Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um eine Debatte zur Demokratie in der Ukraine zu
erweitern und diesen Punkt im Anschluss an die Fragestunde aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Verbraucherpolitischer Bericht 2004 der Bundesregierung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Kabinett hat heute den Verbraucherpolitischen Bericht 2004 beschlossen. Mit der Arbeit an diesem Fortschrittsbericht haben wir im Frühjahr 2003 begonnen.
Auch an dieser Stelle haben wir den Aktionsplan Verbraucherschutz der Bundesregierung und die Schwerpunkte, die wir in dieser Legislaturperiode setzen, vorgestellt.
Im vorliegenden Bericht wird ausgeführt, welche
Fortschritte wir in diesem Bereich gemacht haben. Dabei
greifen wir im Wesentlichen auf abgeschlossene und größere, bereits weit fortgeschrittene Rechtsetzungsvorhaben zurück. Alle Ausführungen beziehen sich auf den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verbraucherschutz.
Wir lassen uns von zwei verbraucherpolitischen Zielen leiten: zum einen vom Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden - das ist der Schutzaspekt der Verbraucherpolitik -, zum anderen vom Recht der Verbraucherinnen und Verbraucher, als gleichberechtigte und informierte Marktpartner selbstbestimmt entscheiden zu
können; das setzt Informationen voraus. Wir gehen davon aus, dass auch das Vertrauen der Verbraucherinnen
und Verbraucher in Märkte, bestimmte Produkte und
Dienstleistungen sowie ihre Funktionen Wirtschaftskapital ist. Man könnte also sagen: Das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher ist für ein Unternehmen
quasi Geld wert.
Ich will nun auf einen weiteren Punkt eingehen, den
wir im Kabinett besprochen haben. Der aktuellste Aspekt, der in diesem Bericht nur kurz erwähnt ist, ist das
Lebens- und Futtermittelgesetzbuch, das der Bundestag
in der letzten Woche in zweiter und dritter Lesung verabschiedet hat; hier wird der gesamte Weg eines Produkts
- vom Stall bis auf den Teller - dargestellt. Darüber hinaus enthält es, wie Sie wissen, eine Verbesserung der
Informationsmöglichkeiten der Verbraucherinnen und
Verbraucher. Hier finden sich Regelungen des ehemaligen Verbraucherinformationsgesetzes wieder. Wie es mit
diesem Thema weitergeht, werden wir wohl am 17. Dezember dieses Jahres, wenn sich der Bundesrat damit beschäftigt, wissen.
Nun will ich ein paar Schwerpunkte nennen, die wir
im Bereich des vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes setzen. Wir gehen davon aus, dass es Fälle
gibt, in denen der vorsorgende Verbraucherschutz bzw.
die Gesundheit der Verbraucher Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hat. Beispiele hierfür, die inzwischen
erledigt wurden, sind die Neufassung der Lebensmittelhygieneregeln und die Verbesserung der Vorschriften für
eine einheitliche Durchführung der Lebens- und Futtermittelüberwachung. Ebenfalls gehören schärfere Kennzeichnungsregeln, auch bei kosmetischen Mitteln, in diesen Bereich. Wir alle kennen das extrem zunehmende
Problem der Allergien. Ich will kurz darauf hinweisen,
dass auch die gesundheitlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Kosten von Fehlernährung und mangelnder
Bewegung ein Teil der Verbraucherpolitik sind; denn es
geht darum, Prävention zu betreiben.
Hinsichtlich der wirtschaftlichen Interessen gehen wir
davon aus, dass eine moderne Verbraucherpolitik den
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher gewährleisten und ihre Informationsmöglichkeiten stärken
Redetext
muss. Somit ist sie keine Behinderung der Wirtschaft,
sondern die notwendige Voraussetzung, um schwarze
Zahlen schreiben und Kunden halten zu können. Wir sagen: Es gibt, was neue Märkte und Vertragsgestaltungen
betrifft, eine verwirrende Vielfalt. Die Verbraucherpolitik muss also immer auf der Höhe der Zeit bleiben, wenn
sich die Strukturen verändern. Was haben wir in dieser
Hinsicht getan?
Die Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb ist Mitte dieses Jahres in Kraft getreten: Der
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher wurde in
den Gesetzeszweck aufgenommen und wir haben einige
veraltete Regeln abgeschafft und Neues geschaffen wie
den Gewinnabschöpfungsanspruch von Verbraucherverbänden bei vorsätzlich begangenen Verstößen.
Wir haben an dieser Stelle Regelungen über belästigende Werbung getroffen: Anrufe und Faxsendungen zu
Werbezwecken bedürfen der vorherigen Zustimmung;
dafür hat sich insbesondere das Verbraucherministerium
stark gemacht, um die verbraucherfreundliche Rechtsprechung des BGH gesetzlich zu verankern. Ich glaube,
es muss so etwas wie einen Schutz der Privatsphäre geben angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, Werbung
zu machen. Spamming, also die unverlangte Zusendung
von Werbebotschaften per E-Mail oder SMS, war ein
Thema; sie ist ein Problem, das wir nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene werden angehen müssen.
Lockvogelangebote werden ausdrücklich verboten.
Sie alle kennen das, wir als Abgeordnete auch aus eigener Praxis: Da wird mit besonders günstigen Angeboten
geworben, doch wenn Sie um halb elf in das Geschäft
kommen, ist der Artikel längst vergriffen. Weil Sie schon
einmal da sind, kaufen Sie trotzdem ein. Dieser Trick ist
von manchem in der Vergangenheit bewusst eingesetzt
worden.
Das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs von
0190er-/0900er-Mehrwertdiensterufnummern führt meines Erachtens zu mehr Preistransparenz auf dem Markt.
Es ermöglicht der Regulierungsbehörde ein Mehr an
Schutzmaßnahmen. Ich glaube, dass wir da richtig aufgestellt sind, weil eine Vielzahl von Privathaushalten
und auch mittelständischen Unternehmen durch solchen
Missbrauch finanziell extrem belastet waren.
Bei Versicherungen und Kapitalanlagen geht es um
verbesserte Information beim Fernabsatz solcher Dienstleistungen, über eine Verbesserung des Schutzes von
Anlegern bis hin zum Alterseinkünftegesetz. Ich glaube,
dass dies ein weites Betätigungsfeld für die Zukunft ist;
denn je mehr private Vorsorge organisiert werden soll,
desto transparenter muss diese sein. Bei der RiesterRente müssen ab 2006 beide Geschlechter gleich behandelt werden; in dieser Hinsicht sind die Unisextarife von
Bedeutung.
Verbraucherinformation und Täuschungsschutz sind
ein Punkt. Ich will darauf hinweisen, dass wir uns um
Label und Zertifizierungen bemühen, die auch stimmen.
Wir haben ein Internetportal aufgebaut, den „Verbraucherschutzkompass“, der einen zentralen Einstieg darstellt, um Informationen zu bekommen. Dass das Verbraucherinformationsgesetz erneut in der Beratung ist,
ist bekannt.
Mein letzter Punkt fällt unter die Überschrift „Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster“. Die Verbraucher treffen ihre Konsumentscheidungen immer mehr
vor dem Hintergrund von Umweltfragen, sozialen Fragen und Nachhaltigkeit. Angebotene Waren müssen entsprechend erkennbar sein. Die Bundesregierung will
nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen fördern;
der „Rat für nachhaltige Entwicklung“ der Bundesregierung legt auch darauf Wert. Wir beginnen hierzu einzelne Kampagnen, um aufzuklären und auch öffentlich
sichtbar zu machen, wo man als Verbraucher Informationen bekommen und nach welchen Zertifizierungen man
sich richten kann.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, auch wenn ich es im
Bericht nicht konkret erwähnt habe, dass diese Woche
die Stiftung Warentest ihren 40. Geburtstag feiert. Ich
glaube, wir wissen alle, dass dies die Institution in der
Bundesrepublik Deutschland ist, die das höchste Vertrauen genießt.
({0})
Die Kunden wissen: Hier bekommen sie gute Beratung.
Dies war ein Überblick. Wir werden mit beiden
Standbeinen, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Verbraucherschutz und Information der Verbraucher, damit
sie selbstbestimmt entscheiden können, auch in Zukunft
weitermachen. Unsere Aufgabe wird sein, auch für neue
Vertragsgestaltungen, gerade über das Internet und mittels neuer Technologien, wodurch auf die Verbraucher
viel größere Kosten zukommen können als durch ein unklug eingegangenes Zeitungsabo, Regeln wie beispielsweise zum Haustürwiderruf und damit das gleiche
Schutzniveau zu schaffen.
Vielen Dank, Frau Ministerin. Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben
berichtet wurde.
Das Wort hat Frau Kollegin Mortler.
Frau Ministerin, ich denke wir sind uns einig, dass
unsere Verbraucher im Hinblick auf den Schutz ihrer Gesundheit einen hohen Anspruch besitzen; diesem werden
wir in unserem Lande auch gerecht. Ich frage mich aber,
wie Sie die Tatsache rechtfertigen, dass Nahrungsmittel,
die aus der EU zu uns in die Läden bzw. auf den Teller
des Verbrauchers kommen, nicht den strengen Verbraucherschutzvorschriften entsprechen müssen, die für
deutsche Produkte gelten. Ich bin der Meinung, hiermit
gaukeln Sie den Verbrauchern in Deutschland etwas vor.
Ich will das an dem Beispiel Erdbeeren deutlich machen. Die Erzeuger im Inland müssen die strengen
Schutzvorschriften in Deutschland akzeptieren. Die Erdbeeren, die aus dem Ausland zu uns kommen, unterlieMarlene Mortler
gen diesen strengen Schutzvorschriften dagegen nicht.
Es gäbe viele weitere Beispiele dafür.
Im Bereich Biosiegel ist es genau andersherum. Hier
konnten wir in den letzten Jahren feststellen, dass die
deutschen Biobauern sehr hohe Standards erfüllen. Frau
Ministerin Künast, aufgrund des von Ihnen neu geschaffenen Biosiegels kommen immer mehr Bioprodukte aus
dem Ausland auf den deutschen Markt, was zulasten der
einheimischen Produktion geht. Der Verbraucher kann
nicht mehr erkennen, woher das jeweilige Produkt
kommt. Was sagen Sie dazu?
Ich bitte Sie, mir diese zwei Fragen zu beantworten.
Danke schön.
Frau Mortler, Sie haben Recht: Bezüglich der Pflanzenschutzmittel ist Deutschland besser. Wir sind aber
auch nur deshalb besser, weil wir uns in den letzten Jahren bemüht haben, einen neuen Standard zu erreichen.
Ich weiß noch sehr genau, dass wir vor drei Jahren mit
der Opposition große Probleme hatten, als wir die Frist
für die Umstellung der Pflanzenschutzmittel nicht noch
einmal verlängern wollten. Es ging darum, diese nicht
mehr einfach nur mit der Gießkanne zu verteilen, also
pauschal zu nutzen, sondern eine Indikation einzuführen.
Das heißt, bei Vorliegen eines bestimmten Problems darf
jetzt nur ein gegen dieses Problem wirkendes und entsprechend zugelassenes Pflanzenschutzmittel benutzt
werden.
Wir haben auf diese Indikation umgestellt und es gibt
Landwirte, die sich bemühen, diese Mittel systematisch
und ordentlich anzuwenden. Durch unser Pestizidminimierungsprogramm werden wir das auch weiterhin unterstützen. Ich glaube, die Landwirte tun dies nicht nur,
damit es weniger Rückstände in den Produkten gibt, sondern auch, weil es für sie schlicht und einfach wirtschaftlich preiswerter ist. Dieser extrem schwierige Weg der
Umstellung auf Indikation hat dazu geführt, dass wir die
Rückstandshöchstmengen an einigen Stellen plötzlich
erhöhen mussten. Dafür gab es an anderen Stellen wiederum massive Reduzierungen. Es kommt hier also zu
einem richtigen Wechsel der Regeln.
Wir wollen die Harmonisierung auf europäischer
Eben weiter betreiben. Sie haben Recht, wenn Sie sagen,
dass teilweise unterschiedliche Regeln gelten. Das liegt
aber daran, dass wir uns in einem Vereinheitlichungsprozess befinden und dass im Zweifelsfalle umgekehrt gelten würde - was ich nicht hoffen will -: Wenn andere
Länder strengere Regeln haben, dann können diese auch
auf unsere Produkte angewandt werden. Ich würde mich
sehr freuen, wenn Sie uns in Zukunft dabei unterstützen
würden, dass wir mit der Harmonisierung auf europäischer Ebene schneller vorankommen und dass die Europäische Kommission im Bereich der Pflanzenschutzmittel mehr Personal einsetzt, damit wir schneller
weiterkommen und europaweit einheitliche Werte und
keine auseinander fallenden Regeln haben. Wie gesagt:
Dies habe nicht ich geregelt, sondern das ist europäisches Recht.
Damit sind wir bezogen auf die Rückstände allerdings
noch lange nicht am Ende. Ich habe das Interesse, dass
wir die Rückstandshöchstmengen europaweit und im international geltenden Codex Alimentarius komplett neu
berechnen. Sie wurden nämlich nicht auf die kleinen
Körper der Kinder bezogen. Ausgangsbasis war das Gewicht eines 35-jährigen Mannes. Die zulässige Menge
für dieses Gewicht hat man auf das Gewicht eines zehnjährigen Kindes umgerechnet. Wir müssen wissen, wie
Kinder verzehren und was die Körper der null- bis sechsjährigen Kinder vertragen, bei denen die inneren Organe
noch nicht endgültig entwickelt sind. Ich gehe davon
aus, dass wir hier an einem Strang in die gleiche Richtung ziehen werden.
Sie haben gesagt, dass es beim Biosiegel genau andersherum ist. Ich muss Sie darauf hinweisen: Wir leben
in einem Binnenmarkt und in einer sozialen und - das
hoffe ich zumindest - ökologischen Marktwirtschaft.
Ein gemeinsamer Binnenmarkt bedeutet, dass jeder in
der Europäischen Union seine Produkte mit dem europäischen Biosiegel, das dem Standard der europäischen
Regeln entspricht, verkaufen kann. Das ist längst der
Fall. Wir haben in Absprache mit den Verbänden - alle
großen Verbände haben dem zugestimmt, als wir vor
Jahren überlegt haben, welches Biosiegel wir einführen - entschieden, ein deutsches Siegel auf europäischem Niveau festzulegen. Warum? Die großen Verbände haben uns gesagt: Wenn die Standards sehr viel
höher sind, dann würde dies zu einer Offensivkampagne
der anderen Länder in der Europäischen Union führen,
die ihre Produkte mit dem europäischen Siegel und den
niedrigeren Standards auf den deutschen Markt bringen
würden, sodass wir Deutsche das Nachsehen hätten.
Heute können alle auf das Biosiegel zurückgreifen.
Schließlich sind wir ein Binnenmarkt; daran führt kein
Weg vorbei. Aber in Deutschland können wir sagen: Unsere Produkte mit dem Biosiegel sind besser als die auf
EU-Ebene. Darüber hinaus gibt es noch die Möglichkeit,
als Top up Werbung für ihre Produkte mit höheren Standards zu machen. Die Geschäftsführer der Verbände haben mir erklärt, dass sie das wollen, weil sie glauben, so
am Markt den meisten Profit machen zu können. Diesen
sollen sie auch machen können.
Frau Kollegin Höfken, bitte.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ganz herzlichen Dank
für die Vorlage des Berichtes. Wir sind sehr froh, dass
wir auf diese Weise nachvollziehen können, welche
Fortschritte der Verbraucherschutz in Deutschland gemacht hat. Dies geht aus diesem Bericht sehr deutlich
hervor. Ich hoffe, dass wir weiterhin gemeinsam daran
arbeiten.
Ich möchte auf einen anderen Bereich eingehen, der
ebenfalls dazugehört, nämlich die Lebensmittelüberwachung. Welche Fortschritte hat die Bundesregierung
bei der Lebensmittelüberwachung und der Zusammenarbeit mit den Lebensmittelkontrollbehörden der Länder
machen können? Wie gut arbeiten inzwischen die neuen
Bundesbehörden im Hinblick auf die neu geschaffenen
Strukturen? Auch das ist sicherlich ein Erfolg der Arbeit
der Ministerin.
Diese Frage, Frau Abgeordnete, könnte man in einen
Zusammenhang mit den Debatten in der Föderalismuskommission stellen. Auch dort geht es darum: Wie kann
man im Interesse der Gesundheit und der Wirtschaft Regelungen finden, mit denen sichergestellt wird, dass wir
gleiche Standards haben? Das würde die Kontrollen in
den Ländern erleichtern, aber auch für die Unternehmen
würde es einfacher. Das gilt für Krisenfälle und bei der
Frage: Wer will wo produzieren und welches Recht gilt
in dem jeweiligen Bundesland?
Grundsätzlich ist es so, dass die Lebensmittelüberwachung, also die Kontrollen selbst, in den Aufgabenbereich der Länder fallen. Aber auch die Produzenten selber haben Pflichten. Unser Recht sieht vor, dass die
Lebens- und Futtermittelproduzenten als Erstes dafür
Sorge zu tragen haben, dass die von ihnen gelieferten
Produkte, also Lebensmittel oder Futtermittel, sicher
sind. Das ist ihre primäre Verantwortung.
Auch auf europäischer Ebene gibt es Verordnungen
über amtliche Futter- und Lebensmittelkontrollen, in denen diese Pflichten festgelegt sind, aber auch einheitliche Kontrollen vorgesehen sind. Dabei ist die Lebensmittelüberwachung - schließlich nehmen wir mindestens
dreimal am Tag Nahrungsmittel zu uns - beim vorsorgenden Verbraucherschutz ein herausragender Punkt.
Obwohl für die Kontrollen die Länder zuständig sind,
haben wir durch die Einrichtung der beiden Bundesbehörden, nämlich des Bundesamts für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit sowie des Bundesinstituts
für Risikobewertung - darüber haben wir in diesem
Haus oft diskutiert -, einen Schritt in die richtige Richtung getan. Neben der Einrichtung dieser beiden Behörden haben wir einen weiteren Schritt zur Vereinfachung
der Kontrolltätigkeit der Bundesländer gemacht. Wir haben mit dem Bundesrat die Allgemeine Verwaltungsvorschrift Rahmenüberwachung verabschiedet. Hinter diesem nicht sehr aussagekräftigen Begriff verbergen sich
die Grundsätze zur Durchführung der amtlichen Überwachung für Lebensmittel und Wein. Diese Verwaltungsvorschrift enthält eine Vielzahl von Regelungen
über Anforderungen an die Überwachungsbehörden, die
Prüflaboratorien für amtliche Untersuchungen, damit
Mindeststandards geregelt werden, die Inspektionshäufigkeit und ein einheitliches Verfahren beim Informationsaustausch.
Mit der AVV Rahmenüberwachung soll das vorhandene Wissen gebündelt werden. Das ist für die Wirtschaft und die Länder ein wichtiger Punkt. Bei der Vielzahl von Kontrollen, die die Länder durchführen müssen
- ich nenne hier nur die Referenzlabore auf nationaler
Ebene -, soll die Einhaltung von Regeln bei zugelassenen Produkten kontrolliert werden.
Wir wollten aber auch sicherstellen, dass flächendeckend in der Republik der Einsatz längst verbotener
Stoffe, zum Beispiel Dioxin, zumindest stichprobenweise kontrolliert wird. Es war klar, dass nicht 16 Bundesländer ein solches Prüfset vorbereiten; wir haben
vielmehr einen Plan entwickelt, anhand dessen Prüfaufgaben republikweit verteilt werden.
Wir fangen auch etwas Neues an und nutzen den Zoll
in Hamburg für ein Pilotprojekt. Der Zoll ist mit Computern ausgestattet und weiß schon vorher, welcher Container mit welchem Lebensmittel kommt. Wir betreiben ein
Risikomanagement. Wenn es den Verdacht gibt, dass
sich Anhaftungen oder Pilze an Lebensmitteln befinden,
gibt uns der Zoll einen Hinweis, zum Beispiel dass in
fünf Tagen ein Container mit einer bestimmten Ware
kommt, und dann kann die Kontrolle dort erfolgen. Wir
vermeiden dadurch die Verteilung des Containerinhalts
auf die ganze Republik. Ich glaube, dass wir uns damit
in guter Kooperation mit den Ländern systematisch neu
aufgestellt haben.
Die nächste Frage geht an die Kollegin Klöckner.
Danke schön. - Frau Ministerin, eine Frage zum
Thema Überschuldung Jugendlicher. Sie nehmen sich
gerne der Gruppe der Kinder und Jugendlichen an, zum
Beispiel beim Thema Übergewicht. Wir stellen uns auch
die Frage, wie wir junge Menschen davor schützen können, dass sie in einen Strudel gelangen, der in Überschuldung und letztlich in Privatinsolvenzen mündet. Es
ist festzustellen, dass bei der Schufa über 100 000 Jugendliche, die über Geld und über das Recht verfügen,
Verträge abzuschließen, gemeldet sind. Sieht man die
Gefahr, dass die Zahl überschuldeter Jugendlicher zunimmt? Was gedenken Sie dagegen zu tun? Planen Sie
dazu etwas in Ihrem Ministerium? Müssen Sie dieses
Thema - ich denke nicht nur an die Mobilfunknutzung,
sondern auch an die schulische Erziehung und die Prävention - nicht auch auf die Agenda setzen?
Frau Abgeordnete Klöckner, wir haben mit diesem
Thema längst begonnen. Verbraucherschutz für Kinder
und Jugendliche ist ein Thema, das sich an vielen Stellen
wiederfindet. Sie haben einen Punkt angesprochen, nämlich den Unterricht an der Schule. Wir vertreten die Auffassung, dass im Schulunterricht auch Alltagskompetenzen vermittelt werden müssen. Alltagskompetenzen
würde ich zum einen in den Bereich Ernährung - das betrifft den Alltag von uns allen - und zum anderen in den
Bereich Haushaltsführung - das betrifft die wichtigsten
Vertragsstrukturen, Rechte und Möglichkeiten - aufteilen.
Wir haben dazu schon Veranstaltungen und Diskussionen mit einer Vielzahl von Entscheidungsträgern und
Multiplikatoren, zum Beispiel mit der Verbraucherzentrale Bundesverband, gehabt. Ich sehe, dass das auch bei
den zuständigen Landesministern, die für den entsprechenden Unterricht verantwortlich sind, angekommen
ist. Das wird weiterhin ein Thema sein. Anders als in
meiner Kindheit, als man im Wesentlichen mit Bargeld
zahlte, gibt es heute eine Vielzahl von Möglichkeiten, zu
bezahlen, zum Beispiel mit dem Handy oder dem Computer, und sich relativ schnell zu verschulden.
Besonders perfide ist, dass Anbieter Handyverträge
zwar mit den Eltern abschließen, weil die Kinder nach
den Vorschriften des BGB nicht voll geschäftsfähig sind
und nur über ihr Taschengeld verfügen, die Kinder aber
die Handys benutzen, sich beispielsweise Klingeltöne
herunterladen und sich oft durch ihre Anrufe verschulden. Deshalb haben wir mit den Mobilfunkunternehmen
darüber Gespräche geführt. Vor ungefähr zwei Jahren
haben wir dafür Sorge getragen, dass bei den 0190-Nummern andere Regelungen getroffen wurden. Damit hat
man seinerzeit viele Jugendliche geködert. Das hat teilweise dazu geführt, dass sich Jugendliche verschuldet
haben, weil sie Rechnungsbeträge in vierstelliger Höhe
bezahlen mussten. Wir reden weiterhin mit Anbietern
über andere Tarife und Möglichkeiten als die PrepaidCard. Diese hat nur einen begrenzten Nutzen. Sie bietet
zwar eine finanzielle Absicherung, weil das Guthaben
begrenzt ist, aber insgesamt werden die Jugendlichen
über den Tisch gezogen, weil die Tarife zu hoch sind.
Das muss also weiter diskutiert werden. Ich denke dabei
auch daran, ob man Handys kaufen kann, die die 5erServicenummern nicht haben. Das ist, glaube ich, das
neueste Unglück auf dem Markt. Es kann geschehen,
dass man jede Menge überflüssige Dinge geliefert bekommt und kaum wieder aus dem Geschäft herauskommt.
Des Weiteren bemühen wir uns in einigen von uns geförderten Modellprojekten um die Verbesserung der Medienkompetenz. Dabei geht es nicht nur um das Fernsehen, sondern um alle Medien. Wir haben im
Wettbewerbsrecht entsprechende Regelungen vorgesehen. Wir haben zum Thema Alcopops zusammen mit
dem Gesundheitsministerium Regelungen erarbeitet, bei
denen es auch um den Jugendschutz geht. Das Thema
Ernährung habe ich bereits angesprochen. Das Rauchen
ist auch im Gesundheitsministerium ein Thema. Schließlich sind die gesundheitlichen Belastungen durch Azofarbstoffe zu nennen, die sich durch ihre Verwendung
bei Spielwaren und Textilien besonders auf Kinder belastend auswirken. Da sich die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen beispielsweise seit meiner Jugendzeit völlig verändert hat, bin ich mir sicher, dass uns
dieses Themenfeld sicherlich noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird.
Frau Kollegin Kopp, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Frau Ministerin, ich
habe zwei sehr kurze Fragen. Erstens erwähnten Sie die
Stiftung Warentest, die bekanntermaßen sehr gute Arbeit
leistet und jetzt ein Jubiläum feiert. Ich habe festgestellt,
dass die Stiftung Warentest seit neustem das Prüfverfahren für die Produkte um Umwelt- und Sozialstandards
erweitert hat. Damit führt sie in einem großen Umfang
weitere Prüfungen durch, die mit einem sehr hohen bürokratischen Aufwand verbunden sind.
Die Stiftung Warentest erhält 6,5 Millionen Euro aus
der Bundeskasse. Ich frage Sie, wie Sie - auch im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit von Firmen, die außerhalb Deutschlands und Europas Zulieferer haben - zu
dieser Testerweiterung stehen und ob Sie über die dabei
angelegten Methoden und Standards - zum Beispiel,
dass Firmen über 37 Seiten umfassende Fragebögen ausfüllen müssen - Bescheid wissen.
Meine zweite Frage betrifft die Entschädigungszahlungen der Bahn an die Kunden. Ich möchte gerne wissen, warum Sie sich mit einer Eigenverpflichtung bzw.
einer freiwilligen Schadenersatzregelung der Bahn zufrieden gegeben haben, statt die Entschädigungszahlungen der Bahn nach dem BGB zu regeln, das einen gesetzlich verankerten Schadenersatzanspruch für die
Verbraucher vorsieht.
Ich beginne mit unserem Geburtstagskind der Woche,
der Stiftung Warentest, die ihr 40-jähriges Jubiläum feiert. Sie haben angesprochen, dass sie Umwelt- und
Sozialstandards in ihren Kriterienkatalog mit aufgenommen hat. Ich begrüße das, weil ich weiß, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher danach fragen. Die Stiftung Warentest hat auch schon früher gesundheitliche
und umweltbezogene Kriterien berücksichtigt, zum Beispiel wenn sie den Formaldehydgehalt in Körperpflegeprodukten getestet hat. Ich glaube, dass es sich um einen
sich weiter entwickelnden Bereich handelt. Dem trägt
die Stiftung Warentest durch die Erweiterung der Standards Rechnung.
Mir stand und steht es nicht zu, der Stiftung Warentest
die Standards vorzuschreiben. Dass sie sie in ihren Kriterienkatalog mit aufgenommen hat, ist ihre eigene Entscheidung. Ich persönlich begrüße das und kann nur
meinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass sie dies fortsetzt. Offensichtlich hat die Stiftung Warentest gemerkt,
dass ihr mit Ökotest eine Konkurrenz erwachsen ist, die
sich mit Fragen befasst, die die Verbraucher beschäftigen.
Was wollen denn die Verbraucher wissen, wenn sie
einen Laden betreten? Angesichts dessen, wie sich das
Rugmark-Zeichen für Teppiche, die ohne Kinderarbeit
hergestellt wurden, ausgewirkt hat - es ist bekannt, welche gesundheitliche Belastung die Kinderarbeit bedeutet -, halte ich es für völlig verständlich, dass die Verbraucher über die Mindeststandards vor Ort Bescheid
wissen wollen.
In Deutschland gibt es eine massive Abwanderung
von Arbeitsplätzen. Ich habe gewisse Bedenken, Frau
Kopp, wenn sich unsere Verbraucher wundern, wo unsere Arbeitsplätze geblieben sind, gleichzeitig aber bei
einem Produkt nicht erkennen können, wie hoch der Anteil der in Deutschland eingesetzten Arbeitskraft daran
ist oder ob die Firma, beispielsweise wenn sie in China
produziert, zumindest bestimmte soziale oder gesundheitliche Mindeststandards eingehalten hat.
Im Übrigen würde ich die Wettbewerbsfähigkeit in
diesem Zusammenhang auf keinen Fall so definieren,
die Standards immer weiter zu senken. Denn dann würden wir zulassen, dass bald kein einziger deutscher Arbeitsplatz mehr existiert, sondern dass in Deutschland
nur noch der Verkauf stattfinden würde, während die
Waren woanders produziert würden. Das entspricht definitiv nicht meiner Zukunftsvorstellung.
Wettbewerbsfähigkeit kann auch dadurch entstehen,
dass sich ein Unternehmer für die Einhaltung von Standards entscheidet. Beispielsweise gibt es Puppenfirmen,
die in Deutschland gute Geschäfte machen. Ich denke in
diesem Zusammenhang an eine Babypuppe, die offenbar
alle Mädchenherzen erfreut. Sie wird von einer Firma
produziert, die sich in China nach den Mindeststandards
des Internationalen Spielwarenverbandes zertifizieren
ließ. Dabei handelt es sich um eine von 37 Firmen unter
insgesamt 9 000 Spielzeugfirmen.
Wenn man deren Standard sieht, hat man eine böse
Ahnung, wie der Standard bei allen anderen aussieht. Ich
meine, dass die hiesigen Kunden das wissen sollten. Die
Unternehmen machen sonst beispielsweise mit dem geringen Wasser- und Energieverbrauch einer Waschmaschine gerne positiv Werbung. Die Verbraucher wollen
das wissen.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir
6,5 Millionen Euro hierfür ausgeben, und behauptet, nun
würden Firmen gezwungen, große Fragebögen auszufüllen. Dazu kann ich nur sagen: Der Steuerzahler bezahlt
die Stiftung Warentest. Viele Wirtschaftsunternehmen
werben mit einem positiven Testergebnis dieser Stiftung.
