Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/12/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung verein- bart, dass wegen der Haushaltsberatungen in der Woche vom 22. bis 26. November keine Befragung der Bundes- regierung, keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass der Ältes- tenrat auch vereinbart hat, die von der Fraktion der FDP verlangte Aktuelle Stunde zum Thema „Haltung der Bundesregierung zu Plänen, den 3. Oktober als National- feiertag abzuschaffen“ heute als letzten Tagesordnungs- punkt aufzurufen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 ({1}) und 1373 ({2}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen - Drucksachen 15/4032, 15/4165 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({3}) Dr. Ludger Volmer Dr. Werner Hoyer b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/4175 Berichterstattung: Abgeordnete Alexander Bonde Lothar Mark Herbert Frankenhauser Dietrich Austermann Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Peter Struck das Wort.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beteiligung der Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom ist auch weiterhin von herausragender Bedeutung für die Sicherheit Deutschlands und aller Staaten, die durch den internationalen Terrorismus bedroht werden. Es ist klar: Nur gemeinsames internationales Handeln kann zum Erfolg führen. Deshalb hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 8. Oktober 2004 mit seiner Resolution 1566 die Weltgemeinschaft erneut aufgefordert, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammenzustehen. Die bisherigen Einsätze von Streitkräften der an der Operation Enduring Freedom beteiligten Staaten haben terroristische Rückzugsgebiete beseitigt sowie wichtige Transportwege von Terroristen unterbunden und sie hatten generell einen sehr stabilisierenden Einfluss auf die Länder am Horn von Afrika. Das Kabinett hat am 27. Oktober 2004 entschieden, dass Deutschland - vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestages - weiterhin mit bis zu 3 100 Soldaten der Bundeswehr und entsprechender Ausrüstung an dieser Operation beteiligt bleibt. Das entspricht unserem Interesse und unserer Verantwortung für die Vereinten Nationen, die wir auch weiterhin wahrnehmen wollen. Derzeit sind rund 290 Soldaten der Marine im Einsatz, weitere Kräfte werden in Bereitschaft gehalten. Natürlich geht es künftig auch darum, ein hohes Maß an Redetext Flexibilität bei militärischen Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus zu erhalten, um auf wechselnde Einsatzerfordernisse reagieren zu können. So unberechenbar die Terroristen agieren, so wichtig ist es für die internationale Koalition, für glaubwürdige und effiziente Einsätze ein Spektrum militärischer Optionen zur Verfügung zu haben. ({0}) Aus diesem Grund ist es auch richtig, die bislang nicht ausgeschöpfte Obergrenze für die deutsche Beteiligung beizubehalten. Das Spektrum der deutschen Aktivitäten im Rahmen dieser Operation bleibt anspruchsvoll. Die Bundeswehr wird sich grundsätzlich weiterhin mit einer Fregatte und einem Seefernaufklärer am Horn von Afrika beteiligen; diese Region war in der Vergangenheit mehrfach Schauplatz von Attentaten terroristischer Gruppierungen. In der Marinelogistikbasis in Dschibuti werden weiterhin Soldaten stationiert bleiben. Durch die Zusammenfassung der Task Force 150 und der Task Force 151 hat sich das Einsatzgebiet der Marine seit März 2004 auch auf die Arabische See und den Golf von Oman ausgedehnt. Allein in den vergangenen zwölf Monaten wurden etwa 10 500 Schiffe und Boote abgefragt und fast 400 Schiffe genau untersucht. Bei Verlängerung des OEF-Mandates, die heute ansteht, wird Deutschland voraussichtlich ab Dezember 2004 erneut den Kommandeur für die internationale Marinestreitkraft am Horn von Afrika stellen. Daneben wird sich die Bundeswehr weiterhin aktiv am bündnisgemeinsamen Beitrag der NATO-Marinen für den Kampf gegen den Terrorismus im Mittelmeer, der Operation Active Endeavour, beteiligen. In den vergangenen zwölf Monaten war die Bundeswehr mit einer Fregatte und zeitweise zusätzlich mit Versorgungseinheiten, einem U-Boot und Seefernaufklärern an dieser Operation beteiligt. Im Rahmen dieser Operation wurden im östlichen Mittelmeer rund 19 500 Schiffe abgefragt und 41 davon genauer untersucht. Entsprechend einem neuen Operationsmuster werden ab dem 1. Oktober 2004 schwimmende Einheiten nur noch bei Bedarf eingesetzt. Wir werden die Überwachung dann im Wesentlichen durch Seefernaufklärungsflugzeuge durchführen. Daran wird sich die deutsche Marine mit monatlich acht Flügen aus Nordholz beteiligen. Darüber hinaus hält die Bundeswehr einen Airbus A310 und eine CL-601 Challenger für die luftgestützte medizinische Notfallversorgung in einer 24- bzw. 12-Stunden-Bereitschaft zur Verfügung. Im vergangenen Jahr wurden Sanitätskräfte zwar nicht im Rahmen der Operation Enduring Freedom eingesetzt, aber mehrfach außerhalb der Operation genutzt, wie zum Beispiel bei der Rückführung eines Soldaten, der bei einem Raketenanschlag auf unser Lager in Kunduz verletzt worden war. Meine Damen und Herren, Deutschland und die Bundeswehr handeln in Solidarität mit unseren Verbündeten und Partnern auf der Grundlage der Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Dies gilt für die Operation Enduring Freedom genauso wie für die deutsche Beteiligung an der Operation ISAF in Afghanistan. An dieser Stelle will ich noch einmal ausdrücklich hervorheben, dass ich eine Zusammenlegung beider Operationen auf absehbare Zeit für falsch halte und dem entgegentreten werde. ({1}) Stabilisierungsaufgaben und aktive Terroristenbekämpfung sollten aus politischen, rechtlichen und praktischen Erwägungen heraus wie bisher getrennt bleiben. Es geht nicht um eine Zusammenlegung, sondern darum, über eine verstärkte Zusammenarbeit von ISAF und OEF Synergieeffekte vor Ort zu erzielen, um die Erfolgsaussichten beider Operationen zu vergrößern. Deutschland und die Bundeswehr haben in Afghanistan eine tragende und von den Menschen vor Ort anerkannte Rolle für die Sicherung des Friedens und den gesellschaftlichen Wiederaufbau übernommen. Ich bitte Sie daher, das Mandat für diese wichtige Mission mit großer Mehrheit zu verlängern. Unsere Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass das Parlament diesen Einsatz mit einer breiten Mehrheit trägt. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Bernd Schmidbauer, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dass es der Schock des 11. September im Jahre 2001 war, der dazu geführt hat, dass die Staatengemeinschaft Enduring Freedom auf den Weg gebracht hat und dass es gelungen ist, mithilfe von Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen und von Art. 5 des Nordatlantikvertrages sowie entsprechender Resolutionen des Sicherheitsrates zu einer gemeinsamen Anstrengung gegen den internationalen Terrorismus zu kommen. Heute stellen sich die Fragen, ob dies noch aktuell ist, ob sich die Bedrohungslage verändert hat und wie wir dies beurteilen. Es gibt viele Stimmen. Ich will eine zitieren. In der „Berliner Morgenpost“ stand kürzlich ein Interview mit dem Chef des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, der sich zum Thema Terrorismus geäußert hat. Auf die Frage, wie groß die Terrorgefahr in Deutschland sei, sagte er: Die Gefährdung ist unverändert hoch. Wir haben zwar keine konkreten Hinweise auf Anschläge. Madrid, Casablanca, Djerba und Istanbul zeigen aber, dass es weltweit autonome Zellen des islamistischen Terrorismus gibt, die jederzeit zuschlagen können. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das deckt sich mit all den Stellungnahmen, die derzeit abgegeben werden. Für den Fall, dass Sie noch eine Stimme aus dem internationalen Bereich brauchen, sage ich Ihnen, dass der ehemalige Geheimdienstchef der Schweiz auf die Frage, ob auch die Schweiz von Terrorismus bedroht sei, kürzlich antwortete: Die Bedrohungslage hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges massiv verändert. Sie ist asymmetrisch geworden. Organisierte Kriminalität, Korruption, Massenvernichtungsmittel, Informationsoperationen und islamistischer Terrorismus heißen die heutigen Herausforderungen. Diese Meldungen häufen sich und zeigen deutlich, wie aktuell die Bedrohung heute ist. Wir tun gut daran, in unseren Anstrengungen nicht nachzulassen. In jüngster Zeit hat der Chef der Internationalen Atomenergie-Behörde, IAEA, al-Baradei, in Sydney vor einem möglichen Terroranschlag mit nuklearem Material gewarnt und gesagt, dass die Verhinderung eines möglichen Terroranschlags mit nuklearem Material zu einem Wettlauf gegen die Zeit zu werden drohe. Es müssten alle Anstrengungen unternommen werden, um dem neuen Phänomen namens nuklearem Terrorismus zu begegnen. Im Übrigen darf ich erwähnen, dass dies überhaupt nicht neu ist. Ich erinnere mich an die großen Debatten in den 90er-Jahren, in denen eine andere Mehrheit die Einsetzung eines Untersuchungsausschuss verlangte, weil man meinte, der Nuklearterrorismus sei inszeniert gewesen. Schon damals war von diesem vagabundierenden Material die Rede und wir alle hätten eigentlich sehen müssen, dass dies der Beginn einer neuen Bedrohung war. Das, was al-Baradei gesagt hat, ist also nicht neu. Wichtig ist auch - ich glaube, das haben all diejenigen erkannt, die derzeit über Veränderungen des NVV diskutieren -, zu wissen, wie aktuell diese Dinge geworden sind. Der asiatisch-pazifische Wirtschaftsgipfel, der Ende November in Chile tagt, wird als eines seiner Schwerpunktthemen die Bekämpfung des Terrorismus behandeln. Auch die BKA-Herbsttagung hat sich mit diesen Dingen beschäftigt. Der afghanische Präsident Karzai und der pakistanische Staatschef Musharraf haben ein gemeinsames offensives Vorgehen im Kampf gegen den Terrorismus angekündigt. Das halte ich für sehr wichtig. Wir alle konnten uns bei dem Besuch in Pakistan und Afghanistan davon überzeugen, dass hier neue Ideen und Vorschläge auf den Weg gebracht werden, die eine verstärkte internationale Zusammenarbeit zum Ziel haben. Wir sehen also, dass das Thema internationaler Terrorismus ein wichtiges Thema ist. Leider nimmt die Bedrohung zu und nicht ab. Andererseits - auch das sage ich - erfüllen sich Gott sei Dank nicht alle an die Wand gemalten Horrorszenarien, zum Beispiel Anschläge während der US-Wahlen. Was hat die Presse dazu nicht alles geschrieben! Es wurden auch Anschläge zum jeweiligen Jahrestag am 11. September prophezeit. Glücklicherweise sind diese Befürchtungen nicht wahr geworden. Letztlich zeigt dies aber auch, dass wir viel zu wenig wissen, dass viel spekuliert wird, dass wir mit unseren Partnern und Freunden noch nicht in Terrornetze eingedrungen sind und dass wir noch lange nicht eine weltweite, einwandfrei funktionierende Kooperation und Koordination haben. Dies gilt es aber zu erreichen, wenn wir den Terrorismus bekämpfen, ihm die Stirn bieten und ihm das Handwerk legen wollen. Ich sage allerdings auch, dass man keine Angst haben darf; denn die Angst geistert herum. Ein Zitat sollten all diejenigen beherzigen, die sich mit diesen Dingen beschäftigen: Furcht besiegt mehr Menschen als irgend etwas anderes auf der Welt. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen und keine Softoperationen durchführen. Wir müssen die politischen Maßnahmen so verändern, dass sie von einer möglichst großen Mehrheit getragen werden können. Das sage ich aus gutem Grund. Ich bin sehr froh über das, was der Verteidigungsminister eben erläutert hat. Lassen wir uns also durch Drohungen nicht vom richtigen Weg abbringen. In der Tat können wir einige positive Beispiele vorweisen. Blicken wir zurück auf den Petersberg-Prozess. Wir haben in Afghanistan hervorragende Möglichkeiten, die Dinge voranzubringen. Die Präsidentenwahlen konnten ohne große Unruhen abgehalten werden. Unsere Soldaten in Kabul, Kunduz oder Faizabad haben bei ihrem Einsatz in Afghanistan zusammen mit der ISAF eine wichtige Funktion übernommen. Das hat dazu geführt, dass wir respektiert und gebraucht werden und die Bundeswehr dort eine ganz entscheidende Rolle spielt. Dies ist nicht verbesserbar. Ich stimme dem Verteidigungsminister aber darin zu, dass Headquarters zusammengelegt werden müssen. Es muss zu einer besseren Koordination kommen, sodass nicht an jeder Ecke ein anderer Soldat aus einer selbstständigen Operation im Einsatz ist; dies muss vielmehr wesentlich besser abgestimmt werden. Unser Respekt und unsere Hochachtung gelten all denen, die dort eingesetzt sind: unseren Soldaten, Polizisten und zivilen Helfern. Man muss wissen - die eingesetzten Kräfte wissen das auch -, dass dies keine ungefährlichen Einsätze sind. Ich will an die Bundesregierung und den Verteidigungsminister appellieren: Tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht, um eine maximale Sicherheit zu erreichen! Tun Sie alles, damit unsere Soldaten für diese Einsätze entsprechend ausgestattet sind! Unsere Bundeswehr hat einen Anspruch auf die bestmögliche Ausrüstung für diese Einsätze. Das Bundeskabinett hat am 27. Oktober für eine Verlängerung des Einsatzes im Rahmen der Operation Enduring Freedom gestimmt. Die zuständigen Ausschüsse haben dieser Verlängerung einstimmig zugestimmt. Ich denke, dass es wichtig ist, dass sich das Parlament mit einer breiten Mehrheit für die Verlängerung des Einsatzes um weitere zwölf Monate ausspricht. Bei unseren Gesprächen mit den Soldaten vor Ort hat sich deutlich gezeigt, dass diese das Geschehen im Parlament haarscharf beobachten. Täuschen wir uns nicht: Hier wird genau gefragt, welche Mehrheit es im Parlament gibt, wie die Unterstützung des Parlaments aussieht und wie weit der Einsatz durch Beschlüsse des Parlaments gedeckt ist. Deshalb ist meine herzliche Bitte, dass sich das Parlament mit einer sehr großen Mehrheit dafür ausspricht. Dies ist ein wichtiges Signal und ein klares Zeichen dafür, dass sich Deutschland auch weiterhin aktiv an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus beteiligt. Das war nicht immer so. Ich erinnere mich an das Jahr 2001, als die Regierungskoalition fast an der Frage zerbrochen wäre, ob sie eine eigene Mehrheit für diesen Einsatz zustande bringt. Die Zeiten haben sich geändert. ({0}) Heute sind wir insgesamt weiter und es muss nicht zur Vertrauensfrage kommen. Ich sage das nur, um zu zeigen, wie wichtig diese Veränderungen für uns alle sind und wie wichtig die Diskussionen waren, die dazu geführt haben, dass wir heute eine breite Basis für die Operation Enduring Freedom haben und uns nicht darüber streiten müssen. Wir erkennen vielmehr, dass das sehr wichtig ist. Wir sehen auch, dass nicht nur militärische Einsätze wichtig sind, sondern dass auch zivile, politische, entwicklungspolitische und polizeiliche Mittel im Rahmen eines Gesamtkonzeptes erforderlich sind. Dazu gehören auch - wir sind gut beraten, diese fortzuführen die PRTs, die Provincial Reconstruction Teams, in Afghanistan, die eine hervorragende Arbeit leisten, neue Wege gehen ({1}) und nicht nur den militärischen Teil, sondern auch den zivilen Teil betonen. Dadurch produzieren wir Sicherheit in der Fläche, leisten einen Beitrag zum Aufbau und stärken die Zentralregierung. Entscheidend ist, dass wir uns nicht nur auf die eine Region konzentrieren, sondern den Terrorismus vom Maghreb-Gürtel über die arabische Halbinsel bis nach Asien bekämpfen. Wir müssen erkennen, dass es nicht nur einzelne Mosaiksteine gibt, um die wir uns kümmern müssen, sondern dass wir den Terrorismus insgesamt bekämpfen müssen. Halten wir fest: Enduring Freedom ist nicht die Antwort auf den internationalen Terrorismus, sondern eine Antwort auf den internationalen Terrorismus. Enduring Freedom ist ein kleiner, aber unverzichtbarer Baustein im Kampf gegen den Terror und zeigt, dass die internationale Staatengemeinschaft, dass die Vereinten Nationen durchaus in der Lage sind, zu kooperieren und zu handeln, auch wenn in diesem Zusammenhang noch vieles verbessert werden kann und muss. Enduring Freedom zeigt auch, dass die NATO ein wichtiges Instrument der Terrorbekämpfung ist. Ich möchte erwähnen und begrüße es sehr, dass die Vereinten Nationen ihre Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus vertiefen wollen und der europäische Antiterrorbeauftragte de Vries und der Direktor des UN-Ausschusses für Terrorismusbekämpfung Javier Ruperez in Brüssel dies gemeinsam anpacken. Auch dies ist ein neues Signal. Nicht nur einzelne Institutionen kämpfen gegen den Terrorismus, sondern wesentlich mehr. Ich komme zum Schluss. Oft habe ich die Frage gehört, ob dieser Einsatz wirklich etwas bringt. Er hat in den letzten Jahren eine Unmenge Geld, insgesamt, wenn ich das richtig sehe - Herr Kollege Schmidt, Sie werden das sicher bestätigen -, 800 Millionen Euro, gekostet. Es wäre einmal zu hinterfragen, wie diese finanziellen Mittel im Rahmen von Enduring Freedom optimal eingesetzt werden können. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir müssen alles tun, um dem Terror den Nährboden und seine Basis zu entziehen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am Schluss war ich gerade. - Wir müssen den Menschen klar machen, dass wir durch das Bekämpfen und das Ausschalten von Terrorismus in ihrer Heimat unsere Heimat schützen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Marianne Tritz, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Marianne Tritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003647, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Vergangenheit hier und in der Gesellschaft heftig darüber gestritten, mit welchen Methoden man dem internationalen Terrorismus den Kampf ansagen soll. Diese Diskussion war nötig geworden, weil wir nach dem 11. September 2001 das erste Mal in der Situation waren, dass ein Land, nämlich unser Bündnispartner die Vereinigten Staaten von Amerika, im eigenen Land Opfer eines kriegerischen Angriffs geworden ist, eines Angriffs, der nicht von einem anderen Land, sondern von fanatischen Terroristen ausging. Wir alle waren uns schnell einig, dass die Eindämmung des internationalen Terrorismus in erster Linie ein politischer Kampf sein muss, dass wir nur mit politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgeberischen Maßnahmen die Bedrohungen, die sich gegen die internationale Gemeinschaft richten, eindämmen können. Diese Bundesregierung hat immer einen breiten und tief gehenden Ansatz bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus verfolgt, dessen Zentrum, der grausame Dschihad-Terrorismus, im Nahen und Mittleren Osten liegt. Es ist ein Terrorismus, der der westlichen Welt den Krieg erklärt hat, der die westliche Welt in einen Krieg der Kulturen verwickeln will, in einen Krieg des Westens gegen den Islam. Die Krise des Nahen und Mittleren Ostens ist eine Modernisierungskrise der islamisch-arabischen Welt und einer totalitären Ideologie. Es ist eine fanatische Ideologie, die sich nicht nur gegen die westliche Welt, ihre Werte und ihre Zivilgesellschaften richtet, sondern auch Reformen in der arabischen, der muslimischen Welt verhindern will. Deswegen müssen wir diesen Ländern und ihren Gesellschaften ein ernstes Angebot zur Kooperation machen, wie wir es mit dem Konzept „Wider Middle East“ getan haben. Die Bundesregierung hat bewiesen, dass sie im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in erster Linie dem Primat der Politik folgt. So hat sie wichtige Beiträge zur Terrorismusbekämpfung auf den multilateralen Ebenen von UN, OSZE, NATO und G 8 geleistet. Deutschland hat den Polizeiapparat in Afghanistan aufgebaut. Es hat geholfen, wichtige Teile der Petersberger Beschlüsse umzusetzen, und sich federführend mit ISAF in Kabul und Kunduz engagiert, um mit sichtbaren wirtschaftlichen Aufbauleistungen eine Perspektive für das afghanische Volk aufzuzeigen. Und wir sind der größte Geber in Afghanistan. Obwohl wir die politischen Lösungen in den Vordergrund stellen, bleibt doch der Einsatz militärischer Mittel derzeit ein unverzichtbarer Bestandteil im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Durch die Präsenz in Afghanistan konnte der geregelte Ablauf der Präsidentschaftswahlen gewährleistet werden. Die Menschen haben sich getraut, sich registrieren zu lassen, und der Aufbau staatlicher Institutionen schreitet voran. Das alles lässt hoffen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit einem leistungsfähigen Kontingent in die multinationale Operation Enduring Freedom eingebracht. Hierfür sowie für die Beteiligung an ISAF genießt Deutschland hohe Anerkennung in der Welt. Diese Anerkennung gilt ganz besonders den Peacekeeping-Fähigkeiten der Bundeswehr. Im Zuge von Enduring Freedom hat die deutsche Marine einen stabilisierenden Einfluss am Horn von Afrika und natürlich auch im Mittelmeer ausgeübt. Die Seestreitkräfte haben wichtige Handelswege gegen Piraterie und Waffenschmuggel abgesichert. In keinem Fall ist es dabei zu militärischen Auseinandersetzungen gekommen, sondern die Soldaten haben immer in Kooperation mit den Schiffsführern und den entsprechenden Eignern gehandelt. Aber der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist noch lange nicht gewonnen. Der furchtbare Anschlag von Madrid im März dieses Jahres ist uns allen noch in Erinnerung. Wie grausam Terrorismus ist, wenn er sich gegen die Zivilgesellschaft richtet, haben wir voller Entsetzen durch die Morde an den Kindern von Beslan erfahren. Die Bedrohung durch al-Qaida und andere Terrorgruppen ist nach wie vor real vorhanden. Kein Mensch kann sagen, wie lange dieser Kampf noch dauern wird und ob er je zu Ende geht. Unsere Befürchtungen von damals, wir könnten über die Beteiligung an Enduring Freedom in ein Kriegsabenteuer mit unkalkulierbaren Folgen geraten, haben sich nicht bewahrheitet. Die deutsche Unterstützung war jederzeit ausgewogen, verhältnismäßig und wurde im militärischen Bereich sehr zurückhaltend ausgeschöpft. Das wird auch so bleiben. ({0}) Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hält die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an Enduring Freedom für notwendig und verantwortbar. Der Umfang von 3 100 Soldaten ermöglicht ein schnelles und flexibles Handeln. Da derzeit nur 500 Soldaten im Einsatz sind und damit die Obergrenzen nicht ausgeschöpft sind, handelt es sich eher um ein „Bereitstellungsmandat“ als um ein Einsatzmandat. Ich möchte noch etwas zum Irak anmerken. Wir haben den Irakkrieg abgelehnt. Dabei bleibt es auch. ({1}) Wir haben uns nicht am Irakkrieg beteiligt und werden dies auch in Zukunft nicht tun, egal in welcher Konstellation. Das war in den letzten Tagen immer wieder Gegenstand der Debatte. Rot-Grün ist ein Garant dafür, dass es unter dieser Bundesregierung keine Beteiligung am Irakkrieg gibt. ({2}) Herr Schäuble kann tausendmal fordern - ich zitiere gerne aus den Protokollen -, dass wir uns im Falle eines UN-Mandats nicht verweigern könnten. Wir haben dies aber getan und werden es auch weiterhin tun. Das ist der Unterschied: Mit uns gibt es keine Kriegsbeteiligung; unter der CDU/CSU mit Wolfgang Schäuble würden Soldaten in den Irakkrieg geschickt werden. Danke. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Rainer Stinner, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen heute ein Jubiläum - von Feiern möchte ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen -; denn heute entscheiden wir gemeinsam zum 40. Mal über den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. Auch wenn wir das schon so oft getan haben, glaube ich, dass diese Entscheidung im Deutschen Bundestag niemals zu einer reinen Routine werden darf. ({0}) Wir müssen uns auch heute zum 40. Mal folgende Fragen stellen: Dient der Einsatz der Sicherheit und den Interessen unseres Landes? Ist das Mandat, das wir den Soldaten erteilen, durchführbar? Statten wir sie mit den notwendigen Mitteln aus, um ihr Mandat zu erfüllen? Begrenzen wir das Mandat auf das wirklich Notwendige zur Erfüllung der gemeinsamen Aufgaben? Wir als FDP haben uns diese Fragen auch zum 40. Mal so deutlich gestellt. Ich darf Ihnen mitteilen, dass wir nach langer Diskussion übereingekommen sind, diesem Mandat mit großer Mehrheit zuzustimmen. Das tun wir aber nicht ohne Bedenken. Wir stimmen zu, weil wir uns sicher sind und zum Ausdruck bringen wollen, dass der Kampf gegen den Terrorismus noch nicht gewonnen ist, dass wir Deutsche auch eigene Sicherheitsinteressen haben und durch diesen Kampf bedroht sind. Wir wollen damit ferner deutlich machen, dass wir unseren Beitrag zu dem Kampf gegen den Terrorismus leisten wollen. Die Entscheidung ist uns aber nicht leicht gefallen. Wir stellen hier die Frage nach der Effektivität und Effizienz. Effektivität heißt, die richtigen Dinge zu tun. Das macht die Bundesregierung. Deshalb stimmen wir ihrem Antrag zu. ({1}) Effizienz heißt, die Dinge, die man tut, richtig zu tun. Hierbei bleiben, wie so häufig beim Handeln dieser Bundesregierung, auch weiterhin Fragen offen. ({2}) Sie wollen sich heute ein Vorratsmandat geben lassen. Frau Kollegin Tritz, Sie haben einen verdächtigen neuen Begriff eingeführt, nämlich „Bereitstellungsmandat“. Diesen Begriff habe ich bisher noch nie gehört. Der Parlamentsvorbehalt bezieht sich jedenfalls nicht darauf, Bereitstellungsmandate zu verabschieden. ({3}) Wir nennen das nicht Bereitstellungsmandat; vielmehr meinen wir, dass Sie sich ein Vorratsmandat geben lassen wollen. Auch das entspricht nicht dem Parlamentsvorbehalt. Derzeit sind 500 Soldaten im Einsatz; aber das von Ihnen geforderte Mandat bezieht sich auf 3 100 Soldaten. Das ist das Sechsfache und widerspricht sämtlichen Planungsreserven. Es ist nicht damit zu erklären, dass es um die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung geht. ({4}) Es handelt sich vielmehr um einen Vorratsbeschluss. Wir fragen uns in diesem Zusammenhang: Entspricht das noch unserem Konzept der Parlamentsarmee? Nach unserer Auffassung bedeutet das Konzept einer Parlamentsarmee, dass wir, das Parlament, eine enge Kontrolle über den jeweiligen Einsatz haben. Da solche Beschlussanträge hier im Plenum leider keine Änderungsanträge zulassen, können wir nur zustimmen oder ablehnen. Wir hätten uns aber gewünscht, dass sich die Bundesregierung, wenn sie denn ein breites Mandat haben möchte, vorher mit uns in den Ausschüssen ausführlicher abgestimmt hätte, als zwei Tage vor der entscheidenden Abstimmung die Vorlage im Ausschuss einzubringen. Wir sind sehr erstaunt, dass die Koalitionsfraktionen diese Fragen nicht ähnlich dringlich stellen wie wir. Sie haben schließlich gemeinsam mit uns, den Oppositionsfraktionen, Verantwortung für den Einsatz der Bundeswehr. ({5}) - Lieber Herr Nachtwei, insbesondere die Grünen sind hier einen langen Weg gegangen, von Abschaffern der Bundeswehr zu unkritischen Durchwinkern von Auslandseinsätzen. ({6}) Ein langer Lauf zu einer neuen Identität Ihrer Partei! Wir wollen gar nicht bestreiten, dass es einen natürlichen Konflikt zwischen den Interessen der Regierung an Handlungsfähigkeit und möglichst ungestörtem Handeln - es ist völlig klar, dass wir, wenn wir in der Regierung wären, ähnliche Interessen hätten - und den Interessen an einem Parlamentsbeteiligungsgesetz gibt. Wir brauchen aber nach wie vor dringend ein solches Gesetz und haben dazu einen praktikablen Vorschlag vorgelegt. Ich bedauere deshalb sehr, dass dieses Thema in dieser Woche auf Ihren Wunsch hin abgesetzt worden ist. Ich fordere Sie auf, einem entsprechenden Gesetzentwurf endlich zuzustimmen. Dann bräuchten Sie sich in Zukunft jedenfalls nicht mehr einen sechsfachen Vorratsbeschluss geben zu lassen. ({7}) Wenn wir trotz unserer Vorbehalte Ihrem Antrag zustimmen, dann hat das zwei Gründe. Der erste Grund ist: Wir wollen sehr deutlich machen, dass Deutschland einen fairen Beitrag zum gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus leistet. Dazu stehen wir, die FDP. Der zweite Grund ist - wenn ich das sage, fällt mir als Oppositionspolitiker kein Zacken aus der Krone -: Wir erkennen an, dass die Bundesregierung - jedenfalls bisher - mit dem Mandat sehr verantwortungsvoll umgegangen ist. Herr Weisskirchen, hier sind wir völlig offen und stimmen Ihnen zu. ({8}) Wenn wir heute zustimmen, geben wir der Bundesregierung einen Vertrauensvorschuss. Das ist bei dieser Bundesregierung natürlich alles andere als einfach. ({9}) Wir erwarten aber, dass wir in den Ausschüssen noch mehr als bisher in die Lage versetzt werden, die jeweiligen Einsätze zu verfolgen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas, was beim Kosovoeinsatz geschehen ist, darf nicht noch einmal vorkommen. Wir erwarten Offenheit, Klarheit und wahrheitsgemäße Informationen. Beim Kosovoeinsatz haben Sie uns, das Parlament, drei Monate lang an der Nase herumgeführt. Wir verbinden unseren Vertrauensvorschuss mit der Erwartung, dass so etwas in Zukunft nicht mehr vorkommt. ({10}) Ich komme zum Schluss. Wir verknüpfen unsere Zustimmung - die haben wir uns nicht leicht gemacht, aber wir stehen zu ihr - mit der Erwartung, dass es ein Parlamentsbeteiligungsgesetz gibt - wir haben, wie gesagt, einen entsprechenden Antrag eingebracht -, das uns in Zukunft solche Zumutungen wie heute erspart, einen Vorratsbeschluss, ein Bereitstellungsmandat, wie es die Frau Kollegin Tritz genannt hat, zu akzeptieren. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Lieber Kollege Stinner, es tut mir Leid - wir kennen uns ja lange genug -, aber das war eine wirklich unangemessene Rede ({0}) zu einem Problem, das Sie im Grunde verdunkelt haben. Es geht doch darum, dass Enduring Freedom der Rahmen für ein Mandat ist, den Menschen in Afghanistan - das war das auslösende Moment -, die in einer ganz schwierigen Situation leben, in einem Land, das von Terroristen regelrecht erobert worden war, eine Chance zu geben, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. So soll endlich eine Entwicklung eingeleitet werden, die den Menschen in Afghanistan die historische Erfahrung überwinden hilft, dass sie herumgestoßen worden sind und dass ihr Schicksal von außen bestimmt wurde, und zwar von Leuten, die versucht haben, Afghanistan zum Spielball ihrer Machtinteressen zu machen. Aber Sie reden hier nur über Vorratsbeschlüsse. Hier geht es nicht um einen Vorratsbeschluss, sondern darum, dass die Menschen in Afghanistan Freiheit bekommen, damit sie selbst handeln, ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen und ihre Form von Demokratie entwickeln können. Nur darum geht es, lieber Herr Kollege Stinner. ({1}) Das, was vor drei Jahren notwendig gewesen ist, bleibt notwendig. Die Menschen in dieser Region brauchen ein gewisses Maß an Sicherheit, damit sie überhaupt selbst handeln können. Deswegen ist Enduring Freedom so wichtig. Der Rahmen von 3 100 Bundeswehrsoldaten wird von der Bundesregierung noch nicht einmal ausgeschöpft; vielmehr werden die vorhandenen Möglichkeiten maßvoll, zurückhaltend und verantwortungsbewusst eingesetzt. Darum geht es und deswegen stimmen wir heute dem Antrag der Bundesregierung zu, lieber Kollege Stinner.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Weisskirchen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, können Sie sich daran erinnern, dass der Herr Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellen musste, um zu einer Mehrheit zu kommen, weil die rotgrüne Koalition zunächst nicht bereit war, diese Mehrheit zu stellen?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann mich daran sehr gut erinnern; schließlich habe ich auch in diesem Saal und in der Fraktion für diese Mehrheit gekämpft. Wir haben sie bekommen, weil die Vernunft für Enduring Freedom gesprochen hat. Dieses Anliegen haben wir durchgekämpft und das war, wie Sie sich gut erinnern können, gar nicht so einfach. ({0}) Die Gefahr des Terrorismus ist keineswegs gebannt; deswegen brauchen wir eine Verlängerung von Enduring Freedom. ({1}) - Lieber Kollege Niebel, es mag sein, dass Sie seit dem 11. November in Karnevalsstimmung sind. Aber hier geht es um einen sehr verantwortungsvollen Beschluss, dem die Mehrheit des Deutschen Bundestages - hoffentlich auch Sie - zustimmen wird. Ich bitte Sie herzlich, zu überlegen, ({2}) bevor Sie Zwischenrufe machen. Jetzt möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie diese Zwischenfrage?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Weisskirchen, wenn es sich hier nicht um einen Vorratsoder, wie die Kollegin von den Grünen sagte, Bereitstellungsbeschluss handelt, können Sie mir dann erklären, aus welchem Grund die Bundesregierung einen Beschluss benötigt, der - derzeit sind gut 500 Soldaten im Einsatz - die Entsendung von 3 100 Soldaten möglich macht? Und warum soll die Bundesregierung bei räumlich begrenzter Tätigkeit der Bundeswehr aufgrund eines Vorratsbeschlusses Soldaten in die halbe Welt entsenden dürfen?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Niebel, ich bitte Sie herzlich darum, den Antrag zu lesen, den die Bundesregierung hier eingebracht hat. Wenn Sie es bisher nicht getan haben, dann können Sie es jetzt noch nachholen. In diesem Antrag steht alles Wort für Wort. Er enthält eine klare und eindeutige Begründung dafür, dass Enduring Freedom notwendig ist. Dort werden alle Ihre Fragen beantwortet. Darum bitte ich Sie noch einmal, ihn zu lesen. ({0}) Der entscheidende Punkt ist, dass der Terrorismus in der Tat nicht besiegt ist. Wenn Sie sich etwa das anschauen, was Ayman al-Zawahiri in seinem jüngsten Buch, das kurz nach dem 11. September erschienen ist, dazu geschrieben hat, dann werden Sie genau erkennen, um welche Strategie es geht. Er hat versucht - genau das will al-Qaida -, gegen den inneren Feind zu mobilisieren. Das heißt: Die Straße in den arabischen Ländern sollte durch die schrecklichen Anschläge in New York und in Washington aufgestachelt werden. Das ist nicht gelungen. Insofern ist die erste strategische Überlegung des Terrorismus nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Die zweite Überlegung, die al-Qaida und andere zu entwickeln versucht haben, sieht vor, die Länder des Westens in einen inneren Kampf, in einen politischen Kampf gegeneinander, zu verwickeln. Es ist deshalb wichtig, Folgendes deutlich zu machen: An Enduring Freedom sind nicht nur die 22 Mitgliedstaaten der NATO beteiligt, sondern 54 Nationen. Wir brauchen Enduring Freedom also als ein Instrument der Zusammenarbeit, um dem Terrorismus - jedenfalls militärisch - das Rückgrat zu brechen. Das ist leider notwendig. Enduring Freedom darf aber nicht das einzige Instrument sein. Der Unterschied beispielsweise zwischen der Administration von George W. Bush und uns ist an diesem Punkt ganz augenfällig. Wir versuchen, Enduring Freedom als ein Instrument einzusetzen mit dem Ziel, dass zivile Prozesse in Afghanistan vorankommen. Das ist der klare und eindeutige Unterschied. Aus unserer eigenen Logik heraus würden wir dem Einsatz niemals zustimmen - wir können es auch nicht -, den beispielsweise die USA und andere von uns im Irak verlangen. Deshalb werden wir mit Enduring Freedom weiter unser Ziel verfolgen, zivile Prozesse in den Ländern, die vom Terrorismus befallen sind, so zu unterstützen und zu verstärken, dass diese Länder ihren eigenen Weg in eine selbstbestimmte Demokratie gehen können. Die Wahl in Afghanistan hat es deutlich gezeigt. Herr Karzai ist mit 55 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Afghanistans gewählt worden. Dieser Prozess hat den Weg dafür geöffnet, dass im Frühjahr des kommenden Jahres ein Parlament gewählt werden kann, das die Geschicke des Landes in die eigene Hand nimmt. Wir brauchen Enduring Freedom, damit zivile Prozesse vorankommen können und die Menschen in Afghanistan und anderswo in der Region ihre Freiheit selbstbestimmt erlangen. Deswegen wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Antrag der Bundesregierung einstimmig zustimmen. Lieber Kollege Dr. Struck, dieser Beschluss wird deutlich machen, so hoffen wir, dass die gesamte Bundesrepublik Deutschland hinter den Soldaten steht, die ein schwieriges Amt übernommen haben und einen schwierigen Job tun. Sie tun es vorbildlich und machen klar, dass wir wollen, dass sich zivile Prozesse gegenüber dem terroristischen Anschlag durchsetzen, mit dem al-Qaida vor drei Jahren versucht hat, uns auseinander zu bringen. Das ist nicht gelungen. Die Bundeswehr sorgt dafür, dass der Weg der Freiheit für eine schwierige Region geöffnet wird. Afghanistan hat den ersten Schritt in eine vernünftige Richtung getan. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Stinner, FDP-Fraktion.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Weisskirchen, nachdem Sie mich so freundlich bedacht haben, möchte ich doch die Gelegenheit nutzen, darauf kurz zu antworten. Ich verkneife mir, Ihre Rede zu qualifizieren; das verbietet nämlich die Höflichkeit einem Kollegen gegenüber. ({0}) Herr Kollege Weisskirchen, es ist Ihnen offensichtlich intellektuell nicht möglich gewesen, den Inhalt meiner Rede aufzunehmen. ({1}) Ich habe nicht bezweifelt, dass wir uns im Kampf einsetzen müssen und dass Bedrohungslagen bestehen. Uns ging es ausschließlich um die Diskrepanz zwischen dem Vorratsbeschluss - Ihre Koalitionskollegin Tritz hat von Bereitstellungsmandat gesprochen; das war ein verräterischer Ausdruck - und dem aktuellen Bedarf. Herr Weisskirchen, ist es Ihr Konzept, dass wir hier in Zukunft Bereitstellungsmandate verabschieden? Das war der Punkt, den wir angesprochen haben. Es ging nicht um die grundsätzliche Argumentation, die Sie hier angeführt haben. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen, und ich hoffe, dass Sie auch in der Lage sind, das zur Kenntnis zu nehmen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Weisskirchen, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unabhängig davon, welches Gesetz wir dazu in der nächsten Sitzungswoche beschließen werden, werden wir jedes einzelne Mandat sehr sorgfältig prüfen. Hier wird es keine Vorratsbeschlüsse geben, ({0}) sondern hier wird jedes einzelne Mandat im Detail geprüft werden. Lieber Kollege Stinner, Sie sind Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Sie wissen seit mindestens zwei Wochen, dass dieser Antrag in der Substanz so gestellt wird. Nicht ein Komma, nicht ein Wort, nicht ein Satz ist seither geändert worden. Sie haben sich mit diesem Einsetzungsbeschluss sehr vertraut machen können. Dabei bleibt es. Diese Koalition wird in der Substanz von Mandatserteilungen keinerlei Änderungen vornehmen. Sie werden das in diesem Hause noch erkennen und erleben. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Christian Schmidt, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir jetzt in den weiteren professoralen Disput eintreten, möchte ich zunächst einmal allen Soldaten der Bundeswehr, die im Rahmen von Enduring Freedom ihren Dienst tun - ich hoffe und denke, dass ich das für das ganze Haus tun kann -, unseren Dank und unsere Anerkennung übermitteln und aussprechen. Ich bin sicher, dass der Verteidigungsminister und der hier anwesende Generalinspekteur das den Soldaten in geeigneter Form zur Kenntnis bringen werden. Wir gehen hier nicht routinemäßig vor, sondern sind uns der vollen Verantwortung, wie Kollege Stinner schon gesagt hat, für das bewusst, was wir hier zum 40. Mal beschließen. Wir fordern nämlich einen Einsatz, der eine Gefährdung von Leib und Leben der Soldaten beinhalten kann, zugleich aber auch uns allen Schutz gibt. Dafür bedanken wir uns alle herzlich. ({0}) Den intellektuellen Disput, den Sie, Herr Kollege Stinner, eröffnet haben, will ich nicht weiter fortführen. Aber natürlich drängt sich mir wie Ihnen sicherlich auch die Frage auf, welche Rolle die Vernunft, von der Herr Weisskirchen sagte, sie sei da, im Denken von Rot-Grün spielt. Wenn sie nämlich erst durch Vertrauensfragen ans Licht geholt werden muss, kann es mit ihr ja nicht ganz so weit her sein. ({1}) Dem Kollegen Nachtwei, der in einem Zwischenruf geäußert hatte, wir würden die internen Diskussionen der Grünen nicht ausreichend berücksichtigen, möchte ich sagen: Angesichts der in der Tat beachtlich geschmeidigen grünen Politik habe ich kein großes Interesse daran, interne Diskussionen der Grünen nachzuvollziehen. Ich stelle nur fest, dass manches, was mit diesem Thema zusammenhängt, sehr viel tiefer gehend diskutiert werden müsste, als es derzeit der Fall ist. Verräterisch ist ja vor allem, dass viel häufiger über den Irak als über Afghanistan gesprochen wurde. Das zeigt ja, was eigentlich dahinter steckt. ({2}) Vielleicht geht es in den internen Diskussion ja darum, dass man mit der Bereitstellung von sogar 3 900 Soldaten für Enduring Freedom, wie es ursprünglich im Antrag vorgesehen war, verhindern möchte, dass jemand auf die Idee kommt, eine Beteiligung im Irak zu fordern. Kollegin Tritz - ich weiß nicht, wo sie sich gerade befindet ({3}) hat sich bemüßigt gefühlt, den Kollegen Schäuble zu zitieren. Ich könnte andersherum natürlich in dem Zusammenhang den Verteidigungsminister Struck zitieren. Eines ist ja klar: Wenn man die Antiterrorkoalition im Rahmen der Operation Enduring Freedom begrüßt, sie für richtig und dringend notwendig hält und sich bewusst ist, dass wir alleine nichts bewegen können und unsere Sicherheit immer nur multilateral sicherzustellen ist, muss man sich schon sehr genau überlegen, wie man sich bei anderen Maßnahmen der NATO verhält. Man kann nicht eifrig und stolz deutsche Soldaten in die integrierten Stäbe der NATO schicken und zugleich sagen, bei bestimmten Aktionen möchte man von vornherein außen vor gelassen werden. Wenn man so vorgeht, wird das dazu führen, dass wir irgendwann weder bei politischen Entscheidungen noch bei konkreten Operationen dabei sein werden. ({4}) Das soll heißen, damit es kein Vertun gibt: Kein Mensch hat die Intention, uns gegeneinander auszuspielen nach dem Motto: Mit uns geht es in den Irak, mit den anderen nicht. Darum geht es doch überhaupt nicht. ({5}) Christian Schmidt ({6}) Es geht darum, dass die NATO eine Ausbildungsmission für die irakische Polizei und Armee übernehmen soll. Zunächst einmal sollte sich jeder anhören, welche Forderungen der NATO-Generalsekretär in diesem Zusammenhang an uns richtet. Es geht also darum, nicht jeden, der eine Uniform anhat und international tätig ist, davon abhalten zu wollen, sich an gemeinsamen, UN-sanktionierten und auf NATO-Ebene beschlossenen, allgemein als friedensfördernd und gut bezeichneten Aktionen zu beteiligen. Wenn ideologische Ressentiments dazu führen, dass man solche Überlegungen in den Vordergrund rückt, wird man politik- und handlungsunfähig. Aber ich habe natürlich Verständnis dafür, dass eine vernünftige Sicht auf die Dinge zunächst einmal Nachbohren erfordert, vorausgesetzt, es ist überhaupt Vernunft vorhanden. ({7}) Wenn man, wie der Verteidigungsminister in seiner Einbringungsrede, um eine möglichst breite Unterstützung im Hause wirbt, muss man schon sagen -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Arnold?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schmidt, um hier wirklich Klarheit zu bekommen: Können Sie mir sagen, ob Sie der Auffassung sind, dass wir dem Drängen des NATO-Generalsekretärs nachgeben und deutsche Soldaten zusammen mit NATO-Kollegen zur Ausbildung von irakischen Soldaten in den Irak entsenden sollten, oder ob wir nicht vielmehr unseren Beitrag besser dadurch leisten, dass wir irakische Soldaten und Polizisten außerhalb des Iraks ausbilden? ({0}) Bei solchen Forderungen sollten wir schon präzise bleiben.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn die Ausbildung von Soldaten und Polizisten sinnvoll in anderen Ländern erfolgen kann, kann man das durchaus tun. Wenn allerdings eine gemeinsame Aktion mit Offizieren der Bundeswehr, der Briten, der Franzosen, der Polen und anderer einen kleinen Stab in Bagdad erfordern würde, dann kann ich nicht verstehen, wieso wir zwar BGS-Beamte in Bagdad der Lebensgefahr aussetzen - es sind ja auch schon zwei zu Tode gekommen -, ebenso zivile Hilfsorganisationen, aber grundsätzlich festlegen, dass sich niemand an der Ausbildung beteiligen darf. Insofern bitte ich Sie, sich selber einmal darüber klar zu werden, was Sie eigentlich wollen. ({0}) Ich komme zu einem weiteren Punkt, zur Frage der Finanzierung. ({1}) - Ich gestatte selbstverständlich auch die Zwischenfrage des Kollegen Schäuble.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich habe Sie doch noch gar nicht gefragt! ({0}) Aber bitte.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte, das nicht als vorauseilenden Gehorsam zu qualifizieren, sondern als Wunsch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Kollege Schmidt, können Sie erklären, warum die Bundesregierung im NATO-Rat der Ausbildungsmission im Irak zustimmt, wenn sie gleichzeitig die Auffassung vertritt, dass es nicht zu verantworten sei, dass sich deutsche Soldaten an einer solchen Initiative - an der alle anderen teilnehmen sollen - beteiligen? Können Sie mir dieses widersprüchliche Verhalten der Bundesregierung erklären? ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schäuble, jetzt stehe ich tatsächlich vor einem Problem. Ich würde die Frage gerne beantworten, aber mir fällt dazu nur ein Satz ein: Ich kann es mir nicht erklären. Das ist ein widersprüchliches Verhalten, das die Verlässlichkeit im Bündnis infrage stellt und uns mittelfristig schadet. ({0}) Ich will nun die Frage der Finanzierung und damit den Einzelplan 14 ansprechen. Es soll der Beschluss gefasst werden, dass die Zahl der Soldaten im Einsatz im Notfall ausgedehnt wird. Meine Fraktion - andere haben sich angeschlossen - hat übrigens darauf gedrängt, dass bei einer signifikanten Veränderung der Zahl der im Einsatz befindlichen Soldaten und der Einsatzorte eine entsprechende Unterrichtung des Parlaments durch die Bundesregierung stattfindet. Das hat die Bundesregierung in einer Protokollnotiz auch zugesagt. Das ist sehr wichtig, damit deutlich wird, dass das Parlament in dieser Frage nicht außen vor ist. Wenn Sie das gedanklich mit einem Rückholrecht koppeln, dann zeigt das, dass es sich nicht um eine bloße Formalie handelt, sondern das Parlament eine starke Position hat, wenn die Zahl von 500 auf 800 oder von 800 auf 3 000 erhöht werden sollte. Das kann durchaus der Fall sein. Aber das bringt mich, gerade weil wir in der übernächsten Woche den Haushalt zu beraten haben, zu ganz simplen, schnöden Christian Schmidt ({1}) Fragen. 114 Millionen Euro sind im Einzelplan 14 für dieses Mandat vorgesehen; so im Antrag der Bundesregierung nachzulesen. Ich bin der Meinung - ich denke, dass das nicht einmal den Widerspruch des Verteidigungsministers hervorruft -, dass eine eventuelle signifikante Erhöhung nicht aus dem Einzelplan 14 finanziert werden kann. Eine solche signifikante Erhöhung wäre eine gesamtpolitische Aufgabe, die aus anderen Mitteln wie aus dem Einzelplan 60 gespeist werden muss. Wir können bei der ohnehin viel zu knappen Finanzausstattung, bei der Rationierung der Bundeswehr, die wir gerade erleben, nicht alle entstehenden Kosten von einem Ressort alleine tragen lassen. Hier geht es um Außenund Sicherheitspolitik. Hier geht es um das Interesse unseres Landes. Das heißt, wir müssen alle unseren Beitrag zur Sicherstellung der Finanzierung leisten. Es ist nicht absehbar, welche Kämpfe in der nächsten Zeit im Rahmen von Enduring Freedom auszustehen sind. Ich hoffe, dass sie nicht so heftig werden. Trotzdem verweise ich auf das, was der Herr Kollege Schmidbauer so deutlich dargelegt hat, nämlich dass noch erhebliche Gefahren bestehen. Morgen erwartet den Verteidigungsminister die nächste Front. Dann wird sich zeigen, ob er in der Lage ist, in der SPD die Beibehaltung der Wehrpflicht durchzusetzen. Ich kann ihm nur wünschen, dass ihm das gelingt. Sonst müsste er - unabhängig von allen grundsätzlichen Überlegungen - feststellen, dass er diesen Einsatz und auch alle anderen künftigen Einsätze nicht mehr finanzieren kann. Da kann Herr Fischer noch so große Reden vor den Vereinten Nationen halten: Das wäre die Bankrotterklärung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Staatsminister Hans Martin Bury.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington noch deutlich vor Augen und ebenso deutlich den Terroranschlag in Madrid am 11. März dieses Jahres, bei dem fast 200 Menschen ihr Leben verloren und über 1 000 verletzt wurden. Dieser Terroranschlag hat uns gezeigt: Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus hat nicht nachgelassen. Deshalb, Herr Kollege Stinner, wäre es ein zumindest missverständliches Signal, wenn man das Mandat reduzieren würde. Ich denke, ein verantwortungsbewusst und flexibel genutzter Rahmen - das haben Sie der Bundesregierung ja ausdrücklich bescheinigt - ist die richtige Antwort auf die asymmetrische Bedrohung, mit der wir es beim internationalen Terrorismus zu tun haben. ({0}) Die Ziele dieses internationalen Terrorismus liegen auch in Europa. Die Bekämpfung von international organisierten und weltweit agierenden Gruppierungen erfordert ein breites Spektrum von Maßnahmen: Maßnahmen polizeilicher, politischer, zivilgesellschaftlicher, wirtschaftlicher und entwicklungspolitischer Natur. Das militärische Vorgehen ist dabei nur ein Element, aber ein unverzichtbares. Deutschland leistet hierzu seinen Beitrag seit 2001 in der Operation Enduring Freedom gemeinsam mit 54 anderen Nationen. Der Versuch islamistischer Fundamentalisten, eine Spaltung der Weltgemeinschaft zu provozieren, ist gescheitert. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am 8. Oktober 2004 die Resolution 1566 einstimmig verabschiedet und die Staaten erneut dringend zur Zusammenarbeit aufgefordert, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu bekämpfen. Das erfolgreiche internationale Engagement in Afghanistan steht beispielhaft für dieses Konzept. In Afghanistan konnten terroristische Gruppierungen durch die OEF-geführten Koalitionskräfte in ihren Handlungsund Bewegungsmöglichkeiten erfolgreich eingeschränkt werden. Das hat entscheidend zur Verbesserung der Sicherheitslage beigetragen. Ohne Sicherheit kann es keinen nachhaltigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau geben. Der Befriedungs- und Stabilisierungsprozess in Afghanistan schreitet mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft deutlich voran. In vielen Regionen herrscht eine regelrechte Aufbruchstimmung. Auch die Mädchen haben wieder eine Chance auf Bildung. Die Entwaffnung der Milizen kommt allmählich in Gang. Sichtbarstes und aktuellstes Zeichen des Erfolges in Afghanistan sind die Präsidentschaftswahlen. Mit ihrer demonstrativ hohen Teilnahme an den Wahlen hat die Bevölkerung den Terroristen und den Taliban eine klare Absage erteilt. Ja, die Präsidentschaftswahlen waren ein Plebiszit der afghanischen Bevölkerung gegen den Terror. ({1}) Gleichzeitig erwartet die Bevölkerung aber auch die Fortsetzung unseres breit angelegten Engagements, damit die Taliban nie wieder die Macht an sich reißen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heutige Tag erinnert auch daran, dass für die Bekämpfung des islamistischen Fundamentalismus mit seiner totalitären Ideologie Fortschritte bei der Lösung des Nahostkonfliktes von zentraler Bedeutung sind, zusammen mit der Überwindung der tiefen Modernisierungskrise in weiten Teilen der islamisch-arabischen Welt, wie sie die Broader-Middle-East-Initiative der G-8-Staaten zum Ziel hat. Mit dem Tod Arafats geht eine Ära zu Ende, ohne dass das Ziel eines friedlichen, demokratischen Palästina Wirklichkeit werden konnte. Doch zur ZweiStaaten-Lösung gibt es weiterhin keine Alternative. Eine neue palästinensische Führung, der Disengagement-Plan von Premierminister Scharon sowie die Wahl in den USA haben für die kommenden Monate ein neues Momentum zur Erneuerung des politischen Prozesses auf der Grundlage der Roadmap geschaffen. Dieses Momentum gilt es im Rahmen des Nahostquartetts zu nutzen. ({2}) Von der Verlängerung des OEF-Mandates durch den Deutschen Bundestag geht ein wichtiges politisches Signal an unsere Partner und an die internationale Staatengemeinschaft aus: Deutschland steht auch in Zukunft zu seiner internationalen Verantwortung für Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der „Stern“ hat über das Kommando Spezialkräfte, KSK, in Afghanistan berichtet - ich zitiere -: Seit der Operation Anaconda, an der im März und April 2001 KSK-Kräfte teilnahmen, treten die AlQaida- und Taliban-Kämpfer nicht mehr in Gruppen auf, die meisten sind über die Berge nach Pakistan verschwunden. Das KSK will sein Kontingent ebenfalls abziehen - doch es muss bleiben. „Aus dem sinnvollen Einsatz wurde ein politischer. Wir waren der politische Preis dafür, dass Deutschland die USA im Irak nicht unterstützte“, sagt ein Offizier. ({0}) „Unser Einsatz machte keinen Sinn mehr, solche Aufträge hätten auch andere erledigen können. Wir haben dort in der Wüste gehockt und Skorpione gefangen.“ Die Regierung und die konservative Opposition wollen ein Mandat mit einem Budget von 114 Millionen Euro für weitere zwölf Monate beschließen. Umgerechnet auf die derzeit eingesetzten 500 Soldaten sind das pro Tag 624 Euro pro Soldat. Die Hilfsorganisation Misereor hat die Kampagne „Mit 2 Euro im Monat helfen“ gestartet. Zehnmal 2 Euro haben zum Beispiel dabei geholfen, dass der vierjährige Alem keinen Hunger mehr leiden muss. Seine Mutter hat im St. Mary Social Center im äthiopischen Wukro Kurse über Gemüseanbau und Hühnerzucht besucht. Das dort erworbene Wissen hat der Frau geholfen, für sich und ihren Sohn eine bescheidene Existenz aufzubauen. Da bewirken 20 Euro schon verdammt viel, wenn man überlegt, dass die Soldaten in Afghanistan am Tag 624 Euro kosten. Vielleicht geht es Ihnen ja auch um etwas ganz anderes. Vielleicht geht es nicht um demokratische Verhältnisse in Afghanistan, nicht um die Freundschaft zu den USA und nicht um einen Ausgleich für die Nichtteilnahme Deutschlands am Irakkrieg. Dass es noch einen anderen Grund geben muss, habe ich schon immer vermutet, aber bisher noch nicht so deutlich gelesen wie bei Herrn Michael Dauderstädt. Er schreibt in der „Financial Times Deutschland“ vom 13. Januar dieses Jahres: Europa braucht eine gemeinsame Rüstungspolitik statt der Gemeinsamen Agrarpolitik, also Kanonen statt Butter. Dauderstädt beklagt, dass im Jahre 2002 46 Milliarden Euro in der EU für die Landwirtschaft ausgegeben wurden. Dieses Geld würde er „besser für die Forschung, Entwicklung und Produktion von Rüstungsgütern einsetzen“. Wer ist Herr Dauderstädt? Ist er ein Rüstungslobbyist? Nein. Herr Dauderstädt ist Leiter des Referats „Internationale Politikanalyse“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die SPD-Strategen dieser Stiftung wollen also aus Butter Kanonen machen. Das hatten wir schon einmal und dies ist für Deutschland wirklich nicht gut ausgegangen. Wer den strategischen Ansatz „Kanonen statt Butter“ im Hinterkopf hat und der Verlängerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan zustimmt, der spielt nicht nur mit dem Leben unserer Soldaten, der leitet auch einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik ein. ({1}) Dazu, meine Damen und Herren von der SPD, fehlt Ihnen der Wählerauftrag. Die PDS lehnt die Verlängerung des Bundeswehrmandates ab. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Andreas Weigel, SPDFraktion.

Andreas Weigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003656, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine der bittersten Erkenntnisse der vergangenen drei Jahre: Terrorismus kann uns allen unmittelbar und in aller Brutalität begegnen. Der internationale Terrorismus stellt eine umfassende Bedrohung für unsere offene Gesellschaft dar. Methode terroristischer Gruppen ist es, eine möglichst hohe Zahl an Opfern zu hinterlassen. Sie wollen ökonomischen, sozialen und psychologischen Schaden anrichten. Es liegt in unserer Verantwortung, für den Schutz der eigenen Bevölkerung vor dieser Bedrohung zu sorgen und jeglicher Form von Gewalt und Intoleranz entgegenzutreten. ({0}) Bei der Abwehr terroristischer Bedrohungen gibt es allerdings keine Frontlinien und keine geographische Definition des Bedrohungsursprungs. Terrornetzwerke müssen über eine Infrastruktur verfügen, um auf Dauer handlungsfähig zu bleiben: von der Rekrutierung über Training und Planung bis zum Zugang zu Ressourcen. Diese Infrastruktur ist allerdings nicht an ein bestimmtes Land oder Regime gebunden. Der Bedrohung durch den Terrorismus kann nicht allein militärisch begegnet werden. Langfristig muss es unser Ziel sein, die Unterstützung des internationalen Terrorismus in der islamischen Welt zu untergraben. Insgesamt kommt es darauf an, den Zustrom von Geld und Kämpfern sowie die moralische Unterstützung der Terroristen zu unterbinden. Mehr als alles andere geht es darum, die Ursachen zu beseitigen, die dazu führen, dass es den Terrorgruppen so leicht fällt, immer wieder junge Menschen zu rekrutieren. Trotz alledem sind jetzt Maßnahmen zum Schutz vor der unmittelbaren terroristischen Bedrohung notwendig, durch die der Terror operativ und militärisch bekämpft werden kann. Wir müssen große Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass sich Anschläge wie in New York, Istanbul oder Madrid wiederholen können. Mit unserem Einsatz bei der Operation Enduring Freedom kommen wir unserer internationalen Verantwortung nach. ({1}) Die Anforderungen, die mit der Operation Enduring Freedom verbunden sind, bedeuten, dass wir die Bundeswehr gegen den globalen Terrorismus einsetzen müssen. Mit Streitkräften, die auf die Abwehr an klaren Frontlinien gegen einen regional definierbaren Gegner ausgerichtet sind, werden wir den neuen, asymmetrischen Bedrohungen militärisch nicht entgegentreten können. Deshalb ist es jetzt notwendig, die vom Verteidigungsminister eingeleitete Transformation der Bundeswehr konsequent fortzusetzen. Die Transformation der Bundeswehr ist die unmittelbare Antwort auf das neue Bedrohungsszenario. So wie der gemeinsame Kampf gegen internationale Terrorgruppen nach einer Neuausrichtung der Sicherheitspolitik verlangt, so verlangt er auch nach einer Neuausrichtung sicherheitspolitischer Instrumente. Einsätze gegen internationale Terrorgruppen sind zum tatsächlichen Aufgabenspektrum der Bundeswehr geworden. Derartige Einsätze erfordern leichte, sehr flexibel einsetzbare Kräfte für die Konfliktbewältigung. Das bedeutet zum Beispiel für die Teilstreitkraft Heer eine Orientierung weg von mechanisierten Heereskräften und hin zu kleineren und flexibleren Einheiten für schnelle Krisenreaktionseinsätze auch außerhalb Europas. Deshalb haben wir die Division Spezielle Operationen ins Leben gerufen. Mit der DSO ist ein Verband aus spezialisierten Kräften und Spezialkräften geschaffen worden, der den Anforderungen des Antiterrorkampfes entspricht. Innerhalb der DSO ist das Kommando Spezialkräfte besonders für den Einsatz gegen terroristische Infrastruktur ausgebildet. Die Soldaten der DSO werden ebenfalls darauf vorbereitet, vor Ort eingreifen zu können, um terroristische Bedrohungen unserer Einsatzkontingente abzuwenden. Das Heer wird so in die Lage versetzt, einen Beitrag zum Kampf gegen internationale Terrorgruppen zu leisten. Es geht aber auch darum, unsere Soldaten so auszurüsten und auszubilden, dass die Gefahren für die Soldaten im Einsatz so gering wie möglich sind. Die Fortsetzung der Operation Enduring Freedom für die Dauer der nächsten zwölf Monate ist zur operativen Bekämpfung terroristischer Gruppen erforderlich. Die Operation Enduring Freedom ist langfristig angelegt. Es geht darum, die Strukturen des Terrors zu zerschlagen, das heißt, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie ihre Unterstützung durch Sympathisanten zu erschweren. Den Terroristen werden Rückzugsgebiete verwehrt und Transportwege abgeschnitten. Wir leisten so auch einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen. ({2}) In den Ländern um das Horn von Afrika hat Enduring Freedom einen stabilisierenden Einfluss ausgeübt und den Bewegungsspielraum von Terroristen begrenzt. Deutschlands Beteiligung an Enduring Freedom resultiert sowohl aus der Verantwortung, die der Staat für die Sicherheit seiner Bürger trägt, als auch aus unserer Verpflichtung als Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Unser Auftrag ist es, die globalen Netzwerke des Terrors militärisch und politisch zu bekämpfen. Gegenüber den heutigen Bedrohungen für unser Land hilft die Politik der klassischen Landesverteidigung und Rüstungskontrolle nur noch begrenzt weiter. Im Kampf gegen terroristische Gruppen müssen wir die Initiative behalten. Wir müssen die Ursachen des Terrorismus mit langem Atem politisch bekämpfen. Wir müssen dem Terrorismus aber auch mit militärischen Mitteln begegnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Karl-Theodor von und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns neben den Soldaten auch einmal unseren zivilen Kräften Dank sagen, die ebenfalls unter Einsatz von Leib und Leben versuchen, dem Terror den Boden zu entziehen. Auch sie haben unseren Dank verdient und den sollten wir ihnen abstatten. ({0}) Die Operation Enduring Freedom wird seit dem Jahr 2001 von vielen weiteren Initiativen flankiert. Die meisten dieser Initiativen zielen auf den so genannten Breiteren Mittleren Osten. So glücklich oder unglücklich diese Formulierung gewählt ist: Der Bundesaußenminister hat auf der Sicherheitskonferenz in München im Februar dieses Jahres richtigerweise ein Konzept für diesen „Breiteren Mittleren Osten“ vorgeschlagen. Wir dürfen uns heute im Gesamtkontext der Verfolgung des internationalen Terrorismus allerdings auch einmal fragen, was aus diesem Konzept des Bundesaußenministers außer wolkigen Ankündigungen geworden ist und in welcher Form es in die anderen Initiativen eingebunden werden soll. Auch ist in unserem Land eine breite, tief gehende Diskussion über diese Themenkreise, über die Region des Nahen und Mittleren Ostens, über die einzelnen Staaten kaum erkennbar. Auf internationaler Ebene gibt es Initiativen: die drei Gipfel im Juni dieses Jahres, auch die Operation Enduring Freedom, zu der Deutschland, Herr Bundesminister Struck, wirklich einen gewichtigen und bemerkenswerten Beitrag leistet. Seit eineinhalb Jahren haben wir nun zwei große Sicherheitsstrategien: die National Security Strategy der Vereinigten Staaten und die Europäische Sicherheitsstrategie, die sich allerdings mehr gegenüberstehen denn tatsächlich komplementär miteinander verzahnt sind. ({1}) Das ist insgesamt ein Gestrüpp unterschiedlichster Ansätze, das durch lediglich nebulöse Äußerungen nicht wirklich durchdringbarer wird. Bei dem Anspruch, den sich der Bundesaußenminister im Februar dieses Jahres gesetzt hat, ist es an der Bundesregierung, diese unterschiedlichen Ansätze endlich einmal untereinander abzugleichen, komplementär auszugestalten und in Einklang zu bringen. ({2}) Im gestrigen „Stern“ lesen wir, in den nächsten Monaten solle ein strategischer Konsens hergestellt werden. Das ist schön. Dazu gehört aber in besonderem Maße, dass wir diesen strategischen Konsens mit unserem transatlantischen Partner wieder herstellen, das transatlantische Verhältnis als wesentlichen Pfeiler der Bekämpfung des internationalen Terrorismus wieder auf gesunde Füße stellen und es als einen gewichtigen Pfeiler unserer Arbeit betrachten. ({3}) Hier ist sicherlich auch seitens der Vereinigten Staaten einiges zu leisten. Aber gerade der Bundesinnenminister hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass es auch mit der Regierung Bush ein freundschaftliches und zielgerichtetes Miteinander geben kann. ({4}) Es wäre begrüßenswert, wenn sich diese Erkenntnis auch auf das eine oder andere Ressort übertragen ließe, insbesondere auf die Spitze des Bundesentwicklungshilfeministeriums. ({5}) Deutschland spielt eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, aber auch bei der notwendigen Ausgestaltung und Reform der hierfür relevanten Institutionen. Hier ist als entscheidender Faktor die weitere Funktionsfähigkeit der NATO zu nennen. Es muss allerdings im Interesse unseres Landes sein - der Kollege Schmidt und andere haben das angesprochen -, dass die zu Recht abgelehnte Toolbox-Mentalität einzelner auch in den Vereinigten Staaten nicht durch spiegelbildliches Verhalten auf unserer Seite noch verstärkt wird. Das kann in diesem Lande keiner wünschen; denn das wäre der falsche Ansatz. ({6}) Stichwort Vereinte Nationen: Die Debatte um einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat mag ja erbaulich sein, sie ist aber im Gesamtkontext, auch im Rahmen der Reform der Vereinten Nationen, zweitrangig. Sie hat eher das Potenzial, den Blick auf die Bedrohungs- und Problemlagen unserer Bevölkerung zu verschleiern denn den Blick auf die Reform der Vereinten Nationen zu verstärken. In diesem Zusammenhang dürfen wir auch fragen, wie es in unserem Land eigentlich um die Identifikation mit dem bestellt ist, was es zu schützen gilt. Die Anschläge auf Djerba und in Madrid am 11. März dieses Jahres sind mittlerweile fast aus den Köpfen unserer Bevölkerung verschwunden, ebenso das Bewusstsein, dass unterschiedliche Wertefundamente Ausgangs- und Zielpunkt des internationalen Terrorismus sind. So abstoßend das Werte- und Weltbild fundamentalistischer und islamistischer Gruppierungen ist und so gerne das Weltbild der Amerikaner belächelt wird, so sehr müssen wir uns fragen, ob nicht unser eigenes Weltbild auch unter Billigung relevanter Gruppierungen immer diffuser wird. Wenn wir glauben, dass wir uns am ehesten schützen können, indem wir den Bedrohungsszenarien möglichst konturlos begegnen, dann haben wir den Kampf gegen den internationalen Terrorismus bereits verloren. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa- che 15/4165 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streit- kräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4032 anzunehmen. Es wird namentliche Abstimmung verlangt. Zu dieser Abstimmung liegt mir eine persönliche Erklärung der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger vor.1) 1) Anlage 2 Präsident Wolfgang Thierse Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass die von Ihnen verwendeten Stimmkarten Ihren Namen tragen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze be- setzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Also schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Hans-Peter Uhl, Eckart von Klaeden, Matthias Sehling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Richterlich geäußerter Verdacht der Förderung der Schleuserkriminalität durch die Bundesregierung - Drucksachen 15/3032, 15/3670 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Eckart von Klaeden das Wort. Bitte schön.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Seit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition 1998 hat die Erteilung von Visa erheblich zugenommen. In den GUS-Staaten sind seit dem Jahr 2000 5 Millionen Visa erteilt worden, 900 000 davon alleine von der Deutschen Botschaft in Kiew. Aber nicht nur die Erteilung von Visa hat zugenommen, sondern in erschreckendem Maße auch der Missbrauch von Visa, die Visakriminalität. Von den deutschen Botschaften ausgestellte Visa wurden und werden zur massenhaften Einschleusung von Schwarzarbeitern und zur Einschleusung von Zwangsprostituierten verwandt, sie werden von Terrorverdächtigen und Terroristen zur Einreise genutzt. Diese Schleuserkriminalität findet nicht nur mit der Duldung des Auswärtigen Amtes statt, sondern sie wird vom Auswärtigen Amt auch noch gefördert. ({0}) Das hat das Landgericht Köln Anfang dieses Jahres in einem Gerichtsurteil gegen den Kopf einer Schleuser- bande festgestellt. Der Richter hat in dem Urteil im Hin- blick auf die Führung des Auswärtigen Amtes gesagt - ich zitiere -: 1) Seite 12798 D Das war ein kalter Putsch der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes gegen die bestehende Gesetzeslage. In der Urteilsbegründung wird weiter ausgeführt, dass der Kopf dieser Schleuserbande eigentlich zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren hätte verurteilt werden müssen. Weil die politische Führung des Auswärtigen Amtes es den Schleusern aber allzu leicht gemacht hat, hat man die Haftstrafe von acht auf fünf Jahre reduzieren müssen. Die rechtliche Grundlage dieser Visaerteilungen ist der so genannte Volmer-Erlass aus dem Jahre 2000, in dem sich der ausdrückliche Hinweis befindet, dass er auf Weisung von Bundesminister Fischer erlassen worden ist. ({1}) Das ist bei Erlassen unüblich. Mit diesem Hinweis auf die ministerielle Autorität sollten die Bedenken und der Widerspruch aus dem eigenen Apparat des Auswärtigen Amtes überwunden werden. ({2}) Durch diesen so genannten Volmer-Erlass, der nach dem früheren Staatsminister benannt ist, der hier vorne Platz genommen hat und auf dessen Mitarbeit die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode verzichtet, wurde die Beweislast bei der Visaerteilung umgekehrt. Das bewährte Prinzip, ein Visum zu verweigern, wenn Sicherheitsbedenken bestehen, wurde umgekehrt in das Prinzip einer falsch verstandenen Liberalität „in dubio pro libertate“, also im Zweifel für die Freiheit, wobei hier die so genannte Reisefreiheit gemeint ist. Das führte zum Missbrauch der Reisefreiheit; denn diese Reisefreiheit wurde und wird von Schleusern, Terroristen und Terrorverdächtigen ausgenutzt und sie ist von dem Landgericht Köln kritisiert worden. Was ist bisher alles geschehen? ({3}) Massenhaft Schwarzarbeiter sind in unser Land gekommen. In Portugal gibt es ganze Ortschaften, in denen russisch gesprochen wird und in denen die Mitteilungen an den Gaststätten auf Kyrillisch stehen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass all diese Menschen durch Besuchsvisa der deutschen Botschaften in den GUS-Staaten nach Portugal gekommen sind. Es gibt massenhaft Beschwerden über die Zustände an den deutschen Botschaften - aus Portugal, von der französischen und von der spanischen Grenzpolizei, von der Europäischen Union, aber auch vom Bundeskriminalamt und vom BGS. Mit deutschen Besuchsvisa sind nach den Informationen des russischen Geheimdienstes und des Bundeskriminalamtes auch zwei Tschetschenen eingereist, die an der Vorbereitung und Durchführung des Anschlags auf das Moskauer Musicaltheater beteiligt waren. Auch weitere terrorverdächtige Personen reisen ein. Auf die Ministervorlage für den Bundesminister des Innern werde ich nachher noch eingehen. Es gibt aber auch strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes wegen Bestechlichkeit, wegen uneidlicher Falschaussage in dem von mir angesprochenen Prozess und wegen der Teilnahme an Menschenhandel und Schleusung durch Unterlassung. Es geht uns hier nicht darum, die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes an den Pranger zu stellen. ({4}) Wir wollen die Strukturen verändert sehen, die die Rechtsbrüche, die in dem Urteil des Landesgerichts angesprochen worden sind, fördern. ({5}) In diesem Zusammenhang möchte ich einmal aus der Ministervorlage zitieren, die aus diesen Wochen stammt. Dort heißt es, dass in der letzten Zeit eine Zunahme von Unregelmäßigkeiten in der Visumerteilungspraxis des Auswärtigen Amtes zu verzeichnen sei, die Gefahren für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland berge. Diese Unregelmäßigkeiten beträfen die Missachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungserfordernisse der nationalen Sicherheitsbehörden. ({6}) Meine Damen und Herren, wenn Terrorverdächtige nach Deutschland einreisen und Terroristen von Deutschland aus agieren können, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu Anschlägen in Deutschland oder in anderen Schengen-Staaten kommt. Es ist gelebte Sicherheitspolitik, diese Einreise von Terrorverdächtigen und von Terroristen zu verhindern. ({7}) Schon heute gibt es Hinweise unserer eigenen Sicherheitsbehörden, dass sich Terrorgruppen zunehmend der Strukturen der Schleuserkriminalität bedienen, ({8}) um ihre Aktivisten in den Schengen-Raum und in andere Länder einzuschleusen. Wir müssen alles dafür tun, mögliche Anschläge in unserem eigenen Land und in anderen Schengen-Staaten zu verhindern. Wenn es zu einem Anschlag gekommen ist, ist es zu spät. Wir müssen auch alles dafür tun - ich denke jetzt an die Niederlande -, entsprechende rassistische Gegenreaktionen zu verhindern. Deutschland bleibt nur dann ein offenes, tolerantes und ausländerfreundliches Land, wenn wir alles tun, um illegale Einreise und Kriminalität zu unterbinden. ({9}) Wir wollen, dass Studenten und Wissenschaftler nach Deutschland kommen. Wir wollen auch, dass Touristen und Kaufleute nach Deutschland kommen. Aber wir wollen, dass diejenigen, die Frauenhandel betreiben, dass Drogen- und Waffenhändler sowie Terroristen gefälligst dort bleiben, wo sie sind. Wir haben mit der Kriminalität in unserem Land schon genug zu tun. ({10}) Wir wollen Sie mit unserer parlamentarischen Initiative dazu zwingen, ihre Visapolitik zu ändern und sie vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Wir wollen, dass bei der Visaerteilung endlich wieder die Sicherheit und die Interessen unseres eigenen Landes und nicht eine falsch verstandene Reisefreiheit im Vordergrund stehen. ({11}) Die Strukturen müssen geändert werden. Auch das, was Sie bisher an Maßnahmen unternommen haben, der so genannte Chrobog-Erlass, ist nicht geeignet, die Strukturen tatsächlich zu verändern. Das haben Sie selber gesagt; denn Sie erklären, dass an der grundsätzlichen Ausrichtung Ihrer Visapolitik nichts geändert werden soll. Seitdem wir angekündigt haben, einen Untersuchungsausschuss zu diesem Thema einzurichten, bekommen wir vermehrt Hinweise, Anrufe und Unterlagen und auch in der Öffentlichkeit mehren sich die Berichte, dass die Probleme an der Botschaft in Kiew leider keine Einzelfälle sind. Die Einreise der Terroristen, die den Anschlag auf das Musicaltheater vorbereitet haben, ist über Moskau erfolgt. Ebenso gibt es Missstände in Minsk, Colombo, Pristina, Algier ({12}) und auch Tirana. Die Fälle des Visamissbrauchs und der falschen Strukturen, die nicht angegangen werden, sind Legion. Wir wollen die Strukturen von Grund auf verändern, weil der Fisch vom Kopfe her stinkt. ({13}) Wir fordern Sie auf, Ihre Visapolitik zu ändern. Wir werden den Untersuchungsausschuss nutzen, die gemachten Fehler und die falschen Strukturen der Visapolitik aufzudecken und über die Öffentlichkeit dafür zu sorgen, dass diese Strukturen endlich geändert werden, damit die Sicherheit unseres Landes wieder im Vordergrund steht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, komme ich zurück zu Tagesordnungspunkt 19 und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA bekannt. Abgegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 550, mit Nein haben gestimmt 10, Enthaltungen keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Präsident Wolfgang Thierse Endgültiges Ergebnis Abgegebenen Stimmen: 560 davon ja: 550 nein: 10 Ja SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({0}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Sören Bartol Uwe Beckmeyer Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Marion Caspers-Merk Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Martina Eickhoff Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({5}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({6}) Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gisela Hilbrecht Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Iris Hoffmann ({7}) Frank Hofmann ({8}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Klaus-Werner Jonas Johannes Kahrs Dr. h.c. Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Dr. Heinz Köhler ({9}) Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({10}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Hilde Mattheis Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({11}) Christian Müller ({12}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({13}) Dietmar Nietan Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({14}) Michael Roth ({15}) Ortwin Runde Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({16}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Horst Schmidbauer ({17}) Ulla Schmidt ({18}) Silvia Schmidt ({19}) Wilhelm Schmidt ({20}) Heinz Schmitt ({21}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Brigitte Schulte ({22}) Reinhard Schultz ({23}) Swen Schulz ({24}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({25}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Petra Weis Reinhard Weis ({26}) Gunter Weißgerber Prof. Gert Weisskirchen ({27}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({28}) Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({29}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({30}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer Dr. Christoph Zöpel CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Artur Auernhammer Dietrich Austermann Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({31}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Prof. Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Präsident Wolfgang Thierse Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({32}) Cajus Julius Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Vera Dominke Thomas Dörflinger Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({33}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({34}) Dirk Fischer ({35}) Axel E. Fischer ({36}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({37}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Richard Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Volker Kauder Siegfried Kauder ({38}) Gerlinde Kaupa Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({39}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({40}) Helmut Lamp Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Walter Link ({41}) Dr. Klaus W. Lippold ({42}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Erwin Marschewski ({43}) Stephan Mayer ({44}) Dr. Conny Mayer ({45}) Dr. Martin Mayer ({46}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Laurenz Meyer ({47}) Doris Meyer ({48}) Maria Michalk Hans Michelbach Klaus Minkel Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Stefan Müller ({49}) Bernward Müller ({50}) Bernd Neumann ({51}) Henry Nitzsche Michaela Noll Claudia Nolte Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({52}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Dr. Klaus Rose Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({53}) Peter Rzepka Andreas Scheuer Georg Schirmbeck Angela Schmid Christian Schmidt ({54}) Andreas Schmidt ({55}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Matthias Sehling Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Christian von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({56}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({57}) Gerald Weiß ({58}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({59}) Volker Beck ({60}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Jutta Krüger-Jacob Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({61}) Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({62}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({63}) Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({64}) Werner Schulz ({65}) Petra Selg Ursula Sowa Silke Stokar von Neuforn Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Antje Vollmer Präsident Wolfgang Thierse Dr. Ludger Volmer Margareta Wolf ({66}) FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({67}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Helga Daub Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({68}) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({69}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Markus Löning Günther Friedrich Nolting ({70}) Eberhard Otto ({71}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Andreas Pinkwart Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Fraktionslose Abgeordnete Martin Hohmann Nein CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Wolfgang Börnsen ({72}) Manfred Carstens ({73}) Willy Wimmer ({74}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Winfried Hermann Hans-Christian Ströbele FDP Sabine LeutheusserSchnarrenberger Fraktionslose Abgeordnete Petra Pau ({75}) Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Detlef Dzembritzki, SPD-Fraktion.