Union unseren
deutschen Verbraucherinteressen, aber auch den berechtigten Interessen der Entwicklungsländer entgegen?
So weit, so gut. Aber die Vorschläge von Fischler gehen dahin, in zwei Stufen den jetzigen Preis um 37 Prozent zu reduzieren und eine Mengenbeschränkung vorzunehmen. Das heißt schlicht und ergreifend, dass die
europäischen Rübenanbauer - das sind über 250 000 und die 130 Zuckerfabriken in Europa den Gürtel nicht
nur enger schnallen müssten, sondern - sollte die Europäische Kommission Erfolg haben - die Hälfte des europäischen Zuckersektors erledigt wäre.
({0})
Ich will in diesem Zusammenhang an die Standortpolitik, die in Europa im Verlauf der letzten 20 bis
30 Jahre betrieben wurde, erinnern. In diesen Tagen wird
Stahl unter anderem deswegen so knapp, weil - auch in
Deutschland - in den letzten Jahren viele Stahlwerke geschlossen und Kapazitäten abgebaut wurden. Wir haben
nicht vorhergesehen, dass die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern wie China oder Indien zu einem erhöhten Stahlverbrauch führen würde. Ich wage vorauszusagen,
({1})
dass dies auch bei dem wichtigen Nahrungsmittel Zucker der Fall sein wird, falls wir Produktionsstandorte in
Deutschland aufgeben. Dies sage ich vor dem Hintergrund, dass sich Deutschland in den letzten zwei bis drei
Jahren zum Weltmeister im Export von Arbeitsplätzen
entwickelt hat.
({2})
Uns wird vorgerechnet, dass die Belastung eine Größenordnung von 3 bis 6 Milliarden Euro erreicht. Man
weiß aber, dass die Europäische Union Haushaltsmittel
in Höhe von nur 200 Millionen bis 400 Millionen Euro
für die Zucker verarbeitende Industrie ausgibt, um den
Wettbewerbsnachteil für bestimmte Produkte, die mit
europäischem Zucker hergestellt und auf dem Weltmarkt
verkauft werden sollen, auszugleichen. Man kann also
nicht von einem Nachteil der Zucker verarbeitenden Industrie sprechen. Ein struktureller Nachteil in diesem
großen Verbrauchermarkt von 400 Millionen ist nicht zu
erkennen. Die Argumente sind nicht nachzuvollziehen.
Was ist in einer so schwierigen Lage zu tun? Natürlich sieht auch die Union ein, dass man aufeinander zugehen muss. Ein Kompromiss darf aber nicht zur Vernichtung von vielleicht 30 000 oder 40 000 bäuerlichen
Existenzen allein in der Bundesrepublik Deutschland
führen. Das geht einfach nicht. Das ist einfach nicht zu
machen.
({3})
Herr Fischler war im Juli in vorauseilendem Gehorsam unterwegs und hat starke Akzente gesetzt. Das
macht es uns nicht einfacher.
({4})
Er hat auch nicht das Panel bzw. die Entscheidung abgewartet, die vor einigen Wochen getroffen wurde. Wir haben in der Anhörung am 8. November und vor zwei Tagen in Brüssel im Europäischen Parlament die
berechtigten Sorgen hören können. Deswegen muss man
nicht nur in Brüssel, sondern auch hier in Berlin ein Resümee ziehen. Die deutliche Mehrheitsmeinung bei der
Anhörung war: So kann man die Vorschläge absolut
nicht akzeptieren.
({5})
Herr Staatssekretär Berninger, Sie geben vielleicht
nachher in Ihrer Rede eine Antwort auf meine Frage.
({6})
Welchen Standpunkt vertritt die Bundesrepublik
Deutschland? Vertreten Sie etwa die Auffassung, die vor
einigen Tagen im Europäischen Rat formuliert wurde,
nämlich dass die Vorschläge noch nicht weit genug gehen? Darauf hätte ich gern eine Antwort.
({7})
Es besteht die Notwendigkeit, heute im Bundestag darüber zu reden, wie die Bundesregierung zu diesem
Thema steht.
Was wird vonseiten Berlins gegenüber Brüssel getan,
um auch in der deutschen Wirtschaft bestehende Existenzfragen so zu beantworten, dass die Antwort nicht nur
die Bauern, sondern auch die Zuckerrübenfabrikanten
zufrieden stellt? Auch das, was Herr Möllenberg als Gewerkschaftsvorsitzender auf der großen Kundgebung vor
einigen Tagen in Berlin an Loyalität und Unterstützung
zum Ausdruck gebracht hat, bedarf einer Antwort.
({8})
Was tun wir, wenn wir uns damit auseinander setzen?
Dass wir uns innerhalb der ersten Stufe der Reform aufeinander zubewegen müssen, wäre zu überlegen, statt
erst in der letzten Runde um zwei Uhr nachts, wenn es
zu den berühmten Brüsseler Kompromissen kommt.
Wenn eine Ausgleichsregelung notwendig werden
sollte, weil wir in Deutschland beim besten Willen nicht
mit Brasilien konkurrieren können, dann müssten die
Quoten und Garantiemengen, über die ein Betrieb zum
Zeitpunkt des Beginns der Reform verfügt, die Berechnungsgrundlage bilden. Es sollte keine Rückrechnung
für das Jahr 2000 oder das Jahr 2002 erfolgen, weil der
Strukturwandel viel zu weit fortgeschritten ist.
Des Weiteren ist es - egal in welcher Stufe in den Verhandlungen mit Brüssel - zwingend notwendig, dass
nach wie vor ein Mengenregime eingehalten wird. Die
jetzigen Vorschläge von Herrn Fischler bedeuten, dass
Zucker aus Brasilien über den Balkan oder über Mauritius sozusagen durch die Hintertür, aber trotzdem legal
in die Europäische Union kommt. Wenn - egal in welcher Stufe der Reform - versäumt wird, ein Mengenregime einzuziehen, dann gibt es in zehn Jahren keine europäische Zuckerwirtschaft mehr. Das geht nicht an.
({9})
Deswegen bitte ich Sie alle, in den nächsten Wochen
und Monaten - voraussichtlich wird die Kommission im
April wieder zu dem Thema Stellung nehmen - gemeinsam und kraftvoll die deutschen Interessen zu vertreten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Es geht um viele Existenzen, und zwar nicht nur der
Rübenbauer, sondern auch der Arbeitnehmer in unserer
Zuckerwirtschaft.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht erst seit den vielfältigen Aktivitäten der Zuckerrübenbauern, den Aufforderungen, zu den Demonstrationen in die Zuckerfabriken zu kommen, und den vielen
Gesprächen, die die Kolleginnen und Kollegen aus der
NGG mit uns geführt haben, wissen wir - heute Abend
sind überwiegend Fachpolitiker anwesend -, dass von
den Entscheidungen, die in Europa zu treffen sind, Zehntausende von Menschen in ihrer Existenz betroffen sind.
Es geht dabei um sehr viele Landwirte, aber auch um die
Arbeitnehmer in den Zuckerfabriken.
Aber seien wir ehrlich: Wer über den Kreis der Eingeschworenen hinaus weiß, was die Zuckermarktordnung
ist?
({0})
Wir wissen es und werden noch im Ausschuss und in
den weiteren Anhörungen über A-, B- und C-Zucker,
LDC und EBA, die Quote und anderes mehr diskutieren.
Aber ich denke, wir sollten die Gelegenheit nutzen, um
die Öffentlichkeit zu informieren. Denn für unser gemeinsames Anliegen sind wir auf Informationen, Verständnis und Unterstützung über den Kreis der Betroffenen hinaus angewiesen, um die Herausforderungen
bewältigen zu können.
Deswegen will ich für alle Zuhörer, die nicht vom
Fach sind, versuchen, mit wenigen Worten die Zuckermarktordnung zu beschreiben. Sie stellt ein europäisches System von festgelegten Mengen und Preisen für
den Rübenanbau und die Zuckerfabriken dar, das den Erzeugern einen sicheren Ertrag, aber den verarbeitenden
Betrieben leider auch einen aus ihrer Sicht zu hohen
Preis garantiert. Die Marktordnung konnte Übermengen
bisher nicht wirksam verhindern. Dazu kommen Mengen, die wir aufgrund internationaler Verpflichtungen
abnehmen müssen. Beide Mengen zusammen müssen
wir mithilfe von Steuergeldern und Abgaben auf den
deutlich niedrigeren Weltmarktpreis heruntersubventionieren und auf dem Weltmarkt verkaufen
({1})
mit der Folge, dass wir den Weltmarktpreis noch weiter
drücken und andere Zuckerproduzenten behindern.
({2})
Wir haben bereits ein erstes Schiedsverfahren vor der
Welthandelsorganisation verloren. Hinzu kommt, dass
die ärmsten Länder der Welt - weil wir im Rahmen der
Europäischen Union unseren Verpflichtungen nachkommen - von 2009 an unbegrenzt Zucker nach Europa exportieren dürfen. Damit ist klar: Die Zuckermarktordnung ist in sich und aufgrund äußerer Einflüsse nicht
zukunftsfest.
({3})
Die Entscheidungen, die wir hier und in Europa treffen, haben Auswirkungen auf die ganze Welt. Das wissen wir spätestens, seit Kolleginnen und Kollegen der
Gewerkschaft der Zuckerarbeiter aus Malawi und Mosambik den Weg zu uns gefunden haben, um mit uns zu
reden. Aber dazu wird mein Kollege Reinhold Hemker
noch einiges sagen.
Ich habe mit meinen Kollegen Dr. Wilhelm
Priesmeier und Dr. Sascha Raabe am Dienstag dieser
Woche an einer Anhörung unserer Kolleginnen und
Kollegen vom Europäischen Parlament teilgenommen.
Es war sehr eindrucksvoll, als dort die europäische Dimension der Entscheidung aufgezeigt wurde. 25 Länder
sowie die Anbauverbände haben dort ihre unterschiedlichen Meinungen kundgetan. Kollege Schindler, es ist interessant, dass der Vertreter des finnischen Bauernverbandes gesagt hat: Wir in Finnland haben keine
Überproduktion. Wir sind für die Probleme nicht verantwortlich. Warum sollen wir also den Vorschlag der Kommission annehmen - dieser wird von uns durchaus positiv gesehen -, einen Quotentransfer vorzunehmen?
Herr Schindler, Sie sehen, dass es noch eine ganze
Menge zu tun gibt. Allein die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit die Vorschläge der Kommission ablehnt, bedeutet noch lange nicht, dass man eine gemeinsame Position finden wird. Es wird wichtig sein, in
diesem Prozess Übereinstimmungen zu finden. Es wäre
gut, wenn wir das auch im Bundestag schaffen würden.
Wir sind der Auffassung, dass das Ziel einer solchen
Reform eine nachhaltig gesicherte Zuckerproduktion aus
europäischen Zuckerrüben sein muss. Ich glaube, darin
unterscheiden wir uns sehr deutlich von dem, was die
FDP unter anderem in ihrem Antrag fordert. Ich greife
das auf, was der Kollege Schindler gesagt hat: Eine gewisse Eigenversorgung ist auch immer ein Schutz für
diejenigen, die sich jetzt über zu hohe Preise beschweren; denn dadurch haben sie eine garantierte Versorgung
mit einem qualitativ hochwertigen Produkt.
Wir sind ebenfalls der Auffassung, dass die Reform
erst im Zuckerwirtschaftsjahr 2006 beginnen sollte, und
zwar mit deutlich verlängerten Übergangsfristen, dass
für eine Überprüfung mehr Zeit notwendig ist, um Planungssicherheit für die Landwirte und die Zuckerfabriken zu schaffen, und dass der auf dem europäischen Binnenmarkt zu erzielende Preis für unsere Landwirte
auskömmlich sein muss und gleichzeitig den Ländern,
die nach Europa exportieren, keine falschen Anreize bieten darf. Wir werden außerdem darauf achten müssen,
dass die Selbstversorgung deutlich reduziert wird, um
die Möglichkeit zu haben, zusätzliche Mengen aus den
Ländern, für die wir international Verantwortung haben,
aufzunehmen.
({4})
Kollege Schindler, ich glaube, darin stimmen wir
überein: Der Königsweg wäre, ein gemeinsames Mengen- und Preisgerüst für all diejenigen Länder zu finden,
die nun aus ganz unterschiedlichen Gründen das Recht
haben, nach Europa zu exportieren. Manches ist nur aus
der Historie zu erklären und hat nicht unbedingt etwas
mit Gerechtigkeit zu tun. Ich denke, dass auch der zu
leistende finanzielle Ausgleich in das System der Direktzahlungen zu überführen ist, wobei wir über den Weg
dorthin sicherlich noch streiten müssen.
Wir stimmen überein: Es geht um viele Arbeitsplätze
in der Landwirtschaft und in den Zuckerfabriken - damit
ist es uns sehr ernst -, aber auch um den ländlichen
Raum und unsere Vorstellungen von einer multifunktionalen Landwirtschaft. Ich hoffe, dass wir uns auf gemeinsame Ziele und auf einen gemeinsamen Weg verständigen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich denke, wir sind uns darüber im Klaren, dass es bei der Zuckermarktreform nicht mehr um
das Ob, sondern um das Wie geht. Wir, die FDP, sind der
Meinung, dass die Vorschläge, die der ehemalige Kommissar Fischler für die Kommission vorgelegt hat und
die nun von der neuen Kommissarin weiter verfolgt werden, im Grundsatz in die richtige Richtung gehen.
({0})
Es wird darum gehen, die Preise zu senken und die
Quote zu reduzieren.
Herr Schindler, ich möchte jetzt nicht zu spitz werden. Aber ich glaube, dass Sie an der gestrigen Ausschusssitzung nicht teilgenommen haben, als wir mit
dem Vertreter der WTO über die auf europäischer Ebene
anstehenden Dinge diskutiert haben. Die europäische
Ebene weist zu Recht darauf hin, dass wir mit dem, was
Herr Fischler vorgeschlagen hat, bei weitem nicht hinkommen, wenn das zum Tragen kommt, was schon jetzt
Panelurteil ist.
({1})
Wir sollten im Umgang miteinander so ehrlich sein,
uns gegenseitig nicht abzusprechen, dass wir uns Sorgen
um die Existenz der Rübenbauern und der Arbeitnehmer
in den Zuckerfabriken machen.
({2})
Wir sollten vernünftig zusammenarbeiten und versuchen, die Frage „Wie können wir das abfedern?“ zu beantworten.
Auf dem Markt gibt es einige Bausteine, mit denen
wir uns intensiv beschäftigen können. Niemand will
doch ernsthaft den Zucker aus der Gesamtreform des
Agrarbereichs herausnehmen. Zuckerrübenbauern bekommen ab dem 1. Januar 2005 eine Prämie auf ihre
Produktionsfläche. Wenn wir mit dieser Problematik
vernünftig umgehen, dann haben Zuckerrübenbauern die
Chance, einen erheblichen Ausgleich zu bekommen.
Deutsche Zuckerrübenbauern werden dann die Chance
haben, die Zuckerquote von anderen, jetzt noch produzierenden Ländern der EU und damit bestimmte Lieferrechte zu erwerben.
({3})
Diese Palette sollte zusammengestellt werden. Wir
sollten darüber nachdenken, wie wir mit Modulationsmitteln, mit Krediten, die die KfW und andere geben
können, die Zukunftsweichen stellen können. Wenn das
geschieht, dann haben wir durchaus eine Chance, zu einer guten Lösung in diesem Bereich zu kommen.
({4})
Die Zuckermarktreform ist ungeeignet, denjenigen
Ländern der Welt, denen es sehr schlecht geht, eine besondere Hilfe zu geben. Auch da müssen wir ehrlich
sein. Schauen wir doch einmal genau hin, welche Länder
von den derzeitigen Regeln profitieren! Gestehen wir
uns ein, dass diese Länder mit unseren Problemen überhaupt nichts zu tun haben. Unsere Probleme werden
vielmehr von Brasilien mit verursacht. Deswegen meine
ich: Etwas mehr Ehrlichkeit und etwas mehr Sachlichkeit bei diesem Thema sind gut geeignet, um die Probleme der Zuckermarktreform zu lösen, wodurch unternehmerischen Landwirten Chancen eröffnet werden.
({5})
Ich will noch ein Reizwort aufgreifen, das uns - für
mich ist das nicht ganz erklärlich; das sage ich ganz offen - um die Ohren gehauen wird. Es kann doch nicht
angehen, dass wir - ich kann wieder nur bedauern, dass
Sie gestern nicht dabei waren, als der Vertreter der WTO
das im Ausschuss dargelegt hat - einen Bereich in der alten Situation von Schutz und Hilfe verharren lassen, dass
wir also in einem Bereich an der Quotensituation festhalten, während wir den Landwirten in allen anderen Bereichen den Weltmarkt - wir streben die Liberalisierung der
Märkte an - zumuten. Das ist doch nicht gerecht. Meiner
Meinung nach ist das nicht zu rechtfertigen.
({6})
Wir von der FDP sind gerne bereit, über Lösungen
nachzudenken und an Lösungen mitzuarbeiten, die helfen, Arbeitsplätze zu sichern, und die Landwirten eine
unternehmerische Zukunft geben. Aber wir müssen auch
klipp und klar sagen, dass wir dafür eintreten, in dieser
Diskussion gegenüber den Landwirten ehrlich zu sein,
damit sie wissen, worum es geht.
({7})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Matthias Berninger.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich zu Beginn aus dem Antrag der Unionsfraktion
zitieren. Die Bundesregierung wird in diesem Antrag unter anderem aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass
die EU in den laufenden WTO-Verhandlungen in
den Bereichen der internen Stützung, des Marktzugangs und des Exportwettbewerbs nur solche Zugeständnisse macht, die den Landarbeitern und den
Kleinbauern in den Entwicklungsländern zugute
kommen.
Damit wir uns nicht missverstehen: Die Bundesregierung verfolgt im Rahmen der laufenden Welthandelsrunde ganz klar das Ziel, gerade die Interessen der
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Kleinbauern und der Landarbeiter stärker zu berücksichtigen und die neue Handelsrunde zu einer Entwicklungsrunde zu machen. Aber stellen wir uns einmal vor, Länder
forderten, Deutschland dürfe seinen industriellen Markt
nur für Handwerker mit weniger als drei Beschäftigten
öffnen. Keiner in diesem Saal kann doch ernsthaft glauben, eine solche Position hätte in den Verhandlungen auch
nur eine Minute Bestand. Ich glaube nicht, dass Angela
Merkel eine solche Position ernsthaft unterstützen würde.
({0})
Wenn wir über die Reform der Zuckermarktordnung
reden, dann haben wir es an vielen Stellen mit Bigotterie
zu tun. Lassen Sie mich ein zweites Beispiel nennen
- Zitat -:
Aber wir müssen auch besonders dafür arbeiten,
dass die Globalisierung den Armen dieser Welt zugute kommt.