Wenn ein Unternehmen kein positives Ergebnis von der
Stiftung Warentest haben möchte, dann muss es den angesprochenen Fragebogen nicht ausfüllen und muss
ohne Ergebnis Werbung machen.
({0})
- Frau Kopp, Sie haben Recht: Man kann auch eine Negativbewertung bekommen. Aber wir beide wissen doch,
welchen enormen finanziellen Profit und Nutzen jede
Firma von guten Testergebnissen der Stiftung Warentest
hat, und zwar seit ihrem Bestehen.
In den 50er-Jahren war man der Auffassung, dass es
Aufgabe der Wirtschaft ist, selber für ihre Produkte zu
werben. Später hat die Republik begonnen, Werbung
und Information auseinander zu halten. Werbung macht
die Wirtschaft, während Organisationen wie die Stiftung
Warentest für unabhängige Informationen sorgen. Es
kann aber nicht sein, dass ein Unternehmen mit den
positiven Ergebnissen der durch Steuerzahlergelder
finanzierten Stiftung Warentest auf seinen Produkten
werben will, um guten Profit zu machen, und es gleichzeitig ablehnt, einen kritischen Fragebogen auszufüllen.
Damit habe ich ein Problem. Ich glaube, die Stiftung
Warentest ist frei, das zu testen, was nach ihrer Meinung
die Verbraucher, ihre Kunden, wissen wollen. So verhält
es sich auch mit dem Fragebogen. Ich jedenfalls möchte
- genauso wie beispielsweise beim Teppichkauf - gerne
wissen, ob ein Produkt durch Kinderarbeit hergestellt
worden ist.
Frau Kopp, Sie hatten mich auch noch etwas zur
Deutschen Bahn gefragt; die Antwort auf diese Frage
will ich gar nicht unterschlagen. Sie haben Recht: Wir
haben dafür gesorgt, dass die Deutsche Bahn freiwillig
ihre allgemeinen Geschäftsbedingungen geändert hat.
Ich glaube, dass die Deutsche Bahn damit einen wichtigen Schritt gemacht hat. Sie könnte die Änderungen jederzeit zurücknehmen, weil diese nicht gesetzlich verankert sind. Das wird sie aber sicherlich nicht tun; den
dann einsetzenden Sturm der Entrüstung will die Deutsche Bahn ganz bestimmt nicht ertragen. Insofern gehe
ich davon aus, dass die betreffenden Regelungen von
Bestand sein werden.
Ich glaube, dass das ein guter Ansatzpunkt ist. Wir
haben heute die Schlichtungsstelle Mobilität eröffnet, an
der sich auch die Deutsche Bahn beteiligt. Dort können
alle Fälle vorgetragen werden, die nicht unter die allgemeinen Geschäftsbedingungen fallen. Die Deutsche
Bahn ist bereit, im Zweifelsfall ein Stück weit Kulanz zu
zeigen.
({1})
- Sie sagen, dass dies die Verbraucher schlechter stelle.
Aber die Zahlen zeigen im Vergleich zu vorher eine positive Entwicklung.
Frau Ministerin, ich kann einen Dialog mit Frau Kopp
und die Beantwortung der geäußerten Zusatzfragen nicht
zulassen, weil das auf Kosten der Kolleginnen und Kollegen geht. Es gibt noch viele andere Fragestellerinnen
und Fragesteller.
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Wolff.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich bedanke mich ganz
herzlich für den verbraucherpolitischen Bericht der Bundesregierung. Er zeigt, welchen Stellenwert der Verbraucherschutz in Deutschland einnimmt. Ich hätte gerne gewusst, mit welchen Maßnahmen die Bundesregierung
gewährleistet, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher vor unlauterem Wettbewerb geschützt werden.
Ich glaube, der Kernpunkt des Schutzes gegen unlauteren Wettbewerb ist das geänderte UWG, das nach entsprechender Beratung im Sommer dieses Jahres in Kraft
getreten ist. Neu ist, dass zum ersten Mal der Verbraucherschutz als Gesetzesziel aufgenommen worden ist.
Das UWG regelt und schützt damit nicht länger nur die
unterschiedlichen Interessen der Unternehmen, das
heißt, dass es beispielsweise verhindert, dass sich ein
Unternehmer durch trickreiche Sonderangebote einen
wirtschaftlichen Vorteil auf Kosten anderer Unternehmer
verschafft. Nun gilt ein Verbot benachteiligender Praktiken wie Lockvogelangebote und Mondpreise. Man darf
also nicht mit einem sehr billigen Angebot - sei es für
einen Bräter oder sei es für einen Eierkocher oder einen
Computer - werben, ohne das so beworbene Produkt
vorrätig zu haben. Insbesondere bei den Discountern war
es Praxis, bestimmte Produkte mit großformatigen Anzeigen zu bewerben, die aber spätestens um 10.30 Uhr
nicht mehr vorhanden waren. Viele Kunden, die losgerannt sind, um die beworbenen Produkte zu kaufen, aber
keine bekommen haben, haben dann bei den Discountern eingekauft, weil sie schon einmal da waren. Das war
ja der Trick. Man wollte die Kunden sozusagen locken.
Das ist in Zukunft verboten.
Mit Mondpreisen zu werben ist in Zukunft ebenfalls
verboten. Man darf also nicht behaupten, etwas sei ein
super Sonderangebot, wenn es nicht bereits eine bestimmte Anzahl von Tagen zu dem entsprechenden Preis
vorrätig war und verkauft wurde; denn sonst behauptet
man, ein Schnäppchen zu haben, obwohl es keines ist.
Es gibt zudem wirtschaftliche Sanktionen - das ist ein
neues Instrument der Verbraucherverbände -: Wer gegen
die Regeln verstoßen hat, der muss in Zukunft gewärtigen, dass die Verbraucherverbände klagen und eine so
genannte Unrechtsgewinnabschöpfung vornehmen, deren Einnahmen dem Bundeshaushalt zufallen.
Darüber hinaus gibt es eine Kombination aus aktivierenden Verbandsrechten - darunter fällt auch ein Verbandsklagerecht - und ökonomischen Reaktionen. Darunter fällt auch das, was im Energierecht neu geregelt
worden ist. Mein Wunsch ist eigentlich, dass wir das in
den verschiedenen rechtlichen Regelungen in Zukunft
zum Standard machen.
Das Energierecht ist besonders bedeutsam, weil wir
alle in der letzten Zeit darüber diskutiert haben, was die
Gaspreise mit der Ölförderung und den entsprechenden
Rohölpreisen zu tun haben. Dabei geht es um Alltagskosten der Verbraucherinnen und Verbraucher; deshalb
ist es richtig, an dieser Stelle nicht nur zu kontrollieren,
sondern schlechte Praktiken, durch die Unrechtsgewinne
erzielt werden, zu beseitigen. Die Unternehmen müssen
wissen, dass die Verbraucherverbände ein Werkzeug haben, mit dem sie ihnen wirtschaftlich schaden können.
Frau Kollegin Heinen, bitte.
Sie sprechen in Ihrem Bericht - wie auch sonst immer
wieder gerne - an, dass nicht nur der gesundheitliche
Verbraucherschutz wichtig ist, sondern wir einen umfassenden Verbraucherschutz brauchen, also einen Verbraucherschutz im wirtschaftlichen und im rechtlichen Bereich.
Umso erstaunter bin ich, dass diese beiden Bereiche
nur einen relativ geringen Teil Ihres Berichts ausmachen. Mich verwundert sehr, lesen zu müssen, dass Sie
sich mit der Bundesanstalt für Finanzen auseinander setzen wollen, da Sie eine neue Aufgabenverteilung beim
Umgang mit Schrottimmobilien - das ist ein wichtiges
Thema - wünschen. Dazu steht in Ihrem Bericht überhaupt nichts: Weder gibt es irgendeinen Bezug zur Vergangenheit - wahrscheinlich ist Ihnen die Wichtigkeit
dieses Themas erst jetzt aufgefallen - noch enthält der
Ausblick in Bezug auf die Immobilien mehr als die Behandlung des kleinen Bereichs des Bauvertragsrechts
und der Frage, was die Bauunternehmer leisten müssen.
Angesichts dessen frage ich mich: Warum nehmen
Sie dieses Thema nicht noch in Ihren Bericht auf? Warum erwähnen Sie in diesem Bericht nicht, dass dieses
Thema wichtig ist? Was sagt der Finanzminister dazu?
Haben Sie das mit ihm abgesprochen?
Ich sehe mit Freude - dass Sie erfreut sind, schließe
ich zumindest aus Ihrer Frage -, dass sich auch die
CDU/CSU-Fraktion dem Thema des wirtschaftlichen
Verbraucherschutzes widmen möchte und deshalb Zustimmung signalisiert. Die erste Chance, mitzumachen,
haben Sie bei der weiteren Beratung des Verbraucherinformationsgesetzes.
Im Übrigen: Ich glaube, Sie haben bei der Beratung
letzte Woche eine Chance verpasst. Vielleicht reagieren
die B-Länder, also die CDU-geführten Länder und Bayern, am 17. Dezember anders. Frau Heinen, damit fängt
es an.
Wir haben in diesem verbraucherpolitischen Bericht
diejenigen größeren Vorhaben aufgezählt - ich habe es
bereits gesagt -, die beendet wurden. Dieser Bericht beschreibt ja das, was getan wurde. Wir beschreiben Verfahren, die schon fast abgeschlossen sind, und haben
logischerweise nur einen extrem knappen Ausblick gegeben. Auch dabei wurden diejenigen Dinge beschrieben, die sehr konkret bearbeitet werden. Sie können sich
darauf freuen, im nächsten verbraucherpolitischen Bericht sowohl die Beschreibung einer größeren Anzahl
von erledigten Projekten als auch von weiteren Aktivitäten zu finden.
Das Thema Schrottimmobilien steht ganz oben auf
der Liste. Eine angemessene Behandlung dieses Themas
erfordert zunächst einmal eine Tatsachensammlung, die
Auswertung der Rechtsprechung usw. Wir werden Ihnen
darüber weiter berichten, natürlich erst, nachdem ich das
mit den Kolleginnen und Kollegen im Justizministerium,
im Finanzministerium und anderswo besprochen habe.
Frau Kollegin Connemann, bitte.
Frau Ministerin, Sie haben das Erfordernis einer
guten Information des Verbrauchers wiederholt angesprochen. Insoweit haben Sie sich, auch seitens Ihrer
Fraktion, auf das im Lebens- und Futtermittelrecht verankerte Informationsrecht berufen. Dieser Regelung
haben wir aus vielen Gründen nicht zugestimmt; wir
glauben nämlich, dass eine wirklich angemessene Information des Verbrauchers nicht gewährleistet wird. Eine
Information von hohem Wert für den Verbraucher ist
zum Beispiel eine, die ihn erkennen lässt, von woher die
Lebensmittel kommen, die er verzehrt. Ich denke etwa
an die Geflügelfleischimporte aus Drittländern, die in
den vergangenen Jahren enorm zugenommen haben.
Waren es im Jahr 2001 noch 211 000 Tonnen, die aus
Brasilien und Thailand nach Deutschland importiert
worden sind, so waren es im Jahr 2003 schon
270 000 Tonnen.
Nach der entsprechenden Verordnung auf EU-Ebene
besteht eine Pflicht, diese Geflügelfleischimporte aus
Drittländern zu kennzeichnen, nur dann, wenn das
Fleisch keiner auf seine Haltbarkeit einwirkenden Behandlung unterzogen worden ist. Sie gilt also nur für
Frischfleisch sowie gefrorenes und tiefgefrorenes
Fleisch. Eine Deklaration ist nicht erforderlich, wenn das
Fleisch einzelnen Behandlungsschritten, zum Beispiel
Einsalzen, Einwürzen, Braten, unterzogen worden ist.
Frau Kollegin, ich habe das Problem, dass noch fünf
Kolleginnen und Kollegen eine Frage stellen wollen.
Ich komme zu meiner Frage.
Die Zeit für die Befragung der Bundesregierung ist
schon abgelaufen. Ich bin aber gern bereit, dem Fragebedarf noch Rechnung zu tragen, allerdings nur dann,
wenn sich die Fragesteller kurz fassen und Sie, Frau Ministerin, sich auch kurz fassen; denn sonst funktioniert
das nicht.
Gut; ich komme schon zu meiner Frage.
Was beabsichtigt die Bundesregierung zur besseren
Herkunftsbezeichnung bei tierischen Produkten aus
Drittstaaten zu unternehmen? Beabsichtigt sie, sich auf
europäischer Ebene dafür einzusetzen, die Pflicht zur
Angabe des Herkunftslandes bei Geflügelfleisch, das aus
Drittländern in die EU eingeführt wird, auf behandeltes
Geflügelfleisch, zum Beispiel thermisch behandeltes,
gesalzenes, gewürztes Fleisch bzw. so genannte Geflügelfleischzubereitung, auszudehnen?
Vielen Dank.
Das ist eine wunderbare Fachfrage. Von Ihnen ist,
glaube ich, viel Sachverstand eingeholt worden, um
diese Frage zu formulieren.
Ich habe mich wie Sie, Frau Connemann, darüber gewundert, dass solche Regelungen auf europäischer
Ebene überhaupt bestehen. Sie sind, wie auch Sie wissen, vor meiner Amtszeit geschaffen worden. Ich habe
mich auch darüber gewundert, dass Deutschland in der
Vergangenheit auf europäischer Ebene nie hinreichend
Sorge dafür getragen hat, dass durch eine Herkunftsbezeichnung klar ist, was woher kommt.
Insofern habe ich Ihre Frage so verstanden, dass Sie
unsere Politik ein Stück unterstützen wollen. Ich möchte
mehr an Kennzeichnung. Wir haben dafür gesorgt, dass
einige steuerliche Regelungen, die dazu geführt haben,
dass besonders viel entsprechend bearbeitetes Geflügelfleisch nach Deutschland hereingekommen ist, verändert
wurden, sodass Deutschland nicht mehr Haupteinfuhrland für solches Fleisch ist. Grundsätzlich möchte ich
bei allem die Herkunft erkennen oder auch erkennen
können, wo das entsprechend bearbeitet worden ist. Das
zu erreichen erfordert, denke ich, gemeinsame Anstrengungen.
Trotz alledem habe ich etwas im ersten Teil Ihrer
Frage nicht verstanden. Sie haben gesagt, das Verbraucherinformationsgesetz biete zu wenig Informationen.
Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was Sie wollen. Das ist
Ihnen zu wenig. Mehr wollen Sie aber nur, wenn es abgestimmt in Europa passiert. Also machen Sie im Ergebnis gar nichts. - Aber ich darf ja keine Gegenfrage stellen.
Ich lasse jetzt noch zwei Fragen zu. Mehr kann ich
leider nicht mehr zulassen, weil die Zeit für die Befragung der Bundesregierung schon überschritten ist; das
geht also zulasten der Fragestunde.
Ich bitte die beiden Fragesteller, kurz und knapp zu
fragen, und Sie, Frau Ministerin, auch die Antwort nach
Möglichkeit kurz und knapp zu halten.
Das Wort hat der Kollege Zöllmer.
({0})
Frau Ministerin Künast, auf das Jubiläum zum 40-jährigen Bestehen der Stiftung Warentest ist bereits hingewiesen worden. Auf die Frage eines Journalisten „Sind
Sie mit dem Stellenwert zufrieden, den die rot-grüne Regierung dem Verbraucherschutz einräumt?“ antwortete
Werner Brinkmann, Alleinvorstand der Stiftung Warentest: Ja, seit Verbraucherministerin Renate Künast im
Amt ist, hat die Politik für Verbraucher zweifellos an
Einfluss und Profil gewonnen. Das ist erfreulich und
macht auch unsere Arbeit einfacher.
({0})
Frau Ministerin, ich frage Sie, ob Sie mit diesem Qualitätsurteil zufrieden sind.
({1})
Frau Präsidentin, nun kann ich Ihrem Wunsch nachkommen und eine knappe Antwort geben: Ich bin zufrieBundesministerin Renate Künast
den und würde ein solches Lob zum 50. Geburtstag der
Stiftung Warentest notfalls noch einmal annehmen.
({0})
Herr Kollege Feibel, bitte.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin von Lockvogelangeboten und Mondpreisen gesprochen. Ich frage Sie, ob
bei der Billigfliegerei diese Grundsätze, die beim Verbraucherschutz beherzigt werden sollen, noch angewendet werden, wenn gerade einmal 10 Prozent der Flugplätze zu diesen Billigpreisen zur Verfügung gestellt
werden müssen, also zum Beispiel vielleicht nur zehn
Sitzplätze für den Preis von 9,99 Euro von Köln nach
Perpignan angeboten werden. Widerspricht das nicht
dem Verbot von Lockvogelangeboten und Mondpreisen?
Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass die Deutsche
Bahn serienweise Bahnhöfe schließt? Dadurch wird dem
Verbraucher ja eigentlich die Möglichkeit genommen,
sich ausführlich über Fahrpläne, Fahrpreise und Ähnliches zu informieren. Hinzu kommt, dass die Bahn auch
noch die Provision für die Vermittlung von Leistungen
absenkt, sodass der Verbraucher fast ausschließlich auf
Internet und Callcenter angewiesen ist, deren Beratungsqualität ja nicht sonderlich herausragend ist.
Bei der Billigfliegerei muss man unterscheiden: Zum
einen muss man sich fragen, wie es überhaupt zu einem
solchen Erscheinungsbild kommt, wie die Konkurrenzsituation der Flughäfen untereinander ist und wie die
rechtlichen, finanziellen und steuerlichen Bedingungen
aussehen. Dieser Themenbereich fällt nicht in die engere
Zuständigkeit des Verbraucherschutzministeriums.
Zum anderen muss man sich fragen - das ist der
wichtigere Punkt -, ob es in diesem Bereich Lockvogelangebote und Mondpreise gibt. Um das zu prüfen, muss
man wie in anderen Bereichen schauen, ob das, womit
geworben wird, auch tatsächlich im Angebot ist. Es wird
im Zweifelsfalle auch kontrolliert, ob man solche Angebote bekommt. Hier ist der Sachverhalt aber natürlich
ein anderer als bei Angeboten in Geschäften, die man
erst einmal aufsuchen muss. Aus dem Internet dagegen,
wo man in der Regel nachschaut, ob es einen Flug für
40 Euro zum gewünschten Ziel gibt, kommt man leichter
wieder heraus als aus einem Geschäft. Die grundsätzlichen Regelungen gelten natürlich auch für den Bereich
der Fliegerei, aber nur in Bezug auf die interne Preisgestaltung der Unternehmen, nicht in Bezug auf das Erscheinungsbild der Billigfliegerei, das durch die Konkurrenz der Unternehmen untereinander entstanden ist.
Hinsichtlich der Schließung von Bahnhöfen und Servicecentern lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich wundere mich darüber, dass ich auf der einen Seite so häufig
dafür kritisiert werde, dass durch die Festschreibung von
Verbraucherrechten die Wirtschaft gestört würde, jetzt
auf der anderen Seite aber ständig Fragen kommen, in
denen die Auswirkungen unternehmerischen Handelns
kritisiert werden. Ich würde vorschlagen, beide Punkte
auch bei der Bahn miteinander zu verbinden: Wenn die
Bahn aus bestimmten Gründen Bahnhöfe oder Servicecenter schließt, dann darf das nicht dazu führen, dass nur
noch das Internetangebot übrig bleibt. Ich finde es gut,
dass auf Initiative Einzelner mittlerweile aus ehemaligen
Servicecentern richtige Anlaufstellen geworden sind,
weil hier verschiedenste Produkte verkauft werden,
Postleistungen angeboten und Auskünfte über Bahnpreise gegeben sowie Bahntickets verkauft werden. Wir
brauchen nämlich eine flächendeckende Versorgung mit
diesen Produkten, gerade auf dem Land. Hierzu ist es
aber nötig, Verbraucherinteressen, Kundeninteressen
und wirtschaftliche Interessen zu verbinden. Das geht
aber nicht im Rahmen des alten Systems, sondern das
schaffen wir nur, wenn neue kreative Ideen entwickelt
werden. Ich glaube, dass es hier schon längst viel versprechende Ansätze gibt.
Vielen Dank, Frau Ministerin, für die Beantwortung
der Fragen.
Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettsitzung? - Frau Kollegin Pau, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Den Medien habe ich entnommen, dass sich das Bundeskabinett heute auch mit
dem Rüstungsexportbericht beschäftigt hat und dass sich
die Rüstungsexporte gegenüber dem Vorjahr vervierfacht haben und mittlerweile ein Volumen von 1,3 Milliarden Euro umfassen. Ich möchte wissen, ob sich die
Bundesregierung mit dem in den letzten Tagen vielfach
erhobenen Vorwurf beschäftigt hat, dass durch diese exorbitante Steigerung der Rüstungsexporte der Irakkrieg
indirekt unterstützt wurde und damit die deutsche Wirtschaft auch noch an diesem völkerrechtswidrigen Krieg
verdient hat.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wagner, bitte.
Frau Kollegin Pau, das Kabinett hat sich im Gegensatz zu dem, was Sie vermuteten, damit nicht näher befasst. Auch die anderen Schlüsse, die Sie gezogen haben,
sind unzutreffend.
Vielen Dank. - Eine zweite Frage kann ich leider
nicht mehr zulassen, Frau Kollegin Lötzsch.
Ich beende nun die Befragung zu den Themenbereichen der heutigen Kabinettsitzung. Gibt es darüber hinaus Fragen die die Bundesregierung? - Das ist nicht der
Fall. Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 15/4284, 15/4376 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Ziffer 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf
Drucksache 15/4376 auf:
Teilt die Bundesregierung die Aussage des Bundesministers der Finanzen, Hans Eichel, dass ein Großteil der Fördermittel für den Aufbau Ost zweckentfremdet eingesetzt wird,
dpa vom 28. November 2004?
Trifft die Aussage des Bundesministers der Finanzen,
Hans Eichel, zu, der in „Bild am Sonntag“ vom 28. November
2004 wie folgt zitiert wird: „Die meisten ostdeutschen Länder
- und zuallererst Berlin - setzen die Solidarpaktmittel nicht
im Sinne des Erfinders ein“?
Zur Beantwortung der dringlichen Fragen steht der
Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller bereit.
Herr Kollege Koppelin, die gemäß § 11 Abs. 4 Finanzausgleichsgesetz für den Abbau teilungsbedingter
Sonderlasten und zum Ausgleich unterproportionaler
kommunaler Finanzkraft gewährten Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen wurden nur in Sachsen vollständig zweckgerecht verwendet. Aus der Stellungnahme der Bundesregierung zu den Fortschrittsberichten
„Aufbau Ost“ geht hervor, dass alle anderen Länder die
Mittel in Höhe von insgesamt 10,5 Milliarden Euro stattdessen zu einem erheblichen Teil für laufende Ausgaben
eingesetzt haben.
Ich habe dem Haushaltsausschuss über den einvernehmlichen Beschluss der 101. Sitzung des Finanzplanungsrates vom 18. November 2004 berichtet. Dort
heißt es - ich zitiere -:
Des Weiteren wurden die Fortschrittsberichte „Aufbau Ost“ der neuen Länder und Berlins nach § 11
Abs. 4 Finanzausgleichsgesetz sowie die Stellungnahme der Bundesregierung dazu beraten.
Die vierte Punktation dieses einvernehmlichen Beschlusses lautet wie folgt:
Im Finanzplanungsrat wurden die Fortschrittsberichte „Aufbau Ost“ der neuen Länder und Berlins
für das Jahr 2003 vorgelegt und gemeinsam mit einer Stellungnahme des Bundes erörtert. Mit Ausnahme von Sachsen werden die zur Verfügung gestellten Mittel nicht vollständig zweckgerecht
verwendet. Dies liegt nach Auffassung der betroffenen Länder vor allem an den langjährigen konjunkturbedingten Einnahmeeinbrüchen, die trotz ausgewiesener restriktiver Ausgabenpolitik eine erhöhte
Kreditaufnahme erzwangen. Die neuen Länder und
Berlin tragen die Verantwortung, durch konsequente Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung
die sachgerechte Verwendung der Mittel zu gewährleisten.
Sie sehen: Nicht nur Bundesfinanzminister Hans
Eichel und die Bundesregierung, sondern auch die Länderfinanzminister sind dieser Auffassung.
Ihre Zusatzfragen, bitte, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, Sie wissen natürlich, dass auch
ich diesen Bericht habe, denn ich habe ihn im Haushaltsausschuss vorgetragen. Ich habe gefragt, ob die Bundesregierung die Auffassung von Finanzminister Eichel
teilt. Das haben Sie eben bestätigt. Wie kommt es dann
zu den Äußerungen des Ministers Stolpe, der die Aussagen von Herrn Eichel mit Vehemenz zurückgewiesen
hat, so jedenfalls Agenturmeldungen?
Auch ich kenne nur Agenturmeldungen, nicht den
Wortlaut seiner Ausführungen. Nach den Agenturmeldungen hat Herr Stolpe darauf hingewiesen, dass die
neuen Länder unter anderem Sonderlasten geltend machen. Diese Sonderlasten wie auch die Sondersituation
der neuen Länder durch die wirtschaftliche Entwicklung
sind in dem Bericht der Bundesregierung ausführlich gewürdigt und entsprechend bewertet worden. Die Bewertung bezüglich der Sonderlasten können wir allerdings
nicht teilen.
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte.
Können Sie denn die Aussage von Minister Eichel bestätigen, dass die zweckentfremdeten Mittel für den Aufbau Ost etwa die Summe von 10 Milliarden Euro ausmachen?
Herr Kollege, ich habe eben darauf hingewiesen, dass
insgesamt 10,5 Milliarden Euro - zu einem erheblichen
Teil für laufende Ausgaben - eingesetzt worden sind. Ich
kann Ihnen auch die Anteile in den einzelnen Ländern
mitteilen: In Sachsen wurden die Mittel vollständig
zweckgerecht eingesetzt. In Brandenburg wurden sie
2003 zu etwa 43 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern
zu rund 27 Prozent, in Sachsen-Anhalt zu etwa 48 Prozent und in Thüringen zu etwa 66 Prozent sachgerecht
eingesetzt. In Berlin konnte keine zweckgerechte Verwendung der erhaltenen Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen festgestellt werden.
Herr Staatssekretär, war das jetzt schon die Antwort
auf die Frage 2?
Die beiden Fragen überlappen sich.
Das ist deshalb von Bedeutung, weil es noch eine Zusatzfrage zur dringlichen Frage 1 gibt.
({0})
- Dann haben Sie, Herr Kollege Koppelin, noch zwei
weitere Zusatzfragen.
Teilt der Bundesfinanzminister die Auffassung des
nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers, der gefordert hat, es müssten genaue Nachweise über die Verwendung der Mittel erbracht werden und es müsste gegebenenfalls, wenn die Bedingungen nicht erfüllt sind, über
Sanktionen nachgedacht werden?
Herr Kollege Koppelin, in ihrer Stellungnahme vom
Oktober 2004 zu den Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“
der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fordert
die Bundesregierung auf Seite 51:
Die Bundesregierung erwartet, dass die neuen Länder ihrer Verantwortung für das Gelingen des Aufbaus Ost nachkommen. Die Solidarpaktmittel müssen vollständig und nicht wie bisher in den meisten
Ländern nur zur Hälfte bis zu zwei Dritteln zur Förderung des Aufbauprozesses eingesetzt werden.
Länder, die Solidarpaktmittel nicht für aufbaugerechte Zwecke einsetzen, verstoßen gegen den
Geist des Solidarpakts. Um ihrer Verantwortung für
den Aufbauprozess gerecht zu werden, sind die
Länder gefordert, darzulegen, welche zusätzlichen
Maßnahmen sie ergreifen, damit zukünftig die erhaltenen Solidarpaktmittel vollständig sachgerecht
eingesetzt werden.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe hier eine dpa-Meldung,
in der es heißt:
Eichel betonte, die Zweckentfremdung der Gelder
bremse den Fortschritt beim Aufbau Ost.
Eichel wird dann wörtlich zitiert:
„Das kann und werde ich nicht länger akzeptieren.“
Darf ich Sie fragen, welche konkreten Maßnahmen der
Minister durchzuführen beabsichtigt, um sicherzustellen,
dass die Mittel nicht mehr zweckentfremdet eingesetzt
werden?
Ich habe eben auf den Beschluss der Finanzministerkonferenz hingewiesen. In diesem Beschluss ist der entscheidende Punkt enthalten. Ich habe außerdem die Forderung in unserer Stellungnahme erwähnt. Dies
entspricht der Auffassung des Bundesministers der Finanzen.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
können Sie bestätigen, dass sich das Land Berlin insbesondere dadurch bundestreu verhält, dass es in den letzten Jahren seine Neuverschuldung nachhaltig reduziert
hat? Allein in den letzten drei Jahren ist das Primärdefizit um 2,2 Milliarden Euro gesenkt worden.
Frau Kollegin, ich kann Ihnen bestätigen, dass der Finanzsenator Sarrazin äußerste Anstrengungen unternimmt, um den Haushalt des Landes Berlin in Ordnung
zu bringen.
Nachdem die dringlichen Fragen beantwortet worden
sind, rufe ich die Fragen auf Drucksache 15/4284 in der
üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach bereit.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Dr. Conny Mayer
auf:
Welche Schritte verfolgt die Bundesregierung im Hinblick
auf die Umsetzung der am 30. August 2003 beschlossenen
Vereinbarung der Welthandelsorganisation, WTO, zu grenzüberschreitenden Zwangslizenzen in ihre nationale Patentrechtsgesetzgebung und welche Konsequenzen zieht sie daraus für ihre Forderung nach kostengünstigen antiretroviralen
Medikamenten für Entwicklungsländer?
Sehr geehrte Frau Dr. Mayer, zur Umsetzung der im
Allgemeinen Rat der Welthandelsorganisation, WTO,
am 30. August 2003 gefundenen Lösung der Problematik so genannter grenzüberschreitender Zwangslizenzen
hat die Europäische Kommission die Initiative ergriffen.
Sie hat am 4. November 2004 einen Vorschlag für eine
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über Zwangslizenzen für Patente an der Herstellung von
Arzneimitteln, die für die Ausfuhr in Länder mit Problemen im Bereich der öffentlichen Gesundheit bestimmt
sind, vorgelegt.