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Klaeden, nach Ihrer Wortwahl und den pauschalen Unterstellungen fällt es schwer, darauf ruhig zu reagieren. Ich werde mich dennoch darum bemühen. Es ist unbestreitbar das gute Recht und sicherlich auch die Pflicht der Opposition, festgestellte oder vermutete Verfehlungen ({0}) im Verantwortungsbereich des Regierungshandelns durch die Kontrollmittel der parlamentarischen Demokratie zu hinterfragen. Wenn Ihr Zwischenruf in diese Richtung ging, stimmen wir überein, Herr Kollege. ({1}) Im vorliegenden Fall geht es um die Vergabepraxis bei Kurzzeitvisa an bestimmten deutschen Auslandsvertretungen. Wir debattieren heute die Große Anfrage der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, die sich vordergründig mit diesem Sachverhalt befasst und mit dem reißerischen Titel „Richterlich geäußerter Verdacht der Förderung der Schleuserkriminalität durch die Bundesregierung“ daherkommt. ({2}) Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort von Anfang September dieses Jahres überzeugend dargelegt, dass diese von der Opposition erhobenen Vorwürfe und Unterstellungen nicht zutreffend sind. ({3}) In den Einzelfällen, in denen es in der Tat zu Unregelmäßigkeiten bei der Visaerteilung durch deutsche Auslandsvertretungen gekommen ist, ist das Auswärtige Amt diesen Vorwürfen nachgegangen, hat die Abläufe und Verfahrensweisen geändert und - wo erforderlich personalrechtliche Konsequenzen gezogen. Nun hat die Union angekündigt, einen Untersuchungsausschuss einrichten zu wollen, der nochmals den Fragen nachgehen soll, die in den Kleinen und Großen Anfragen sowie zahllosen schriftlichen und mündlichen Fragen bereits erschöpfend beantwortet wurden. Duktus und Wortwahl der Großen Anfrage machen dabei dem geneigten Leser deutlich, worum es der Union eigentlich geht und weshalb der Untersuchungsausschuss eingerichtet werden soll. Thematisch ist dieser Vorgang im Verantwortungsbereich des bei der Bevölkerung seit Jahren beliebtesten deutschen Politikers, des Außenministers Joschka Fischer, angesiedelt. Da Sie es nicht schaffen, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU, aufgrund eigener Meriten die Zuneigung der Menschen im Lande zu gewinnen, starten Sie eine destruktive Kampagne, von der Sie hoffen, es werde schon irgend etwas hängen bleiben. ({4}) Auch das ist das Recht der Opposition, so wie es unser Recht ist, diese Vorhaben als erbärmlich zu kennzeichnen. ({5}) Das Problem, um das es hier geht, das Spannungsfeld, das es zu beleuchten gilt, ist viel komplexer, als es die Anfrage vermuten lässt. Die Welt ist nicht so simpel, wie die Verfasser glauben. Ihrer Meinung nach wären die Deutschen sicher wie in Abrahams Schoß, wenn nur möglichst wenige Ausländer nach Deutschland reisen dürften. Dieses Weltbild richtet aber außenpolitischen Schaden an und das wissen auch die klugen Außenpolitiker der CDU, die sich in dieser Frage erstaunlich zurückhalten. ({6}) Die eifrigen Rechts- und Innenpolitiker der Opposition hingegen verzetteln sich in juristischen Detailfragen und verlieren sich in Spitzfindigkeiten. ({7}) Das ist ein weiterer Beweis, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, insbesondere von der CDU/CSU, dass Sie immer noch nicht zu einem konstruktiven Politikstil zurückgefunden haben. Mit Ihrem Verhalten werden Sie dem Problem, um das es hier geht, mit Sicherheit nicht gerecht. Worum geht es eigentlich? Deutschland ist ein weltoffenes und gastfreundliches Land, das kein Interesse daran hat, sich abzuschotten. Die Deutschen reisen selbst gern und oft. Als Gastgeber und Geschäftsleute haben wir natürlich ein großes Interesse am regelmäßigen persönlichen Austausch mit dem Ausland, sei es aus wirtschaftlichen, kulturellen, touristischen oder familiären Gründen. Wir sind stolz auf diese offene Gesellschaft, der wir uns alle verpflichtet fühlen. Gerade diese Offenheit macht die Attraktivität Deutschlands und auch der Länder der Europäischen Union aus. Die Länder, die der EU kürzlich beigetreten sind, wurden nicht nur durch die Hoffnung auf materielle Vorteile in diese EU gezogen, sondern auch durch die Anziehungskraft der freiheitlichen Gesellschaft motiviert. Diese Entwicklung ist ein Glücksfall für Europa, an den wir noch vor 15 Jahren nicht zu denken gewagt hätten. ({8}) Aber es gibt auch eine Kehrseite dieser glänzenden Medaille. Diese Offenheit birgt Risiken für die Sicherheit unseres Landes. Wir müssen den Bedürfnissen unserer inneren Sicherheit Rechnung tragen und den zahlreichen Versuchen der illegalen Einreise nach Deutschland und Europa effektiv begegnen. Diese Grundproblematik hat es schon immer gegeben. Nach dem 11. September 2001 ist jedoch das Sicherheitsbedürfnis auch in Europa größer geworden. Abstriche an der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande dürfen nicht gemacht werden. Missbrauch und Korruption im Zusammenhang mit der Erteilung von Visa müssen entschlossen bekämpft werden. Auch für diese Ziele steht die Bundesregierung mit ihrer Politik ein. ({9}) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Visastellen der deutschen Botschaften und Generalkonsulate arbeiten genau an dieser Schnittstelle, in dem Spannungsfeld von Sicherheitsbelangen auf der einen und dem Wunsch nach unbürokratischen Verfahren und Liberalität auf der anderen Seite. Für viele Ausländer sind die Visastellen der Botschaft oft der erste Berührungspunkt mit Deutschland. Den Visastellen wird immer wieder erklärt, dass ihre Arbeit für Deutschland im Gastland ganz besonders wichtig sei. Wer sich als Bundestagsabgeordneter die Visaabteilungen in den verschiedenen Ländern anschaut, ob in Warschau, in Washington oder in Ouagadougou, wird bestätigen können, dass die Arbeit dort unter schwierigen Bedingungen geleistet wird. Was haben die Visaabteilungen eigentlich zu leisten? Sie sind an das deutsche Ausländerrecht und das Schengener Durchführungsübereinkommen gebunden. Auch die Neuregelungen der Einreisebestimmungen im Zuwanderungsgesetz müssen berücksichtigt werden. Damit ist der rechtliche Rahmen abgesteckt, in dem die notwendigen Sicherheitsbelange berücksichtigt werden müssen. Auf der anderen Seite müssen neben den bereits erwähnten wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und touristischen Gründen natürlich auch die zwischenmenschlichen Aspekte und humanitären Verpflichtungen berücksichtigt werden, die im Visumverfahren eine Rolle spielen. Ebenso müssen wir unseren humanitären und politischen Ansprüchen gerecht werden und dürfen die Erteilung von Visa nicht als Instrument zur Abschottung missbrauchen. Dies kann nur gelingen, wenn Ermessensentscheidungen möglich sind und der Spielraum für eine angemessene Entscheidung gegeben ist. Die richtige Balance auch in der Abwägung humanitärer Aspekte zu finden ist eine Kunst, die schwieriger zu erlernen ist als das Abfragen beim Ausländerzentralregister. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Visastellen dürfen nun erleben, dass in den nächsten Wochen auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion ein Untersuchungsausschuss eingerichtet wird. Ein Untersuchungsausschuss wird zu denselben Fragen, die die Union bereits gestellt hat und die durch die Bundesregierung bereits beantwortet wurden, keine neuen Erkenntnisse hervorbringen. ({10}) Er wird aber, sehr geehrter Herr Grindel, die Bediensteten in den Visastellen pauschal unter Druck setzen und den Ermessensspielraum für sachgerechte Entscheidungen einschränken. ({11}) Ob es der Wirtschaftsflügel der CDU wohl begrüßen wird, wenn Konsularbeamte Angst haben, Bona-fideRegelungen für Geschäftsleute zu treffen? Diese Frage werden Sie beantworten müssen. ({12}) Wenn sich die Visumpolitik nach dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung der Weltoffenheit und Humanität verpflichtet gefühlt und dieser Grundsatz auch die Praxis der Ausländervertretungen geprägt hat, entspricht das einem modernen Deutschlandbild. Die internationale Lage hat allerdings inzwischen eine Reihe neuer Herausforderungen für unsere Sicherheit hervorgebracht - wir haben in der vorherigen Debatte gerade entsprechende Entscheidungen getroffen, liebe Kolleginnen und Kollegen - und ich gehe davon aus, dass wir alle bereit sind, uns diesen neuen Herausforderungen zu stellen. Selbstverständlich hat diese Situation auch Anlass gegeben, die Praxis immer wieder zu überprüfen. Die Visavergabepraxis ist der Kontinuität verpflichtet und sie ist immer wandlungsfähig geblieben. Das Auswärtige Amt hat vor kurzem mit einer neuen internen Regelung eine Anpassung vorgenommen. Das alles hat jedoch nichts mit Fällen organisierter Kriminalität und illegalen Schleusertums zu tun, mit denen sich deutsche Gerichte auseinander setzen müssen. Diese Machenschaften durch bessere europaweite Vernetzung im SchengenRaum zu bekämpfen, muss unser gemeinsames Ziel sein. ({13}) Sicherheit und Freiheit dürfen dabei nicht als Gegensatz verstanden werden, sondern müssen gemeinsame Aufgabe und Verpflichtung sein. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Burgbacher, FDPFraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Visastellen der deutschen Auslandsvertretungen sind die Außenposten der deutschen Sicherheitspolitik und schon deshalb ist das, worüber wir heute reden, sehr wichtig. Eines ist doch völlig unstrittig: Wenn es in diesem Bereich zu Unregelmäßigkeiten oder Affären kommt oder wenn politisch zweifelhafte Vorgaben bestehen, muss diesen nachgegangen werden. ({0}) Wenn es nur den Verdacht von Schleuserkriminalität, wie ihn größere deutsche Magazine melden, gibt, muss auch dem nachgegangen werden. ({1}) Deshalb sind wir den Kolleginnen und Kollegen der Union dankbar, dass sie das Thema, das wir auch im Innenausschuss sehr ausführlich erörtert haben, in die Öffentlichkeit gebracht haben. Es ist keine Frage: Individuelle Verfehlungen und Ansätze zu kriminellen Handlungen müssen verfolgt und geahndet werden. Natürlich muss aber auch gefragt werden: Stimmen die Voraussetzungen? Sind eigentlich die Vorgaben für die Beamten in den Konsulaten in Ordnung? ({2}) Dazu sage ich für die FDP-Fraktion: Der Volmer-Erlass war nicht in Ordnung. ({3}) - Ich habe Ihrer Großen Anfrage sehr wohl entnommen, Herr Koschyk, dass Sie in Bezug auf den Volmer-Erlass an jeder Stelle dazugeschrieben haben: auf ausdrückliche Weisung des Bundesaußenministers Joseph Fischer. Dass der Minister selber das zu verantworten hat, steht doch völlig außer Frage. ({4}) Der Grundsatz „in dubio pro libertate“ war wohl tatsächlich ein Einfallstor für Fehlentscheidungen. Man muss im Zusammenhang mit diesem Grundsatz berücksichtigen, wie der Begriff Libertas, also Freiheit, ausgelegt wird. ({5}) Freiheit heißt nicht, etwas beliebig zu erleichtern und auf Kontrolle zu verzichten. Freiheit bedeutet vielmehr, die Freiheit zu schützen. Das gilt auch für unsere Freiheit hier. Deshalb sind umfassende Kontrollen notwendig. Das steht außer Frage. Deshalb war der Volmer-Erlass falsch und es ist gut, dass er korrigiert wurde. ({6}) Als Reaktion auf die Kritik folgte der Chrobog-Erlass, der das Prinzip „in dubio pro libertate“ durch Leitlinien mit klaren Kriterien ersetzt. Das begrüßen wir ausdrücklich. Wir begrüßen, dass der Erlass geändert wurde und dass ein Visahandbuch angekündigt worden ist, mit dem den Verunsicherungen in den Auslandsvertretungen Einhalt geboten werden soll. Denn eines ist klar: Die Beamten leisten in diesen Vertretungen eine unwahrscheinlich schwere Arbeit. ({7}) Um diese Arbeit bewältigen zu können, müssen sie mit klaren Regelungen und Richtlinien ausgestattet sein. Andernfalls ist das nicht zu schaffen. Im Übrigen heißt es, dass das Auswärtige Amt Schwierigkeiten hat, Beamte zu finden, die bereit sind, sich in kritische Visastellen versetzen zu lassen. Dabei ist das deutsche Parlament gefordert, sich für die Erstellung von Kriterien und Richtlinien einzusetzen, die den Beamten vor Ort ihre Tätigkeit erleichtern. Angesichts des Chrobog-Erlasses und des angekündigten Handbuchs haben wir die Hoffnung, dass sich einiges ändert. Allerdings warne ich davor, in das Gegenteil zu verfallen. Wir alle wissen: Das ist ein hoch sensibler Bereich. Die Sicherheit im Inneren wie auch an den Grenzen ist häufig eine Gratwanderung. Niemand in diesem Parlament sollte in den Debatten versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern vorzugaukeln, eine Maßnahme alleine reiche aus, um alle Probleme zu lösen. ({8}) Schließlich wird es immer wieder kritische Fälle geben. Wir sollten uns dazu bekennen, dass eine offene und freie Gesellschaft auch gewisse Risiken in Kauf nehmen muss. Wenn eine freie Gesellschaft beginnt, einen Schutzzaun um alle Gefahrenherde zu ziehen, dann geht die Freiheit sehr schnell verloren. In diesem Konflikt leben wir. Seit dem 11. September und dem Beginn des weltweiten Terrorismus leben wir mit diesem Konflikt wesentlich bewusster. Dem müssen wir entgegensetzen, dass wir sehr viel stärker auf Weltoffenheit angewiesen sind als viele andere Länder. Wir sind das Land mit den stärksten wirtschaftlichen Verflechtungen. Deshalb braucht auch unsere Wirtschaft Offenheit. Wir wollen die kulturelle Offenheit und wir wollen den Tourismus in Deutschland fördern. Deshalb können wir nicht einfach die Grenzen abschotten und niemanden mehr hereinlassen. Das wäre für unser Land verheerend. In diesem Konflikt leben wir. In der heutigen Debatte geht es darum, wie wir diesen Konflikt auflösen können. Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse. Wir wollen nicht, dass - wie in den USA - die Grenzen zum Teil dichtgemacht werden, mit allen Folgen, die aus den USA bekannt sind. Zum Beispiel sind große Veranstaltungen und Kongresse inzwischen abgesagt worden. Die Unternehmen haben Schwierigkeiten, Mitarbeiter in die USA zu entsenden, weil diese kein Visum erhalten. Das kann keine Lösung sein. ({9}) Deshalb stellt sich die Frage: Was können wir tun? ({10}) Wir begrüßen den Chrobog-Erlass, aber wir wissen auch, dass sein Erfolg sehr stark davon abhängt, wie sich seine Umsetzung gestaltet. Damit sind wir bei der Besetzung unserer Konsulate. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Die FDP hatte im Haushaltsausschuss mehrfach den Antrag gestellt, die Rechts- und Visaabteilungen von globalen Stellenkürzungen auszunehmen. Dieser Antrag wurde zweimal abgelehnt. Erst im dritten Anlauf waren wir erfolgreich. Die erwähnten Abteilungen wurden von Stellenkürzungen ausgenommen. Das war sicherlich absolut notwendig; denn wenn man die Probleme betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass dort keine Stellenkürzungen vorgenommen werden dürfen. Anderenfalls könnten Sie so viel erlassen, wie Sie wollten, Sie könnten nichts durchsetzen. ({11}) Deshalb bitte ich Sie, für klare Personalstrukturen zu sorgen. Eventuell muss aber intern umgeschichtet werden, um die notwendige Stärke zu gewährleisten. Die Union hat vorgeschlagen, die Kompetenzen vom Auswärtigen Amt zum Bundesministerium des Innern zurückzuverlagern. Hierzu erkläre ich für meine Fraktion ganz klar: Das ist der falsche Weg. Wenn ich mich recht erinnere, war es Hans-Dietrich Genscher, der die Kompetenzen auf das Auswärtige Amt übertragen hat. Dort sind sie richtig angesiedelt; denn das Auswärtige Amt ist für die Botschaften und die Konsulate zuständig. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Sätze zu der geplanten Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sagen. Herr Dzembritzki, ich finde es mutig, zu sagen, ein Untersuchungsausschuss werde politische Dinge verhindern und damit sei vieles nicht mehr möglich. Das kann es nun wirklich nicht sein. Allerdings räume ich ein, dass wir im Augenblick noch skeptisch sind. Wenn überhaupt, hätte schon vor einem halben Jahr ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden müssen. Er kommt jetzt reichlich spät. Da Untersuchungsausschüsse die schärfste Waffe sind, die das Parlament hat, werden wir in der FDP-Bundestagsfraktion sorgsam darüber beraten, wie wir uns zu diesem Punkt verhalten werden. Tatsache ist zwar, dass aufgeklärt werden muss, dass die Strukturen verändert werden müssen und dass es eine vernünftige Personalausstattung geben muss. Aber es darf in diesem Zusammenhang nicht alles einbezogen und verschärft werden. Unser Land muss offen bleiben. Das Motto der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland lautet: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“ Wir müssen alles tun, dass wir ein weltoffenes, sympathisches und gastfreundliches Land bleiben. Daran lassen wir keinerlei Abstriche machen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Staatsministerin Kerstin Müller.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute zur Diskussion stehende Angelegenheit beschäftigt uns schon etwas länger. ({0}) Seit Februar dieses Jahres versuchen Sie, meine Damen und Herren von der Union, einen Skandal zu konstruieren. Ich sage aber sehr deutlich: Es gibt keinen Skandal. ({1}) Auch heute, neun Monate später und nach vielen hundert parlamentarischen Anfragen, ({2}) bestätigt sich, was von Anfang an galt: Die Bundesregierung betreibt eine verantwortungsvolle, sachgerechte und rechtsstaatliche Visumpolitik. Das haben wir in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage sehr ausführlich dargelegt. ({3}) Ihre Behauptung, zwischen dem Erlass des Auswärtigen Amtes zur Visumpraxis vom März 2000 und den kriminellen Machenschaften von Schleusern - diese beschäftigen inzwischen in der Tat Gerichte und Staatsanwälte - bestehe ein Zusammenhang, hat mit der Realität nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das ist reine Propaganda. ({4}) Der vorläufige Höhepunkt - ich sollte vielleicht besser sagen: Tiefpunkt - dieser Propaganda ist Ihr Beschluss zur Beantragung der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Ich kann Ihnen nur versichern, dass wir dem sehr gelassen entgegensehen, weil wir wissen, dass an Ihren Behauptungen einfach nichts dran ist. Die Art und Weise, wie die Opposition dieses Thema behandelt, zeigt nur, in welch verzweifelter Lage sie sich befindet. Angesichts des Meinungschaos in der Union in zentralen Politikbereichen wie zum Beispiel der Gesundheitspolitik - dort soll es ja bei Ihnen zu einer Einigung gekommen sein; wir werden sehen ({5}) suchen Sie in Ihrer Verzweiflung nach einem Thema, das von Ihrer schlechten Lage ablenken soll. Die „FAZ“ hat das in den letzten Tagen sehr schön dargestellt: Zunächst haben Sie versucht, einem Untersuchungsausschuss über die LKW-Maut das Wort zu reden. Das Thema Kosovo war auch einmal Gegenstand der Überlegungen. Jetzt haben Sie sich eines der am umfangreichsten dokumentierten Themen der gesamten Legislaturperiode ausgesucht. Was wollen Sie damit eigentlich noch aufklären? In unzähligen Fragerunden, an denen ich selbst beteiligt war, hat die Bundesregierung ganze Bände von Antworten übermittelt. Ich erwähne noch einmal die zuletzt gegebene 25-seitige Antwort auf die Große Anfrage, mit der wir auf Ihre Fragen noch einmal minutiös und im Detail geantwortet haben. Wollen Sie etwa behaupten, dass diese Bände von Antworten auf Ihre Fragen nicht ausreichen? ({6}) Dieses ganze Vorgehen zeugt nur von Ihrer Verzweiflung. Es zeigt, dass Ihnen ein Thema fehlt und dass Sie ablenken wollen. Außerdem zeigt es - das ist viel schlimmer - Ihre Scheinheiligkeit. ({7}) Mit den populistischen Parolen, die Bundesregierung öffne unser Land für Straftäter, Schwarzarbeiter, Prostituierte und Terroristen in rechtswidriger Weise, wollen Sie die Angst der Menschen einfach für Ihre Zwecke ausnutzen. ({8}) Sie meinen, dass sich das Thema Visumverfahren dafür eignet. Hier liegen Sie falsch. Sie vergessen dabei einen sehr wichtigen Punkt: Sie selbst und Abgeordnete aller Fraktionen sind es, die sich in unzähligen Einzelfragen an das Auswärtige Amt oder an die Auslandsvertretungen wenden und sich für eine „großzügigere Visumerteilung“ oder für eine „nachträgliche Abänderung einer Visumversagung“ einsetzen. ({9}) - Sie brauchen gar nicht so laut zu schreien. Ich habe eine der Listen mit. Dabei geht es ausschließlich um die Botschaft in Kiew. Die entsprechenden Anfragen kommen fast nur aus Ihrer Fraktion. ({10}) Diese ganze Liste ist lang und enthält viele prominente Namen. Ich kann Ihnen ein paar Beispiele geben, und zwar nur in Bezug auf die Botschaft in Kiew: der Abgeordnete Uhl, der Abgeordnete Austermann, der Abgeordnete Manfred Carstens, der Abgeordnete Hans Raidel, der werte Kollege Eduard Oswald, der Kollege Herr Hinsken, Frau Hasselfeldt, Frau Böhmer. Ich will diese Namen nicht alle aufzählen. Wir haben im Untersuchungsausschuss noch ausreichend Zeit dazu, uns mit diesen Anfragen zu beschäftigen; denn auch sie werden dann auf den Tisch des Hauses kommen. ({11}) Ich möchte hier nun noch folgendes Beispiel nennen: Der Herr Kollege Hinsken hat sich beim Bundesaußenminister Fischer sogar persönlich dafür eingesetzt, dass 45 indische Bäcker, die vom Generalkonsulat Chennai teilweise kein Visum zur Einreise nach Deutschland bekommen haben, doch noch ein solches Visum erhalten. ({12}) Generell ist das eigentlich in Ordnung. Wir haben das auch geprüft. Herr Hinsken hat dabei aber eine eigene Prüfung der Rückkehrbereitschaft angestellt und ist zu dem großartigen und unzweifelhaften Schluss gelangt, dass die Rückkehrbereitschaft in allen 45 Fällen vorliegt und dass die Visa daher entgegen der Auffassung des Generalkonsulats erteilt werden müssen. Derlei Fälle kann ich Ihnen viele nennen. ({13}) An dieser Stelle möchte ich auch Folgendes einmal deutlich sagen: Ich möchte hier die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Auslandsvertretungen, die unter großem Druck und zum Teil schwierigsten Lebensbedingungen ihren Dienst versehen, wirklich ausdrücklich in Schutz nehmen. ({14}) - Es lässt tief blicken, dass Sie sagen: „Um die geht es doch überhaupt nicht!“ Der Druck, dem sich die Bediensteten ausgesetzt sehen, kommt - das muss ich leider sagen - zum Teil auch von Ihnen. ({15}) Ich bedauere das sehr. Ich gebe Ihnen hier noch folgendes Beispiel, das mich selbst bei der Recherche ziemlich erschreckt hat. Die Deutsche Botschaft Kiew berichtete im September dieses Jahres, dass sich ein bayerischer Kollege per Telefon Einfluss auf die Entscheidung der Visastelle verschaffen wollte. Man kann lesen, dass der Kollege der Bediensteten offensichtlich damit drohte, sie „beruflich platt zu machen“, wenn sie das von ihm gewünschte Visum nicht erteilt. ({16}) - Das alles werden wir im Untersuchungsausschuss auf den Tisch legen. Das ist wirklich starker Tobak. Es steht im krassen Gegensatz zu dem, was man aus Bayern sonst zur Einreise von Ausländern hört. Das zeigt erneut, mit welcher Scheinheiligkeit Sie an die Sache herangehen. ({17}) Die deutsche Visumpolitik - das sind rund 3 Millionen Einzelfallentscheidungen, die unsere Bediensteten in fast 200 Botschaften und Generalkonsulaten pro Jahr zu treffen haben. Wenn es dabei in Einzelfällen zu Fehlern oder auch zu Missbrauch kommt - das ist nicht auszuschließen; das kann niemand ausschließen, auch nicht mit noch so guten Erlassen -, so gehen wir dem wie in der Vergangenheit immer und unverzüglich nach und sorgen, wenn nötig, für Abhilfe. Fakt ist: Die Fälle, mit denen wir es in der Vergangenheit zu tun hatten, über die wir uns in den Fragestunden auseinander gesetzt haben, sind nicht auf den besagten Erlass zurückzuführen, sondern allenfalls auf das so genannte Reisebüroverfahren und das Problem der Reiseschutzversicherungen. So wurde die 1995 unter der unionsgeführten Regierung, also Ihrer Regierung, eingeführte Anerkennung von Reiseschutzversicherungen nach den negativen Erfahrungen, die wir damit in Kiew hatten, zunächst dort und mittlerweile weltweit aufgehoben. Auch die Beantragung von Visa über Reisebüros findet heute in Kiew nicht mehr statt. ({18}) Bei den Verdachtsfällen in der Botschaft Tirana - dazu sind die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen - hat die Bundesregierung umgehend auf Missbrauchshinweise reagiert. All dies zeigt doch nur, in welch schwierigem Spannungsfeld - der Kollege Burgbacher von der FDP hat darauf hingewiesen; auch Sie wissen es; sonst gäbe es nicht so viele Anfragen von Ihnen - die Auslandsvertretungen und die Einzelentscheider bei der Erteilung eines Visums stehen. Einerseits hat unser Land ein Interesse an regelmäßigem Austausch - das teilen alle hier im Hause -, an kulturellem Austausch, an wirtschaftlichem Austausch - ich nenne erneut die Bäckerinnung aus Indien; ich finde es richtig, dass man in solchen Fällen noch einmal prüft und den Dingen nachgeht -, auch in humanitären Fällen. Auch dazu gibt es viele Briefe aus Ihren Fraktionen; die Fälle lasse ich dann gern sehr gründlich, auch persönlich, noch einmal überprüfen. ({19}) Wir wollen im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe mithalten. Alles das teilen wir doch miteinander. Andererseits ist völlig klar - auch darüber haben wir keinen Dissens -, dass wir den Sicherheitsbelangen der Bundesrepublik gerecht werden müssen. Deshalb durchläuft jeder Visumantrag ein ganz strenges Sicherheitsverfahren, ein ganz strenges Prüfverfahren. Es gibt die automatisierte Registeranfrage beim AZR und beim Schengen-Informationssystem, zwingende Versagungsgründe, die wir durch die Antiterrorgesetzgebung eingeführt haben, das strenge Prüfverfahren bei Personen aus so genannten Risikostaaten. Wenn da etwas vorliegt, ist das Visumverfahren sozusagen abgeschlossen; dann steigt man gar nicht mehr in die Abwägung ein. Das zeigt noch einmal Folgendes: Die rechtlichen Grundlagen für die Visumentscheidungen waren und sind das deutsche Ausländerrecht, das Schengen-Durchführungsabkommen und die Gemeinsame Konsularische Instruktion. Auch der von Ihnen immer wieder kritisierte Erlass vom März 2000 stellt bereits in der Einleitung fest, dass das die rechtlichen Grundlagen sind und dass sie verbindlich und unverrückbar sind. Das gilt auch für den neuen Erlass vom 26. Oktober dieses Jahres. Wir haben in diesem Runderlass bestehende Regelungen zur Visumvergabe zusammengefasst und an die veränderte Sicherheitslage angepasst - immerhin gab es den 11. September 2001; das wurde hier erwähnt -, wobei ich deutlich sage: Von einem Kurswechsel in unserer Visumpolitik kann keine Rede sein. ({20}) Bei diesem Erlass geht es darum, eine Gesamtschau der Erlasse aus den letzten Monaten zu haben, eine Anpassung vorzunehmen, ({21}) um insbesondere der gewachsenen Terrorismusbedrohung Rechnung zu tragen, nicht mehr und nicht weniger. ({22}) Ich sage zum Schluss noch einmal: Die zahlreichen Eingaben aus allen Fraktionen zeigen, dass allen hier dieses schwierige Spannungsfeld, in dem die Einzelentscheider stehen, bekannt ist. Jedem, der darüber nachdenkt und Visumpolitik gestaltet - die frühere Bundesregierung genauso wie unsere -, ist dieses Spannungsfeld bekannt und dementsprechend werden auch die Erlasse verfügt. Umso bedauerlicher finde ich es wirklich, dass sich die Unionsfraktion hier nun seit neun Monaten als Großinquisitor geriert und eine sachbezogene Diskussion in dieser Frage vermeidet. Nachdem das alles ausführlich behandelt wurde, wäre es jetzt an der Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({23}) dass Sie hier zur Politikfähigkeit in diesem Bereich zurückfinden, nicht zuletzt im Interesse der Bediensteten in unseren Visastellen, die wirklich unter einem großen Druck stehen. Da Sie sich für den Untersuchungsausschuss entschieden haben, habe ich leider den Eindruck, dass Sie einen anderen Weg gehen wollen. Ich bedauere das und ich würde mir wirklich eine Versachlichung der Auseinandersetzung wünschen - im Interesse aller und im Interesse der Bundesrepublik. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Hartmut Koschyk für die CDU/CSU. ({0})

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Frau Staatsministerin Müller, ich weiß nicht, was Anträge bzw. Briefe von Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen bzw. mein Brief an die Deutsche Botschaft in Kiew, in dem ich mich dafür eingesetzt habe, dass Angehörige einer kirchlichen Einrichtung aus der Ukraine zu einer Begegnungsveranstaltung mit einer kirchlichen Einrichtung in Deutschland kommen können, damit zu tun haben, dass wir Aufklärung darüber verlangen, warum durch die Visapolitik des Auswärtigen Amtes Terroristen, Schlepper, Kriminelle und Schleuser in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. ({1}) Ich möchte einmal wissen, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Noch etwas, Frau Staatsministerin: Es geht nicht um die Beamtinnen und Beamten, die in den Rechts- und Konsularabteilungen deutscher Botschaften und Konsulate eine schwierige Aufgabe zu leisten haben. Wir werden im Untersuchungsausschuss viele Briefe präsentieren können, in denen sich Beamtinnen und Beamte dagegen gewehrt haben, den Fischer/Volmer-Schleusererlass anzuwenden. Sie haben nämlich gesehen, dass dieser Erlass geltendes Recht verbiegt. ({2}) Diesen Beamten wollen wir Mut machen, indem wir dafür sorgen, dass man wieder zu einer rechtmäßigen Visapolitik in Deutschland zurückkehrt. ({3}) Frau Staatsministerin, Sie können auch durch noch so viel Reden und Vergießen von Tränen nicht davon ablenken, dass das Visaregime, für das Außenminister Fischer und Bundesinnenminister Schily die Verantwortung tragen, ein Sicherheitsrisiko für unser Land darstellt. ({4}) Auch der angebliche neue Erlass und die vorgebliche Einladerdatei sind ein Täuschungsversuch. Die Wahrheit ist: Es bleibt alles beim Alten. Keineswegs ist nämlich der Fischer/Volmer-Schleusererlass in sein Gegenteil verkehrt worden und die geplante Einladerdatei ist nichts mehr als ein botschaftsbezogener Zettelkasten. Hiermit kann man organisierter Schleuserkriminalität und terroristischen Bestrebungen nicht beikommen. Wir müssen der Bevölkerung sagen, dass bis heute nicht sichergestellt ist, dass keine Visa mehr an terrorverdächtige Ausländer erteilt werden. ({5}) Es geht in dieser Debatte um einen der größten ausländerrechtlichen Skandale in der Bundesrepublik Deutschland. ({6}) Dass Gerichte wie das Landgericht Köln in einem hinlänglich bekannten Strafurteil aus diesem Jahr feststellen müssen, die Bundesregierung habe in bisher unbekanntem Ausmaß Schleuserkriminalität gefördert, und dass der Richter in seiner Urteilsbegründung von einem - ich zitiere - „kaltem Putsch der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes gegen die bestehende Gesetzeslage“ gesprochen hat, ({7}) ist doch ein einmaliger Vorgang in der Bundesrepublik Deutschland. ({8}) Dass Sie die Chuzpe haben, dem deutschen Volk und dem Parlament vorzugaukeln, Sie hätten die Sicherheitsprobleme bei der Visaerteilung im Griff, ist bemerkenswert. Nach außen hin vielleicht noch gut geschminkt, aber nach innen löchrig wie ein Schweizer Käse - das ist das treffende Bild für den Zustand, wie die Visaerteilung im Auswärtigen Amt geregelt ist; und das wird vom Bundesinnenminister schweigend hingenommen. ({9}) Die Bundesregierung hat entgegen ihren Behauptungen nach dem 11. September 2001 weder ihre Visapolitik grundlegend geändert noch nach dem Kompromiss über das neue Zuwanderungsgesetz den Fischer/ Volmer-Erlass im Kern geändert. Nach dem 11. September 2001 galt dieser Erlass weiter. Auch die neuen Sicherheitsanforderungen des Zuwanderungsgesetzes haben Sie bis heute durch Erlasse politisch nicht umgesetzt. Es stellt doch eine Minimalregelung dar, Frau Staatsministerin Müller, wenn in einem neuen Erlass darauf hingewiesen wird, dass die Bearbeiter die geltende Rechtslage zu prüfen und anzuwenden haben. Was sollten die denn vorher tun, wenn Sie sie jetzt auffordern, zur geltenden Rechtslage zurückzukehren? ({10}) Der Fischer/Volmer-Erlass ist nicht in sein Gegenteil verkehrt worden, denn es fehlt die hierfür erforderliche Anweisung, dass bei Zweifeln an dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Visumerteilung der Visumantrag grundsätzlich abzulehnen ist. Stattdessen ist die grundlegende Zweifelsfallregelung aus dem Fischer/Volmer-Erlass beibehalten worden. Denn auch nach der neuen Erlasslage liegt eine „Interessengefährdung Deutschlands“ dann vor, „wenn die gegen eine Visumserteilung sprechenden Gründe die Argumente für das Erfüllen der Visumserteilungsvoraussetzungen überwiegen“. Das heißt, Sie haben ganz wenig geändert; denn früher hat es geheißen: „wesentlich überwiegen“. Daraus folgt: Bei Gleichgewichtigkeit der Argumente für und gegen die Visumerteilung kann auch heute noch das Visum erteilt werden. Das ist völlig unzureichend. ({11}) Wir brauchen ({12}) ein zielgenaues, nämlich Sicherheitsrisiken ausschaltendes, und zugleich auch den wirtschaftlichen Interessen unseres Landes Rechnung tragendes Visaregime. Es ist doch machbar - das ist eine Organisationsfrage -, dass der Wirtschaftsvertreter schnell und unbürokratisch in einem beschleunigten Verfahren sein Visum erhält, während der mutmaßliche Terrorist oder Kriminelle sorgfältig überprüft und das Visum bei Sicherheitsbedenken versagt wird. ({13}) Ich nenne Ihnen ein gutes Beispiel. Es gibt Länder mit einem großen Wirtschaftsinteresse an unserem Land, wo die Außenhandelskammern Vorinterviews mit Personen, die ein Visum möchten, führen, diese mit einer gewissen Vorüberprüfung aufbereiten und an das entsprechende deutsche Konsulat zu dessen Entlastung weiterleiten. Warum gibt es das nur in einzelnen Botschaften in Zusammenarbeit mit den Wirtschaftskammern? Sie hätten schon längst darauf kommen können, solchen guten Beispielen zu folgen und das flächendeckend durchzuführen. ({14}) Ich möchte Ihnen noch zwei weitere Vorschläge unterbreiten, wie man das Visaregime weltoffen und wirtschaftsfreundlich ausgestalten und zugleich Sicherheitsrisiken ausschalten kann. Wir meinen, dazu ist eine nationale Einlader- und Warndatei aller Ausländerbehörden mit Recherchebefugnissen der Sicherheitsbehörden dringend überfällig; wir haben sie schon lange vorgeschlagen. Eine Informationssammlung einer einzelnen Botschaft, wie Sie jetzt vorschlagen, reicht nicht aus. Eine zentrale Sammlung aller Daten und die Vernetzung der Informationen, zum Beispiel beim Bundesverwaltungsamt in Köln, ist notwendig. Hierzu haben wir im Rahmen der Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt. Der Bundesinnenminister hat sich darüber in den Verhandlungen anfangs noch lustig gemacht. Jetzt haben er und auch der Bundeskanzler uns zugesagt, dass, wenn nicht auf europäischer Ebene bis 2006 eine solche zentrale Einladerdatei eingerichtet wird, dies auf nationaler Ebene geschieht. Dann lassen Sie uns doch jetzt nicht mehr länger warten. Unser Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch. Wir bieten Ihnen konstruktive Verhandlungen an, um jetzt schnell diese zentrale Einlader- und Warndatei zu schaffen. ({15}) Herr Kollege Burgbacher, wir können darüber streiten, ob eine Übertragung der Zuständigkeit für Visafragen vom Auswärtigen Amt auf das Innenministerium der richtige Weg ist. Ich bin der Meinung, das Bundesministerium, das für die Sicherheitsbelange unseres LanHartmut Koschyk des zuständig ist, sollte auch eine Mitzuständigkeit bei Visafragen erhalten. Das ließe sich regeln. Dann ersparen wir „Spiegel“ und „Focus“ auch die - zurzeit wöchentlich nachzulesenden - langen Berichterstattungen über die Schriftwechsel zwischen Auswärtigem Amt und Innenministerium und die gegenseitigen Schuldzuweisungen, wer die Verantwortung für die größeren Pannen trägt. ({16}) Lassen Sie mich zum Schluss einen Gedanken äußern, bei dem Sie von Rot-Grün vermutlich gleich wieder an Orwell denken werden. Warum sollten wir nicht auch über ein System flächendeckender Ein- und Ausreisekontrollen nachdenken? Lieber Kollege Burgbacher, da muss man nicht immer die USA als Beispiel zitieren. Ich nenne zwei Länder mit großen Wirtschaftsinteressen - Korea und Japan -, in denen es ein lückenloses Ein- und Ausreisekontrollsystem gibt. ({17}) Für mich ist es kein Problem, bei der Einreise in eines dieser Länder eine Karte abzugeben, ({18}) wodurch meine Einreise und ebenso meine Ausreise in einem zentralen Computer vermerkt werden. Natürlich muss das Schengen-kompatibel gemacht werden. ({19}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie stellen doch einen Bundesinnenminister, der für spektakuläre Vorschläge auf europäischer Ebene bekannt ist. Ich nenne zum Beispiel seinen Vorschlag, Auffanglager für Flüchtlinge in Afrika zu errichten. ({20}) Vielleicht macht er einmal einen weniger spektakulären Vorschlag. Ich kann mir gut vorstellen, dass bei unseren Nachbarn in den Niederlanden, in Frankreich und in Spanien die Sensibilität für die Sicherheitserfordernisse bei der Ein- und Ausreise von Menschen gewachsen ist. Ich fordere Sie auf: Denken Sie über unsere zentrale Einladerdatei nach! Schaffen Sie sie schnell! Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie man ein europakompatibles, lückenloses Ein- und Ausreisesystem schaffen kann! Wir sind bereit, mit Ihnen über konstruktive Lösungen für die Zukunft zu sprechen. Aber eines muss in diesem Parlament noch geschehen: Ihre Versäumnisse in der Visapolitik der letzten Jahre, durch die sich katastrophale Auswirkungen auf die Sicherheit unseres Landes ergeben haben, müssen restlos aufgeklärt werden. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Neumann, SPD-Fraktion.