Dies wird nur gelingen, wenn sich die Industrieländer, also auch Deutschland, in ihrem Verhalten ändern und vor allem ihre Märkte für die Entwicklungsländer öffnen. Doch das heißt dann eben auch,
dass wir Wettbewerb und Strukturwandel annehmen müssen.
Dieses Zitat stammt aus der Antrittsrede des Bundespräsidenten Horst Köhler, die er am 23. Mai dieses Jahres hier gehalten hat, nachdem die CDU/CSU-Fraktion
den neuen Bundespräsidenten gemeinsam mit der FDP
gewählt hatte.
({1})
Bei diesen Sätzen hat das ganze Parlament geklatscht.
Wenn wir den Präsidenten und seine Rede ernst nehmen,
dann - der Meinung bin ich - kann ein Antrag wie der,
der hier von der Union vorliegt, in diesem Parlament zumindest keine Mehrheit finden.
({2})
Ich denke, dass der Bundespräsident damit vollkommen
Recht hat; die Bundesregierung ist sich mit ihm darin
völlig einig. Den Armen eine Chance zu geben bedeutet,
dass auch wir in Deutschland Strukturreformen machen müssen. Diese Strukturreformen müssen wir auch
dann machen, wenn es schmerzhaft wird.
Eine Reihe der Abgeordneten, die hier in Berlin am
23. Mai bei der Rede des Bundespräsidenten geklatscht
haben, geht in die Bauernversammlungen, verspricht
dort - ich erlebe das bei diesen Versammlungen - den
Landwirten im wahrsten Sinne des Wortes das Blaue
vom Himmel
({3})
und glaubt, diese mit großen starken Worten in einer Sicherheit wiegen zu können, die absolut nicht mehr besteht.
Der Abgeordnete Schindler - Norbert, du hast da
wirklich eine detaillierte Kenntnis - hat darauf hingewiesen, dass die Europäische Union vor der WTO erfolgreich verklagt wurde und die Zuckermarktordnung
durch den Schiedsspruch der WTO massiv in Gefahr ist.
Wir werden in dem Antrag aufgefordert, uns dafür einzusetzen, dass die Europäische Union gegen diesen
Schiedsspruch in die Berufung geht. Die Europäische
Union hat das längst getan. Die Berufung wird aber
wahrscheinlich nichts daran ändern, dass die Zuckermarktordnung unter Druck gerät.
Das ist wie bei den großen Agrarreformen. Wiegen
Sie die Landwirte doch nicht in einer Sicherheit, die es
nicht mehr gibt! Sonst gucken sie am Ende in die Röhre
und sind auf die Reformen nicht vorbereitet. Genau dieses Vorgehen sollte im Parlament keine Mehrheit finden.
({4})
Meine Damen und Herren, das sollte Ihnen eine Lehre
sein: Bei den Luxemburger Beschlüssen hat die FDP
gesagt, die Unionsposition sei völlig unrealistisch. Der
Kollege Goldmann hat Ihnen hier wieder ins Stammbuch
geschrieben, dass Sie auf dem falschen Dampfer sind.
Lernen Sie doch einmal daraus! Sie haben in der Vergangenheit einer Reform immer erst dann zugestimmt, wenn
im Grunde schon alles klar war.
Ich habe noch ein drittes Beispiel aus dieser schönen
langen Kette. Das ist ein Botschaftsvermerk. Er ist ansonsten vertraulich, aber etwas darf ich Ihnen heute hier
nicht vorenthalten. Der bayerische Agrarminister Miller
war in Budapest in Ungarn und hat in einer Supermarktkette eine Woche mit bayerischen Spezialitäten eröffnet.
So weit in Ordnung. Danach hat er ganz offiziell Gespräche mit dem ungarischen Agrarminister geführt. In diesen Gesprächen - so der Botschaftsbericht - hat er die
ungarische Seite gebeten, die bayerische Position auf
EU-Ebene mit zu vertreten, weil die Bundesregierung
dies nicht tue.
({5})
Ich will nur auf Folgendes hinweisen: Die bundesstaatliche Ordnung sagt, dass die Bundesregierung die
deutsche Position nach außen vertritt. Das, liebe Frau
Mortler, haben Sie dem Kollegen Miller ebenfalls mitzuteilen.
({6})
Herr Miller lag immer komplett daneben, wenn es um
die Reformen in Brüssel geht. Wären Leute wie Miller in
der Verantwortung, hätten die deutschen Bauern auch
bei den Luxemburger Beschlüssen in die Röhre geguckt.
({7})
Diese Form von einseitiger Parteinahme halte ich für
nicht in Ordnung.
({8})
- Es liegt nicht an unserer Politik. Auch Herr Miller hat
sich an die Sitten zu halten, die in diesem Lande herrschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Bundesregierung erkläre ich klar: Die Reform der Zuckermarktordnung wird erhebliche Einschnitte mit sich bringen.
Aber die Bäuerinnen und Bauern haben die Möglichkeit,
auch andere Produkte zu produzieren. Wir können ihnen
nicht betriebsbezogene Ausgleichszahlungen bis zum
Sankt-Nimmerleins-Tag zahlen. Es wird zu erheblichen
Einschnitten kommen, aber es gibt eben genug Produktionsmöglichkeiten.
({9})
Da kann man gemeinsam mit den Landwirten Zukunft
bauen. Ich nehme nur den Bereich der Bioenergie als ein
Beispiel. Wir sollten hier gemeinsam daran arbeiten,
diese neue Welt auch für die Landwirte aufzubauen.
Vor 15 Jahren ist der Eiserne Vorhang verschwunden.
Das heißt, der Sozialismus hat in Europa keine Zukunft.
Das gilt auch für die Zuckermarktordnung.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Christa Reichard, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zucker ist wie kein anderes Agrarprodukt ein
Weltmarktprodukt. Mit dem Rohrzucker begann vor
250 Jahren die Kolonialisierung der Karibik, Lateinamerikas und des Pazifiks. Erst mit der Kontinentalsperre
von Napoleon begann das Zeitalter der Zuckerrübe in
Europa.
({0})
Die Zweiteilung des Weltagrarhandels in Rohr- und Rübenzucker und die sich daraus ergebene Konkurrenzsituation ist auch heute noch ein bestimmender Teil des
Nord-Süd-Konfliktes.
Es ist nicht nur ein Gebot der christlichen Nächstenliebe, sondern liegt in unserem ureigenen Interesse, die
Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen. Hunger und Armut in der Dritten Welt gehen oft mit sozialer
Destabilisierung und Perspektivlosigkeit einher - in dieser Kombination eine gefährliche Brutstätte für radikale
Kräfte und terroristische Strukturen. Etwa 70 Prozent der
Armen dieser Welt leben in ländlichen Gebieten und verdienen ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise in der
Landwirtschaft. Die Stärkung des landwirtschaftlichen
Sektors in Entwicklungsländern und der faire Zugang zu
Produktionsmitteln und Boden sind wesentliche Voraussetzungen für die Linderung von Armut. Zugleich
brauchen wir in Zukunft ein Handelssystem, von dem
auch die Armen dieser Welt besser profitieren können.
({1})
Dafür müssen die Verhandlungspartner in der WTO
weiter aufeinander zugehen. Auf beiden Seiten sind Zugeständnisse gefragt, sowohl aufseiten der Industrieländer als auch aufseiten der Entwicklungsländer. Das gilt
auch für die Reform der EU-Zuckermarktordnung.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die nun vorliegenden Vorschläge der Europäischen Kommission weder
unseren Zuckerproduzenten in Europa noch den Produzenten in den meisten Entwicklungsländern nützen. Ich
plädiere deshalb dafür, die Interessen der Entwicklungsländer, die beim Zuckerexport vom bisherigen EU-System profitieren, stärker als bislang zu berücksichtigen.
({2})
Wer weiß denn schon, dass die EU mit jährlich rund
1,3 Millionen Tonnen der weltweit größte Importeur von
Zucker aus Entwicklungsländern ist?
({3})
Diese erhalten dafür die garantierten Preise der EU; das
entspricht einer jährlichen Entwicklungshilfe in Höhe
von etwa 560 Millionen Euro.
({4})
Mit der geplanten Reform der Zuckermarktordnung
steht dies auf dem Spiel, meine Damen und Herren. Wer
die vollständige und schnelle Liberalisierung des Zuckermarktes fordert, muss wissen, dass er Kleinbauern in
Afrika Chancen zum Lebensunterhalt raubt. Schließlich
profitiert eine Vielzahl von afrikanischen und karibischen Staaten von dem bevorzugten Zugang zum EUZuckermarkt.
({5})
Weder einheimische Landwirte noch Kleinbauern in
Entwicklungsländern können in einem völlig liberalisierten System mit dem auf riesigen Plantagen zum Teil
unter Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzeugten
Zucker aus Brasilien konkurrieren.
({6})
Wir können doch unsere eigenen Bauern oder die Kleinbauern Afrikas nicht zugunsten weniger Zuckerbarone
in Brasilien ärmer machen.
({7})
Zudem ist zu befürchten, dass weitere Regenwaldflächen Brasiliens dem Zuckerrohranbau weichen müssen
und der unkontrollierte Chemikalieneinsatz zunimmt.
({8})
Christa Reichard ({9})
Natürlich sind marktwirtschaftliche Reformen im Zuckermarkt zwingend notwendig, aber Reformen müssen
für die Erzeuger und Verarbeiter bei uns und in den Entwicklungsländern verkraftbar sein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Ich bin am Schluss meiner Rede. - Vor diesem Hintergrund erwartet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
von der Regierung, dass sie sich stärker für sachorientierte und längerfristige Lösungsansätze einsetzt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Reinhold Hemker, SPDFraktion.
({0})
Ich gehe einmal davon aus, liebe Frau Kollegin, dass
wir auf das diffizile Problem, das sich aus den Unterschieden zwischen einem Großproduzenten wie Brasilien und Kleinproduzenten ergibt, in den Fachdebatten
noch einmal eingehen werden. Um das auseinander zu
setzen, braucht man nämlich längere Zeit, die wir in dieser Debatte hier nicht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegin! Frau Präsidentin!
Die Debatte hat meiner Ansicht nach schon gezeigt, was
eigentlich nicht geht, lieber Kollege Schindler: auf der
einen Seite eine möglichst große Besitzstandswahrung
- so will ich das einmal bewerten - für die, denen es materiell gut geht, und auf der anderen Seite so schnell wie
möglich - auch das steht in Ihrem Antrag - Armutsreduzierung als globale Aufgabe auf der Basis der Zusagen
anlässlich des Millenniumsgipfels. Das eine scheidet
aus, wenn das andere so betont werden soll, wie Sie es
gemacht haben.
Vor allem aber muss deutlich werden: Wer für den
globalen Zusammenhang Gerechtigkeit erreichen will,
der kann keine Versprechungen machen, wie sie in den
letzten Wochen gegeben wurden, nach dem Motto: Wir
machen eure Forderungen zu unseren Forderungen und
damit zum vordringlichen Anliegen unserer politischen
Initiative. Das ist nicht möglich. Ich stelle mir ein solches Vorgehen für die Weiterführung der WTO-Verhandlungen im Blick auf die Einstufung bzw. Bewertung von
so genannten sensiblen Produkten vor. Wir haben in
diesen Tagen im Fachausschuss auch mit dem Vertreter
der WTO darüber gesprochen. Würden alle diejenigen,
die sich als Hauptproduzenten bestimmter Produkte verstehen, zu denen auch Zucker gehört, sagen, das seien
sensible Produkte, käme das für mich einem Fußballspiel gleich, bei dem mehrere Spieler mit unterschiedlichen Bällen versuchen, das Spiel zu gewinnen.
({0})
Dass das nicht geht, ist nicht nur bezogen auf den Sport,
sondern auch in Bezug auf die Politik verständlich.
({1})
Man kann bei Beharrung auf eigenen Interessen
- darüber haben wir auch bei der Zuckermarktordnung
zu diskutieren - nicht Zukunftsfähigkeit fordern und
gleichzeitig für ganze Flächen dieser Welt durch die angewandten Methoden Zukunftsfähigkeit verneinen.
Eine weitere politische Methode hilft uns ebenfalls
nicht: Wir können nicht in unseren Anträgen Maßnahmen für die Ärmsten der Armen fordern, die nicht im
Rahmen der Marktordnungsverhandlungen, sondern im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit erfolgen sollen, damit ganz eindeutige Nachteile für uns selbst, wie
zum Beispiel notwendige Quotenkürzungen, Subventionsabbau usw., eingeschränkt und verhindert werden
können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geht
nicht.
Für den Gesamtzusammenhang ist es wichtig, noch
einmal die Frage zu stellen: Woran ist Cancún eigentlich
gescheitert?
({2})
Die verschiedenen Verhandlungsgruppen haben sich gegenseitig blockiert, die Neuordnung des Weltagrarsystems stand immer im Vordergrund und es gab im Vorfeld
nicht die klaren Positionen, die die Doha-Runde hätte
weiterführen können. Das waren die tieferen Gründe für
das Scheitern von Cancún, lieber Kollege Schindler.
({3})
Wir wollten und wir wollen auch heute, ausgehend von
dieser gescheiterten Konferenz, eine Entwicklungsrunde mit zumindest im Vorfeld relativ gleichen Chancen für alle Teilnehmer an den Verhandlungen.
({4})
In diesem Zusammenhang, lieber Kollege Berninger,
danke ich der Bundesregierung dafür, dass sie nun
Schritt für Schritt konstruktiv versucht, auf die Vorschläge der EU-Kommission einzugehen und bereits im
Vorfeld deutlich zu machen, in welche Richtung bestimmte Reformvorhaben wie zum Beispiel bei der Zuckermarktordnung gehen müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schindler?
Gerne, bei Norbert Schindler immer.
Herr Kollege, sogar Frau Künast hat feststellt - wie
viele andere Besucher, die, anders als ich, in Cancún waNorbert Schindler
ren und sich im Nachhinein entsetzt darüber unterhalten
haben -, dass die NGOs das Cancún-Ergebnis im Vorhinein kaputt gemacht haben. Es waren andere Themen
als die Agrarfragen, die Cancún damals zum Scheitern
brachten. Es ist sowohl meine Erkenntnis als auch die
Erkenntnis Ihrer Fraktionskollegen sowie von Frau Ministerin Künast, dass die Konferenz nicht an Agrarfragen
gescheitert ist. Das Scheitern immer wieder darauf abzustellen ist etwas billig und nicht glaubwürdig. In Cancún
waren es wirklich die anderen Themen, die diese Welt
bewegen.
({0})
Fakt ist, lieber Kollege Schindler, dass sich insbesondere Entwicklungsländer, die wir zu den ärmsten zählen,
vor Cancún, aber auch noch am Rande von Cancún und
in Cancún zusammengeschlossen und die Verhandlungen blockiert haben. Bei bestimmten Fragestellungen
aus dem Agrarbereich und natürlich auch aus dem Bereich der Ernährungswirtschaft, in dem sie sich heute
langsam weiterentwickeln können, haben sie gesagt: Wir
blockieren und machen nicht mehr weiter.
Natürlich ging es nicht nur um die Agrarfrage. Aber
sie hat eine Rolle gespielt.
Zurzeit versuchen wir, im Vorfeld der Verhandlungen
auf diejenigen einzuwirken, die sich zusammengeschlossen haben. Stichworte dazu sind die Baumwolle und die
jetzt vor dem Panel laufenden Verfahren, die - so hoffe
ich zumindest - im Frühjahr zum Abschluss kommen.
Meine Bewertung ist nicht einseitig. Ich habe diesen
Zusammenhang als Beispiel dafür genannt, wie solche
Blockaden in solchen Konferenzen wirken: Es kommt zu
keinen Ergebnissen. Das darf meiner Ansicht nach in der
Nachfolge von Cancún nicht wieder passieren. Es ist gut,
dass heute hier solche Aussagen wie vom Kollegen
Goldmann und wie von Matthias Berninger für die Bundesregierung gemacht werden, die den richtigen Weg anzeigen.
({0})
Das werden wir wie schon bei den letzten Diskussionen
im Fachausschuss zum Ausdruck bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher haben
wir jetzt eine gute Verhandlungsgrundlage. Die Gespräche, die in den letzten Wochen mit Vertretern von FAO
und WTO in den Fachausschüssen, nicht nur im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, gelaufen sind, gingen in die richtige Richtung.
Wenn wir im Frühjahr das Panel-Urteil zu den Fragestellungen haben, die Matthias Berninger hier vorgetragen hat, haben wir eine gute Grundlage für die Vorbereitung der Nachfolgekonferenz in Genf und an anderen
Stellen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/4145 und 15/4399 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Faße, Gerold Reichenbach, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit vor der deutschen Küste verbessern - Küstenwache optimieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({2}), Dr. Ole Schröder, Dirk
Fischer ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Schaffung einer nationalen Küstenwache
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({4}), Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Nationale Küstenwache schaffen
- Drucksachen 15/3322, 15/2337, 15/2581,
15/4153 Berichterstattung:
Abgordnete Annette Faße
Wolfgang Börnsen ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wilhelm von Humboldt hat einmal gesagt: „Ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“ Das Zitat ist heute aktueller
denn je. Das Thema Sicherheit ist für unsere freie Gesellschaft von existenzieller Bedeutung.
Mit der Terrorismusgefahr ergab sich die Notwendigkeit, auch den Seeverkehr den gestiegenen Sicherheitsanforderungen anzupassen. Unser Antrag weist hier einen richtigen Weg. Er bündelt im Einsatzfall alle Kräfte
des Bundes und der Länder. Er stellt sie unter eine klare
Führung mit kurzen Entscheidungswegen. Das ist der
Kern unseres Anliegens. Wir können uns im Einzelfall
keine langen Kompetenzdiskussionen und Abstimmungsrunden leisten.
Wir können uns genauso wenig jahrelange Diskussionen über eine Grundgesetzänderung leisten. Es geht um
die Optimierung bestehender Küstenwache im Alltagsbetrieb und im Ernstfall. Da müssen wir das Rad nicht
neu erfinden. Wir können uns an den geschaffenen
Strukturen des Havariekommandos orientieren.
({0})
Der Antrag weist den Weg, die Küstenwache innerhalb der bestehenden Strukturen zu stärken. Mit „innerhalb der bestehenden Strukturen“ meine ich, dass wir es
uns ersparen, vorher ewige Verfassungsfragen zu klären,
und zwar aus einem einfachen Grund: weil es nicht sein
muss. Es gibt keinen Grund, eine Bundesküstenwache
mit eigener Rechtspersönlichkeit zu schaffen.