Die Verordnung ist nach ihrer Verabschiedung unmittelbar geltendes Recht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sodass für den nationalen Gesetzgeber
zunächst kein Handlungsbedarf besteht. Sie wird einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, die Forderung der Bundesregierung nach Zugang zu kostengünstigen Medikamenten zu erfüllen. Sie hat weit über die eigentliche gesundheitspolitische Bedeutung hinaus einen hohen
politischen Symbolcharakter für die Bereitschaft der Industrieländer, auf spezifische Interessen der Entwicklungsländer einzugehen.
Ihre Zusatzfragen, bitte, Frau Kollegin.
Vielen Dank für die ausführliche Beantwortung. Sie
haben Dinge dargestellt, nach denen ich gar nicht gefragt
habe. Ich danke ausdrücklich dafür.
Welche Strategie verfolgt die Bundesregierung bei
der Umsetzung ihrer Forderung nach kostengünstigen
antiretroviralen Medikamenten für Entwicklungsländer?
Frau Kollegin, ich hatte das beantwortet. Wir brauchen nichts zu machen. Wenn die angesprochene Verordnung umgesetzt wird - dies geschieht gerade -, wird sie
in den 25 Mitgliedstaaten der EU geltendes Recht, sodass wir keinen Handlungsbedarf haben. Wir unterstützen und fördern dies. Unsere Forderungen werden hiermit erfüllt.
Ich habe also Ihre Frage schon beantwortet, wenn
auch vielleicht ein bisschen verklausuliert.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
({0})
- Haben Sie keine zweite Zusatzfrage mehr, Frau
Mayer?
({1})
- Sie verzichten auf Ihre zweite Zusatzfrage?
({2})
- Es ist aber üblich, dass zunächst Sie Ihre zwei Zusatzfragen stellen und dann andere Abgeordnete ihre Fragen
stellen.
Dann will ich das gerne tun. Vielen Dank.
Hält die Bundesregierung das Thema HIV/Aids unter
den Ministerien für optimal und ausreichend koordiniert? Eine Anmerkung dazu. Wir haben mehrere Fragen
zum Thema HIV/Aids gestellt und haben heute einen
Staatssekretär und zwei Staatssekretärinnen zur Beantwortung da.
Ich sehe an Ihrem Outfit, dass Sie den Weltaidstag
sehr ernst nehmen. Allerdings muss ich Ihnen sagen,
dass ich Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage geben kann.
Es ist noch die Staatssekretärin aus dem Gesundheitsministerium hier. Ich bitte um Nachsicht. Wir trennen
die Zuständigkeiten ganz sauber. Ich gebe Ihnen gerne
Antworten auf alle Fragen, die meinen Zuständigkeitsbereich betreffen.
Es ist wirklich so, Frau Kollegin, dass sich diese
Frage nicht auf Ihre schriftliche Frage bezieht. Sie müssen aber Ihre Zusatzfragen auf Ihre schriftliche Frage beziehen.
Bitte schön, Frau Kollegin Pfeiffer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
was bedeutet die Änderung des TRIPS-Abkommens für
die Bundesregierung hinsichtlich formaler Änderungen?
Welche Folgen hat das?
Für die Bundesregierung hat das keine weiteren Änderungen zur Folge.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Dann bedanke
ich mich beim Herrn Staatssekretär Alfred Hartenbach
für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf. Die Fragen wird Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Matthias Berninger beantworten.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Artur Auernhammer
auf:
Wie viel Euro hat der gesamte Messeauftritt des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, BMVEL, auf der „Euro-Tier“ 2004 in Hannover
gekostet?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Kollege Auernhammer, das Bundesministerium für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft war
mit zwei Messeständen auf der „Euro-Tier 2004“ vertreten, zum einen im Rahmen der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums mit einem Gemeinschaftsstand mit ZADI und AID und zum anderen im Rahmen
des Bundesprogramms „Ökologischer Landbau“ zu dem
Thema „ökologische Tierhaltung“, nach dem Sie auch
gefragt haben.
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Die genauen Kosten dieser Messepräsenz lassen sich
noch nicht beziffern, weil die „Euro-Tier“ diese noch
nicht abschließend in Rechnung gestellt hat.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Ich hätte gern die genauen Zahlen nachgereicht bekommen, damit bekannt wird, was dieser Messeauftritt
gekostet hat. Ist das möglich?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Das ist selbstverständlich möglich. Da Sie aber nach
den genauen Kosten gefragt haben, kann ich Ihnen diese
erst mitteilen, wenn sie vorliegen.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage zur Frage 2?
({0})
Dann eine weitere Zusatzfrage vom Herrn Kollegen
Goldmann.
Herr Staatssekretär, ich finde Ihre Antwort durchaus
amüsant. Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass
Sie auf eine Messe gehen, ohne vorher zu wissen, welche Kosten in etwa auf Sie zukommen? Wir brauchen
hier keine Abrechnung darüber, wie viel Teewasser dort
verbraucht worden ist. Ich weiß doch grundsätzlich vorher - auch ich war schon mit Ständen auf einer Messe
vertreten -, wie viel Geld ich dafür bereitstellen muss.
Ansonsten kann ich das im Grunde genommen gar nicht
realisieren.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Kollege Goldmann, in der Tat haben wir wie bei
allen Messepräsenzen vorab eine Kalkulation gemacht.
Es ist so, dass wir für diese Messepräsenz eine finanzielle Größenordnung kalkuliert hatten, die sich mit vergleichbaren Aktivitäten auf anderen Messen deckt. Der
Messeauftritt wurde bei uns mit ungefähr 220 000 Euro
kalkuliert.
({0})
Ihr Kollege hatte allerdings gefragt, was es genau gekostet hat. Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch
nicht beziffern. Die Kosten können also durchaus niedriger sein; das weiß man immer erst nachher. In unserer
Jahreskalkulation sind wir von 220 000 Euro ausgegangen.
({1})
Nein, Sie dürfen zu dieser Frage keine weitere Zusatzfrage stellen, Herr Goldmann.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Artur Auernhammer
auf:
Welche Vorteile für die deutsche Landwirtschaft hat sich
das BMVEL von dem Messeauftritt versprochen und wie effizient war dieser angesichts der Tatsache, dass der Stand nur
auf Ökolandwirtschaft ausgerichtet war?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, den
ökologischen Landbau zu fördern. Hierzu dient insbesondere das „Bundesprogramm Ökologischer Landbau“.
Wir haben in den letzten Jahren gerade in die Forschung
im Bereich Tierhaltung erheblich investiert. Wir sahen
es als eine sehr gute Maßnahme an, diese Erkenntnisse
dem breiten und fachkundigen Publikum der „EuroTier“ mit einem entsprechenden Angebot bereitzustellen. Die Resonanz auf unseren Stand bestärkt uns darin,
dass eine richtige Entscheidung war, auf die besonderen
Aktivitäten im Bereich der Förderung des ökologischen
Landbaus auf der „Euro-Tier“ hinzuweisen.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Ich weiß nicht, ob Sie auf der „Euro-Tier“ waren. Es
waren 110 000 Fachbesucher dort, darunter 25 000 ausländische Besucher. Der Stand des Bundesministeriums
war einer der Stände, die am schlechtesten besucht waren.
({0})
Die Effektivität dieses Messeauftritts kann ich daher in
keiner Weise nachvollziehen.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Abgeordneter, Sie müssen ganz offensichtlich
die ganze Zeit diesen Stand beobachtet haben. Wir haben
aufgrund der Rückmeldungen unserer Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter ein anderes Bild gewonnen. Auch die
Experten, die wir eingeladen hatten, haben ein anderes
Bild geschildert.
Klar ist, dass ein Stand zum ökologischen Landbau
gerade auf einer traditionellen Messe wie der „EuroTier“ von dem einen oder anderen Besucher, der sozusagen ideologisch an dieses Thema herangeht, nicht so
gern gesehen wurde. Wir sind aber mit der Präsenz und
der Resonanz auf diesen Stand sehr zufrieden. Sollten
Sie genaue Daten haben, aufgrund deren Sie zu der Meinung gekommen sind, dass die Resonanz so furchtbar
schlecht war, bin ich sehr daran interessiert, diese zu bekommen.
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte.
Zur Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft hat dieser Stand dann
nicht beigetragen, oder?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Kollege Auernhammer, wenn ich die Messepräsenzen, die ich auch in meiner Zeit als Haushälter zur
Kenntnis nehmen konnte, immer daran gemessen hätte,
ob sie sich im agrarpolitischen Bereich sofort positiv
auswirken, kämen wir sicherlich zu interessanten Ergebnissen.
Wir gehen davon aus, dass die hervorragenden Forschungsergebnisse in den Bereichen „artgerechte Tierhaltung“ und „ökologischer Landbau“ auf jeden Fall zur
Steigerung der Wirtschaftskraft beitragen. Das können
Sie schon daran erkennen, dass die Ergebnisse, sowohl
was die Ertragssteigerung als auch was die Zahl der Betriebe des ökologischen Landbaus angeht, positiv sind,
während die Ergebnisse in der Landwirtschaft ansonsten
eher rückläufig sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Goldmann.
Herr Staatssekretär, ich habe den Eindruck, dass Sie
wirklich nicht auf der „Euro-Tier“ waren. Es war schon
interessant, dass Sie gesagt haben, die „Euro-Tier“-Aussteller und -Besucher hätten nicht so ganz kapiert, um
was es im Bereich der Agrarwirtschaft geht. Es sei auch
- wie sagten Sie? - eine traditionelle Messe. Ich empfehle Ihnen, sich einmal die Auszeichnungen anzusehen,
die dort verteilt worden sind.
Meine Frage, Herr Staatssekretär: Warum gab es diese
sehr einseitige Ausrichtung? Ich habe mir den Stand angeguckt und fand ihn auch hübsch. Vor dem Hintergrund
aber, dass der Ökobereich, den ich sehr schätze,
4 Prozent des Gesamtmarktes ausmacht, erscheint mir
ein Mitteleinsatz von 220 000 Euro - es wird möglicherweise noch mehr - nicht ganz richtig gewichtet.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Zunächst einmal, Herr Kollege, zu der Ihrer Frage vorangestellten Unterstellung. Ihre Beurteilung der „EuroTier“ ist nicht mit dem in Einklang zu bringen, was ich
dazu gesagt habe. Klar ist, dass der Ökolandbau bei den
Besuchern der „Euro-Tier“ nicht ganz unumstritten ist,
ebenso wie hier im Parlament. Ich freue mich sehr, dass
Sie den Stand hübsch fanden. Darüber hinaus bin ich der
Meinung, dass es sich lohnen würde, die Erkenntnisse,
die wir gewonnen haben, wie artgerechte Tierhaltung in
der Praxis sowohl wirtschaftlicher umsetzbar ist als auch
im Sinne der Gesundheit der Tiere zu besseren Ergebnissen führt, an eine breitere Fachöffentlichkeit weiterzugeben.
Der ökologische Landbau ist eine sehr moderne Form
der Landwirtschaft. Hier gab es in den letzten Jahren
eine Reihe von Innovationen. Anders als Vorgängerregierungen hat sich diese Bundesregierung zum Ziel gesetzt, dem ökologischen Landbau ein stärkeres Gewicht
zu geben und ihn nicht gleichsam als Nische innerhalb
der Landwirtschaft zu „erdulden“.
Von daher erklärt es sich auch, dass wir die Unterstützung der Koalitionsfraktionen bekommen - obwohl wir
zwar Jahr für Jahr Schwierigkeiten haben, die Opposition davon zu überzeugen -, größere Mittel zur Förderung des ökologischen Landbaus im Rahmen des „Bundesprogramms Ökologischer Landbau“ zur Verfügung
zu stellen.
Weitere Fragen liegen nicht vor. Deswegen schließe
ich diesen Geschäftsbereich. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf. Die Fragen beantwortet Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ulrich
Kasparick.
Ich rufe Frage 4 des Kollegen Schummer auf:
Inwieweit beteiligt sich die Bundesregierung zu Fragen
der Wettbewerbsklarheit am Aufruf der Europäischen Union
durch das „Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem
Interesse“ und wie setzt sie sich für Wettbewerbsklarheit bei
der Teilnahme am Weiterbildungsmarkt in Bezug auf Volkshochschulen, Hochschulen und Kammern ein?
Herr Kollege Schummer, Ihre Frage beantworte ich
wie folgt: Die Bundesregierung hat sich an den Konsultationen, die die EU-Kommission im Jahr 2003 auf der
Grundlage eines „Grünbuchs zu Dienstleistungen von
allgemeinem Interesse“ durchgeführt hat, im September
2003 mit einer gemeinsamen Bund/Länder-Stellungnahme beteiligt. In dieser Stellungnahme, die, wie übrigens das Grünbuch der Kommission selber, keine speziellen Ausführungen zu Bildungsdienstleistungen enthält,
hat sie sich gegen eine EU-Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ausgesprochen.
Wir haben auf die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten
und ihrer Untergliederungen für Leistungen der Daseinsvorsorge hingewiesen. Nach Auffassung der Bundesregierung ist der Mehrwert einer horizontalen Regelung
aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen
Sektoren nicht erkennbar.
Die EU-Kommission hat daraufhin im Mai 2004 ein
Weißbuch mit ihren Schlussfolgerungen aus dem Konsultationsprozess vorgelegt. Danach wird sie zunächst
keine Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vorlegen. Auch das Weißbuch enthält
keine spezifischen Ausführungen zum Bildungsbereich.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Wie bewertet die Bundesregierung die anhaltende
Kritik von Weiterbildungsträgern an einer unkoordinierten Vergabe von Bildungsgutscheinen und wie hoch ist
nach Ihren Erkenntnissen der Rücklauf dieser Bildungsgutscheine, indem sie eingelöst werden?
Wir sind mit den Bildungsträgern in Deutschland in
einem sehr engen Gespräch zu diesem Prozess. Zusammen mit den Bildungsträgern sind wir der Überzeugung,
dass wir uns insbesondere im europäischen Wettbewerb,
so wie wir das begonnen haben, noch stärker um eine
Verbesserung des Zugangs zu Bildungsangeboten bemühen müssen. Wir sind sicher, dass wir uns da auf einem
guten Weg befinden.
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte.
Gedenkt die Bundesregierung, die Vergabepraxis zu
entspannen und die Vergabebürokratie abzubauen, indem beispielsweise bei Berufsvorbereitungsmaßnahmen
Aufträge nicht nur für zehn oder elf Monate, sondern für
drei Jahre vergeben werden?
Bei den berufsvorbereitenden Maßnahmen ist wichtig
- das wissen Sie ja -, dass auch regionale Angebote vorhanden sind. Uns liegt daran, dass wir sehr zügig zu Entbürokratisierungsprozessen kommen. Diese Position
vertreten wir in Europa auch in Bezug auf andere Politikfelder ganz energisch. Wir müssen hinsichtlich der
Entbürokratisierung besser werden. Insofern stimmen
wir in der Grundannahme überein.
Weitere Fragen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich
auch diesen Geschäftsbereich. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Die Fragen beantwortet Herr Staatsminister
Hans Martin Bury.
Ich rufe die Frage 5 des Kollegen Peter Weiß ({0}) auf:
Über welche Erkenntnisse in Bezug auf Betrug und Korruption durch die Regierung des ehemaligen irakischen
Staatspräsidenten Saddam Hussein im Zusammenhang mit
dem Programm „Öl für Lebensmittel“ der Vereinten Nationen
verfügt die Bundesregierung und wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung des Vorsitzenden des Ausschusses
für auswärtige Beziehungen des Repräsentantenhauses der
Vereinigten Staaten von Amerika, Henry Hyde, in seiner Stellungnahme für die Anhörung des Ausschusses am 17. November 2004, dass es bei der Durchführung des Programms
„Öl für Lebensmittel“ zu dem „vielleicht größten Finanzbetrug in der Geschichte“ gekommen sei?
Herr Kollege Weiß, der Bundesregierung sind Vorwürfe über einen möglichen Missbrauch des „Öl für Lebensmittel“-Programms bekannt. Sie fordert eine Aufklärung dieser Vorwürfe und hat im Sicherheitsrat für die
Resolution 1538 gestimmt, mit der die Entscheidung des
VN-Generalsekretärs, eine unabhängige, hochrangige
Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Chefs der US-Notenbank, Paul Volcker, einzurichten, begrüßt wird. Die Übergangsregierung der Koalition, die Regierung Iraks und alle VN-Mitgliedstaaten
wurden aufgefordert, mit der Kommission uneingeschränkt zusammenzuarbeiten. Für eine Bewertung der
erhobenen Vorwürfe bleibt die Vorlage des Abschlussberichtes des Untersuchungsausschusses abzuwarten.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatsminister, wie beurteilt die Bundesregierung den Vorwurf der US-amerikanischen Kommission
zur Überwachung des Iraks, die in ihrem Zwischenbericht festgestellt hat, dass Saddam Hussein seine Methode, irakisches Öl zu Vorzugsbedingungen zu verkaufen - das war ja Grundlage seines Betrugssystems -,
ebenfalls dazu genutzt hat, politischen Einfluss auf ständige Mitglieder des Sicherheitsrates wie Frankreich,
China oder Russland hinsichtlich ihres Stimmverhaltens
in Angelegenheiten, die den Irak betreffen, zu nehmen?
Kollege Weiß, ich hatte in Beantwortung Ihrer ersten
Frage darauf hingewiesen, dass die Untersuchungen zu
diesem Gesamtkomplex laufen und ein Abschlussbericht
der eingesetzten unabhängigen Kommission noch nicht
vorliegt. Insofern ist es zu früh, um jetzt zu behaupteten
Verstößen abschließend bewertend Stellung zu nehmen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Nachdem bekannt geworden ist, dass auch der Sohn
von Kofi Annan bis Februar 2004 bei einer Firma beschäftigt war, die offensichtlich in das gesamte Betrugssystem involviert war, frage ich Sie: Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass unter diesen Umständen nicht
auch der UN-Generalsekretär eventuell über politische
Konsequenzen nachdenken muss, nachdem dieser Betrugsfall bereits heute als größter Finanzbetrug in der
Geschichte der Vereinten Nationen bezeichnet wird?
Herr Kollege Weiß, Sie sind sehr schnell mit Ihren Urteilen. Ich kenne Presseberichte über entsprechende Vorwürfe und ich erwarte selbstverständlich, dass die Untersuchungskommission diesen Sachverhalt überprüfen
wird. Vom Ergebnis der Überprüfung wird es abhängen,
welche Schlussfolgerungen man dann zieht.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Peter Weiß auf:
Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang den Erfolg der Vereinten Nationen bei der Überwachung
der korrekten Durchführung des Programmes „Öl für Lebensmittel“ und welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung
über eine etwaige Verstrickung deutscher Banken oder Firmen
in die mutmaßliche Korrumpierung des Programms „Öl für
Lebensmittel“ vor?
Herr Kollege Weiß, es gibt Hinweise, dass trotz umfangreicher Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des
Programms durch die irakische Regierung diese Maßnahmen nicht ausreichten, um jeden Missbrauch auszuschließen. Eine Bewertung der Überwachung des Programms wird aber erst möglich sein, wenn der Bericht
der unabhängigen, hochrangigen Untersuchungskommission vorliegt. Die Bundesregierung hat bisher keine
Erkenntnisse über eine etwaige Verstrickung deutscher
Unternehmen in angebliche Manipulationen des „Öl für
Lebensmittel“-Programms. Der Bundesregierung sind
auch keine entsprechenden Vorwürfe an die Adresse
deutscher Unternehmen bekannt geworden.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Da die an dem Betrugsvorhaben beteiligten Firmen
zumindest mittelbar in erheblichem Maße Geld veruntreut haben, frage ich Sie: Sieht die Bundesregierung
Möglichkeiten, dass die UN nach Vorlage ihres Berichts
entsprechende Konsequenzen gegenüber den Firmen ergreift und eventuell teilweise eine Art Wiedergutmachungsleistung einfordert?
Kollege Weiß, ich darf Sie noch einmal auf meine zuvor gegebenen Antworten verweisen: Wir reden über
Vorwürfe, die zu klären sind. Dieser Klärungsprozess ist
im Gange. Es wird einen Abschlussbericht der unabhängigen Kommission geben. Auf dessen Basis wird man
über die daraus zu ziehenden Konsequenzen beraten.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, für wann erwartet die Bundesregierung den Abschlussbericht dieser Kommission, sodass ich anschließend meine weiteren Fragen stellen
kann?
Herr Kollege Weiß, nach den jüngsten Äußerungen
des Kommissionsvorsitzenden Volcker wird der Abschlussbericht Mitte 2005 und werden Teilberichte ab
Anfang kommenden Jahres vorgelegt werden.
Weitere Fragen liegen nicht vor. Dann schließe ich
den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Vielen
Dank, Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Hartmut Koschyk
auf:
Von wann bis wann hat sich nach Kenntnissen der Bundesregierung der Ausländer R. a. I., der nach Medienberichten einer der Drahtzieher an dem Mord an Theo van Gogh sein, mit
Unterbrechungen seit 1997 in Deutschland als Asylbewerber
gelebt haben und als Wanderprediger und Drogenhändler zwischen Holland und Deutschland gependelt sein soll, in
Deutschland mit welchem Aufenthaltstitel - bitte tabellarisch
auflisten - aufgehalten?
Herr Koschyk, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Der Ausländer reiste erstmalig im Dezember 1994 in das
Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Er hielt sich nach
den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnissen
mit Unterbrechungen von Dezember 1994 bis etwa
Juni 1998 und von Januar 2003 bis April 2004 in
Deutschland auf.
Sein Aufenthalt war lediglich zur Durchführung des
Asylverfahrens gestattet. Die Aufenthaltsgestattung zur
Durchführung eines Asylverfahrens erfolgt kraft Gesetzes. Ihr liegt keine Behördenentscheidung zugrunde. Der
Ausländer besaß zu keinem Zeitpunkt eine Aufenthaltsgenehmigung. Nach bestandskräftiger Ablehnung des
Asylantrags - klageabweisendes Urteil vom 18. Februar 1997 - war er vollziehbar ausreisepflichtig. Zur
Prüfung eines später gestellten Asylfolgeantrags war die
Abschiebung ausgesetzt. Seit Mai 2004 gilt der Ausländer als untergetaucht. Er wurde zur Festnahme im
Schengen-Gebiet zur Fahndung ausgeschrieben.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, treffen dann Pressemitteilungen,
nach denen der Betreffende vor 1998 eine Duldung in
Deutschland erhalten hat, nicht zu?
Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen: nein. So
habe ich auch Ihre Frage beantwortet. Ich will ihr aber
gerne noch einmal nachgehen. Ich kann Ihnen auch im
Einzelnen auflisten, wie sich dieser Fall, was die Daten
betrifft, darstellt.
Ihre nächste Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Ihren Angaben zufolge ist der Betreffende nach 1998 zeitweise wieder in Deutschland gewesen. In den Niederlanden - so jedenfalls die Aussagen
des niederländischen Innen- und des niederländischen
Justizministers - gehörte er zum Umfeld einer Terrorgruppe, gegen die die niederländischen Behörden seit
2002 ermittelt haben, weil man diese Terrorgruppe zum
Umfeld des Terrornetzwerkes al-Qaida gezählt hat.
Ist denn der Bundesregierung, als sich der Betreffende bis zum Jahr 2004 wieder in Deutschland aufgehalten hat, bekannt gewesen, dass er in den Niederlanden
einer Gruppe angehört, gegen die von niederländischer
Seite wegen eines terroristischen Umfeldes ermittelt
worden ist?
Herr Kollege Koschyk, hier kommt es auf die genaue
Datenlage an. Ich habe Ihnen geschildert, dass die betreffende Person zum ersten Mal im Jahr 1994 eine Einreise in das Bundesgebiet vornahm. 1996 gab es dann
bei der Einreise aus den Niederlanden einen Aufgriff an
der Grenze. Am 22. Juni 1998 erfolgte die Asylantragstellung in den Niederlanden unter Verwendung von
Aliaspersonalien. Am 4. Januar 2003 erfolgte mit einem
gefälschten niederländischen Reisepass eine Einreise aus
den Niederlanden nach Deutschland. Am 3. Juni 2003
kam es zur Einreise nach Deutschland aus den Niederlanden, am 12. Oktober 2003 zur Ausreise in die Niederlande, am 17. Oktober 2003 zur Festnahme in den Niederlanden und am 12. November 2003 zur Überstellung
aus den Niederlanden nach Deutschland aufgrund eines
Wiederaufnahmeersuchens nach der so genannten Dublin-II-Verordnung.
Zur Zusammenarbeit, zwischen der niederländischen
und unserer Seite hinsichtlich der Erkenntnislage, nach
der Sie gefragt haben, sage ich Ihnen: Einen ersten intensiven Austausch gab es, wenn ich mich richtig erinnere,
Anfang 2003. Aber das exakte Datum - auch Sie haben
sich im entsprechenden Gremium damit beschäftigt müsste ich nachschlagen. Wenn mich meine Erinnerung
nicht im Stich lässt, war das im Jahr 2003.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Ich habe schon zwei Zusatzfragen gestellt.
Das war Frage 8.
Nein, das war Frage 7.
Entschuldigung. - Herr Kollege Grindel, Sie haben
eine weitere Zusatzfrage zu Frage 7? - Bitte.
Herr Staatssekretär, das Netzwerk, dem dieser Mann
zuzuordnen ist, wird nach Angaben des niederländischen
Justizministers seit 2002 beobachtet. Insofern ist, wenn
er 2003 in die Bundesrepublik überstellt worden ist, davon auszugehen, dass seitens der Niederländer entsprechende Hinweise gegeben worden sind. Ich möchte
gerne wissen, in welcher Weise er von deutscher Seite in
den Jahren 2003 und 2004 beobachtet wurde und wie es
sein kann, dass er - offenbar ohne dass man die geringste Spur von ihm hat - untergetaucht ist.
Herr Kollege Grindel, an dieser Stelle muss ich auf
die Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums
am 1. Dezember 2004 verweisen. Ich denke, dass ich
diese Frage in dieser Form und an dieser Stelle nicht beantworten kann.
Herr Kollege Gewalt, bitte.
Herr Staatssekretär, die niederländische Polizei hatte
- auch gestützt auf Presseberichterstattung - ermittelt,
dass er im terroristischen Umfeld tätig war. In Deutschland wurde ihm die Auflage erteilt, alle drei Wochen bei
der Ausländerbehörde vorstellig zu werden. Halten Sie
diese lange Frist in einem solchen Fall für ausreichend?
Ich kann Ihnen nicht beantworten, ob das ausreichend
ist, weil ich das, was Sie aus Pressemitteilungen zitieren,
hier aufgrund des Vorganges nicht bestätigen kann; ich
verweise noch einmal auf die besagte Sitzung. Ich will
aber nicht ausschließen, dass das der Wahrheit entspricht. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Meines
Erachtens nein.
Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Hartmut Koschyk
auf:
Was tut die Bundesregierung gegen den Imageschaden im
Ausland, dass jetzt mit dem Verdacht im Mordfalle Theo van
Gogh zum wiederholten Male im Zusammenhang mit islamistischen Terroranschlägen Spuren nach Deutschland führen,
und warum ist es nach Kenntnis der Bundesregierung nicht
gelungen - sofern erforderlich, bitte Auskunft bei den Ländern einholen -, den Asylantrag abzulehnen und den Ausländer R. a. I. in sein Herkunftsland abzuschieben?
Herr Kollege Koschyk, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Der Asylantrag des Ausländers vom 12. Dezember
1994 wurde vom Bundesamt für die Anerkennung aus13374
ländischer Flüchtlinge bereits am 7. April 1995 abgelehnt, die dagegen erhobene Klage am 18. Februar 1997
rechtskräftig abgewiesen. Ebenso wurde ein Asylfolgeantrag vom 7. Januar 2003 bestandskräftig abgelehnt.
Dem Ausländer wurde also zu keinem Zeitpunkt Asyl
oder Abschiebeschutz gewährt. Eine Abschiebung war
nicht möglich, da trotz wiederholter und intensiver Bemühungen der zuständigen Ausländerbehörde - in diesem Fall war das die Ausländerbehörde des Hochsauerlandkreises in Meschede - von der syrischen Botschaft
keine Passpapiere zu erhalten waren.
Die Bundesregierung kann aufgrund des Vorliegens
dieses Falles keinen Imageschaden Deutschlands im
Ausland feststellen. Ihr ist vielmehr bekannt, dass die Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden international
hohes Ansehen genießt. Die Anstrengungen der Bundesregierung bei der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung wurden in der Vergangenheit auch im Ausland
immer wieder besonders gewürdigt. Selbstverständlich
arbeiten die Sicherheitsbehörden Deutschlands und der
Niederlande auch in dieser Angelegenheit intensiv zusammen. Davon konnten auch Sie sich überzeugen.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal darauf zurückkommen,
dass gegen diese Person, als sie nach Deutschland überstellt wurde, in den Niederlanden im Zusammenhang mit
der vermutlichen Zugehörigkeit zu einer terroristischen
Gruppe ermittelt worden ist. Welche besonderen Maßnahmen haben die zuständigen Behörden des Bundes
und der Länder nach der Überstellung in die Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Betroffenen seinerzeit angeordnet und welche sind tatsächlich durchgeführt
worden?
Herr Kollege Koschyk, es gab Maßnahmen; ich verweise, wie gesagt, auf die Sitzung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums am - ich sehe noch einmal nach dem
Datum - 1. Dezember 2004. Ich dachte, auch Sie hätten
daran teilgenommen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wir müssen im Zusammenhang
mit den Bemühungen der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder bei Personen, die vermutlich zum
Umfeld terroristischer Vereinigungen gehören, bemüht
sein, unsere Maßnahmen, wie wir mit solchen Personen
umgehen, öffentlich darzustellen, um dem Vorwurf zu
begegnen, wir wären hier zu nachlässig, und um einen
Imageschaden der Bundesrepublik Deutschland im Ausland abzuwenden. Ich habe wirklich kein Verständnis,
Herr Staatssekretär, dass Sie nicht in der Lage sind, zu
sagen, wann welche Maßnahmen durchgeführt worden
sind, nachdem er aus den Niederlanden nach Deutschland überstellt worden ist, und wie es dazu kommen
konnte, dass er 1994 einfach untergetaucht ist, und immer auf ein entsprechendes Gremium verweisen.
Herr Kollege Koschyk, es gab bestimmte Observationsmaßnahmen. Aber haben Sie bitte Verständnis, dass
ich Ihnen an dieser Stelle keine Details dazu sagen kann.
Herr Kollege Grindel, bitte.