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Hartmut Koschyk, Sie tun ja fast so, als ob es vor 1998 keinen Visamissbrauch gegeben hätte, als ob keine Kriminellen mit Visa eingereist wären, als ob es keine Schleuserbanden gegeben häte, als ob keine Prostituierten mit Touristenvisum hier eingereist wären. Aber auch das gab es vorher schon. Damit wird sich der Untersuchungsausschuss befassen können. Es ist die Aufgabe - ja sogar die Pflicht - des Parlaments, sich mit diesen Fragen zu befassen. Die Große Anfrage ist ein legitimes Mittel der Kontrolle der Regierung. So ist der CDU/CSU zuzugestehen, dass die enorme Steigerung der Anzahl der Visaerteilungen in einigen Botschaften Anlass zur Nachfrage bot, was die Ursachen und was die Folgen sind. Die Union hat also ihr gutes Recht wahrgenommen, nach Mängeln im Visaverfahren zu fragen. Sie hat Antworten auf eine Vielzahl von Anfragen mündlicher und schriftlicher Art im Parlament erhalten. ({0}) Frau Staatsministerin hat schon darauf hingewiesen; sie stand hier fast wöchentlich Rede und Antwort. Die Union hat befriedigende Antworten auf eine Kleine Anfrage und jetzt auf eine Große Anfrage bekommen. ({1}) - Im Gegensatz zu Ihnen lese ich die Protokolle. ({2}) - Ich war anwesend. Herr Grindel, ich wusste gar nicht, dass Sie so laut sein können. Früher waren Sie ein so seriöser und abwägender Mensch. ({3}) Bei weltweit rund 3 Millionen Visaanträgen - 2,5 Millionen Visa wurden erteilt -, die nach vorgegebenen Kriterien und nach den Gesetzen zu bearbeiten sind, ist es möglich, dass den Botschaften Fehler unterlaufen. Das dürfte jedermann einsichtig sein. Auch die CDU/CSU ist sicherlich zu der Erkenntnis gekommen, dass man diese Angelegenheiten nicht perfekt regeln kann. Wenn ein Mangel im Verfahren erkennbar ist, dann muss er behoben werden. Das ist geschehen, zuletzt durch den Erlass vom 26. Oktober dieses Jahres. Sie haben ihn schon zitiert. Die CDU/CSU hätte mit ihrer Großen Anfrage und der vorhergehenden Diskussion sehr viel sachlicher und Volker Neumann ({4}) ernsthafter deutlich machen können, um was es ihr ging. Aber sie hat versucht - das ergibt sich schon aus dem Stil der Anfrage -, den Vorgang zu skandalisieren und vor allen Dingen zu personifizieren. Sie konnte offensichtlich den auf das Gleis gesetzten Zug in Richtung Untersuchungsausschuss - Herr Klaeden, ich schaue Sie an - nicht mehr stoppen, obwohl inzwischen alle Antworten vorliegen und alle Maßnahmen getroffen worden sind, die geeignet sind, die erkennbaren Mängel zu beheben. ({5}) Dieser Versuch war leicht durchschaubar. Das Vorgehen ist bei Untersuchungsausschüssen immer gleich: Schritt eins. Der Vorgang muss mit dem Namen eines möglichst bekannten Politikers der Regierungsparteien verknüpft werden. Ludger Volmer reichte nicht aus, also musste Joschka Fischer her. ({6}) Niemand kann den Zusammenhang erkennen. Trotzdem verfahren Sie nach dem Motto „Augen zu und durch“; irgendetwas wird schon hängen bleiben. Schritt zwei. Journalisten werden mit vertraulichem Material aus den Ministerien versorgt. ({7}) Dabei handelt es sich übrigens um Material, das aus der Zeit der Meinungsbildung innerhalb der Regierung stammt. Hinweis an den Untersuchungsausschuss: Das entzieht sich seiner Untersuchungsmöglichkeit. ({8}) Anschließend werden die darauf basierenden Presseartikel zum Anlass genommen, das öffentliche Interesse zu belegen. Schritt drei. Möglichst viele Äußerungen der Bundesregierung werden in Kleinen und Großen Anfragen gesammelt. Schritt vier. Es wird versucht, Widersprüche herauszuarbeiten. Schritt fünf. Am Ende - das ist jedem klar - kommt dabei nichts heraus. Ihnen ist es offensichtlich gleichgültig, ob der Sachverhalt bereits aufgeklärt ist, die Mängel beseitigt und die Einzelfälle geklärt sind. Wen wollen Sie eigentlich treffen? Die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und in den Botschaften, die eine schwierige Arbeit leisten müssen? Es kann nicht oft genug wiederholt werden - Frau Müller hat schon darauf hingewiesen -, wie die Rechtslage bei der Visaerteilung aussieht - denn Sie wollen offensichtlich vermischen und vernebeln -: Erstens. Voraussetzung für ein dreimonatiges Besuchsvisum ohne Aufnahme der Erwerbstätigkeit sind der Besitz eines Passes, die Darlegung des Aufenthaltszwecks und der Umstände des Aufenthalts, eine hinreichende Krankenversicherung und genügend finanzielle Mittel für den Aufenthalt in Deutschland und die Rückreise sowie die Rückkehrbereitschaft. Die überwiegende Anzahl der Anträge wird bewilligt. Dennoch gibt es zwingende Gründe, Visa zu versagen, nämlich dann, wenn in einem der Schengener Staaten eine Einreiseverweigerung vorliegt, oder natürlich bei Hinweisen auf eine Verbindung zum internationalen Terrorismus. Dies wird im Schengener Informationssystem, im Ausländerzentralregister und in bestimmten Fällen zwingend durch Konsultationen zentraler Behörden abgefragt. Die Visabehörden haben sich an deutsches Ausländerrecht sowie an das Ausländergesetz und das Aufenthaltsgesetz zu halten. Zweitens. Das Visum ist in der Regel zu versagen - in dem vorliegenden Fall geht es darum -, wenn Ausweisungsgründe vorliegen bzw. falsche und unvollständige Angaben gemacht wurden, keine ausreichenden Mittel für den Aufenthalt oder die Rückreise nachgewiesen werden ({9}) oder keine Schengen-weit geltende Krankenversicherung vorliegt. Ein Versagungsgrund liegt auch vor, wenn die Überprüfung des Reisezwecks und unabhängig davon die Überprüfung der Rückkehrbereitschaft zu Zweifeln Anlass geben. Die Überprüfung der Rückkehrbereitschaft soll eine illegale Einwanderung oder eine Gefährdung der inneren Sicherheit verhindern. ({10}) Die Reiseschutzversicherung bzw. die Reiseschutzpässe wurden schon angesprochen. Diese bot der ADAC ab 1995 eine Zeit lang an. Dies war aber nur eine Voraussetzung für die Erteilung des Visums. Die Überprüfung des Reisezwecks und der Rückkehrbereitschaft musste dennoch erfolgen. Dieser Reiseschutzpass diente nur dazu, nachzuweisen, dass die für den Aufenthalt und die Rückreise notwendigen finanziellen Mittel vorhanden waren. Das heißt, er diente dazu, den Sozialhilfeträgern, die im Zweifelsfalle eingreifen mussten, die Möglichkeit zu geben, sich an die Versicherung zu halten. Das war ganz vernünftig; dadurch kamen die an ihr Geld. Weiterhin entfiel die verwaltungsaufwendige Bonitätsprüfung bei den Ausländerbehörden. Der Einladende brauchte keine individuelle Erklärung hinsichtlich der Übernahme der Kosten abzugeben. Das war eine vernünftige und logische Regelung. Man hat nicht daran gedacht - das hat sich erst später herausgestellt -, dass das missbraucht wird. Als man das herausbekommen hat, hat man sofort reagiert. ({11}) Volker Neumann ({12}) Das Reisebüroverfahren wurde gestoppt und die Reiseschutzversicherung galt schon ab 28. Juni 2002 nicht mehr als Ersatz für den Nachweis der notwendigen finanziellen Mittel. Das Ganze ist schon gestoppt worden, bevor die Ermittlungsbehörden, nämlich die Staatsanwaltschaft in Köln, eine Mitteilung an das Auswärtige Amt gegeben haben. Das Auswärtige Amt hat also viel früher reagiert, als es in Ihrer Großen Anfrage dargestellt wird. Entsprechende Maßnahmen waren getroffen. Sie kritisieren auch den Erlass vom 3. März 2000. Herr Koschyk hat gesagt, er habe Briefe bekommen, in denen stand, dass sich Beamte geweigert hätten, den Erlass anzuwenden. ({13}) - Sie kennen diese Briefe, nach denen sich Beamte geweigert haben, ({14}) den Erlass anzuerkennen. Wenn sie diesen Erlass nicht angewendet haben, haben sie gegen Gesetze verstoßen. Einer der ersten Sätze dieses Erlasses lautet: Das deutsche Ausländerrecht, das Schengener Durchführungsübereinkommen und die Gemeinsame Konsularische Instruktion der an den Schengen-Acquis gebundenen EU-Partner sind der rechtliche Rahmen für die Erteilung von Visa, an den sich die Auslandsvertretungen zu halten haben. ({15}) Das heißt, all das, was rechtlich vorgegeben war, musste angewandt werden. Wenn Beamte das nicht anwenden wollten, dann konnte allerdings das passieren, was offensichtlich auch in größerem Umfange passiert ist. ({16}) Das Neue an diesem Erlass vom 3. März 2000 war - das haben Sie nicht zu kritisieren -, dass schon bei der ersten Ablehnung eine Begründung gegeben werden musste. Beanstanden kann ich auch den bereits von Ihnen zitierten Satz nicht, der folgendermaßen lautet: Wenn nach pflichtgemäßer Abwägung und der Gesamtwürdigung des Einzelfalls die tatsächlichen Umstände, die für oder gegen eine Erteilung des Besuchervisums sprechen, sich die Waage halten, gilt: In dubio pro libertate. Also: Im Zweifel für die Reisefreiheit. Herr Burgbacher, ich verstehe nicht, was Sie daran zu kritisieren haben. ({17}) - Wenn Sie den Rednern aus Ihren eigenen Reihen zugehört haben, dann wird Ihnen aufgefallen sein, dass Herr Koschyk gesagt hat, dass das nicht geändert worden ist. Ich darf im Übrigen daran erinnern, dass dieser Erlass aus der Zeit vor dem 11. September 2001 stammt. ({18}) Die Terroranschläge haben dazu geführt, dass immer wieder überprüft wurde, ob Maßnahmen getroffen werden können, um die Schleuserkriminalität, vor allen Dingen aber auch die Einreise von Terroristen zu verhindern. ({19}) Wenn in Einzelfällen Missbrauch getrieben wurde, dann sind, wie wir von der Regierung gehört haben, entsprechende Maßnahmen ergriffen worden. ({20}) Ich hoffe, dass wir durch diese Debatte und durch Ihre parlamentarischen Initiativen nicht unser gemeinsames Ziel zerstören, ein weltoffenes Land zu bleiben ({21}) und gleichzeitig die berechtigten Sicherheitsinteressen unserer Bürgerinnen und Bürger zu wahren. Aber vielleicht wurde von den Initiatoren dieser Aktion nicht ausreichend bedacht, welche Wirkung diese Debatte auf das Ansehen Deutschlands in der Welt hat. ({22}) Wie wirkt eigentlich das, was Sie betreiben, auf einen Geschäftsmann, der ein Visum für Deutschland beantragen will? ({23}) Wie wirkt das auf einen Kulturschaffenden, der unser Land besuchen will? Wie wirkt das auf die Menschen in unserem Land, die ihre Verwandten, die im Ausland leben, einladen und dafür ein Besuchervisum brauchen? ({24}) Was sagt eigentlich die Tourismusindustrie dazu? Ich finde, wir haben ein großes Interesse an persönlichen Kontakten und am Austausch mit Angehörigen fremder Staaten, ({25}) sei es aus wirtschaftlichen, kulturellen oder rein persönlichen Gründen. Wir wollen - und ich füge hinzu: wir können - uns von der Welt nicht abschotten. Unser Wohlstand und unsere Gesellschaft leben vom internationalen Austausch. Die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in den Botschaften, insbesondere in den Volker Neumann ({26}) Rechts- und Konsularabteilungen, haben und verdienen unser Vertrauen. Sie sind für die Menschen, die ein Visum beantragen, die erste Begegnung mit Deutschland. Ich wünsche mir, dass sie auch weiterhin das Gefühl haben, dass Deutschland ein weltoffenes und gastfreundliches Land ist. ({27})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gleich nach ihrer Regierungsübernahme im Jahre 1998 wollten insbesondere die Grünen ihr sentimentales Verständnis von „Weltoffenheit“ und „Liberalität“ in staatlichem Handeln verankern. ({0}) Die neuen Herren im Auswärtigen Amt wollten konsequent das Ziel einer multikulturellen Zuwanderungsgesellschaft verfolgen, ({1}) und zwar auch mithilfe des Visarechts. Im März 2000 wurde dazu ein grundlegender, neuer Erlass verfügt, der später fälschlicherweise - ich weiß nicht, warum - „Volmer-Erlass“ genannt wurde, obwohl in ihm überhaupt keine Rede von Herrn Volmer ist. Im Gegenteil, in diesem Erlass wurde, was völlig untypisch ist, sogar die Autorität des Außenministers bemüht. So heißt es gleich zu Beginn: „Nach umfassender Überprüfung unserer Visapraxis hat Bundesminister Fischer Weisung erteilt ...“ ({2}) Als hätte Minister Fischer jemals die Visapraxis überprüft! Aber immerhin wird seine Autorität in diesem Erlass bemüht. Ich will nicht, wie es Kollege Neumann getan hat, einzelne Passagen des Erlasses analysieren; ({3}) denn es versteht ohnehin kein Mensch, was darin geschrieben wurde. Als Jurist versteht man allerdings relativ schnell, was gemeint ist: Es ist eine schlichte Beweislastumkehr. ({4}) Nicht der Ausländer muss beweisen, dass sein Vortrag richtig ist, sondern der Beamte muss ihm beweisen, ({5}) dass er lügt. ({6}) So etwas nennt man eine Beweislastumkehr. In der Folge sahen sich die Bediensteten der deutschen Visastellen vom Willen der Bundesregierung genötigt, möglichst viele Schengen-Visa zu erteilen. ({7}) Herr Kollege Neumann, die Anweisung an die Beamten, aus der Sie zitiert haben, kann man nur so verstehen: Beachtet, dass alle Bestimmungen des Ausländerrechts und des Schengen-Rechts eingehalten werden, aber überprüft sie ja nicht zu genau! ({8}) Das war die Weisung: Beachtet alle Paragraphen, aber prüft ja nicht zu viel. Journalisten vergleichen das damit, dass man eine Geschichte auch zu Tode recherchieren kann. Dann ist es nachher keine Geschichte mehr. ({9}) So ungefähr sollte mit den Visa umgegangen werden. ({10}) Das ist keine Führung von Beamten, sondern Irreführung von Beamten. ({11}) Diese politische Show erfolgte auf dem Rücken der Beamten und das ist unanständig. Kein Wunder, dass diese neue Weisung in den Visastellen vieler Botschaften, vor allen Dingen in den GUSStaaten, für größte Unruhe bei den Beamten gesorgt hat. Der Untersuchungsausschuss wird enthüllen, ({12}) wie diese Weisung aufgenommen wurde. Man hat natürlich genau gemerkt, was beabsichtigt war, und dass dies das Gegenteil der früheren Praxis ist. ({13}) Ich bin Herrn Burgbacher sehr dankbar, dass er sehr sachlich und nüchtern herausgearbeitet hat, was dieser Erlass bewirkt hat: Allein durch deutsche Visastellen in den GUS-Staaten wurden innerhalb von fünf Jahren über 4 Millionen Visa erteilt. ({14}) Auf dem Höhepunkt, Herr Winkler, wurden in Kiew Visa im Dreiminutentakt ausgestellt. Wer wird denn da noch von Prüfung reden und wer, Herr Neumann, noch von Einhaltung irgendwelcher Paragraphen? ({15}) - Natürlich sind auch wir der Meinung, dass Deutschland ein weltoffenes Land sein muss und selbst ein großes Interesse an der Einreise von Wissenschaftlern sowie an Wirtschaftsverkehr hat. Auch müssen Verwandtenbesuche möglich sein. Niemand will Deutschland abschotten, wir am allerwenigsten. ({16}) Hier wurde das Motto für die Fußball-WM zitiert: „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Wer wollte diesem Motto widersprechen? ({17}) - Doch Kriminelle, Herr Winkler, wollen wir weder als Gast und schon gar nicht als Freund haben. Das ist unsere Meinung. ({18}) Wir sollten ein waches Gespür für diese Situation haben. Aber es soll doch keiner glauben, dass bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 100 Euro Hunderttausende aus den GUS-Staaten wochenlang nach Deutschland kommen können, um hier meinetwegen die Burgen am Rhein zu besichtigen. Mit welchem Geld denn? Das ist doch völlig unwahrscheinlich. In Wahrheit kommt auf diesem Weg auch heute noch ein großer Teil mit deutschem Visum als Schwarzarbeiter, einige auch als Kriminelle. ({19}) Viele Frauen werden eingeschleust, um sie hier als Prostituierte auszubeuten. Ich habe gestern einmal einen Blick auf die Homepage der Grünen geworfen. Keine Partei tut sich auf dem Papier im Kampf gegen den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung der Frau mehr hervor als die Grünen. ({20}) Doch die verheerenden praktischen Auswirkungen gerade grüner Visapolitik kann man nirgends besser beobachten als hier in Berlin. ({21}) - Sie werden es auch bald wissen. Es gibt erschütternde Berichte - wir werden das im Untersuchungsausschuss noch hören - über die Art und Weise, wie diese Frauen, mit deutschen Visa ausgestattet, hier in Berlin behandelt werden. Das Landgericht Köln - es ist bereits zweimal zitiert worden; aber man kann es nicht oft genug sagen, weil es so ungeheuerlich ist - hat die Bundesregierung bei der Aburteilung eines Kriminellen mit in die Verantwortung genommen. Das ist unglaublich! In dem Gerichtsurteil heißt es: Das war ein kalter Putsch der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes gegen die bestehende Gesetzeslage. Herr Neumann, das kann man nicht oft genug wiederholen. ({22}) - Nein. Unwille, Unvermögen und ideologisch bedingte Blindheit von Rot-Grün haben erst den Nährboden bereitet, auf dem der Menschenhandel in Form der organisierten Kriminalität so richtig gedeihen konnte. ({23}) - Das ist keine Unverschämtheit, Herr Winkler. Das war gewiss unabgestimmt - etwas anderes habe ich nicht behauptet -, aber ebenso sicher war es vorhersehbar. Das behaupte ich: Es war unabgestimmt, aber vorhersehbar. Ich will die Geschichte mit dem Reiseschutzpass hier nicht noch einmal erwähnen. Es ist geradezu eine Posse, wie ein mittlerweile angeklagter Unternehmer unter Zuhilfenahme der Bundesdruckerei und hoher Beamter des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums, die als Schutzpatrone dienten, diese Reisepässe ausstellen konnte. Das ist unglaublich. Auch dies werden wir behandeln. Was sagt die Bundesregierung zu all diesen Missständen, zu denen wir Hunderte detaillierte Sachfragen gestellt und auf die wir sowohl hier als auch im Rahmen einer Großen und einer Kleinen Anfrage hingewiesen haben? Immer gibt es dieselbe arrogante und stereotype Antwort. Sie lautet, Deutschland müsse nun einmal ein weltoffenes Land sein. Das Spannungsverhältnis zwischen Reisefreiheit und der Bekämpfung illegaler Migration sei kompliziert. Da könnten auch einmal Fehler passieren. Dann kommt Herr Dzembritzki daher und sagt, unsere Fragen seien erschöpfend beantwortet worden. ({24}) Ich glaube nicht, dass Sie die Fragen und die Antworten jemals gelesen haben. Sonst hätten Sie zumindest rote Ohren bekommen. ({25}) Selbstverständlich gibt es ein Spannungsverhältnis; es ist geradezu banal, dies hier festzuhalten. Aber die Weisung, die Außenminister Fischer seinen Beamten erteilte, war nur so zu verstehen: weniger prüfen, mehr Visa ausstellen. Außenminister Fischer „himself“ führt zur jetzigen Lage ganz merkwürdige Erläuterungen an. Er sagt, der damalige Erlass sei Vergangenheit, die Zeiten hätten sich geändert. Es gebe zwei Zäsuren: den 11. September 2001 und den Zuwanderungskompromiss. Darauf müsse jetzt reagiert werden. Deshalb bräuchten wir einen neuen Erlass. Meine Damen und Herren, schauen Sie sich die Erlasse an und vergleichen Sie die mit dem, was nach dem 11. September passiert ist! Was hat der neue Erlass mit dem Zuwanderungskompromiss zu tun? Null Komma nichts. Bitte erzählen Sie nicht solche Märchen! Der Kenner spürt sofort, dass hier grober Unfug vorgetragen wird. ({26}) Gibt wenigstens der neue Erlass eine sachgerechte Antwort auf die zehntausendfachen Visamissbräuche? Die Antwort lautet: Nein. Durch geschickte Pressearbeit - Sie erinnern sich an den „Spiegel“-Artikel - soll suggeriert werden, dass jetzt eine ganz grundlegende Korrektur im Bereich der Visavergabe stattfindet. Es werde, so war die Botschaft des Auswärtigen Amtes, zu einem Paradigmenwechsel rot-grüner Ausländerpolitik kommen. ({27}) - Das stand im „Spiegel“. ({28}) Dieser Show wurde dummerweise gleich der Boden entzogen, weil der Kollege Volmer im Auswärtigen Ausschuss sofort gesagt hat, er könne mit dem neuen Erlass sehr gut leben. Nun kann ich mir nicht so recht vorstellen, dass Herr Volmer für einen Paradigmenwechsel rotgrüner Ausländerpolitik steht. Welche Nummer wollen Sie denn nun aufführen? ({29}) Ich komme zum Schluss. Wir sind für die Reisefreiheit. Ich finde es unanständig - die gute Frau Staatsministerin ist jetzt leider nicht da; wir werden das im Untersuchungsausschuss nachholen -, hier eine Liste der Namen von Abgeordneten vorzutragen, die nichts anderes getan haben als ihre Pflicht. Ich lege Wert darauf, dass alle meine Briefe in Sachen Visaerteilung veröffentlicht werden, damit man sieht: Wenn sich ein anständiger Bundestagsabgeordneter für einen anständigen Ausländer einsetzt, darf die Tatsache, dass dieser ein ihm rechtmäßig zustehendes Visum erhält, nicht kriminalisiert werden; denn es ist unsere Pflicht, dies zu tun. ({30}) Es ist unanständig, dieses Verhalten durch das Verlesen einer Liste von Namen in ein schlechtes Licht zu rücken. Meine Damen und Herren, die für die Erteilung der Visa zuständigen Beamten wurden irregeführt, statt geführt zu werden. Sie wurden in ihren Visastellen allein gelassen. Sie wurden dem Massenandrang von Migranten schutzlos ausgesetzt. Das ist es, was bereinigt werden muss. In Zukunft werden wir - das wird auch ein Beitrag des Untersuchungsausschusses sein - zu einer ausgewogenen Visapraxis finden. Der Untersuchungsausschuss wird zeigen, dass unsere Botschaften die Sicherheit Deutschlands nicht auf dem Altar einer völlig falsch verstandenen Weltoffenheit opfern müssen. ({31}) Danke schön. ({32})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich kurz auf den Beitrag von Herrn Uhl eingehen. Herr Uhl, ich spreche Sie an. Hören Sie mir bitte einmal zu? ({0}) - Er ist multitaskingfähig; das ist erstaunlich. - Sie haben die Grünen mehrmals angesprochen, deswegen will ich persönlich auf Sie eingehen. Ich kann ja verstehen, dass Sie, der Sie aus einem Wahlkreis kommen, in dem sich die Wahlergebnisse für die Grünen zwischen 30 und 40 Prozent bewegen und wo Sie mit der CSU seit vielen Jahren versuchen, auf einen grünen Zweig zu kommen, Ihre persönlichen Traumata hier im Bundestag bewältigen wollen und müssen. ({1}) Vielleicht kümmern Sie sich in München einmal ein bisschen mehr um Ihren Wahlkreis, damit die GrünenErgebnisse dort auf das von Ihnen gewünschte Maß zurückgehen. ({2}) Wenn Sie über Weltoffenheit reden, dann ist das, als wenn ein Blinder über Farbe redet; ({3}) das hört sich für mich grässlich an. Das ist nicht Weltoffenheit, das ist Abschottung: Der Ausländer wird unterteilt in kriminell und nicht kriminell. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass in deutschen Gefängnissen ganz überwiegend Deutsche sitzen? Das ist offensichtlich eine Erfahrung, die Sie noch nicht gemacht haben. ({4}) Diese Politik, diese Art der Auseinandersetzung - die Ausländer, die Herr Uhl einlädt, das sind die guten; die, die von anderen eingeladen werden, sind die schlechten - machen wir nicht mit. ({5}) Ich finde die Textexegese, die Sie hier betreiben, erstaunlich: Alle Redner der Union zitieren hier aus der Urteilsbegründung des Landgerichts Köln und jeder tut das mit zunehmendem Vergnügen. Dabei ist das doch richterliche Freiheit: Jedem Richter bleibt es unbenommen, seine Vermutungen ({6}) und seine Verdächtigungen in Bezug auf die Bundesregierung in die Urteilsbegründung aufzunehmen. Es steht doch im Titel Ihrer Anfrage: „Richterlich geäußerter Verdacht“. Diesen Verdacht werden Sie im Untersuchungsausschuss nicht erhärten können; davon bin ich fest überzeugt. ({7}) Die Bundesregierung hat in ihren Antworten auf Ihre vielen, meist gleich lautenden Fragen immer wieder sehr richtig erklärt: Es gibt Fälle, in denen Missbrauch aufgetreten ist - natürlich -, es gab kriminelle Handlungen. Aber selbstverständlich hat die Hausleitung des Auswärtigen Amtes alle entsprechenden Maßnahmen eingeleitet, sobald so etwas bekannt wurde. Sie versuchen hier immer zu insinuieren, dass die angeblich zu große Offenheit erst durch den Volmer-Erlass - oder Fischer/ Volmer-Erlass, ({8}) wie Sie ihn heute neu zu titulieren versuchen - bewirkt wurde. Das stimmt aber nicht und das wissen Sie auch selbst. ({9}) Herr Burgbacher, es war ja fast schon tragikomisch, wie Sie hier heute als Liberaler begründet haben, was Sie gegen Liberalität haben. ({10}) In dem Erlass steht zwar „in dubio pro libertate“. Das ist aber ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat, denn natürlich muss vorher die „securitate“ abgeprüft sein. ({11}) - Habe ich einen sprachlichen Lapsus begangen? ({12}) - Dann muss ich das vielleicht einmal dem Bundeskanzler sagen; der gibt ja immer seinen Kommentar zu solchen Sachen. Ich fand das jedenfalls sehr amüsant und ich freue mich, Herr Burgbacher, auf die Auseinandersetzung im Untersuchungsausschuss. Wir werden Sie immer wieder daran erinnern, was Sie hier vorgetragen haben: Liberale gegen Liberalität. ({13}) Ich möchte im Namen meiner Fraktion noch einmal ausdrücklich klarstellen - Sie können den Erlass nennen, wie Sie wollen -: Der Kollege Volmer, der hier auch anwesend ist, ist persönlich weder unmittelbar noch mittelbar mit irgendwelchen kriminellen Machenschaften in Verbindung zu bringen, die bei der Erteilung von Visa durch die deutschen Auslandsvertretungen aufgetreten sind. Er hat sich - ich sage das ganz deutlich - bei den Haushaltsberatungen sogar persönlich dafür eingesetzt, dass die Visa- und Konsularstellen von den linearen Kürzungen, die vorgenommen werden mussten, ausgenommen worden sind. Insofern kann ich diese Rufmordkampagne nur in aller gebotenen Schärfe zurückweisen. ({14}) Wir unterstützen die Bundesregierung und auch das Auswärtige Amt weiter darin, dem Anspruch der Weltoffenheit, den die Bundesrepublik Deutschland im Ausland anmelden kann, weiterhin gerecht zu werden. Natürlich muss das immer in Abwägung mit den sicherheitspolitischen Erfordernissen erfolgen. Herr Koschyk und Herr Hinsken - er ist nicht da -, ich gestehe Ihnen zu, dass die Konsularmitarbeiter auch in Zukunft erst prüfen müssen, ob Zweifelsfälle vorliegen. Auch wenn es indische Bäckermeister gibt, die kleine Brötchen backen, wird das Auswärtige Amt unbeeindruckt von Ihren schriftlichen Aufforderungen, Visa auszustellen, streng nach Recht und Gesetz prüfen. Das ist auch richtig so. ({15}) Sie sollten die billige Effekthascherei unterlassen, die Sie betreiben, seitdem Sie sich endlich dazu durchgerungen hatten, einen Untersuchungsausschuss zu diesem Thema und nicht etwa zur LKW-Maut, zur Spenden12816 affäre der Union oder Ähnlichem zu beantragen. Sie haben ja lange mit sich gerungen. Herr Koschyk hat noch am Tag nach dem Beschluss in einer Pressemitteilung gesagt, auch er sei inzwischen von der Notwendigkeit der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses überzeugt; schließlich seien neue Dinge aufgetaucht und Herr Schily sei einmal nicht in den Ausschuss gekommen. ({16}) Ich muss schon sagen: Das alles zeugt nicht davon, dass Sie besonders überzeugt davon sind, hier etwas herausfinden zu können. Wir sehen der Sache wirklich ruhig und gelassen entgegen. ({17}) - Es ist klar, dass Sie sich aufregen; schließlich waren es Herr Kanther und Herr Kinkel, die seinerzeit die Reisebüroregelung aufgenommen haben. ({18}) Das wird uns im Untersuchungsausschuss noch sehr beschäftigen müssen. Ich halte das für skandalös. Wir waren überzeugt davon, dass Ihnen keine Fehler unterlaufen sind, sodass wir das erst einmal haben weiterlaufen lassen. ({19}) Nachdem wir festgestellt hatten, dass die von Ihrer Bundesregierung eingeführte Regelung doch nicht so brillant war, wie Sie sich das damals gedacht haben, haben wir schnell die Notbremse gezogen und gesagt, dass das abgeschafft werden muss. Das haben wir auch getan. ({20}) Abschließend möchte ich ({21}) in etwas ruhigerer Form noch einmal, damit Sie es endlich verstehen, sagen, was passiert, wenn man ein Visum beantragt. Dann geschieht jedenfalls nicht das, was Sie sagen, dass nämlich der Beamte überlegt, ob er ein wenig weltoffen sein soll oder lieber ein bisschen auf Sicherheit bedacht. In dem Erlass steht angeblich, dass man weltoffen sein und den Terroristen reinlassen solle, wenn man Zweifel hat. - Ist das so? Glauben Sie das wirklich? ({22}) Alle, die das glauben, sollen einmal aufzeigen. - Sehen Sie: Es hat niemand aufgezeigt. ({23}) So wird es also nicht sein. Es wurde eben richtig vorgetragen: Erst dann, wenn sich die Gründe dafür und dagegen die Waage halten, kommt dieser goldene Satz, den ich mangels fremdsprachlicher Kenntnisse jetzt nicht mehr aussprechen will, zum Tragen. Deshalb wird es natürlich nicht dazu kommen, dass irgendwelche Terroristen ins Land kommen. Wie sollte sich da nämlich irgendetwas die Waage halten? Wenn klar ist, dass jemand Verbindungen zu Terroristen hat, dann kann er kein Visum erhalten. Das ist dann zwingend ausgeschlossen. Die Frau Staatsministerin hat die entsprechenden Gesetzesvorschriften schon erwähnt; ich will das nicht wiederholen. Deshalb führt die Taktik, die Sie hier anwenden, völlig ins Leere. Hat sich Mohammed Atta, einer der Terroristen des 11. September, ein Visum erschlichen? - Nein. Die Hamburger Ausländerbehörde war der Meinung, dass sein Aufenthalt völlig in Ordnung ist. Das ist eben so. Die Welt ist komplizierter, als Sie sich das vorstellen. ({24}) Die Terroristen kommen nicht und sagen: Hören Sie, ich möchte gerne ein Visum haben, weil ich in Deutschland ins Hintergrundfeld des internationalen Terrorismus aufrücken möchte. - So läuft es nicht. Wir werden weiterhin dafür sorgen, dass in diesem Land Sicherheit gewährleistet ist und gleichzeitig Liberalität, Weltoffenheit und Humanität gewahrt werden. Herzlichen Dank. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, muss ich darauf hinweisen, dass es in der Rede des Kollegen Uhl einen Zwischenruf des Kollegen Edathy gegeben hat, der, wenn er so im Protokoll festgehalten werden sollte, von mir gerügt werden müsste. ({0}) Nach § 119 unserer Geschäftsordnung besteht die Möglichkeit, Zwischenrufe, die in die Niederschrift aufgenommen worden sind, mit Zustimmung der Beteiligten zu streichen, wenn der amtierende Präsident dem zustimmt. ({1}) Für den Fall, dass diese Verständigung zwischen den Beteiligten erfolgt, würde ich meine Zustimmung zur Streichung erteilen. Nach meinem Eindruck ist dieser Zwischenruf nämlich ziemlich eindeutig neben der Sache. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 21 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines FünfVizepräsident Dr. Norbert Lammert undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes - Drucksache 15/3942 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Daniel Bahr ({3}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({4}) - Drucksache 15/751 ({5}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Daniel Bahr ({6}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 15/753 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({8}) - Drucksache 15/4205 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Uwe Küster Volker Beck ({9}) Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat in seine Beschlussempfehlung auch die von der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwürfe zur Änderung des Art. 48 Abs. 3 des Grundgesetzes sowie zur Änderung des Abgeordnetengesetzes einbezogen. Über diese beiden Gesetzentwürfe soll nun ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich sehe, darüber besteht Einverständnis. Dann ist das so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Wilhelm Schmidt für die SPDFraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß gar nicht, warum hier so viele die Flucht ergreifen. Es geht um unsere rechtliche Stellung. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn sich ein paar mehr Abgeordnete hier im Plenum einfänden, um über ihr Schicksal und ihre Versorgungsbezüge zu debattieren bzw. abzustimmen. Von dieser Stelle rufe ich dazu ausdrücklich auf. Wir befinden uns in der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs, den wir vor einigen Wochen eingebracht haben und von dem wir hoffen, dass er heute abgeschlossen werden kann. Mit diesem Gesetzentwurf steht die versprochene Umsetzung der wirkungsgleichen Änderung von Versorgungsbezügen für Abgeordnete ähnlich dem Rentenrecht und dem Beamtenversorgungsrecht auf der Tagesordnung. Das Entscheidende ist, dass wir damit unsere Zusage, die wir öffentlich gegeben haben, einlösen, nämlich hier ähnlich zu verfahren. Mit diesem Gesetz - das ist der Vorschlag der Koalition - werden wir eine Abschmelzung der Versorgungsansprüche herbeiführen, bei den Altversorgten um achtmal 0,5 Prozent. Das bedeutet in der Mindestversorgung eine Absenkung von 35 auf 31 Prozent und in der Höchstversorgung von 75 auf 71 Prozent. Damit liegen wir etwa in der Kategorie der Höchstversorgung im Beamtenbereich. Insofern dürfte die Anpassung adäquat sein. Wenn wir die Versorgungsansprüche um 4 Prozent abschmelzen, dann ist das eine angemessene Berücksichtigung der Neuregelungen im Rentenrecht. Zudem wird dies in einem viel kürzeren Zeitraum umgesetzt, als dies bei den Rentnerinnen und Rentnern und den Beamtenversorgungsempfängern geschieht. Die Änderung bedeutet also nicht unbedingt ein Übermaß, ist aber eine sehr konsequente Angleichung dessen, was wir auch den anderen Schichten in der Bevölkerung zumuten, die von Versorgungsbezügen oder Renten zu leben haben. ({0}) Der zweite Punkt ist: Wir passen auch die Witwenversorgung an. Sie wird von 60 auf 55 Prozent gekürzt. Das Wichtigste, das wir mit diesem Gesetz auf den Weg bringen, ist eine Anrechnungsvorschrift für private Einkünfte, die Versorgungsempfänger der Abgeordneten dann erzielen, wenn sie vor dem 65. Lebensjahr eine private Beschäftigung aufnehmen oder wahrnehmen. Das ist eine angemessene Gleichstellung mit den Beamtenversorgungsempfängern und den Rentnerinnen und Rentnern. Nach dem 65. Lebensjahr gilt diese Anrechnungsvorschrift natürlich nicht mehr. Aber in diesem Alter ist es doch relativ selten, dass man zusätzliche Beschäftigungen wahrnimmt. Aber wir finden schon, dass es eine Überversorgung bedeuten würde, wenn eine Anrechnung der privaten Einkünfte vor dem 65. Lebensjahr nicht stattfinden würde. Dies sollte man in angemessener Weise kommunizieren. Das hat - das will ich an dieser Stelle gleich sagen überhaupt nichts mit dem Kürzen einer „Luxusversorgung“ zu tun. Ich erkläre ausdrücklich für meine Fraktion, dass Abgeordnete dieses Hauses keine Luxusversorgung genießen. Sie erhalten vielmehr eine den Umständen angemessene Versorgung: Das Wahrnehmen von Amt und Mandat bedeutet nicht selten eine unglaubliche Belastung, vor allen Dingen deshalb - das muss man für die Öffentlichkeit hinzufügen -, weil Abgeordnete zu einem beträchtlichen Teil in ihrer beruflichen Weiterentwicklung gehemmt sind. Sie wissen das natürlich, wenn sie ihr Abgeordnetenmandat annehmen, Wilhelm Schmidt ({1}) nichtsdestotrotz ist das ein Fakt, welchen man gegen sich selbst gelten lassen muss. Daher kann man sie nicht mit normalen Rentnern oder normalen Beamtenversorgungsempfängern vergleichen, sondern man sollte eher den Vergleich zu leitenden Angestellten in der Wirtschaft oder leitenden Beamten im öffentlichen Dienst ziehen. ({2}) Diese Vergleichbarkeit ist es, die uns immer wieder beschäftigt. Deshalb gilt auch an einem solchen Tage, dass wir Abgeordnete uns nicht diskriminieren lassen wollen. Das gilt auch für die Abgeordneten in den Landtagen und im Europaparlament. Es geht nicht an, dass wir für die Bevölkerung tätig sind, uns aber von den üblichen Verdächtigen immer wieder vorgerechnet wird, dass wir entweder zu hohe Versorgungsbezüge oder zu hohe Diäten erhalten. Da wird ein falscher Maßstab angelegt. Ich fordere die kritische Öffentlichkeit ausdrücklich dazu auf, an dieser Stelle die Verhältnismäßigkeit bei der Bewertung des Abgeordnetenberufs - ein solcher ist es ja nun einmal - zu wahren und die Abgeordneten nicht ständig zu diskriminieren. ({3}) Ich will in diesem Zusammenhang hinzufügen, dass auch die Bundesregierung die notwendigen Konsequenzen gezogen hat. Seit Ende September liegt ein Gesetzentwurf vor - auch diesen werden wir hier behandeln -, mit dem die Bundesregierung eine angemessene Anhebung der Bezüge und eine Kürzung der Versorgungsbezüge vornehmen will. Hier wird deutlich, dass wir uns manchmal in einer Weise Selbstbeschränkungen auferlegen, die nicht in Ordnung sind. Wenn wir uns einmal vergegenwärtigen, was Unternehmenslenker in der freien Wirtschaft an Einkünften und Versorgungsregelungen für sich in Anspruch nehmen, dann ist nach meiner Einschätzung durchaus die Aufforderung angebracht, die Maßstäbe zurechtzurücken. Der Bundeskanzler hat weder ein Einkommen noch - erst recht nicht - eine Versorgung, die mit dem Einkommen bzw. der Versorgung des Chefs eines mittelständischen Unternehmens vergleichbar wäre. Das zeigt, dass in diesem Lande irgendetwas nicht ganz richtig ist. ({4}) Wir bringen dieses Gesetz heute - trotz der schwierigen Zeit - auf den Weg und kommen damit einem Gebot nach, welches man an uns im Prinzip zu Recht gerichtet hat. Aber wir werden künftig die Kirche im Dorf lassen. Wir werden kein Übermaß an Belastungen - zumindest was die Höhe der Versorgung betrifft - gelten lassen. Dennoch müssen wir, auch das will ich zusagen, noch eine grundsätzliche Überprüfung der Versorgungsregelungen vornehmen. Das wird eine weitere Aufgabe für das nächste Jahr sein. Damit komme ich zum Gesetzentwurf der FDP. Herr Kollege van Essen, dieser Gesetzentwurf birgt die Gefahr einer „Kommissionitis“. Das wollen wir nicht. Es hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass jedes Parlament, das sich eine Beratung von außen in Form einer Kommission gegönnt oder - je nachdem - zugemutet hat, auf die Nase gefallen ist. Ich will ausdrücklich dafür plädieren, uns gerade diese Regelung nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Wir sollten vielmehr selbstkritisch, aber auch mit einem gesunden Selbstbewusstsein daran gehen, unsere Abgeordnetenentschädigung und unsere Versorgung selbst zu überprüfen. Wenn wir das nicht mehr können, sind wir es nicht wert, in diesem Hause Entscheidungen darüber zu treffen. Lassen Sie also die Forderung nach einer Kommission! Wir machen das selber und kommen dann zu Ergebnissen, die wir selber vertreten können. Das ist ein Grund, warum wir den Gesetzentwurf von der FDP ablehnen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns diese Entscheidung treffen. Sie ist eine Entscheidung, die im Zuge der Entwicklung im Renten- und Beamtenversorgungsrecht notwendig ist. Auf der einen Seite ist die Regelung nicht übertrieben, auf der anderen Seite müssen wir uns nicht selbst verleugnen. Das werden wir im Verlauf unserer Arbeit immer wieder selbstbewusst erklären müssen. Dazu fordere ich uns alle gemeinsam auf. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Eckart von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Obwohl es möglich wäre, will ich jetzt nicht jeden persönlich begrüßen, um die Redezeit ausnutzen. Herr Kollege Schmidt, unsere Fraktion stimmt der Änderung des Abgeordnetengesetzes aus den von Ihnen beschriebenen Gründen zu. Ich will jetzt gar nicht alle Gründe, die Sie zutreffend beschrieben haben, wiederholen, aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, mit ein paar Worten auf das einzugehen, was Sie über die Abgeordnetenversorgung insgesamt gesagt haben. Das, was Sie grundsätzlich feststellen, trifft auf unsere Zustimmung, wie Sie am Applaus aus unserer Fraktion gesehen haben. Allerdings fehlen uns die Taten. Ihre Fraktion bzw. die Koalition hat leider nicht den Mut, den Reden und Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen und diese Prinzipien umzusetzen. Nach dem vom Verfassungsgericht festgesetzten Maßstab muss die Entschädigung der Abgeordneten eine ausreichende Existenzgrundlage für die Abgeordneten und ihre Familien sicherstellen. Die Versorgung muss auch der Bedeutung des Amtes Rechnung tragen und soll insbesondere die unabhängige Ausübung des Mandats gewährleisten. Wir haben als Maßstab - ich meine, dass dies ein angemessener Maßstab ist - das Gehalt eiEckart von Klaeden nes hauptamtlichen Oberbürgermeisters in einer Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern oder eines Abteilungsleiters in einem Ministerium festgelegt. Weil wir in dieser Legislaturperiode bisher nur eine Diätenerhöhung gehabt haben, hinken wir hinter diesem selbst gesetzten Maßstab nun mit nahezu 1 000 Euro pro Monat, exakt mit 947 Euro pro Monat, hinterher. Wenn wir für dieses Haus tatsächlich Personen mit politischem Talent und politischer Erfahrung finden wollen - irgendjemanden zu finden, ist kein Problem -, dürfen wir sie nicht deutlich schlechter bezahlen als Abteilungsleiter in Ministerien oder als hauptamtliche Oberbürgermeister einer nicht ganz so großen Stadt, wie ich es gerade geschildert habe. ({0}) Das ständige Aussetzen der Diätenerhöhungen, wie besonders Sie es praktizieren, wird dazu führen - bei allen politischen Problemen, die wir haben und die ich gar nicht bestreiten will -, dass wir nur noch sehr schwer geeignete Personen werden gewinnen können. Wenn sich diese Praxis weiter fortsetzt, entsteht ein weiteres Problem: Nicht die Tatsache, dass Nullrunden stattfinden, ist dann eine Besonderheit, sondern wenn tatsächlich einmal eine Diätenerhöhung stattfindet, wird diese als ein besonderes Ereignis in der Öffentlichkeit zur Kenntniss genommen. Das ist dann ja auch richtig, allerdings werden die Nullrunden vorher nicht zur Kenntnis genommen. Deshalb will ich hier noch mit einer anderen Tatsache aufwarten. Seit dem Jahr 1977 - seitdem gilt das Abgeordnetengesetz - lag die Erhöhung der Diäten prozentual zum Teil weit unter den durchschnittlichen Erhöhungen der Bezüge aller anderen Gehalts- oder Versorgungsempfänger im öffentlichen Dienst, der Beschäftigten in der freien Wirtschaft, aber auch der Rentner. Das ist eine Tatsache, die festzustellen ist. Auch die gesamten Kosten des Deutschen Bundestages pro Bürger und pro Jahr sind in den letzten Jahren gesunken, und zwar auf niedrigem Niveau. Im Jahr 2001 hat der gesamte Bundestag pro Bürger Kosten von 12,44 DM verursacht, im Jahr 2002 waren es 6,46 Euro und im Jahr 2003 noch 6,20 Euro. ({1}) - Der Kollege van Essen hat völlig Recht: Wir liegen damit ganz weit hinten unter allen Parlamenten. - Wenn man sich diese Zahlen vor Augen führt, kann man sicherlich den Abgeordneten keine Überversorgung vorwerfen. Auch der prozentuale Anteil des Einzelplans 02 am Gesamthaushalt des Bundes ist rückläufig. Er betrug 2001 0,215 Prozent, 2002 0,214 Prozent und 2003 noch 0,199 Prozent. Ich sage das hier ausdrücklich als Abgeordneter der Opposition, denn wenn wir uns für eine kontinuierliche maßvolle Diätenerhöhung einsetzen, die sich am Durchschnitt der allgemeinen Gehaltssteigerung orientiert und unseretwegen auch gern etwas dahinter zurückbleiben kann, wird uns immer gesagt, das beschließe sowieso die Regierungskoalition und die Opposition habe das nicht zu verantworten. Obwohl nur ein mittelbarer Zusammenhang besteht, sage ich das an dieser Stelle, damit uns dieser Vorwurf nicht gemacht werden kann. Ich darf Sie wirklich bitten, in unser aller Interesse und auch im Interesse der uns selbst durch die Verfassung gegebenen Verantwortung, den Mut aufzubringen und uns wenigstens das zuzugestehen, was wir auch den Beamtinnen und Beamten - wenn Sie diesen Vergleich ziehen wollen - bei den Gehaltssteigerungen zugestehen. Ich möchte noch etwas zu dem Vorschlag der FDP anmerken. Ob eine solche Sachverständigenkommission durchsetzbar sein wird und ob sie insbesondere den vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken - ich muss sie sicherlich nicht näher erläutern, Herr Kollege van Essen - gerecht werden kann, wird zu prüfen sein. Ich persönlich habe für einen solchen Vorschlag Sympathie, würde aber vorschlagen, dass anstelle einer Sachverständigenkommission der Bundespräsident selber die Höhe der Diäten und den Umfang der Versorgung für die Abgeordneten verbindlich festlegt. Er ist nicht nur von den Abgeordneten des Bundestages, sondern durch die Bundesversammlung und damit auch von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden und verfügt insofern über die notwendige demokratische Legitimation. ({2}) Die Entscheidung muss aber verbindlich sein. Zur Beratung könnte der Bundespräsident so viele Sachverständigenkommissionen heranziehen, wie er möchte. Abschließend würde ich es begrüßen, wenn Sie uns bei der Neugestaltung der Abgeordnetenversorgung mit einbeziehen würden. Über das geringe Maß der Einbeziehung bei der jetzt vorgesehenen Änderung des Abgeordnetengesetzes sind wir nicht erfreut; wir stimmen der Änderung aber zu. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wilhelm Schmidt hat schon ausführlich den Regelungsgehalt des Gesetzes dargestellt. Das muss ich insofern nicht wiederholen. Mit unserem Vorhaben wollen wir das, was wir den Menschen mit der Rentenreform und der Reform der Altersversorgung der Beamten zugemutet haben, wirkungsgleich auf die Abgeordnetenversorgung übertragen, ohne dass man unsere Versorgungssysteme sowie die Entschädigung und Rechtsstellung der Abgeordneten etwa mit den Beamten vergleichen oder gar gleichstellen könnte. Ich halte diesen Ansatz grundsätzlich für richtig; Volker Beck ({0}) denn alles andere würde von den Bürgerinnen und Bürgern draußen im Lande zu Recht nicht verstanden. Wenn wir aber das, was wir anderen zumuten, auf uns selber übertragen wollen, dann gilt das für Plus und Minus. Ich sehe ebenso wie mein Vorredner ein Problem darin, dass wir nicht an der Tarifentwicklung der aktiven Einkommen, aber am Abschmelzen der Altersversorgung partizipieren. Dabei gibt es eine gewisse Unwucht in der Entwicklung, die sich in den letzten Jahren kontinuierlich fortgesetzt hat. Ich glaube, dass wir als Parlament eine grundsätzliche Diskussion über die Bedeutung des Parlaments, die parlamentarische Demokratie und ihr Ansehen beginnen müssen. Wir werden wohl auch nicht darum herumkommen, uns mit den Ergebnissen der vor einigen Jahren durchgeführten Parlamentsreform unter der Fragestellung zu befassen, welche Ansprüche damit verbunden waren und was wir davon umgesetzt haben. Die gestrige Tagesordnung zum Beispiel, die eine Debatte bis 2 Uhr morgens vorsah, zeigt, dass einiges, was wir seinerzeit im Sinne einer stärkeren Konzentration der Debatten beabsichtigt hatten - das hat auch mit dem Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit und dem Verhältnis zwischen Plenums- und Ausschussarbeit sowie der öffentlichen Darstellung der Ausschussarbeit zu tun -, nicht umgesetzt worden ist. Damit sollten wir uns noch einmal befassen. ({1}) Denn das Ansehen des Parlaments steigt dann, wenn der Bevölkerung klar wird, was die Parlamentarier leisten, wie sie im politischen Streit immer wieder miteinander um die besten Lösungen ringen und dass im Parlament solide Arbeit geleistet wird, die aber nicht nur im Plenum, sondern auch in vielen Gremien stattfindet. Ich glaube, dass die Diskussion über die Bedeutung des Parlaments und seine Wertschätzung auch im Hinblick auf die Bezahlung der Abgeordneten miteinander verknüpft werden müssen. Wir sollten in dieser Debatte vereinbaren, uns dieses Projekt vorzunehmen und mit der Bevölkerung zu argumentieren, und wir sollten als weitere Perspektive auch die Angleichung an die aktiven Bezüge wieder angehen. Dass wir uns hinter dem Bundespräsidenten oder einer Kommission verstecken, halte ich für keine geeignete Lösung. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, wenn ich noch einen Satz zu Ende bringen darf. Entweder gelingt es uns als Parlament, die Bedeutung unserer Arbeit in der Öffentlichkeit darzustellen und für eine gewisse Wertschätzung der Demokratie zu werben, oder es gelingt uns nicht. ({0}) Wir können aber diese Aufgabe, diese Verantwortung nicht an andere delegieren. Wir müssen wieder den Mut zusammennehmen, aus diesen Feststellungen die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. ({1}) Herr Koppelin, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Beck, haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihre Rede zum Anlass nehme, darauf hinzuweisen, dass der Haushaltsausschuss heute Nacht bis 3 Uhr getagt hat?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe Verständnis dafür und schätze die außerordentlich gute Arbeit der Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss, die die Öffentlichkeit viel zu wenig wahrnimmt. Ich sage Ihnen Dank dafür, dass Sie die Haushaltsberatungen im Ausschuss zu einem guten Ergebnis geführt haben und uns die Möglichkeit geben, in der nächsten Sitzungswoche im Plenum über den Haushalt in allen Einzelheiten zu debattieren. Ich hoffe angesichts meiner Wertschätzung Ihrer Arbeit, dass auch die beiden Oppositionsfraktionen dem Haushalt zustimmen werden. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe mich dem Dank an die Haushälter für ihren Fleiß ausdrücklich an, wenngleich es ein bisschen leichtfertig ist, aus der Dauer der Beratung auf deren Qualität zu schließen. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist richtig. - Ich finde es schön, dass wir in diesem Hause zu einem neuen Stil kommen, der es den Rednern ermöglicht, mit dem Präsidenten in der Sache zu diskutieren. ({0}) Da wir hier über die Amtsführung des Präsidenten nicht debattieren, möchte ich nur sagen, dass ich das für eine schöne Form der Belebung der Auseinandersetzung halte. Zum Schluss: Wir sollten ernsthaft darüber reden, was wir in nächster Zeit in diesem Bereich tun werden. Ich fordere die FDP auf: Wir werden nur zu einem vernünftigen Ergebnis kommen, wenn wir bereit sind, gemeinsam Vorschläge einzubringen und durchzusetzen. Nur so können wir Perspektiven eröffnen. Wenn sich aber die FDP-Fraktion mit der Begründung vom Acker Volker Beck ({1}) machen will, man habe mit dieser Debatte nichts zu tun, weil man ja vorgeschlagen habe, eine Kommission einzuberufen, dann wird es schwierig sein, gemeinsam voranzukommen. In der Vergangenheit gab es immer wieder Kolleginnen und Kollegen von Ihrer Fraktion, die nach draußen den Eindruck erweckt haben, dass sie weniger für die Abgeordneten wollen, während sie uns intern hinter vorgehaltener Hand gesagt haben: Warum so? Anders käme doch viel mehr dabei heraus. Ich sage Ihnen: Das ist nicht ganz sauber und ehrlich. Eine solche Debatte wird uns im Ergebnis nicht weiterbringen. Schauen wir einmal, wie sich die Diskussion in den nächsten Wochen entwickeln wird. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jörg van Essen für die FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege von Klaeden hat dankenswerterweise schon darauf hingewiesen, dass der Deutsche Bundestag den deutschen Steuerzahler im Vergleich zu allen anderen Parlamenten sehr wenig Geld kostet. Vielleicht darf ich die heutige Debatte ebenfalls nutzen, um darauf hinzuweisen, dass der Bundestag - im Vergleich zu allen westlichen Demokratien - das zweitkleinste Parlament ist. Die meisten Parlamente insbesondere in der EU sind wesentlich größer, was das Verhältnis der Zahl der Abgeordneten zu der Zahl der vertretenen Bürger anbelangt. Auch in dieser Beziehung sind wir also zurückhaltend. Ich denke, dass die heutige Debatte Gelegenheit bieten muss, das in der Öffentlichkeit zu sagen. Wer die Debatte verfolgt hat, dem wird aufgefallen sein, wie oft die Redner den Vergleich mit der Beamtenbesoldung herangezogen haben. Genau diesen Ansatz hat die FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich nicht gewählt. ({0}) Wir, die Abgeordneten von der FDP, vergleichen uns auch bei der Altersversorgung nicht mit Beamten, obwohl sich unsere Altersversorgung im Augenblick leider noch an der der Beamten orientiert. Unser Vergleichsmaßstab sind vielmehr die freien Berufe; denn Freiberufler haben genauso wie Abgeordnete keine Vorgesetzten und sind nicht an Weisungen gebunden. Daher muss unser Blick, beispielsweise bei der Ausgestaltung der Altersversorgung, in diese Richtung gehen. ({1}) Wir werden den Gesetzentwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ablehnen, und zwar aus einem Grund, der nach meiner Auffassung sofort einleuchtet. Herr Kollege Schmidt, Sie haben nicht umsonst mit einer namentlichen Abstimmung gedroht. Sie hatten Befürchtungen, dass es auch in Ihrer Fraktion erhebliche Widerstände geben würde. ({2}) Diese wären durchaus berechtigt; denn die zukünftig geltenden Anrechnungsregelungen treffen insbesondere die Kolleginnen und Kollegen, die aus freien Berufen kommen. Wer wie ich Beamter ist, hat eine Rückkehrmöglichkeit. Wer sie nutzt, für den gelten die alten Rechte und der verdient genauso viel wie vorher, ergänzt um die Gehaltserhöhungen, die die Beamten im Gegensatz zu den Abgeordneten regelmäßig bekommen. Wer aber einen freien Beruf ausgeübt hat, hat erhebliche Probleme, in seinen Beruf, zum Beispiel in eine Kanzlei, zurückzukehren; deshalb halten wir die vorgesehene Anrechnungsregelung in Bezug auf eine angemessene Vertretung aller Berufe im Deutschen Bundestag für Gift. ({3}) Wir haben auch über den Vorschlag der FDP zu diskutieren. Ich bin froh, dass wir ihn wieder eingebracht haben. Sowohl der Kollege Schmidt als auch der Kollege Beck haben von dem Mut gesprochen, den wir brauchen, um bestimmte Regeln durchzusetzen. Nur: Dieser Mut verlässt uns doch regelmäßig. Herr Schmidt, Herr Beck, Sie hat der Mut doch erst gestern verlassen. ({4}) Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir müssen Mut haben, beispielsweise um die Arbeitsbedingungen von Abgeordneten zu verbessern. Ich darf mich schon wundern, dass Sie einen Tag später versuchen, das der Öffentlichkeit hier so zu verkaufen. ({5}) Ich denke, unser Ansatz ist der richtige. Die Kommission spricht uns von dem Vorwurf - wir hören ihn immer wieder, auch wenn er meiner Ansicht nach ungerechtfertigt ist - frei, dass diejenigen, die selbst über die Höhe ihres Einkommens bestimmen können, das nicht zu ihrem Nachteil tun. Eine Kommission, in der insbesondere die Kritiker, beispielsweise der Bund der Steuerzahler, vertreten sind, ist, wie ich finde, eine gute und vor allen Dingen objektive Einrichtung zur Bestimmung dessen, was die Abgeordneten verdienen sollen. ({6}) Den Maßstab hat das Bundesverfassungsgericht aufgestellt. Ich glaube, dass diese Angelegenheit beim Bundespräsidenten richtig aufgehoben ist. Wir bitten um Zustimmung zu diesem vernünftigen Neuanfang. Einige Parlamente haben ihn versucht, und das nicht nur mit einem negativen Ergebnis. Das Ergebnis war dann negativ, wenn die Parlamente - zum Beispiel das in Schleswig-Holstein - zunächst die Vorteile einer Neuregelung in Kraft gesetzt, die anderen Dinge aber vergessen haben. Das spricht nicht gegen unseren Vorschlag. Herr Kollege Schmidt, wir werden ihn weiter verfolgen, weil wir ihn für den einzigen wirklich nach vorne weisenden halten. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordneten- gesetzes auf Drucksache 15/3942. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache15/4205, diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Mir liegt hierzu eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung des Kollegen Rolf Schwanitz vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist mit der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Frak- tion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf ebenfalls mit der Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 48 Abs. 3, der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/751. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 15/4205, diesen Ge- setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da- mit ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt. Damit ent- fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- tung. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/753. Der Aus- schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nung empfiehlt unter Buchstabe c seiner mehrfach zitier- ten Beschlussempfehlung, auch diesen Gesetzentwurf 1) Anlage 3 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit der Mehrheit des Hauses gegen die FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt wiederum die weitere Beratung. Wir sind damit am Schluss dieses Tagesordnungspunktes. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Dr. Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wirtschaftliche Auswirkungen der EU-Stoffpolitik - Drucksachen 15/1394, 15/2806 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat Anfang dieses Jahres die Innovationsoffensive ins Leben gerufen und das Jahr 2004 zum Innovationsjahr erklärt. Was er damit meint, hat er in einem Interview der Wochenzeitung „Die Zeit“ deutlich gemacht; Sie können es auf der Internetseite der Bundesregierung nachlesen. In diesem Interview erklärt der Bundeskanzler, dass er die Bereitschaft zur Innovation dadurch wecken möchte, dass geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden. Eines sei klar, sagt Schröder laut der Meldung dazu: Neue Produkte entstehen nur, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, Risiken einzugehen. Zwischen der Herausbildung von Chancen und dem Abwägen von Risiken müsse die Balance neu definiert werden. „Manch einer ist da noch zu hasenfüßig“, sagte Schröder. An dieser Vorgabe des Bundeskanzlers muss sich die Politik der Bundesregierung messen lassen, auch im Bereich der Stoffpolitik und des Chemikalienrechts. Im Falle von REACH kann und darf sich die Bundesregierung nicht darauf ausruhen, dass es sich um eine europäische Gesetzgebung handelt. Im federführenden Wettbewerbsfähigkeitsrat sitzt auch ein deutscher Minister, der Einfluss auf die weitere Ausgestaltung von REACH nehmen könnte, wenn er das denn wollte. Nun hat die Bundesregierung aber nicht den Wirtschaftsminister, sondern den Umweltminister in den Wettbewerbsfähigkeitsrat geschickt, um über die neue EU-Chemikaliengesetzgebung zu verhandeln. Ob der Bundeskanzler seine Aussage auf Herrn Trittin bezogen wissen möchte, sei hier einmal dahingestellt; bekannt ist jedoch, dass der Umweltminister kein Freund einer sachMarie-Luise Dött orientierten Debatte ist, wenn es um die Einschätzung des Risikos von Stoffen geht. ({0}) - Das habe ich auch schon gemerkt. Sie flüchten alle von der Regierungsbank. Die diversen, vom Umweltminister mit öffentlichen Mitteln unterstützten öffentlichkeitswirksamen Aktionen gleichen eher einer Hexenjagd. Damit verunsichert die Regierung, die jetzt gerade nicht auf der Regierungsbank sitzt, die Bürger, ohne einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund für ihre Behauptungen zu haben. ({1}) - Jetzt kommt Herr Trittin. Dann sollte ich das vielleicht noch einmal sagen: Das Umweltministerium hat mit öffentlichen Mitteln Werbung publiziert und öffentlichkeitswirksame Aktionen gestartet, die meiner Meinung nach eher einer Hexenjagd gleichen. Damit verunsichern Sie, Herr Trittin, die Bürger, ohne einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund für Ihre Behauptungen zu haben. Nichtsdestotrotz ist es die Pflicht des Umweltministers, im EU-Ministerrat die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands bei den Beratungen des neuen Chemikalienrechts zu vertreten. Hierbei muss der Umweltminister auf die gravierenden Mängel des REACH-Systems aufmerksam machen und auf Änderungen drängen. Wie viele Verbesserungen notwendig sind, hat die Anhörung des Umweltausschusses am Anfang dieser Woche gezeigt. Beantragt wurde sie übrigens von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Regierungskoalition sah offensichtlich keinen Anlass, sich mit dieser einschneidenden Änderung des europäischen Rechts näher zu befassen. Alle zu der Anhörung eingeladenen Sachverständigen waren sich einig: Der EU-Verordnungsvorschlag in seiner jetzigen Form ist weder praktikabel noch liefert er einen erkennbaren Vorteil für Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz. Der Nutzen von REACH bleibt marginal, weil wir das Vollzugsdefizit, das wir im Bereich des Chemikalienrechts schon heute haben, nur noch vergrößern und weitere Datenfriedhöfe anlegen. In der Anhörung wurde deutlich, dass kleine Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern die neue REACH-Verordnung aus Praktikabilitätsgründen schlichtweg nicht anwenden können. Kleine Unternehmen verfügen eben nicht über die notwendigen Humanressourcen und die notwendigen Mittel, um das komplexe und komplizierte Registrierungsverfahren reibungslos zu durchlaufen. Das Vollzugsdefizit ist also vorprogrammiert. Ein weiteres Beispiel für weniger statt mehr Umweltschutz durch REACH stellt der Umgang mit Kühlwasseradditiven dar. Solche Additive werden nur in sehr geringen Mengen hergestellt. Die Kosten für die Registrierung sind aber so hoch, dass ein weiterer Vertrieb dieser Additive ökonomisch nicht mehr sinnvoll ist. Die Folge ist, dass diese Additive auf dem europäischen Markt nicht mehr erhältlich sind. Kühlwasser muss künftig ohne Additive eingesetzt werden und deswegen schon alle sechs Wochen statt nur alle sechs Monate, wie es bei Einsatz eines Additives der Fall wäre, gewechselt werden. REACH führt in diesem Bereich dazu, dass eine Ressourcen sparende Technik, in diesem Fall betrifft das die Ressource Wasser, aufgegeben werden muss und sich die Abwassermengen vervierfachen werden. REACH führt eben nicht zu mehr Umweltschutz, sondern zu weniger Wettbewerb und weniger Innovation. Innovationsmotor in Deutschland sind traditionell die kleinen und mittelgroßen Unternehmen. Der Mittelstand gibt die Impulse für neue Verwendungen von Stoffen. Auch dazu kann ich Ihnen ein ganz konkretes Beispiel nennen: In Wuppertal gibt es eine kleine Lackfabrik. Der Firmenleiter ist in Personalunion nicht nur Chef, sondern auch Laborleiter, Entwickler und Marketingleiter, also alles in einem. Zu seinen Beschäftigten gehören neben seiner Frau, wie das für mittelständische Unternehmen typisch ist, und seinem Sohn auch noch eine Hand voll ungelernter Kräfte. Dieser Mittelständler hat sich intensiv Gedanken darüber gemacht, wie er sein Produkt, einen Autolack, verbessern kann. Er hat entdeckt, dass sein Lack durch Zugabe eines Additives viel besser haftet. Um den Know-how-Schutz zu wahren, wollen wir hier einmal annehmen, bei dem Zusatz handele es sich um Spüli. Der Autohersteller, den der Mittelständler beliefert, ist begeistert, denn dadurch muss er nur noch zwei statt drei Schichten Lack auftragen. Das spart Material und ist umweltschonend. Nach dem REACH-System wird der Mittelständler für seine Cleverness und seine Innovation aber keinesfalls belohnt. Denn er darf das Spüli erst einmal nicht für seine Formulierung verwenden, weil der Spüli-Hersteller nicht weiß und nicht vorgesehen hat, dass sein Produkt für die Formulierung eines Lackes verwendet wird. Der Mittelständler muss nun selbst die aufwendige Registrierung durchführen. Das kostet nicht nur Geld, sondern auch wertvolle Zeit, die das Unternehmen für die Entwicklung weiterer Produkte verliert. Wenn es für den Lack nur einen eng begrenzten Einsatzbereich gibt, werden die Kosten im Verhältnis dazu zu hoch sein, sodass der Mittelständler im Zweifel davon absehen wird, seine Innovation auf den Markt zu bringen. An diesem Beispiel werden die Auswirkungen von REACH auf die kleinen Unternehmen der Chemiebranchen, aber auch der weiterverarbeitenden Branchen mehr als deutlich. Spezialprodukte und Formulierungen für Nischenanwendungen werden aus wirtschaftlichen Gründen vom europäischen Markt verschwinden. Die Vielfalt der Produkte wird damit in Zukunft abnehmen. Bisher klafft zwischen Anspruch der Bundesregierung und Wirklichkeit im Innovationsjahr 2004 eine erhebliche Lücke. Im anstehenden europäischen Gesetzgebungsverfahren zu REACH öffnet sich aber auch ein Handlungsfenster, Herr Trittin, um in Zukunft Innovationen am Standort Deutschland weiterhin zu ermöglichen und zu forcieren. REACH ist verbesserungswürdig und kann besser gemacht werden. Eine Vereinfachung der Registrierung, die Abkehr von der Mengenphilosophie hin zu einem gefährdungs- und expositionsbasierten Ansatz und die Stärkung der Agenturkompetenzen sind nur einige Anhaltspunkte dafür. Wenn die Bundesregierung ihre Innovationsoffensive also nach wie vor ernst nimmt, so ist sie aufgefordert, sich auf europäischer Ebene konstruktiv dafür einzusetzen, dass REACH in den entscheidenden Punkten verbessert wird. Dazu, Herr Trittin, fordere ich Sie dringend auf. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Heinz Schmitt für die SPD-Fraktion.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum dritten Mal in diesem Jahr sprechen wir heute über die Neuordnung der europäischen Chemiepolitik. Heute geht es um eine Anfrage der CDU/CSU zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der EU-Stoffpolitik. Dies zeigt einerseits die große Bedeutung dieses europäischen Gesetzesvorhabens. Es zeigt andererseits aber auch, dass wir uns gegenwärtig in einer wichtigen Phase des Gesetzgebungsverfahrens befinden. Es geht im Augenblick darum, im Rahmen des Verordnungsentwurfs der Europäischen Kommission die praktische Umsetzung der neuen Chemiepolitik voranzubringen. Dies war auch sozusagen der rote Faden der Expertenanhörung zu REACH - Frau Dött, wir waren beide dort -, die vor wenigen Tagen im Bundestag stattfand. Das Kürzel REACH - ich sage es noch einmal für die Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht täglich damit befassen - steht dafür, dass die europäische Chemiepolitik neu geordnet werden soll. Wir wollen mit REACH chemische Stoffe auf dem europäischen Markt, abhängig von der Produktionsmenge und vom Gefährdungspotenzial, registrieren, bewerten und zulassen. Insgesamt soll durch REACH ein sichererer und verbesserter Umgang mit Chemikalien erreicht werden. Wenn wir also heute über REACH reden, möchte ich in erster Linie an die aktuellen Aussagen der Sachverständigen in der erwähnten Anhörung von dieser Woche anknüpfen und mich weniger auf die Anfrage Ihrer Fraktion, Frau Dött, beziehen. Das hat zwei Gründe. Zum einen basiert Ihre Anfrage mal wieder auf überholten Fakten, die längst nicht mehr aktuell sind. Wir reden nicht mehr über den Konsultationsentwurf zur neuen europäischen Chemieverordnung, der Ihrer Anfrage noch zugrunde lag. Aktueller Stand ist der Kommissionsentwurf vom 29. Oktober vergangenen Jahres. Zu diesem Sachverhalt hat die Bundesregierung eine umfassende Antwort gegeben. Deshalb möchte ich mich nicht weiter dazu äußern. Zum anderen ist festzustellen, dass in Ihren Fragen hinsichtlich der neuen EU-Stoffpolitik Ihre Schwerpunkte, auch die der Umweltpolitiker, zum Ausdruck kommen. Sie stellen 35 Fragen an die Bundesregierung. Selbst bei wohlwollender Interpretation konnte man daraus nicht mehr als drei Fragen herauslesen, die sich mit Umweltschutz und Verbraucherschutz beschäftigen. Die restlichen Fragen beschäftigen sich nur mit Wirtschaftlichkeit, mit Gewinn- und Verlustrechnung. Aber unser Anspruch sollte doch sein, dass wir uns mehr mit dem Thema Umweltschutz beschäftigen. ({0}) Sie können das in Ihren Fragen noch einmal nachlesen. Dort wird nur ein geringes Interesse daran deutlich, was das neue System für den Gesundheitsschutz, die Verbraucher oder die Arbeitnehmer bringt. Diese Tendenz findet sich auch in Ihrem Fragenkatalog zur Anhörung am vergangenen Montag wieder. Umweltschutz findet für Sie anscheinend irgendwo unter „ferner liefen“ statt. ({1}) Bei all Ihren Initiativen gewinne ich immer mehr den Eindruck, dass es Ihnen darum geht, Argumente zu sammeln, warum REACH nicht machbar ist. Dies ist meiner Meinung nach viel zu kurz gesprungen. Alle, die sich mit REACH beschäftigen, haben natürlich auch die Kritikpunkte der chemischen Industrie und deren Anliegen aufgenommen. Es geht darum, REACH effizient weiterzuentwickeln. Aber wir sind nicht nur den Finanzvorständen der chemischen Industrie Rechenschaft schuldig. Wir sollten einen höheren Anspruch an uns stellen. Wir tragen insbesondere die Verantwortung für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land. Wir wollen, dass die Beschäftigten in der chemischen Industrie, so gut es geht, vor Gesundheitsschäden geschützt werden. ({2}) Erst wenn wir alle Ziele von REACH im Auge haben, werden wir in Europa eine adäquate Stoffpolitik hinbekommen. Erst dann können wir den untragbaren Zustand überwinden, dass sich Tausende von Stoffen auf dem Markt befinden, über deren Gefährdungspotenzial wir einfach nicht genügend wissen. Ich habe bei der Anhörung in dieser Woche erfreut festgestellt, dass sich alle Sachverständigen, egal woher sie kamen, nach wie vor zu den Zielen der neuen europäischen Chemiepolitik bekennen. Das gilt für die Vertreter der Chemieindustrie, des DIHK und des Chemiehandels. Eine der wichtigsten Aussagen der Anhörung bestand darin, dass REACH einen geeigneten Rahmen bietet, um den Umgang mit Chemikalien in Europa neu zu regeln. Es wurde zum Beispiel auch darauf hingewiesen, dass die Europäische Kommission an einigen Stellen der Verordnung bewusst offen gelassen hat, wie die Vorgaben unter Einbeziehung der betroffenen Unternehmen praktisch ausgestaltet werden sollen. Hier existiert also ein großer Spielraum für die Umsetzung. Genau um diese Ausgestaltung von REACH geht es gegenwärtig. Es gibt dazu eine Vielzahl von Methoden und Instrumenten, um Unternehmen der chemischen Industrie die Umsetzung von REACH zu erleichtern. Heinz Schmitt ({3}) Diese Instrumente werden im Augenblick auf ihre Tauglichkeit überprüft. Für eine Vereinfachung dieser Registrierung werden derzeit verschiedene Wege geprüft und verfolgt. Es geht beispielsweise um das Prinzip „Ein Stoff - eine Registrierung“. Es geht ferner um die Erarbeitung von Expositionskategorien und -szenarien, also darum, wie oft und wie lange Menschen und Umwelt mit bestimmten chemischen Stoffen in Berührung kommen. Es geht auch um die Fortentwicklung bereits bestehender Sicherheitsdatenblätter und um die Entwicklung von alternativen Testmethoden. All diese Ansätze sind mit REACH vereinbar und dort vorgesehen. Es zeigt sich also, dass REACH Flexibilität bietet, die Kosten für die Industrie im Rahmen zu halten und gleichzeitig die Schutzziele zu erreichen. ({4}) Zu den Kosten ist anzumerken, dass wir das neue System natürlich nicht zum Nulltarif bekommen werden. Das ist jedem klar. Nach allen vorliegenden Studien - mit Ausnahme der Studie von Arthur D. Little, die der VCI in Auftrag gegeben hat - sind die Kosten tragbar. Dies hat auch ganz aktuell eine Zusammenstellung verfügbarer Studien zur Folgeabschätzung für REACH gezeigt, die im Auftrag der niederländischen Präsidentschaft erstellt wurde. Wir wissen also, dass es keine absolut zuverlässigen Zahlen über die Kosten von REACH gibt, solange nicht feststeht, welche Wege bei der Vereinfachung überhaupt gegangen werden. Es ist außerdem nicht genau bekannt, welche Informationen bei der Chemieindustrie bereits heute schon vorliegen und genutzt werden können. Es wäre daher ein großer Fortschritt und auch ein gutes Signal, wenn die Unternehmen hier einmal für Klarheit sorgen und endlich ihre Karten auf den Tisch legen würden. ({5}) Dies wäre eine konstruktive Alternative zu den immer wieder vorgebrachten Bedenken, dass bestimmte Einzelheiten von REACH noch nicht bis ins letzte Detail geregelt sind. Wir sind damit bei einem weiteren Punkt, den ich aus der Anhörung dieser Woche mitgenommen habe. Um REACH zum Erfolg zu führen, brauchen wir nicht nur geeignete Instrumente und technische Anleitungen. Darüber hinaus brauchen wir auch den erkennbaren Willen, dass jeder seinen Beitrag zum Gelingen der Reform beisteuert und dass dabei vertrauensvoll zusammengearbeitet wird. Auch dies ist eine ganz wichtige und notwendige Grundlage für das Gelingen von REACH. Die Ansätze dafür, nämlich Verfahren für eine erfolgreiche Umsetzung von REACH zu entwickeln, sind gegeben. Jetzt ist es an der Zeit, dass alle Beteiligten dazu beitragen, REACH zu einem funktionierenden System fortzuentwickeln. Nur durch eine konstruktive und nach vorne gerichtete Herangehensweise kann REACH das leisten, was es erklärtermaßen leisten soll, nämlich einen besseren und sichereren Umgang mit Chemikalien in Europa - zum Wohle von Mensch und Umwelt, aber auch als große Chance für die chemische Industrie im Hinblick auf eine weltweite Führungsrolle für eine saubere und umweltverträgliche Chemieproduktion. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kauch.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um eines klar vorwegzusagen: Bei der Neuordnung der Chemikalienpolitik in Europa besteht unbestritten umweltpolitischer Handlungsbedarf. ({0}) Die Neuordnung der europäischen Chemikalienpolitik ist deshalb gerade für Deutschland ein wichtiges Thema; denn wir sind der wichtigste Chemikalienstandort in Europa. Die REACH-Verordnung wird massive Auswirkungen haben, und zwar nicht nur auf die chemische Industrie, sondern vor allem auch auf die Industriezweige, die Chemikalien und chemische Produkte verwenden. Die Bundesregierung und der Bundestag sind deshalb in der Pflicht, sich im europäischen Prozess zusammen mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern nachdrücklich für eine Lösung einzusetzen. ({1}) Es geht darum, in allen europäischen Ländern einen hohen Sicherheitsstandard zu erreichen. Deshalb teilen wir das Ziel von REACH, Umwelt- und Gesundheitsschutz bei gleichzeitiger Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen anzustreben. Aber trotz Detailverbesserungen gegenüber den ursprünglichen Entwürfen - Herr Schmitt hat ja gesagt, dass bereits Änderungen vorgenommen worden sind - reicht das, was wir vorliegen haben, immer noch nicht aus, um dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, gerecht zu werden. ({2}) Im Augenblick drohen im Zusammenhang mit der Chemikalienverordnung erhebliche negative Konsequenzen nicht nur für die Chemiewirtschaft, sondern gerade auch für Unternehmen im Anwendungsbereich. Als Ergebnis des Planspiels, das die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen - sie ist aus Ihrer Sicht unverdächtig; denn dort regiert Rot-Grün - hat durchführen lassen, wurde festgestellt, dass insbesondere die mittelständische Wirtschaft mit REACH zum jetzigen Zeitpunkt völlig überfordert sein würde. Wenn wir von der chemischen Industrie sprechen, dann sollten wir nicht vergessen, dass es nicht nur große Unternehmen in Ludwigshafen oder in Leverkusen gibt, sondern dass die chemische Industrie insbesondere auch mittelständisch geprägt ist. Unternehmen mit 30 oder 40 Mitarbeitern können es sich eben nicht leisten, einen Mitarbeiter ganz für die für REACH erforderliche Bürokratie abzustellen. ({3}) Es ist zudem unsinnig, Datenfriedhöfe anzulegen, wenn die Erhebung dieser Daten für den Umwelt- und Gesundheitsschutz nicht erforderlich ist. ({4}) REACH muss im Interesse des Umwelt- und Gesundheitsschutzes einerseits und im Interesse der betroffenen Unternehmen andererseits handhabbar sein. ({5}) Durch REACH droht zudem die Innovationsfähigkeit geschwächt zu werden; denn verhältnismäßig kleinvolumige Chemikalien der Spezialchemie könnten vom Markt verschwinden - und das nicht, weil sie gefährlich sind, sondern allein deshalb, weil sich bei diesen kleinen Mengen der bürokratische Aufwand für die Registrierung nicht lohnt. Auch hierauf haben die Sachverständigen in der Anhörung des Umweltausschusses am Montag dieser Woche hingewiesen. Deshalb sagt die FDP: Es kann nicht vorrangig darum gehen, an Herstellungs- und Importmengen anzusetzen. Es muss vielmehr um die Risikobewertung von Chemikalien und ihre Gefährlichkeit für den Menschen gehen. Da muss die Verordnung ansetzen. ({6}) Die EU-Kommission selbst beziffert die Kosten, die im Zusammenhang mit dieser Verordnung entstehen, auf etwa 5 Milliarden Euro. Diese Kosten sind keineswegs gleichmäßig über die verschiedenen Unternehmen und Stoffe verteilt. Sie treffen vielmehr vor allem jene kleinen und mittleren Unternehmen, die Fein- und Spezialchemikalien in relativ geringen Mengen herstellen. Darüber hinaus sind neben der Kostenbelastung auch ein Know-how-Verlust durch Offenlegungspflichten sowie teilweise Zeitverluste bei der Vermarktung von Spezialchemikalien zu befürchten. Überdies ist die Wettbewerbsfähigkeit Europas - das sollte man bei dieser Diskussion immer beachten - durch zunehmenden Druck durch den Import von Erzeugnissen bedroht, die außerhalb der Europäischen Union aufgrund der dort geltenden niedrigeren Umweltstandards produziert werden. Es kann nicht sein, dass wir hier Tür und Tor für Produkte insbesondere aus Osteuropa und den USA öffnen, die sich schon die Hände reiben, wenn wir bei der Verordnung, über die wir momentan diskutieren, bleiben. ({7}) Unbestritten und selbstverständlich ist es, dass bei der Chemikalienpolitik in Deutschland und Europa die Gesundheit der Menschen im Vordergrund stehen muss. Die FDP wird sich deshalb für eine verantwortungsvolle Gesetzgebung im Hinblick auf einen sicheren Einsatz von Chemikalien einsetzen, die auch den ökologischen und wirtschaftlichen Nutzen des regelgerechten Einsatzes dieser chemischen Stoffe berücksichtigt. Man braucht möglichst einfache und praktikable Regelungen für die sichere Anwendung gefährlicher Stoffe. Die Vorschläge der FDP liegen seit langem auf dem Tisch. Wir haben das als Erste hier im Hause thematisiert ({8}) und würden uns freuen, wenn Sie weiter in die Richtung gehen, die wir bereits in unserem ersten Output skizziert haben. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung spricht nun der Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die jetzige Bundesregierung hat die neue Chemiepolitik der Europäischen Union 1999 unter ihrer Präsidentschaft angestoßen. Es ist über Jahre nicht gelungen, einen beachtlichen Teil der 100 000 im Verkehr befindlichen Altchemikalien wenigstens in ihren Eigenschaften zu beschreiben. Deswegen war es Zeit für einen Wandel. Abschied von der alten Chemiepolitik heißt Abschied von einem Zustand, in dem man erst dann Maßnahmen ergreift, nachdem - wie beim Holzschutzmittelskandal höchstrichterlich festgestellt wurde, dass etwas schädlich für die Menschen ist. Neue Chemiepolitik ist vorsorgende Chemiepolitik. Vorsorgende Chemiepolitik hat von der EU-Kommission den Namen REACH bekommen. ({0}) Künftig sollen die Eigenschaften aller Stoffe, also der alten wie der neuen Chemikalien, registriert werden. Der Registrierungsaufwand, Herr Kollege, ist übrigens niedriger als der Anmeldeaufwand, den man betreiben muss, wenn man heute eine neue Chemikalie auf den Markt bringen will. ({1}) REACH macht also Schluss mit der Benachteiligung neuer, innovativer Chemikalien gegenüber alten Chemikalien. Ich finde, wir sollten auch einmal gemeinsam feststellen, dass sich die Kommission nicht als beratungsresistent erwiesen hat, sondern in ihrem Entwurf viele der Vorschläge berücksichtigt hat, die die Bundesregierung zusammen mit der Chemiegewerkschaft und der chemischen Industrie eingebracht hat. Wenn wir Kenntnislücken über Chemikalien schließen, hilft das auch der Wirtschaft. Was bedeutet das für den Anwender von Chemikalien? Das heißt, er kann sich künftig darauf berufen, dass er Stoffe benutzt hat, deren Eigenschaften bekannt sind. Damit schützt er sich auch ein Stück weit vor möglichen Schadensersatzklagen und mindert sein eigenes Produkthaftungsrisiko. Für die Wirtschaft bedeutet das übrigens immense Wettbewerbsvorteile. Das stellen Sie insbesondere fest, wenn Sie über den Atlantik blicken; dort gibt es ein Land mit ausgeprägteren Schadensersatzregelungen als hier. Selbstverständlich profitieren auch Umwelt und Gesundheit von REACH. Es wird gezielte Substitutionsanreize hinsichtlich der Zahl und der Menge gefährlicher Stoffverwendungen geben. Wir sind uns doch einig - jedenfalls mit der chemischen Industrie; ich vermute, auch in diesem Hause -, dass Krebs erzeugende und Erbgut verändernde Stoffe und solche, die lange Zeit im Körper verbleiben und hoch toxisch, also sehr giftig, sind, künftig einem Zulassungsverfahren unterliegen sollten. Damit die Regelung besser handhabbar wird, wollen wir, übrigens gemeinsam mit der Industrie, eine Erweiterung des Datensatzes. Warum? Die Industrie verfügt über diese Daten. Sie waren in Deutschland nämlich allesamt Bestandteil der Selbstverpflichtung der deutschen chemischen Industrie. Ich erwarte, dass sich künftig auch andere Hersteller in Europa daran halten werden. Sie haben zwar zu Recht von den Schwierigkeiten kleiner und mittlerer Unternehmen gesprochen. Aber warum treten wir für das Prinzip „Ein Stoff - eine Registrierung“ ein? Das tun wir, weil wir den Aufwand bei der Registrierung mindern wollen, und nicht nur, weil wir die Anzahl von Tierversuchen möglichst gering halten wollen. Warum soll eine Chemikalie, die auf dem Markt schon registriert ist, noch einmal geprüft werden, nur weil ein Wettbewerber sie auf den Markt bringt? Meine Damen und Herren, das macht keinen Sinn. ({2}) Wie immer, wenn sich die Rahmenbedingungen der Politik etwas verändern, gibt es auch die Befürchtung: Ist das ökonomisch leistbar? Ich finde, wir sollten versuchen, uns auf einen gemeinsamen Maßstab zu verständigen. Wenn man die wirtschaftlichen Auswirkungen einer umweltpolitischen Maßnahme prüft, dann muss der Maßstab sein: Ist die Maßnahme für die gesamte Volkswirtschaft von Nutzen oder ist ihr Nutzen zu gering, um den Aufwand zu rechtfertigen? Hierzu gibt es sehr unterschiedliche Studien. Die Studie von Arthur D. Little, die hier schon erwähnt worden ist, hat mich ein bisschen an die Debatte erinnert, die wir vor 20 Jahren über Formaldehyd geführt haben. Damals - Sie können das nachlesen - wurde von einem großen deutschen Chemiebetrieb ein Papier veröffentlicht, in dem es hieß: Wenn Formaldehyd verboten wird, dann werden wir erleben, dass das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland um ein Drittel einbrechen wird. Meine Damen und Herren, das glaubt heute nicht einmal mehr IKEA, obwohl dort fast nur Spanplatten verkauft werden, die inzwischen allerdings kein Formaldehyd mehr enthalten. Um die Folgen von REACH also etwas zuverlässiger einschätzen zu können, ist es vielleicht hilfreich, einmal all diese Studien gemeinsam zu betrachten. Das haben wir unter der Federführung des ehemaligen niederländischen Wirtschaftsministers in einem Workshop getan. 