Es sind zum Teil sehr unterschiedliche Aufgaben mit
hoch spezialisierten Fahrzeugen und entsprechendem
Personal zu erledigen. Denken Sie dabei nur an die Wartung der Seezeichen, eine Routineaufgabe der Wasserund Schifffahrtsverwaltung, an die grenzpolizeiliche
Sicherung, eine originäre Aufgabe des Bundesgrenzschutzes, oder an die Kontrollen beim Fischfang, eine
Hauptaufgabe der Fischereischutzboote.
Eine neue nationale Behörde würde hier sicher mehr
neue Probleme schaffen als bestehende Probleme lösen.
Die Einrichtung einer Bundesküstenwache würde bewährte Strukturen und Ressorts aufbrechen, und das nur,
damit neue Strukturen und Ressorts mit denselben Aufgaben und denselben Zuständigkeiten wieder aufgebaut
würden.
Der heutige Koordinierungsverbund Küstenwache,
auf den Sie, meine Damen und Herren der Opposition,
zu Ihrer Regierungszeit sehr stolz waren, hat sich im
Grunde bewährt. Dies wird Ihnen jeder, der sich die Situation vor Ort angesehen hat, gerne bestätigen. Kollegen, die vor Ort waren, haben richtigerweise das Havariekommando und dessen Zusammenarbeit mit der
Küstenwache gelobt.
Die bestehende Zusammenarbeit zwischen Küstenwache und Havariekommando funktioniert, wie gesagt,
gut. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr. Gemeinsame Übungen haben stattgefunden
und werden weiter stattfinden. Die Akteure kennen sich
und arbeiten partnerschaftlich zusammen.
Dennoch werden wir die bestehenden Strukturen der
Küstenwache zu einer neuen, noch effektiveren Küstenwache ausbauen. Dabei sollen die bisherigen Strukturen
gestärkt und Synergieeffekte genutzt werden. Das sollte
eigentlich auch die Opposition begrüßen; denn zumindest in Sicherheitsfragen haben wir das gleiche Ziel,
auch wenn der Weg in diesem Fall unterschiedlich ist.
Man weiß noch nicht genau, was die CDU im Lande
will. Auf Bundesebene strebt sie eine Grundgesetzänderung an. Die Landesregierung von Niedersachsen hingegen lehnt das generell ab. Daran sieht man schon, dass es
ein sehr langer Weg wäre. Das ist für uns nicht verantwortbar.
Am 11. November dieses Jahres fand in Hamburg die
erste Sitzung mit Vertretern von Bund und Küstenländern statt. Es wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die
nach dem Grobkonzept jetzt das Feinkonzept erarbeiten
soll. Die Strukturen zwischen Bund und Ländern werden
sinnvoll gefestigt. Es ist unser erklärtes Ziel, unter einem
Dach alles zusammenzubringen: die neue Küstenwache,
das Havariekommando und natürlich auch den Point of
Contact.
({1})
Wir gehen davon aus, dass die Verhandlungen über den
Kauf des Gebäudes noch in diesem Jahr abgeschlossen
werden. Die Minister haben sich auf den Standort Cuxhaven verständigt, worüber ich mich als örtliche Abgeordnete natürlich nur freuen kann.
Es geht weiterhin um mehr Sicherheit auf den deutschen Küstengewässern. Lassen Sie uns das Gute verbessern, indem wir die erforderlichen Einsatzstrukturen
für den Notfall schaffen, ohne den Alltagsbetrieb auf den
Kopf zu stellen! Dazu brauchen wir keine wissenschaftliche Untersuchung, denn wir wissen, wovon wir reden.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Während wir hier in den Abendstunden über ein
Mehr an Seesicherheit debattieren, sorgen Tausende von
Frauen und Männern unseres Landes rund um die Uhr
dafür, dass Schutz und Vorsorge für Mensch und Meer,
Küste und Kümos tatsächlich gewährleistet werden. Ihnen gebührt unser gemeinsamer Dank.
({0})
Dieser Dank gilt auch für die ehren- und hauptamtlichen Angehörigen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Ich finde es anerkennenswert,
wie sich hier gemeinnütziges Handeln von mehr als
1 000 Einsatzkräften manifestiert. Allein im letzten Jahr
sind mehr als 270 Menschen gerettet worden und hat es
650 Maßnahmen der Rettung aus kritischen Situationen
gegeben. Das bedeutet, dass vor Ort Seesicherheit gewährleistet wird.
Im kommenden Jahr hat die DGzRS ein Jubiläum. Sie
wird 140 Jahre alt. Gut 66 000 Menschen sind in dieser
Wolfgang Börnsen ({1})
Zeit gerettet worden, oftmals unter lebensbedrohlichen
Bedingungen. Wir sollten dieser Gesellschaft zum Jubiläumsjahr 2005 und darüber hinaus die Unterstützung
des gesamten Deutschen Bundestages garantieren.
Doch seit der Gründung der DGzRS im Jahre 1865
sind aus den Gefahren auf und durch die See unermessliche Bedrohungen geworden - und dies nicht nur für die
Küstenbewohner und die Ökosysteme von Nord- und
Ostsee. Nein, terroristische Anschläge auf Seeschiffe
können in Häfen und auf Ölplattformen zu Katastrophen
führen, können Handelswege über Jahre blockieren und
sind ein Erpressungspotenzial, das ein ganzes Land treffen und auf lange Zeit lahm legen kann.
Viele haben vergessen, dass es bereits vor dem
11. September 2001 terroristische Angriffe auf See mit
Toten und Verletzten gegeben hat: am 7. Oktober 1985
beim Kreuzfahrtschiff „Achille Lauro“, am 11. Juli 1988
beim Ausflugsdampfer „City of Poros“, am 12. Oktober
2000 auf dem amerikanischen Kriegsschiff „USS Cole“,
am 6. Oktober 2002 beim französischen Öltanker „Limburg“ und wenige Monate später im Hafen von Umm
Qasr, wo es in letzter Minute gelang, Terroristen zu stoppen.
Noch ist Europa, noch ist unser Land verschont geblieben. Aber wie lange noch? Sind wir eigentlich ausreichend gegen diesen Seeterrorismus geschützt? Im
Ernstfall würde bei uns der BGS See eingreifen, auch
wenn dessen Boote unzureichend sind. Nicht einmal
Maschinengewehre dürfen die BGS-Boote mitnehmen.
Die Bundesmarine, optimal ausgerüstet, darf, bedingt
durch die Verfassungslage, nicht bei Terror auf See eingreifen. Die Bundesregierung hat sämtliche Anträge der
Union dazu abgewiesen. Das ist falsch, das ist fahrlässig
und das ist verantwortungslos.
({2})
Es ist widersinnig, was hier praktiziert wird. Die Bundesmarine betreibt am Horn von Afrika den Einsatz gegen Terrorismus. Vor Hamburg und Wilhelmshaven, vor
Kiel und Rostock jedoch wird sie ausgegrenzt. Es wird
verhindert, dass die Bürger im eigenen Land einen optimalen Schutz erfahren. Das ist falsch. Kein anderes
Land in Europa, kein anderer Staat in der Welt vernachlässigt den Heimatschutz so, wie es die Bundesregierung zurzeit tut. Mit Millionen von Euro betreibt sie im
Ausland Terrorabwehr, doch sie versagt in ihrer Verantwortung vor Ort.
({3})
Hier muss ein Umdenken erfolgen und neu gehandelt
werden.
Das gilt auch für die Schaffung einer schlagkräftigen
deutschen Küstenwache.
({4})
Solange noch vier Bundesminister und 16 Behörden,
fünf Landesumweltminister und fünf Landesinnenminister über eigene Kompetenzen in der Seesicherheit verfügen, bleibt die Konstruktion eines maritimen Sicherheitszentrums nur Stückwerk. Die Einsatzfähigkeit der
gemeinsamen Einsatztruppe ist zwar im Vorfeld möglich; bei einer Havarie ist sie aber mehr Wunsch als
Wirklichkeit.
Die Politik von Bund und Ländern, das Zentrum der
Küstenwache, die Wasserschutzpolizei und das Havariekommando unter einem Dach zu bündeln, suggeriert einheitliches Vorgehen, garantiert es jedoch nicht. Jede
Dienststelle bleibt ihrem Dienstherrn gegenüber verpflichtet. Die räumliche Zusammenfassung in Cuxhaven
ist additiv und nicht integrativ. Auch hier verhindert wieder eine fehlende Rechtsgrundlage, auf die Notwendigkeit einer eigenständigen deutschen Küstenwache zu reagieren.
Obwohl die Bundesländer über einen Mangel an Geld
klagen, sind sie zu einer Abgabe von Aufgaben an den
Bund nicht bereit. Obwohl die vier zuständigen Bundesminister über Finanzkürzungen klagen, sind sie zu einer
Zusammenlegung ihrer Behörden nicht bereit. Was für
den Notfall erforderlich ist, sorgt bereits im Alltag für
Ärger und Unmut auf See. Erst vor kurzer Zeit erfuhr ein
ausländischer Frachter, der den Weg in die Flensburger
Förde nahm, fünf Kontrollen von fünf verschiedenen Sicherheitsbehörden.
Zuerst brachte ein Boot der Bundesmarine den Chemikalientanker auf, später ein BGS-Schiff; dann folgten
noch der Zoll, die Fischereiaufsicht und, als es im Hafen
anlegte, die Wasserschutzpolizei. Das alles geschah innerhalb weniger Stunden, weil jede Behörde ihren eigenen Richtlinien zu folgen hat und weil bei uns Safety
und Security nicht wie sonst überall in der Welt in einer
Hand sind.
({5})
Kein Land in Europa, kein Staat in der Welt leistet sich
ein solches Nebeneinander von Kontroll- und Sicherheitskräften. Berechtigte Zweifel daran bestehen: Wenn
bereits im Alltag Ressortdenken und -handeln dominieren, was geschieht dann erst im Notfall?
Herr Kollege Börnsen, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Danke; ich komme zum Ende. - Ich mache darauf
aufmerksam, dass wir nur durch eine veränderte Rechtsgrundlage - auch zur Sicherheit der Mitarbeiter in Cuxhaven - zu einer deutschen Küstenwache kommen, die
jetzt und auf jeden Fall für die Zukunft notwendig ist.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zwischen November 2002 und Januar 2004 gab
es sechs Schiffsunfälle in der Ostsee. Im Jahr 2001 gab
es 390 Ölteppiche auf der Ostsee und 596 auf der Nordsee. Diese Zahlen zeigen deutlich, welchen Gefahren unsere Küsten und unsere Meere durch Unfälle, aber auch
- das sage ich sehr deutlich - durch die alltäglichen Belastungen aufgrund der illegalen Schiffsreinigungen und
durch die Ölplattformen in jedem Jahr ausgesetzt sind.
Sie zeigen, dass wir dringend etwas für den Schutz unserer Meere, der Küsten und der Menschen, die dort leben,
tun müssen; denn diese Gefahren nehmen zu. Allein in
der Ostsee wird es durch die russischen Ölexporte
- Russland hat gesagt, dass diese Ölexporte bis 2010
verdoppelt werden - immense neue Gefährdungspotenziale geben. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung, auf dem EU-Russland-Gipfel gerade in Fragen der
Schiffssicherheit keine Zugeständnisse zu machen und
die Russische Förderation aufzufordern, die Standards
der EU auf diesem Gebiet einzuhalten.
({0})
Für mehr Schiffssicherheit, Hafensicherheit und Sicherheit der Seeverkehrswege vor natürlichen, technischen, aber auch terroristischen Gefahren müssen wir
das Nebeneinander der auf Bund und Länder verteilten
Kompetenzen beseitigen und die Strukturen neu ordnen.
Ziel muss es sein, alle beteiligten Kräfte dauerhaft in einer einheitlichen Struktur zu bündeln.
({1})
Nur auf diese Weise können wir die Schutzaufgaben effizienter und effektiver erledigen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der schleswig-holsteinische Landtag hat vor einem Jahr mit den
Stimmen aller Fraktionen vernünftige Vorschläge für
den Aufbau einer neuen, effektiven Struktur der Küstenwache gemacht
({3})
und sie der Innenministerkonferenz der norddeutschen
Küstenländer vorgelegt. Diese Initiative - dies muss
man dann auch sehr deutlich sagen, Herr Kollege
Goldmann - ist am Widerstand der unionsgeführten
Küstenländer gescheitert.
({4})
Insbesondere die CDU/FDP-Koalition in Niedersachsen
hat dieses Verfahren platt gemacht.
({5})
Deshalb ist es nicht lauter, wenn die CDU und die FDP
glauben, heute hier eine Struktur durchsetzen zu können,
die in den Ländern nicht mehrheitsfähig ist.
Auch der Hinweis auf die Föderalismuskommission
trägt nicht; ich habe dies dort vorgeschlagen. Die Länder
haben deutlich gemacht, dass sie diesen Weg nicht mitgehen werden. Der vehemente Widerstand insbesondere
von Innenminister Schünemann aus Niedersachsen, der
eine neue Küstenwache für überflüssig und für eine neue
Mammutbehörde hält, die keinen Sinn macht, zeigt sehr
deutlich, wo wir in Wirklichkeit stehen.
Lieber Herr Kollege Börnsen, jetzt ist zwar bald
Weihnachten, aber das politische Leben ist kein
Wunschkonzert; vielmehr müssen wir uns an den Wirklichkeiten orientieren; darum geht es.
({6})
Angesichts der Gefahren ist es richtig, Schritte in
diese Richtung zu unternehmen. Ich habe immer dafür
plädiert, dass wir in Deutschland eine einheitliche Küstenwache brauchen. Angesichts der Gefahren, denen die
Menschen und die Natur an der Küste ausgesetzt sind,
brauchen wir mehr als eine Leitstelle der Wasserschutzpolizei. Das mag ein richtiger Schritt sein; es kann aber
auch ein Schritt sein, der weitergehende Strukturveränderungen verhindert. Deshalb müssen wir das weiterhin
im Auge behalten.
Lieber Kollege Börnsen, die Frage, ob wir tatsächlich
eine Grundgesetzänderung zur Lösung dieser Strukturfragen benötigen, ist aus meiner Sicht nicht aktuell.
Die Entscheidungen der Küstenländer sind so, wie sie
sind. Das mögen wir bedauern oder begrüßen. Deshalb
gilt es aber zunächst, die praktischen Schritte zu unternehmen, die zu einer größeren Konzentration der Kräfte
führen.
({7})
Unser Antrag bietet daher eine vernünftige Basis für
eine Entwicklung in Richtung Realismus und Pragmatismus. Nur so können wir, ohne Traumtänzer zu sein, unsere Verantwortung tatsächlich wahrnehmen und mehr
Sicherheit für die Schifffahrt, die Natur und die Menschen an unseren Küsten schaffen.
({8})
Das ist Wahrnehmung von Verantwortung. Wir verkünden keine Illusionen; denn damit würden wir nur Erwartungen wecken, die keiner erfüllen kann. Lassen Sie uns
realistisch sein und gemeinsam für mehr Sicherheit sorgen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Michael Goldmann, FDPFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das, was wir bundespolitisch wollen, wird
- das ist doch nichts Neues - von den eigenen Parteifreunden vor Ort manchmal anders gesehen. Ich war
froh, als der Innenminister Schünemann von der CDU
besonders ins Gespräch kam. Die Frage ist doch: Ist das,
was vonseiten der SPD und der Grünen heute beschlossen wird, das, was Sie sich die ganze Zeit gewünscht haben? Bringt das mehr Sicherheit, mehr vernetztes Tun?
({0})
- Was heißt, das ist ein richtiger Schritt? Herr
Steenblock, ich erinnere mich noch an die „Pallas“. Sie
erinnern sich sicher auch schmerzlich. Damals waren
wir uns doch einig. Wir haben damals eine Kommission
gebildet. Herr Grobecker, der Leiter der Kommission,
hat gesagt, wir brauchen eine nationale Küstenwache.
({1})
Wir haben uns auf den Weg gemacht, die nationale
Küstenwache zu realisieren. Glauben Sie nicht, dass das
immer Spaß gemacht hat. Ich komme auch aus Niedersachsen und ich schätze die Arbeit des Havariekommandos in Cuxhaven außerordentlich.
({2})
Das ist überhaupt keine Frage.
({3})
Über eines sind Sie sich doch im Klaren: Ein Havariekommando ist keine Küstenwache. Es verfolgt nicht die
Ziele, die Sie selbst und Ihre Parteifreunde in SchleswigHolstein beschlossen haben.
({4})
Deshalb dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben
und heute einfach etwas beschließen. Das mag pragmatisch sein, weil es vielleicht ein Stück weit mehr vernetzt. Das ist doch aber ganz eindeutig nicht die Lösung
des Problems. Sie wissen das doch ganz genau.
({5})
- Wissen Sie, es interessiert mich eigentlich herzlich wenig, ob die Landesregierung in Niedersachsen in dieser
Frage einen anderen Standpunkt einnimmt.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass wir eine nationale Küstenwache einsetzen müssen.
({7})
Diese Landesregierung kann aus regionalen Gründen
anderer Meinung sein. Die Kollegin Faße, die aus Cuxhaven kommt, hat eben deutlich gemacht, dass sie das
Havariekommando gut findet.
({8})
- Annette, dann sagst du auch noch, dass du Ahnung davon hast und weißt, wovon du redest. Ich respektiere
deine Aussage. Nimm aber bitte zur Kenntnis, dass alle
anderen, die an der Küste agieren, anderer Meinung sind
als du. Alle maritimen Organisationen an der Küste sagen: Wir brauchen eine nationale Küstenwache.
({9})
Alle sagen das, nur du meinst: Ich weiß Bescheid; ein
Havariekommando reicht aus.
Ein solcher Umgang miteinander macht nicht viel
Sinn. Ich weiß, was passieren wird. Ich will es nicht beschwören, aber ich weiß, was passiert, wenn das nächste
Mal an der Küste etwas passiert: Dann stehen wir wieder
alle hier und sagen: Oh Gott! Oh Gott! Wie konnte das
nur passieren? Wir werden hier Reden halten und sagen,
es muss sich etwas ändern. Wir machen dann mobil, stellen Forderungen und bilden wahrscheinlich wieder eine
Kommission.
Du hast vorhin gesagt, wir bräuchten keine wissenschaftliche Untersuchung - in meinem Text war bisher
von einem Forschungsauftrag die Rede -, weil wir das
alles wissen. Das wissen wir aber nicht. Warum habt ihr
diese Untersuchung verweigert? Warum konnten wir
nicht gemeinsam einen Weg finden, der keine grundgesetzliche Änderung erforderlich macht? In unserem Antrag wird eindeutig belegt, dass wir keine grundgesetzliche Änderung brauchen, um entscheidende Schritte zu
machen.