Herr Staatssekretär, wie Sie gesagt haben, ist versucht
worden, den Verdächtigen nach Syrien abzuschieben;
man geht davon aus, dass er syrischer Staatsbürger ist.
Das ist mehrfach gescheitert, weil Syrien nicht bereit
war, Passersatzpapiere auszustellen; das ist eines der
klassischen Probleme in dem ganzen Ausweisungs- und
Abschiebungsgeschäft.
Das Verhalten der syrischen Botschaft ist in einer
ganzen Reihe von Fällen so, und zwar auch dann, wenn
es um Leute geht, die in der Tat zum extremistischen
Umfeld zu zählen sind.
Was hat die Bundesregierung in der Vergangenheit
getan, um Syrien hier zu einer etwas stärkeren Kooperation und zur Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtung zu ermahnen, eigene Staatsangehörige zurückzunehmen?
Herr Kollege Grindel, Sie haben Recht: Mit Syrien ist
es an dieser Stelle schwierig. Wir haben in dieser Frage
bis in die jüngste Gegenwart hinein immer wieder Initiativen unternommen. Sie wissen vielleicht, dass es hier
einen Botschafterwechsel gegeben hat. Auch diese Thematik ist an dieser Stelle aufgegriffen und aufgenommen
worden; dort gehört sie hin. Wir haben mit viel Energie
versucht, eine Veränderung herbeizuführen. Bisher hatten wir dabei keinen besonders großen Erfolg.
Herr Kollege Niebel, bitte.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung die Auffassung, dass Syrien ein Interesse daran hat, Personen,
die zum islamistischen Umfeld gezählt werden, möglichst lange im Schengenbereich, also quasi in einer Außenstelle, verbleiben zu lassen?
Herr Kollege Niebel, dieses Interesse kann ich Ihnen
von meiner Warte aus nicht bestätigen. Ich kann Ihnen
nur das Ergebnis der Untersuchung bezüglich der Beschaffung von Ersatzpapieren bestätigen, wonach vorhin
gefragt wurde: Es ist ausgesprochen schwierig, wenn es
sich um syrische Staatsbürger handelt.
Herr Kollege Gewalt.
Herr Staatssekretär, können Sie die Aussagen der zuständigen Ausländerbehörde im Fall Issar gegenüber der
Presse bestätigen, dass es sich hier keineswegs um einen
Einzelfall handelt?
Diese Aussage kann ich nicht bestätigen.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Albrecht Feibel auf:
Wie ist der Entwicklungsstand des Beamtenpensionsfonds, Versorgungsfonds, und welchen Einfluss hatte die Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden auf diesen Fonds?
Herr Kollege Feibel, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die Errichtung des Versorgungsfonds ist Teil des
Vorhabens zur Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes des Bundes, das sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet.
Die Arbeitszeiterhöhung für Bundesbeamtinnen und
-beamte ist zum 1. Oktober 2004 in Kraft getreten. Die
hierdurch bewirkte Erhöhung der Arbeitskapazität soll
über zusätzliche Stelleneinsparungen in Einsparungen
bei den Personalausgaben umgesetzt werden. Die Einsparungen verbleiben bei den jeweiligen Ressorts und
können gegebenenfalls zur Deckung der Zuführungen an
den Versorgungsfonds verwendet werden.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Kollege Körper, sind die Erwartungen der Bundesregierung damit erfüllt worden?
Ich weiß nicht, welche Erwartungen Sie mit Ihrer
Frage ansprechen.
Sie hatten keine Erwartungen? Sie müssen doch Vorstellungen gehabt haben. Wenn die Bundesregierung
einen Pensionsfonds einrichtet, dann hat sie doch bestimmte Erwartungen, wie sich ein solcher Fonds entwickelt und wie damit Probleme gelöst werden. Meine
Frage lautet ganz einfach: Sind diese Erwartungen - vorausgesetzt, die Bundesregierung hatte welche - erfüllt
worden?
Zunächst einmal muss ich darauf antworten - das
habe ich im Grunde genommen aber schon getan -, dass
sich das Vorhaben Versorgungsfonds in der Ressortabstimmung befindet. Das heißt, dieses Vorhaben hat noch
keine Gültigkeit und es wurde letztendlich noch nicht
umgesetzt.
Zum Zweiten weiß ich nicht, ob Sie sich mit dieser
Frage schon ein bisschen näher beschäftigt haben. Die
Vorstellungen bezüglich eines Versorgungsfonds sind so,
wie es ihn im Lande Rheinland-Pfalz seit dem Jahre
1996 gibt.
Dritte Bemerkung. Dort entstehen zusätzliche Kosten
in einer Größenordnung von 22 bis 29 Prozent, die von
der jeweiligen Laufbahn abhängen. Diese werden allein
durch die Arbeitszeitverlängerung mit Sicherheit nicht
finanzierbar sein.
Sie haben noch eine zweite Zusatzfrage.
Bis wann werden die Ressortabstimmungen abgeschlossen sein und können Sie ein Datum nennen, bis zu
dem es einen realen Überblick über die Entwicklung
gibt?
Dafür müsste ich prophetische Gaben haben. Vonseiten des Bundesinnenministeriums bemühen wir uns, das
relativ schnell und zügig zur Entscheidung zu bringen.
Ich verrate Ihnen aber kein Geheimnis, wenn ich Ihnen
sage, dass es eine recht muntere und interessante Diskussion unter den Ressorts gibt, weil es bei der Frage, welche Personalentwicklung man sich vorstellt, auch um
Geld geht.
Die Fragen 10 und 11 des Kollegen Erwin
Marschewski werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller zur Verfügung.
Ich rufe nun die Frage 12 des Kollegen Dirk Niebel
auf:
Welche konkreten Vorstellungen hat die Bundesregierung
zur Nutzung oder Veräußerung von Bundeswehrliegenschaften, die geschlossen werden sollen, und sieht sie Kompensationen vor, um große Härten aufzufangen?
Herr Kollege Niebel, es liegt auch im Interesse der
Bundesregierung, die aufgegebenen Militärflächen so
schnell wie möglich einer Anschlussnutzung zuzuführen. Der Bund ist dabei auf eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Gemeinden angewiesen;
denn diese haben es als Planungsträger in der Hand,
selbst oder mit Unterstützung des Bundes, des jeweiligen Bundeslandes oder von Investoren Nutzungsvorstellungen zu entwickeln und in Planungsrecht umzusetzen,
das die Entwicklungsmöglichkeiten der Region einbezieht.
Die militärischen Liegenschaften sind in den Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen weiße Flächen.
Das heißt, sie müssen zuerst einer bauleitplanerischen
Ordnung zugeführt werden. Dabei beteiligt sich der
Bund erforderlichenfalls an der Finanzierung von Machbarkeitsstudien und anderen planerischen Maßnahmen,
damit alle Beteiligten zügig die notwendige Planungssicherheit erhalten. Bisher haben sich in der Konversion
verschiedene Modelle bewährt, Fragen der städtebaulichen Entwicklung, der Erschließung, der Kaufpreisgestaltung, der Kaufpreisfälligkeit usw. im Hinblick auf
eine angemessene Chancen- und Risikoverteilung mit
den Gemeinden einvernehmlich zu regeln.
Die strukturpolitische Verantwortung für die Bewältigung der Konversionsfolgen liegt vorrangig in der Verantwortung der betroffenen Länder und Gemeinden. Dabei können die Länder und die betroffenen Gemeinden
auch vom Bund und der Europäischen Union zur Verfügung gestellte Fördermittel einsetzen. Ein zusätzliches
Konversionsprogramm wird die Bundesregierung nicht
auflegen.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Könnte vielleicht meine zweite Frage schon aufgerufen werden, sodass ich danach meine Zusatzfragen stellen kann?
Wenn Herr Staatssekretär einverstanden ist, können
wir das machen.
Gern.
Dann rufe ich auch die Frage 13 des Kollegen Niebel
auf:
Wann erhalten die betroffenen Standorte eine offizielle
Mitteilung über die geplante Strukturveränderung bzw.
Schließung und das weitere Vorgehen, damit in den Kommunen konkrete Handlungsoptionen entwickelt werden können?
Herr Staatssekretär Diller, bitte schön.
Diese Frage fällt eigentlich mehr in die Ressortzuständigkeit des BMVg, aber uns wurde die Beantwortung auferlegt.
Mit der Umsetzung des neuen Struktur- und Stationierungskonzepts wird durch das Bundesverteidigungsministerium umgehend begonnen. Die dazu erforderlichen
Realisierungspläne der Organisationsbereiche werden
derzeit im Ministerium der Verteidigung erarbeitet und
sollen Ende März 2005 vorliegen. Wie Sie wissen, soll
die Umsetzung bis 2010 abgeschlossen werden.
Es gibt unter anderem im Internet eine Veröffentlichung des Stationierungskonzeptes. Die Adresse liegt
mir zwar vor, aber ich erspare mir ihre Nennung an dieser Stelle. Aufgrund dieser Veröffentlichung, aber auch
aufgrund der politischen Debatte, die sich daran entzündet hat, sind die Kommunen bereits jetzt in der Lage,
sich im Rahmen ihrer Planungshoheit auf die anstehenden Veränderungen vorzubereiten und alternative Nutzungskonzepte für die frei werdenden Liegenschaften zu
entwickeln.
Als Informationsquelle dazu dienen weiterhin die im
Internet regelmäßig veröffentlichten Angaben über die
Freigabe von Liegenschaften. Außerdem erfolgt wie bisher - nach den bisherigen Erfahrungen war das in der
Regel zwei bis drei Jahre vor der Freigabe - rechtzeitig
eine objektbezogene Freigabeankündigung durch die jeweilige zuständige Bundesvermögensverwaltung an die
Gemeinde.
Ihre erste Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Entnehme ich Ihrer Antwort zu Recht, dass die betroffenen Kommunen
über die Schließung der Standorte in Form eines Schreibens der Bundesvermögensverwaltung, des Bundesverteidigungsministeriums - oder wer auch immer dafür zuständig ist - noch nicht offiziell informiert worden sind?
Herr Kollege, das Bundesvermögensamt vor Ort ist
erst dann zuständig, wenn die Liegenschaft frei gezogen
ist. Erst dann wird diese Liegenschaft aus der Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums in die Zuständigkeit
des allgemeinen Grundvermögens und damit in die Zuständigkeit des Bundesministeriums der Finanzen übergehen. Insofern müssen Sie Ihre Frage an das Bundesverteidigungsministerium richten.
Nun, ich frage die Bundesregierung. Die Bundesregierung entscheidet, wer auf die Frage antwortet. Sie
selbst haben festgestellt, dass Ihnen die Beantwortung
auferlegt worden ist.
Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Halten
Sie es nicht für ein Stück weit stillos, dass den jeweiligen Entscheidungsträgern vor Ort die sich verändernden
Strukturen, von denen die Kommunen massiv betroffen
sind, noch nicht einmal in Form eines offiziellen Schreibens zur Kenntnis gebracht werden?
Ich weiß aus meiner eigenen Heimatgemeinde, die
ebenfalls von der Schließung der dortigen Garnison betroffen ist, dass sich beispielsweise der Kommandeur in
der Öffentlichkeit dahin gehend geäußert hat, dass er
sehr angetan gewesen sei, dass er vom Verteidigungsministerium rechtzeitig über die Schließung seiner Kaserne
informiert worden sei.
Das hätte den Oberbürgermeister wahrscheinlich auch
interessiert.
Eine weitere Zusatzfrage: Ist denn daran gedacht,
wenn schon kein Konversionsprogramm aufgelegt wird,
wie das früher bei Standortschließungen unter anderen
Regierungen der Fall war, dass die Liegenschaften den
betroffenen Kommunen wenigstens zu einem vergünstigten Preis angeboten werden?
Herr Kollege, ich darf darauf hinweisen, dass der
Bund etwa 1992/93, als das damalige Konversionsprogramm auslief, den Ländern unter anderem deshalb - da
gab es ein ganzes Paket von Maßnahmen - einen Anteil
an der Umsatzsteuer in Höhe von zwei Prozentpunkten
überlassen hat.
Die Frage nach dem günstigeren Preis stellt sich
nicht, weil wir nach der Bundeshaushaltsordnung gehalten sind, den Verkehrswert zu ermitteln und auf der Basis des Verkehrswerts mit den Kommunen zu verhandeln.
Sie haben noch eine letzte Zusatzfrage.
Ganz konkret würde mich interessieren, wie zum Beispiel die Große Kreisstadt Horb am Neckar, die überproportional hart von den wirtschaftlichen Auswirkungen
der Schließung betroffen wird, unterstützt werden kann,
wenn sie ihre Liegenschaften überplanen möchte und
das nur mit einem vernünftigen Gewinn für die Kommune kann, wenn der vergünstigte Preis gewährt wird.
Sehen Sie nicht eine Aufgabe der Bundesregierung darin, die Verwerfungen der Strukturveränderungen wenigstens auf diesem Wege etwas abzufedern?
Herr Kollege, der Oberbürgermeister von Horb am
Neckar wird morgen hier sein und unter anderem mit
dem Kollegen Kolbow vom Bundesverteidigungsministerium und mit mir über seine Betroffenheit und die Lösungsmöglichkeiten diskutieren. Für meine Heimatgemeinde muss ich sagen: Wir sind ungleich härter
betroffen; denn Horb hat bestimmt mehr als 6 000 Einwohner. In Horb geht es um 540 Dienstposten, bei uns
um 750.
Gleichwohl möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, Sie auf folgende Möglichkeiten hinzuweisen, die es nach wie vor gibt:
Erstens. Wir fördern die Baureifmachung unter anderem durch die finanzielle Beteiligung an Machbarkeitsstudien oder Nutzungskonzepten bis hin zur Bauleitplanung. Wir erwarten die Refinanzierung des Bundesanteils
durch entsprechend höhere Verwertungserlöse.
Zweitens. Es kann vor In-Kraft-Treten eines Bebauungsplans verkauft werden. Dabei werden finanzielle
Regelungen - Nachzahlungen, Erstattungen - für den
Fall planungsbedingter Wertveränderungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums als Interessenausgleich zwischen dem Bund und dem Käufer getroffen.
Drittens. Der Bund ermöglicht Zahlungserleichterungen wie zum Beispiel ein Hinausschieben der Kaufpreisfälligkeit oder die zinspflichtige Stundung des Kaufpreises über mehrere Jahre mit moderaten Zahlungen.
Viertens. Der Bund schließt mit der Kommune einen
städtebaulichen Vertrag, wonach er sich an den Erschließungs- und Entwicklungskosten auf der Grundlage eines
mit der Gemeinde abgestimmten Planungs- und Baurechts sowie einer entsprechenden Kosten- und Erlösprognose maßgeblich beteiligt. Dabei erwartet der
Bund eine Refinanzierung über den Kaufpreis.
Fünftens. Die Kommune erwirbt die Fläche vom
Bund und vermarktet sie selbstständig. Sind bauleitplanerische Vorbereitungen, Sanierungen, Entwicklungen
der Liegenschaft notwendig, kann an Kommunen oder
von ihnen getragene Gesellschaften oder Treuhänder zunächst gegen eine moderate Anzahlung verkauft werden.
Der erst nach der Weiterveräußerung an den Bund auszukehrende Kaufpreis wird aus dem Weiterveräußerungserlös abzüglich einer angemessenen Beteiligung
des Bundes an den Erschließungs-, Entwicklungs- und
Folgekosten ermittelt.
Das ist ein Teil des Instrumentenkastens, den wir gegenwärtig haben. Die einzelnen Instrumente können wir
auch kombinieren. Wir haben damit in der Zwischenzeit
viel Erfahrung. Alle Gemeinden sind sehr zufrieden mit
dem, was wir anbieten können.
Frau Kollegin Pau, Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, vor dem Hintergrund, dass zur
Verfügung stehende EU-Konversionsprogramme an die
Existenz oder Auflage von nationalen Konversionsprogrammen gebunden sind, und nachdem Sie vorhin ausgeführt haben, dass die Kommunen EU-Konversionsmittel
nutzen sollen, um bestimmte Härten auszugleichen, frage
ich Sie, wie die Kommunen diese EU-Mittel abrufen sollen, wenn Sie nicht vorhaben, ein weiteres nationales
Konversionsprogramm aufzulegen.
Frau Kollegin, wir haben bereits dem Kollegen
Austermann mit Datum vom 28. Oktober mitgeteilt,
({0})
dass die Länder und Kommunen Förderinstrumente einsetzen können, die der Bund und die Europäische Union
mitfinanzieren. Dazu gehören die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, der
Europäische Strukturfonds - das wären in diesem Fall
der ESF bzw. EFRE - und die Städtebaufördermöglichkeiten. Ich habe mir vom Wohnungsbauministerium heraussuchen lassen, welche Kommunen und militärischen
Liegenschaften in meinem Bundesland gegenwärtig aus
Städtebaufördermitteln in ihrer strukturellen Umwandlung gefördert werden.
Es geht um eine Entscheidung vor Ort seitens der
Länder. Sie müssen entscheiden, mit welchen Instrumenten sie ihrerseits an die Aufgabe herangehen und die Gemeinden unterstützen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Rose.
Herr Staatssekretär, da meine Wortmeldung etwas zurückliegt und Sie zu dem Zeitpunkt die zusätzlichen
Möglichkeiten noch nicht erwähnt hatten - wobei ich
aus Erfahrung weiß, dass es solche zusätzlichen Möglichkeiten gibt -, frage ich Sie: Übertrumpfen Sie frühere Bundesregierungen in ihrem Bemühen, den durch
Standortschließungen sehr stark betroffenen Kommunen zu helfen und sie zu unterstützen, indem Sie den Katalog vielleicht noch ausweiten?
Herr Kollege, Sie waren selbst in der Funktion des
Parlamentarischen Staatssekretärs Mitglied der vorigen
Bundesregierung und kennen die Details. Ich war damals in der Opposition und habe mich vehement beispielsweise dafür eingesetzt, die Verkehrswertermittlung
dadurch zu beschleunigen, dass wir nicht erst abwarten,
bis die Angaben seitens der Länder vorgelegt wurden. In
Rheinland-Pfalz zum Beispiel waren die Staatsbauämter
des Landes für die Verkehrswertermittlung bei Liegenschaften zuständig, mit der Folge, dass ihre Kapazitäten
so schnell ausgelastet waren, dass jede frei werdende
Liegenschaft erst nach einem Dreivierteljahr oder noch
später zur Begutachtung kommen konnte. Damals habe
ich vorgeschlagen, die Liegenschaften auszuschreiben
und den Markt darauf zu testen, welchen Verkehrswert
sie haben könnten; dann würde immer noch die Möglichkeit bestehen, nach den jeweiligen Grundregeln zu
schätzen, ob das ungefähr mit dem übereinstimmt, was
man fordern müsste. Das ist schließlich umgesetzt worden. Insofern besteht eine gute Kontinuität des gemeinsamen Bemühens Ihrerseits und mir, damals aus der Opposition heraus.
Die Fragen 14 und 15 des Kollegen Klaus Hofbauer
sowie die Fragen 16 und 17 des Kollegen Fahrenschon
und die Fragen 18 und 19 des Kollegen Albert
Rupprecht werden schriftlich beantwortet. Deshalb
schließe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen und bedanke mich sehr herzlich bei
Herrn Staatssekretär Diller für die Beantwortung der
Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit auf. Die Beantwortung
der Fragen übernimmt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.
Die Frage 20 des Kollegen Hans-Joachim Otto wird
schriftlich beantwortet. Deswegen rufe ich die Frage 21
der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch auf:
Hat die Bundesregierung einen Überblick darüber, wie unterschiedlich die Kommunen bei der Berechnung der Wohnkosten für Empfänger von Arbeitslosengeld II, ALG II, vorgehen, und gedenkt die Bundesregierung, von der in der
Pressemitteilung Nr. 597 des Presse- und Informationsamtes
der Bundesregierung vom 17. November 2004 angesprochenen Verordnungsermächtigung Gebrauch zu machen?
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Dr. Lötzsch, die Gewährung der Leistungen für Unterkunft und Heizung
fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen. Die
Gewährung der Wohnkosten richtet sich nach den unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten.
Die Kommunen verfügen über jahrelange Erfahrungen und Kompetenz bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung, auf die im
Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zurückgegriffen wird. Die Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen
erbracht, soweit sie angemessen sind. Bei der Angemessenheitsprüfung wird immer der Besonderheit des Einzelfalles Rechnung getragen. Hierdurch können vertretbare Abweichungen von den vorgegebenen öffentlichen
Kriterien gerechtfertigt sein.
Ob die Kosten der Unterkunft angemessen sind, hängt
von den individuellen Verhältnissen des Einzelfalles ab,
zum Beispiel von der Zahl der Familienangehörigen
oder dem jeweiligen Alter der Betroffenen sowie von der
Zahl der Zimmer, dem örtlichen Mietniveau und den
Möglichkeiten des örtlichen Wohnungsmarktes. Da die
individuelle Situation sehr viel besser vor Ort bewertet
werden kann, beabsichtigt das Bundesministerium für
Wirtschaft und Arbeit derzeit nicht, die Angemessenheit
der Unterkunfts- und der Heizungskosten im Wege einer
Verordnung zu regeln.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ich bin über Ihre Auskunft etwas erstaunt; denn ich habe
mich auf die Pressemitteilung Ihres Bundesministeriums
- Nr. 597 vom 17. November 2004 - bezogen, in der es
heißt, dass das Bundesministerium von einer Verordnungsermächtigung Gebrauch machen werde, wenn es
zu der Auffassung gelange, dass es große Unterschiede
gebe. Das setzt doch voraus, dass Sie sich einen Überblick verschaffen, wie die Kommunen die Sache handhaben, wie sie die Wohnkosten berechnen. Diese Frage
haben Sie nicht beantwortet.
Ich bitte Sie, mir im Nachgang zu sagen, welche Kriterien Sie bei der Umsetzung einer Verordnungsermächtigung anlegen und wie Sie sich einen Überblick verschaffen wollen. Wenn Sie keinen Überblick über das
haben, was in den Kommunen Praxis ist, können Sie die
Sache auch nicht einschätzen und die Ankündigung einer Verordnungsermächtigung wäre dann - gelinde gesagt - nur zur Beruhigung der Betroffenen gedacht.
Ich kann nur wiederholen: Erstens. Es ist nicht daran
gedacht, das im Wege einer Verordnung zu regeln. Zweitens. Wir glauben - zu Recht -, dass in diesen Fragen dezentral sehr viel besser zum Wohle der Menschen entschieden werden kann und dass die Kommunen über
einen großen Erfahrungsschatz diesbezüglich verfügen.
Drittens. Uns erreichen letztendlich nur solche Mitteilungen und Meldungen über sozusagen herausragende
bzw. sehr strittige Fälle. Die von Ihnen angesprochene
Presseerklärung ist so zu verstehen, dass das Bundesministerium - wenn es in größerem Umfange Beschwerden
geben sollte - darüber nachzudenken hat, was es seinerseits tun muss, um gegenzusteuern. Anders ist diese
Pressemitteilung nicht zu interpretieren.
Frau Dr. Lötzsch, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Eine kurze Vorbemerkung: Sie haben bei der Beantwortung meiner Frage
so getan, als ob ich diese Pressemitteilung geschrieben
hätte. Aber tatsächlich kommt sie aus Ihrem Hause.
Das stimmt.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, gehören nach Auffassung der Bundesregierung Wasserkosten zu den
Wohnkosten?
Wasserkosten gehören nach unserer Auffassung sicherlich zu den Wohnkosten.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, geht die Bundesregierung davon
aus, dass Presseveröffentlichungen realitätsnah sind, wonach mit massenhaften Zwangsumsiedlungen in neue
Wohnungen zu rechnen sei?
Ich glaube das nicht. Ich traue den Kommunen und
den Verantwortlichen vor Ort sehr wohl zu, dass sie
nicht nur menschlich und sozial verantwortlich handeln,
sondern auch ökonomisch und betriebswirtschaftlich
denken. In manch einem Fall wird sich in der Praxis das
Überschreiten bestimmter Grenzwerte, die vorgegeben
sind, im Vergleich zu den zu übernehmenden Umzugsund anderen Folgekosten sicherlich als hinnehmbar herausstellen. Streitfälle wird man zwar nie ganz ausschließen können. Aber ich bin sehr sicher, dass die Kommunen hier - großflächig - sehr verantwortungsbewusst
vorgehen werden.
Ich rufe die Frage 22 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
auf:
Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung
unternommen, um die Verdrängung von regulären Stellen,
zum Beispiel im Reinigungsgewerbe - „Berliner Zeitung“
vom 25. November 2004 -, durch 1-Euro-Jobs zu verhindern?
Frau Abgeordnete, im SGB II ist zur Umsetzung des
Grundsatzes „Fördern und Fordern“ eine Vielzahl von
Fördermöglichkeiten vorgesehen, um für die erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen einen möglichst passgenauen Integrationsplan mit den notwendigen Eingliederungsinstrumenten zu erarbeiten.
Eines dieser Instrumente ist die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten unter Fortzahlung des Arbeitslosengeldes II bei zusätzlicher Gewährung einer angemessenen Mehraufwandsentschädigung bei zusätzlichen und
im öffentlichen Interesse liegenden Arbeiten nach
§ 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II, von der Bundesregierung als
„Zusatzjobs“ bezeichnet.
Der Einsatz der Zusatzjobs und weiterer Maßnahmen
der öffentlich geförderten Beschäftigung des SGB II ist
gegenüber anderen Eingliederungsleistungen, zum Beispiel Qualifizierungsmaßnahmen, nachrangig und soll
nur erfolgen, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige
auch unter Einsatz dieser anderen Instrumente nicht in
den Arbeitsmarkt eingegliedert werden kann. Über den
Einsatz von Zusatzjobs wird auf lokaler Ebene in eigener
Verantwortung der Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsagenturen und optierenden Kommunen entschieden.
Die Bundesregierung nimmt mit Besorgnis wegen
möglicher Wettbewerbsverzerrungen die eine oder andere Entwicklung außerordentlich ernst. Dies gilt für das
Reinigungsgewerbe genauso wie für andere Wirtschaftsbereiche oder auch für den öffentlichen Dienst.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass bei einem
verantwortungsbewussten Einsatz von Zusatzjobs durch
die Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsagenturen und optierenden Kommunen Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden können. Dadurch, dass Zusatzjobs nur für im
öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten geschaffen werden dürfen, ist gesetzlich ausgeschlossen,
dass es im Kernbereich erwerbswirtschaftlichen Handelns zu einer Verzerrung des Wettbewerbs kommen
kann.
In diesem Zusammenhang ist gut vorstellbar, dass die
regional Beteiligten zur Klärung derartiger Fragen die
Schaffung eines gemeinsamen Gremiums verabreden,
zum Beispiel einen Beirat, in dem die Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsagenturen und optierenden Kommunen
gemeinsam mit den Kammern, Fachverbänden, Gewerkschaften und anderen vertreten sind, um die verschiedenen Interessen frühzeitig auszugleichen.
Die Bundesregierung wird die Entwicklung bei der
Umsetzung der Zusatzjobs dennoch sehr aufmerksam
beobachten, um beim Beschreiten neuer Wege nie ganz
auszuschließende Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls rechtzeitig gegenzusteuern.
Gegenwärtig sind der Bundesregierung derartige Fehlentwicklungen aber nicht bekannt, jedenfalls nicht im
Sinne flächendeckender Fehlentwicklungen. Insoweit
gilt zunächst, das In-Kraft-Treten des neuen Rechts zum
1. Januar 2005 abzuwarten.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
Sie haben gesagt, es gelte zunächst, das In-Kraft-Treten
des neuen Rechts abzuwarten. Ich glaube, damit ist
meine Frage nicht so richtig beantwortet worden. Sie
wissen genauso gut wie ich, dass es diese ersten Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen, so
genannte 1-Euro-Jobs, bereits seit einigen Wochen im
Zuge einer Testphase gibt.
({0})
Sie haben gerade implizit gesagt, Ihnen seien keine
flächendeckenden Verstöße gegen das Kriterium der Zusätzlichkeit bekannt. Welche Einzelfälle sind dem Bundesministerium bekannt?
Es hat sicherlich Einzelfälle gegeben, die vor Ort zu
prüfen sind. Wir können nach wie vor nur anempfehlen,
dass jeder Fall, der auftaucht, in der hier angesprochenen
Weise gelöst wird, indem man sich mit allen Beteiligten
an einen Tisch setzt. Ich sage noch einmal: Wir haben
überhaupt kein Interesse daran, dass solche Zusatzjobs
etwa in den Kernbereichen wirtschaftlichen Handelns
Verwendung finden. Das Gesetz ist hier sehr klar.
Die Umsetzung desselben kann natürlich immer
Grenzbereiche berühren. Da müssen wir Acht geben. Da
verlassen wir uns in erster Linie auf die Verantwortlichen vor Ort.
Wenn wir allerdings Meldungen hierüber erhalten,
fassen wir sozusagen nach und bitten vor Ort noch einmal darum, dass solchen Fällen die entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Zweite Zusatzfrage, Frau Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
ich stelle einmal eine Frage aus der Sicht von Betroffenen. Ich habe mich mit Menschen unterhalten, die solche
Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung,
also 1-Euro-Jobs, wahrnehmen. Ich frage Sie, wie sich
Ihrer Meinung nach eine Teilnehmerin an einer derartigen Maßnahme - so heißen die 1-Euro-Jobber - verhalten sollte, wenn Folgendes eintritt: Die Teilnehmerin ist
im Pflegebereich eingesetzt und merkt, dass sie von der
Pflegedienstleitung der Einrichtung im Pflegedienstplan
als Vollzeitkraft eingeplant ist und bei Ausfall von ausgebildeten Kräften deren Arbeit voll leisten muss. An
wen kann sich die Teilnehmerin an einer derartigen
Maßnahme wenden, ohne gleichzeitig Gefahr zu laufen,
diese Tätigkeit überhaupt nicht mehr ausüben zu können? Was wäre Ihr Rat?
Ich kann in diesem Zusammenhang nur Folgendes sagen: Wenn irgendwer eine Beschwerde hat, dann sollte
er sich an die zuständige Arbeitsgemeinschaft oder Arbeitsagentur oder die optierende Kommune wenden und
seinen speziellen Fall vortragen. Einen solchen Fall können wir natürlich nicht von hier aus bewerten und entscheiden. Ich möchte mich deshalb zu diesem
Einzelfall - Sie wissen selbst: solche Einzelfälle sind
meist sehr kompliziert und diffizil - auch nicht äußern.