36 dieser Impact-Assessment-Studien haben wir ausgewertet. Dazu lag eine zusammenfassende Analyse zweier niederländischer Wirtschaftsberatungsinstitute vor. Seitdem bewegen wir uns - wie ich finde - auf einem gesicherteren Boden. Darin werden die direkten Kosten von REACH für einen Zeitraum von elf Jahren auf circa 4 Milliarden Euro veranschlagt. Es wird bei aller Unsicherheit damit gerechnet, dass die indirekten Kosten das 1,2- bis 2,3fache der direkten Kosten ausmachen werden. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen - das müssen wir auch bei den weiteren Beratungen berücksichtigen, Herr Kauch -, dass ein großes Unternehmen diese leichter bewältigen kann als ein kleineres Unternehmen. Das ist einer der Gründe, warum wir den Grundsatz „Eine Registrierung für eine Substanz“ durchsetzen wollen. Das hilft gerade kleinen und mittleren Unternehmen. Die Beratungsinstitute haben unter dem Strich gesagt: Die Bandbreite des volkswirtschaftlichen Nutzens, der gegenzurechnen ist, liegt - auf die Jahre bis 2020 bezogen - zwischen 22,5 und 51,3 Milliarden Euro. Damit ist klar, dass der ökonomisch berechnete volkswirtschaftliche Nutzen von REACH die Kosten deutlich übersteigt. Deswegen kam der Workshop der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu einem sehr REACH-freundliches Ergebnis. Ich zitiere: Der Workshop stellte fest, dass der Nutzen für die Gesellschaft, zum Beispiel Verbesserung der Gesundheit, Verminderung von Krankheit, Verbesserung der Biodiversität, verbesserter Arbeitsschutz durch bessere Kenntnisse über Chemikalien und ihre Effekte, unumstritten ist. Er resümiert unter anderem: Die Notwendigkeit der neuen EU-Verordnung zum Chemikalienrecht ist evident. ({3}) Ich finde, wenn wir uns auf dieser Ebene bewegen, ist kein Platz mehr für - bei Ihnen, Frau Dött, klang sie ein bisschen an - Fundamentalkritik an REACH. ({4}) Diese betreibt inzwischen selbst die Industrie nicht mehr. Es verbreitet sich die Erkenntnis, dass REACH eine Chance für Umwelt, Verbraucher und Wirtschaft gleichermaßen ist. Wir sollten REACH als Chance gerade für mehr Innovationen in der Chemie und natürlich als Chance für Umwelt und Gesundheit betrachten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal, Herr Minister, die Kollegin Dött gegen den Vorwurf, Fundamentalopposition betrieben zu haben, verteidigen. Das war gar nicht das Ansinnen ihres Beitrages. Nach der Anhörung ist es nun unsere Aufgabe, die Fragen herauszunehmen, die man für die Zukunft der chemischen Industrie, aber auch für die Zukunft der Ziele von REACH für bedeutsam hält. Lassen Sie mich eines ganz deutlich sagen: Die Frage, ob Innovationen gefördert oder behindert werden, betrifft nicht nur die Unternehmen, wie das hier geschildert worden ist. Innovationen implizieren vielmehr Fragen, die Gesundheit und Umwelt gleichermaßen betreffen. Der Kollege Schmitt hatte eben den BDI, den VCI und die DIHK als Zeugen für seine Meinung und die seiner Fraktion aufgerufen. Dazu kann ich nur sagen: In den Stellungnahmen und in der Debatte sind nach wie vor die Fragen bezüglich der ökonomischen Wirkung, und zwar nicht nur auf die Volkswirtschaft, sondern auch auf die Betriebe, insbesondere auf die Betriebsgrößen bezogen, nicht endgültig beantwortet worden, auch nicht in dem Maße, wie das der Bundesumweltminister hier dargestellt hat. Deswegen halte ich es für richtig, Herr Kollege Schmitt, dass wir uns in dieser Debatte den Themen „Chemie als Faktor in der Wirtschaftspolitik“ und „Chemie als Wettbewerbsfaktor“ zuwenden, und zwar nicht innerhalb Europas oder zwischen Deutschland und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern auf dem Weltmarkt. ({0}) - Dann lassen Sie doch bitte den Vorwurf, dass wir uns allein mit den die Wirtschaft betreffenden Fragen beschäftigen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat mit den von ihr gestellten Fragen und auch mit der Anhörung deutlich machen wollen, wo möglicherweise Probleme liegen. Es ist doch nicht so, dass das Ergebnis der Anhörung unter dem Strich lautete: Im Wesentlichen gibt es keine Probleme mehr; das Wichtigste ist positiv beantwortet. Ganz im Gegenteil. Da wir nicht nur über Umwelt, Gesundheit und Arbeitsschutz reden, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit auch über Arbeitsplätze und Ökonomie - wenn wir die Nachhaltigkeit in dieser Dreifaltigkeit, wie man so schön zu sagen pflegt, ernst nehmen -, muss es doch gestattet sein, den vonseiten der Wirtschaft erhobenen Einwänden nachzugehen. Gestern ist in diesem Hause über die Lissabon-Strategie geredet worden. Sie wissen, dass das Ziel, Europa zum wachstumsstärksten Markt zu machen, nicht erreicht wurde. Es geht doch nicht darum, die politischen Rahmenbedingungen für den Wettbewerb im Innern zu gestalten. Von Lissabon geht die Herausforderung aus, unsere Mitbewerber auf den globalen Märkten zu betrachten. Dabei geht es um Asien, Amerika, Russland etc. Meiner Meinung nach ist einer der wesentlichen Punkte, auf die es im Zusammenhang mit Im- und Export bis jetzt leider noch keine hinreichende Antwort gibt, dass Fertigprodukte leichter importiert werden können, weil sie keiner so starken Kontrolle unterliegen wie Stoffimporte. Das sollten wir ernst nehmen. Ich stimme Herrn Trittin durchaus zu, dass man nicht jedes Gefahrenszenario, das von der Industrie aufgezeigt wird, hundertprozentig ernst nehmen muss; manchmal stellt sich ja heraus, dass es schon längst eine Lösung dafür gibt. Dass aber die Abwanderung von Arbeitsplätzen in Bereichen, bei denen die Produkte keiner Importkontrolle unterliegen, ein Risiko darstellt, wird man in diesem Hause doch im Rahmen einer offenen Diskussion aller Fragen ansprechen dürfen. Ich will mich einem weiteren Punkt zuwenden, der in der bisherigen Betrachtung offensichtlich keine Rolle gespielt hat. Es geht um die Frage, welche Chancen REACH auf dem Sektor der Tierversuche bietet. Ich finde, dass Sie darauf nicht hinreichend eingegangen sind. Ich komme deshalb darauf zu sprechen, weil es, abgesehen davon, dass wir in diesem Hause Beschlüsse dazu gefasst haben, in unserem Grundgesetz einen Artikel gibt, der sich mit dem Tierschutz beschäftigt. REACH geht nicht auf eine Verminderung der Zahl der Tierversuche - das wäre im Sinne dieses Gebotes unseres Grundgesetzes - ein. Wie es im Augenblick aussieht, findet ein Paradigmenwechsel auf dem Gebiet der Tierversuche nicht statt. Ich denke, dass wir das ernst nehmen sollten. Im Grunde muss die Risikobewertung anhand von Tierversuchen ersetzt werden; das ist offensichtlich auch möglich. In diesem Zusammenhang gibt es durchaus Kritik an der Bundesregierung; denn das BMBF sieht vor, die Mittel auf diesem Gebiet im Haushalt 2005 weiter zu reduzieren. Wenn wir all diese Aspekte ernst nehmen - Umwelt, Gesundheit, Arbeitsschutz, aber auch die Wirtschaft -, dann gehört auch der Tierschutz in den Kanon der zu beachtenden Bereiche. Darauf gibt REACH keine ausreichende Antwort. Im Gegenteil: Es ist eine Ausweitung der Tierversuche zu befürchten. Ich glaube, dass man dies in der Debatte über dieses Thema, auch in Brüssel, noch einmal aufnehmen muss. Wir müssen, was die mittelständischen Unternehmen und ihre Wettbewerbsfähigkeit auch im Zusammenhang mit dem Prinzip „Ein Stoff - eine Registrierung“ angeht, über den richtigen Weg nachdenken. Ein europäischer Kollege hat es mir vor zwei Tagen in Brüssel so dargestellt: Wenn wir das Prinzip „Ein Stoff - eine Registrierung“ haben, wird es etwa 30 000 Registrierungen geben. Wenn wir bei dem alten Modell blieben, also bei der Registrierung pro Anwendung, würden es ungefähr 100 Millionen Registrierungen sein. - Wir müssen uns über den Weg und das Ziel einig sein. Wir sind uns hoffentlich darin einig, dass der Abbau von überflüssiger Bürokratie gerade für mittelständische Unternehmen eine Chance darstellt, mit REACH die Ziele zu erreichen, die im Interesse der Verbraucher sind und zu einer Sinnhaftigkeit von Produkten und Stoffen führen. ({1}) - Wissen Sie, Sie sind nicht der Richter über den Fortschritt, den wir machen oder nicht. ({2}) - Das ist Lob? Das habe ich anders verstanden. Ich bitte um Entschuldigung; Lob bin ich von dieser Seite gar nicht gewöhnt. Dann streiche ich den heutigen Tag in meinem Kalender mit einem roten Kreuz an oder besser mit einem rot-grünen. ({3}) - Ich soll bei schwarz bleiben? Na gut, in Ordnung. Der Umweltminister hat an dieser Stelle etwas über das Umschalten von Nachsorge auf Vorsorge gesagt. Ich will hier noch einmal deutlich machen: Der Umstieg auf vorsorgende Umweltpolitik, gerade auch im Chemikalienrecht, ist mit der Regierungszeit von Helmut Kohl, insbesondere auch mit Klaus Töpfer verbunden. Deswegen glaube ich, dass es notwendig ist, in dieser Debatte nicht nur die Ziele Verbraucherschutz, Umweltschutz und Gesundheit zu sehen; die Frage der Tierversuche habe ich angesprochen. ({4}) Unter dem Strich sollten wir ein REACH haben, das sicherstellt, dass das andere Ziel Europas, nämlich wettbewerbsstärkster Raum im globalen Wettbewerb zu werden, nicht aus den Augen verloren, sondern durch REACH unterstützt wird. Wenn das am Schluss herauskommt, dann ist es jede Debatte wert, auch jede kontroverse. Wenn Sie den einen oder anderen Gesichtspunkt nicht ansprechen, dann müssen wir als Opposition das tun. In diesem Sinne sind heute Morgen dank der Opposition alle wesentlichen Bestandteile der REACH-Diskussion angesprochen worden. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die europäische Chemiepolitik hat eine Geschichte. Sie ist nicht vom Himmel gefallen, sie ist nicht zuletzt durch die Ereignisse der 80er-Jahre begründet. Das eigentliche Problem scheint mir zu sein, dass sich eine Debatte, die in den 80er-Jahren begonnen hat, erst 15 Jahre später wirklich auswirkt. Die Anfänge, sozusagen die Geburtsstunde der Chemiepolitik, waren die Rhein-Unfälle. Ich erinnere mich noch, dass damals von großen Teilen der Öffenlichkeit gesagt wurde: Chemiepolitik - was ist denn das für ein Unsinn? Im Gegenteil! Jetzt sind wir wirklich ein Stück weiter, auch wenn es 15 Jahre gedauert hat. Herr Kollege, hier ist die Lernfähigkeit angesprochen worden. Das erinnert mich an die Debatte über Formaldehyd, die ja vom Bundesumweltminister angesprochen worden ist. In der Formaldehydfrage gab es einen kritischen Bericht des Umweltbundesamtes, der auf Anweisung der Bundesregierung ohne Veröffentlichung eingestampft worden ist, und zwar weil die Industrie Druck gemacht hat. Von vorsorgender Chemiepolitik zu reden ist also ein bisschen schwierig. Das hat auch die Holzschutzmitteldebatte gezeigt. Damals war in der Diskussion, einen Fonds für Altlasten einzurichten. Das ist immer blockiert worden. Insofern nehme ich zur Kenntnis: Wir sind einen Schritt weiter, und das ist auch ganz gut so. ({0}) Ich erinnere mich auch noch an eine Aktuelle Stunde im - damals Bonner - Bundestag, in der ein Kollege von der CDU, der gesprochen hat, Dioxine als ein aufgebauschtes Problem bezeichnet hat; er gehe tagtäglich ohne jeden Schaden damit um. Solche Bemerkungen sind im Protokoll nachzulesen. Gott sei Dank sind wir in der Umweltfrage mittlerweile sehr viel weiter. Es gab in den 80er-Jahren zwei Ansatzpunkte für die Chemiepolitik: der eine kam aus der Bundesrepublik, der andere von der Europaebene. Ein Teil der EU-Politik, die sehr stark auf schwedische Initiative zurückgeht, ist auch ein Produkt der deutschen Diskussion. Wenn Sie einmal genau schauen, was in der Chemiepolitik gemacht wird, dann werden Sie feststellen, dass das Ideenwerk zum großen Teil auf die Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ zurückgeht. ({1}) Darauf können wir übrigens stolz sein. Aber muss es denn wirklich so sein, dass die Umsetzung solcher Vorhaben immer erst möglich ist, wenn Katastrophen eingetreten sind? Können wir solche Erkenntnisse nicht auch einmal ohne den Druck einer Notsituation umsetzen? Können wir in dieser Frage nicht einmal Vernunft regieren lassen? ({2}) Warum ist das eigentlich nicht möglich? Warum sind in solchen Debatten immer nur ganz kurzfristige Ziele vorherrschend? Nein, ich glaube, es ist gut, dass wir jetzt eine solche Debatte führen. Ich muss auch sagen: Damals ist der Dreiklang, den wir heute umzusetzen versuchen, entstanden: Erstens muss es zu einer sehr viel schnelleren Lösung der Altstoffproblematik kommen. Es ist in der Tat nicht hinzunehmen, dass in zehn Jahren gerade einmal 30 der rund 30 000 als kritisch einzuschätzenden Altstoffe - auf dem Markt gibt es insgesamt etwa 100 000 Altstoffe 12830 Michael Müller ({3}) aufgearbeitet wurden. Das kann doch nicht sein. Wo ist hier die politische Verantwortung? Das zweite Prinzip, das sich seitdem durchgesetzt hat - auch das finde ich wichtig -, ist die internationale Zusammenarbeit. Es ist richtig: Die Chemiepolitik braucht eine europäische und eine darüber hinausgehende Flankierung. Wir müssen auch dafür sorgen, dass bei der WTO und ähnlichen Organisationen solche Ansätze durchgesetzt werden. Sie können aber nur durchgesetzt werden, wenn Europa zeigt, dass es ernst damit macht. Auch das muss sein. ({4}) Als Drittes muss man den Gedanken erwähnen, weg von der End-of-Pipe-Philosophie hin zu Stoffkreisläufen zu kommen. Wir müssen uns das einmal anschauen: In der Diskussion ist der Gedanke der Kreislaufwirtschaft entstanden, den wir bis heute nicht wirklich ausgefüllt haben. Die Kreislaufwirtschaft ist zwar Namensgeber für ein wichtiges Gesetz; richtig ausgefüllt wurde sie aber bis heute nicht. Ich will jetzt nicht auf das Drama mit dem Grünen Punkt eingehen. Bei den Stoffkreisläufen haben wir in der Tat noch sehr viel zu tun. Ich möchte hier explizit sagen: Wir nehmen die Lernprozesse zur Kenntnis, die seitdem auch in der chemischen Industrie stattgefunden haben. Wir nehmen aber auch zur Kenntnis, dass es seit einiger Zeit auch in der chemischen Industrie Verständnis dafür gibt, dass das Jahrzehnt der Ökologie, wie Sie das nennen, jetzt beendet sein müsste, weil man genug getan hat. Das ist nicht unsere Position. ({5}) Im Gegenteil: Es ist und bleibt gerade beim Umgang mit Stoffen ein wichtiger Innovations- und Wirtschaftsauftrag, die Modernisierung und Qualität voranzustellen. Das werden wir auch immer unterstützen, weil die europäische Chemieindustrie vor allem Vorteile hat, wenn die Produktion und Dienstleistung in der Welt als risikoarm und qualitativ hoch stehend angesehen werden. Das ist unsere Chance. Deshalb sind wir für eine Chemiepolitik. Wir verfolgen keine Erfindung irgendeiner Randgruppe, sondern das zentrale ökonomische Prinzip für eine moderne Wirtschaft. ({6}) Meine Damen und Herren, wir erkennen natürlich in der Tat, dass wir uns in einer Situation befinden, in der wir nicht alle 30 000 Stoffe mit derselben Priorität aufarbeiten können. Das ergibt sich schon aus den Baumstrukturen der Chemie. Wir wissen aber natürlich auch, dass es bestimmte Gefährdungspotenziale gibt, die sehr viel schneller aufgearbeitet werden können und müssen. Deshalb sagen wir: Wenn man von der Lissabon-Strategie bezüglich der Innovationen redet und wenn man vor allem will, dass die Europäer Vorreiter bei der ökologischen Modernisierung sind, dann dürfen wir nicht über die Ziele von REACH reden, sondern dann müssen wir über die Umsetzung im Detail reden; das tun wir auch. Für uns ist klar, dass insbesondere die so genannten CMR-Stoffe - also die karzinogenen, mutagenen und reproduktionstoxischen Stoffe - und die PBT-Stoffe - die persistenten, bioakkumulierbaren und toxischen Stoffe ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssen. Das sind die richtigen Schritte. Wir müssen hier mehr Verantwortung im Sinne der Produktverantwortung und des Verursacherprinzips durchsetzen. Das ist der Kernbereich der Chemiepolitik, den wir unterstützen. Diese drei Kernelemente - Verursacherprinzip, Produktverantwortung und Integration - wollen wir in der Chemiepolitik nach vorne stellen. Wenn wir das mit aller Konsequenz tun, dann ist die Chemiepolitik kein lästiges Anhängsel für die Wirtschaft, sondern eine Chance für ihre Innovations- und Zukunftsfähigkeit. Insofern bitte ich Sie, positiv zu denken und mit den ewigen Bedenken Schluss zu machen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Signaturgesetzes ({0}) - Drucksache 15/3417 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) - Drucksache 15/4172 - Berichterstattung: Abgeordneter Hubertus Heil Dr. Martina Krogmann, Fritz Kuhn, Gudrun Kopp und der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Bevor wir zur Abstimmung kommen, weise ich da- rauf hin, dass mir zu dieser Abstimmung eine Erklärung des Abgeordneten Jörg Tauss nach § 31 der Geschäfts- ordnung vorliegt.2) Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/4172, den Gesetzent- wurf auf Drucksache 15/3417 zur Änderung des Signa- turgesetzes in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- 1) Anlage 5 2) Anlage 4 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses in dritter Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({4}), Rainer Funke, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schutz vor illegalen und jugendgefährdenden Internetinhalten - Filtern statt Sperren - Drucksachen 15/1009, 15/3409 Berichterstattung: Abgeordnete Jörg Tauss Dr. Martina Krogmann Hans-Joachim Otto ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Thematik dieses Antrages hat durchaus weit reichende Bedeutung für die Ordnungspolitik, aber auch für den Internetstandort Deutschland, also für Arbeitsplätze. Worum geht es? Das Internet eröffnet weltweite Kommunikationsmöglichkeiten mit ungeahnten Chancen für die Meinungs- und Informationsfreiheit und für die Wirtschaft. Zugleich aber birgt das Internet neue Gefahren, dass nämlich Kriminelle und politische Extremisten diese Freiheiten missbrauchen und jugendgefährdende, volksverhetzende oder sonst illegale Inhalte ins Netz stellen. Es ist unbestreitbar, dass im Internet viele Seiten aufgerufen werden können, deren Inhalte für einen demokratischen Rechtsstaat nicht akzeptabel sind. Wie gehen wir gegen diese illegalen und jugendgefährdenden Internetinhalte vor? Eingangs muss man sagen: Es gibt leider kein Patentrezept. Alle Demokratien der Welt haben erkannt, dass Repression allein nicht ausreicht, sondern nur ein Bündel von Maßnahmen zum Erfolg führt. Kern dieses Maßnahmenbündels ist eine Stärkung internationaler Zusammenarbeit, zum Beispiel in Form der Cybercrime Convention des Europarates, um den Zugriff und die Strafverfolgung auf die Urheber illegaler Inhalte über nationale Grenzen hinaus zu ermöglichen. Genauso erforderlich ist es, dass die nationalen Gesellschaften mit intensiver Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit Medienkompetenz, und zwar bei Kindern und ihren Eltern, stärken. Ganz wichtiger Bestandteil dieses Maßnahmenmix ist die Selbstregulierung der Anbieter, weil Netzwerke von Selbstkontrollinstanzen, wie beispielsweise INHOPE, flexibler und schneller reagieren können. Sie sind zunehmend erfolgreich. Auch die Filter für Jugendliche, beispielsweise von ICRA, bilden einen wichtigen Bestandteil dieses Maßnahmenmix. Dies alles ist so weit unstreitig. Auch besteht kein Streit darüber, dass zum Maßnahmenbündel als Ultima Ratio auch straf- und ordnungsrechtlich staatliche Maßnahmen gehören. Allerdings - hier kommen wir zum Kern des Antrages - gibt es weltweit und bisher auch in Deutschland ein System gestufter Verantwortlichkeiten. Was beinhaltet dies? Vorrangiges Ziel ordnungsrechtlicher Maßnahmen muss stets sein, den jeweiligen Urheber bzw. Anbieter des inkriminierten illegalen Inhalts selbst in Anspruch zu nehmen. ({0}) Demgegenüber haften diejenigen, die nur Speicherplatz für fremde Inhalte bereithalten, die so genannten Host Provider, nur insoweit, als ihnen diese Inhalte bekannt werden. Eine Pflicht zum Suchen illegaler Inhalte besteht nach unserer Rechtsordnung für diese Host Provider nicht. Die dritte Stufe bilden die reinen Vermittler des Zugangs zum Internet, deren Dienstleistung sich also auf die Durchleitung fremder Inhalte beschränkt. Das sind die so genannten Access Provider. Dieses System gestufter Verantwortlichkeit, also die Ausformung des Verursacherprinzips, ist durchgängige Basis der deutschen Rechtsordnung und wurde jüngst erst wieder durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag bestätigt. Wo liegt also das Problem? Dieses System gestufter Verantwortlichkeit droht durch einige Ordnungsbehörden zerstört zu werden, namentlich den Regierungspräsidenten in Düsseldorf, der nicht prioritär - denn das ist mühsam - gegen die Urheber krimineller Inhalte vorgeht, sondern gegen die Durchleiter fremder Inhalte, also die Access Provider, und gegen sie flächendeckend Sperrungsverfügungen trifft. Diese Durchbrechung des Verursacherprinzips ist nicht nur ordnungspolitisch verfehlt, sie droht uns auch international ins Abseits zu katapultieren und Provider aus Deutschland zu vertreiben. Wir wissen, dass die Provider in Deutschland sowieso überdurchschnittliche Verpflichtungen haben. Ich nenne hier nur das Stichwort Vorratsdatenspeicherung. Der Kollege Tauss, der gleich anschließend sprechen wird, hat sehr oft das anschauliche Beispiel genannt, dass wir doch auch nicht gegen die Deutsche Post AG vorgehen, nur weil sie Briefe mit kriminellem Inhalt transportiert, oder gegen Autobahnbetreiber, weil auf der Autobahn auch Straftäter fahren. ({1}) Hans-Joachim Otto ({2}) - Sie sind zitierbar. Sie können nachher bestätigen, dass ich Sie richtig zitiert habe. Die kurze Redezeit verbietet es mir, auf Details einzugehen. Ich verweise auf den ausführlichen Antrag. Wie Sie der Beschlussempfehlung und dem Bericht des federführenden Ausschusses entnehmen können, stimmten alle Fraktionen dem Grundanliegen dieses Antrages voll zu. Seit Monaten haben die Kollegen von SPD und Grünen kleinere Änderungswünsche angekündigt, damit der Bundestag dem zentralen Anliegen des Antrages einstimmig zustimmen kann. Bisher habe ich diese Änderungswünsche leider noch nicht erhalten. Ich appelliere daher abschließend an alle Mitglieder dieses Hauses, das international bewährte System gestufter Verantwortlichkeit zu stärken und den in der Sache tatsächlich bestehenden Konsens in dieser wichtigen Frage nicht zu verschleiern. Es muss nicht etwas falsch sein, nur weil es von der Opposition zur Sprache gebracht worden ist. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Lieber Kollege Otto! Wir reden heute Mittag über ein wichtiges Thema. Es geht um die Rechtsdurchsetzung in globalen Netzwerken. Das betrifft nicht nur den Jugendschutz, sondern auch das Strafrecht, das Produkthaftungsrecht oder auch andere Bereiche. Darin sind wir uns alle einig. Herr Kollege Otto, wir sind uns sogar darin einig, dass Sie völlig zu Recht einen in Deutschland Gott sei Dank bisher singulären Vorgang kommentieren. Die damals zuständige Aufsichtsbehörde für NRW - übrigens ist sie nicht mehr zuständig -, die Bezirksregierung in Düsseldorf, hat landesansässige Internetzugangsanbieter dazu verpflichtet, zwei rechtsextremistische Internetangebote aus den USA zu sperren. Dieser Fall ist bekannt. Er ist vor den Gerichten anhängig. Ich will keinesfalls in laufende Verfahren eingreifen oder diese kommentieren. Die Frage ist, ob diese Sperrungsverfügung verhältnismäßig ist. Sie kennen meine Meinung und haben sie korrekt zitiert. Ich werde zu der Bezirksregierung an anderer Stelle etwas sagen, weil ich das Grundanliegen, die Bekämpfung des Naziunwesens in diesem Lande, egal ob es auf den Marktplätzen oder im Internet stattfindet, selbstverständlich für begrüßenswert halte. In diesem Punkt herrscht völlige Einigkeit. Wir sind uns auch mit der FDP einig, dass dieses Vorgehen in technischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht fraglich ist. Was die technische Seite betrifft - das sagen alle Fachleute -, sind die so genannten DNSUmleitungen ineffektiv. Von einer effektiven Sperrung kann nämlich keine Rede sein, wie übrigens die Bezirksregierung bei einem Expertengespräch in unserem Unterausschuss zugeben musste. ({0}) - Nein, Kollege Otto, ich komme gleich darauf. Ich lobe Sie noch ein Weilchen, bevor ich zu den kritischen Teilen komme. Sie sollten das Lob jetzt noch genießen. Ob aus diesen Maßnahmen eine Zugangserschwernis für Otto Normalsurfer resultiert - ich meine jetzt nicht Sie, Herr Kollege Otto, sondern wirklich Otto Normalsurfer -, ({1}) ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Wirtschaftlich führen diese Maßnahmen - da stimme ich Ihnen ebenfalls zu - zu zusätzlichen Belastungen der Unternehmen, und dies bei nachgewiesenermaßen fehlender Effizienz. Bei zwei Seiten wäre das alles noch möglich, bei 6 Millionen Seiten allerdings nicht mehr. Dann müssten wir in Deutschland auf die Nutzung des Internets verzichten; denn es wäre schlichtweg verkehrsmäßig nicht mehr zu betreiben. Auch politisch ist das Vorgehen, das Sie kritisieren, aus unserer Sicht abzulehnen. Wir können uns gerade bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit eine rein symbolische Politik - so stellt sie sich für mich dar - schlichtweg nicht leisten und wir sollten uns aus diesem Grunde über andere Strategien unterhalten. Die FDP geht ebenfalls in die richtige Richtung, wenn sie fordert, auch die Ressourcen der Wirtschaft zu nutzen, um zu einer effektiven Gewährleistung von Selbstkontrolle zu kommen. Es gibt dazu einige Anmerkungen und Bemühungen der zuständigen Verbände. Ich erinnere an die FSM in Deutschland, an den Eco-Verband, den Verband der Internetprovider, der die Stelle „INHOPE“ installiert hat, sowie an verschiedene andere Belege. Der Hinweis auf „INHOPE“ ist im Übrigen gerade im Zusammenhang mit der aufgeregten Diskussion zum Thema Kinder- und Jugendschutz wichtig. Ich glaube, wir sind uns einig, dass der Missbrauch von Kindern eines der schlimmsten Verbrechen darstellt, die man sich vorstellen kann. Durch „INHOPE“ war vor einem Jahr ein Schlag gegen Kinderpornoringe mit über 26 000 Tatverdächtigen - man stelle sich die Dimension einmal vor - möglich. Über all diese Punkte und über die Wege müssen wir auch über Fraktionsgrenzen hinweg diskutieren und entsprechende Erfolge können wir gemeinsam begrüßen. So viel zum Lob, Kollege Otto. Jetzt komme ich zu den Minuspunkten, die leider in Ihrem Antrag ebenfalls enthalten sind. Ihr Antrag ignoriert erstens die gemeinsam von Bund und Ländern durchgeführte Neuordnung des Jugendmedienschutzes. Die Kollegin Bätzing wird gleich noch mehr dazu sagen. Es ist ja nicht so, dass nichts passiert ist. ({2}) Zweitens nenne ich die Leistungsfähigkeit der so genannten Inhaltebewertungssysteme wie zum Beispiel das ICRA-System, das auch Sie kennen, aber auch überschätzen. ({3}) - Ja, das würdigen Sie unseres Erachtens aber nicht ausreichend. ({4}) Das sind die Punkte, zu denen ich etwas sagen wollte. Wir müssen also noch über ein paar Dinge reden. ({5}) - Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen, sondern wir wollen das ganz korrekt machen. Ich stimme Ihnen in Teilen zu; aber unsere Fachleute haben die entsprechenden Initiativen noch nicht abschließend bewertet. Wir werden abwarten, ob von dieser Seite noch weitere Hinweise kommen. Wie bereits gesagt, sind wir uns in der Sache einig. In einem Punkt sind wir uns allerdings nicht einig. Die FDP möchte, wenn ich Ihren Antrag richtig verstanden habe, eine reine Selbstkontrolle der Wirtschaft in Jugendschutzfragen. ({6}) Das ist bei illegalen Inhalten nicht möglich. Deren Kontrolle ist eine Hoheitsaufgabe und wir sollten sie nicht durch intransparentes „Outsourcing“ an Private verwischen. In Ihrem Antrag fehlt ein weiterer Aspekt, nämlich der Einsatz für international verbindliche Mindeststandards. Hierzu wird meine Kollegin Bätzing ebenfalls noch etwas sagen. Lieber Kollege Otto, wenn ich diesen Antrag bilanziere, sage ich Ihnen nochmals voll des Lobes: Es ist ein sehr guter Ansatz, den man im Detail noch verbessern kann. Das ist keine Frage. Wir sollten uns auch in unserem Unterausschuss noch weiter über die Möglichkeiten der Selbstkontrolle der Wirtschaft unterhalten. Wir sollten konkret über die Art und Höhe der Anforderungen sprechen und wir sollten uns zu international verbindlichen Standards im Jugendschutz noch einiges einfallen lassen, wenngleich dieses sicherlich schwierig ist. In den letzten Sekunden will ich ganz grundsätzlich noch etwas zum Thema Filter sagen. Wir lehnen tatsächlich Filter für das Internet ab, nicht nur weil sie technisch schwierig sind, ({7}) sondern weil es der Versuch wäre, weltweit einen einheitlichen Level herzustellen. Ein Filter, der bei uns gut gemeint eingesetzt wird, würde im Iran zu anderen Problemen führen als in China. Wenn gefiltert wird, befürworten wir teilnehmerautonome Filter, ({8}) mit denen beispielsweise Eltern, Schulen und andere Einrichtungen den Zugang zu diesen Bereichen gezielt verhindern können. Da funktioniert es technisch auch. ({9}) - Entschuldigung, ich will ja keinen Dissens, sondern ich möchte auch an dieser Stelle nochmals die Einigkeit unterstreichen, lieber Kollege Otto. Ich glaube, eine lebenswerte Gesellschaft hängt nicht nur von Bits und Bytes ab. Es muss uns gelingen, unseren Kindern ein Umfeld für eine ungestörte Entwicklung zu liefern, und wir müssen etwas für die Medienkompetenz tun. Ich glaube, die Vermittlung von Medienkompetenz würde viel mehr bewirken als die Debatte über technisch unsinnige Lösungen. Diese Kritik an dem Regierungspräsidium teilen wir in der Tat. Frau Präsidentin, Sie signalisieren, dass meine Redezeit zu Ende ist. Falls ich nicht mehr zu Wort komme - auch nicht per Zwischenruf -, ({10}) wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Wir werden das Thema zu gegebener Zeit weiterdiskutieren. Schönen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSU-Fraktion.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Tauss, im Grunde genommen haben Sie dem Antrag von Herrn Otto zugestimmt. Sie haben nach einigen Argumenten gesucht, um letztlich noch zu einer Ablehnung zu kommen. Diese war dann aber sehr schwach begründet. Ich glaube, dass es zu dem im Antrag und auch von Herrn Otto aufgezeigten Verfahren keine wirkliche Alternative gibt. Wir wissen, dass die Zahl jugendgefährdender und gewaltverherrlichender, teilweise auch rassistischer Internetseiten gestiegen ist. In den vergangenen vier Jahren war ein Zuwachs von fast 300 Prozent zu verzeichnen. Dennoch glaube ich, dass die von Ihnen beschriebenen Szenarien, Herr Otto, geeignet sind, um mit dem Problem fertig zu werden. Wir müssen immer wieder die Eigenverantwortung stärken und das bisher praktizierte Rechtssystem beibehalten, weil es nur so einen zuverlässigen Schutz im Internet gewährleistet. Von daher möchte ich den Antrag der FDP ausdrücklich unterstützen. Er enthält auch hinsichtlich der Gewichtungen die richtigen Formulierungen. Insofern denke ich, dass es keine Alternative zu diesem Antrag gibt. Wer Alternativen aufzeigen würde, würde nur Augenwischerei betreiben. ({0}) Ich glaube, wie gesagt, dass das bisherige Rechtssystem beibehalten werden muss. Insofern sind die Einlassungen im Zusammenhang mit Nordrhein-Westfalen aus meiner Sicht richtig. ({1}) Eine freiheitliche Gesellschaft, die über ungeheure technische Möglichkeiten, wie sie das Internet darstellt, verfügt, sollte diese hinlänglich nutzen. In einer freiheitlichen Gesellschaft ist im Umgang mit solchen Möglichkeiten immer wieder die Verantwortung des Einzelnen gefordert. In diesem Zusammenhang ist auch an die Verantwortung der Industrie zu erinnern. Soweit sie Filter einbauen kann, sollte sie dies auch tun. Aber wir dürfen die Industrie nicht überfordern. Es ist richtig: Wenn wir in Bezug auf Filter einen eindeutigen Rechtsrahmen vorgeben würden, dann würden wir immer hinter den technischen Möglichkeiten zurückbleiben, die sich die Industrie erarbeitet hat. Insofern ist es besser, wenn die Industrie von sich aus eigenverantwortlich handelt, statt von unserer Seite einen kleinlich gesetzten Rechtsrahmen vorzugeben. Ich glaube allerdings auch, dass die Eltern viel deutlicher auf die Probleme im Zusammenhang mit dem Internet hingewiesen werden müssen. Die Eltern müssen ihrer Verantwortung stärker gerecht werden. Wir können sie nicht aus dieser Verantwortung entlassen. ({2}) - Wenn Sie einmal etwas Positives machen, dann verbreiten wir das auch. Das kommt schließlich selten genug vor, Herr Tauss. ({3}) Das Thema muss auch in den Schulen viel stärker problematisiert werden. Letztlich muss jeder an seine eigene Verantwortung erinnert werden. Was sich im Internet tummelt - beispielsweise werden in den USA Internetseiten von rassistischen Heiratsvermittlungen betrieben -, kann zwar aufgrund unserer Rechtslage in Deutschland gegebenenfalls verboten werden. Auf internationaler Ebene können wir aber keine Rechtsetzung vornehmen. Deshalb gilt es, stärker auf die Verantwortung des Einzelnen zu setzen, als dies möglicherweise bisher der Fall gewesen ist. Insofern bleibt zu hoffen, dass es gelingt, die Eltern, die Pädagogen und auch die Kinder stärker als bisher in die Verantwortlichkeit mit einzubeziehen. Hier ist auch der Einzelne immer wieder sehr stark gefordert. Daher sollten alle den Ansatz der FDP unterstützen und wir sollten den Antrag der Liberalen einstimmig verabschieden. Ich habe jedenfalls bei den Ausschussberatungen über diesen Antrag keine sehr großen Divergenzen festgestellt. Insofern bin der Auffassung, dass es keinen Grund gibt, den sehr guten Antrag der FDP abzulehnen. Wir werden jedenfalls zustimmen. Kollege HansJoachim Otto, auf uns können Sie sich in dieser Frage verlassen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/ Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es besteht große Einigkeit in diesem Hause darüber, dass der Schutz vor illegalen und jugendgefährdenden Internetinhalten ein sehr wichtiges, aber keinesfalls einfach zu behandelndes Thema ist. Das Problem ist, dass wir im Detail doch zu unterschiedlichen Einschätzungen dessen kommen, was uns letztendlich hilft, effektiv gegen illegale und jugendgefährdende Inhalte im Internet vorzugehen. Klar ist, dass das Internet ein globales Medium ist. Klar ist aber auch, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist. Was in der Offlinewelt verboten ist, ist auch im Internet nicht erlaubt. ({0}) Bestimmte Regeln aus der Offlinewelt gelten aber im Internet nicht, beispielsweise die 23-Uhr-Regelung für das Fernsehen. Unsere politische Aufgabe ist, den Kinder- und Jugendmedienschutz auch im Netz umfassend zu gewährleisten. Daran, ob Filtern statt Sperren immer die richtige Lösung ist, habe ich als Grüne durchaus Zweifel. Filtern muss nicht unbedingt effektiver als Sperren sein. Kein Filterprogramm kann 100-prozentigen Schutz vor unerwünschten Internetinhalten bieten. ({1}) - Richtig, das kann auch keine Sperre. Dazu komme ich gleich noch. - Durch Filterprogramme können auch erwünschte Inhalte ausgeblendet werden und Unerwünschtes kann durchkommen. Die Grünen und die FDP sind sich darin einig, dass das pauschale Sperren von Websites durch Dritte erst recht keine Lösung darstellt. Der Vorschlag, die Verantwortung auf die Provider zu übertragen, schießt weit über das Ziel hinaus. ({2}) Klar ist für uns ebenfalls: Die Sperrverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf haben zwar vor einiger Zeit für Wirbel gesorgt. Aber damit war lediglich die platte Botschaft verbunden: Wir tun etwas für den Kampf gegen den Rechtsradikalismus. Das ist natürlich richtig und wichtig. Aber man darf nicht auf die GesetzmäßigGrietje Bettin keiten des Netzes hereinfallen. Das ist nach unserer Einschätzung in diesem Fall geschehen. ({3}) Die hier eingeleiteten Sperrmaßnahmen wurden innerhalb weniger Sekunden von findigen Usern umgangen. Das zeigt, dass wir Lösungen brauchen, die der Komplexität des Mediums Internet gerecht werden. Sie haben durchaus - das gestehe ich zu - eine Vielzahl der dafür notwendigen Bausteine angesprochen. Rot-Grün hat mit dem neuen Jugendschutzgesetz und dem entsprechenden Staatsvertrag der Länder bereits einen wichtigen Baustein gelegt; das wurde bereits angesprochen. Damit wurden aus unserer Sicht sehr gute Voraussetzungen dafür geschaffen, dass illegale und jugendgefährdende Internetinhalte schnell und effektiv erkannt werden können und dass dagegen vorgegangen werden kann. Die Kommission für Jugendmedienschutz ist als zentrale Anlaufstelle eingerichtet worden und kann entsprechende Sanktionen verhängen. Wir setzen auf das Prinzip regulierter Selbstregulierung. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Selbstkontrolleinrichtungen. Stellvertretend möchte ich hier die Freiwillige Selbstkontrolle Multimediadiensteanbieter nennen. Hier können Beschwerden über problematische Internetinhalte vorgetragen und dann auch strafrechtlich verfolgt werden. Die Kommission für Jugendmedienschutz kann entsprechend qualifizierte Selbstkontrolleinrichtungen anerkennen. So arbeiten aus unserer Sicht User, Wirtschaft und Gesetzgeber gemeinsam für einen möglichst effektiven Jugendschutz. Gerade präventive Maßnahmen können weitere wichtige Bausteine im Bereich Jugendschutz sein. Die Vermittlung von Medienkompetenz - ich denke dabei vor allem an die Vermittlung der Kompetenz, wie man das Internet sinnvoll nutzen kann - ist für uns ein solcher Baustein. Dasselbe gilt für die Elternaufklärung: Eltern sollten wissen, wie sie ihre Kinder am besten schützen können. Teilnehmerautonome Filtersysteme halten wir durchaus für eine sehr wichtige Hilfe dabei; denn mit diesen Systemen können Eltern selber entscheiden, was ihre Kinder sehen dürfen und was nicht. ({4}) Klar ist aber auch, dass eine sinnvolle Kontrolle des globalen Mediums Internet letztendlich nur auf internationaler Ebene stattfinden kann. Es ist sehr schwer - auch darüber haben wir schon häufig diskutiert -, zu gemeinsamen internationalen Standards zu kommen. Die Diskussion darüber können wir hier jetzt nicht fortsetzen. Es bedarf eines Zusammenspiels von Selbstkontrolle, von staatlicher Regulierung und von internationalen Übereinkünften. So können wir menschenverachtenden Internetinhalten wirklich entgegentreten. Darüber hinaus ist aber auch jeder Nutzer, jede Nutzerin des Internets gefragt, entsprechend sensibel zu sein und aufzupassen. Aus unserer Sicht ist das letztendlich der beste Weg, Straftaten im Internet zu verhindern. Ich sehe, dass die Bundesregierung hier die notwendigen Schritte eingeleitet hat. Die verschiedenen Bausteine, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, wurden bereits sinnvoll und systematisch verwendet. Von daher stimmen wir diesem Antrag nicht zu. ({5}) Ich hoffe, dass wir die Diskussion fortführen und dass wir die Entwicklung der freiwilligen Selbstkontrolle weiterhin konstruktiv begleiten. ({6}) - Da die Bundesregierung die notwendigen Schritte eingeleitet hat,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie müssen aber jetzt zum Schluss kommen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

halten wir diesen Antrag für überflüssig. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing, SPD-Fraktion.