Aber wir können - Kollege Börnsen hat das vorhin
klar gesagt - eine Menge mehr tun, um Safety und Security zusammenzuführen. Das wird durch euer Verhalten
in dieser Frage leider scheitern; das ist schade.
Ich sage es jetzt ziemlich direkt: Ich werde dich hinsichtlich deiner fachlichen Kompetenz und deiner
Glaubwürdigkeit in eine gewisse Form persönlicher Haftung nehmen,
({10})
wenn uns die nächste Katastrophe an der Küste ereilt
und wir genau wissen, dass das aus den Gründen geschehen ist, die Herr Börnsen vorhin genannt hat. Das muss
man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Herr Kollege, Sie können sich leider nichts mehr auf
der Zunge zergehen lassen;
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({0})
denn Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Frau Präsidentin, wenn Sie wüssten, was mir heute
Abend noch alles auf der Zunge zergehen wird! Aber ich
werde Sie damit nicht weiter erfreuen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Problem der unterschiedlichen Zuständigkeiten für die Küste ist alt. Es war auch der Vorgängerregierung bekannt. Bei dem Versuch, daran etwas zu
ändern, sind Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
von Union und FDP, zumindest nach Ihrer heutigen Einschätzung nicht sehr weit gekommen. Jetzt versuchen
Sie, die Optimierung des Küstenschutzes zu einer Verfassungsdebatte aufzublähen.
({0})
Was wir aber brauchen, sind pragmatische Schritte vor
Ort, durch die die Küstenwache effektiver und die Küste
sicherer wird.
({1})
Die jetzige Regierung hat in diesem Bereich einiges
vorzuweisen. Im vergangenen Jahr haben wir das Havariekommando in Cuxhaven eingerichtet. Wir haben aus
zwei Stellen eine gemacht und die beiden Küstenwachzentren zusammengelegt. Wir sind dabei, das neu errichtete einheitliche Küstenwachzentrum in Cuxhaven weiter auszubauen. Wir haben die unterschiedlichen
Behörden in einem Küstenwachzentrum vereint.
({2})
Sie stimmen sich kontinuierlich ab und bilden gemeinsam eine Einsatzleitung, in der die Bundeszuständigkeit
für die gesamte Küste liegt.
Hinzu kommt die Zusammenführung mit dem Havariekommando und künftig auch mit dem Point of Contact. Das wird dazu führen, dass es auf Bundesebene ein
praxisbezogenes Führungs- und Einsatzinstrument
geben wird, durch das alle beteiligten Stellen durch eine
auch räumlich enge Zusammenarbeit eingebunden werden. Das sollten Sie nicht gering schätzen.
Aus Sicht der Innenpolitiker wäre es sinnvoll, dass
diejenige Organisation, die über die entsprechende Führungserfahrung verfügt, der BGS, dauerhaft die Leitung
übernimmt.
({3})
Dem stehen fachliche Einwände der beteiligten Ressorts
entgegen; Kollegin Faße hat sie deutlich dargelegt. Aber
für den Krisen- und Einsatzfall muss es eine vorher
exakt definierte besondere Aufbauorganisation mit klarer Leitung und Führung geben. Dies fordern wir in unserem Antrag. Wir werden es auch umsetzen.
({4})
Wichtig ist nun, dass sich auch die Länder in diesen
Mechanismus einbinden, sowohl was die Wasserschutzpolizeien der Länder als auch - Sie haben sie ja aufgezählt - die anderen beteiligten Behörden, etwa im Umweltbereich, angeht. Wir werden auch die Frage der
Einbindung der Bundeswehr angehen,
({5})
und zwar für die Fälle, die die Polizei des Bundes oder
die der Länder nicht mit eigenen Mitteln bewältigen
kann.
({6})
Das Luftsicherheitszentrum in Kalkar, in dem alle beteiligten Stellen eng zusammenwirken, kann hier durchaus als Vorbild dienen. Dort arbeiten alle beteiligten
Ressorts in einem Raum zusammen, tauschen Daten untereinander aus und operieren und agieren in der gleichen Lage. Dafür haben wir mit der Zusammenführung
der beiden Küstenwachzentren und dem Havariekommando auch für die Küste die realen Grundlagen gelegt.
Wir werden, ähnlich wie beim Luftsicherheitsgesetz,
auch die gesetzlichen Grundlagen schaffen.
({7})
Nun zur Frage einer generellen Zuständigkeit des
Bundes für die gesamte Küste. Die Übertragung der
12-Meilen-Zone an den Bund - Sie haben dieses Thema
angesprochen - müsste in der Föderalismuskommission
diskutiert werden; aber genau das haben Ihre Länderinnenminister abgelehnt. Das Problem der Einbindung der
Länder in ein Küstenwachzentrum wäre aber auch damit
nicht aus der Welt. Selbst dann, wenn der Bund für das
gesamte Küstengebiet zuständig wäre, gäbe es auch weiterhin eine Schnittstellenproblematik; denn dann würden
sich zum Beispiel in den Häfen und an den Küstenlinien
Schnittstellen ergeben. Das heißt, dass unabhängig von
dieser Frage nach wie vor die Kooperationsbereitschaft
der Länder gefordert ist.
Wir optimieren das Konzept für eine effiziente Küstenwache. Damit realisieren wir das, was notwendig und
möglich ist. Während Sie hier eine Verfassungsänderung zur Voraussetzung für eine Verbesserung hochstilisieren - ich kann es Ihnen nicht ersparen -, erzählen Sie
in den Bundesländern das genaue Gegenteil.
({8})
Ihr Kollege, der niedersächsische Innenminister Uwe
Schünemann, will nämlich von der Schaffung einer Küstenwache unter der Leitung des Bundes überhaupt nichts
wissen.
({9})
- Herr Schröder, ich kann Ihnen nicht ersparen, mit Genehmigung der Präsidentin aus dem Protokoll des niedersächsischen Landtags vom 11. März 2004 zu zitieren.
Damals hat Herr Schünemann zu Ihrem eigenen Antrag
ausgeführt:
Die Schaffung einer Küstenwache unter Leitung
des Bundes würde eine Grundgesetzänderung erforderlich machen, ohne dass ein Sicherheitsgewinn
… eintreten würde.
({10})
Die Landesregierung sieht derzeit keinen Anlass,
die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern … in Frage zu stellen und
Zuständigkeiten der Polizei …
({11})
ohne zwingende Notwendigkeit auf eine Bundesbehörde zu übertragen.
Auf Bundesebene hü, auf Landesebene hott!
({12})
Offenbar herrscht bei Ihnen in der Sicherheitspolitik
das gleiche Chaos wie in der Gesundheitspolitik.
({13})
Oder handelt es sich dabei um ein kalkuliertes Spiel: auf
Bundesebene fordern und zu Hause genau diese Forderung blockieren?
({14})
Solche Spielchen ziehen sich nämlich wie ein roter Faden durch Ihre Vorstellungen von Sicherheitspolitik und
Katastrophenschutz. Das Thema Sicherheit eignet sich
aber nicht für Spielchen oder, wie der Bundesinnenminister kürzlich in diesem Hause treffend feststellte, für
„sicherheitspolitische Dampfplaudereien“. Mit Ihrem
Pingpongspiel können Sie die Bürgerinnen und Bürger
in diesem Lande nicht beeindrucken. Wir arbeiten in unserer Bundeszuständigkeit konsequent die notwendigen
Schritte zur Verbesserung der Sicherheit an unseren Küsten ab und Sie können sicher sein, dass wir dies auch in
den anderen Bereichen zum Schutz unserer Bevölkerung
tun werden: bei der Polizei, beim Katastrophenschutz
und bei der Terrorabwehr.
Es stellt sich die Frage, ob Sie Ihren Worten im Bundestag dort, wo Sie in den Ländern Verantwortung haben, auch Taten folgen lassen werden.
({15})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Bei uns reden die Leute von der Küste, Herr Tauss. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast ein Jahr ist vergangen, seit wir von der CDU/
CSU-Fraktion den Antrag zur Schaffung einer nationalen Küstenwache eingebracht haben. Wir wollen damit
mehr Sicherheit auf See für die Menschen und die Umwelt erreichen. Liebe Kollegen von der SPD und den
Grünen, ich begrüße ausdrücklich, dass auch Sie sich innerhalb dieses Jahres Gedanken gemacht haben, dass bei
Ihnen zumindest ein Problembewusstsein entstanden ist.
Auch Sie haben inzwischen einen Antrag eingebracht;
das begrüße ich ausdrücklich.
Wie sehen die Strukturen zur Gefahrenabwehr auf See
aus? Im Jahre 2004 führen auf See insgesamt fünf Bundesbehörden, der BGS, der Zoll, die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, die Bundesanstalt für Landwirtschaft
und Ernährung sowie die Marine und fünf Küstenländer
mit ihrerseits 15 Behörden 16 Aufgaben auf See durch.
Seit 50 Jahren versuchen wir nun, diese unterschiedlichen Kompetenzen durch Kooperationsvereinbarungen
zu koordinieren. Mittlerweile gibt es 25 Staatsverträge.
Das Ergebnis ist ein Nebeneinander von Einheiten und
Zuständigkeiten, das selbst von Experten nicht mehr
durchschaut wird.
({0})
Betrachten wir einmal die Abwehr von Gefahren
durch Terror und organisierte Kriminalität. Für diese
Aufgaben verfügen der BGS und die Wasserschutzpolizei über hervorragend ausgebildetes Personal und hervorragend ausgestattete Boote. Auch die Marine ist bei
der Terrorismusabwehr unverzichtbar. Besonders kritisch ist hier der Faktor Zeit; hier spielen Stunden, wenn
nicht Minuten eine entscheidende Rolle. Klare Befehlsstrukturen mit eindeutigen Handlungsbefugnissen sind
entscheidend, um solche Krisen zu bewältigen. Genau
daran mangelt es.
({1})
Betrachten wir den Schutz vor Unfällen und
Umweltkatastrophen, wenn Öl ausläuft, wenn Vögel
zu verenden drohen. Hier sehen wir das letzte Kapitel
der unendlichen Koordinierungsgeschichte: das Havariekommando. Es soll beim Eintritt eines so genannten
komplexen Schadenfalles die Führung übernehmen. Die
geleistete gute Arbeit des Havariekommandos verdanken wir einem hervorragenden Leiter und sehr motivierten Mitarbeitern. Frau Faße, das Havariekommando leistet diese Arbeit aber nicht aufgrund der vorhandenen
Strukturen, sondern trotz der vorhandenen Strukturen.
({2})
Es fehlen eben klare Befehlsstrukturen; sie existieren
nicht. Auch für den Fall einer so genannten komplexen
Schadenslage fehlen dem Leiter des Havariekommandos
die notwendigen Kompetenzen. Genau deshalb brauchen
wir eine Grundgesetzänderung.
({3})
Betrachten wir schließlich den Alltagsbetrieb. Hier
ist es schon aus Kostengesichtspunkten erforderlich, alle
Patrouillenfahrten aufeinander abzustimmen.
({4})
Dabei geht es nicht nur um die Patrouillenfahrten zwischen den Booten des Bundes, sondern auch zwischen
den Booten der Länder und des Bundes.
({5})
Wenn ein Schiff auf hoher See kontrolliert wird, dann
können sowohl Grenzdelikte, Umweltdelikte als auch
Zolldelikte aufgedeckt werden. Frau Faße, die Fischereiaufsicht wird zum Teil schon jetzt vom BGS und von
den Wasserschutzpolizeien durchgeführt.
({6})
Es ist also möglich, Spezialaufgaben von einer Behörde
auszuführen. Sie haben in Ihrer Rede etwas anderes gesagt.
({7})
Das Problem liegt hier zum einen bei den Bundesministerien, die nicht optimal zusammenarbeiten, zum anderen an der Kompetenzverteilung zwischen dem Bund
und den Ländern. Anders als im Luftraum ist der Bund
eben nicht für die gesamte Gefahrenabwehr zuständig.
Daraus folgt diese absurde Aufgabenverteilung. Der
Bund ist beispielsweise dafür zuständig, zu kontrollieren, dass kein Schweröl aus Schiffen ausläuft. Wenn
doch einmal Schweröl ins Meer fließt, dann hat der
Bund plötzlich keine Kompetenzen mehr.
({8})
Aufgrund der gegebenen Kompetenzlage müssen die
Bundesbeamten die entsprechenden Landesministerien
anrufen und fragen, ob sie nicht ein Schiff vorbeischicken können.
({9})
Erklären Sie das doch bitte einmal den Bürgerinnen und
Bürgern an der Küste.
Liebe Kollegen der SPD und der Grünen, genau diese
ineffizienten Strukturen wollen Sie nun fortschreiben.
Sie sehen in Ihrem Antrag keinerlei wesentlichen strukturellen Änderungen vor. Im Gegenteil: Sie planen ein
weiteres, nämlich das 26. Kapitel der gescheiterten Kooperationsversuche. Sie planen die Fortsetzung des institutionellen Chaos und eine räumliche Konzentration, die
aber auch nicht darüber hinwegtäuschen wird, dass die
Befehlsstrukturen und Kompetenz so bleiben, wie sie
sind.
({10})
- Lieber Rainder Steenblock, Ihr Vorgehen besteht einfach darin, alle in einen Raum zu stecken und zu hoffen,
dass sie sich verstehen. Frau Faße, das kann klappen, das
muss aber nicht klappen. Das klappt nur, wenn die entsprechende Kooperationsbereitschaft der handelnden
Akteure vor Ort gegeben ist.
({11})
Das ist das Prinzip Hoffnung.
({12})
Aufgrund der möglichen Schadenslage, die eintreten
kann, sollten wir uns aber nicht auf das Prinzip Hoffnung verlassen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen speziell von der
SPD-Fraktion, Ihr schleswig-holsteinischer SPD-Innenminister, Klaus Buß, hat in einer Sitzung des Landtages
zum Thema „Nationale Küstenwache“ Folgendes gesagt
- ich zitiere ihn -: Vorweggehen muss der Bund. Ich
hoffe, dass die SPD-Fraktion des Bundestages dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zustimmt und dass auf Bundesebene etwas in Gang gesetzt wird, was wirklich ein
großer Schritt hin zu einer einheitlichen Küstenwache
wäre.
({14})
Herr Kollege.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, tun
Sie etwas! Wagen Sie mit uns gemeinsam einen wirklichen großen Schritt!
({0})
Legen Sie Ihren Antrag beiseite und stimmen Sie unserem Antrag für mehr Sicherheit an den Küsten zu!
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/4153. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Die Grünen auf Drucksache 15/3322 mit dem Titel „Sicherheit vor der deutschen Küste verbessern - Küstenwache optimieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/2337 mit dem Titel „Schaffung einer nationalen Küstenwache“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung
der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2581 mit dem
Titel „Nationale Küstenwache schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek,
Cajus Julius Caesar, Dr. Maria Flachsbarth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Naturschutz im Miteinander von Mensch,
Tier, Umwelt und wirtschaftlicher Entwicklung
- Drucksachen 15/2467, 15/4018 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
Cajus Julius Caesar
Undine Kurth ({1})
Angelika Brunkhorst
Die Redner Gabriele Lösekrug-Möller, Cajus Julius
Caesar, Dr. Maria Flachsbarth, Undine Kurth und
Angelika Brunkhorst haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben.1)
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit auf Drucksache 15/4018 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Naturschutz im
Miteinander von Mensch, Tier, Umwelt und wirtschaftli-
cher Entwicklung“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 15/2467 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau
und Deregulierung aus den Regionen und zur
Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/4231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Die Redner Dr. Rainer Wend, Dr. Hermann Kues,
Birgit Homburger und der Parlamentarische Staatssekre-
tär Rezzo Schlauch haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/4231 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann ({3}), ErnstReinhard Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung
- Drucksache 15/4261 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({6}), Vera Lengsfeld, Josef
Philip Winkler und weiterer Abgeordneter
Die Einheit der deutschen Sprache bewahren
- Drucksache 15/4249 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Innenausschuss
Aussschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche
2) Anlage 4
Bundestag hat in seiner bisher einzigen Befassung mit
der Rechtschreibreform vor sechs Jahren festgestellt:
„Die Sprache gehört dem Volk.“ An diesem kurzen Satz
zeigt sich das ganze Dilemma, das uns heute beschäftigt.
Das Thema Rechtschreibreform ist bekannt. Es dürfte
keinen im Land geben, den es nicht betrifft. Ich kann mir
also eine Zusammenfassung der Ereignisse ersparen.
({0})
Mir ist wichtig, festzuhalten - hören Sie zu, Herr
Tauss -, dass sich die Unionsfraktion im Deutschen
Bundestag mit einem Antrag deshalb zu dem Thema zu
Wort meldet, weil die Verunsicherung in der Bevölkerung erschreckend ist.
({1})
- Hören Sie zu, Herr Kollege Küster, dafür sind Sie zuständig. Die Tatsache, dass es im Bundestag möglich ist,
dass zwei Anträge zum gleichen Thema in verschiedener
Rechtschreibung erscheinen, ist legislative Schizophrenie. Unser Antrag fordert daher genau das, was der Titel
verspricht: Klarheit für eine einheitliche Rechtschreibung; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({2})
Um es ganz klar zu sagen: Es war ganz sicher keine
gute Idee, die Formulierung von Rechtschreibregeln zur
Sache der Politik zu machen.
({3})
Was schon im Jahre 1995/96 auf der Konferenz der Kultusminister begann, hat in den vergangenen acht Jahren
ein unglaubliches Chaos angerichtet.
({4})
Politik darf nicht Verwirrung stiften, sondern muss Verlässlichkeit erzeugen.
({5})
Der Deutsche Bundestag befasst sich angesichts der jetzigen Situation also zu Recht mit der Rechtschreibreform.
({6})
Der Notfall ist eingetreten.
({7})
Unser Antrag verhindert, dass der Eindruck entstehen
könnte, der Deutsche Bundestag sei an Klarheit und Einheitlichkeit der deutschen Orthographie nicht interessiert. Zugleich sage ich aber noch einmal, dass das Aufstellen von Rechtschreibregeln nicht Aufgabe des
Staates ist. Die Sprache gehört dem Volk.
({8})
Folgerichtig maßt sich unser Antrag nicht an, den
Bundestag aufzufordern, Entscheidungen über die Kommasetzung zu treffen; wir bitten vielmehr die Kultusminister der Länder, eine verbindliche Regelung herbeizuführen und das Nebeneinander verschiedener
Auffassungen und Schreibweisen zu beenden. Wir richten uns an die Kultusminister, weil wir die Lage realistisch einschätzen,
({9})
nicht etwa weil wir die Adressaten für die richtigen halten. „Realistisch“ meint: Die Kultusminister sind angesprochen, weil sie sich die Zuständigkeit angeeignet haben. Sie haben sich in politischer Regelungswut am
Heiligsten einer Kulturnation vergriffen: der Sprache.