Ich kann nur den Ratschlag geben, das vor Ort mit den
Verantwortlichen zu klären.
Weitere Zusatzfrage, und zwar des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ein Berliner Senator einmal den Vorschlag gemacht hat, auf dieser Basis auch arbeitslose Lehrer zusätzlich zu beschäftigen, weil das im öffentlichen
Interesse ist - dieser Vorschlag ist wieder zurückgenommen worden -, muss man feststellen, dass die Kriterien
„zusätzlich“ und „öffentliches Interesse“ zur Definition
nicht wirklich ausreichend sind. Würden Sie mir zustimmen, dass derartige Beschäftigungsgelegenheiten, ohne
dass Wettbewerbsverzerrungen befürchtet werden müssen, eigentlich nur in zwei Fällen möglich sind, nämlich
erstens um die Arbeitsbereitschaft festzustellen, was nur
einen relativ kurzen Einsatz erfordert, und zweitens um
jemandem, der lange aus dem Erwerbsprozess heraus
war, wieder an bestimmte Arbeitstugenden heranzuführen - nicht mehr, aber auch nicht weniger -, und dass vor
diesem Hintergrund durch den Gesetzgeber dringend
eine deutlichere Definition der Einsatzmöglichkeiten benötigt wird?
Ich kann Ihnen darin im Moment nicht zustimmen.
Wir brauchen noch sehr viel mehr Erfahrungen. Ich will
nicht ausschließen, dass wir aufgrund der praktischen
Erfahrungen an bestimmten Stellschrauben drehen müssen. Aber im Moment läuft dieses Projekt erst an. Wir
müssen schauen, ob es sich in der Praxis unter den gegebenen gesetzlichen Bestimmungen bewährt. Die Konstruktion ist ja bewusst so gewählt worden, dass vor Ort
in den Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsagenturen und
Kommunen Fantasie entwickelt werden soll, um solche
Arbeitseinsätze zu ermöglichen. Hierbei kann man immer nur am praktischen Beispiel prüfen und nicht nur
von der theoretischen Seite her. Deshalb haben wir von
vornherein auch keine Begrifflichkeit gewählt, die die
Fantasie schon vorab einschränken würde.
Weitere Zusatzfrage, und zwar der Kollegin Pau.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, das mit
der Fantasie scheint im Moment schon sehr gut zu funktionieren. Mich interessiert, welche Vorkehrungen die
Bundesregierung trifft, damit in sensiblen Bereichen, wo
es auch darum geht, Beziehungen zu Menschen aufzubauen, ein Vertrauensverhältnis zu schaffen, zum Beispiel im Pflegedienst - dort hat sich meine Kollegin
Lötzsch umgesehen - oder auch bei der Kinderbetreuung, Bildung und Erziehung, nicht Abstriche an der
Qualität der Betreuungs- und Pflegearbeit dadurch zustande kommen, dass zur Deckung von personellen Engpässen, zum Beispiel in der nächtlichen Betreuung von
Pflegefällen, unqualifiziertes Personal eingesetzt wird.
Ich möchte dazu den Hinweis geben, dass gerade im
Pflegebereich auch bereits zuvor sehr unterschiedlich
ausgebildete Kräfte im Einsatz waren. Das Entscheidende ist, dass die vorgegebenen Schlüssel für qualifiziertes bzw. durch praktisches Handeln vor Ort eingewiesenes Personal nicht einseitig verändert werden
dürfen; denn damit ginge ja eine qualitative Verschlechterung der Betreuung einher. Darauf muss man also achten. Diejenigen, die vor Ort tätig sind, tragen dafür die
Verantwortung.
Zugleich will ich aber darauf verweisen, dass gerade
auch im Pflegebereich derartige Personen eingesetzt
werden könnten, da sie hier ganz im Sinne des Gesetzes
einen öffentlichen Auftrag erfüllen.
Damit kommen wir gleich zur Frage 23 der Kollegin
Pau:
Trifft es zu, dass Bescheide für Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, SGB II, mit der Rechtsbehelfsbelehrung verschickt werden, dass Widersprüche erst
ab dem 1. Januar 2005 eingelegt werden können bzw. erst ab
diesem Zeitpunkt bearbeitet werden, und, wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage geschieht dies?
Herr Präsident! Frau Kollegin Pau, es trifft zu, dass
Bescheide mit der Rechtsbehelfsbelehrung verschickt
werden, dass die Widerspruchsfrist von einem Monat am
1. Januar 2005 beginnt und dass zuvor eingehende Widersprüche auf diesen Termin wirken. Grund hierfür ist,
dass die leistungsrechtlichen Bestimmungen des SGB II,
wie zum Beispiel § 7 SGB II betreffend den Personenkreis der Anspruchsberechtigten, erst am 1. Januar 2005
in Kraft treten. Auch der auf der Grundlage der Übergangsvorschrift des § 65 a SGB II erlassene erste Bewilligungsbescheid kann somit erst ab dem 1. Januar 2005
seine vollständige rechtliche Wirkung als Verwaltungsakt entfalten und den Lauf der Widerspruchsfrist auslösen.
Zusatzfrage?
Ja. - Ich möchte trotzdem wissen, warum man diesen
Weg gewählt hat; er ist ja durchaus unüblich. Normalerweise bekommt man einen Bescheid mit einer Rechtsbehelfsbelehrung und kann diesen Bescheid, der in die persönlichen Verhältnisse eingreift und auch Verluste für
den Betroffenen bedeuten kann, sofort anfechten, um
sich sozusagen einen anderen Status zu sichern.
Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass sich dieses Haus einig darin war, dass ab 1. Januar gezahlt werden soll. Um dies sicherzustellen, sind natürlich entspre13382
chende Vorläufe erforderlich. Das Gesetz selbst tritt aber
erst zum 1. Januar 2005 in Kraft. Dies ist zugegebenermaßen vielleicht nicht der übliche Weg. Wir sind aber im
Moment in einer Phase, in der wir auch mit unüblichen
Maßnahmen die Modernisierung dieses Standortes vorantreiben müssen. Ich glaube, dass es wichtiger und
richtiger ist, zunächst einmal am 1. Januar zu beginnen
und dann diese Widersprüche abzuarbeiten. Mir ist zugesichert worden - ich war zum Beispiel heute bei der Arbeitsagentur in Berlin -, dass dann sehr schnell solche
Widersprüche bearbeitet werden und gegebenenfalls
auch mit Abschlagszahlungen gearbeitet wird, um der
entsprechenden Person und ihrem Anliegen Rechnung
zu tragen.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Da wir ja heute immer wieder über Einzelfälle reden,
möchte auch ich auf einen Einzelfall aus meinem Wahlkreis eingehen. In diesem Fall verstehe ich das Vorgehen
der Bundesagentur für Arbeit nämlich überhaupt nicht.
Es kommt bei der Eingabe der Daten - das ist bei der Arbeitsbelastung völlig verständlich - sowohl bei der Arbeitsagentur als auch in den Sozialämtern an der einen
oder anderen Stelle natürlich einmal zu Versehen in
Form von Zahlendrehern oder anderem. Die Bundesagentur soll, so das Sozialamt meines Wahlkreises, angewiesen haben, dass solche offensichtlich fehlerhaften
Bescheide, die auch durch die zuständigen Bearbeiter als
solche eingeschätzt werden, nicht vor dem 1. Januar korrigiert werden dürfen. Das heißt also, dass auch ein derartiger fehlerhafter Bescheid erst am 1. Januar angefochten werden kann, was zur Folge hat, dass Menschen, die
ganz offensichtlich Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, jetzt erst einmal leer ausgehen und wahrscheinlich
einen Monat überbrücken müssen. Wie wird eine solche
Handlungsweise begründet? Es wäre doch ein Einfaches, so etwas zu heilen.
Ihre Frage kann ich, wie solcherlei praktische Fragen
überhaupt, natürlich von hier aus nur schwer beantworten. Ich bin gerne bereit, mir diesen Fall von Ihnen vorlegen zu lassen. Gegebenenfalls, wenn es sich tatsächlich um einen Übertragungsfehler oder Ähnliches
handelt, würden wir schauen, ob man hier eine Korrektur
vornehmen kann. Ich finde, hier gilt es, unbürokratisch
vorzugehen, wenn es möglich ist. Sollte sich allerdings
herausstellen, dass andere Gründe vorliegen, dann können wir natürlich keine Abhilfe schaffen. Aber wenn es
so, wie von Ihnen dargelegt, sein sollte, will ich mich
gerne in den Dienst der Sache und der Person stellen und
wir wollen sehen, dass wir das Problem lösen können,
damit niemandem Nachteile entstehen.
Wir kommen zur Frage 24 der Kollegin Pau:
Inwieweit stehen Studentinnen nach Auffassung der Bundesregierung grundsätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
und haben daher Anspruch auf ALG II und inwieweit wird
vor diesem Hintergrund künftig allein erziehende Studentinnen Mehrbedarf gewährt, der an die Auszahlung von ALG II
gekoppelt ist?
Herr Präsident! Frau Kollegin Pau, das Bestehen von
Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt ist keine Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld II. Vielmehr
erhält bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen derjenige Arbeitslosengeld II, der erwerbsfähig und hilfebedürftig ist, also grundsätzlich auch eine allein erziehende
Studentin. Allerdings haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, im Regelfall keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhaltes. Hierzu gehört auch die Ausbildung an einer Hochschule.
Dieser Anspruchsausschluss umfasst aber nur die
Leistungen, die mit den im Rahmen des BAföG zu gewährenden Bedarfen abgedeckt sind: Regelleistung zur
Sicherung des Lebensunterhaltes und Leistungen für Unterkunft und Heizung.
Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt
- das ist § 21 SGB II - sind nicht durch das BAföG abgedeckt. Daher können solche auch für Personen gewährt werden, die im Übrigen nach § 7 Abs. 5 SGB II
keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes haben. Dies entspricht auch der bisherigen Rechtslage nach dem Bundessozialhilfegesetz.
Unabhängig von der Möglichkeit der Gewährung eines Mehrbedarfs bei Alleinerziehung wird einer allein
erziehenden erwerbsfähigen Studentin im Regelfall
keine Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung zumutbar
sein. Sie kann insoweit bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit einen wichtigen Grund im
Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II geltend machen.
({0})
- Das war sicher vollumfassend erhellend.
Zusatzfrage, Kollegin Pau?
So umfassend nun auch nicht; ich habe jedenfalls
noch eine Nachfrage, Herr Staatssekretär. Nachdem wir
die Regelung in Bezug auf den Mehrbedarf für die Mütter geklärt haben, nun zu den Mehrbedarfen für die Kinder. Bisher haben Mütter ja - zusätzlich zu den Mitteln
für ihren eigenen Mehrbedarf - einen Mehrbedarfszuschlag für ihre Kinder bezogen. Das wird durch die so
genannte familienpolitische Leistung für Geringverdiener abgelöst, die für die Kinder gezahlt wird. Allerdings
ist der Bezug eines Mehrbedarfszuschlags für die Kinder
nach dem Hartz-IV-Gesetz auf drei Jahre beschränkt. Ein
Studium dauert, selbst wenn sich die Mutter sehr bemüht, im Allgemeinen etwas länger als drei Jahre. Wie
wird also der Mehrbedarf für die Kinder nach Ablauf der
drei Jahre in Zukunft geregelt?
({0})
Ich höre gerade: Dann muss neu beantragt werden. Diese zeitliche Begrenzung ist Teil der gesetzlichen Regelung. Es wird im Einzelfall zu entscheiden sein, wie
unter solchen Bedingungen ein Bescheid ausfallen kann.
In jedem Fall ist zunächst einmal nicht vorgesehen, dass
länger als diese drei Jahre gezahlt wird.
Zweite Zusatzfrage.
Da aber diese familienpolitische Leistung die bisherige Sozialhilfeleistung für Kinder ablöst, stellt sich für
mich die Frage, auf welche Art und Weise der Lebensunterhalt für die Kinder tatsächlich abgesichert werden
soll. Denn wir sind uns sicherlich einig, dass das, was
die allein erziehende Mutter mit BAföG und aufgrund
ihrer Mehrbedarfe bezieht, nicht ausreichen wird, um
auch die Bedürfnisse der Kinder vollständig abzudecken, wenn Sie das jetzt auf drei Jahre beschränken.
Ich hatte eben gesagt, dass die Unterstützung auf drei
Jahre begrenzt ist. Gegebenenfalls muss im Einzelfall
Weiteres entschieden werden.
Zusatzfrage der Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
aus Ihren Antworten ist hervorgegangen - ich glaube, es
ist Ihnen selber deutlich geworden -, dass sehr große Regelungslücken bestehen. Ich rege an - und frage Sie, ob
Sie dieser Anregung folgen wollen -, diesen konkreten
Fall zum Ausgangspunkt zu nehmen, um über eine Korrektur dieser Regelung nachzudenken. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass es in der Bundesrepublik für jemanden mit einem Kind auch bei größtem Fleiß möglich
ist, sein Hochschulstudium innerhalb von drei Jahren zu
beenden. Wir wissen, dass sehr viele, auch wenn sie
keine Kinder haben, wesentlich länger studieren.
Aber es gibt in der Bundesrepublik Deutschland
glücklicherweise schon jetzt Studiengänge - ich nenne
beispielsweise Studiengänge an den Fachhochschulen -,
die auf eine Regelstudienzeit von drei Jahren ausgelegt
sind. Man kann die Situation also nicht generalisieren.
Deshalb habe ich ganz ausdrücklich gesagt, dass der
Einzelfall betrachtet werden muss.
Ich werde in dieser Angelegenheit gerne eine Prüfung
anregen. Allerdings glaube ich, dass die Gesamtsituation
durchaus vertretbar ist.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind am Ende
dieses Geschäftsbereichs.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Zur
Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk zur Verfügung.
Die Fragen 25 bis 28 sollen schriftlich beantwortet
werden.
Ich rufe die Frage 29 des Kollegen Daniel Bahr
({0}) auf:
Weshalb geht die Bundesregierung davon aus, dass - so
die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Marion CaspersMerk, in ihrer Antwort auf meine mündliche Frage 14 in der
Fragestunde am 10. November 2004 - „… die Finanzreserven
der Pflegeversicherung bis ins Jahr 2008 reichen“ - Plenarprotokoll 15/137, Seite 12554 C -, wenn der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2004/05 darauf hinweist, dass
die Rücklagen der sozialen Pflegeversicherung bereits bis
Mitte des Jahres 2007 aufgebraucht sein könnten - „Erfolge
im Ausland - Herausforderungen im Inland“, Jahresgutachten
des Sachverständigenrates 2004/05, Seite 331 -, und wie ist
diese Diskrepanz in der Berechnung nach Meinung der Bundesregierung zu begründen?
Herr Kollege Bahr, bei der Einschätzung der Finanzentwicklung in der Pflegeversicherung besteht keine
Diskrepanz zwischen dem Sachverständigenrat und der
Bundesregierung. Der Sachverständigenrat bezieht seine
Aussage wahrscheinlich darauf, dass im Laufe des Jahres 2007 der Mittelbestand der Pflegeversicherung voraussichtlich 1,5 Monatsausgaben unterschreiten wird.
Bei dem Betriebsmittelsoll handelt es sich allerdings
nicht um eine Mindestreserve, die gesetzlich vorgeschrieben ist und die von den Pflegekassen zwingend
vorzuhalten ist, sondern um das Maximum an Betriebsmitteln, die bei der Pflegekasse verbleiben dürfen. Darüber hinausgehende Mittel müssen die Pflegekassen im
Finanzausgleichsverfahren an die Ausgleichsfonds abführen.
Der Finanzausgleich der Pflegeversicherung funktioniert auch noch bei einem geringeren Mittelbestand.
Dieser Mittelbestand wird in der aktuellen Finanzschätzung der Bundesregierung erst im Laufe des Jahres 2008
unterschritten. Daher bleibe ich bei meiner Aussage, dass
wir durch die zusätzlichen Einnahmen - die Beitragszahler ohne Kinder werden stärker belastet; damit setzen wir
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts um - Zeit für
eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung gewonnen haben. Mit diesen Einnahmen in einer Größenordnung, so die Prognose, von 700 Millionen Euro kann
das Defizit der Pflegekassen abgebaut werden. Das
schafft Finanzsicherheit für die Pflegebedürftigen und
auch für die Pflegedienstleister bis zum Jahr 2008.
Nachfrage, Herr Kollege Bahr.
Frau Staatssekretärin, herzlichen Dank für Ihre Darstellung. Der Sachverständigenrat hat deutlich gemacht,
wie dringend eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ist. Er hat angemahnt, keine Zeit zu verlieren.
Wir dürfen uns also nicht ausruhen, nur weil wir durch
die verkappte Beitragserhöhung in Form des Kinder-Berücksichtigungsgesetzes Zeit gewonnen haben.
Ich möchte Sie fragen: Wie viel Zeit haben wir noch
für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung
angesichts der Tatsache, dass spätestens bis zum Jahr
2008 - das ist Ihre Einschätzung - die Rücklagen so aufgebraucht sein werden, dass es zwangsläufig zu Beitragserhöhungen kommen muss?
Wir müssen zwischen der finanziellen und der strukturellen Situation der Pflegeversicherung unterscheiden.
Ich sehe den Hauptänderungsbedarf in der strukturellen
Situation der Pflegeversicherung. Denn in der jetzigen
Struktur der Pflegeversicherung ist beispielsweise der
Bereich der Demenzerkrankungen nicht ausreichend abgebildet. Wenn man hier strukturelle Veränderungen
will, dann muss man auch sagen, woher die Mittel kommen sollen. Bei der derzeit angespannten finanziellen
Lage der Pflegekassen haben wir im Augenblick keine
Möglichkeit, mehr Leistungen ohne eine Erhöhung der
Beiträge zu organisieren.
Deswegen war unser Ziel, in einer ersten Stufe die
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts mit der finanziellen Konsolidierung der Pflegeversicherung zu verknüpfen, um dann in einem nächsten Schritt festzulegen,
was noch verändert werden muss.
Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin über den Beschluss der Ländersozialminister sehr froh. Die Arbeitsund Sozialministerkonferenz hat jüngst in Friedrichshafen bekräftigt, dass sie der Auffassung ist, dass ein Teil
der Leistungen aus der Pflegeversicherung selbst erwirtschaftet werden soll, wenn es bei der Pflegeversicherung
Reformen geben soll. Das ist ein wichtiger Aspekt für
gemeinsame weitere Gespräche.
Wir haben in einem ersten Schritt finanziell konsolidiert. Wir müssen in einem zweiten Schritt die Pflegeversicherung umgestalten und nachhaltig verändern. Im
Hinblick auf diese Nachhaltigkeit werden wir darüber
diskutieren müssen, was dieser Gesellschaft die Pflege
wert ist. Denn das hat natürlich Konsequenzen für die
Pflegeversicherungsbeiträge.
Aber Sie fragen jetzt nach dem dritten Schritt, bevor
der zweite getan ist. Einen ersten Umsetzungsschritt haben wir gemacht. Ich habe dazu auch an dieser Stelle
schon Antworten gegeben. Es gibt derzeit einen runden
Tisch gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Vorschläge zur
Entbürokratisierung und zur Umsetzung zum Beispiel
von moderneren Personalmanagementstrukturen werden die nächsten Schritte sein, die wir Ihnen vorstellen
werden. Wir werden zu gegebener Zeit die Gesetzgebungsverfahren hierzu einleiten.
Weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Frau Staatssekretärin, Ihr Ziel, in dieser Legislaturperiode noch etwas im Bereich der Entbürokratisierung zu
unternehmen, findet die Unterstützung vieler. Dennoch
ist eine Entbürokratisierung noch keine Leistungsausweitung bzw. Leistungsverbesserung. Sie haben eben gesagt, dass Sie das Kinder-Berücksichtigungsgesetz und
seine verkappte Beitragserhöhung dazu benötigt haben,
finanziellen Spielraum für Leistungsverbesserungen zu
erhalten.
Ich frage Sie daher - denn wir haben ja, obwohl das
Kinder-Berücksichtigungsgesetz eine Einnahmeverbesserung darstellt, im nächsten Jahr immer noch ein Defizit von 300 Millionen Euro und dieses Defizit wird in
den Folgejahren wachsen; das heißt, wir haben in der
Pflegeversicherung erwartungsgemäß keine Überschüsse -: Werden Sie deshalb die Zusatzeinnahmen, die
sich aus dem Kinder-Berücksichtigungsgesetz ergeben
- es sind meines Wissens 700 Millionen Euro -, für
Leistungsverbesserungen noch in dieser Legislaturperiode nutzen?
Sie greifen damit Ihrer nächsten Frage vor, in der Sie
nach der Einnahme- und Ausgabensituation der nächsten
Jahre fragen. Ich weiß nicht, ob mir die Frau Präsidentin
schon jetzt, bevor Ihre nächste Frage aufgerufen worden
ist, eine Antwort darauf erlaubt.
Frau Staatssekretärin, die Präsidentin ist schon seit einer halben Stunde nicht mehr hier.
Entschuldigung, Herr Präsident. Da sehen Sie, wie intensiv ich mich mit meinen Antworten beschäftige.
Das ist gut so; das erwarten wir.
Dann rufe ich die Frage 30 des Abgeordneten Daniel
Bahr auf:
Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Defizite der sozialen Pflegeversicherung für die folgenden Jahre unter Berücksichtigung der Zusatzeinnahmen durch das Kinder-Berücksichtigungsgesetz?
Es geht dabei um die Prognosen. Die aktuellen Prognosen sehen zunächst einmal so aus, dass wir in diesem
Jahr mit einem Defizit in der Größenordnung von circa
910 bzw. 920 Millionen Euro rechnen. Wir haben prognostiziert, dass wir dann, wenn man die Einnahmesituation dieses Jahres zugrunde legt und man die Prognosen
der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Entwicklung
heranzieht - wir müssen ja immer die aktuellen Wachstumsdaten zugrunde legen -, im Jahr 2005 mit einem
verringerten Defizit in der Größenordnung von 300 Millionen Euro rechnen müssen. Ohne die Einnahmen infolge des Kinder-Berücksichtigungsgesetzes läge das
Defizit bei knapp 1 Milliarde Euro. Wenn das so wäre,
dann würden wir hier nicht über Leistungsverbesserungen reden, sondern über die Frage: Wie können wir die
Pflegekassen so sanieren, dass sie überhaupt in der Lage
sind, ihre Aufgabe zu erfüllen? Wir sehen die Konsolidierung als ersten Beitrag an; erst danach kann man über
Strukturveränderungen reden.
Sie haben aber auch nach der weiteren Entwicklung
gefragt. Für das Jahr 2006 rechnen wir derzeit aufgrund
der Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung mit
einem Defizit von cica 550 Millionen Euro. In den Jahren 2007 und 2008 wird sich das Defizit auf circa
700 Millionen Euro belaufen. Leistungsverbesserungen
müssen also, wenn daran gedacht wird, im Rahmen der
Pflegeversicherung selbst erwirtschaftet werden.
Ich möchte dazu noch einen Hinweis geben: Sie wissen, dass das Thema „medizinische Behandlungspflege“
im Zusammenhang mit dem GKV-Modernisierungsgesetz auf das Jahr 2007 verschoben wurde. Das war Bestandteil des Konsenses. Wir haben heute im Fachausschuss darüber diskutiert. Natürlich ist es möglich,
Pflegeleistungen zu verbessern, indem die Finanzierung
der medizinischen Behandlungspflege von der GKV getragen wird. Im Jahr 2007 besteht dann die Möglichkeit,
mit diesen Verbesserungen auch Strukturveränderungen
vorzunehmen. Das ist aber noch nicht inhaltlich diskutiert worden. Dies müssen wir miteinander erörtern.
Dazu haben wir ausreichend Zeit.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte.
Der Sachverständigenrat hat deutlich gemacht, dass,
bevor wir über Verbesserungen auf der Leistungsseite
diskutieren, angesichts der Finanzierungsrestriktion eine
grundsätzliche Reform der Pflegeversicherung dringend
ansteht. Der Sachverständigenrat gibt also ein klares Plädoyer dafür ab, zunächst die Finanzierungsprobleme der
Pflegeversicherung zu lösen und sich erst dann über
Leistungsverbesserungen zu unterhalten. Teilen Sie
diese Einschätzung, Frau Staatssekretärin? Wann können
wir vonseiten der Bundesregierung mit einer grundlegenden Reform der Pflegeversicherung, die auch die Finanzierungsbasis umfasst, rechnen? Könnte dies noch in
dieser Legislaturperiode der Fall sein?
Herr Kollege, es gibt derzeit unterschiedliche Konzepte für eine grundlegende Finanzreform der sozialen
Sicherungssysteme, die sowohl in diesem Hause als
auch an anderer Stelle diskutiert werden.
Es gibt unterschiedliche Positionen der Parteien bzw.
Fraktionen. Während die einen eine Privatisierung mit
Aufbau von Altersrückstellungen wollen, verfolgen die
anderen das Konzept der Kopfpauschale und Dritte das
Konzept der Bürgerversicherung, das eine Ausweitung
der Bemessungsgrundlage und damit eine Einnahmeverbesserung erlaubt. Dies ermöglicht es auch, eine strukturelle Veränderung vorzunehmen. Ob man alles gemeinsam umsetzt oder Schritt für Schritt vorgeht, muss
entschieden werden.
Wir haben unser Konzept vorgelegt. Wir wollen, wie
gesagt, als ersten Schritt die finanzielle Konsolidierung.
Als Nächstes gehen wir das Thema der Entbürokratisierung an, danach die Themen, die uns auf den Nägeln
brennen, zum Beispiel die Personalstruktur und ihre Bemessung, und dann strukturelle und finanzielle Veränderungen. An dieser Reihefolge wollen wir festhalten.
Zweite Nachfrage, bitte schön.
Meine zweite Zusatzfrage: Frau Staatssekretärin, wie
stehen Sie zur Verlautbarung Ihres Koalitionspartners
Bündnis 90/Die Grünen, der gesagt hat, dass es noch in
dieser Legislaturperiode zu einer grundlegenden Reform
der Pflegeversicherung kommen muss?
Ich weiß nicht, worauf sich Ihre Äußerung bezieht.
Mir liegen derzeit, zumindest offiziell, keine solchen
Anträge aus den Reihen der Regierungskoalition vor.
Für Presseberichterstattungen sind weder Sie noch ich
verantwortlich.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke zur Verfügung.
Die Fragen 31 und 32 sollen schriftlich beantwortet
werden.
Damit kommen wir zu Frage 33 der Kollegin Renate
Blank:
Wer war von der Bundesregierung zur Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Traffic“ im BMVBW eingeladen?
Sehr geehrte Frau Kollegin Blank, insgesamt wurden
rund 1 600 Personen eingeladen, darunter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Mitglieder des Deutschen
Bundestages, Mitglieder der Landtage, Mitglieder der
Bundesregierung und von Landesregierungen, aber auch
Repräsentanten von Unternehmen, Medien, Vereinen
und Verbänden sowie sozialen Einrichtungen. Zur Ausstellungseröffnung erschienen rund 400 Personen.
Eine Zusatzfrage, Frau Blank, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir die Kosten in
Höhe von 86 230 Euro aufschlüsseln? Was wurde für
den Künstler ausgegeben, was für den Katalog und die
Hochglanzbroschüre? Wie hoch waren die Kosten für
die Vergrößerung und warum war diese erforderlich?
Frau Kollegin Blank, die genaue Kostenaufstellung
liegt mir jetzt nicht vor. Die Gesamtkosten von
86 230 Euro enthalten zu einem ganz erheblichen Teil
die Positionen, die Sie genannt haben, also die Kosten
für die Herstellung des Ausstellungskatalogs und für die
Ausstellungsfotos.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Wann wurde der Vertrag zwischen dem Künstler und
dem BMVBW über die Ausstellung und die anschließende Verwendung der Bilder abgeschlossen und wer
hat, neben dem Künstler, den Vertrag unterzeichnet?
Wir haben mit der Durchführung der Ausstellung das
bei uns für Messen und Ausstellungen zuständige Referat beauftragt. Dieses Referat bediente sich dazu einer
Veranstaltungsagentur. Dies geschah auf der Grundlage
eines Rahmenvertrages, der aufgrund einer Ausschreibung zustande gekommen ist. Die ausgestellten Bilder
sowie Restbestände des Katalogs befinden sich im Eigentum des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen. Mit dem Künstler wurde vereinbart,
dass die Ausstellungsbilder und die dazugehörigen Kataloge interessierten öffentlichen Stellen und sozialen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Mit den künftigen
Ausstellern werden Vereinbarungen über Transport und
Haftung getroffen werden.
Eine weitere Frage des Kollegen Nitzsche.
Frau Staatssekretärin, gibt es in Ihrem Haus eine Förderung von Kunstprojekten in vergleichbarer Größenordnung? Wie wir gehört haben, waren es ja über
86 000 Euro.
Herr Kollege Nitzsche, aufgrund der Frage der Kollegin Blank wurden die vermeintlich hohen Kosten verifiziert. Sie wissen, dass man bei Ausstellungen nicht pauschal beurteilen kann: Was ist teuer? Was ist weniger
teuer? Das wird Ihnen die Kollegin Blank, die ja im
Kunstbeirat sitzt, bestätigen können. Wir haben die
Frage der Kollegin Blank zum Anlass genommen, zu
überprüfen, ob die Mittel wirtschaftlich verausgabt worden sind.
Eine weitere Frage des Kollegen Rose.
Habe ich es richtig verstanden, Frau Staatssekretärin,
dass es keine öffentliche Ausstellung war, dass vielmehr
beabsichtigt war, nur einmal die Öffentlichkeit einzuladen, sodass sich sonst niemand die Ausstellung ansehen
kann? Wurde dafür so viel Geld ausgegeben?
Nein, diese Ausstellung ist als Wanderausstellung
konzipiert und sie steht, wie ich ausgeführt habe, selbstverständlich zur Verfügung, wenn Interessierte sie zeigen wollen. Es gibt da auch Kontakte. So soll die Ausstellung im kommenden Jahr in Rostock gezeigt werden.
Dann kommen wir zur Frage 34 der Kollegin Renate
Blank:
Wurde im Zusammenhang mit der Ausstellung eine vertragliche Regelung abgeschlossen, insbesondere im Hinblick
auf eine konkrete Vereinbarung der weiteren Verwendung der
ausgestellten Bilder?
Das war im Kern der Inhalt meiner Antwort auf die
zweite Zusatzfrage der Kollegin Blank. Ich wiederhole
sie: Das für Messen und Ausstellungen zuständige Referat wurde mit der Durchführung der Ausstellung beauftragt. Es bediente sich dabei einer Veranstaltungsagentur.