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Jörg Tauss hat Ihnen schon vorhin die technischen Gründe dargelegt, die aus unserer Sicht dagegen sprechen, Ihrem Antrag zuzustimmen. Ich als Jugendpolitikerin möchte noch einmal betonen, was aus unserer Sicht gegen diesen Antrag spricht. Auch wir hätten einen gemeinsamen Antrag sehr begrüßt. Wie wir gehört haben, ist er nicht zustande gekommen, zum einen, weil wir einfach noch Zeit gebraucht haben, und zum anderen, weil es wohl nicht möglich war, in diesem Antrag die Belange des Jugendmedienschutzes ausreichend zu berücksichtigen, was wir sehr bedauern. Der Antrag der FDP-Fraktion enthält vier zentrale Forderungen, die wir grundsätzlich begrüßen und die zum Teil zutreffend und nachvollziehbar sind. Daher finden wir es aus jugendpolitischer Sicht umso bedauerlicher, dass er an der aktuellen Situation im Jugendmedienschutz völlig vorbeigeht. Es ist erstaunlich und, wie gesagt, bedauernswert, dass Sie, Kollege Otto, die Novellierung des Jugendschutzgesetzes und den Jugendmedienschutzstaatsvertrag in diesem Antrag nur streifen; schließlich erfolgten diese Gesetzesinitiativen genau mit dem Ziel, die Rechtsordnung zu vereinfachen und den Anforderungen der digitalen Welt und der globalen Netze ein Stück gerechter zu werden. ({0}) Lassen Sie mich wenigstens einige Aspekte hervorheben, die neu eingeführt wurden und die auch eine erste Reaktion von uns auf die neuen Herausforderungen einer multimedialen Welt sind. Zum Beispiel erfolgte die jugendschutzrechtliche Zusammenfassung von Telediensten und Mediendiensten unter dem Begriff „Telemedien“. Es wurden eine Alterskennzeichnungspflicht für Computerspiele und eine differenzierte Liste jugendgefährdender Medien eingeführt. Darüber hinaus sieht der Jugendmedienschutzstaatsvertrag komplementär die Einbindung und die Stärkung der Selbstkontrolleinrichtungen sowie die Möglichkeiten technischer Zugangskontrollen vor. Wie der Kollege Tauss bereits erwähnt hat, konnten wir ins Gesetz die wichtige Unterscheidung zwischen nutzerautonomen und nicht nutzerautonomen Filterprogrammen einbringen. Zwangsweise zentrale technische Filterungen und Sperrungen gehören demnach zu den letzteren. Sie sind vom Jugendschutzgesetz insofern nicht privilegiert, als Informationen aus der Liste jugendgefährdender Internetangebote nur für nutzerautonome Filterprogramme genutzt werden dürfen. Wir sollten deshalb gemeinsam überlegen, ob nicht ein Appell dahin gehen könnte, dass auf jeden neu verkauften PC auch ein Jugendschutzfilterprogramm mit entsprechenden Hinweisen für Käuferinnen und Käufer mit Kindern aufzuspielen ist. Wenn mittlerweile schon Programme von Onlinediensten wie T-Online und AOL zur Erstausstattung eines PC gehören, dann sollte man dies auch einmal im Blick auf Filterprogramme für Kinder und Jugendliche überlegen. Das ist ein Appell an die Wirtschaft, eine Selbstkontrolle hinzubekommen, damit auf eine gesetzliche Regelung verzichtet werden kann. ({1}) Ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, dass die Kommission für Jugendmedienschutz nach dem ersten Jahr ihres Bestehens eine positive Bilanz gezogen hat. Sie hat generelle Verfahrensfragen geklärt. Sie hat die Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle anerkannt. Sie hat Anforderungen für geschlossene Benutzergruppen formuliert und sie hat Eckwerte für den Einsatz von Jugendschutzprogrammen im Internet festgelegt. Wir haben in Ihrem Antrag die Forderung nach internationalen Mindeststandards vermisst. Im Antrag wird nicht die Notwendigkeit anerkannt, hierzu eine internationale Perspektive zu entwickeln. Wie Frau Bettin schon gesagt hat, ist es sicherlich schwierig, solche Standards zu entwickeln, aber es ist machbar, wenn auch nur Schritt für Schritt. Ein Aspekt ist der, den wir in unserem Antrag zum UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft aufgegriffen haben, nämlich die Pflicht zur automatisiert verarbeitbaren Kennzeichnung aller Inhalte und Dienste durch die jeweiligen Anbieter. Lassen Sie mich zum Schluss noch ganz kurz auf die Medienkompetenz eingehen. Gerade aus jugendpolitischer Sicht ist die Stärkung der Medienkompetenz von Kindern, aber auch von Eltern der wichtigste Beitrag zum Jugendschutz. ({2}) Am vergangenen Montag hat eine Anhörung der Kinderkommission zum Thema „Kids@Neue Medien Chance und Versuchung für Kinder“ stattgefunden, in der noch einmal ganz explizit auf die Medienkompetenz hingewiesen wurde.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie können aber wirklich nur noch ganz kurz darauf eingehen. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Schluss. - Der Appell an alle, an Politik, an Gesellschaft, an Schule, geht dahin, die Medienkompetenz zu stärken. Wir haben mit der Kampagne „Schau hin“ und diversen Broschüren einen Anfang gemacht. Der Appell an uns alle geht dahin, wie gesagt, die Medienkompetenz zu stärken, weil sie immer noch der beste Beitrag zum Jugendmedienschutz ist. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3409 zu dem von der Fraktion der FDP eingebrachten Antrag mit dem Titel „Schutz vor illega- len und jugendgefährdenden Internetinhalten - Filtern statt Sperren“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1009 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b so- wie die Zusatzpunkte 9 a und 9 b auf: 25 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften im Hochschulbereich ({0}) - Drucksache 15/4132 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Innenausschuss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Freigabe der Personalstruktur an Hochschulen ({2}) - Drucksache 15/3924 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Flexiblere Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hochschulbereich schaffen - Drucksache 15/4131 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren - Drucksache 15/4151 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion. ({6})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung der Juniorprofessur war begleitet von zum Teil völlig überzogener Kritik, ja von Polemik, die für lang anhaltende Verunsicherung gesorgt hat und dem wissenschaftlichen Nachwuchs nachhaltigen Schaden zugefügt hat. Inzwischen ist sich die Fachwelt aber praktisch einig darüber, dass die Juniorprofessur ein erfolgreiches Modell ist und unbedingt erhalten bleiben muss. Das Fazit einer Befragung von 45 Juniorprofessoren an der Humboldt-Universität lautet: Alle würden es wieder tun. ({0}) Ich begrüße deshalb nachdrücklich, dass sich Bund und Länder nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur fünften HRG-Novelle rasch darauf geeinigt haben, ({1}) die Juniorprofessur durch den heute eingebrachten Gesetzentwurf abzusichern. ({2}) Wir schaffen mit diesem Gesetz wieder eine klare Rechtsgrundlage für die befristete Beschäftigung von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für Altfälle verlängern wir die Übergangsfrist von 2005 auf 2008. Bis dahin werden - davon gehen wir aus - tarifrechtliche oder notfalls gesetzliche Regelungen getroffen worden sein, ({3}) die es ermöglichen, dass Wissenschaftler nach der Qualifikationsphase leichter weiterbeschäftigt werden können. Was spricht aber nun inhaltlich für die Juniorprofessur? Welche Ziele wurden damit verfolgt und erreicht? Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können früher eigenständig forschen und lehren. ({4}) So liegt das Durchschnittsalter der Juniorprofessorinnen und -professoren bei 34 Jahren, das Durchschnittsalter von Habilitierten bei der Erstberufung auf eine Professur dagegen bei circa 40 Jahren. Auch zur dringend notwendigen Internationalisierung der deutschen Hochschulen trägt die Juniorprofessur nachweislich bei. ({5}) 14 Prozent der berufenen Juniorprofessorinnen und -professoren kamen aus dem Ausland. Viele von ihnen waren übrigens deutsche Rückkehrer. Das zeigt eindeutig: Durch das Angebot der Juniorprofessur ist der Wissenschaftsstandort Deutschland international konkurrenzfähiger und attraktiver geworden. ({6}) Ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Juniorprofessur eröffnet mehr Frauen den Weg zur Professur. Der Frauenanteil liegt hier bei etwa 30 Prozent, ({7}) bei den Habilitierten nur bei circa 22 Prozent. Das in meinen Augen wichtigste Argument lautet aber: Durch die Juniorprofessur wird das kreative Innovationspotenzial von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefördert. Wenn man sich die Relation zwischen Alter und wissenschaftlicher Produktivität speziell bei den Spitzenleistungen von Nobelpreisträgern anschaut, so stellt man fest, dass diese die Leistungen, für die sie später prämiert wurden, zum großen Teil in jungen Jahren erbracht haben. Albert Einstein war zum Beispiel 27, als er mit seiner Relativitätstheorie hervortrat, der Wirtschaftswissenschaftler Reinhard Selten 35 Jahre, als er seine spieltheoretischen Arbeiten entwickelte, und der Molekularbiologe Günter Blobel ebenfalls 35 Jahre, als er seine Signalhypothese bei Proteinen vorstellte. ({8}) Es ist also ganz wichtig, dass junge Wissenschaftler möglichst früh, jedenfalls deutlich früher als zurzeit üblich, unabhängig wissenschaftlich arbeiten können. Genau das wollen wir mit der Juniorprofessur erreichen. Wir werden damit auch die Altersstruktur in den Wissenschaften verändern, also verjüngen. Damit wollen wir dazu beitragen, dass stärker als bisher eingetretene Pfade verlassen werden, neues Wissens hervorgebracht wird und fruchtbare Forschungslandschaften entstehen. ({9}) Durch das von uns vorgelegte Gesetz kommt die Ausgestaltung der Juniorprofessur nun wesentlich den Ländern und Universitäten zu, wie es dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Folgende vier Aspekte müssen dabei aber aus meiner Sicht unbedingt beachtet werden: Erstens. Bei der Berufung von Juniorprofessoren sind wettbewerbs- und leistungsorientierte und transparente Verfahren in den Berufungskommissionen notwendig. Die Besten müssen auch wirklich die Chance bekommen, ihre Qualitäten zu entwickeln. ({10}) Zweitens. Der Nachwuchs muss in Berufungsverfahren die Möglichkeit erhalten, Stellenausstattung und Dienstaufgaben eigenständig zu gestalten. Drittens. Der Karriereweg über die Juniorprofessur muss attraktiv sein. Folglich müssen die Länder die Möglichkeit des Tenure Tracks in ihrer Landesgesetzgebung vorsehen. ({11}) Hochschulen haben damit die Möglichkeit, herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Übergang auf eine Lebenszeitprofessur anzubieten. Damit orientiert sich der Wissenschaftsstandort Deutschland an internationalen Maßstäben. Viertens. Positiv evaluierte Juniorprofessoren müssen bei der Ausschreibung einer Lebenszeitprofessur dieselben Chancen haben wie Habilitierte. Zurzeit will sich fast die Hälfte der Juniorprofessoren sicherheitshalber noch habilitieren, um bei Berufungsverfahren in Konkurrenz zu Habilitierten nicht das Nachsehen zu haben. Die Doppelbelastung Juniorprofessur plus Habilitation führt aber zu Zeitverzögerung und Effizienzverlusten. Genau das war vonseiten des Gesetzgebers nicht gewollt. ({12}) Abschließend ein nachdrücklicher Appell an die Länder, aber auch an die Hochschulen und Stiftungen: Sorgen Sie unbedingt dafür, dass mehr Stellen geschaffen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die Juniorprofessur zur „Randexistenz im deutschen Hochschulwesen“ verkommt. ({13}) Davor warnt eine Studie des Centrums für Hochschulentwicklung und der Jungen Akademie. Um die Juniorprofessur zu unterstützen, hat der Bund für die sächliche Erstausstattung der ersten 3 000 Juniorprofessuren insgesamt rund 180 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. ({14}) Fördermittel für 933 Stellen wurden bereits bewilligt, rund 600 Stellen sind inzwischen besetzt. Kurzum: Die Bundesregierung hat das Notwendige getan. Nun sind alle Länder gefordert, darauf aufzusetzen. Es muss gelingen, auf dem Weg über die Juniorprofessur junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer kreativsten Phase darin zu unterstützen, Spitzenleistungen zu erbringen. Nur so können wir den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland entscheidend voranbringen. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Bayern, Dr. Thomas Goppel. ({0}) Dr. Thomas Goppel, Staatsminister ({1}): Frau Vizepräsidentin! Hohes Haus! Ich bedanke mich, dass ich Gelegenheit habe, etwas zu einem Thema zu sagen, das sehr viel schneller und sehr viel früher Dr. Thomas Goppel, Staatsminister ({2}) hätte so einvernehmlich diskutiert werden können wie heute, ({3}) wenn nicht die Blockade vonseiten der SPD gewesen wäre. ({4}) Die Frau Bundesministerin hat ausdrücklich die Habilitation verbieten und die Juniorprofessur an ihre Stelle setzen wollen. ({5}) Das war die Ausgangsposition. Nur deswegen haben wir geklagt und deswegen haben wir gewonnen. Das stinkt Ihnen, Herr Tauss; ({6}) dafür habe ich Verständnis. Das ändert aber nichts daran, dass Sie trotzdem zuhören sollten. ({7}) Ich habe Ihnen schließlich auch zugehört. Die Ausgangsposition, die wir haben, macht deutlich: Wer schlampt, muss nachbessern. Dieses Nachbessern war notwendig. Das Bundesverfassungsgericht hat am 27. Juli 2004 der Bundesregierung auferlegt, sich an die ihr zugestandenen Kompetenzen zu halten und den Ländern nicht ins Handwerk zu pfuschen. Das Gericht hat dies in einer Weise gefordert, die von den Ländern gar nicht beantragt war, sondern weit über deren Vorstellungen hinausging. Das Bundesverfassungsgericht findet, dass die Länder in diesem Zusammenhang viel zu nachgiebig sind. ({8}) Das müssen Sie einmal ganz nüchtern registrieren. Wenn ich das mit Ihnen zusammen unter dem Strich zusammenzähle, dann kommt heraus, dass dank des einmaligen Chaos, das wir der Bundesregierung verdanken, in zehn Ländern Gesetze in Kraft sind, die dem geltenden Hochschulrahmengesetz widersprechen, und sich in weiteren Ländern entsprechende Gesetzentwürfe in parlamentarischen Beratungen befinden. Infolge der Fehler der Bundesbildungsministerin verstoßen auch diese Länder somit gegen das Grundgesetz. Nichts anderes ist der Sachverhalt. Das, was Sie so freundlich und beschönigend dargestellt haben, lasse ich alles gelten. Das hätte ich auch unterschrieben, bevor wir in diese Streitlage gekommen sind. Denn wenn Sie so optimistisch und aufgeschlossen argumentiert hätten, wäre mancher Streit vermieden worden. ({9}) - Sie unterscheiden sich von mir dadurch, lieber Herr Kollege Tauss, dass Ihre Ideologie Ihnen jede normale freie Denkweise versperrt. Deswegen sollten Sie die Zwischenrufe unterlassen. ({10}) Tausenden befristet abgeschlossenen Arbeitsverträgen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist damit die Rechtsgrundlage entzogen. Da kann man nur sagen: Chapeau! Ein solches Vorgehen ist neu; das hat es in dieser Bundesrepublik noch nicht gegeben. ({11}) Der vorliegende Gesetzentwurf liegt besonders im Interesse der Länder, die das für nichtig erklärte Rahmenrecht bereits umgesetzt haben. Ich gehöre noch nicht einmal dazu, weil ich gewusst habe, dass die Bundesregierung unterliegen wird. Eine rasche bundesrechtliche Absicherung der Juniorprofessur ist dringend geboten. Da sind wir uns einig. Ein schnelles Handeln des Gesetzgebers liegt aber auch im Interesse der Bundesrepublik als Rechtsstaat. Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit, wenn die gegenwärtige verfassungswidrige Rechtslage im Hochschulbereich nicht rasch beseitigt wird. Die Rechtsunsicherheit muss weg. Das sind wir den Betroffenen schuldig, den wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Hilfskräften, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts tangiert werden. ({12}) - Wenn jemand vor dem Verfassungsgericht klagt und Recht bekommt, sich anschließend aber von demjenigen, der eindeutig unterlegen ist, Vorwürfe gefallen lassen muss, dann ist das ein Zeichen dafür, dass Sie ein falsches Rechtsverständnis haben. ({13}) Wenn Sie ruhig wären, täten Sie sich selbst den größten Gefallen. Die Fehlleistungen und ihre Verursacherin stehen fest: Erstens. Die „Reparaturnovelle“ war vermeidbar. Die Bundesbildungsministerin hat es aber im Rahmen der Dienstrechtsreform vorgezogen, den Weg der Gemeinsamkeit mit den Ländern zu verlassen. Mit ideologisch begründeter Kompromisslosigkeit bei der Ausgestaltung der Juniorprofessur als Königsweg für den wissenschaftlichen Nachwuchs hat sie die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts selber in die Wege geleitet. Zweitens. Die Durchsetzung der neuen Personalstruktur hat der Weiterentwicklung und Modernisierung des Hochschulwesens schweren Schaden zugefügt. ({14}) Gleichwohl haben die Länder Grund, der Bildungsministerin zu danken. Denn ohne ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft und ohne ihr hartnäckiges Festhalten an der Juniorprofessur wäre die Lage nicht so klar wie heute. Sie ärgert natürlich am meisten, dass Sie in die Schranken verwiesen wurden. Wer eine Sache Dr. Thomas Goppel, Staatsminister ({15}) ausreizt, muss damit rechnen, dass er scheitert. Die Bildungsministerin hat die Bedenken der Länder ignoriert und damit dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit gegeben, die Bundesregierung in die Schranken zu weisen. ({16}) Das Urteil vom Juli hat den politischen Einfluss der Bundesregierung im Hochschulbereich nachhaltig eingeschränkt. Das bleibt, wie Sie wissen, nicht ohne Auswirkungen auf die Beratungen der Föderalismuskommission. ({17}) Drittens. Die durch Frau Bulmahn provozierte Rechtsunsicherheit könnte durch die Länder selbst beseitigt werden. Dazu müsste die Bundesregierung bereit sein, die Regelung der Personalstruktur gemäß Art. 125 a Abs. 2 des Grundgesetzes den Ländern zu überlassen. ({18}) Der Bundesrat hat am 24. September 2004 eine entsprechende Gesetzesinitiative beschlossen und im Bundestag eingebracht. Wir halten es für keine gute Verfahrensweise, dass sich die Bundesregierung gegen den Gesetzentwurf des Bundesrates ausgesprochen hat. Viertens. Der vorliegende Gesetzentwurf verzichtet endlich darauf, die „zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen“ als Voraussetzung für die Berufung von Professoren näher zu regeln. ({19}) Frau Bulmahn und Herr Staatssekretär, ein großes Kompliment! Sie haben dazugelernt. Die Habilitation bleibt damit nach Maßgabe des Landesrechts weiterhin als Qualifizierungsweg für den wissenschaftlichen Nachwuchs erhalten. Das Alter von 50 Jahren trifft vielleicht auf Nordrhein-Westfalen zu, aber nicht auf Bayern. Wir sind inzwischen bei einem Alter von 36 Jahren angelangt. Damit wir uns recht verstehen: Auch das ist mir zu alt. Die Habilitation für die Geisteswissenschaftler ist ein alternativer Weg, der nötig ist. Die Tatsache, dass Sie selbst um eine Nachbesserung bitten, weil zwei mal drei Jahre Juniorprofessor kein sicherer Weg in eine gute Wissenschaftslaufbahn sind, ist der Beweis, dass Sie noch nicht genügend nachgedacht haben. Lassen Sie uns an dieser Stelle gemeinsam weitermachen! ({20}) Der Weg, den Sie bisher eingeschlagen haben, ist nicht der richtige Weg. ({21}) - Herr Tauss, wenn Sie sich weniger aufregen, bin ich schneller fertig. ({22}) Die Habilitation bleibt also. Jetzt haben die Landesgesetzgeber einen weiten Spielraum. Deshalb verzichten wir auf Einwendungen gegen den Gesetzentwurf und betonen ausdrücklich: Die Beratungen der Föderalismuskommission zur Neuregelung der Gesetzgebungskompetenzen im Hochschulbereich werden dadurch nicht präjudiziert. Letzter Punkt. Der vorliegende Gesetzentwurf löst allerdings nicht die besoldungsrechtliche Problematik, die mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der Neuordnung der Personalstruktur verbunden ist. Nachdrücklich appelliere ich deshalb an die Bundesregierung, die Folgen so schnell wie möglich auch im Besoldungsrecht zu berücksichtigen. Die bisherige Untätigkeit muss wirklich ein Ende haben. Lassen Sie mich abschließend - dieser Punkt darf nicht zu kurz kommen - den beiden Koordinatoren auf Länderseite, dem Kollegen Professor Zöllner aus Rheinland-Pfalz und dem Kollegen Frankenberg aus BadenWürttemberg, herzlich danken. Ihre Besonnenheit im Umgang mit dieser Thematik hat dazu beigetragen, dass wir heute so weit sind. ({23}) Jetzt werden die Interessen der Länder gegen Frau Bulmahns Begehrlichkeiten wirklich nachhaltig verteidigt. ({24}) Ich bin froh, dass wir an dieser Stelle gemeinsam an einem Strang ziehen. Es sollte Sie nachdenklich stimmen, dass der Kollege Zöllner auf unserer Seite steht. ({25}) An die Adresse der Bundesbildungsministerin will ich sagen: Auf den Arzneimittelpackungen ist der Hinweis zu lesen, bei Risiken und Nebenwirkungen den Arzt oder Apotheker zu fragen. In diesem Fall wäre es vernünftig, die Länder zu fragen. Dann braucht man sich nicht an das Bundesverfassungsgericht zu wenden. ({26})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/ Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die heute zu beratende Novelle des Hochschulrahmengesetzes wurde durch das keineswegs einstimmige Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig, Herr Goppel. Drei der fünf Richter ({0}) hatten eine andere Rechtsauffassung. Ich muss das hier betonen, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, immer gerne so tun, als ob das alles vorhersehbar gewesen wäre. ({1}) Wir tragen diese Novelle mit, weil sie schnell Rechtssicherheit für die Betroffenen herstellt. Es ist besonders wichtig, dass die Arbeitsverträge Tausender Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler damit wieder eine rechtliche Grundlage bekommen. Ich will nicht verhehlen, dass sich die Grünen gerne gewünscht hätten, diese so genannte Reparaturnovelle auch für Änderungen in der Sache zu nutzen. Es war ein richtiger Schritt, die bisherige Übergangsregelung für Arbeitsverträge um drei Jahre auf Ende Februar 2008 zu verlängern. Wir brauchen aber eine gründliche Fortentwicklung der so genannten Zwölfjahresregel. Als Gesetzgeber müssen wir die praktische Möglichkeit schaffen, in Deutschland in der Wissenschaft auch unterhalb der Professur dauerhaft arbeiten zu können. Am wichtigsten ist für uns dabei, dass diese Möglichkeit für die Hochschulen auch umsetzbar ist. Eine dauerhafte Anstellung ist in vielen Fällen durchaus sinnvoll, zum Beispiel bei routinemäßigen wissenschaftlichen Arbeiten wie der Redaktion von Lexika. Diese Redakteure qualifizieren sich nämlich aufgrund der Art ihrer Tätigkeit in der Regel nicht weiter. Leider sind solche weiter gehenden inhaltlichen Überlegungen Opfer der Taktiererei der unionsgeführten Bundesländer geworden. ({2}) Weil deren Ministerpräsidenten Verhandlungsmasse für die Föderalismuskommission aufbauen wollten, erteilten sie ihren Wissenschaftsministern zwei Monate lang einen Maulkorb. Sie durften nicht mit der Bundesministerin verhandeln. ({3}) Dadurch konnte man sich jetzt nur in aller Eile auf den Status quo einigen, wie er vor dem Urteil zur Juniorprofessur bereits bestand und den wir jetzt beschließen müssen, um überhaupt Rechtssicherheit herzustellen. Meine Damen und Herren, das sind Machtspielchen auf dem Rücken der betroffenen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. ({4}) Man sollte sich nicht über den Braindrain beklagen, wenn man nach dem Motto handelt: Erst die Macht, dann die Sache! ({5}) Ihre Fraktionsanträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hätten Sie, wenn Sie es mit der Flexibilisierung der Befristung wirklich ernst gemeint hätten, besser schon im August an Ihre Parteifreunde in den Landesregierungen schicken sollen. ({6}) Das Parlament heute kurz vor knapp damit zu beschäftigen ist viel zu spät ({7}) und bringt uns in der Sache kein Stück weiter. Noch deutlicher als mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates, den wir heute beraten, kann man seine machtpolitischen Ambitionen nicht zum Ausdruck bringen. Die unionsgeführte Mehrheit im Bundesrat will die Macht über die Personalstrukturen in Länderhände legen; Herr Goppel hat es gerade wieder betont. ({8}) Vor Einführung der bundeseinheitlichen Regelung, wie sie jetzt im Rahmengesetz steht, gab es im damaligen Westdeutschland an den Hochschulen rund 70 verschiedene Personalkategorien. Was dies heute für die Mobilität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands um die klügsten Köpfe weltweit bedeuten würde, kann sich doch jeder ausrechnen. Wenn man das verhindern will, müsste man nicht dem Bund, sondern der KMK die Aufgabe übertragen, eine bundeseinheitliche Personalstruktur sicherzustellen. Damit würde die KMK einen weiteren schweren Batzen Arbeit aufgebürdet bekommen. Noch eine Randbemerkung zu einer in der Sache bestehenden Ironie. Christian Wulff, der niedersächsische Ministerpräsident und härteste Kritiker der KMK, hat dem Personalfreigabegesetzentwurf aus BadenWürttemberg tatsächlich zugestimmt. Da frage ich mich: Was will Herr Wulff eigentlich? Weniger KMK oder mehr KMK? Womöglich gar keine Abstimmung? Was will die CDU eigentlich in dieser Frage? ({9}) Unser zentrales politisches Ziel ist, die Attraktivität des Hochschul- und Wissenschaftsstandorts durch gute Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu erhöhen. Permanente strategische Machtspielchen schaden der internationalen Attraktivität. Stimmen Sie im Interesse der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu! Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion. ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute eine Vorlage auf dem Tisch, die auch BMBFintern als Reparaturnovelle bezeichnet wird. ({0}) Mehr ist sie nun einfach nicht. Wir müssen die Verunsicherung reparieren, die an unseren Hochschulen und Forschungsinstituten durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ({1}) herbeigeführt worden ist. Das betrifft 110 000 Menschen in diesem Lande, lieber Herr Tauss. ({2}) Das geschah einzig und allein wegen eines Hickhacks zwischen Bund und Ländern. Herr Goppel, diesen Vorwurf müssen Sie sich schon gefallen lassen: Die Länder haben das Ihrige getan, um diese Menschen in die Verunsicherung zu treiben. ({3}) Warum sind wir nun in diese Lage gekommen? Weil sich einerseits die Ministerin mit der ihr eigenen Dickköpfigkeit ({4}) gegen jede Warnung - auch in den Debatten in diesem Hause gab es Warnungen - durchgesetzt hat und weil andererseits die Länder ihre Kompetenzbereiche trotz Wohlwollens für die Juniorprofessur ({5}) - wir wissen ja, dass es viele Länder gibt, die sie durchsetzen wollen - wie die Goldgräber ihre Claims hüten. Die FDP hat sich immer für die Juniorprofessur ausgesprochen. Das möchte ich an dieser Stelle betonen. Daher sind wir bei Ihnen, wenn es darum geht, hier wieder Rechtssicherheit zu schaffen. Aber Sie nutzen Ihre Chance nicht, alte Fehler zu korrigieren. ({6}) Frau Bettin, in einem Punkt bin ich allerdings nicht bei Ihnen - wir haben das immer wieder gesagt; das ist also keine neue Botschaft von uns -: ({7}) Sie setzen den für befristete Arbeitsverträge zulässigen Zeitrahmen von zwölf Jahren wieder in Kraft. Das ist angesichts der Probleme, die es an unseren Hochschulen gibt, ein Ausdruck von Hilflosigkeit. ({8}) Seit Jahren sinkt die Zahl der Dauerstellen von Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern. ({9}) Gleichzeitig erhöht sich das Drittmittelvolumen. Es gibt also Geld für die Forschung, aber keine Stellen. Eine befristete Beschäftigung nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz scheitert daran, dass die Hochschulen Angst haben. Sie wollen nicht in Arbeitsprozesse verwickelt werden, wodurch sie langfristige Beschäftigungsverhältnisse zulassen müssten. ({10}) Je älter ein Wissenschaftler ist, desto höher ist das entsprechende Risiko und desto weniger Anstellungen gibt es. Deswegen - der FDP stehen ja nur drei Minuten Redezeit zur Verfügung - müssen wir drei Probleme lösen. Erstens. Das reguläre Arbeitsrecht passt nicht zum Wissenschaftsbetrieb. Herr Goppel, hier appelliere ich an Sie: Bringen Sie den Wissenschaftstarifvertrag endlich mit uns gemeinsam auf den Weg und kehren Sie an den Verhandlungstisch zurück! Dann kommen wir voran. ({11}) Zweitens. Die Länder dürfen nicht weiter Stellen abbauen. Gerade im wissenschaftlichen Bereich gibt es einen immensen Stellenabbau. Bayern ist hier vorangegangen, Herr Goppel. So ist das. ({12}) Drittens. Der Unterschied zu erfolgreichen Ländern wie den USA und Großbritannien ist, dass man Daueranstellungen dort schneller und bereits in jungen Jahren erreichen kann. ({13}) Auch hier richte ich meinen Appell an die Länder: Lassen Sie den Tenure Track zu! Das tun nicht alle Länder. ({14}) Den Hinweis auf diese Probleme haben wir in unserem Antrag durch das Thema Studenten ergänzt, denen plötzlich die Dauer ihres Arbeitsverhältnisses angerechnet wird, obwohl sie jobben. Das ist völlig falsch. Diese Probleme lösen Sie mit Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf nicht. Das ist uns zu wenig. Sie reparieren nur. Wir wollen mehr. Deswegen sind wir nach wie vor unzufrieden, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick.

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal spreche ich den Fraktionen von SPD und Grünen mein Lob aus; denn sie haben uns heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, den wir in unserem Hause sehr sorgfältig studiert haben. ({0}) Der Inhalt dieses Gesetzentwurfs entspricht auch den Vorstellungen, die in unserem Hause entwickelt werden. ({1}) Es handelt sich um einen guten Gesetzentwurf, ({2}) zumal er Regelungen enthält, die das Kabinett bereits verabschiedet hat. ({3}) Deswegen freuen wir uns, dass wir in der Sache sehr zügig vorankommen. ({4}) Unser Ziel ist, bis Anfang nächsten Jahres Rechtssicherheit für die Juniorprofessorinnen und -professoren herzustellen. Ich denke, das ist in unser aller Interesse. Eben haben wir auch vonseiten der Länder ein deutliches Signal in dieser Richtung erhalten. ({5}) Dieser Gesetzentwurf ist insbesondere im Interesse der Länder, die die Juniorprofessur einführen wollen. Ich weiß, dass das in Bayern beabsichtigt wird; das begrüßen wir sehr. Deshalb verzichtet der Bundesrat auf Einwendungen. Mittlerweile wurde die Juniorprofessur in zehn Bundesländern eingeführt. Ihnen wollen wir wieder zu Rechtssicherheit verhelfen. Deswegen spreche ich meinen ganz herzlichen Dank an die FDP-Fraktion aus, die immer deutlich signalisiert hat, dass sie bei dem zügigen Prozess, den wir dringend brauchen, gerne behilflich sein will. In der Sache ist vom Bundesverfassungsgericht glücklicherweise nicht entschieden worden. Es hat sich also niemand gegen die Juniorprofessur ausgesprochen. Alle Fachleute wissen, dass wir für die jungen Wissenschaftler mehr Selbstständigkeit schaffen müssen, wenn wir einen Beitrag dazu leisten wollen, sie, wenn sie im Ausland sind, dazu zu bewegen, zurückkommen. Wir brauchen also mehr Selbstständigkeit in der Nachwuchswissenschaft. Dem soll die Gesetzesnovelle dienen, die von den beiden Fraktionen vorgelegt worden ist. Ein gleich lautender Text ist bereits vom Kabinett verabschiedet worden. Wir freuen uns, dass der Bundesrat auf Einwendungen verzichten will. Ich danke Ihnen allen, die Sie an diesem Prozess konkret beteiligt sind, und hoffe, dass wir einen deutlichen Schritt vorankommen. Ich wünsche vor allen Dingen den jungen Wissenschaftlern, dass sie ab Anfang nächsten Jahres auf gesicherter Basis ihre wichtigen Arbeiten an den Hochschulen und Instituten fortsetzen können. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Rechts der Beschäftigungsverhältnisse im Hochschulbereich werden wir erneut Zeugen der nun schon seit Jahren gewohnten Halbherzigkeiten aus dem Bundesbildungsministerium. Diese Initiative wäre gar nicht notwendig gewesen, wenn Frau Bulmahn mit der fünften Novellierung des HRG nicht vor dem Bundesverfassungsgericht aus selbst verschuldeten Gründen eine grandiose Schlappe erlitten hätte. ({0}) Wir bekommen jetzt einen Reparaturvorschlag vorgelegt, mit dem Gesetzeslücken geschlossen werden sollen. Dies ist auch dringend erforderlich; denn die Verunsicherung an den Hochschulen ist enorm. Der wissenschaftliche Nachwuchs verlangt Klarheit über die rechtlichen Rahmenbedingungen für seine Karriere. Zunächst möchte ich begrüßen, dass die Juniorprofessur zwar wieder in das Hochschulrahmengesetz eingeführt worden ist, ({1}) diese aber nicht mehr zu einer Regelvoraussetzung für die Berufung als ordentlicher Professor wird. Damit ist dem Anliegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Rechnung getragen worden, dass einerseits die Juniorprofessur rechtlich abgesichert wird, andererseits aber endlich die Wahlfreiheit beim Nachweis der wissenschaftlichen Qualifikation gewährleistet wird. ({2}) Damit hat das Bundesverfassungsgericht dem Irrweg der Ministerin Bulmahn, die die bewährte Habilitation faktisch verbieten wollte, Einhalt geboten. Dies war eine richtige Entscheidung. Endlich bekommen wir die Wahlfreiheit in den Qualifizierungswegen, die wir als Christdemokraten immer gefordert haben. ({3}) Misslungen ist die Reparaturnovelle allerdings im Bereich der Befristungsregelungen für wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden. Trotz massiver Kritik aus der Wissenschaft will die Regierung wieder die Befristungsregeln aus der fünften HRG-Novelle aufleben lassen. Danach dürfen Arbeitsverträge für wissenschaftliche Mitarbeiter bis zu einer Höchstdauer von sechs Jahren befristet werden, nach einer Promotion ebenfalls auf maximal sechs Jahre. Das Ministerium begründet diese Fristen damit, dass dieser Zeitbedarf dem Erfordernis der Nachwuchsqualifizierung angemessen sei. In Wirklichkeit kommen junge Wissenschaftler in eine erhebliche Klemme. Wenn es ihnen nach diesen zwölf Jahren nicht unmittelbar gelingt, einen Ruf als ordentlicher Professor zu erhalten, sind sie unter Umständen mit Mitte 30 auf der Straße ihrer Möglichkeiten am Ende und haben nicht die Chance, in dem Bereich zu arbeiten, in dem sie sich in jahrelanger Arbeit qualifiziert haben. ({4}) Die Karriereplanung für angehende Professoren kennt bei Ihnen nach wie vor nur die Farben Schwarz und Weiß. Diese Regelung hat sich aber eben nicht bewährt. Deshalb hat auch der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Kempen, erklärt: Dieses Gesetz ist praxisfern. ({5}) Noch dramatischer ist allerdings die Frist für die wissenschaftlichen Mitarbeiter auf Stellen, die durch Drittmittel finanziert werden. Drittmitteleinwerbung ist wichtig. Darüber sind wir uns hoffentlich einig. Wenn aber ein Mitarbeiter eines solchen Projekts an die Zwölfjahresgrenze stößt, besteht die Gefahr, dass er das Projekt verlassen muss ({6}) und die konkreten Forschungsmaßnahmen infrage gestellt werden. Dies widerspricht völlig den Interessen der Wissenschaftsorganisationen und den Interessen der betroffenen Menschen. Nicht umsonst, Herr Tauss, verlangen alle großen deutschen Forschungsorganisationen zusammen mit der Hochschulrektorenkonferenz und dem Wissenschaftsrat in ihrem Aufruf vom 29. September dieses Jahres - ich zitiere -: Für Drittmittelbeschäftigte, deren Finanzierung gesichert ist, muss eine befristete Beschäftigung über die für die Nachwuchskräfte geltende Zwölfjahresregelung hinaus möglich werden. Recht haben die Wissenschaftsorganisationen. ({7}) Diese Bundesregierung bietet dazu aber im Bereich der drittmittelfinanzierten Stellen wie auch in anderen Themenfeldern leider keine Perspektive. Wir als Christdemokraten haben Ihnen deshalb zur Lösung dieses Problems eine Öffnungsregelung in § 57 des Hochschulrahmengesetzes ausgearbeitet. ({8}) Wir plädieren dafür, es Universitäten künftig zu ermöglichen, befristete Arbeitsverträge auch außerhalb der starren Grenzen abzuschließen. Voraussetzung dafür ist, dass die Mitarbeiter überwiegend aus Mitteln Dritter vergütet ({9}) und der Zweckbestimmung entsprechend beschäftigt werden. Damit wird das Argument der Regierung widerlegt, dass eine Ausweitung der Befristungsregelung eine zügige wissenschaftliche Qualifizierung behindere; denn die Weiterbeschäftigung auf einer drittmittelfinanzierten Stelle ist eben keine typische Qualifizierung mehr, sondern eine erste berufliche Stelle. Das ist der entscheidende Unterschied. Meine Damen und Herren, was Sie anbieten, stellt für die Menschen, die davon betroffen sind, keine Perspektive dar. Deshalb fordern wir Sie auf: Lockern Sie die starren Befristungsregeln und räumen Sie den Hochschulen größere Flexibilität ein! Folgen Sie dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU! Die Wissenschaft in Deutschland hat es verdient, von der Regierung endlich ernst genommen zu werden. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/4132 und 15/3924 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/4131 und 15/4151, Zusatzpunkte 9 a und 9 b, sollen an dieselben Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden, jedoch nicht an den Verteidigungsausschuss und nicht an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Haltung der Bundesregierung zu Plänen, den 3. Oktober als Nationalfeiertag abzuschaffen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon bezeichnend, dass diejenigen, die diesen Mist angerichtet haben, jetzt den Saal verlassen. Das ist wirklich faszinierend. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundesregierung, wie in der letzten Woche geschehen, vorschlägt, den 3. Oktober, der aus unserer Sicht ein Tag der Freude ist, als Feiertag zu streichen, dann ist es schlechterdings unmöglich, dass sich der Deutsche Bundestag mit diesem Vorschlag nicht auseinander setzt. ({1}) Der 3. Oktober ist kein Tag der Regierung, er ist ein Tag des Volkes und wir vertreten hier das Volk. Wir sind der Überzeugung, dass sich die Deutschen diesen Tag in einer friedlichen Revolution als Feiertag erkämpft haben. Wir sind stolz auf diesen Tag unserer Geschichte; er ist ein Freiheitstag. Wir wollen diesen Tag verteidigen, auch gegen eine Bundesregierung, die sich in diesen Tagen dramatisch geschichtsunbewusst gezeigt hat. ({2}) Bezeichnend ist übrigens auch, dass sich derjenige, der als Erster den Vorschlag gemacht hat, den 3. Oktober als Feiertag abzuschaffen, nämlich der Bundesfinanzminister, traut, in der heutigen Debatte zu fehlen. ({3}) Man kann es nur damit erklären, dass er seinen Vorschlag mittlerweile voller Scham bereut. ({4}) Ich will an dieser Stelle feststellen, dass es nicht ohne Pikanterie ist, dass sich genau diejenigen, die damals wie Herr Schröder und Herr Eichel als Ministerpräsidenten gegen die Währungsunion gestimmt haben, jetzt am Thema „3. Oktober“ abarbeiten, ({5}) salutiert und sanktioniert von Vizekanzler Joseph Fischer, der noch nach dem Vollzug der deutschen Einheit die Zwei-Staaten-Theorie vertreten hat. ({6}) Es ist übrigens nicht nur unpatriotisch und verdeutlicht eine geschichtsunbewusste Haltung, sondern stellt auch, was den Umgang unter Verfassungsorganen angeht, einen sehr interessanten Vorgang dar, dass dem Bundespräsidenten, der sich nicht aufgrund des Vorschlags von Herrn Eichel, sondern bereits als erste Gerüchte darüber aufgetaucht sind, öffentlich dazu geäußert hat, aus Regierungskreisen die Berechtigung abgesprochen worden ist, sich in die öffentliche Debatte über den 3. Oktober einzumischen. Damit kommt zum Ausdruck, dass die Regierung offensichtlich ein ungewöhnlich arrogantes Verständnis von Verfassung hat. Wir sind der Meinung, ein Bundespräsident hat nicht nur das Recht, er hat die Pflicht, sich bei Fragen der nationalen Identität zu Wort zu melden. Wir als Abgeordnete der Opposition danken dem Bundespräsidenten. ({7}) Dieser Vorschlag wurde allen Ernstes mit dem Argument verteidigt, man wolle damit ein Haushaltsloch stopfen. ({8}) Aus unserer Sicht ist der Vorschlag dafür völlig untauglich. Denn ökonomisch macht das herzlich wenig Sinn. ({9}) Worüber wir in Deutschland reden müssen, ist nicht die Streichung des 3. Oktobers, des einzigen Nationalfeiertages, den wir Deutschen haben. Worüber wir reden müssen, ist eine flexiblere und besser organisierte Wochenarbeitszeit. ({10}) Das ist die Diskussion, die wir brauchen: über eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Jeder weiß, dass wir nur mit mehr Fleiß und mehr Leistungsbereitschaft gewinnen können. Nachdem dieser absurde Vorschlag Gott sei Dank vom Tisch ist, auch aufgrund der Intervention führender ostdeutscher Abgeordneter aus der Regierungskoalition - das soll ausdrücklich anerkannt werden -, stellt sich der Bundesfinanzminister hin und fordert, jetzt müsse aber erklärt werden, wie wir denn das Haushaltsloch, das dadurch entstehe, dass wir den Feiertag nicht streichen wollten, stopfen wollten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fraktion der Freien Demokratischen Partei hat 350 Anträge gestellt, wie im Haushalt gespart werden kann. Jeden dieser Anträge haben Sie abgelehnt. Sie haben kein Recht, von uns weitere Sparvorschläge zu verlangen. ({11}) Ich will zum Schluss sagen: In meinen Augen braucht jedes Land ein gesundes Maß an Verfassungspatriotismus. Der 3. Oktober gehört dazu. Ein französischer Finanzminister, der den 14. Juli streichen wollte, ({12}) oder ein amerikanischer Finanzminister, der den 4. Juli streichen wollte, wäre nicht mehr im Amt. Es wäre das Beste, wenn auch Herr Eichel nach einem solchen Desaster nicht mehr im Amt wäre, in Mittäterschaft mit dem Bundeskanzler. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelie SonntagWolgast, SPD-Fraktion.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Westerwelle, das Thema verlangt Sachlichkeit und Ruhe und nicht das Geschrei, das Sie soeben wieder angestimmt haben. „Anleitung zum Glücklichsein“ überschrieb der „Tagesspiegel“ Anfang dieser Woche einen Leitartikel. Nun war das auf den 9. November bezogen, diesen Schicksalstag der Deutschen, der mit schändlichen wie auch mit stolzen Ereignissen verbunden ist. Der 3. Oktober - da haben Sie völlig Recht - steht für die ungeteilte Freude an der deutschen Einheit, unabhängig von den vielen Enttäuschungen, der Skepsis und den Zukunftsängsten, die gerade in diesen Wochen und Monaten spürbar sind. Dennoch gibt es diese ungeteilte Freude und sie verlangt tatsächlich, gewürdigt und ausgelebt zu werden - auch mit der Magie eines bestimmten Datums, nämlich des 3. Oktobers. Das ist vielen von uns - ich gestehe: auch mir - während der kurzen, heftigen Debatte der vergangenen Tage klarer geworden. Die Geschichte der deutschen Einheit ist von der Willensbildung des Volkes geprägt, von der Willensbildung von unten. ({0}) Das kennzeichnet die Stimmungslage. Ich begrüße es sehr, dass über Gedenktage ein Disput, eine Diskussion in Gang gekommen ist. ({1}) Viele von uns haben es in den Diskussionen mit den Bürgern, in Telefonaten, an Briefen und E-Mails gemerkt. ({2}) Wie gesagt, ich finde den Disput gut und richtig. ({3}) Das Signal ist deutlich: Der 3. Oktober bleibt. Deshalb ist unter die Überlegungen, den Tag der Deutschen Einheit auf den ersten Oktobersonntag zu verlegen, ein klarer Schlussstrich gezogen. Wir brauchen diese Aktuelle Stunde überhaupt nicht, ({4}) schon gar nicht dieses merkwürdige, verunglückte Manöver, das Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU, am Mittwoch - aus Ihrer Sicht: leider vergeblich - zu veranstalten versucht haben. ({5}) Ich begrüße den schnellen Abschluss dieser Überlegungen. Jeder - auch die Bundesregierung - hat das Recht, aus der Intensität öffentlicher Reaktionen zu lernen. ({6}) Daraus die Konsequenzen zu ziehen ist glaubwürdig und ehrlich. Nun aber zur parlamentarischen Auseinandersetzung. Jeder Oppositionspolitiker hat das Recht auf kräftige Gegenargumente; das muss so sein. Er sollte aber bei der Wahrheit bleiben. Es stimmt einfach nicht, dass der Tag der Deutschen Einheit abgeschafft oder gestrichen werden sollte, wie Sie das heute wieder behaupten. Es stimmt allerdings, dass der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident, der heute vom wichtigsten Symbol für die nationale Identität und den Zusammenhalt der Deutschen spricht, vor zehn Jahren auch die Verlagerung des Festtages ins Gespräch gebracht hat, ({7}) als es um die Finanzierung der Pflegeversicherung ging. - Frau Kollegin Mantel, können Sie bitte warten, bis ich den Satz zu Ende geführt habe? ({8}) - Es ging damals um den Vorschlag zur Pflegeversicherung. Liebe Kollegin, jetzt ging es um Wachstumsimpulse und finanzielle Entlastungen in wirtschaftlich sehr schwierigen Zeiten. Beides sind keine unehrenhaften Motive. ({9}) Herr Kollege Westerwelle, die Opposition hat bis auf den heutigen Tag sinnvolle Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung wie den Subventionsabbau blockiert. ({10}) CDU/CSU und FDP gefallen sich stattdessen in einem Wirrwarr aus Vorschlägen und Pseudoalternativen. Ich nenne Christi Himmelfahrt und den 1. Mai - das waren quasi Retourkutschen ({11}) sowie die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche als Frontalangriff gegen Arbeitnehmer und Gewerkschaften. ({12}) Hier wird dann auch klar, wer den Beschäftigten wirklich deutlich mehr Arbeit zumuten möchte. Wenn ich mir diesen Wirrwarr ansehe, dann merke ich, dass das nicht sonderlich ernst zu nehmen ist. ({13}) Etwas ganz anderes ist allerdings ernst zu nehmen, nämlich die Verleumdung des Bundeskanzlers als Vaterlandsverräter. Diese Wortwahl erweckt düstere Erinnerungen, zum Beispiel an die Kampagne gegen Willy Brandt in den 50er- und 60er-Jahren. ({14}) Herr Kollege Nooke, deswegen appelliere ich mit allem Nachdruck an Sie, diese Verunglimpfung sofort, am besten noch heute Nachmittag, zurückzunehmen. Das wäre ein guter Akt. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wenn ich richtig unterrichtet bin, dann stammt der Ausdruck Vaterlandsverräter von Ihrem Kollegen Carsten Schneider. Soviel ich weiß, lautete das in der „taz“ veröffentlichte Zitat korrekt: „Jetzt können Sie uns wieder Vaterlandsverräter nennen.