({10})
Sie müssen jetzt die Größe haben, ohne Ansehen der eigenen Person, wieder einen gemeinsamen Sprachnenner
zu finden. Das müssen sie ein für allemal tun und dann
müssen sie ein für allemal die Finger davon lassen, die
Sprache noch einmal durch politische Eingriffe zu regeln.
({11})
Man interpretiert unseren Antrag nicht falsch, wenn
man die Erwartung herausliest,
({12})
- hör doch mal zu! - dass der Rat für deutsche Rechtschreibung Kompetenz und Möglichkeit haben muss,
das Dilemma zu beenden. Dass dies nur möglich ist,
wenn er tatsächlich alle relevanten Stimmen bündeln
kann, ist selbstverständlich. Das Ziel kann nicht sein, so
weiter zu machen wie bisher, nur mit neuen Gremien.
Der designierte Vorsitzende des geplanten Rates für
deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair,
({13})
forderte richtigerweise, dass sich die Politik in Zukunft
aus der Debatte über die neuen Schreibregeln heraushalten solle.
({14})
Nicht mehr die Politik, sondern der Rat wird die Reform
begleiten. Das Gremium soll die Einheitlichkeit der
Rechtschreibung im deutschen Sprachraum bewahren
und das orthographische Regelwerk weiterentwickeln.
Ich habe meine Bemerkungen zu den Länderministern schon gemacht. Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass
sich die Weiterentwicklung der Orthographie an der guten Lesbarkeit der deutsch geschriebenen Texte orientieren muss und nicht etwa daran, wie es gelingen
könnte, dass Schüler weniger Fehler beim Schreiben machen. Dieses falsche Denken, dieses Missverständnis ist
mit dafür verantwortlich, dass man die Kultusminister
für die Rechtschreibreform zuständig hielt. Wäre damals
im Deutschen Bundestag die Frage gestellt worden, ob
eine groß angelegte Reform notwendig sei und, wenn ja,
ob die Kultusminister sich ihr widmen sollten, wäre die
Antwort ein eindeutiges Nein gewesen.
({15})
Mit derselben Klarheit, mit der ich diese Frage damals beantwortet hätte, muss ich aber heute sagen: Es ist
geradezu absurd, zu denken, der Rechtschreibung in
Deutschland und im deutschen Sprachraum sei am besten gedient, wenn es jetzt das Kommando „Zurück zur
alten Rechtschreibung!“ gäbe.
({16})
Politik hat die Aufgabe - immer dann, wenn sie am erfolgreichsten ist, macht sie das und nimmt sich die Freiheit -, in jeder neuen Situation neu nachzudenken. Dabei
müssen wir uns, ob wir nun betroffen sind oder nicht, ob
wir beteiligt waren oder nicht, die Entscheidung der letzten Jahre bewusst machen und diese berücksichtigen. Ich
mache keinen Hehl daraus, dass es keine Werbeveranstaltung für Politik wäre, wenn eine alternde Politikergeneration, die vielleicht noch selbst eine ganze Schülergeneration in die neue Rechtschreibung getrieben hat, jetzt
sagte: Es gilt wieder alles, was vor zehn Jahren richtig
war. - Übrigens müsste man sich auch in Österreich und
der Schweiz erst an solche deutsche Sprunghaftigkeit gewöhnen.
({17})
Als Kultur- und Medienpolitiker muss ich noch auf
eines hinweisen, nämlich dass zwar „FAZ“, „Bild“, „Die
Welt“ sowie andere Medien des Springer-Verlages die
alte Rechtschreibung verwenden, aber - das ist interessant für manchen Abgeordneten - die Nachrichtenagenturen und sämtliche Lokalzeitungen bis auf eine die
neue;
({18})
von den Schulen und den staatlichen Einrichtungen, für
die die neue Regelung verbindlich ist, ganz zu schweigen.
Also noch einmal zusammenfassend: Wir wollen mit
unserem Antrag einfach Druck machen und eine
schnelle und tragfähige Lösung einfordern. Wir halten es
für unverantwortlich, dass Schüler in Deutschland im
Deutschunterricht über Kommentare aus Zeitungen sprechen, für die es seit dem Sommer bezogen auf die Rechtschreibung die Note „ungenügend“ geben würde. Dass
sich für die Schüler und Lehrer noch einiges ändern
muss und vielleicht zurückgenommen werden kann,
halte ich für zumutbar. Für den Erhalt der Vielfalt der
schönen deutschen Sprache halte ich das auch für notwendig.
Aber auch manche Zeitungen haben die Kraftprobe
mit der Politik vielleicht zu zeitig gesucht. Der „Spiegel“
ist sehr schnell wieder in Deckung gegangen.
({19})
Angesichts dieser Situation bin ich der Meinung, dass
sich der Deutsche Bundestag der Frage der Rechtschreibung nicht verschließen kann und dass er in dem geschilderten Rahmen auch zuständig ist. Zuständig ist er
schon deshalb, weil die Rechtschreibung der Sache nach
einheitlich sein muss und nicht in das Belieben einzelner
Länder gestellt werden kann. Unzweifelhaft ist auch die
auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Sache des Bundes. Fazit: Wer sich dem wichtigen entschiedenen und
entscheidenden Appell der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verschließt, verkennt die Situation.
({20})
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Anmerkung
in eigener parlamentarischer Sache. Herr Tauss, Sie haben sich hier so vehement eingesetzt. Es ist völlig unbegreiflich, warum die Führung Ihrer Fraktion mit großem
Ehrgeiz die gewählten Vertreter mündiger Bürger im
Deutschen Bundestag entmündigt, indem die Parole ausgegeben wurde, die Anträge der Opposition nicht zu unterstützen. Dieser aufgesetzte und an Künstlichkeit kaum
zu überbietende Fraktionszwang in der Frage der
Rechtschreibung macht das Parlament als Ganzes unglaubwürdig.
({21})
In dieser Frage, in der die richtungweisende Kraft des
Parlaments - nicht der Exekutive - offensichtlich ist,
lassen Sie sich Ihre Meinung vorschreiben, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Das kann ich nicht glauben.
Sie haben die Chance verpasst, sich mit einem eigenen Antrag zu diesem drängenden Thema zu Wort zu
melden. Mit Ihrer vorgeschriebenen Ablehnung unserer
Anträge können Sie nichts anderes als Ihr Desinteresse
zeigen. Das ist, wie Sie selbst gut wissen, nicht nur unangemessen, sondern auch verantwortungslos.
({22})
Bei einem Thema, das alle interessiert, nichts anderes als
Desinteresse zu zeigen, ist sicherlich nicht der richtige
Weg. Das werden die Zeitungen in Ihren Wahlkreisen,
denen das Thema durchaus nicht gleichgültig ist, zu
kommentieren wissen, und zwar - wie es aussieht - in
einer Rechtschreibung, zu der Sie offenbar keine Meinung haben.
({23})
Das wird der Kollege Eckhardt Barthel, dem ich nun
das Wort für die SPD-Fraktion erteile, vermutlich zu einem großen Teil zurückweisen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Rede von Herrn Nooke habe ich immer an eine kleine
weiße Maus denken müssen, die sich im Laufrad bewegt. Es ist erstaunlich, mit welchem Pathos Sie hier etwas vertreten haben, das es gar nicht gibt.
({0})
- Ja, der Wille zur Einheit.
Ich möchte erst einmal jemandem viel Erfolg für
seine Arbeit wünschen, und zwar Herrn Zehetmair, der
höchstwahrscheinlich am 17. Dezember den Vorsitz im
Rat für deutsche Rechtschreibung übernehmen wird.
Er ist auch unser Kollege in der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“. Ich glaube, er braucht Unterstützung und vor allem Erfolg. Er selbst gehört zu denen,
die genauso wie ich vieles kritisch sehen. Wir sollten ihn
in dem Versuch unterstützen, die Gegner und die Anhänger der Reform irgendwie zusammenzubringen und das
zu erreichen, was auch Sie wollen, nämlich Einigkeit.
Das ist nur auf diesem Weg möglich. Alles andere bedeutet ein Vortäuschen falscher Realitäten.
({1})
Sie haben Herrn Zehetmair zitiert, Herr Nooke. In der
„Welt“, die Ihnen sicherlich nahe steht, Herr Nooke, lautet die letzte Frage an Herrn Zehetmair: Was halten Sie
davon, dass sich der Bundestag der Rechtschreibung
noch einmal annehmen will? - Die Antwort ist eindeutig: Das ist ein Irrweg.
({2})
Wenn Sie schon Herrn Zehetmair zitieren, dann bitte
richtig!
Wir beraten heute zwei Anträge. Ich kann zusammenfassend feststellen: In dem Antrag der CDU/CSU steht
nichts Neues - er enthält nämlich nichts anderes als das,
was mit dem Rat bereits umgesetzt worden ist - und in
dem anderen Antrag wird zu viel gefordert und das auch
noch - das muss ich an dieser Stelle hinzufügen - viel zu
spät.
Erlauben Sie mir noch eine kurze Fußnote. In der
Presse wurde darüber berichtet, dass der eine Antrag in
der alten Rechtschreibung formuliert wurde und der andere in der neuen.
({3})
Ich habe mich gefragt, welcher das ist. Ich gestehe, dass
ich es beim Lesen nicht habe feststellen können. Vielleicht bin ich der Einzige. Erklären Sie es mir!
({4})
Ich bin zwar voll gegen den Gruppenantrag, weil sein
Inhalt falsch ist. Aber er ist ehrlicher als der Antrag der
CDU/CSU; denn im Gruppenantrag wird mit der Forderung nach völliger Rücknahme der Rechtschreibreform
klar Position bezogen. Angesichts der aktuellen Föderalismusdebatte finde ich es aber ein bisschen anmaßend,
wie Sie auf Bundesebene den einheitlich gefassten Beschluss der Ministerpräsidenten, die dafür zuständig
sind, quasi aufheben wollen. Herr Otto, ich finde es ein
bisschen happig, wie weit Sie dort gehen. Ich möchte Ihnen folgenden Satz aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zuständigkeit zitieren: Regelungen
über die richtige Schreibung für den Unterricht in den
Schulen fallen in die Zuständigkeit der Länder.
({5})
Wir wollen doch - genauso wie Sie in Ihrem Antrag die Einheitlichkeit der Sprache gewährleisten. Wer das
will, kann nicht fordern, dass nur der Bund zuständig
sein soll.
({6})
- Eben, Herr Otto, wir wollen aber eine einheitliche
deutsche Sprache. Darüber sollten wir uns doch einig
sein.
({7})
Der Rechtschreibreform einige Zähne zu ziehen - in
der Tat gibt es mehrere Stellen, an denen man sich fragt,
wie das zustande gekommen ist - wird die Aufgabe des
Rates für deutsche Rechtschreibung sein; das ist die einzige Chance. Wenn er es nicht schafft, ist der Zug abgefahren. Deshalb unterstütze ich den Rat und nicht Schauanträge. Wenn die Anträge, die wir heute überweisen,
aus den Ausschüssen irgendwann zurückkommen, dann
hat der Rat - so hoffe ich jedenfalls - einen großen Teil
seiner Arbeit schon erfolgreich erledigt.
({8})
Sie wärmen sich die Hände an einem populistischen
Feuer. Mehr ist das nicht, was Sie hier machen.
Lassen Sie mich zum Schluss den Deutschen Kulturrat zitieren, der wohl auch etwas mit Sprache zu tun hat:
Man kann nur hoffen, dass die unendliche Geschichte Rechtschreibreform nach der Kultusministerkonferenz jetzt nicht auch noch den Deutschen
Bundestag dauerhaft beschäftigen wird.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Eckhardt Barthel ({9})
Danke schön.
({10})
Herr Kollege Barthel, schon die Redezeitbegrenzung
steht der dauerhaften Beschäftigung des Bundestages
wirkungsvoll im Wege.
Nun hat der Kollege Hans-Joachim Otto für die FDPFraktion das Wort.
Der Deutsche Bundestag ist der Überzeugung, dass
sich die Sprache im Gebrauch durch die Bürgerinnen und Bürger, die täglich mit ihr und durch sie leben, ständig und behutsam organisch weiterentwickelt. Mit einem Wort: Die Sprache gehört dem
Volk.
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dieses Hohe
Haus im März 1998 mit Mehrheit beschlossen.
({0})
Genau hiergegen verstößt die Rechtschreibreform und
genau hier liegt der Kardinalfehler.
({1})
Es war ganz sicher ein Fehler, zu glauben, dass man
die sensible, dynamische Struktur einer Sprache in
eine staatliche Verordnung zwängen könnte.
Ausgerechnet derjenige, der dies sagte, ist jetzt beauftragt, die deutsche Sprache in eine staatliche Verordnung
zu zwängen. Es ist der designierte Vorsitzende des Rates
für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair. An dem
jahrhundertelang in Deutschland, aber auch in den allermeisten anderen europäischen Kulturnationen bewährten
Gebot einer behutsamen und organischen Sprach- und
Rechtschreibentwicklung durch das Volk haben sich die
Bürokraten der zwischenstaatlichen Kommission versündigt.
({2})
Sie folgten bewusst oder unbewusst der Ideologie eines
Initiators der Reform, des SED- und PDS-Mitglieds
Dieter Nerius, der die Rechtschreibreform wörtlich bezeichnete als „eine Maßnahme der Sprachlenkung, die
nur vom Staat durchgesetzt werden kann“.
({3})
Staatliche Sprachlenkung ist genau das, was die Unterzeichner des Gruppenantrags jetzt und für alle Zukunft
verhindern möchten.
({4})
- Lieber Herr Tauss, Sie sollten lieber schweigen.
Es sind weit mehr Kolleginnen und Kollegen, die den
Inhalt dieses Gruppenantrags unterstützen. Ich nenne
hier die Kollegin Dr. Vollmer und den Kollegen Winkler
von den Grünen - ich hoffe, ich schade ihnen nicht -, die
diese Position inhaltlich teilen.
({5})
Eine nicht geringe Zahl von Kollegen aus Ihrer Fraktion,
lieber Herr Tauss, haben mir gesagt, sie würden diesen
Antrag gern unterstützen, sähen sich daran aber durch
den Druck Ihrer Fraktionsführung gehindert. Das ist ein
Armutszeugnis für die Fraktionsführung.
({6})
Es gab in der deutschen Geschichte schon einmal einen Versuch staatlicher Sprachlenkung, nämlich die
Rechtschreibreform von 1876. Schon damals scheiterte
der Versuch nachhaltig. Auch die jetzige Rechtschreibreform ist grandios gescheitert. Sie hatte zwei zentrale
Ziele:
Erstens: die einfachere Erlernbarkeit. Das Gegenteil ist eingetreten. Nach einer jüngst veröffentlichten
Untersuchung hat die Rechtschreibreform das Erlernen
der Orthographie nicht etwa vereinfacht, sondern, im
Gegenteil, erschwert. Die Anzahl der Regeln hat nicht
ab-, sondern zugenommen.
Zweitens: die Einheit der deutschen Sprache. Dieses Ziel ist - das ist nun wirklich unbestreitbar - wirklich völlig verfehlt worden. Das Gros der Schriftsteller,
darunter die Nobelpreisgewinner Günter Grass und
Elfriede Jelinek, die führenden Buchverlage, die bedeutendsten Zeitungen und Zeitschriften, die gesamte deutsche Schreibkultur, nicht zuletzt zwei Drittel des deutschen Volkes - Sie wollen doch noch immer eine
Volkspartei sein - haben sich von der Neuschreibung mit
Grausen abgewandt.
({7})
Wer die Einheit der deutschen Sprache will - wir wollen
sie -, der muss von einer staatlich verordneten Schlechtschreibreform konsequent Abstand nehmen.
({8})
Abschließend möchte ich noch auf einige Einwände
eingehen:
Der Bundestag ist - Herr Schmidt, das sagen Sie
doch immer - unzuständig. Ich frage Sie, warum die
Bundesregierung das entscheidende Dokument, nämlich die „Wiener Absichtserklärung“, mit unterzeichnet hat. Die Bundesregierung hat mit verhandelt und
Hans-Joachim Otto ({9})
mit unterzeichnet. Wir Bundestagsabgeordneten sind in
jedem Fall berechtigt, einen Appell an die KMK zu
richten.
Abwegig ist auch der Hinweis auf angebliche Mehrkosten: Selbst die glühendsten Verfechter der Reform
({10})
wollen nochmals nachbessern. Die Schulbücher müssen
also ohnehin umgeschrieben werden.
Nun zum Hinweis auf die Schüler, die die neuen Regeln bereits gelernt haben.
({11})
Antje Vollmer hat völlig Recht: Wir müssten uns bei den
Schülern entschuldigen,
({12})
sie das Falsche gelehrt zu haben. Unsere Bereitschaft,
aus Fehlern zu lernen und sie für die Zukunft zu korrigieren, hat im Übrigen Vorbildfunktion, vor allem für
Kinder.
Zum Abschluss noch ein Wort zum viel zitierten Rat
für deutsche Rechtschreibung. Dass dies eine bloße
Alibiveranstaltung ist,
({13})
in der sich die Bürokraten eine satte Mehrheit gesichert
haben, belegt der wohl begründete Rückzug des
P.E.N.-Zentrums und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Den designierten Vorsitzenden dieses
Rates, den von mir wirklich sehr geschätzten Hans
Zehetmair, möchte ich an seine eigene Erkenntnis vom
vergangenen Jahr erinnern.
Sie müssen sich jetzt aber sehr beeilen. Ich hoffe, das
ist Ihnen klar, Herr Kollege.
Das tue ich. Ich zitiere noch Herrn Zehetmair und
dann bin ich fertig.
Zehetmair sagte:
Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen
dürfen. Die Politik darf sich nicht anmaßen, die
Sprache zu reglementieren.
Lieber Hans Zehetmair, auch der Rat darf sich nicht anmaßen, die Sprache zu reglementieren. Geben Sie die
Sprache dem Volk zurück! Verzichten Sie auf eine staatlich verordnete Rechtschreibreform.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Winkler das Wort.
({0})
Das werden wir ja gleich sehen, Herr Schmidt. - Herr
Präsident! Da mich der Kollege Otto hier unerhörterweise angesprochen hat, muss ich jetzt zu meinem Verhalten, was den Antrag betrifft, doch Stellung nehmen.