Hierüber besteht ein Rahmenvertrag, der aufgrund einer
Ausschreibung zustande gekommen ist. Die ausgestellten Bilder sowie Restbestände des Katalogs befinden
sich im Eigentum des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen. Mit dem Künstler wurde
vereinbart, dass die Ausstellungsbilder und die dazugehörigen Kataloge interessierten öffentlichen Stellen und
sozialen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Mit den
künftigen Ausstellern werden Vereinbarungen über
Transport- und Haftungsfragen getroffen.
Frau Blank, eine Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, dem Vernehmen nach beinhaltet der Vertrag, dass die Bilder nach der Ausstellung in
das Eigentum eines Mitarbeiters des BMVBW, der ein
Freund des Künstlers sein soll, übergehen sollen. Trifft
dies zu?
Frau Kollegin Blank, Sie werden verstehen, dass ich
Aussagen zu persönlichen Beziehungen weder bestätigen noch dementieren kann. Und was den schriftlichen
Vertrag angeht: Den gibt es nicht.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte, Frau Blank.
Frau Staatssekretärin, es ist bei solchen Veranstaltungen etwas unüblich, keinen Vertrag abzuschließen, zumal es - wie Sie gesagt haben - einen Rahmenvertrag
gibt. Meine Frage - auch wenn Sie, Frau Staatssekretärin, sagen, dass es keinen Vertrag gebe - lautet: Gab es
nachträgliche Vertragsänderungen?
Frau Kollegin Blank, ich habe Ihnen geschildert, dass
mit dem Künstler vereinbart worden ist, die Ausstellung
weiterhin zu zeigen. Die Ausstellung befindet sich im
Eigentum des Bundesministeriums für Verkehr, Bauund Wohnungswesen und wird auch der Öffentlichkeit
zur Verfügung gestellt. Wir überprüfen an dieser Stelle,
ob alle haushaltsrechtlichen Vorschriften und Verfahrensregeln eingehalten worden sind.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Nitzsche.
Frau Staatssekretärin, gibt es in Ihrem Ministerium
Pläne, in welchen öffentlichen oder sozialen Einrichtungen die Bilder nach der Präsentation bei Ihnen im
BMVBW gezeigt werden, und ist dies bereits vertraglich
zugesichert?
Ich habe vorhin schon gesagt, dass die Ausstellung im
September nächsten Jahres in der Rathaushalle in
Rostock gezeigt werden soll. Weitere konkrete Absprachen sind noch nicht getroffen, aber es gibt Kontakte.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Rose.
Frau Staatssekretärin, hat es bisher irgendeine Art von
Medienbegleitung gegeben? Da es sich um eine öffentliche Ausstellung handelt, möchte man darüber auch etwas lesen oder hören.
Ich habe bereits gesagt, dass zum Kreis der Geladenen bei der Ausstellungseröffnung auch Medienvertreterinnen und -vertreter gehörten, die, soweit ich weiß,
auch anwesend waren. Ansonsten ist die Ausstellung in
den öffentlichen Räumen des Ministeriums gezeigt worden.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Die Zeit für die Fragestunde ist nahezu abgelaufen.
Deswegen beende ich die Fragestunde jetzt. Die nicht
beantworteten Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte
Die Demokratie in der Ukraine festigen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Gernot Erler von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sprechen heute zum zweiten Mal innerhalb einer Woche
über die Vorgänge in der Ukraine. Das ist neu. Das hat es
bisher noch nicht gegeben. Das ist eine Premiere.
Die ganze Welt schaut im Augenblick auf die Ukraine. Dieses Land tritt auf einmal auf eine Bühne, auf der
es bisher noch nie war. Dieses Land handelt plötzlich
selber, spricht selber, aber nicht in der Weisheit seiner
Führung, sondern mit den Stimmen vieler Tausender, die
nicht mehr schweigen und dulden wollen.
Das ist ein faszinierender Vorgang, der unsere neugierige Aufmerksamkeit, unseren Respekt, ja unsere Bewunderung für so viel Zivilcourage findet.
Unsere Sympathie ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Landes.
({0})
Uns geht es schlicht darum, dass wir versuchen, im
Sinne der Wahrung europäischer Werte zu helfen, damit
so viel Mut, so viel persönliche Risikobereitschaft - übrigens auch so viel Disziplin und Umsicht - nicht mit einer Demonstration dumpfer Macht beantwortet wird, damit nicht mit faulen Tricks versucht wird, diese
Bewegung ins Leere laufen zu lassen, sondern damit das
Ganze mit einem fairen Ergebnis endet, das dem ganzen
Land Ukraine hilft.
Was ist das für ein Land, von dem wir hier sprechen?
Ukraine heißt Land an der Grenze, Grenzland. Das spielt
auf Mitteleuropa an und bedeutet auch immer, zwischen
anderen, größeren Mächten eingeklemmt zu sein. Kein
anderer hat das besser ausgedrückt als der derzeit populärste ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch in
seinem Essay „Mittel-Ost-Revision“, aus dem ich eine
kleine Passage zitieren möchte. Da schreibt er:
Der Platz zwischen den Russen und den Deutschen
ist die historische Bestimmung von Mitteleuropa.
Die zentraleuropäische Angst schwankt historisch
hin und her zwischen zweierlei Sorge: Die Deutschen kommen, die Russen kommen. Der zentraleuropäische Tod - das ist der Tod im Lager oder im
Gefängnis, dazu kommt noch ein kollektiver Tod:
Massenmord, Säuberung. Die zentraleuropäische
Reise - das ist die Flucht. Aber von woher und wohin? Von den Russen zu den Deutschen? Oder von
den Deutschen zu den Russen? Gut, dass es für alle
Fälle noch Amerika gibt.
Vielleicht ist das die kürzeste und prägnanteste Ortsbestimmung von Mitteleuropa und damit vom größten
Land dort, der Ukraine. Das weist uns aber auch darauf
hin, mit welcher Umsicht und Vorsicht wir auf die Vorgänge bei unserem Nachbarn reagieren müssen.
Ich bin froh, dass man diese Sensibilität hier bemerken kann. Ich bin froh, dass Vertreter der EU, der polnische Präsident Kwasniewski, der litauische Präsident
Adamkus und der Hohe Repräsentant und Generalsekretär der EU, Solana, jetzt schon zum zweiten Mal in der
Ukraine sind, um ihre guten Dienste anzubieten. Ich
finde, wir sollten ihnen für diese Bemühungen Dank sagen.
({1})
Auch bin ich froh, dass Außenminister Fischer deutlich gemacht hat, dass wir die Menschen und die Demokratie, nicht aber einen einzelnen Kandidaten unterstützen. Im Namen der Koalition und der SPD-Fraktion
möchte ich Dank sagen und unsere volle Unterstützung
für die Bemühungen des deutschen Bundeskanzlers zum
Ausdruck bringen, der seine guten und freundschaftlichen Beziehungen zum russischen Präsidenten hilfreich
genutzt hat.
({2})
Er hat zwei Telefongespräche mit ihm geführt, die jedes
Mal ein gutes Ergebnis gebracht und in Moskau deutlich
gemacht haben, dass das Prestige der russischen Politik
auf dem Spiel steht.
({3})
Der Preis ist hoch. Präsident Putin hat auf dem EURussland-Gipfel in Den Haag davor gewarnt, dass sich
andere in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen. Allerdings ist vorher die ganze Welt Zeuge davon geworden, dass sich Russland ziemlich intensiv in
den ukrainischen Wahlkampf eingemischt und dabei
eine massive Kampagne gegen den Kandidaten Wiktor
Juschtschenko organisiert hat, dem man sogar vorgeworfen hat, ein amerikanischer Agent zu sein. Das ist komisch; ich wusste noch nicht, dass sich ein amerikanischer Agent dadurch auszeichnet, dass er ankündigt, die
500 ukrainischen Soldaten alsbald vom Schauplatz Irak
zurückzuziehen. In den letzten Tagen des Wahlkampfes
haben wir auch demonstrative Besuche von Präsident
Putin in der Ukraine beobachtet. Wir haben gesehen,
dass, obwohl die Fälschungen offensichtlich waren,
zweimal seine Gratulation an den angeblichen Sieger
Janukowitsch erfolgt ist.
Wir haben Respekt vor der - so nennt man es - strategischen Partnerschaft zwischen Russland und der
Ukraine. Wir wissen, dass die Ukraine Hilfe aus Russland bekommt, zum Beispiel subventionierte Lieferungen von Energie. Auch wissen wir, dass 5 Millionen
Ukrainer als Gastarbeiter in Russland tätig sind und dadurch wesentlich zu Wohlstand und Fortschritt in der
Ukraine beitragen. Nach unserer Auffassung kann eine
strategische Partnerschaft aber nicht heißen: Kumpanei
mit einem Machtclan, der in der eigenen Bevölkerung
keinerlei Kredit mehr hat. Sie kann auch keine Diskriminierung eines Kandidaten bedeuten, der im ersten Wahlgang in der eigenen Bevölkerung die überwiegende Zustimmung bekommen hat. Strategische Partnerschaft
kann doch nur heißen: intensive Zusammenarbeit zweier
souveräner Staaten; Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe.
({4})
Es stimmt übrigens: An einigen amerikanischen
Schreibtischen sitzen Leute, die geopolitische Spiele aus
dem Kalten Krieg im Kopf haben und die diese Präsidentenwahl tatsächlich zu einer Art Endspiel im Kampf
um Einfluss und Einflusszonen in Mitteleuropa hochschreiben wollten. All denen - egal wo sie sitzen -, die
davon ausgehen, die Ukraine sei ein Spielball anderer
Mächte, sie sei Objekt der Politik und nicht Subjekt, rufen wir heute aus dem Plenum des Deutschen Bundestages zu: Ihr irrt euch! Schaut auf die Straßen von Kiew,
von Charkow, von Lemberg, von Tarnopol und vielen
anderen Städten! Die Menschen in der Ukraine sind fest
entschlossen, Subjekt von Geschichte und Politik zu
werden. Sie wollen nicht eingeklemmt bleiben und zerrieben werden, sie wollen endlich selber über ihren Weg
bestimmen. Im 21. Jahrhundert kann die Ukraine nicht
mehr Hinterhof von irgendwem oder passives Objekt irgendwelcher geopolitischen Spiele sein.
Wir werden Partner dabei sein, diese Situation zu beenden und dieses von Jurij Andruchowytsch beschriebene Trauma zu überwinden.
Meine Damen und Herren, es gibt keine politische
Einmischung von uns - und es wird auch keine geben -,
aber es gibt auf allen Ebenen Sympathie für die orangene Revolution. Zum Beispiel hat der Freiburger Gemeinderat gestern einstimmig, über alle Fraktionen hinweg, ein Unterstützungsschreiben an den Gemeinderat
in Lemberg geschickt. Ich wünsche mir, dass so etwas
„von unten“ vielerorts passiert. Das ist Sympathie mit
Menschen, die nicht bereit sind, die groben Wahlfälschungen vom 21. November zu akzeptieren.
Wir wissen und wir haben Belege dafür, welchen Umfang diese Wahlfälschungen angenommen haben: dass
Wählerlisten gefälscht wurden, dass Busse mit Mehrfachwählern herumgefahren sind, dass Kisten mit vorab
ausgefüllten Wahlzetteln gefunden wurden. In diesen
Stunden treten vor dem obersten Gericht der Ukraine
Zeugen auf, die von Hunderten von Wahlbezirken berichten, in denen eine Wahlbeteiligung von mehr als
100 Prozent festgestellt wurde. Es ist eindeutig: Diese
Wahl kann nicht anerkannt werden. Kein Präsident, der
nach einer solchen Wahl sein Amt antritt, kann irgendeine Autorität beanspruchen, weder in seinem eigenen Land noch bei uns.
Der Konsens darüber wird breiter. Aber wir müssen
auch erkennen, dass es nicht nur um diese Wahl geht;
diese Wahl hat eigentlich nur ein Fass überlaufen lassen,
das schon vorher voll war. Ich meine damit die Wahlkampagne, bei der die Anhänger von Wiktor
Juschtschenko in unfairster Weise behindert wurden.
Seine Flugzeuge konnten plötzlich nicht starten, seine
Busse kamen nie an den Bestimmungsorten an. Man
nennt das „die administrativen Ressourcen nutzen“. Es
ist schon zynisch, dass nach dem unaufgeklärten Giftanschlag auf diesen Kandidaten, der sein Gesicht bekanntlich sehr entstellt hat, die Gegner sagten: Wie kann eigentlich jemand, der so aussieht, die Ukraine nach außen
vertreten? Das ist blanker Zynismus.
Es gab eine neue Studentenbewegung; sie heißt
„Pora“, das heißt „Es ist Zeit“. Schon vor der Wahl sind
viele der Studenten, die sich engagiert haben, die sich
politisch betätigt haben, festgenommen worden. Sie sind
bedroht worden, verhaftet worden, zum Teil aus den
Universitäten ausgeschlossen worden. Übrigens gab es
dafür ein Vorbild: Das war die Studentenbewegung im
Jahr 2000 in Serbien; sie hieß „Vreme“, auf Deutsch
auch „Es ist Zeit“.
Es gab eine massive Einschüchterung und Vermachtung der Medien. Der einzige unabhängige Kanal der
Ukraine ist der Kanal 5. Er ist immer wieder in seiner
Arbeit behindert worden. Wir kennen die berühmten und
berüchtigten „Temniki“, die Anweisungen des Chefs der
ukrainischen Präsidialverwaltung, Wiktor Medwedtschuk,
der den Medien jeweils im Detail vorschrieb, was zu berichten ist und was nicht. Wir haben großen Respekt vor
den über 330 ukrainischen Journalisten, die schon vor
dem Wahltag ihren Protest gegen diese Bevormundung
angekündigt haben und sich damit praktisch die eigene
Entlassungsurkunde ausgestellt haben.
Immer mehr Menschen in der Ukraine sagen einfach:
Wir machen nicht mehr mit. Wir wollen Ehrlichkeit und
nicht mehr diesen Sumpf und diese verborgenen Spiele
zwischen politischer und ökonomischer Macht, zwischen Oligarchen und dem organisierten Verbrechen.
Wir wollen keine politischen Marionetten mehr, an deren
Fäden andere ziehen. Wir wollen auch keine Einmischung in unsere Angelegenheiten von außen mehr, egal
woher sie kommt. Das ist eine Revolution mit der Farbe
Orange, die zum Ziel hat, die Ukraine zum zweiten Mal
nach 1991 - dieses Mal aber richtig - unabhängig zu
machen. Sie kämpft für eine neue politische Kultur, die
den europäischen Werten und der Würde der Menschen
in der Ukraine entspricht. Darum geht es in der Tat.
Vaclav Havel hat die Demonstranten ermuntert,
durchzuhalten, weil ihre Bewegung ihn an den Prager
Frühling von 1968 erinnert. Lech Walesa ist nach Kiew
geeilt, um zu vermitteln, weil er sich an die SolidarnoscBewegung Anfang der 80er-Jahre erinnert fühlte. Viele
denken heute an die Ereignisse vor dem Sturz von
Milosevic in Belgrad im Jahre 2000 und an die Rosenrevolution in Georgien, die genau ein Jahr her ist. Wir haben hier so etwas wie einen „Kiewer Frühling im Novemberschnee“. Auf den Erfolg dieses Kiewer Frühlings
hoffen und warten sehr viele Menschen auch außerhalb
der Ukraine. Deshalb gilt unsere Sympathie den Menschen, die hier aktiv werden.
Es ist gut, dass in der Vergangenheit Kolleginnen und
Kollegen aus fast allen Fraktionen des Deutschen Bundestages nach Kiew gereist sind, um diesen Menschen
ihre Unterstützung und ihre Sympathie zum Ausdruck zu
bringen. Das war eben keine Einmischung. Ich möchte
diesen Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich danken.
({5})
Viele Tricks sind jetzt möglich. Wir müssen damit
rechnen, dass Tricks angewandt werden, um Zeit zu gewinnen und die Wahlen zu wiederholen. Es wird heißen,
Herr Juschtschenko und Herr Janukowitsch können nicht
mehr kandidieren; denn sie haben die Ukraine durch ihren Streit an den Rand des Bruchs gebracht. Ich sage
nur: Diese Tricks werden nicht wirken.
Dort sind Menschen aufgebrochen, die nicht wieder
zurück in ihre Häuser gehen werden. Wir glauben nicht,
dass die Menschen aufhören, für diese neue Ukraine zu
kämpfen. Es gibt diese neue Ukraine schon. Wir haben
alles Recht und die Pflicht, ihr unsere Sympathie und unsere Unterstützung zuzusagen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Nolte von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die drei Tage in Kiew in der letzten Woche
waren für mich unglaublich bewegend. Ich habe
Tausende von Menschen gesehen, die mit viel Hoffnung
und Optimismus für ihre Grundrechte auf der Straße
streiten und demonstrieren und die ihre sehr klare Entschlossenheit zum Ausdruck bringen: Wir werden nicht
eher aufhören, bis der aus unserer Sicht rechtmäßige Sieger der Wahl auch zum Präsidenten erklärt wird.
Ich denke, es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass es
einen Wahlbetrug gegeben hat. Der Kollege Erler hat das
schon ausgeführt. Für mich ist es ein unglaublich hoffnungsfrohes Zeichen, dass sich in der Ukraine inzwischen eine so große Zivilgesellschaft herausgebildet hat,
die diesen Betrug nicht mehr akzeptieren will, und dass
es eine starke Opposition gibt, was ein wesentliches
Merkmal für demokratische Strukturen ist. Für mich war
es sehr wichtig, zu erleben, dass dies friedliche Menschen waren und dass es ihnen ganz wichtig ist, dass
keine Gewalt angewendet wird. Auch von Juschtschenko
und den anderen ist immer darauf hingewiesen worden,
sich nicht provozieren zu lassen, sondern den Protest
friedlich auszutragen.
({0})
Dass es Gründe für diese Warnung gab, wurde mir
klar, als ich die Busse gesehen habe, mit denen
Janukowitschs Anhänger, in der Regel Männer, aus dem
Ostteil des Landes nach Kiew gebracht worden sind. Dadurch kam es zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre.
Es wurde deutlich: Es ist nicht unbedingt sicher, dass die
Lage auf Dauer friedlich bleibt.
Vor dem Hintergrund dieser Konstellation stellt sich
die Frage: Wie lässt sich dieser Konflikt auflösen? Der
rechtliche Weg ist nicht ganz einfach. Das Wahlgesetz
sieht beispielsweise keine Wiederholung von Stichwahlen vor. Genau das aber verlangt die Opposition. Ich
kann diesen Wunsch der Opposition sehr gut nachvollziehen. Ihrer Meinung nach würde eine Neuwahl den
ganzen Prozess erneut in Gang setzen, was viel Zeit
braucht. Sie sind sich jedoch nicht sicher, was in dieser
Zeit alles passiert. Maßnahmen der Regierung wären nur
schwer kontrollierbar. Daher sind die Befürchtungen der
Opposition nicht unbegründet.
Der Vorschlag, der immer wieder ins Feld geführt
worden ist, man könne ja in einzelnen Regionen die
Stimmen nachzählen, ist kein gangbarer Weg. ODIHR
hat ausdrücklich davor gewarnt; denn viele Wahlfälschungen fanden vor der Wahl statt. Wenn man diese
Stimmen auszählt, würde man im Nachgang ein falsches
Ergebnis sanktionieren. Das ist also keine Lösung.
Die Wiederholung der Stichwahl, wie es die Opposition fordert, wäre nur über eine politische Einigung
möglich. Dafür müsste das Wahlgesetz geändert werden,
damit eine rechtliche Grundlage geschaffen wird. Man
müsste es auch ändern, um die Instrumentarien, die als
Einfallstore für Wahlfälschungen dienen, abzuschaffen,
wie die fliegenden Wahlurnen oder die Wahlscheine, mit
denen man außerhalb des eigenen Wahllokals wählen
kann, und vieles mehr. Ebenso müsste darauf geachtet
werden, dass die Wahlkommissionen paritätisch besetzt
werden.
Die Rada hat wichtige politische Zeichen gesetzt.
Das ist deshalb beeindruckend, weil die Gemengelage in
der Rada nicht einfach ist. Schon am letzten Samstag hat
sie die Stichwahl für ungültig erklärt. Dies ist zwar nicht
rechtsverbindlich, aber ein wichtiges politisches Zeichen. Sie hat heute in einer geheimen Abstimmung der
Regierung das Misstrauen ausgesprochen. Sie hat gleichermaßen dem Programm der Regierung ihre Zustimmung entzogen. Als Folge wurde eine Diskussion über
die Rechtsverbindlichkeit ausgelöst; denn nur wenn dieses Regierungsprogramm vom Parlament nicht anerkannt würde, könnte das Misstrauensvotum rechtlich
verbindlich sein.
Sie, Herr Erler, sagten gestern, Präsident Kutschma
komme an einem solchen Votum nicht vorbei. Die spannende Frage ist trotzdem, wie er darauf reagieren wird.
Kurzzeitig kam die Meldung, er akzeptiere das Misstrauensvotum. Aber diese Meldung ist schon wieder zurückgezogen worden. Es ist typisch für diese Zeit, dass sich
die Meldungen geradezu überschlagen. Mein Eindruck
ist allerdings, dass auf Zeit gespielt wird. Das oberste
Gericht hat sich zwei Tage nur mit Verfahrensfragen beschäftigt. Dabei wäre ein Votum des obersten Gerichtes
sehr wichtig, weil nur das Gericht diese Wahl rechtswirksam für ungültig erklären kann.
Präsident Kutschma zeigt sich eher uneinsichtig. Er
schloss zum Beispiel eine Wiederholung der Stichwahl
ganz klar aus. Wenn überhaupt eine Wahl, dann müsse es
Neuwahlen geben. Dabei könnte dieser Präsident eine
wichtige Rolle spielen. Es liegt sehr wohl in seiner
Hand, eine rechtlich gangbare Lösung für diesen Konflikt zu finden. Es liegt in seiner Hand, dass dieser Prozess friedlich verläuft. Er könnte seinem Land einen großen Dienst erweisen.
Was noch viel wichtiger ist, ist die Frage an uns: Wie
gehen wir mit der Situation in der Ukraine um und was
können wir tun? Es war ganz wichtig, ein politisches
Zeichen der Unterstützung des Protestes deutlich zu machen, um zu zeigen, dass wir einen Wahlbetrug nicht
hinnehmen werden. Hier geht es um das demokratische
Grundrecht auf Wahlfreiheit und damit einhergehend
auch um andere Grundrechte wie Meinungsfreiheit und
vor allen Dingen auch Medienfreiheit.
Dies ist nicht, wie uns oft suggeriert wird, eine Auseinandersetzung zwischen Ost und West in der Ukraine.
Diese Einschätzung teile ich nicht. Vielmehr geht es um
eine Auseinandersetzung zwischen den demokratieorientierten Kräften und den Beharrungskräften eines
autoritären, von Wirtschaftsclans regierten Regimes.
({1})
Es ist zwar richtig, dass der Osten stärker nach Russland
ausgerichtet ist, aber das heißt doch nicht, dass die Menschen im Osten Wahlbetrug wollen. Sie haben vielmehr
gleichermaßen den Anspruch und das Recht, dass ihr
Votum, egal in welche Richtung es geht, ernst genommen und dass ihr Wählerwillen akzeptiert wird.
Ich denke auch, dass die Stimmung im Osten zum
großen Teil damit zusammenhängt, dass im östlichen
Landesteil eine vollkommene Desinformation stattgefunden hat. Der einzige freie Fernsehkanal war dort in
vielen Regionen nicht empfangbar. Über Monate hinweg
ist eine Kampagne geführt worden, sodass viele Menschen im Ostteil des Landes überhaupt keine richtigen
Vorstellungen davon haben, was in Kiew und den westlichen Landesteilen vorgeht. Ich kann nur hoffen, dass
sich dieses Meinungsbild ändern wird, wenn die Medien
heute offener und neutraler berichten. Die Rückmeldungen, die ich habe, besagen, dass Autonomiebestrebungen, wie Janukowitsch sie jetzt ins Gespräch gebracht
hat, im Osten des Landes keine Mehrheit finden würden
und dass ihm diese Aktion eher geschadet hat, auch in
den eigenen Reihen.
Ich bin in der Ukraine immer wieder darauf angesprochen worden, dass man von der Europäischen Union
klare Zeichen erwartet. Diese Zeichen kamen spät, sie
kamen auch von der Bundesregierung spät. Ich begrüße
es sehr, dass jetzt und schon am Freitag letzter Woche
der EU-Außenbeauftragte, Herr Solana, in Kiew Gespräche mit beiden Seiten führt, um auszuloten, welche
Wege es gibt, und um zu schauen, wie man beide Seiten
zu Verhandlungen bewegen kann.
Mir wurde auch immer wieder bedeutet, dass man die
Hoffnung hat, dass Deutschland seine guten Beziehungen zu Russland nutzt. Man möchte, dass Russland das
ukrainische Volk entscheiden lässt und nicht die Ukraine
umklammert. Wenn Russland einem Präsidenten die Unterstützung gibt, der durch Wahlbetrug ins Amt gekommen ist, dann wird das von den Menschen auf der Straße
nicht akzeptiert. Russland hat im Wahlkampf sehr stark
Partei ergriffen. Deswegen finde ich es notwendig, Herr
Bundeskanzler, dass Sie diese Gespräche mit Präsident
Putin führen. Wenn uns Einmischung vorgeworfen wird,
obwohl der Westen nicht einmal sagt, dass er einen bestimmten Kandidaten präferiert - das haben wir nie getan -, sondern nur darauf beharrt, dass kein Wahlbetrug
passiert und dass der Wählerwille zum Ausdruck
kommt, dann stellt sich für mich die Frage nach dem jeweiligen Demokratieverständnis.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben auf die Frage, ob der
russische Präsident Putin ein lupenreiner Demokrat sei,
mit Ja geantwortet. Dann müsste es doch aus Ihrer Sicht
möglich sein, mit ihm darin eine Übereinstimmung zu
bekommen, dass so ein Wahlbetrug nicht akzeptabel ist.
({2})
Da der russische Präsident Einfluss hat, nicht zuletzt auf
den Präsidenten Kutschma, müsste es doch auch einen
Weg geben, zu versuchen, dass dieser Einfluss dahin gehend genutzt wird, dass Kutschma den Weg für eine
friedliche und positive Lösung freimacht. Es ist doch
keine Einmischung, wenn Sie dies nachdrücklich in Gesprächen mit dem russischen Präsidenten erörtern.
Es geht doch nicht um eine Konfrontation zwischen
Russland und uns. Ein Konflikt darf überhaupt keinen
Platz haben. Es geht auch nicht um Einflusssphären, sondern es geht schlicht und ergreifend um die Frage nach
einer gemeinsamen Wertebasis, die wir anstreben und
die letztendlich die Grundlage dafür ist, dass wir in Partnerschaft sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine
zusammenarbeiten können.
({3})
Wir wollen Russland als Partner haben und die beste
Grundlage für die Partnerschaft ist die Übereinstimmung
in gemeinsamen Grundwerten. Dafür müssen wir werben, dafür müssen wir auch streiten. Da geht es nicht um
Macht und nicht um wirtschaftlichen Einfluss.
Vielleicht hätte die Entwicklung in der Ukraine in der
Vergangenheit eine andere Wendung genommen, wenn
sich die EU stärker um dieses Land bemüht hätte. Die
Ukraine genoss in der Vergangenheit ganz sicher keine
Priorität. Umso mehr ist es meines Erachtens jetzt Zeit,
über die Form der zukünftigen Zusammenarbeit nachzudenken. Wenn das Nachbarschaftskonzept der Europäischen Union das Signal aussendet, dass der Platz der
Ukraine bei den Ländern ist, die nie eine Aussicht auf
eine Integration in die Europäische Union haben, dann
klingt das wie eine Ausladung. Ich denke, wir brauchen
positive Signale für dieses Land, dass die Türen offen
sind.
Herr Kollege Weisskirchen, Sie haben bei der Demonstration auf dem Unabhängigkeitsplatz den Menschen sinngemäß zugerufen: Ihr stoßt die Tür von Osten
nach Westen in das Herz Europas auf! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns daran mitwirken, dass
diese Tür offen bleibt!
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin GöringEckardt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Eintopf und Euphorie - das sind die Zutaten der
orangenen Revolution. Was in der Ukraine passiert,
kommt vom Volk. Volkes Wille wird dokumentiert mit
Wattejacke und Pelzmantel, von Großmüttern und Enkelsöhnen. Es sind viele Junge, die protestieren und aushalten. Es geht um ihre eigene Zukunft.
Übrigens sind nicht alle politisiert. Es treffen sich
keine kleinen Zirkel und es finden auch keine runden Tische statt, bei denen man sich fragt, was nach dem Sieg
passiert. Nein, die Politik sollen die Politiker machen.
Darin zeigt sich fast ein wenig Demut.
Aber worum geht es dann? Sind wirklich alles Anhänger von Juschtschenko, seiner Politik und seinen
Wahlversprechen? Auch auf diese Frage lautet die Antwort Nein. Es geht um Wahrheit, Würde und Stolz. Man
lässt sich nicht die Wahlen stehlen. Mit dem Aufzwingen
des Willens von oben und von außen muss Schluss sein.
Auch deswegen ist der Protest so friedlich und wird es
hoffentlich bleiben.
Es geht bei diesem Protest auch nicht um ein Wohlstandsversprechen. Es geht nicht um Autos für alle, sondern um Freiheit und Demokratie auch in einem sehr
armen Land. Das unterscheidet die Ukrainer übrigens
von manchen anderen Revolutionären.
Es wird ganz bestimmt Enttäuschungen geben, wenn
sich erst wieder Apparate und Bürokraten über das Land
beugen. Aber egal, wie lange jetzt verzögert oder hingehalten wird: Das, was jetzt geschieht, ist nicht zurückzudrehen. Der Gedanke an die Freiheit ist ebenso wie der
Rausch der Revolution tief in die Herzen eingegraben.
Als wir am Samstag, nachdem das Parlament dokumentiert hatte, dass es die Wahlen nicht für rechtmäßig hält,
die Pressesprecherin der Wahlkommission trafen, war
sie von oben bis unten in einen orangen Schal gehüllt.