Zum einen ist es so - auch Sie haben das schon erleben können -: Das Verhalten eines Abgeordneten einer
Regierungsfraktion wird manchmal mehr in geordnete
Bahnen gelenkt, als man es sich als frei gewählter Abgeordneter wünscht. In diesem Fall war es so, dass die Vorstände beraten und sich darauf geeinigt haben, diese Abstimmung nicht freizugeben. Vermutlich hat man
gedacht, Ihrem Antrag, Herr Kollege Otto, werde gefolgt, wenn man die Abstimmung darüber freigibt. Dementsprechend habe ich mich dazu hinreißen lassen,
meine Unterschrift zurückzuziehen, obwohl ich Ihren
Antrag vollinhaltlich unterstütze. Das will ich hier noch
einmal sagen.
({0})
Zum anderen sagen die Befürworter, man dürfe es
den Kindern nicht antun, die Reform jetzt wieder zurückzunehmen. Das ist, finde ich, eine perfide Argumentation; denn die, die von Anfang dagegen waren, haben
gerade der Kinder wegen davor gewarnt, diese komplette Umstellung vorzunehmen. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen.
({1})
Der Herr Zehetmair gehört auch zu denen, die die Reform gegen die breite Öffentlichkeit in Deutschland
durchgepeitscht haben. Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn der, der das gegen den Widerstand der
breiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, jetzt den Vorsitz
übernimmt und sagt, es sei ein Irrweg, wenn sich der
Bundestag damit befasse.
({2})
Das ist überfällig. Es ist eine Schande, dass Herr
Zehetmair diesen Vorsitz übernimmt. Die Zusammensetzung des Gremiums ist völlig inakzeptabel. Meiner
Meinung nach ist es richtig, dass sich die Reformgegner
nicht darauf einlassen, da mitzuarbeiten.
Wenn die Anglizismen, deren Übernahme immer wieder heftig kritisiert worden ist, der GAU waren, dann ist
die Rechtschreibreform der Super-GAU der deutschen
Sprache.
Herzlichen Dank.
({3})
Das war eine bemerkenswerte Kurzintervention, die
insbesondere wegen der subtilen Hinweise auf das gelegentliche Spannungsverhältnis zwischen individueller
Meinungsbildung und Absichten der eigenen Fraktion
keiner Erwiderung des Angesprochenen bedarf,
({0})
was uns Redezeit spart.
({1})
- Nach der Geschäftsordnung hat er immer Recht. Damit
können wir das abschließen.
Nun hat die Kollegin Grietje Bettin das Wort.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlicherweise muss ich wohl sagen, dass ich an
der Rechtschreibreform ebenso wenig Freude hatte, wie
ich Freude an der Diskussion habe, die wir heute führen,
nämlich an der Diskussion darüber, sie wieder rückgängig zu machen.
({0})
Es war schon damals ein öffentliches Ärgernis. Kaum
jemand in Deutschland konnte so richtig verstehen,
({1})
warum die Reform überhaupt notwendig war. Entsprechend negativ war dann auch die öffentliche Stimmung.
Doch damit nicht genug: In meinem Heimatland
Schleswig-Holstein wurde die Reform der Rechtschreibung durch einen Volksentscheid gestoppt,
({2})
aber nur für ein Jahr; denn im Sinne der gesamtstaatlichen Verantwortung und der nationalen Identität, die in
den heute vorliegenden Anträgen vielfach beschworen
werden, musste die Landesregierung ein Jahr später
- gemeinsam übrigens mit der CDU-Opposition - diesen
Entscheid missachten.
({3})
Sie erklärte gegen den entschiedenen Willen der Bevölkerungsmehrheit die Rechtschreibreform wieder für verbindlich. Man hatte keine andere Wahl. Der Schaden für
die schleswig-holsteinischen Schülerinnen und Schüler,
die Schulen und nicht zuletzt auch die Schulbuchverlage
wäre einfach zu groß gewesen. Auf die Schlussfolgerungen aus diesem unerfreulichen Beispiel für die föderale
Ordnung will ich hier nicht zu sprechen kommen.
Absurd waren allerdings manche Abwehrversuche
der Reformgegner. Eltern klagten im Namen ihrer Kinder dagegen, dass ihre Sprösslinge die neue Rechtschreibung in der Schule erlernen - mit dem Ergebnis, dass
diese für die Dauer des Deutschunterrichts die Klasse
verlassen mussten, um in einem Extraraum ganz allein
einen gesonderten Unterricht zu genießen.
({4})
Effektiver kann man ein Kind nicht zu einem Außenseiter stempeln.
({5})
Eine simple Kehrtwende zur alten Rechtschreibung mehr als ein halbes Jahrzehnt nach der Einführung
der neuen Rechtschreibung halte ich politisch für absolut
nicht verantwortbar. Diejenigen, die mit der neuen
Rechtschreibung Schwierigkeiten haben und am lautesten „Zurück!“ rufen, haben früher in der Schule die alte
Rechtschreibung gelernt und haben einfach keine Lust,
sich umzustellen. Das ist verständlich; das geht mir zum
Teil auch so.
({6})
Völlig unverständlich aber ist, dass nun gerade den betroffenen Schülerinnen und Schülern zugemutet werden
soll, nach wenigen Jahren noch einmal umzulernen.
({7})
Wir als Abgeordnete können schreiben, wie wir wollen;
aber Schülerinnen und Schüler haben keine Wahl.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt, der in diesem Gruppenantrag leider kaum
Berücksichtigung findet: Die Leidtragenden - 13560
Frau Kollegin Bettin, Ihr Hinweis, dass Abgeordnete
schreiben könnten, wie sie wollten, veranlasst den Kollegen Otto zu einer Zwischenfrage.
Bitte, Herr Kollege Otto.
({0})
- Wir kontrollieren in Zukunft mal, wie er schreibt.
Liebe Frau Kollegin Bettin, nachdem Sie eben gewarnt haben, dass die Schüler noch einmal umlernen
müssten, möchte ich Sie fragen, welche Funktion der
Rat für deutsche Rechtschreibung überhaupt haben
soll, wenn er nicht neue Änderungen einführen soll?
({0})
Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass die Schüler
und auch die deutsche Öffentlichkeit ohnedies erneut gezwungen werden sollen, zum fünften Mal mit neuen Änderungen an der Reform, mit einer Reform der Reform
umzugehen? Müssen die Schüler nach dieser Murksreform nicht sowieso erneut umlernen?
({1})
Es ist so, dass sich Sprache permanent weiterentwickelt und wir auch immer wieder neu dazulernen müssen. Wir haben immer klar gesagt, dass man da in vielen
Bereichen keine Vorschriften machen kann. Nichtsdestotrotz ist es jetzt so, dass die Schulbücher gemäß den
Vereinbarungen der neuen Rechtschreibung angepasst
wurden. Daran müssen wir jetzt festhalten.
({0})
- Sie müssen nicht in der Form umgeschrieben werden,
wie es bei Einführung der neuen Rechtschreibung der
Fall war. Der Ehrlichkeit halber sollten wir uns schon
eingestehen, dass es nicht zu substanziellen Veränderungen durch Vorschläge dieses Rates kommen wird.
({1})
- Das weiß ich nicht. Es geht aber hier nicht darum,
Herrn Zehetmair zu gefallen.
Ich möchte noch auf einen entscheidenden Punkt eingehen, der auch im Gruppenantrag nicht berücksichtigt
wurde. Die Leidtragenden einer Rechtschreibreform sind
nicht „FAZ“-Leserinnen und -Leser und einige große Zeitungsverlage, auch wenn sich diese als besonders gebeutelt hinstellen und vor Selbstmitleid fast zerfließen. Dieses Verhalten der Verlage hat maßgeblichen Anteil an
der derzeitigen Verunsicherung der Bevölkerung. Die
unabgestimmte und teilweise reißerisch begleitete Rückkehr zur alten Rechtschreibung zeugt nicht gerade von
Verantwortungsbewusstsein in den Chefredaktionen.
({2})
Das muss ich auch als Medienpolitikerin leider feststellen.
({3})
Die Betroffenen einer Rücknahme der Reform wären
die Schülerinnen und Schüler, vor allem diejenigen,
die das Schreiben und Lesen erst noch lernen müssen.
Diesen Aspekt in der Argumentation außen vor zu lassen, zeugt von Ignoranz gegenüber der PISA-Erkenntnis,
({4})
gemäß der deutschen Schülerinnen und Schülern das Erlernen von Lesen und Schreiben in der Schule ohnehin
nicht besonders leicht fällt. Ich halte deshalb ein Einknicken und ein Zurück zur alten Rechtschreibung für
bildungspolitisches Abenteurertum, übrigens auch aus
Kostengründen.
({5})
Allein für neue Schulbücher müssten dreistellige Millionenbeträge ausgegeben werden. Dieses Geld würde
an anderer Stelle fehlen.
({6})
In Niedersachsen und im Saarland, wo es keine Lehrmittelfreiheit mehr gibt, müssten die Eltern wieder neue Bücher bezahlen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Bildungsbereich wirklich Wichtigeres zu tun,
({8})
als Geld für eine sich ständig ändernde Orthographie zusammenzukratzen. Wir brauchen das Geld dringend für
besseren Unterricht, für mehr Ganztagsschulen und viel
frühere Förderung. Die in den letzten Tagen erschienene
OECD-Studie zu den Kindergärten sagt uns doch eindeutig, wohin die Reise gehen soll.
Natürlich darf der Bundestag über solch ein Thema
von nationaler Bedeutung auch dann beraten, wenn er
selbst hierfür keine Gesetzgebungskompetenz hat.
({9})
Der Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel „Klarheit
für eine einheitliche Rechtschreibung“ greift durchaus
einige wichtige Punkte der Debatte auf. Einige Teile der
darin enthaltenen Analyse sind meines Erachtens durchaus treffend formuliert.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meiner Meinung
nach steht die KMK hier in der Verantwortung und muss
im Interesse der Schülerinnen und Schüler handeln. Ich
hoffe, alle Beteiligten und insbesondere die Medien nehmen ihre Verantwortung für die nachfolgende Generation wahr, indem sie zu einer konstruktiven Lösung des
Problems beitragen. Auch wir als Abgeordnete haben
grundsätzlich diese Verantwortung wahrzunehmen. Ich
finde, dass diese Debatte bisher reichlich rückwärts gewandt war.
({11})
Deshalb hoffe ich, dass wir bei der Diskussion in den
Ausschüssen doch gemeinsam zu einer Lösung des Problems kommen.
Danke schön.
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Steinbach das Wort.
({0})
Liebe Kollegin, man muss schon sagen, Ihre Argumente hinken auf beiden Beinen. Sie haben aus Schleswig-Holstein berichtet und wollten damit plausibel machen, warum man eine Rechtschreibreform, die erst
einmal probeweise eingeführt worden ist, nach Ende der
Probezeit auf keinen Fall mehr rückgängig machen
könnte. Sie sagten, das Ganze würde keinen Sinn machen.
Dann darf man die Reform nicht probeweise einführen, sondern muss sie von Anfang an endgültig einführen.
({0})
Zweitens. Wir können als Politiker natürlich tagtäglich prachtvoll über die Meinung unserer Bürger hinwegregieren und -agieren. Ob das besonders klug ist, möchte
ich mit drei Fragezeichen versehen.
({1})
Es kommt noch eines hinzu: Die gesamte intellektuelle schreibende Zunft hat sich gegen diese Rechtschreibreform gewandt. Gestern Abend erst hat Günter
Grass im Nachbargebäude der Dresdner Bank gesagt, er
sei empört über diese Rechtschreibreform. Er hat auch
seine Gründe dargelegt. Günter Grass ist nun kein Niemand, sondern er hat ein profundes Wissen.
Meine lieben Freunde, es wird immer mit dem, was
die Kinder schon gelernt haben, argumentiert. Die übergroße Mehrheit in unserem Lande schreibt nach den alten Rechtschreibregeln oder ist inzwischen so irritiert,
dass sie überhaupt nicht mehr richtig schreiben kann. Zu
dieser Gruppe gehöre ich inzwischen. Es ist alles sehr
kompliziert. Man kann eigentlich nur noch mit Goethe
sagen:
Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem
Meer des Irrtums aufzutauchen. Was man nicht
weiß, das eben brauchte man, und was man weiß,
kann man nicht brauchen.
({2})
In der Zwischenzeit hat der Kollege Schmidt mir mitgeteilt, er fühle sich wie alle anderen Kollegen von dieser
Kurzintervention persönlich unmittelbar angesprochen,
verzichte aber nach gutem Zureden des Präsidenten auf
die Möglichkeit einer Erwiderung. Das möchte ich ausdrücklich lobend festhalten.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen HeinrichWilhelm Ronsöhr für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, auch nach den beiden Kurzinterventionen, dass es Not tut, in dieser Debatte endlich ein
Stück weit ehrlicher zu werden. Wenn wir an der Reform
überhaupt nicht rütteln dürften, Frau Bettin, gäbe es ja
den Rat für deutsche Rechtschreibung mit dem designierten Vorsitzenden Herrn Zehetmair nicht.
({0})
Letztlich sehen doch auch diejenigen, die die Rechtschreibreform eingeführt haben, Reformbedarf, weil sie
manches für nicht plausibel halten.
({1})
- Ich habe Frau Bettin angesprochen, weil sie das nachhaltig bestritten hat. - Ich finde es falsch, jetzt damit zu
argumentieren, die Schulbücher müssten neu gestaltet
werden. Die müssen auch neu gestaltet werden, wenn
Herr Zehetmair und seine Kommission ihre Arbeit abgeschlossen haben; denn er hat schon einigen Änderungsbedarf angekündigt.
({2})
Wir sollten bitte ehrlich zugeben, dass die Rechtschreibreform viele Verwirrungen hinterlassen hat. Sprache, auch die geschriebene Sprache, soll faszinieren.
Nach meinem Eindruck ist das Einzige, was in Deutschland noch fasziniert, die Verwirrung über die Rechtschreibreform.
({3})
Insofern hoffe ich wirklich - das hoffe ich gemeinsam
mit Ihnen, Herr Barthel -, dass der Rat für deutsche
Rechtschreibung erkennt, wie wichtig unsere Aufgabe
ist.
({4})
Ich lege ja nicht, wie Herr Zehetmair in der „Welt“ unterstellt hat, ein Regelwerk für die Rechtschreibung fest,
sondern ich mache meine Sorge deutlich, dass es zu einer uneinheitlichen Rechtschreibung in Deutschland
kommt.
({5})
Natürlich kann man sagen: Die Schüler müssen so
schreiben, wie es die Kultusminister festgelegt haben.
Das ist richtig. Aber wenn die Schüler die Einzigen sind
({6})
und Verlage oder Schriftsteller nach den alten Regeln
schreiben - Frau Steinbach hat eben zu Recht darauf hingewiesen -, dann lernen die Schüler nur für die Schule,
aber nicht für das Leben. Deshalb gilt es, die Rechtschreibregeln wieder mit mehr Akzeptanz zu versehen.
Wir können die Reform nur dann noch erfolgreich gestalten, wenn wir Herrn Zehetmair und seine Kommission befähigen, das Reformwerk so auszugestalten, dass
es zu einer größeren Akzeptanz der Regeln kommt. Ich
denke zum Beispiel an die verwirrenden Regeln bei
Trennungen oder bei eingedeutschten Anglizismen, auf
die Sie zu Recht hingewiesen haben und aus denen manche Fehler herrührt. Oft weiß man wirklich nicht, weshalb ein Begriff so und nicht anders geschrieben wird.
({7})
In der Rechtschreibreform fehlt es an einer Plausibilitätskontrolle. Das zu verbessern und zu verändern, aber
andererseits eine Einheitlichkeit bei der Rechtschreibung
zu erhalten, ist, glaube ich, ungemein wichtig. Von daher
ist unser Antrag sinnvoll.
Meine Damen und Herren, wenn der Bundestag sich
bei der Sprache nicht einmal dieses Themas annehmen
darf, dann verstehe ich unsere Aufgabe nicht richtig.
({8})
Dann können wir auch den Kulturausschuss gleich wieder einstampfen. Denn ich glaube, dass Sprache ein ganz
wichtiges Anliegen des Kulturausschusses und damit
auch des Deutschen Bundestages ist. Ich finde es von daher richtig, dass der Bundestag sich heute dieser Diskussion annimmt, vielleicht auch mit unterschiedlichen Akzenten.
Hoffentlich gelingt es wirklich, die unterschiedlichen
Stränge wieder zusammenzuführen. Für mich ist es ungemein wichtig, dass wir das Sinnvolle an der Reform
erhalten, aber das Sinnlose beseitigen.
({9})
Dass es Sinnloses gibt, geben doch inzwischen alle zu.
Tun wir doch nicht so, als wenn wir das noch bestreiten
müssten! Dass es manches Sinnlose zu beseitigen gibt,
ist auch in der Rede von Herrn Barthel deutlich geworden. Das hier zu bestreiten ist doch falsch. Wenn wir das
kritisch hinterfragen, stellen wir fest, dass wir da gar
nicht so weit voneinander entfernt sind.
({10})
Betonen wir auch einmal die Gemeinsamkeiten!
({11})
- Wir bauen keinen Popanz auf. Ich glaube, dass es kein
Popanz ist, über Sprache, Sprachentwicklung und Rechtschreibung zu sprechen. Wenn Rechtschreibung nur
noch etwas mit Recht-haben-Wollen zu tun hat - ({12})
- Dann kann ich nicht verstehen, was die Kultusminister
gemacht haben.
({13})
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass es zu einigen Korrekturen kommt und dass Herr Zehetmair die eigene Reform so korrigieren kann, dass sie eine größere
Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung und im
deutschen Sprachraum findet. Diese Akzeptanz anzustreben ist ungemein wichtig. Wenn uns das durch diese
Debatte gelingt, dann tragen alle dazu bei, auch diejenigen, die sich von der neuen Rechtschreibung wieder entfernt haben und zur alten zurückgekehrt sind. Dann haben auch sie etwas Sinnvolles für unser ganzes deutsches
Volk geleistet.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({14})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Nein, lieber Kollege Otto, diesen Gefallen tue ich Ihnen heute nicht.
Lieber Herr Präsident! Frau Landesvorsitzende!
Heute beenden wir das Sommertheater, das hier begonnen worden ist.
Sie fangen aber so an, als wollten Sie es fortsetzen.
Wir reden hier übrigens über 0,5 Prozent des Wortschatzes, um einmal die Dimension klar zu machen.
Es ist interessant, einmal aufzurollen, wie das Sommertheater begonnen hat. Ausgangspunkt waren zwei
Unionsleute: ein Ministerpräsident, ein Möchtegern-Ministerpräsident. Beide sind mit ihrem Anliegen als Bettvorleger gelandet.
({0})
Von Tigern ist nicht die Rede.
Interessant ist aber die Historie. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU, 1988
wurde die Debatte in Gang gesetzt, zu Ihrer Regierungszeit. Der KMK-Beschluss erfolgte 1996, zu Ihrer Regierungszeit. Damals war übrigens Herr Rüttgers Bildungsminister. In dieser Zeit hat man von ihm überhaupt
nichts zu diesem Thema gehört.
({1})
Erst als er Oppositionsführer in NRW war, hat er sich gedacht, er müsse zu diesem Thema reden.
Er war übrigens nicht einmal zuständig. Interessanterweise war das damals Herr Kanther. Warum ausgerechnet Herr Kanther für die Rechtschreibreform zuständig
war, weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich mehr mit
schwarzen Koffern beschäftigt, als die Probleme, die Sie
alle beklagen, aufgetaucht sind.
({2})
Aber er veranstaltete eine Anhörung, zu der ich übrigens
noch komme.
Die zweite illustre Gruppe waren die Chefredakteure
von „Spiegel“, „FAZ“ und „Bild“, die einmal Politik machen wollten. Dass ausgerechnet das Gaga-Blatt „Bild“
als Hüterin der deutschen Sprache auftritt, ist eigentlich
eine Peinlichkeit.
({3})
Frau Kollegin Vollmer, Sie wissen, dass ich Sie sehr
schätze. Aber dass Sie sich heute von der „Bild“-Zeitung
für Ihren Beitritt zu diesem Antrag haben feiern lassen,
finde ich schade.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die dritte Gruppe
nehme ich ernst: Die Schriftsteller äußern sich in großer
Sorge um die deutsche Sprache.
({4})
Aber diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind
überhaupt nicht betroffen; denn sie haben die künstlerische Freiheit, zu schreiben, wie sie wollen. Wenn sie
wollen, können sie Schifffahrt und den Pfiff des Schiffes
oder eines Zuges mit fünf „f“ schreiben.
({5})
- So weit zur Einheit der deutschen Sprache.
Lieber Kollege Ronsöhr, zu dem Minnesang möchte
ich Folgendes sagen.
Herr Kollege Tauss, sind Sie bereit - wenn ja, in welcher Reihenfolge -, Zwischenfragen der Kollegin
Lengsfeld und des Kollegen Bergner zu beantworten?
Ich würde die Fragen in dieser mir sympathischen
Reihenfolge zulassen.
Frau Lengsfeld, bitte schön.
Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich mit dem Minnesang fortfahre.
Herr Kollege Tauss, Sie haben sicherlich Recht, wenn
Sie sagen, dass die Schriftsteller nach wie vor schreiben
können, wie sie wollen. Ist Ihnen aber bewusst, dass es
eine Verordnung gibt, nach der nur Texte in Schulbüchern abgedruckt werden dürfen, die in der neuen
Rechtschreibung verfasst sind? Beispielsweise würden
Texte des Schriftstellers Reiner Kunze, der in der DDR
verfolgt wurde und der seit Jahren ein sehr engagierter
Kämpfer für die alte Rechtschreibung ist, aus den Schulbüchern verschwinden, nur weil sie in der alten Rechtschreibung verfasst wurden. Finden Sie das wirklich angemessen?
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie irren sich.
({0})
Sowohl der Minnesang, über den ich vorhin sprechen
wollte, als auch die Stücke von Goethe - denken Sie beispielsweise an den Urfaust - sind selbstverständlich in
der damaligen Rechtschreibung abgedruckt. Probleme
tauchen nur auf, wenn im Unterricht Texte aus Zeitungen
behandelt werden. Da würde ich den Schulen empfehlen,
nur die Zeitungen für den Unterricht heranzuziehen, die
sich vernünftigerweise der neuen Rechtschreibung bedienen.
({1})
Jetzt ist der Kollege Bergner an der Reihe.
Herr Kollege Tauss, ich möchte an die Frage von Frau
Lengsfeld anschließen. Wir sind nun beide Mitglieder
des Bildungsausschusses. Halten Sie es tatsächlich für
pädagogisch sinnvoll, wenn wir Schülern in den Schulbüchern eine andere Rechtschreibung vermitteln, als sie
in der Literatur zu finden ist?
({0})
Lieber Kollege Bergner, auch diese Frage zielt ein
bisschen am Problem vorbei,
({0})
weil im Unterricht Literatur verwendet wird, die in der
Tat die unterschiedlichsten Formen der Rechtschreibung
aufweist. Es kommt darauf an, zu welcher Zeit die Literatur verfasst worden ist.
({1})
Das gilt übrigens auch für Theaterstücke.
Eine Hauptschullehrerin aus meinem Wahlkreis sagte
mir heute - ich musste wegen einer Beerdigung heute
Mittag dorthin fahren -, dass die Schülerinnen und
Schüler mit der neuen Rechtschreibung bestens zurechtkommen. Diese Lehrerin hat mich gebeten, heute Abend
meinen Kolleginnen und Kollegen auszurichten, dass es
im Unterricht mit der neuen Rechtschreibung weniger
Probleme gibt als mit der von Ihnen so geschätzten alten
Rechtschreibung.
({2})
Ich möchte noch eine Bemerkung zu den Journalistinnen und Journalisten sowie zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern machen.
({3})
Herr Kanther hatte 1996 zu einer Anhörung eingeladen
und um eine Stellungnahme zur Rechtschreibreform gebeten. Keine der Gruppen der Schriftsteller und Publizisten, die um eine Stellungnahme gebeten wurden, hat sich
geäußert: weder die beiden PEN-Zentren in Ost und
West noch der Deutsche Journalisten-Verband oder die
Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ich halte es zum Teil für heuchlerisch,
wenn sich heute diese Gruppen zum Wortführer aufschwingen. Sie haben in den vergangenen Jahren „gepennt“. Erst als die Entscheidung gefallen war, haben sie
sich gemeldet.
({4})
Ich sage noch einmal, dass wir uns über nur 0,5 Prozent
des Wortschatzes aufregen.
Herr Kollege Otto, ich weise Ihren Vorwurf, der nicht
fair ist, zurück. Was müssen Sie für ein Politikverständnis haben, dass Sie hier die Politik rügen? Politik darf
und muss Entscheidungen fällen. Wir sollten uns deswegen nicht gegenseitig beschimpfen. Hier ist aber zu sagen, dass das Regelwerk nicht von der Politik erarbeitet
worden ist.
({5})
Das Regelwerk ist von der zwischenstaatlichen Kommission erarbeitet worden, die aus fachlich ausgewiesenen Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz
bestand und die ab 1988 im Auftrag der KMK und des
BMI gearbeitet hat.
({6})
In dem Antrag der Unionsfraktion werden die Kultusminister der Länder aufgefordert, schnellstmöglich dafür
zu sorgen, dass der unbefriedigende und verunsichernde
Zustand durch eine klare Entscheidung beendet wird. Ich
bleibe dabei - mit meinem Zwischenruf habe ich es vorhin schon zum Ausdruck gebracht -, dass die Verunsicherung allein durch diejenigen verursacht wird, die seit
dem Sommer diese Debatte über die Rechtschreibreform
führen.
({7})
Sie war im Grunde genommen nahezu abgeschlossen.
({8})
Wenn Sie, Herr Kollege Otto, sagen, dass Sie sich von
Bürokraten nicht vorschreiben lassen, wie Sie zu schreiben haben, dann kann ich nur sagen: Dieses Argument
hätte mir früher als Schüler einfallen müssen. Was wäre
wohl passiert, wenn ich das meiner Lehrerin entgegengeschmettert hätte? Wo sind wir denn überhaupt?
({9})
Selbstverständlich brauchen wir Regeln im Unterricht,
nach denen gearbeitet werden kann.
Die Kollegin Bettin hat die Frage der Kosten angesprochen. Ich kann daher darauf verzichten, dies ausführlich darzustellen.
Eines tröstet mich: Die „FAZ“, die sich mit an die
Spitze der Bewegung gegen die Rechtschreibreform gestellt hat, titelte, wie ich kürzlich gelesen habe, über einen Beitrag - ich glaube, es ging um Fußball - nur ein
Wort: „Albtraum“. Sie schrieb Albtraum mit „b“.
({10})
Das heißt, selbst die Gegner der Reform haben die Reform schon so verinnerlicht, dass sie auf die bewährten
neuen Reformvorschriften zugreifen. Das tröstet mich.
({11})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor wir nun - ({0})
- Kann ich denn nun die Aussprache schließen?
({1})
Dann erlaube ich mir drei knappe Bemerkungen, bevor wir die diskutierten Vorlagen vermutlich an die vorgesehenen Ausschüsse überweisen.
Erstens. Dass der Deutsche Bundestag ein Thema auf
seine Tagesordnung setzt, das die deutsche Öffentlichkeit ganz offensichtlich intensiv beschäftigt und das von
deutschen Klassenzimmern bis zu deutschen Akademien
manche Aufregungen erzeugt hat, ist gewiss nicht zu beanstanden, auch wenn es für solche Initiativen neben
freundlichen auch unfreundliche Kommentare gegeben
hat.
({2})
Zweitens. Ich finde im Angesicht vieler Aufregungen
um die Rechtschreibreform die Erfahrung eher tröstlich,
dass es in diesem Lande offenkundig noch Dinge gibt,
die sich politischen Gestaltungsabsichten entziehen, völlig gleichgültig, ob es sich um exekutive oder legislative
Versuchungen handelt.
Drittens. Es wäre schön, wenn die Vorlagen, die wir
gleich überweisen, anschließend das Plenum mit einer
Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses
wiedersehen würden, die diesen Einsichten Rechnung
trägt.
({3})
Nun frage ich, ob Einvernehmen besteht, die Vorlagen
auf den Drucksachen 15/4261 und 15/4249 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Innenausschuss sowie
an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikabfolgenschätzung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? ({4})
Möchte jemand den Haushaltsausschuss beteiligen? Auch das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weltbevölkerung und Entwicklung - zehn
Jahre nach Kairo
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Annette
Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Weltbevölkerungspolitik zehn Jahre nach
Kairo
- Drucksachen 15/3812, 15/3798, 15/4041 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Sibylle Pfeiffer
Thilo Hoppe
Markus Löning
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollte über
diese beiden Anträge insgesamt 30 Minuten diskutiert
werden. Die Kolleginnen und Kollegen Karin Kortmann,
Sibylle Pfeiffer, Thilo Hoppe und Ulrich Heinrich haben
ihre vorbereiteten Reden zu Protokoll gegeben.1) - Auch
dazu erhebt sich kein Widerspruch.
Dann können wir damit die Aussprache für beendet
erklären und zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung auf Drucksache 15/4041 zu die-
sen Anträgen kommen. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung, die beiden genannten An-
träge zusammenzuführen und in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Dann ist diese Beschlussempfehlung bei
1) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Stimmenthaltung der gesamten FDP-Fraktion mit großer
Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({7}),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Abriss des Palastes der Republik nicht verzögern
- Drucksachen 15/3315, 15/3887 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({8})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({9})
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FDP-Fraktion
vor.
Auch hierüber soll eine halbe Stunde diskutiert werden. - Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.
({10})
- Vielleicht geht der Abriss ja schneller.
({11})
Meine Damen und Herren! Das ist nun der fünfte
Aufbruch zum selben Thema. Ich zitiere sonst nicht
große Leute, aber bei Nietzsche heißt es, Geschichte sei
eine ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Irgendwie
passt das zu diesem Thema: Es wird immer wieder dasselbe gesagt und dies dummerweise von denselben Leuten.
Ich komme ganz kurz zu der Situation, aufgrund deren ich meine, dass dieser Antrag total überflüssig ist.
Wir haben am 4. Juli 2002 den Beschluss gefasst, den
Palast abzureißen und das Schloss aufzubauen,
({0})
und ein Nutzungskonzept, das gerade gestern im Kulturausschuss von Herrn Lehmann noch einmal sehr plastisch und sehr angenehm vorgetragen wurde, sowie Vorschläge zur Platzgestaltung vorgelegt. Dieser Beschluss
steht; dennoch wird er immer wieder infrage gestellt und
dauernd wird noch einmal untersucht, ob dabei nicht
noch etwas schief gehen könnte. Das sollten wir sein lassen. Ein Beschluss des Deutschen Bundestages ist ein
Beschluss des Deutschen Bundestages ist ein Beschluss
des Deutschen Bundestages. Dabei sollte es auch bleiben.
({1})
- Dazu komme ich gleich.
Im Sommer ist leider Gottes eine blöde Sommerlochdiskussion entstanden, weil einige Leute, die dem Antrag damals zugestimmt hatten, angesprochen haben,
dass Ding stehen zu lassen, solange nicht klar sei, dass
das Schloss gebaut wird. Ich habe das für falsch gehalten
und halte es weiterhin für falsch. Aber auch dies ist inzwischen vom Tisch.
Ebenso ist bekannt, dass wir im vorigen Jahr ein
Moratorium für zwei Jahre beschlossen haben, das zur
Planung und meiner Meinung nach auch für den Abriss
genutzt werden sollte. Wir wissen, dass dahinter auch
die Frage stand, wie wir das Geld zusammenbekommen.
670 Millionen Euro sind bestimmt kein Pappenstiel. Es
ist doch recht schwierig, bestimmten Bevölkerungsgruppen zu vermitteln, dass in dieser Zeit für so viel Geld ein
Schloss gebaut werden soll.
Was den Abriss angeht, müssen wir uns darüber klar
sein, dass es hier nicht um eine Datsche geht. Dies ist ein
schwieriges Unterfangen: Die Statik ist schwierig, der
Grund ist schwierig. Es besteht Angst, dass andere Bauten davon negativ beeinflusst werden könnten. Auch
sind die Probleme in Bezug auf das Grundwasser noch
nicht gelöst. Es gibt sehr viele unterschiedliche Meinungen, wie es weitergehen soll. Ich kann nur hoffen, dass
es bei dem bisher Gesagten bleibt, wonach die Kosten
für den Abriss 20 Millionen Euro nicht überschritten,
aber ich bin skeptisch, ob dies einzuhalten ist.
Nun will ich zu der Frage kommen, wann dieses Vorhaben beginnt. Wir haben eine feste Planung auch für
den Abriss.
({2})
- Eine Sekunde. - An dieser Stelle muss man ehrlicherweise sagen: Bedauerlicherweise - meinetwegen auch
peinlicherweise - ist es beim Berliner Senat bei der Ausschreibung zu einem Fehler gekommen.
({3})
- Das würde ich so nicht sagen, weil ich Menschen so etwas nicht zutraue.
({4})
- Sie können sagen, was Sie wollen. Das stimmt aber
nicht.
Das Angenehme ist, dass das Ingenieurbüro, das Beschwerde beim Kammergericht eingereicht hatte,
({5})
diese jetzt zurückgezogen hat. Das ist gut, weil es damit
seinen Gang gehen kann. Heute ist die Nachricht gekommen, dass in neun Monaten mit dem Abriss begonnen
werden kann.
Ich hoffe allerdings, dass bis dahin klar ist, dass nicht
nur etwas abgerissen wird. Vielmehr muss auch das daEckhardt Barthel ({6})
hinter Liegende, insbesondere der Dom, gesichert werden. Einige denken wohl nur daran, dass jemand einen
Fehler gemacht hat. Dahinter steckt mehr als nur ein
kleiner Abriss. Insofern bin ich froh, dass es sich jetzt
nur noch um eine begrenzte Zeit handelt, die jeder auf
seine Art - mit Schimpfen oder mit Freude - genießen
kann.
Eigentlich wäre ich jetzt schon am Ende meiner Rede,
({7})
weil der Antrag der CDU/CSU-Fraktion nichts weiter
hergibt. Aber das einzig Spannende an dieser Geschichte
ist der Änderungsantrag der FDP-Fraktion. Er bringt
eine neue Note in die Debatte. Das halte ich für höchst
spannend. Den Kollegen, die zurzeit nichts anderes lesen, darf ich die Passage vorlesen:
Der Bund wird keine weiteren Mittel für eine Zwischennutzung des Palastes der Republik zur Verfügung stellen. Davon ausgenommen sind Mittel für
eine Ausstellung, die sich objektiv und wissenschaftlich fundiert mit der gesellschaftlichen, politischen und architektonischen Geschichte des Bauwerks auseinander setzt.
Das ist in der Tat eine neue Note. Ich finde das spannend, weil somit zu der Frage, was in der Zeit bis zum
Abriss mit dem Palast passiert, zwei Positionen vorliegen. Es sind zwar nur neun Monate,
({8})
aber die Beschäftigung mit dieser Frage ist offensichtlich sehr intensiv.
Wir haben zwei Positionen. Eigentlich müssten Sie
sich einmal einig werden. Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag, dass der Palast überhaupt nicht bespielt
wird, es sei denn - das muss ich einschränkend hinzufügen -, er wird von kleinen Institutionen wie dem BDI,
({9})
der das Geld mitbringt und nicht auf öffentliche Mittel
angewiesen ist, genutzt. Solche Organisationen dürfen
den Palast nutzen, ansonsten soll keiner hinein. Die FDP
will, dass der Palast weiter bespielt wird, und würde dafür auch öffentliche Mittel einsetzen, aber es soll nur das
gespielt werden, was die FDP will. Das ist sehr interessant.
({10})
Trotzdem gibt es eine faszinierende Gemeinsamkeit
zwischen den Anträgen. Beide wollen verhindern, dass
freie Gruppen den Palast nutzen können. Der eine versucht es über ein Verbot, der andere will eine bestimmte
Ausstellung zeigen.
({11})
Über dieses Verständnis kann ich nur staunen.
({12})
- Herr Nooke, ich hatte versprochen, früher Schluss zu
machen. Das können Sie mir nachher erzählen.
Ich will nicht die Qualität der einzelnen Gruppen bewerten. Das steht mir nicht zu. Das könnte ich auch gar
nicht, weil ich nicht alle gesehen haben. Darum geht es
aber auch gar nicht. Das Thema lautet: Dürfen Projekte
im Palast durchgeführt werden, auch wenn sie als Projekt, nicht wegen des Spielortes, vom Hauptstadtkulturfonds finanziert werden? Das ist die Kernfrage beider Anträge.
Ich will meine Position dazu ganz deutlich darstellen,
um mich vom Ideologieverdacht zu befreien: Ich bin
- das habe ich schon mehrfach gesagt - für einen zügigen Abriss. Solange der Palast mit seinem morbiden
Charme des Untergangs aber noch steht, möchte ich,
dass er genutzt werden kann. Künstler möchten hinein
und sie haben ein Publikum hinter sich stehen. Es handelt sich um einen Zeitraum von - wenn das stimmt neun Monaten. Wir sollten die ganze Angelegenheit daher nicht zu hoch hängen.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Die derzeitige Debatte über den Palast in Verbindung mit
dem Hauptstadtkulturfonds bereitet mir ein bisschen
Sorge. Weil der Hauptstadtkulturfonds derzeit von mehreren Seiten auf so unangenehme Weise angeschossen
wird, habe ich Angst, dass dieser Fonds, eine der wichtigsten Säulen unserer Hauptstadtkulturförderung, beschädigt wird. Das möchte ich verhindern.