Es geht in der Tat um die Einheit der Ukraine, um
eine gemeinsame Identität. Für uns heißt das: mehr eigenständigere Ukrainepolitik, nicht eine, die über Russland definiert wird. Es geht nicht darum - auch wenn es
noch so gut gemeint ist -, der Ukraine jetzt eine EU-Perspektive zu eröffnen. Das würde zu einer Spaltung führen und verhindern, dass die Ukraine ihren eigenen Weg
findet. Das bedeutet für Russland, einen eigenständigen
und demokratischen Weg der Ukraine zu respektieren.
Das Verhältnis der beiden Länder mit der langen gemeinsamen Grenze wird - von welchem rechtmäßigen
Präsidenten die Ukraine auch immer regiert wird - sehr
eng bleiben. Wladimir Putin hat durch seine Einmischung von außen viel von seiner Reputation in der
Ukraine verspielt. Diese Einmischung von außen will
man nicht mehr respektieren - weder auf den Straßen
Kiews noch in anderen Teilen der Ukraine. Man will
sich nicht mehr vorschreiben lassen, wen man wählen
und was man denken soll.
({0})
Es ist nicht richtig - darauf haben schon andere an
dieser Stelle hingewiesen -, von einer gespaltenen
Ukraine zu reden. Erst seit wenigen Tagen kommen die
Nachrichten über das, was in Kiew und Lemberg geschieht, auch im Osten des Landes an. Bis dahin hatte
die Staatsmacht das offizielle Fernsehen daran gehindert,
frei zu berichten. Inzwischen sind aber mehr und mehr
Journalistinnen und Journalisten dazu übergegangen,
real und objektiv zu berichten. Es ist übrigens ausgerechnet eine Gebärdendolmetscherin gewesen, die dies
als eine der Ersten tat. Während die Wahlkommission
den Sieg Janukowitschs verkündete, übersetzte sie in
Gebärdensprache: Glaubt ihnen kein Wort!
({1})
Im Osten des Landes kommt die Revolution an - den
üblen Verleumdungen mancher Janukowitsch-Leute zum
Trotz. Während Ludmilla Janukowitsch in Donezk verkündet, die Apfelsinen in Kiew seien mit Drogen versetzt, wird der Marktplatz von Charkow, 40 Kilometer
von der russischen Grenze entfernt, orange. Einer von
Tausenden dort ist der Schriftsteller Sergej Shadan. Er
sagt:
In der Ukraine geht es den Menschen um Größeres
und Wichtigeres als Politik. In der Ukraine unterstützen sie nicht allein den Oppositionskandidaten
Juschtschenko. In der Ukraine unterstützt das Volk
mehr als alles andere das Recht, sich „Volk“ zu nennen.
„Juschtschenko!“ skandieren die Menschen auf den Straßen, und zwar in dem gleichen Rhythmus wie damals die
Bürger der DDR „Wir sind das Volk!“
Das ukrainische Parlament hat heute der Regierung
Janukowitsch das Misstrauen ausgesprochen, ein wichtiger, ein längst überfälliger Schritt. Weitere müssen folgen.
({2})
Am besten wäre die Wiederholung der Stichwahl.
Aber niemand, der nun versucht, auf Zeit zu spielen und
zu tricksen, sollte glauben, dass sich das Volk der
Ukraine noch einmal betrügen lässt.
„Was können wir tun?“, werden wir in diesen Tagen
immer wieder gefragt. Die Bilder von den Apfelsinen
auf unseren Tischen und den orangefarbenen Schals im
Bundestag sind über alle Sender des ukrainischen Fernsehens gegangen. Unsere Solidarität mit der Demokratiebewegung in der Ukraine ist auch deswegen so wichtig, weil klar ist, dass wir, das Ausland, genau
hinschauen und beobachten, was passiert. Das unterstützt das ukrainische Volk in seinem Kampf um Freiheit
und Demokratie. Natürlich ist es in diesem Zusammenhang außerordentlich hilfreich - darauf haben schon verschiedene Redner hingewiesen -, dass die Europäer
- mit Javier Solana an der Spitze - vor Ort sind; denn sie
werden als unabhängige Vermittler anerkannt.
Ich bin außerordentlich froh, dass der Bundeskanzler
mit Wladimir Putin telefoniert hat und mit ihm verabredet hat, dass das rechtmäßige Ergebnis einer Wahlwiederholung zu respektieren ist. Daran führt kein Weg vorbei.
({3})
Es geht dabei nämlich um unsere Werte: Demokratie,
Freiheit und Menschenrechte. An die Adresse der Abgeordneten, die es erwägen, nach Kiew zu fahren, kann ich
nur sagen: Jede Unterstützung von außen gibt neue
Kraft. Das kennen wir noch gut von 1989. Für mich ist
es ein ziemlich großes Glück, zum zweiten Mal im Leben bei einer Revolution dabei zu sein. Ich kann nur sagen: Es lohnt sich!
Die Orangenen rufen auf den Straßen: Nas bahato,
nas ne podolati! Das heißt: Wir sind viele und wir sind
nicht zu bezwingen! Das ist wahr.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
die Bilder von den Ereignissen in der Ukraine wahrnehmen, dann sollten wir uns - genauso wie viele in unseren
europäischen Nachbarländern - daran erinnern, dass die
Ukraine das zweitgrößte Land Europas ist. Das scheint
völlig aus dem Blick geraten zu sein; denn die Aktivitäten, die sich nun überschlagen und die notwendig sind,
stehen ja im Kontrast zu dem jahrelangen Vorbeiblicken.
Das betrifft auch die Aktivitäten der Europäischen
Union, die in ihrer Bewertung eher zurückhaltend ist.
Die Ukraine ist ein Land mit 70 Prozent Ukrainern, mit
20 Prozent Russen, mit Weißrussen und Moldawiern,
mit Menschen griechisch-orthodoxen sowie Menschen
römisch-katholischen Glaubens, mit Erdöl, Erz, Getreide
und einer Rüstungsindustrie sowie mit kulturellen
Glanzpunkten. Ich habe mich nicht allein an diejenigen
erinnert, die wir auf den Plätzen sehen. Erinnern Sie sich
an einen bedeutsamen Mann aus der Literaturgeschichte:
Nikolai Gogol. Dieses Land ist zutiefst europäisch. Die
Ukraine ist unser Nachbar. Stellen Sie es sich bildlich
vor: Es ist so weit entfernt wie die Schweizer Grenze.
Das geht uns etwas an: Wir sollten uns nicht einmischen,
aber im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Landes
Hilfestellung leisten.
({0})
Mit den Bildern, die wir alle beschreiben und die uns
alle emotional so berühren, gehen Momente einher, die
Dahrendorf mit den Worten „Charmes of Liberty“ beschrieben hat. Vielleicht handelt es sich um die Geburtsstunde einer freiheitlichen Ordnung. Voraussetzung ist,
dass der von der Opposition eingeschlagene Weg durchgehalten werden kann. Manches, womit wir uns hier beschäftigen, nennt Dahrendorf - er schreibt ja mehr in
Englisch - „cold projects“.
In einer solchen Stunde muss anscheinend immer
wieder einmal daran erinnert werden, dass Freiheit für
Menschen etwas bedeuten kann und dass diese Menschen emotionale Zuwendung brauchen.
({1})
Wir sollten den Menschen dort dafür Dank aussprechen,
dass sie diesen Weg gehen. Sie ringen um ihre Sicherheit
und um ihre Zukunft in Freiheit. Aber sie ringen auch
um ganz einfache soziale Sicherheiten. Ich verstehe,
dass ein Minenarbeiter in Donezk sagt: Es ist für mich
wichtig, dass ich am Monatsende einfach Lohn erhalte.
Für einen solchen Menschen hängt die Legitimierung
der Herrschaft von ganz einfachen sozialen Fragen ab,
von denen wir uns kaum mehr vorstellen können, dass
sie für Menschen etwas bedeuten.
Allen, die ihren Blick jetzt auf dieses Land richten
und Informationen entgegennehmen, muss klar sein:
Über die Zukunft dieses Landes entscheiden einzig und
allein die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine selbst.
Wer auch immer mit wem spricht, wer auch immer wen
trifft, wer auch immer respektiert, dass der russische Präsident alle Versuche unternimmt, das Riesenland Russland zusammenzuhalten: Es darf keine Akzeptanz einer
Haltung geben, die die Ukrainer über ihr Schicksal und
ihre Herrschaft nicht selbst bestimmen lässt. Das muss
international völlig klar sein.
({2})
Wir wollen gute Beziehungen zu Russland. Wir wissen, dass wir all diejenigen Kräfte in diesem Land unterstützen müssen, die sich international orientieren wollen.
Aber das Russland, an dem wir Interesse haben, darf
eben kein Machtfaktor von unbestimmter Qualität und
diffuser Richtung sein. Wir wollen, dass dieses Land für
uns ein großer Nachbar ist und bleibt. Aber wir wollen
auch, dass es sich in seinem Selbstwertgefühl nicht immer wieder verletzt fühlt, wenn andere Völker anders
entscheiden, als man sich das in der Hierarchie im Kreml
vorstellt.
Durch Einmischung, auch nicht durch Einmischung
im nahen Ausland, wird Russland seine alte imperiale
Größe nicht mehr gewinnen können. Russland wird nur
dann wieder zu einer großen internationalen Rolle finden
- diese Chance gibt es; wir sollten es dabei unterstützen -,
wenn es die innere Souveränität entwickelt, auch andere
Völker über ihr eigenes Schicksal entscheiden zu lassen.
({3})
Alles, was dem hilft, sollten wir tun.
Der russische Präsident soll beim EU-Russland-Treffen gesagt haben - er hat das auch in Richtung
Europäische Union gesagt -: Die Ukraine ist unser beider Problem. Das ist völlig richtig ausgedrückt. Wir sollten ihm erwidern: Unser beider Problem kann nur gelöst
werden, wenn beide akzeptieren, dass die Ukrainer über
ihre Zukunft entscheiden. Es gibt keinen anderen Weg.
({4})
Das muss man so klarstellen.
Als der jetzige Bundesaußenminister Fischer noch
Vorsitzender der Fraktion der Grünen war, haben wir
- noch im alten Plenarsaal in Bonn - über die Entwicklung Russlands wiederholt Debatten im Parlament geführt. Er ist immer leidenschaftlich dafür eingetreten,
dass gegenüber Russland mit Klarheit, mit Unbeugsamkeit und mit deutlicher Haltung gesprochen wird. Entsprechende Appelle hat er seinerzeit mehrfach - ich
erinnere mich - an die Adresse des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl gerichtet. Kohl führte Telefongespräche mit Jelzin; die Entwicklung in Tschetschenien
war dramatisch. Fischer hat gesagt: Telefonieren allein
genügt nicht. Er hat präzise gesagt: Diese Stunde der Diplomatie muss genutzt werden, um die anderen wissen zu
lassen, nach welchen Regeln eine Problemlösung nur
stattfinden kann.
Deshalb ist es kein verborgener Lauschangriff auf Ihr
Gespräch mit dem russischen Präsidenten, Herr Bundeskanzler, zumal der Regierungssprecher dazu schon Stellung genommen hat, wenn ich Sie bitte, noch einmal klar
und eindeutig zu sagen, da sich ein Teil der Meldungen
in Moskau so nicht niederschlägt, ob Gegenstand des
Gesprächs mit dem russischen Präsidenten tatsächlich
eine Hoffnung gewesen sein könnte, nämlich die, dass
dort auf jeden Fall eine legitimierte Wahl in der
Ukraine, wenn sie denn stattfinden kann, respektiert
wird.
({5})
Jeder Tag, an dem man so etwas erfährt, ist wichtig; das
wäre nämlich ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Da Sie, Herr Bundeskanzler, in vielen Gesprächen
einen besonderen Zugang zum russischen Präsidenten
entwickelt haben, was wir begrüßen, was auch richtig
ist, sollten Sie, glaube ich, die Chance wahrnehmen, das
hier vor dem Parlament zu erklären.
Folgende Prinzipien sollten gelten: erstens und zuallererst Klarheit über die territoriale Integrität der
Ukraine; zweitens Klarheit darüber: Selbstbestimmung
der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes über die zukünftige Herrschaft; drittens eine klare internationale
Verabredung des Inhalts, dass alle das Ergebnis entweder von nachgeprüften, korrigierten Wahlen oder von
Neuwahlen respektieren. Viertens: Jeder enthält sich der
Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Fünftens: Wir sagen dem ukrainischen Volk, dass
der Deutsche Bundestag über alle Parteigrenzen hinweg
die Aktivitäten, die in der Ukraine entfaltet worden sind,
als aufgeklärten europäischen zivilen Beitrag einer Gesellschaft empfindet, mit der wir gern in friedlicher
Nachbarschaft zusammenleben, und fügen gleichzeitig
hinzu, dass wir allen großen Erfolg wünschen, dass die
Opposition durchhalten sollte und dass dieses Land jetzt
die große Chance hat, seine Zukunft selbst zu gestalten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist deutlich geworden: Die Krise in der Ukraine macht uns alle insgesamt besorgt. Das ist auch klar.
Was in diesem großen europäischen Land geschieht, ist
von enormer Bedeutung für die Sicherheit und die Stabilität in Europa und damit natürlich auch für die
Sicherheit der Menschen in Deutschland. Das haben wir
bei dem, was wir tun, im Auge zu behalten. Das ist auch
der Grund dafür, dass Deutschland und die Partner in der
Europäischen Union ebenso wie Russland ein vitales Interesse daran haben, dass es eine demokratische, eine
stabile und eine einige Ukraine gibt. Wir teilen mit der
Ukraine nicht nur gemeinsame Interessen; wir teilen mit
der Ukraine auch eine gemeinsame und gerade im vergangenen Jahrhundert sehr leidvolle Geschichte. Wir
dürfen nicht vergessen, was den Menschen in der Ukraine während des Krieges von Deutschen angetan worden
ist. Ich erwähne das, weil auch das ein Teil der Verantwortung ist, die wir heute für eine gedeihliche, eine demokratische Entwicklung in der Ukraine haben.
Die Bundesregierung verfolgt die gegenwärtige Krise
in der Ukraine, die auch eine Verfassungskrise ist, mit
wirklich großer Aufmerksamkeit. Sie beteiligt sich mit
ihren Partnern in der Europäischen Union aktiv an den
Bemühungen um eine politische Lösung; denn genau
um die geht es und nicht um Sehnsüchte, die man vielleicht sonst noch hat. Wir brauchen eine politische Lösung; alles andere führt, glaube ich, in die Irre.
Dabei geht es im Kern darum, dass der wirkliche
Wille des ukrainischen Volkes zum Tragen kommt und
der wirkliche Wille des ukrainischen Volkes die Zukunft
dieses Landes bestimmt. Nur eine demokratische Lösung auf der Basis der ukrainischen Verfassung kann auf
Dauer jene Stabilität gewährleisten, die die Menschen
dort sowie wir in Europa und in Deutschland brauchen.
({0})
Letztlich, meine Damen und Herren, kann das nach den
Ereignissen, die stattgefunden haben, ohne eine Wahlwiederholung nicht gelingen. Davon bin ich überzeugt.
Die Entscheidung über die Zukunft der Ukraine kann
als letzte Instanz nur das dortige Volk selbst treffen. Es
liegt jetzt in der Verantwortung aller Beteiligten, alles zu
tun, um eine friedliche und demokratische Lösung zu
ermöglichen. Deshalb haben wir die Parteien nachdrücklich zum Dialog und auch zur Kompromissbereitschaft
aufgefordert. Diese Parteien in der Ukraine haben nämlich das Geschehen in der Hand; nicht wir. Gewalt - das
ist immer deutlich gemacht worden - darf kein Mittel
zur Lösung der dortigen Krise sein, weder von der einen
noch von der anderen Seite. Natürlich freue auch ich
mich wie jeder andere darüber, dass Gewalt vermieden
werden konnte. Ich habe die Hoffnung, dass das auch in
Zukunft so bleibt.
Über die künftige Gestalt Europas wird auch die
Entwicklung in der Ukraine entscheiden. Zu Recht hat
die Europäische Union deshalb ihre Unterstützung bei
der Suche nach einem Ausweg aus der Krise angeboten.
Die Europäische Union ist durch ihren Hohen Vertreter
für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an
der Suche nach einer Lösung beteiligt. Wir, die Bundesregierung, unterstützen diese Bemühungen ausdrücklich
und nachdrücklich. Sie zeigen übrigens, dass die Europäische Union in der Lage ist, rasch und verantwortungsvoll auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik zu handeln. Das war nicht immer so, aber das
wird in Zukunft mehr und mehr der Fall sein, auch der
Fall sein müssen. Sie zeigen auch, dass die Europäische
Union dies mit einem größeren Gewicht tun kann, als jeder einzelne Mitgliedstaat das tun könnte; dabei beziehe
ich Deutschland ausdrücklich ein. Zur Stunde sind der
Hohe Vertreter Solana und der polnische Präsident
Kwaśniewski, mit dem ich im Übrigen auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin in ständigem Telefonkontakt
stehe, ebenso wie andere Vermittler erneut in Kiew. Sie
leisten, so denke ich, einen wirklich wichtigen Beitrag
dazu, den politischen Verhandlungsprozess voranzubringen.
Der Einsatz der Europäischen Union für eine friedliche Lösung in der Ukraine ist gegen niemanden gerichtet, sondern er ist Ausfluss bestimmter Prinzipien, die
wir für richtig halten, und dient insbesondere dazu, eine
demokratische und stabile Perspektive für die Ukraine
zu entwickeln. Es geht schlicht darum, auf der einen
Seite Demokratie in der Ukraine - da stimme ich Ihnen
durchaus zu, Herr Gerhardt - und auf der anderen Seite
die territoriale Integrität der Ukraine zu gewährleisten.
Niemand kann ein Interesse an der Verletzung ihrer territorialen Integrität haben. Darüber, was im Inneren wie
organisiert wird, wird die Ukraine in einer demokratischen Entscheidung selbst bestimmen müssen. Von
außen hat sich da jeder einer Einmischung zu enthalten.
Beides liegt übrigens im Interesse nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas und genauso im richtig verstandenen Interesse Russlands.
Die Europäische Union hat deshalb schon in den vergangenen Jahren versucht, im Rahmen einer partnerschaftlichen Beziehung die politische und die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine zu fördern. Die
Bundesregierung hat in den Konsultationen, die sie natürlich mit denen - mit wem denn sonst? -, die in der
Ukraine gegenwärtig an der Regierung sind, geführt hat,
ein Gleiches getan, sowohl ökonomisch als auch politisch. Wir haben das im Rahmen unserer bilateralen
Kontakte getan und werden das weiterhin tun. Wie weit
diese Partnerschaft künftig gehen wird und gehen kann,
hängt nicht nur von der Europäischen Union, sondern
auch und in besonderem Maße von der politischen und
ökonomischen Entwicklung in der Ukraine selbst ab.
Deshalb wird der Ausgang der gegenwärtigen Krise
auch über die Qualität der Beziehungen zwischen der
Union auf der einen Seite und der Ukraine auf der anderen Seite mitentscheiden. Genauso klar muss sein - das
soll und kann das ukrainische Volk wissen -, dass die
Europäische Union zum Ausbau der Beziehungen mit
einer demokratischen Ukraine, wenn sie es denn so will,
wie wir es wollen, zu einer wirklich funktionierenden
politischen und ökonomischen Partnerschaft durchaus
bereit ist. Deutschland wird das immer unterstützen.
({1})
Vieles - ich füge hinzu: auch sehr Polemisches - ist in
den vergangenen Tagen über die Rolle Russlands und
des russischen Präsidenten gesagt worden. Richtig ist:
Auch für Russland ist die Entwicklung in der Ukraine
von größter Bedeutung. Wie kein anderes Land in Europa ist Russland mit der Ukraine durch Geschichte,
Kultur - es ist ja wiederholt auf die Literatur hingewiesen worden - und auch durch Sprache verbunden. Beide
Länder sind im Übrigen füreinander absolut unersetzliche Wirtschaftspartner. Das gilt jedenfalls für die - wie
auch immer politisch organisierte - Ukraine und das betrifft nicht nur den Energiesektor, sondern weit mehr.
Sie sind also aufeinander angewiesen, wenn ich das
so sagen darf. Jeder, der Ratschläge erteilt, was die innere Entwicklung dort und anderswo angeht, sollte das
wissen, wenn er wirklich hilfreich sein will.
Kein anderes Land in Europa hat so vielfältige
menschliche und familiäre Bindungen zur Ukraine wie
Russland. Russland hat deshalb ein vitales Interesse an
einer stabilen, auch einer prosperierenden und einer
- richtig verstanden - geeinten Ukraine, und zwar einer,
die eng mit Russland zusammenarbeitet. Dass das auf
der Basis der Souveränität zweier Staaten zu geschehen
hat, ist, denke ich, für uns außer jeder Diskussion.
All das sollte bei der Beurteilung der russischen Politik und der Entwicklung in der Ukraine nicht vergessen
werden. Die Lage in der Ukraine habe ich in zwei ausführlichen Telefonaten mit Präsident Putin besprochen.
Er hat mir zugesichert, dass Russland an einer friedlichen und demokratischen Lösung der Krise in der
Ukraine interessiert ist, und zwar an einer Lösung, die
die territoriale Integrität des Landes nicht infrage stellt.
Er hat sich ferner, wie auch wir, für Verhandlungen zwischen den an der Krise beteiligten Parteien ausgesprochen und in Den Haag, aber auch in den verschiedenen
Gesprächen erklärt, dass das Ergebnis eines demokratischen Prozesses - und was könnte das zur Entscheidung
dieser Situation anderes sein als demokratische Wahlen? -, der den Willen der ukrainischen Bevölkerung widerspiegelt, von allen, also auch von Russland, zu respektieren ist.
Ich sage es noch einmal: Für mich ist völlig klar - ich
denke, darüber kann es bei allen sprachlichen Möglichkeiten auch keine wirklichen Differenzen geben -, dass
der wirkliche Wille des Volkes, soweit es um politische
Gestaltung geht, nur durch manipulationsfreie Wahlen
ermittelt werden kann, durch nichts anderes. Ich denke,
das ist für jeden verständlich.
({2})
Weil wir, meine Damen und Herren, von der Lage
ausgehen müssen, wie sie wirklich ist, und nicht von einer Lage, wie wir sie uns wünschen - sie soll ja erst so
werden, wie wir sie uns wünschen -, rate ich dringend
dazu, die Tatsache, dass Russland seine Verantwortung
wahrnehmen und die Entscheidung respektieren wird,
als ein wirklich positives Signal zu begreifen und sich
darum zu bemühen, dass die Führung dort daran auch
festhält. Wir sind wirklich gut beraten, die Willensbildung und die Willensäußerungen des russischen Präsidenten ernst zu nehmen, aus sehr vielen Gründen, vor allem dann, wenn wir, wie hier von jedem zum Ausdruck
gebracht worden ist, an einer vernünftigen Lösung der
Krise interessiert sind - und wir müssen daran interessiert sein.
Im Übrigen, meine Damen und Herren, ändert die gegenwärtige Situation dort nichts an unserem Ziel, eine
strategische Partnerschaft mit Russland auf- und auszubauen. Was immer uns in der Bewertung der Situation
trennt: Dies muss unabhängig davon unser fester Wille
sein.
Im kommenden Jahr werden wir den 60. Jahrestag
des Kriegsendes begehen. Ich sehe dieses Datum und die
Erinnerung an die Schrecken, die mit dem Krieg verbunden sind - in Russland, aber auch in Deutschland -, als
eine Verpflichtung zu gemeinsamer Politik, eine Verpflichtung, alles zu tun, um die strategische Partnerschaft mit Russland auf eine neue Stufe zu heben und
durch Politik, aber auch durch Kontakte zwischen den
Zivilgesellschaften und durch wirtschaftlichen Austausch dafür zu sorgen, dass das, was im letzten Jahrhundert geschehen ist, nie wieder passieren kann. Die Sicherheit ganz Europas, unsere Stabilität und auch
unseren Wohlstand werden wir auf Dauer nicht ohne und
schon gar nicht gegen Russland, sondern nur in Partnerschaft mit Russland gewährleisten können.
({3})
Niemand sollte dieses grundlegende Prinzip der europäischen Politik vernachlässigen. Daraus folgt, dass wir
den Weg der Partnerschaft, den wir jetzt beschritten haben, entschlossen weitergehen, ohne unsere Grundsätze
aufzugeben. Dieser Weg ist politisch, aber auch ökonomisch ohne eine vernünftige Alternative. Ich meine damit nicht nur die Frage, wie wir in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten die für die deutsche Wirtschaft so wichtige Energieversorgung sichern können. Es ist nicht ganz
unwichtig, über diese Frage nachzudenken; ich jedenfalls werde mich davon nicht abbringen lassen. Daneben
wollen und müssen wir aber die allgemeinen wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen. Das liegt in unserem ureigenen Interesse und dient der Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in Europa.
Bilateral werden die deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Hamburg und auf Schloss Gottorf der
nächste Schritt sein. Wir wollen dabei mit der Unterzeichnung eines Abkommens über einen verstärkten
Jugendaustausch unsere Partnerschaft auch in der Zivilgesellschaft, insbesondere bei der jungen Generation,
verankern. Für die Europäische Union geht es darum, die
so genannten vier gemeinsamen Räume mit Russland in
den Bereichen Inneres und Justiz, Äußeres und Sicherheit, Bildung und Forschung sowie Wirtschaft zu entwickeln.
Klar ist: Die Krise in der Ukraine stellt Europa vor
eine wirklich große Herausforderung. Durch die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre seit dem großen
Umbruch 1989 hat Europa seine schmerzliche Teilung
endgültig überwunden. Jetzt stehen wir gemeinsam in
der Verantwortung, auch in der Ukraine zu einer Entwicklung beizutragen, die uns dauerhaftem Frieden und
dauerhafter Stabilität in Europa einen entscheidenden
Schritt näher bringt. Das ist - dessen bin ich sicher - nur
zu gewährleisten, wenn eine wirklich demokratische
Entwicklung in der Ukraine Platz greift.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Angela Merkel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
halten in diesen Tagen den Atem an. Mit großem Respekt und mit großen Hoffnungen schauen wir uns die
Bilder aus Kiew und aus der übrigen Ukraine an. Wir
nehmen somit Anteil an den Demonstrationen und den
Protesten der Menschen dort. Ich freue mich, dass heute
ukrainische Wissenschaftler unter den Zuschauern
sind, die auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung
den Deutschen Bundestag besuchen und diese Debatte
verfolgen können.
({0})
Jeder, der die friedliche Revolution 1989 in der DDR
miterleben konnte, kann sich ungefähr vorstellen, welche Gefühle die Menschen in der Ukraine bewegen. Ich
möchte hinzufügen, dass die Lebensumstände, aber auch
die Witterungsumstände viele zusätzliche Ängste und
Sorgen unter den Menschen auslösen. Deshalb kann ihr
Mut gar nicht hoch genug bewertet werden.
Auch ich möchte darauf hinweisen, dass es ganz
wichtig ist, dass es nicht zu einer Trennung in die Ostund in die Westukraine kommt. Die Trennlinie muss
vielmehr angesetzt werden zwischen denen, die bereit
sind, für Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit einzutreten, und denen, die sich den Beharrungskräften unterordnen. Eine einige Ukraine ist die Voraussetzung für
eine friedliche Lösung. Ich glaube, das wollen auch die
Menschen dort. Das sollten wir unterstützen.
({1})
Deshalb gilt unsere Solidarität all denen, die ihr
Recht auf freie, ungefälschte Wahlen einklagen. Wir sind
glücklicherweise über alle Fraktionen hinweg mit allen
Wahlbeobachtern der Meinung, dass die Wahlen, so wie
sie stattgefunden haben, gefälscht waren. Deshalb ergreifen wir Partei für die Menschen, die sich das nicht
bieten lassen wollen. Diese Parteiergreifung erfolgt zurzeit für den Kandidaten der Opposition, für Wiktor
Juschtschenko. Das hat nichts mit Parteinahme für einen
ehrlichen Wahlsieger zu tun, sondern damit, wer die
Stimme des Protestes in der Ukraine ist. Das ist die Bewegung von Juschtschenko.
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Geist der
Demokratie, der sich jetzt in der Ukraine Bahn bricht
und sich im Übrigen schon über eine lange Zeit eines
Selbstfindungsprozesses entwickelt hat, in der Allgegenwärtigkeit des ukrainischen Volkes unumkehrbar ist. Es
ist deshalb gerade unsere Aufgabe, Aufgabe der Deutschen, die eine erfolgreiche Wiedervereinigung erreicht
haben, den Geist der Demokratie, wo immer wir können,
zu stärken und zu ermutigen. Natürlich sind friedliche
Wege zu suchen; aber vor allen Dingen sind Demokratie
und Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen - und dies sowohl auf politischer als auch auf menschlicher Ebene,
sowohl über die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als auch über das Parlament. Das ist erfreulicherweise durch vielfältige Reisen geschehen.
Hinter diesem Ziel müssen alle anderen Interessen zurückstehen. Unsere Wertebasis muss bei dem, was wir
jetzt tun, vollkommen klar sein. Denn - da bin ich mir
vollkommen sicher - der Ausgang dieser Krise, wie sie
sich jetzt darstellt, und die Art und Weise, wie wir Europäer und wir Deutschen agieren, werden weit über diese
Krise hinaus etwas über europäisches und deutsches
Handeln und über die Glaubwürdigkeit unserer Politik
aussagen.
({2})
Deshalb sollten wir drei Signale aussenden:
Erstens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
werden sich niemals mit Wahlfälschung abfinden. Sie
werden niemals Regierungen akzeptieren, die durch
Wahlfälschung an die Macht gekommen sind.
({3})
Deshalb wird zu Recht die Forderung nach neuen Wahlen gestellt. Wir haben nicht zu befinden, auf welchem
Weg das genau geht. Der Vorschlag einer Stichwahl ist
sicherlich eine Möglichkeit, vielleicht auch der Vorschlag einer Neuwahl.
Aber klar müssen zwei Dinge sein:
Der Prozess zu einer Neuwahl darf zum einen nicht in
der Absicht geführt werden, zum Schluss die Zermürbung der Opposition zu bezwecken. Das ist die große
Gefahr.
({4})
Welche Wahlvorgänge auch immer abgehalten werden: Es muss zum anderen von Anfang an sicher sein,
dass die in der Ukraine Handelnden bereit sind, OSZEStandards zu akzeptieren - und das nicht nur am Tag der
Wahl, sondern im Vorfeld und im Nachhinein, damit
nicht nur einmal flächendeckend geschaut wird, ob diese
eingehalten werden, sondern damit auch in der Tiefe
kein Zweifel an dem dann zukünftigen Wahlergebnis besteht.