Ihre Anträge werden Sie nicht zurückziehen; das ist
klar. Wir werden sie ablehnen. Ich bitte Sie aber, im Umgang mit dieser Frage, auch was den Hauptstadtkulturfonds angeht, ein bisschen Zurückhaltung zu üben, weil
das eine ganz schwierige Geschichte ist.
Ich bedanke mich.
({13})
Herr Kollege Barthel, der Kollege Manfred Grund hat
sich durch Ihre Bemerkung „der Grund ist schwierig“
persönlich angesprochen, um nicht zu sagen: angegriffen
gefühlt.
({0})
Ich habe ihn davon überzeugt, dass dies kein persönlicher Angriff, sondern eine streng am Grundstück orientierte Bemerkung war. Damit entfällt die Möglichkeit einer persönlichen Erwiderung.
({1})
Die Kolleginnen Antje Vollmer und Petra Pau haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Sie sind ein
1) Anlage 6
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
leuchtendes Beispiel für den folgenden Redner, HansJoachim Otto für die FDP-Fraktion.
({2})
- Entschuldigung, wir wollen streng in der Reihenfolge
bleiben. Zunächst hat die Kollegen Renate Blank für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Dass Sie die CDU/CSU vergessen, ist
natürlich ein unverzeihlicher Fehler. Zu später Stunde ist
das aber kein Problem.
Ich bitte untertänigst darum, diesen Irrtum nicht in der
Fraktion zu verbreiten.
Kollege Barthel, die Diskussion findet zu später
Stunde, im Schutz der Dunkelheit statt. Sie ist aber sehr
wichtig. Es zeigt sich, dass wir mit unserem Antrag bestimmte Dinge angestoßen haben. Außerdem wollen wir
die Kontrolle darüber haben, was zwischen dem Bund
und dem Land Berlin passiert. Wenn wir unseren Antrag
nicht gestellt hätten, wäre das Land Berlin heute noch
gegen den Abriss des Palastes.
({0})
Kollege Barthel, das Verwirrspiel um diesen Abriss
verdient es wirklich, dass wir im Parlament darüber diskutieren. Denn eine Versenkung dieses sich zum Trauerspiel entwickelnden Abrissprojektes im schriftlichen
Protokoll, wie es von Ihnen gewünscht war, wäre dem
Palast der Republik, über den die Meinungen geteilt
sind, nicht angemessen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ab
und zu werden Aussagen, die Sie noch im Sommer 2004
gemacht haben, von der Realität widerlegt oder sie sind
überholt.
({2})
So hat Kollege Barthel gesagt, dass die Rückbauarbeiten
im Frühjahr 2005 beginnen können. Kollegin Vollmer
sagte, es sei unerheblich, ob der Abriss Anfang Mai oder
Anfang Juli 2005 beginne. Diese Zeiträume sind keinesfalls zu halten, obwohl die Firma - Sie haben es erwähnt - ihren Widerspruch gegen die Ausschreibungsvergabe zurückgezogen hat.
({3})
Die Verhandlung vor dem Kammergericht hätte eigentlich heute stattfinden müssen. Aus unserer Sicht wird
sich der Beginn der Abrissarbeiten wahrscheinlich bis
zum Frühjahr 2006 hinziehen. Der Vertreter des Bauministeriums konnte im Ausschuss keine Antwort auf die
Frage nach dem Zeitraum geben.
({4})
Warum Sie von neun Monaten sprechen, ist mir durchaus schleierhaft.
Kollege Barthel, das Verfahren wird nach Auskunft
des Bauministeriums wieder aufgenommen. Nur die
Aufgabenstellung wird im Ausschreibungsverfahren
neu definiert. Es braucht Zeit, wenn die Aufgabenstellung neu definiert wird. Das bedeutet, dass es verschiedene Projektszenarien gibt. Eine Möglichkeit ist, dass
Teile der vorhandenen Tiefgeschosse zunächst im Boden
verbleiben. Diese Version wird vom Bauministerium favorisiert, obwohl sie im Ausschreibungstext nicht vorgesehen war.
({5})
Der Berliner Senat sieht das anders und will eine Perforierung der Fundamentplatte. Das weitere Vorgehen wird
zeigen, welche der Möglichkeiten zum Tragen kommt.
Preiswerter wäre eine Erhaltung des Kellers.
({6})
Im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
wurde gestern mitgeteilt, dass alle Missverständnisse
zwischen dem Bund und dem Land Berlin, die es, wie
den Medienberichten ständig zu entnehmen war, gab,
ausgeräumt seien.
({7})
Das wurde allerdings schon des Öfteren berichtet. Es
fehlt uns langsam der Glaube.
({8})
Denn nach wie vor habe ich den Eindruck, dass der Berliner Senat den Abriss verzögern will, obwohl der Regierende Bürgermeister sich deutlich dazu geäußert hat.
({9})
Das war der Bauteil.
Jetzt sage ich einige Worte zur Zwischennutzung.
Kollege Barthel, hören Sie mir zu: Ich habe nichts gegen
eine Zwischennutzung, unter der Bedingung, dass dort
keine öffentlichen Mittel hineinfließen werden.
({10})
Kollege Barthel, das waren einmal Ihre Worte.
({11})
Wir bleiben bei unserer Meinung: keine Bundesmittel
für die Zwischennutzung des Palastes der Republik bis
zu seinem Abriss.
Mittel aus dem Hauptstadtkulturfonds sind öffentliche
Mittel.
({12})
Aus diesem Grund sollen auch keine Mittel des Bundes
über den Hauptstadtkulturfonds für eine Ausstellung
über den Palast im Palast zur Verfügung gestellt werden.
({13})
Die Jury hat dieses Projekt scheitern lassen; also brauchen wir darüber, auch wenn der Kultursenator des Landes Berlin noch nicht aufgibt, nicht weiter zu diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchmal führt ein
offener Krieg zwischen zwei Frauen zu einer Entscheidung, die uns als Opposition sehr entgegenkommt.
({14})
Damit aber keine Missverständnisse entstehen, sage ich:
Dem Chef des DHM, Herrn Ottomeyer, würden wir eine
korrekte Aufarbeitung des Themas bescheinigen. Das
sage ich nur, damit es nicht zu irgendwelcher Legendenbildung kommt.
Zum Abschluss noch eine pikante Sache: Herrn von
Boddien, der sich mit seinem Förderverein um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses verdient macht, wurde
die Genehmigung zur Errichtung eines Informationsund Ausstellungspavillons zum Berliner Schloss versagt.
Zur Information: Weder auf den Bund noch auf das Land
Berlin kämen Kosten zu.
({15})
Die entstehenden Kosten würden nämlich vom Förderverein getragen. Wie kleinkariert vom Bezirksamt Mitte
von Berlin!
({16})
Aber vielleicht fehlt die Akzeptanz des Bezirkes Mitte
für den Beschluss des Deutschen Bundestages. Hier
sollte das Bezirksamt Mitte von Berlin noch einmal
gründlich nachdenken. Zumindest wir wollen bürgerschaftliches Engagement. Deshalb, Kollege Barthel, war
unser Antrag absolut nicht überflüssig.
({17})
Nun hat der Kollege Hans-Joachim Otto das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich auf drei Erwiderungen auf den Kollegen
Barthel.
Die erste: In neun Monaten geschieht zwar normalerweise viel,
({0})
- mit Hand und Fuß -, aber ich gebe hier zu Protokoll,
dass ich angesichts der bisherigen Erfahrungen außerordentlich skeptisch bin, dass mit den Abbrucharbeiten in
neun Monaten, vom heutigen Tag an gerechnet, begonnen wird. Ich biete Ihnen, Herr Kollege Barthel, öffentlich eine Wette an:
({1})
Wenn in neun Monaten damit begonnen wird, bekommen Sie von mir eine wunderschöne Flasche Rotwein.
({2})
- Ihr wollt alle mittrinken? Nur mein Freund Eckhardt
Barthel! Aber er wird sich über den Fall noch Gedanken
machen müssen, dass in neun Monaten erwartungsgemäß nicht damit begonnen wird.
({3})
Herr Kollege, ich möchte eigentlich nur ungern zulassen, dass hier mit politischen Überzeugungen Geschäfte
betrieben werden.
Das muss auch einmal zulässig sein; ich bin doch aus
einer marktwirtschaftlichen Partei.
Ich empfehle deswegen, dieses Angebot außerhalb
des Protokolls zu machen.
Nun steht es drin.
({0})
Jetzt kommt meine zweite Bemerkung: Die Kollegin
Blank hat eben den Kollegen Barthel auf eine Aussage
aufmerksam gemacht, die er getroffen habe. Er hat das
bestritten.
({1})
Da ich geahnt habe, dass das hier bestritten werden wird,
habe ich mir das herausgeschrieben und möchte hier
wiedergeben, was im Protokoll der 19. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Seite 10 geschrieben
steht: Solange der Palast noch stehe, habe er nichts gegen eine Zwischennutzung - unter der Bedingung, dass
keine öffentlichen Mittel dort hineinfließen würden.
({2})
Hans-Joachim Otto ({3})
- In die Zwischennutzung, das heißt es doch von der Logik her! Lieber Herr Kollege Barthel, ein bisschen missverständlich war die Aussage doch. Wir haben das damals alle anders verstanden.
({4})
Aber jetzt kommt der entscheidende Punkt: Der Kollege
Barthel hat es als eine spannende Frage bezeichnet und
hat uns finstere Absichten unterstellt, dass wir für diese
Ausstellung im Palast der Republik eintreten. Wir bekennen uns dazu: Unsere unendliche Begeisterung für
die Staatsministerin Christina Weiss hat uns veranlasst,
({5})
den Vorschlag aufzugreifen; sie hat nämlich diesen Vorschlag gemacht. Ich halte ihn für sinnvoll.
({6})
Wenn überhaupt öffentliche Mittel in die Zwischennutzung fließen, dann für diese Ausstellung; dieser Überzeugung bin ich und deswegen haben wir diesen Antrag
gestellt.
({7})
Deshalb ist es erstaunlich, dass Sie meinem Antrag nicht
zustimmen wollen. Lieber Kollege Barthel, ich gebe Ihnen jetzt die Gelegenheit, zu reden; ich erteile natürlich
nicht das Wort, aber ich werde der Frage des Präsidenten, ob ich eine Zwischenfrage zulasse, zustimmen.
Ich muss Sie beide enttäuschen: Weil Ihre Redezeit
jetzt zu Ende ist, kann ich leider keine Zwischenfrage
mehr zulassen.
Lieber Herr Kollege Barthel, ich hoffe sehr, dass Sie
dem Änderungsantrag der FDP-Fraktion, der ja gerade
der Unterstützung von Frau Dr. Weiss dient, zustimmen
werden.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Vera Lengsfeld für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Barthel, es wäre ja wirklich wunderbar, wenn ein Beschluss des Bundestages ein Beschluss des Bundestages wäre und wenn die Bundesregierung dem auch folgen würde. Aber Sie wissen doch
genauso gut wie ich, dass der Beschluss schon vor zwei
Jahren gefasst wurde und dann ein Jahr lang nichts passierte. Im vorigen Jahr haben wir uns gezwungen gesehen, noch einmal nachzufragen. Seitdem ist wieder ein
Jahr vergangen; wieder ist nichts passiert. Immer noch
verunziert diese Ruine die Mitte von Berlin.
Nun hat sich noch etwas anderes entwickelt: Im
Kreise der Gegner des Abrisses des Palastes ist die Idee
der Zwischennutzung entstanden.
({0})
- Ich sage gleich etwas dazu. - Ich nehme an, die Protagonisten dieser Zwischennutzung haben nicht nur mit
mir und mit Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, sondern
auch mit Ihnen gesprochen. Sie haben immer wieder
versichert, dass sie erstens den Palast nur 1 000 Tage
nutzen wollen und dass sie zweitens auf gar keinen Fall
irgendwelche staatlichen Gelder in Anspruch nehmen
werden. Dass die Projekte dieser Befürworter einer Zwischennutzung jetzt aus dem Hauptstadtkulturfonds gesponsert werden, ist ein Etikettenschwindel und eine Irreführung der Öffentlichkeit. Das ist für mich wirklich
keine Petitesse.
({1})
Es ist für mich auch ein Etikettenschwindel, dieses
ganze Projekt Volkspalast zu nennen; denn mit einem
solchen Titel wird natürlich die Geschichtsklitterung der
SED/PDS fortgesetzt, die immer wieder behauptet hat,
man dürfe diesen Palast nicht abreißen, weil er zur Identität der Ostdeutschen gehöre und weil er immer ein Palast für das Volk gewesen sei. Ich möchte an dieser Stelle
das wiederholen, was ich schon oft gesagt habe: Dieser
Palast der Republik ist nie ein Palast des Volkes geworden und er wird auch nachträglich nicht dazu, indem
man das Zwischennutzungsprojekt Volkspalast nennt.
Zu DDR-Zeiten gab es immer wieder geschlossene
Gesellschaften im Palast, wenn die SED, der FDGB oder
die FDJ ihre Partys feierten und das Volk weiträumig
ausgesperrt war. Auch unter dem Etikett Volkspalast gibt
es jetzt wieder geschlossene Gesellschaften. Herr Kollege Tauss, Sie können jetzt wirklich einmal zuhören,
({2})
denn jetzt kritisiere ich den BDI, McKinsey und den
„Focus“,
({3})
die sich diesen Zwischennutzungsprojekten mit ihren geschlossenen Gesellschaften angedient und dort ihre Partys veranstaltet haben. Dadurch ist eine Gruppierung legitimiert worden, die aus ihrer Vergangenheitsfixierung
einen Hype macht.
({4})
- Ich bezeichne das einfach als den Triumph des
schlechten Geschmacks oder der Geschichtsvergessenheit.
({5})
Es stellt sich die Frage, wie lange es in der Mitte von
Berlin so weitergehen soll und wie lange noch Steuermittel im Palast versenkt werden sollen.
({6})
Es wäre doch endlich einmal an der Zeit, statt ein unübersehbares Symbol des Scheiterns der DDR in Form
einer Ruine mitten in Berlin zu lassen, sich den Zukunftsprojekten zuzuwenden.
({7})
Dafür gibt es eine ganze Menge Vorschläge.
Ich finde, man sollte einmal darüber nachdenken, ob
nicht der Vorschlag des Herrn von Boddien angenommen werden sollte, in der Zeit zwischen dem Abriss des
Palastes der Republik und dem Beginn des Baus des
Schlosses nach dem Vorbild des Zukunftsthemenparks
der Expo 2000 einen Humboldt-Themenpark für
Zukunftsfragen in der Mitte Berlins zu installieren.
Dann gäbe es in der Mitte Berlins, auf dem Schlossareal,
endlich einmal einen Publikumsmagneten, der sich mit
Zukunftsfragen und nicht mit der Vergangenheit beschäftigt und der in die Zukunft gerichtet ist. Das wäre
einmal ein positiver Beitrag.
Es gibt europäische Hauptstädte, die so etwas schon
mit Erfolg praktiziert haben. Zum Beispiel hat Wien im
Zuge der Umwidmung des ehemaligen Messegeländes
ein solches Projekt, das auf ein sehr großes Interesse gestoßen ist, erfolgreich durchgeführt. Es ist schade, dass
es innovative Ideen und Privatinitiativen in unserem
Lande nach wie vor schwer haben.
({8})
Dazu gehört natürlich auch die Ablehnung des Bezirksamts von Berlin-Mitte, auf dem Schlossplatz eine Infobox aufzustellen. Mit dieser Infobox soll über den Aufbau des Schlosses informiert werden. Es sollen Einzelheiten über das zukünftige Baugeschehen vermittelt
werden. Damit soll auch die Möglichkeit geschaffen
werden, Spenden für die Schlossfassade zu sammeln.
Man sollte sich einem solchen Projekt wirklich nicht
verschließen.
Die Dresdner haben es uns schließlich vorgemacht,
wie man mit viel Eigeninitiative und Willen ein Gebäude
buchstäblich aus Ruinen wiedererstehen lassen kann.
({9})
Ich finde, es ist wirklich mehr als eine Posse, dass Berlin
lieber an seiner Ruine festhält, statt beherzt etwas Neues
zu schaffen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3887
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Abriss des Palastes der Republik nicht verzögern“. Zu
dem Antrag auf Drucksache 15/3315 liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion der FDP vor, über den wir zu-
erst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
auf Drucksache 15/4411? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Das hat tatsächlich
nicht gereicht. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 15/3315 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mehr-
heitlich angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Apothekengesetzes
- Drucksache 15/4293 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Die dazu vorgesehene Debattenzeit wird nicht benö-
tigt, weil die Kolleginnen und Kollegen Dr. Marlies
Volkmer, Michael Hennrich, Dr. Wolf Bauer, Birgitt
Bender, Detlef Parr und die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Marion Caspers-Merk ihre Reden zu Protokoll
geben.1)
({1})
Damit schließe ich die nicht eröffnete Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/4293 an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung vorgeschlagen. - Dazu
stelle ich Ihr Einvernehmen fest.
Damit kommen wir gleich zum Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Pfandbriefrechts
- Drucksache 15/4321 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Auch dieser Punkt hätte eine halbe Stunde diskutiert
werden sollen, was aber durch die Entscheidung der
Kolleginnen und Kollegen Lothar Binding, Stefan
Müller, Leo Dautzenberg, Kerstin Andreae, Rainer
Funke und der Parlamentarischen Staatssekretärin
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Barbara Hendricks unnötig wird, die ihre Reden zu
Protokoll geben wollen.1)
Die Aussprache ist damit eröffnet und geschlossen.
Interfraktionell wird auch hier die Überweisung des
Gesetzentwurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sollen diese allesamt verlesen werden? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines europäischen Mahnverfahrens
KOM ({4}) 173 endg.; Ratsdok. 7615/04
- Drucksachen 15/3135 Nr. 2.14, 15/4415 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Thomas Silberhorn
Sibylle Laurischk
Auch hierzu gibt es eine Reihe von gemeldeten Red-
nern, die ihre Reden zu Protokoll geben wollen: Axel
1) Anlage 8
Schäfer, Christoph Strässer, Thomas Silberhorn, Jerzy
Montag und Sibylle Laurischk. 2)
Wir kommen dann sofort zur Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur
Einführung eines europäischen Mahnverfahrens auf
Drucksache 15/4415. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Das ist eine wunderschöne Übereinstimmung am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({5})
Ich bedanke mich bei allen, die zu diesem guten Ende
beigetragen haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3. Dezember 2004,
9 Uhr, ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen für
den Rest des Abends noch einige angenehme Stunden.