({5})
Zweitens. Weil es so sehr um das Selbstverständnis
Europas geht, brauchen wir ein handlungsfähiges, einiges und engagiertes Europa. Ich begrüße ausdrücklich
für die CDU/CSU-Fraktion die Aktivitäten des Hohen
Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik,
Javier Solana. Er ist zum zweiten Mal in der Ukraine.
Ich begrüße ausdrücklich, dass diesmal nicht zwischen
Deutschland, Frankreich und Russland über Polen hinweg agiert wird, sondern dass die polnische Regierung
intensiv einbezogen ist.
Herr Bundeskanzler, ich glaube, die deutsche Rolle
muss eine aktive, kameradschaftliche und nachbarschaftliche Rolle sein, eine Rolle, die auf ein einiges
Europa hinwirkt. Natürlich brauchen wir eine politische
Lösung. Ich finde nur, die Nebenbemerkung, welche
Sehnsüchte auch immer manch einer haben mag, ist ein
wenig irreführend, weil wir alle an einer politischen,
aber demokratischen Lösung interessiert sind. Es gibt
niemanden, der irgendwelche poujadistischen Sehnsüchte hat. Wir alle wollen vielmehr einen friedlichen,
erfolgreichen Prozess mit einer klaren Zielsetzung: der
Einführung der Demokratie.
({6})
Drittens. Ich glaube, für uns alle ist klar, dass Russland als ein auf das Engste mit der Ukraine verbundener
Nachbar dazu Stellung nehmen kann und auch muss.
Vorhin wurde schon ausgeführt, dass es eine gemeinsame Geschichte, Kultur und teilweise auch eine gemeinsame Sprache gibt, obwohl sich diese auseinander
entwickeln. Russland trägt Verantwortung für einen
friedlichen, aber demokratischen Prozess. Auch Russland steht in der Frage, wie es vorgeht, vor einer ganz
schwierigen, aber existenziell wichtigen Entscheidung.
Russland könnte sich von dem Denken in imperialen
Einflusssphären - solche Kräfte gibt es - leiten lassen.
Russland könnte aber auch die Kraft und den Mut haben,
deutlich zu sagen, nach welchen Prinzipien die russische
Entwicklung und damit auch der Umgang mit Nachbarstaaten geleitet werden. Das müssten rechtsstaatliche
und demokratische Prinzipien sein. An dieser Frage wird
sich entscheiden, ob dieser Prozess auf einem guten Fundament gebaut ist oder ob es ein Prozess ist, an dem wir
Kritik üben müssen. Für uns darf es keinen Zweifel geben: Das Fundament muss aus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bestehen.
({7})
Meine Damen und Herren, es steht viel auf dem Spiel.
Es steht viel auf dem Spiel für die Menschen in der
Ukraine, für ihr persönliches Leben. Es geht um die
Frage, ob es gelingt, diesen Konflikt friedlich und erfolgreich zu lösen. Wir wissen, wenn solche Aufstände
schief gehen - ich erinnere an Prag im Jahr 1968 -, wie
viel Leid, wie viel Schrecken, wie viele zerstörte Karrieren und Menschenleben dies mit sich bringen kann. Es
steht aber auch sehr viel auf dem Spiel für das Bild, das
wir, die Deutschen und die anderen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union, bei den Menschen in der Ukraine
hinterlassen. Deshalb glaube ich, dass wir entscheidende
Stunden erleben.
Ich finde es gut und erfreulich, dass Sie, Herr Bundeskanzler, aufgrund Ihrer guten Beziehungen in intensiven
Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Putin auch
über das, was notwendig ist, geredet haben. Natürlich
sind die Interessen Russlands ebenso wie die Interessen
der Europäischen Union zu beachten. Ich glaube aber,
dass wir in der Sprache ganz vorsichtig sein sollten. In
Ihren Ausführungen, Herr Bundeskanzler, ist dies eben
auch deutlich geworden. Dass der russische Präsident
das Ergebnis eines demokratischen Prozesses in der
Ukraine respektieren wird, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
({8})
Wenn dies noch einmal ausgesprochen wird, ist es gut.
Dass Sie aber hinzufügen: „Was anderes soll das Ergebnis eines demokratischen Prozesses sein als neue Wahlen?“, scheint Ihre Interpretation von demokratischen
Prozessen zu sein. Ich bin mir aber nicht hundertprozentig sicher - das erklärt auch die unterschiedlichen Verlautbarungen in Moskau und in Berlin -, ob auch der
russische Präsident als einzige Möglichkeit eines demokratischen Prozesses Neuwahlen ansieht. Wir werden
dies abwarten. Auch das ist letztendlich in der Ukraine
zu entscheiden.
Aus zwei Gründen ist es für uns Deutsche in besonderer Weise wichtig, dass bei allem, was die Bundesrepublik Deutschland tut, Rechtsstaatlichkeit und freiheitliches, demokratisches Handeln vor allen anderen
Interessen Vorrang haben: Der erste Grund ist der
60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges; darin
bin ich mit Ihnen vollkommen einig. Der zweite Grund
ist unsere Erfahrung mit der Einigung Deutschlands in
Freiheit, Frieden und Freundschaft mit unseren Nachbarn. Wir Deutsche haben beides erlebt.
({9})
Herr Bundeskanzler, das ist keine Absage an eine
wirtschaftliche Kooperation, an eine Orientierung an
wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wenn wir aber langfristig denken, kann auch der Bundesrepublik Deutschland ein nicht auf Demokratie, sondern auf hegemoniales
Machtdenken beruhendes gemeinsames Wirtschaftsprojekt nicht recht sein. Es muss auf Rechtsstaatlichkeit in
Russland gegründet sein. Das ist die Basis, auf der wir
gute strategische Partnerschaften aufbauen können. Ob
die Demokratie in Russland schon lupenrein ist, darüber
kann man in Deutschland sicherlich verschiedener Meinung sein. Das ist auch wichtig und richtig so.
({10})
- Um die Frage zu beantworten: Ich schlage vor, dass
wir unsere Maßstäbe - das ist dann auch meine letzte
Bemerkung - ganz klar definieren und Prioritäten setzen. Und die Priorität heißt: rechtsstaatliches Handeln in
Russland. Es kann auch in einer strategischen Partnerschaft eine kritische Auseinandersetzung geben; nicht
jede kritische Auseinandersetzung muss in einer Konfrontation enden. Niemand in diesem Hause zweifelt daran, dass eine strategische Partnerschaft mit Russland
wichtig ist. Aber manchmal wächst auch die Autorität,
wenn man ein offenes Wort mehr sagt. Das tun wir ja gegenüber anderen Ländern dieser Erde auch.
({11})
Es geht also in diesen Tagen um die Gemeinsamkeit
europäischer Prinzipien. Wir können in diesem Hause,
im Deutschen Bundestag in Berlin, sitzen, weil über
Jahrzehnte sehr klar eine Auseinandersetzung um die
Frage der deutschen Einheit geführt wurde, um die
Frage: Reicht es, wenn sie im Frieden stattfindet? Oder
muss sie in Frieden und Freiheit stattfinden? Ich sage:
Das, was uns glücklich gelungen ist, verpflichtet uns,
nicht nur für eine friedliche Lösung - das auch -, sondern für eine Lösung für die Ukraine in Frieden und
Freiheit zu kämpfen.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
geht, glaube ich, heute um zwei wichtige Punkte. Zum
einen geht es um die Solidarität mit den Menschen in
der Ukraine, um die Millionen von Menschen, die seit
einer Woche auf der Straße sind und für ihre nationale
Würde kämpfen, die dafür kämpfen, dass sie als Volk demokratisch und selbstbestimmt über ihre Zukunft entscheiden können. Die Menschen in der Ukraine verdienen natürlich unsere volle Unterstützung. Uns, die wir in
freien Wahlen gewählt worden sind, um das deutsche
Volk, die Menschen in Deutschland zu vertreten, steht es
gut an, in der Frage der Solidarität mit den Freiheitsbewegungen eines Volkes gemeinsam zu handeln. Ich bin
sehr froh darüber und auch ein bisschen stolz darauf,
dass Gert Weisskirchen, Jelena Hoffmann, Katrin
Göring-Eckardt, Claudia Nolte und ich mit einem gemeinsamen Beschluss dieses deutschen Parlaments in
die Ukraine fahren und sagen konnten: Der Bundestag
ist auf eurer Seite und unterstützt die demokratische Bewegung in der Ukraine. - Ich glaube, das war ein ganz
wichtiges Signal.
({0})
Aber dies ist zum anderen nicht nur eine Stunde der
Solidarität. Vielmehr glaube ich, dass es auch die Stunde
einer selbstkritischen Nachdenklichkeit ist. Denn wir
alle in diesem Parlament, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, und auch die Länder der Europäischen
Union haben in der Vergangenheit die Dynamik der Entwicklung in der Ukraine unterschätzt. Wir haben uns
nicht ausreichend um dieses Thema gekümmert. Das
müssen wir alle selbstkritisch zur Kenntnis nehmen. Wir
haben die Kraft dieses Volkes unterschätzt, sich trotz all
der Schwierigkeiten, trotz der Unterdrückung, trotz der
Manipulation, trotz der Erpressung zu erheben und zu
sagen: Das lassen wir uns nicht bieten.
Das haben wir in der Vergangenheit nicht ernst genug
genommen und das ist auch ein Grund, in Bezug auf den
Blick nach Osten nachdenklich zu sein. Die Kraft, die in
diesem Volk steckt, verdient unsere Solidarität. Ich
glaube, wir müssen uns in Zukunft darum mehr kümmern. Diese Solidarität, die heute alle Fraktionen sehr
deutlich gemacht haben, und unsere Aufmerksamkeit
dürfen nicht ihr Ende finden, wenn das eintritt, was wir
alle hoffen und wofür wir kämpfen, wenn nämlich neue
Wahlen ein demokratisch legitimiertes Ergebnis bringen.
Wir müssen uns vielmehr dafür einsetzen, dass dieses
Land und die Menschen, auf die so viele Frustrationen
und Schwierigkeiten warten, auch in Zukunft auf unsere
Solidarität bauen können. Wir können nicht jetzt sozusagen ein Solidaritätsevent durchführen, auf das die Öffentlichkeit schaut, und dann, wenn der Tross der öffentlichen Berichterstattung weitergezogen ist, in unserer
Solidarität nachlassen. Wir müssen in unserer Politik
verankern, dass dieses Land zu Europa gehört. Es ist ein
europäisches Land, welches auch weiterhin unsere Solidarität verdient.
({1})
Die Situation in der Ukraine - einige Kollegen haben
das angesprochen - ist nicht so sehr durch ethnische,
kulturelle oder sprachliche Spaltung gekennzeichnet.
Dieses Land ist gespalten durch den möglichen Zugang
zu Informationen. Demokratie braucht Medien, die objektiv, aber natürlich auch streitbar Bericht erstatten und
Meinungen wiedergeben. Demokratie und demokratische Kultur - das macht gerade die jetzige Auseinandersetzung in der Ukraine deutlich - brauchen den demokratischen Diskurs, für den die Medien mit
verantwortlich sind. Deshalb - das möchte ich hier noch
einmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen - bin ich
persönlich Ute Schaeffer, der Redaktionsleiterin des
ukrainischen Programms der Deutschen Welle, sehr
dankbar. Alle Oppositionellen und Demokraten in der
Ukraine sagen immer, wie wichtig dieses Informationsprogramm auch in schwierigen Zeiten gewesen ist, um
überhaupt über Demokratie diskutieren zu können, um
Rückhalt zu haben. Deshalb herzlichen Dank für diese
Arbeit.
({2})
Lassen Sie mich heute noch einmal ein Problem ansprechen, in dem es auch um Solidarität geht. Wir haben
heute den Weltaidstag. Gerade das Beispiel Ukraine
zeigt die Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von
Aids. Die Infektionszahlen sind in den letzten Jahren in
ganz Osteuropa geradezu explodiert. Die Ukraine ist besonders betroffen. Wir wissen aus afrikanischen Ländern, wie dramatisch diese Entwicklung werden kann,
wenn bei den Infektionszahlen ein bestimmter Schwellenwert überschritten worden ist.
Ich glaube, dass es für die Zukunft und die Binnenstruktur einer Gesellschaft wichtig ist, dass hier Standards eingehalten werden, dass Aufklärung möglich ist,
dass Bildung sowie Solidaritätsprogramme der Europäischen Union möglich sind. Gerade im Bereich der Aidsbekämpfung werden wir uns in Zukunft sehr viel stärker
um dieses Land kümmern müssen.
Ich würde gerne einen positiven Aspekt erwähnen,
weil ich mich wirklich darüber gefreut habe. Die Unterstützung, die die Ukraine und die Menschen dort spät,
aber nicht zu spät, durch die Europäische Union erhalten
haben, zeigt, dass die neue, größere Europäische Union
durch ihre Größe nicht handlungsunfähig wird. Gerade
die neuen Mitgliedsländer wie Polen, Litauen und die
anderen baltischen Länder haben mit ihrer Sicht dieses
Problems und ihrem Engagement die europäische Politik
ein ganzes Stück weiter nach vorn gebracht. Wir können
wirklich zufrieden mit dem und stolz auf das sein, was
die europäische Politik hier geschlossen und gemeinsam
leisten kann. Mehr Länder in der Europäischen Union
- das zeigt die Erweiterung - müssen nicht mehr Chaos
bedeuten, sondern bedeuten vielmehr: Die Polen und Litauer haben uns einen neuen, besseren und sachkundigeren Blick auf diese Probleme gelehrt.
Wir können und müssen gerade als Deutsche hier
besonderes Engagement zeigen. Lassen Sie uns die
Ukraine auf ihrem Weg, ihre nationale Würde zukünftig
selbstbestimmt und in Freiheit zu gestalten, unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die Lage in der Ukraine ist dramatisch und unübersichtlich. Das ukrainische Parlament hat heute beschlossen, dass die Regierung zurücktreten soll. Einige
Minister haben das bereits getan. Der Druck der Demonstranten ist weiterhin groß. Sie sind offensichtlich nicht bereit, sich mit Kompromissen besänftigen zu lassen. Präsident Kutschma lehnt eine Wiederholung der Stichwahl ab
und will vollständige Neuwahlen. Er hofft, wie auch
Russlands Präsident Putin, dass Neuwahlen die Möglichkeit bieten, den verbrauchten Wiktor Janukowitsch fallen
zu lassen und einen unverbrauchten Kandidaten präsentieren zu können. Kutschma und Putin spielen auf Zeit, in
der Hoffnung, dass der Opposition die Luft ausgeht.
Die OSZE bestätigte, dass die Wahl in der Ukraine
nicht den internationalen Standards entsprochen hat.
Wenn es zu Neuwahlen kommen sollte, dann muss unbedingt darauf geachtet werden, dass diese Standards eingehalten werden.
({0})
Doch nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Situation in der Ukraine spitzt sich weiter zu.
Viele Menschen sind verunsichert. Aus Furcht vor Unruhen werden Spareinlagen geplündert. Darum, finde ich,
ist es die dringlichste Aufgabe der Bundesregierung, alles zu unternehmen, damit die Situation in der Ukraine
nicht eskaliert und damit es nicht zu Gewalt und Blutvergießen kommt.
Nicht nur die Lage in der Ukraine ist unübersichtlich,
sondern auch die Interessen Russlands, der USA, der EU
und der Bundesrepublik sind nicht immer deutlich. Der
Bundeskanzler und der Außenminister scheinen manchmal zweigleisig zu fahren. Ich habe den Eindruck, dass
der Kanzler alles tut, damit die Handelswege sicher bleiben und die deutsche Exportindustrie keinen Schaden
nimmt. Der Außenminister scheint mehr die Demokratieschiene bedienen zu sollen. In der Krise zeigt sich dramatisch, dass die Bundesregierung kein überzeugendes
Konzept hat, wie sie ihre Beziehungen zur Ukraine und
zu Russland gestalten will.
Der Weg aus dieser politischen Krise und die Verhinderung einer Spaltung der Ukraine werden nicht dadurch
erleichtert, dass man einfache Lösungen verfolgt.
({1})
Auch der Demonstrationstourismus einiger Bundestagsabgeordneter nach Kiew bringt uns keinen Schritt näher
an die Lösung des Problems.
({2})
Im Gegenteil, der Parlamentstourismus schürt nur den
begründeten Argwohn der Menschen im Osten der Ukraine, die hinter der Opposition das Werk des Westens vermuten. Bedauerlich ist, dass die EU und die Bundesregierung der Ukraine bis zu den Wahlen die kalte Schulter
gezeigt haben. Da ist es doch nur zu verständlich, dass
das Engagement einiger Politiker etwas überraschend
wirkt und Argwohn erzeugt. Mein Vorredner von den
Grünen hat ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass es
nicht angehen könne, jetzt daraus ein Politikevent zu
machen, aber dann, wenn die Fernsehkameras nicht
mehr dabei sind, kein Interesse mehr für die Ukraine zu
zeigen.
Die Bundesregierung und die EU sollten zusammen
mit Russland und den legitimierten Vertretern des ukrainischen Volkes schnell nach Formen der vertrauensvollen Zusammenarbeit suchen, damit die Ukraine nicht
Spielball unterschiedlichster Interessen bleibt.
({3})
Jetzt muss diese Krise im Interesse aller Menschen in der
Ukraine und im Interesse der Europäer schnell, gewaltfrei und demokratisch gelöst werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jelena Hoffmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte meine heutige Rede zur Situation in der Ukraine
mit einem lyrischen Exkurs beginnen. Ein Abgeordnetenkollege aus dem ukrainischen Parlament, Herr
Moroz, hat in der vergangenen Woche Folgendes auf
dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew gesagt: Die
Weite der Güte schwebt über dem Platz der Unabhängigkeit, über den Straßen und Plätzen der Ukraine. Offene
Blicke und das Lächeln unbekannter Menschen kommen
dir entgegen - ein Meer von Jugend, in welchem du
schwimmst ohne Angst vor Wellen und Tiefe, eine neue
Generation, das Entstehen eines Volkes, das die Ketten
der aufgezwungenen Gehorsamkeit abgeworfen hat. Es
ist möglich, die Wahrheit zu sagen, und wie leicht ist es,
dies ohne Angst vor dem scharfen Blick des Staates zu
tun! Glaube, Hoffnung und Freiheit - willkommen!
Besser als mit diesen Worten, die ich authentisch zu
übersetzen versucht habe, lässt sich die Stimmung des
Volkes in der Ukraine in diesen Tagen nicht beschreiben.
Es klingt wie ein Paradox, dass diese undemokratischen,
gefälschten Wahlen zu solch einer Demokratisierung des
Volkes, der ukrainischen Gesellschaft geführt haben.
({0})
Als wir hier vor fast genau sechs Wochen spät am
Abend über unseren Antrag zur Ukraine abgestimmt haben, hat keiner von uns an solch eine Entwicklung gedacht. Die Administration, die ukrainische Regierung
hat unseren Appell ignoriert.
In der zweiten Runde der Stichwahl waren sich alle
sehr schnell einig: Die Wahlen sind gefälscht. Ich habe
gesehen, wie schon in der Nacht nach der Stichwahl die
Zelte der Anhänger von Wiktor Juschtschenko auf dem
Platz der Unabhängigkeit aufgestellt wurden. Tausende
Menschen haben bei Schnee und klirrender Kälte den
Sieg gefeiert; nicht unbedingt den Sieg ihres Kandidaten, sie haben den Einzug der Demokratie in die ukrainische Gesellschaft dokumentiert. Politisch, demokratisch,
europäisch - so haben wir in Deutschland und auch im
Westen Europas die Ukraine noch nicht gesehen und
noch nicht erlebt. In Kiew wird der Wille des ukrainischen Volkes sichtbar, der Wille nach Demokratie und
Freiheit.
({1})
Das Rad der Geschichte darf in der Ukraine nicht
mehr zurückgedreht werden. Diese Demokratiebewegung hat unsere Unterstützung verdient, nicht nur in diesen Tagen des Protestes, sondern langfristig.
({2})
Das war der Grund unserer Reise am Wochenende in die
Ukraine, liebe Kollegin, die Sie vor mir gesprochen haJelena Hoffmann ({3})
ben. Als wir mit Gert Weisskirchen auf der Bühne des
Majdan, wie die Ukrainer den Platz der Unabhängigkeit
in Kiew nennen, gestanden haben, hat mich ein Abgeordneter, der unsere Reden übersetzen sollte, gefragt, ob
ich auf Russisch reden möchte. Ich habe auf Ukrainisch
angefangen, dann Deutsch gesprochen und auf Russisch
meine Worte beendet, weil das der Situation im Lande
entsprochen hat.
({4})
Als ich gleich danach gesagt habe, dass es keine Westund keine Ostukraine gibt, sondern nur ein ukrainisches
Volk, ein Land, eine Ukraine, jubelten und applaudierten
Tausende von Menschen, weil sie sich auch wie ein Volk
gefühlt hatten.
Die Spaltung des Landes war im Wahlkampf die
Strategie der Regierung und des Stabes von
Janukowitsch. Die historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der Ukraine sind
nicht zu unterschätzen, doch sie dürfen nicht missbraucht werden. Ich glaube und ich hoffe - da bin ich Ihrer Meinung, Frau Nolte -, dass eine Teilung der
Ukraine nicht stattfinden wird. Ich bin überzeugt, dass
die Mehrheit des ukrainischen Volkes dies nicht will und
auch nicht zulassen wird.
An dieser Stelle möchte ich dem Bundeskanzler für
sein großes politisches und persönliches Engagement für
eine friedliche Lösung des Konfliktes danken.
({5})
Ich möchte feststellen, dass unser Kanzler die höchste
Kunst der Diplomatie beherrscht.
({6})
Was Frau Merkel möchte und vom Kanzler erwartet, ist,
dass er sich wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt,
dass er eine Art Basar-Diplomatie macht. Ich freue mich,
dass der Kanzler auf Frau Merkel und ähnliche Aussagen nicht hört. Auch dem Außenminister sei für sein Engagement in Richtung der Europäischen Kommission
gedankt.
Das ukrainische Volk braucht unsere Unterstützung.
Sobald die demokratischen Kräfte in der Ukraine gewonnen haben, werden sie eine Antwort auf die Frage
ihrer eigenen Zukunft in Europa suchen. Dabei dürfen
wir sie nicht allein lassen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hoffmann,
ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Lob für den Bundeskanzler an dieser Stelle und in dieser Form wirklich
angebracht war.
({0})
Ich denke, die Rede des Bundeskanzlers hat deutlich gemacht, dass die Telefonate innenpolitisch zwar verwendet werden, außenpolitisch im Ergebnis aber nicht das
bringen, was hier suggeriert wird.
({1})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Kritik muss
man in der Demokratie vertragen können.
({2})
- Darüber entscheiden Sie an dieser Stelle sicherlich
nicht.
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede einen Zusammenhang nicht hergestellt - was ich für dringend geboten gehalten hätte -, nämlich den Zusammenhang von
strategischer Partnerschaft einerseits und dem Einfordern von Freiheit, Recht und Demokratie andererseits,
und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland.
({3})
Das ist die entscheidende Frage.
Deswegen möchte ich an den Anfang meiner Betrachtung zu dem heutigen Thema gerne ein Zitat aus der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 26. November
2004 stellen. Die Rede des Bundeskanzlers hat gezeigt,
dass es notwendig ist, über diese Frage zu reden. Die
„FAZ“ schrieb: Öl und Gas sind nicht die höchsten
Werte des Westens.
({4})
Von dieser Frage ausgehend sollten wir uns anschauen, welche Entwicklung in den letzten Wochen und
Monaten in der Ukraine vonstatten gegangen ist. Vor
dem Hintergrund der strategischen Fragen in diesem
Zusammenhang und der entsprechenden Berichterstattung ist es ungemein wichtig, die richtige Prioritätenfolge zu wählen, wenn es um unser politisches Engagement für die Gestaltung Europas, in der Ukraine, aber
auch in der Partnerschaft mit Russland geht. Bei den Voraussetzungen für ökonomisches Wachstum und für strategische Partnerschaften sind auch Fragen von Recht,
Freiheit und Demokratie zu beachten, weil sie die
Grundlagen für stabile wirtschaftliche und politische
Verhältnisse sind.
({5})
Ich denke, wenn man von dieser Seite aus an die Sache herangeht, dann wird deutlich, dass die Interessen
Europas, Deutschlands und Russlands letztendlich gar
nicht so weit auseinander liegen. Es muss sowohl im Interesse Europas insgesamt als auch im Interesse
Deutschlands und Russlands liegen, eine stabile, demokratische, ökonomisch entwickelte und damit sozialverträgliche Ukraine zu haben. Wenn wir allerdings mit unseren russischen Partnern über diese Begrifflichkeiten
reden, auch im Rahmen EU-Nachbarschaftspolitik, neigen diese dazu - ich beklage das, weil ich es für nicht
angemessen halte -, in den alten Kategorien des Kalten
Krieges zu denken, anstatt die Lage bezogen auf die heutige Zeit zu interpretieren.
({6})
Mit der Nachbarschaftspolitik der Europäischen
Union und mit der Nachbarschaftspolitik gemäß der Interpretation, die Angela Merkel hier vorgetragen hat,
wollen wir niemanden bedrohen. Wir wollen wirklich
Partnerschaft, Frieden, Freiheit und Demokratie. Das ist
die Prioritätenfolge in unserer politischen Agenda.
({7})
Ich will gar nicht bestreiten - das gilt auch bezogen
auf die Diskussionen in anderen Bereichen -, dass nicht
zuletzt ökonomisch gute Beziehungen eine Voraussetzung dafür sind, dass das andere klappt. Ich denke, wir
müssen in der Auseinandersetzung um die Frage der
vier Räume und um die EU-Russland-Partnerschaft
schlicht und einfach sehen, dass wir nicht nur auf den
Wirtschaftsraum schauen und Freiheit sowie Demokratie sozusagen rechts liegen lassen können. Von daher
sind die Kriterien für die Nachbarschaftspolitik mit der
Ukraine die Kriterien für die Nachbarschaftspolitik mit
Russland. Ich glaube, es gibt hier schon eine hohe Identität.
Wie schwierig das auch vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung um die Entwicklung in der
Ukraine ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass der EURussland-Gipfel nicht zu einem Abschluss gekommen,
sondern auf Mai vertagt worden ist. Wir bedauern das
außerordentlich, weil es außer den politischen Umständen und der Interpretation der Nachbarschaftspolitik,
weil es jenseits von Freiheit, Recht und Demokratie
keine Veranlassung gibt, diese Partnerschaftsabkommen,
die strategische EU-Russland-Partnerschaft, zum Abschluss zu bringen.
Ich habe bereits am Anfang gesagt: Wenn wir hinter
die Kulissen schauen, wird offensichtlich - das hat hier
auch der Bundeskanzler mehr als deutlich durchscheinen
lassen -, dass die Diskussion nicht zuletzt vor dem Hintergrund strategischer Fragen der Rohstoff- und Energiepolitik geführt wird. Niemand stellt infrage - ich
sage dies, weil oftmals Zweifel aufkommen, wenn man
Probleme diskutiert -, dass Russland auch in Zeiten des
Kalten Krieges ein zuverlässiger Gas- und Öllieferant
gewesen ist.
({8})
Aber das kann nicht dazu führen, dass wir die Frage ausblenden, wie Gas und Öl aus Russland und anderen Regionen zu uns nach Europa kommen.
In diesem Zusammenhang müssen wir sehen, dass der
Ukraine auf dem Weg von Zentralasien und Russland zu
uns mit ihrer strategischen Lage eine zentrale Funktion
zukommt. Das erklärt manches, was nicht auf dem
Marktplatz ausgetragen wird, sondern was man in den
Hintergrundberichten lesen muss, um vielleicht den einen oder anderen Versuch der Einflussnahme besser beurteilen zu können. Wenn aber Öl und Gas - darin sind
wir uns hoffentlich einig - nicht die höchsten Werte des
Westens sind, dann muss ich noch einmal darauf hinweisen, dass Freiheit und Demokratie, unabhängig davon,
ob dies in allen wirtschaftlichen Beziehungen immer erfolgreich ist, eingefordert werden müssen.
({9})
Schweigen für Öl und Gas bedeutet, die Menschen in
Kiew im Stich zu lassen.
({10})
Auch vor dem Hintergrund eines Gespräches gestern
Abend mit dem russischen Botschafter will ich deutlich
sagen: Der Ukraine eine freiheitlich-demokratische Perspektive zu eröffnen, die die Grundlage für eine ökonomische und soziale Perspektive ist, bedeutet nicht einen
Angriff auf Russland, sondern ist der Versuch, mit diesen Grundwerten die Stabilität des Friedens in Europa,
so wie wir das für uns 1990 erreicht haben, auch den
Menschen in Mittel- und Osteuropa dauerhaft zugänglich zu machen. Das muss das Ziel unserer Politik und
das Ziel der EU-Nachbarschaftspolitik sein. Es geht
nämlich nicht um Einmischung, sondern darum, ob wir
uns als Vermittler in der Balance zwischen Werten und
Prinzipien einerseits und den strategischen Fragen andererseits einschalten können. Niemand will zur alten Situation zurückkehren.
Ich will am Schluss mit Nachdruck sagen: Wir wollen
Frieden und Freiheit für unsere Demokratie und die Demokratie unserer Nachbarn. Wenn wir das erreicht haben, dann werden wir alles in Gang setzen, um ökonomische und soziale Stabilität zu erreichen, sowohl für jene,
die - wie das hier beschrieben worden ist - im Donezkbecken arbeiten, als auch für die, die im Westen der
Ukraine leben. Nach einem Besuch in einem ukrainischen Kraftwerk - ich will hier keine Reizworte streuen -,
der leider einmalig geblieben ist, kann ich nur unterstreichen: Wer das sieht, weiß, dass wir uns alle Mühe geben
müssen, eine ökonomische Entwicklung in Gang zu setzen, die die Voraussetzung für eine sichere Demokratie
und Freiheit ist.
In diesem Sinne sollten wir in der Frage, wie es mit
der Ukraine weitergeht, nicht nur die strategischen Interessen der Europäischen Union sehen, sondern gewiss
sein, dass eine freiheitliche und ökonomische Entwicklung in der Ukraine auch uns Frieden und Stabilität sichert.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Dezember 2004, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.