“ ({0}) - Ich weiß nicht, ob Sie das Nächste auch ironisch gemeint haben. Sie haben nämlich unfreiwillig gesagt, dass Sie einen gewissen Lernprozess durchlaufen und festgestellt haben, dass der 3. Oktober der Willensbildung des Volkes entsprungen ist und ihr dient. Da können Sie einmal sehen, wie wenig die Kreise, in denen Sie Ihre Willensbildung betreiben, mit dem Volk in Deutschland noch gemein haben. ({1}) Das beginnt mit dem Datum, an dem Sie mit diesem Ansinnen an die Öffentlichkeit getreten sind. Wir waren gerade dabei, den 15. Jahrestag des Herbstes 1989 zu begehen. Das sind in der Tat Ereignisse, auf die wir stolz sein können. ({2}) Ich frage Sie, wo es in der deutschen und meinetwegen auch in der europäischen Geschichte Ereignisse von vergleichbarer Dimension und Wirkung gegeben hat und ob sich die gesamte strategische Lage Mitteleuropas irgendwann einmal von unten zum Guten, nämlich zu Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit, entwickelt hat, ohne dass ein Tropfen Blut vergossen worden und es zu einem Krieg gekommen ist und ohne dass sich Nachbarn bedroht fühlen mussten. Das ist der Herbst 1989. ({3}) Nun nutzen Sie den 15. Jahrestag dieses Herbstes dazu, den Endpunkt dieser Entwicklung - genau das ist nämlich die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober, die von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher mit großer politischer Souveränität betrieben und vollendet worden ist ({4}) nach Möglichkeit aus dem Gedächtnis der Ostdeutschen zu streichen, weil Sie ihn als Datum abschaffen und auf einen beliebigen Sonntag verlegen wollen, der überhaupt nichts mehr mit dem Tag der deutschen Wiedervereinigung zu tun haben muss. Das ist Ihr wirkliches Ziel. ({5}) Die Frage, Frau Sonntag-Wolgast, wie Sie auf diese Idee kommen konnten, erklärt sich ganz schnell. Ich möchte Ihnen dazu ein Zitat vorlesen. Der Oberbürgermeister von Kassel hat in einem hessischen SPD-Blättchen noch im November 1989 Folgendes geschrieben: Die deutsche Frage steht derzeit als akute Frage der Wiedervereinigung entgegen aller Demagogie auch vonseiten rechter CDU/CSU-Kreise … nicht auf der weltpolitischen Tagesordnung. Diejenigen, die derzeit von Wiedervereinigung daherreden, haben aus der Geschichte nichts gelernt und darum auch keine vernünftige realitätsnahe Perspektive. Zusätzlich unterminiert das Wiedervereinigungsgetöse alle Ansätze einer vernünftigen deutsch-deutschen Politik und geht … am Selbstbestimmungsrecht der Menschen hüben wie drüben vorbei. ({6}) Das ist Originalton Hans Eichel im Herbst 1989. ({7}) Der niedersächsische SPD-Spitzenkandidat Schröder hat im Mai 1989 gesagt, er könne sich eine Einheit, die die Wiederherstellung des Nationalstaates zum Ziel hätte, nicht vorstellen. Dies hat unser heutiger Bundeskanzler Gerhard Schröder gesagt. Diese Worte beweisen, dass Sie, die Sozialdemokraten, die Wiedervereinigung entweder überhaupt nicht oder nur partiell gewollt haben. ({8}) Diesen Worten haben Sie Taten folgen lassen. Es sind der Ministerpräsident Lafontaine und der Ministerpräsident Schröder gewesen, die schließlich dem Einigungsvertrag die Zustimmung versagt haben, weil sie die deutsche Einheit nicht wollten. ({9}) Frau Sonntag-Wolgast, weil Sie dieser 3. Oktober Jahr für Jahr an Ihr kollektives intellektuelles Versagen und Ihre Geschichtslosigkeit erinnert, mögen Sie diesen Tag nicht und möchten ihn aus dem Gedächtnis der Deutschen streichen. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) - Ich bitte die Anwesenden auf der Regierungsbank, ruhig zu sein und sich auch nicht in dieser Lautstärke zu unterhalten.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir hier erleben, ist eine verspätete Debatte zu einem eigentlich längst erledigten Thema, und zwar an einem Freitagnachmittag, wodurch es eher zu einer Feierabend- als Feiertagsdebatte wird. ({0}) - Ich weiß nicht, was Sie danach machen, aber das Plenum ist hiernach auf jeden Fall zu Ende. ({1}) Ich sehe durchaus ein, dass wir über dieses Thema eine längere Debatte hätten führen können. Offensichtlich hat der Kollege Vaatz diese ausstehende Patriotismusdebatte, die Sie nach dem Fall Hohmann innerparteilich führen wollten, mit dieser Aktuellen Stunde verwechselt. Vielleicht möchte er sie gerne führen. ({2}) Ich möchte diesem Thema gar nicht ausweichen, weil die Idee, den 3. Oktober als kalendarischen nationalen Wandertag zu veranstalten, sicherlich im doppelten Sinne eine fixe Idee war. Sie war so fix verschwunden, wie sie aufgetaucht war. ({3}) Der Feiertag an sich sollte nicht abgeschafft werden, Kollege Westerwelle, sondern nur dauerhaft auf einen Sonntag verlegt werden. ({4}) - Ich verstehe Ihre Heiterkeit. Möglicherweise ist erst spät aufgefallen, dass der Nationalfeiertag irgendwann auf den 7. Oktober gefallen wäre. Das hätte vielleicht zu einem Potpourri sämtlicher Nationalhymnen und zu einem Freudenfest der Fans von Egon Krenz geführt. Das ist den Ideengebern wahrscheinlich erst später bewusst geworden. ({5}) Ich will über die tieferen Ursachen, wie man überhaupt darauf kommen kann, einen solchen Feiertag zu verschieben, reden. Das ist eine ernsthafte Debatte. Wir haben eigentlich keinen Nationalfeiertag. Das ist das Problem. Der 3. Oktober ist nie in den Herzen der Menschen angekommen. ({6}) - Nein. - Wir haben ihn als Ersatz für den 17. Juni kreiert, den Tag, an dem immer die Reden zur Lage der Nation gehalten worden sind. Heute reden wir am 3. Oktober zum Thema „Stand der deutschen Einheit“. Jeder, der wie ich in der Volkskammer erlebt hat, wie der 3. Oktober zustande gekommen ist - der Kollege Günter Nooke wird sich noch daran erinnern; wir hatten beide unser Problem mit dem 3. Oktober, ({7}) waren in derselben Fraktion und hatten dieselben Argumente -, kann sich erinnern, dass man im September fieberhaft nach einem Datum gesucht hat, das vor dem 7. Oktober liegt, um die dahinsiechende DDR nicht noch den 41. Jahrestag erleben zu lassen. Es fand sich aber kein historisches Datum. Deshalb hat man den 3. Oktober genommen, den Todestag von Franz Josef Strauß. Da hat sich eher eine alte Männerfreundschaft verwirklicht, als dass damit etwas Nationales geschehen wäre. Der eigentliche nationale Feiertag, Gedenktag, Schicksalstag wäre der 9. November - das ist uns allen bewusst -, ({8}) Werner Schulz ({9}) weil sich in diesem Datum 150 Jahre Demokratie und Freiheitsgeschichte, die schlimmsten und die schönsten Seiten der deutschen Geschichte treffen. Das wäre das eigentliche Datum. Es gäbe eigentlich viele gute Gründe, über die Verschiebung des Nationalfeiertages zu reden. ({10}) Ich persönlich halte aber nichts von einer feiertagsbereinigten Berechnung des Bruttoinlandsprodukts, um das gleich zu sagen. Das bringt nichts. Es sind absurde Vorstellungen ins Kraut geschossen. Jeder durfte einmal seinen Lieblingsfeiertag nennen, den er abschaffen wollte. Ich finde, das ist eine absurde Diskussion, die wir führen. ({11}) Vielleicht korrespondiert unsere momentane mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit der Unfähigkeit zu feiern. Die Chinesen beispielsweise - wir fahren bald nach China und schauen uns das chinesische Wirtschaftswunder an - feiern die Gründung der Volksrepublik China fünf Tage lang. Man kann also durchaus an einem Feiertag Nationalbewusstsein zeigen. ({12}) Ich halte nichts von der Debatte, die Arbeitszeiten auszuweiten. Unser Problem ist nicht, dass zu wenig gearbeitet wird, sondern dass es zu wenige Arbeitsplätze gibt. ({13}) Diese Debatte ist glücklicherweise beendet. Wir sollten sie nicht weiterführen. ({14}) Das kostet Kraft und Energie. Wir sollten vor allen Dingen nicht mit Riesenkanonen oder der Dicken Berta auf Spatzen oder längst zerzauste kleine Vögelchen schießen. ({15}) Das würde ich jedenfalls allen dabei raten. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Joachim Günther, FDP-Fraktion.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche vor 15 Jahren strömten Tausende DDRBürger über die Grenze. Die Bilder der Berliner Mauer in der Nacht der Grenzöffnung, dem 9. November, sind uns noch in guter Erinnerung. Wer diese Bilder im Hinterkopf hat, der weiß, dass Deutschland damals in einem Freudentaumel war. Ein Jahr später, an diesem 3. Oktober, wurde der berühmte Ruf „Wir sind ein Volk“ Realität. Dieser Ruf, der von den Demonstrationen im Osten ausgegangen ist, hat mit Sicherheit für viele dieser Bürger auch heute noch eine immense Bedeutung. ({0}) Am 3. Oktober 1990 konnten wir eines der schlimmsten Kapitel der deutschen Geschichte - ich ziehe den Bogen von der braunen Diktatur bis zur Spaltung Deutschlands - erfolgreich beenden. Die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit wurde begeistert aufgenommen. Eine Nation, die so viele Tiefen durchleben musste und die schließlich eine friedliche und unblutige Revolution vollbrachte, hat endlich ein Symbol, mit dem sie sich in der Welt wieder sehen lassen kann. ({1}) Heute, 15 Jahre später, kommt die Bundesregierung auf die Idee, dieses Symbol ökonomischen Zwängen zu opfern. Sie müssen sich heute schon fragen lassen: Wie schlimm ist es um diese Bundesregierung bestellt, wenn sie für ein paar Millionen Euro einen feststehenden Nationalfeiertag verändern will? ({2}) Im Finanzministerium scheint das blanke Chaos zu herrschen. Der Herr der Löcher - er ist anscheinend heute wieder in einem verschwunden - greift nahezu zu jedem Strohhalm, um angebliches Wirtschaftswachstum herbeizubringen. Wer dieser Ideologie unterliegt, wer solche Berater hat, die selbst vor dem deutschen Nationalfeiertag nicht zurückschrecken, der muss sich ernsthaft fragen lassen, ob er seinem Eid, dem Wohl des deutschen Volkes zu dienen, voll gerecht wird. ({3}) Als ein Parlamentarier, der aus Sachsen kommt, der bewusst und aktiv die deutsche Einheit mitgestaltet hat, bin ich deshalb mehr als froh - und deswegen können Sie jetzt ganz ruhig sein -, ({4}) dass diese abstruse Idee selbst in Ihrer eigenen Koalition keine Mehrheit gefunden hat. Dass wir Reformen brauchen, ist unumstritten; viele haben darauf hingewiesen. Aber vor allem den Menschen in den neuen Bundesländern kann man nicht fehlende Flexibilität vorwerfen. Die Menschen mussten sich mehrfach auf neue Realitäten einstellen und haben das zum Teil mit bewundernswertem Mut getan. Sie haben häufig schneller als andere erkannt, dass zum Beispiel geringerer Lohn und längere Arbeitszeiten ihre Arbeitsplätze mit sichern. In Sachsen sind zum Beispiel die Joachim Günther ({5}) Metallarbeiter nicht dem Ruf der Gewerkschaftsfunktionäre aus Frankfurt am Main gefolgt und haben für die 35-Stunden-Woche gestreikt. ({6}) Heute wundern sich einige, dass die Arbeitsplätze in der Automobilzulieferindustrie und in der Automobilindustrie im Osten Deutschlands nicht angegriffen werden, während woanders Arbeitsplätze abgebaut werden. Wir brauchen eine zukunftsorientierte Politik, an die die Menschen wieder glauben. Unser Problem ist die stagnierende Wirtschaftssituation, aber auch der stagnierende private Konsum. Die Bürger haben eben kein Vertrauen. Wir Deutschen setzen unsere Zukunft aufs Spiel, und zwar nicht - das will ich bewusst sagen -, weil wir verschwenderisch leben, sondern weil wir zu wenig in die Zukunft investieren und zu unsicher mit dem Sozialstaat umgehen. Dort sind treffsicherere und rationale Entscheidungen dringend notwendig. Hier schließt sich der Kreis zur Feiertagsdebatte. Natürlich ist es an einigen Stellen sinnvoll, länger zu arbeiten, aber wir dürfen eben nicht pauschal die 40-StundenWoche oder die Abschaffung von Feiertagen fordern. Wir müssen den Betrieben die Möglichkeit geben, flexibel im internationalen Wettbewerb zu bestehen. ({7}) Überlassen wir es also mehr den Tarifpartnern, vor allem den Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor Ort, denn die wissen am besten, was für ihren Betrieb und für ihren eigenen Arbeitsplatz gut ist. Die Ministerien sollten gefälligst Schnellschüsse unterlassen, die, wie in diesem Fall, viele Menschen verärgern und nichts voranbringen. Zum Abschluss: Ein kleiner Blick in diesen Saal genügt meines Erachtens, um zu sehen, welche Parteien für die deutsche Einheit stehen. Schauen Sie sich einmal um. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob diese Art von Debatte, in der wir uns gegenseitig aus einem solchen Anlass das Verständnis für die deutsche Einheit und für Gesamtdeutschland um die Ohren hauen, die Menschen draußen erfreut. ({0}) Zu dem absurden Hinweis des Kollegen Günther, die zufällige Anwesenheit bei dieser Debatte sage irgendetwas aus, ({1}) möchte ich nun auch etwas sagen, obwohl ich mir das eigentlich verkneifen wollte, lieber Herr Günther: Wir als Parlament haben gemeinsam mit den Ländern am 3. Oktober in Erfurt den Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Ich will Ihnen nun einmal sagen, wer an diesem Ereignis, zu dem wir gerufen waren, teilgenommen hat. ({2}) Ich zähle nicht die Namen auf, nenne aber ein paar Zahlen: Von der SPD waren 15 Abgeordnete da, von der CDU 6, von der CSU 2, von der FDP 4, von der PDS 2 und von den Grünen 2. ({3}) Dabei hätten wir eigentlich von Amts wegen vor Ort sein müssen, lieber Kollege Günther; denn das Parlament sollte an diesem Tag zusammentreffen. Wir waren schließlich alle eingeladen. Angesichts Ihrer mickrigen Beteiligung an diesem Ereignis, lieber Herr Westerwelle, muss ich allerdings feststellen: Das wäre für mich auch ein Maßstab. Lassen Sie uns nicht solche Argumente vorbringen. Das ist doch unter Niveau. ({4}) Damit Sie erfahren, wer an der Veranstaltung am 3. Oktober in Erfurt teilgenommen hat, habe ich die Zahlen und die Namen der Vertreter Ihrer Partei mitgebracht. ({5}) - Ich frage ja auch nicht. Sie müssen keine Rechenschaft darüber ablegen, wo Sie an diesem Tag waren. Ich hoffe aber, dass Sie nicht zu Hause geblieben sind und sich die Feier im Fernsehen angesehen haben. Jedenfalls haben sehr wenige unserer Kollegen an der Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt teilgenommen. In Magdeburg war es nicht viel besser; auch dort waren Sie sehr schlecht vertreten. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Über die Idee, den 3. Oktober als Feiertag zu streichen, kann man durchaus streiten. Der Kollege Schulz hat von einer fixen Idee gesprochen. Sie ist sehr schnell wieder zu den Akten gelegt worden. Das ist auch in Ordnung. Das Vorhaben hatte aber den Vorteil, dass wir gemeinsam darüber diskutieren, wie es sich mit dem 3. Oktober als Feiertag verhält. Ich erinnere daran, dass die Diskussion um den 9. November herum begann. Ich persönlich war emotional sehr bewegt, als am 8., 9. und 10. November in den Medien dieser Tage und der Nacht gedacht wurde, als die Mauer fiel. Viele werden sich daran erinnern und sich gefragt haben, wo sie selber an diesem Abend waren und wie sie das empfunden haben. Einige Kollegen waren im Gegensatz zu mir möglicherweise schon damals im Bundestag; andere verbinden vielleicht ihr eigenes persönliches Erlebnis damit. Jeder von uns war emotional berührt, glücklich und dankbar. Der eine oder andere hat auch Tränen vergossen. Das war der 9. November. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass dieser Tag - in diesem Zusammenhang könnte man auch die Demonstrationen in Leipzig erwähnen - den entscheidenden Anstoß gegeben hat. Wir haben uns aber nicht dazu entschlossen, diesen Tag zum Feiertag zu machen. Stattdessen haben wir den 3. Oktober gewählt. Das halte ich auch für richtig. Ich finde es in Ordnung, dass diese Idee gleich wieder zu den Akten gelegt worden ist. Aber seien wir doch ehrlich: Was die gegenseitigen Verletzungen angeht, haben Sie sich anlässlich dieser Debatte richtig hervorgetan, Herr Vaatz. ({6}) Ich finde es nicht in Ordnung, einen solchen Anlass zu benutzen, um den einen oder anderen verächtlich zu machen. ({7}) Lassen Sie Ihr Temperament zu Hause! Schreiben Sie ihnen einen Brief, wenn Ihnen etwas nicht passt! Es geht aber nicht an, im Plenum so fetzige Worte zu wählen. ({8}) Ich persönlich kann mir vorstellen, dass man mit derselben Überzeugung am Vorabend des 3. Oktobers dieses Feiertags gedenkt und feiert wie am 4. Oktober. Das ist an den Tagen um den 9. November herum nicht anders. ({9}) Es ist schlicht absurd, das nach dem Motto „Ihr seid weniger für Deutschland als wir; wir sind die guten Deutschen und ihr seid die schlechten“ zur Kardinalsfrage zu erklären. ({10}) Alle hier im Parlament stehen zu diesem Deutschland und sind froh darüber, dass Deutschland wiedervereinigt ist. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang keine so lächerliche Debatte gönnen. ({11}) Wir sollten vielmehr das hervorheben, was uns in dieser Frage vereint, nämlich dass wir zu Deutschland stehen ({12}) und alles unternehmen, um Deutschland voranzubringen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Danckert, erlauben Sie mir eine Bemerkung, weil wir eine sachliche Debatte führen wollen. Die CDU/CSU ist in vielen Städten und Kommunen die einzige Partei, die am 3. Oktober Veranstaltungen organisiert, an denen wir auch häufig als Redner teilnehmen. Deshalb sind wir bei der zentralen Veranstaltung in geringerer Zahl vertreten. ({0}) Ich wollte mit einer positiven Nachricht beginnen, um die Debatte zu versachlichen. Die gute Nachricht lautet: Es hat nur 48 Stunden gedauert, bis Bundesregierung und Koalition das absurde Vorhaben, ({1}) den Tag der Deutschen Einheit abzuschaffen, selbst beerdigten und diesen untauglichen Versuch zur Erhöhung der Wirtschaftskraft in Deutschland ad acta legten. Das wollen wir einfach festhalten. Natürlich hat es erst des Einspruchs des Bundespräsidenten bedurft. Seinen Einspruch halte ich übrigens für völlig angemessen und notwendig. ({2}) Aber welch eine Regierung hat Deutschland, wenn sie überhaupt auf den Gedanken kommen kann, den einzigen Nationalfeiertag der Deutschen abzuschaffen? Das ist die schlechte Nachricht: Bundeskanzler Gerhard Schröder und Finanzminister Eichel zeigen nicht nur mangelnde Wirtschaftskompetenz, sondern präsentieren sich auch als Politiker ohne Sinn und Verstand sowie ohne Gespür für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Statt den 9. November 1989 und den 3. Oktober 1990 - kurz vor dem jährlichen Gedenken an diese Tage ist die Debatte losgetreten worden -, als glücklichste Momente deutscher Geschichte im Bewusstsein aller Deutschen zu verankern, weil sie als Teil der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 den Weg zur staatlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ermöglichten, will die Bundesregierung diesen Teil unserer nationalen Geschichte offenbar vergessen machen. ({3}) Die friedliche Revolution vom Herbst 1989, die einzig erfolgreiche Freiheitsrevolution in Deutschland, und die staatliche Wiedervereinigung von Ost und West stehen ganz oben auf der Habenseite deutscher Geschichte. Darüber sind wir uns hoffentlich einig. ({4}) Im September 1949 beklagte der damalige Bundespräsident Theodor Heuss in seiner Antrittsrede, dass Demokratie „nicht von den Deutschen erkämpft“, sondern quasi immer nur „als letzte, als einzige Möglichkeit kam“, wenn „der Staat in Katastrophen und Kriegen zusammengebrochen war“. Wer sich dieser Aktiva deutscher Geschichte nicht mehr erinnern will, verrät in der Tat 15 Jahre später die deutsche Einheit noch einmal. ({5}) Schröder und Eichel waren 1989, ja sogar noch 1990 gegen die Wiedervereinigung. Das wollen wir Ihnen heute nicht anlasten. Aber Sie selbst haben mit Ihrem Vorschlag zur Abschaffung des Tages der Deutschen Einheit, diesem Fauxpas, ({6}) an Ihren eigenen historischen Irrtum erinnert und dem Verdacht Nahrung gegeben, dass Sie noch immer ein Problem mit der deutschen Einheit haben. ({7}) Es liegt sogar der Verdacht nahe, Sie seien noch immer nicht im wiedervereinigten Deutschland angekommen. Was vielen Ostdeutschen manchmal vorgeworfen wird, das trifft auf den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu: fremd im eigenen Land. Statt für die übergroße Mehrheit der Deutschen zu sprechen, beschäftigt er sich mit den Fehlern der eigenen Biographie. 1989/90 ging eine weltweite Blockkonfrontation von Atommächten und ein schreckliches, menschenverachtendes Grenz- und Unrechtsregime mitten in Europa friedlich zu Ende. Von deutschem Boden ist nicht nur kein Krieg ausgegangen, sondern sogar die friedliche Wiedervereinigung Europas. Es gibt nicht den geringsten Zweifel - das Ausland schaut fassungslos auf die Bundesregierung -, dass uns Deutschen diese Geschichte einen arbeitsfreien Tag im Jahr wert sein sollte. Es gibt nicht nur ökonomische Probleme und Haushaltsprobleme in Deutschland. Unsere Situation, über die wir hier oft diskutieren, hat auch mit der Misere zu tun, dass das Gesellschaftsbild nicht stimmt, weil Stolz auf das eigene Land diffamiert, das Vaterland nicht geliebt und die Kulturnation nicht geachtet werden darf. Patriotismus heißt Vaterlandsliebe. Wir müssen auch über Werte sprechen und uns darüber verständigen lernen. ({8}) Frau Sonntag-Wolgast, noch ein abschließendes Wort zu den „vaterlandslosen Gesellen“: Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst hat Unternehmer, die im Ausland investieren, als vaterlandslose Gesellen und Vaterlandsverräter beschimpft. Das ist in einer Kolumne der „Frankfurter Rundschau“ vom 26. März dieses Jahres nachzulesen. Da mag vielleicht etwas dran sein. Aber diese Leute verhalten sich im ökonomischen System rein rational. Das finde ich zwar nicht gut und das kann man kritisieren. Aber der Bundeskanzler ist über ökonomische Fragen hinaus verantwortlich für das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl. Aufgabe der Regierung wäre gewesen, den besten Teil deutscher Geschichte, den Zeitraum von 1989 bis 1990, zu nutzen, um bei allen Deutschen wieder eine positive Einstellung zum Vaterland zu wecken, also echte Vaterlandsliebe. Herr Kollege Scholz, aus dieser jüngsten deutschen Geschichte kann in der Tat so etwas wie Patriotismus erwachsen. Deutsche sind für Freiheit sowie für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße gegangen und haben damit eine eigene, erfolgreiche Freiheitstradition begründet. Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte am 4. November 2004 den Nationalfeiertag als das für Ostdeutsche „entscheidende Symbol für eine angemessene Würdigung des Schlüsselereignisses der jüngeren deutschen Geschichte“. Seine Abschaffung sei für viele Ostdeutsche undenkbar. Die Zeitung schlussfolgerte: Der CDU-Abgeordnete Günter Nooke sagt nur, ({9}) was viele von Eichel und Kanzler Gerhard Schröder denken: „Vaterlandsverräter“. ({10}) - Darf ich noch zu Ende sprechen? Ich will Ihnen zum Schluss noch ein Angebot machen. Ich gebe gern zu, dass das nicht der differenzierteste Beitrag zur Debatte war. Wir sollten gemeinsam alles dafür tun, dass dieses Wort in Zukunft nicht mehr nötig ist und dass der 3. Oktober als nationaler Feiertag dauerhaft erhalten bleibt. Einverstanden? ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt das Wort. ({0})

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich ein kurzes Wort an Herrn Vaatz richten. Sie sollten sich einmal mit der Frage auseinander setzen, ob diese Form der ehrabschneidenden Diskussion geeignet ist, um Deutschland weiterzubringen. ({0}) Wir haben die Verantwortung, dieses Land zu versöhnen und nicht zu spalten. ({1}) Ich jedenfalls als Berliner Sozialdemokrat lasse mir von Ihnen nicht einreden, dass die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Geschichte nicht immer für die Einheit unseres Landes eingestanden ist. ({2}) Viele Sozialdemokraten haben ihr Leben lassen müssen, weil sie für Freiheit und Demokratie, weil sie für die Einheit dieses Landes eingetreten sind. Bitte beschmutzen Sie diese aufrechten Demokraten durch derartige Reden nicht länger! Jedenfalls verbitte ich mir das für die gesamte deutsche Sozialdemokratie. ({3}) Ich erinnere Sie darüber hinaus an die Tatsache, dass alle sozialdemokratischen Bundeskanzler in besonderer Weise ({4}) - Sie sagen gerade „Egon Bahr“; das passt mir gut in den Kram. Sie kennen vielleicht den Brief zur deutschen Einheit von Willy Brandt im Zusammenhang mit dem Moskauer Vertrag. In diesem Brief wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass dieser Vertrag in gar keiner Weise das Ziel der deutschen Politik, Deutschland wiederzuvereinen und die Einheit unseres Landes wiederherzustellen, aufgibt. ({5}) Hier gibt es eine Kontinuität sozialdemokratischer Deutschlandpolitik. ({6}) - Hören Sie bitte bloß auf! - Ich jedenfalls empfinde diese Form der Diskussion als beleidigend. Ich glaube im Übrigen, dass sie in der Sache gar nicht weiterführt. Ich habe schon früher nichts von Diskussionen nach dem Motto „Hier die Blockflöten und da die anderen“ gehalten. ({7}) - Ja, in der Emotion. Ich habe auf das reagiert, was Sie uns um die Ohren gehauen haben. ({8}) Gerade in einer so schwierigen politischen Lage wie der unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg ist die individuelle Betrachtung eines jeden Einzelnen und eines jeden einzelnen Schicksals die einzige Bemessungsgrundlage für ein Urteil. ({9}) Jede generelle Schelte, jede Verallgemeinerung führen nur dazu, dass die Menschen nicht zueinander kommen. Wir haben allen Grund, auf dem Gebiet des Zueinanderfindens noch vieles zu tun. Da stimme ich im Übrigen mit denjenigen überein, die sagen: Ja, wir dürfen die Tradition der Wiedervereinigung oder die Tradition des 9. November und auch des 3. Oktober nicht aufgeben. Das wollte aber auch niemand. ({10}) Ich meine sogar, dass es auch für uns Parlamentarier eine gute Aufgabe wäre, uns mit der Frage auseinander zu setzen, wie wir die „Termine“ der deutschen Geschichte noch besser gestalten können, wie wir an die Menschen näher herankommen können. Das ist eigentlich die Aufgabe, der wir uns stellen müssen. ({11}) Über die Frage „Beibehaltung des 3. Oktober als Feiertag - ja oder nein?“ kann man trefflich streiten; das will ich hier gar nicht infrage stellen. In den letzten Jahren hat es aber auch viele andere Diskussionen um das Thema Arbeitszeit und um das Thema Feiertage - wohlgemerkt: andere Feiertage - gegeben. Das hat natürlich auch etwas mit ökonomischen Hintergründen zu tun. Das hat etwas damit zu tun, dass wir allesamt die Aufgabe haben, uns mit unserer Wettbewerbsfähigkeit und mit der Frage auseinander zu setzen: Wie viel muss in diesem Lande gearbeitet werden? Wie man das im Einzelnen gestaltet, muss in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion, der wir uns insgesamt stellen müssen, geklärt werden. ({12}) Dass zum Beispiel der bayerische Ministerpräsident immer wieder mit neuen Vorschlägen auf uns zukommt, ist meines Erachtens in Ordnung. Das kann man wollen oder verwerfen oder problematisieren; alles das ist möglich. Lassen Sie uns aber bitte zur Sachlichkeit zurückkehren! Der Kern der Sache besteht für mich in der Frage: Wie können wir im ökonomischen Bereich selbst in die Offensive kommen? Was können wir tun, um gegenüber den Herausforderern anderenorts - in den USA, in Japan, in Europa, in China, in Indien, in Thailand, in Brasilien oder in anderen Staaten dieser Welt - weiter auf einem wettbewerbsfähigen Niveau zu verbleiben? ({13}) - Entschuldigen Sie bitte! Ich winde mich hier überhaupt nicht! Ich habe gar keinen Grund, mich herauszuwinden. Das ist ein Teil des Themas. Dieses Thema haben Sie alle hier angesprochen. Ich will mich ausdrücklich dazu bekennen, dass wir an dieser Stelle etwas tun wollen. ({14}) Ich persönlich neige dazu, dass wir vor allem mehr Flexibilität benötigen. Was die Arbeitszeit betrifft, müssen wir dahin kommen, dass da, wo mehr gearbeitet werden muss, auch mehr gearbeitet wird - und umgekehrt -, dass es da, wo der Zustand, der heute besteht, ausreichend ist, halt so bleiben soll. Also: hohe Flexibilität. ({15}) Ich wiederhole: Die Diskussion um den 3. Oktober ist, glaube ich, nun letztlich beendet. ({16}) - Wir haben doch vom Bundeskanzler gehört, ({17}) dass dieser Vorschlag nicht mehr zur Debatte steht. Das ist ein Faktum. ({18}) Nun können wir natürlich weiter über diese Frage polemisieren; ich meine aber, dass das wenig nutzbringend ist. Ich sage Ihnen noch eines: Weder das Vokabular von Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre zu den deutschen Ostverträgen noch eine Spaltung des Landes in jene, die Befürworter oder Protagonisten der Einheit sind, und jene, die das Ganze gegen ihren Willen haben über sich ergehen lassen, wird Ihnen helfen. Das ist nicht nur unhistorisch, das entspricht nicht nur nicht der Wahrheit, es wird Ihnen in der politischen Debatte auch keinerlei Vorteile bringen. Deshalb sollten Sie diese Form der Polemik ein für alle Mal einstellen. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dorothee Mantel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staffelt, Sie sind doch nicht wirklich so gutgläubig, dass Sie dem Schröder glauben, wenn der sagt, es sei vom Tisch? ({0}) Es tut mir Leid, dass ich angesichts all der Unwahrheiten, die von der SPD im Vorfeld verzapft wurden, zu Beginn der fünf Minuten hier erst einmal ein bisschen aufräumen muss. ({1}) Frau Sonntag-Wolgast, ich freue mich immer, wenn mein Ministerpräsident hier im Hohen Hause Erwähnung findet, ({2}) aber ich muss hier feststellen, dass er das nicht so gesagt hat, wie Sie es ihm unterstellen. Zum einen hat er in dieser Woche gesagt: Feiertage sind das kulturelle Tafelsilber unseres Landes. Wer daran rüttelt, setzt den Zusammenhalt unserer Gesellschaft aufs Spiel. ({3}) Zum anderen hat er schon vor zehn Jahren, Frau SonntagWolgast ({4}) - Sie müssen zuhören, um das Zitat auch wirklich verstehen zu können -, gesagt: ({5}) Ich bin nicht bereit, in einer Zeit, in der wir den Verfall vieler Werte beklagen, gewachsene traditionelle Werte in Bayern in irgendeiner Weise infrage zu stellen. ({6}) - Erst einmal zuhören und ruhig bleiben; dann versteht man es auch. Ich sehe da gar keine Notwendigkeit im Moment. Ich meine, das ist eine Zuständigkeit des Bayerischen Landtages, Feiertage zu streichen oder nicht zu streichen. Das ist nicht eine Zuständigkeit des Bundes. Wenn dem Bund … so sehr daran gelegen ist, dann stelle ich anheim, soll eben er als Bundestagsabgeordneter - gemeint ist Herr Geißler Dorothee Mantel den Antrag stellen, den Tag der Deutschen Einheit als Feiertag aufzugeben oder ihn auf einen Sonntag zu verlegen. ({7}) Das war ein wörtliches Zitat von Edmund Stoiber. Es ist nicht seine Meinung, den Feiertag abzuschaffen. ({8}) - Herr Kollege Danckert, auf Ihre Vorwürfe, die völlig aus der Luft gegriffen sind, entgegne ich: Wir sind am 3. Oktober bei den Menschen vor Ort. Ich selber komme aus einem Wahlkreis im ehemaligen Zonenrandgebiet an der Grenze zu Thüringen. ({9}) Da sprechen wir mit den Menschen, die direkt vom Mauerfall betroffen waren. ({10}) Ich nenne einmal ein Beispiel, das uns wirklich wichtig ist. ({11}) Vielleicht sagt Ihnen der Ort Mödlareuth in Oberfranken etwas. In Mödlareuth feiern jedes Jahr zwischen 5 000 und 10 000 Menschen aus Thüringen, Sachsen und Bayern gemeinsam den Tag der Deutschen Einheit. ({12}) Als Helmut Kohl da war, haben 30 000 Menschen aus Ost und West gemeinsam gefeiert. ({13}) Diese Menschen draußen werden wir nicht enttäuschen, indem wir Ihren unsinnigen Vorschlägen zustimmen. ({14}) Der Tag der Deutschen Einheit ist für uns ein freudiger Anlass. Es ist ein Feiertag und er muss für uns auch ein Feiertag bleiben. Man hat es doch heuer schon gemerkt, als der 3. Oktober auf einen Sonntag fiel. Da war bei vielen gar nicht mehr das Bewusstsein vorhanden, dass es sich um einen Feiertag handelt. In vielen Bereichen bekam man gar nichts vom Feiertag mit. Deshalb muss es weiterhin bei der Regelung bleiben, die es zurzeit gibt. Ich bin der FDP und dem Herrn Westerwelle wirklich dankbar, dass sie diesen Punkt heute noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt haben. ({15}) Im Gegensatz zu den Grünen ist uns dieser Tag nämlich wichtig. Wir würden nicht nur am Freitagnachmittag, sondern sogar am Samstagabend darüber sprechen, weil er uns wirklich am Herzen liegt. ({16}) Auch andere Gründe sprechen dafür. So habe ich heute Morgen - ich bringe ein ganz aktuelles Beispiel gesehen, dass im „Morgenmagazin“ gefragt wurde, wer sich noch an den Mauerfall erinnern kann. Da war ein 16-jähriger Junge, der vom Mauerfall überhaupt nichts und vom Tag der Deutschen Einheit nur recht wenig wusste. Er meinte, er könne sich nicht dazu äußern. Für diese Generation und nicht für uns, die wir etwas älter sind und das mitbekommen haben, müssen wir solche Traditionen also unbedingt aufrechterhalten. ({17}) - Kein Kommentar. - Wir müssen das Auflösen von Werten und Bindungen abwenden. Mir ist es ganz einfach wichtig, dass wir unsere gemeinsamen Werte nicht einfach wegen eines Haushaltslochs wegschmeißen. Hier an dieser Stelle hat unser Bundespräsident gestanden und gesagt: Ich liebe unser Land. - Ich tue das auch und kämpfe wie ein Tier dafür, dass dieser Feiertag erhalten bleibt. Vielen Dank. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die deutsche Einheit, die 1990 glücklich wiedererlangt wurde, beruht auf zwei großen Säulen. Zum einen war es der Kampf der Ostdeutschen um Freiheit, die die Voraussetzung für die Wiedererlangung der Einheit war. Zum anderen war es die gefestigte, über Jahrzehnte gewachsene Demokratie in der alten Bundesrepublik, die unseren Nachbarn ein vertrauensvoller Partner war. Gefestigt heißt auch, dass politischer Streit in angemessener Form ausgetragen wird und dass der politische Wettbewerber, der politische Gegner nicht als Feind betrachtet wird. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe bei der heutigen Debatte und bei einigen Wortbeiträgen der vergangenen Tage mit Entsetzen festgestellt, dass dieses gute alte Fundament unserer Demokratie gefährdet scheint. Mir hat schon 1994 nicht gefallen, dass über den Tag der Deutschen Einheit im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung diskutiert wurde. Damals gab es einige, darunter auch Edmund Stoiber, die sich hätten vorstellen können, dass man den Tag der Deutschen Einheit anders begeht denn als arbeitsfreien Tag. ({1}) - Das war so. Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass dieser Vorschlag, wenn die Bundesregierung ihn in die SPD-Bundestagsfraktion eingebracht hätte, dort strittig gewesen wäre, genauso wie bei unserem Koalitionspartner. ({2}) Aber, Herr Nooke, Sie haben heute einen sehr vorsichtigen Rückzieher gemacht. Er hätte deutlicher sein können. ({3}) Sie haben leider eine Sprache gebraucht, ({4}) die zu Ihrer Partei, die eine der Säulen unserer Demokratie ist - die CDU ist eine verlässliche Säule der Demokratie, eine der großen Volksparteien -, nicht passt. Sie sprechen von Landesverrätern oder Vaterlandsverrätern, wenn Ihnen eine Meinung nicht passt. ({5}) Das ist die Sprache, Herr Nooke, die vor 80 Jahren in diesem Saal auf der rechten Seite des Hauses gebraucht wurde. Da saßen damals nicht die Liberalen, ({6}) sondern die antidemokratischen Hetzer, die gegen Matthias Erzberger genauso gehetzt haben wie gegen Walther Rathenau, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann. Diese Sprache gehört nicht in dieses Haus. ({7}) Ich sage Ihnen noch einmal, worum es ging: Der Bundesfinanzminister hat zu erwägen gegeben, dass man den Tag der Deutschen Einheit künftig nicht mehr am 3. Oktober, sondern am ersten Sonntag im Oktober begeht. Das hätte nicht die Abschaffung des Feiertages bedeutet, ({8}) sondern lediglich eine andere Form, die deutsche Einheit zu feiern. Übermorgen wird in Deutschland der Volkstrauertag begangen, wie an jedem vorletzten Sonntag des Kirchenjahres in Deutschland. In diesem Saal wird die zentrale Veranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge stattfinden. Dort werden wir der Gefallenen beider Weltkriege, der zivilen Kriegsopfer, der Opfer der Nazibarbarei und der Opfer der SED-Diktatur gedenken. Was nimmt es diesem Gedenktag an Würde, wenn es ein Sonntag ist, an dem er in diesem Jahr wie in den vergangenen 50 Jahren und auch in Zukunft stattfindet? ({9}) Aber was mir am wichtigsten ist: Gefährden Sie das nicht durch eine Sprache, die keine demokratische Sprache ist, ({10}) die nicht die Sprache Ihrer Partei ist und eigentlich auch nicht zu Ihnen, Herr Nooke, als Person passt! ({11}) Ich warne Sie: Bleiben Sie bei dem demokratischen Prinzip einer Grundachtung zwischen den Parteien dieses Hauses. ({12}) Das ist genauso die Basis unseres Gemeinwesens wie die Wiedererlangung der Freiheit und Einheit im November 1989. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich von dieser Absicht hörte, war mein erster Gedanke: Was haben sich die Jungs eigentlich dabei gedacht, ({0}) ausgerechnet den Tag der Einheit verbannen zu wollen? Dann habe ich einmal genauer nachgeschaut. Sie haben die Antwort gleich mitgeliefert: Die Wirtschaft würde um 0,1 Prozent belebt, so glaubten Sie. 0,1 Prozent ist exakt 1 Promille. Es war also schlicht eine Schnapsidee. ({1}) Aber wie so oft gilt: In vino veritas. Tatsächlich steckte in diesem Vorschlag ein Fünkchen Wahrheit. Denn würde der Tag der Deutschen Einheit künftig immer sonntags begangen, dann wären die vielen Einheitsansprachen auch erkennbar das, was sie zumeist - nicht alle - sind, nämlich Sonntagsreden und folgenlos. Übrigens zeigt mir die Anwesenheit im Plenum, wie wir zu diesem Thema stehen. Gestern haben sich nur die Hälfte der jetzt anwesenden Kolleginnen und Kollegen mit dem tatsächlichen Stand der deutschen Einheit und den damit verbundenen nicht gelösten Problemen zu später Stunde in diesem Haus befasst. ({2}) Der Alltag sieht ohnehin anders aus als in den Festtagsreden. Nehmen wir nur Hartz IV und das Arbeitslosengeld II. Ossis bekommen per Gesetz weniger als Wessis - und das im Jahre 15 der Einheit. Einen vernünftigen Grund gibt es dafür nicht - außer man hat eine geistige Mauer in den Köpfen. ({3}) Nun dachte ich, dieser Schröder/Eichel-Fauxpas sei nicht zu überbieten. Wie gesagt: dachte ich. Aber ich wurde in dieser Woche eines Besseren belehrt. Ausgerechnet ein Sprachrohr des Ostens im gesamtdeutschen Amte kam auf die Idee: Wessis mögen künftig genauso lange arbeiten wie Ossis, damit die Einheit gelinge. So bringt man den Aufbau Ost als Alibi für den Abbau West in Stellung. Die erneut entflammte Feiertagsdebatte rund um den 3. Oktober zielt aus meiner Sicht ohnehin in die falsche Richtung. Denn wäre die Zahl der Feiertage ein Indikator für Faulheit oder Schwäche, dann müssten Bayern und Baden-Württemberg komplett am Boden liegen. Das tun sie aber offenbar nicht. Deshalb schütteln auch alle Ökonomen, die nicht börsenverpflichtet sind, sondern sozialstaatlich denken, den Kopf. Denn sie halten die gesamte Kampagne für längere Arbeitszeiten für grundsätzlich daneben. Die PDS im Bundestag findet das auch. Verlängerte Arbeitszeiten wären gesellschaftlich ein Rückschritt. Mit Blick auf den Binnenmarkt und die Arbeitslosigkeit wären sie sogar kontraproduktiv. Zu Recht sprach der DGB dieser Tage von Voodoo-Ökonomie. Oder um sprachlich im Eingangsbild zu bleiben: Es ist eine Schnapsidee, die wir ganz nüchtern ablehnen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese unsägliche und wirklich beschämende Forderung, den Nationalfeiertag abzuschaffen, ist Gott sei Dank vom Tisch. Dies gilt es, als positiv zu konstatieren. Diese Diskussion hat meines Erachtens zwei erwähnenswerte Aspekte zutage gefördert. Die Forderung von Rot-Grün hat uns zum einen gezeigt, dass Rot-Grün nach wie vor ein gestörtes Verhältnis zur Nation, zum Patriotismus und zu Deutschland hat. ({0}) Denn sie ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern auch instinktlos. Die Forderung, den Nationalfeiertag abzuschaffen, hat uns zum anderen vor Augen geführt: Wir können froh sein, dass zur Zeit der Wende 1989/90 Helmut Kohl und nicht Oskar Lafontaine oder vielleicht Gerhard Schröder Bundeskanzler war. ({1}) Es ist unsäglich, dass gerade zu einer Zeit, in der das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland ohnehin große Schwierigkeiten bereitet und es die Tendenz gibt, dass die beiden Landesteile - vor allem in den Köpfen eher auseinander driften denn zusammenwachsen, eine solche Forderung auf den Tisch gelegt wurde. ({2}) Die Medienberichterstattung gerade der letzten Tage hat gezeigt, wie schön dieses Ereignis war und wie glücklich wir aufgrund dieses Ereignisses sein konnten. ({3}) Es gibt in der langen deutschen Geschichte wenige Ereignisse, über die wir so glücklich sein können wie über diesen 3. Oktober. ({4}) In der heutigen Zeit eine derartige Forderung in den Raum zu stellen halte ich für geschichtsvergessen und unwürdig. ({5}) Feiertage sind identitäts- und sinnstiftend. Herr Spiller, ich könnte noch einmal das Zitat des bayerischen Ministerpräsidenten, Dr. Edmund Stoiber, vortragen. Das didaktische Instrument der Wiederholung soll ja manchmal durchaus zu Erfolg führen. ({6}) Bei Ihnen, so muss ich offen sagen, glaube ich aber weniger daran. Es gibt nämlich kein anderes Bundesland, in dem es so viele Feiertage gibt wie in Bayern. Stephan Mayer ({7}) Gleichwohl ist in Bayern im Vergleich zu den anderen Bundesländern die Wirtschaftskraft pro Einwohner am höchsten und die Arbeitslosigkeit am niedrigsten. ({8}) Ein zweiter Aspekt, weswegen ich froh bin, dass diese Diskussion geführt wurde, ist der, dass nunmehr, nachdem diese Diskussion hoffentlich ein für alle Mal beendet wurde, eines klar ist: dass eine Verlängerung der Arbeitszeit die Wirtschaftskraft insgesamt fördert. Die Mär der Gewerkschaften, dass man die vorhandene Arbeit nur auf mehr Schultern verteilen müsse, muss spätestens nach dieser Diskussion für immer beendet sein. Es ist sogar sinnvoll, die Arbeitszeit zu erhöhen. Wenn Sie darüber debattieren, welcher Feiertag möglicherweise gestrichen werden soll, fällt mir schon einer ein. Es war Reichskanzler Adolf Hitler, der am 10. April 1933 aus propagandistischen Gründen den Tag der Arbeit ins Leben gerufen hat. Über die Streichung dieses Feiertages kann man also durchaus sprechen. Ich möchte aber gar nicht so weit gehen, zu fordern, Feiertage abzuschaffen. Wir müssen uns allerdings verstärkt mit dem Thema auseinander setzen, wie wir es verhindern können, dass nicht nur vermehrt Kapital Deutschland verlässt - Kapital ist ein flüchtiges Reh -, sondern dass vor allem auch vermehrt Arbeitsplätze Deutschland verlassen. Jeden Tag verlieren wir in Deutschland 1 000 Arbeitsplätze. ({9}) Es ist nicht lange her, da hat Gerhard Schröder die Unternehmer, die teilweise betriebsbedingt Teile ihres Betriebes ins Ausland verlagern mussten, als vaterlandslose Gesellen bezeichnet. Nach der Diskussion um den 3. Oktober ist klar, wer hier wirklich der vaterlandslose Geselle ist. ({10}) Wir müssen uns mit dem Thema auseinander setzen, die Arbeitszeit insgesamt zu erhöhen. Im Durchschnitt liegt Deutschland im Jahresverlauf um 300 Stunden hinter allen anderen Industrienationen. Es gibt keine Industrienation auf der Welt, in der so wenig gearbeitet wird wie in Deutschland. Wenn man die Arbeitszeit beispielsweise nur um zwei Stunden in der Woche erhöhen würde, dann würde dies im Jahr zu ungefähr zwölf Arbeitstagen mehr führen. Man muss also gar nicht an das Heiligste gehen, daran, Feiertage abzuschaffen. Es reicht, in der Woche eine oder zwei Stunden mehr zu arbeiten. Dazu muss ich offen sagen: Das schadet letztendlich keinem. Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen, wie unsäglich und schädlich Ihre Forderung war. Ich kann an Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von RotGrün, nur appellieren: Stecken Sie diese Forderung in die Schublade und sperren Sie sie für jetzt und immer weg! ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Eckart von Klaeden. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte den Redner der Bundesregierung, Herrn Staatssekretär Staffelt, ansprechen. Als Sie an das Rednerpult getreten sind und den Kollegen Vaatz angesprochen haben, hatte ich eigentlich erwartet, dass Sie sich für Ihren Zuruf „Blockflöte“, den Sie nach seiner Rede gemacht haben, entschuldigen. ({0}) Ich bedaure, dass Sie diese Gelegenheit nicht genutzt haben; denn der Kollege Vaatz gehört wie einige andere in diesem Hause - in Ihrer Fraktion unter anderem der Kollege Hilsberg, bei den Grünen der Kollege Werner Schulz - zu denjenigen, die sich zur Zeit der Wende, als die Möglichkeit bestand, gegen das DDR-Regime vorzugehen, mutig für Freiheit und Demokratie in Deutschland eingesetzt haben. ({1}) Er ist einer derjenigen gewesen, die in Dresden an der Erstürmung der Stasizentrale beteiligt gewesen sind. Daher würde ich mich freuen, wenn Sie wenigstens persönlich die Gelegenheit wahrnehmen würden, das, was Sie gesagt haben, zurückzunehmen. Ich jedenfalls freue mich, dass diese Kolleginnen und Kollegen heute in diesem Hause in unseren Fraktionen mitarbeiten. ({2}) - Herr Kollege Edathy, ehrlich gesagt, finde ich, dass Sie sich diesen Zwischenruf hätten sparen sollen; ({3}) denn Kollege Hilsberg hat das Verkehrsministerium aus ganz bestimmten Gründen verlassen, als Herr Stolpe Verkehrsminister geworden ist. ({4}) Ein nächster Punkt. Herr Staffelt, Sie haben sich stark echauffiert, weil Kollege Vaatz das Erbe der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die für Demokratie und Einheit ihr Leben gelassen haben, beschmutzt habe. Wir achten diese Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialdemokratischen Partei ebenso wie die aus unserer Partei. Aber ich will darauf hinweisen, dass die Beschmutzung, von der Sie gesprochen haben, ausschließlich in Form von Zitaten von Sozialdemokraten stattgefunden hat. ({5}) Es ist schon bemerkenswert, dass Sie meinen, man könne das Erbe von Sozialdemokraten, die für die Einheit gestorben sind, mit Zitaten von Sozialdemokraten, die heute auf der Regierungsbank Platz nehmen, beschmutzen. ({6}) Eine weitere Bemerkung - denn eines finde ich geradezu bedauerlich -: Obwohl die verrückte Idee - von einer Schnapsidee möchte man gar nicht sprechen; das wäre ja, wie Helmut Kohl zu Recht gesagt hat, eine Beleidigung des Wortes Schnaps -, ({7}) den 3. Oktober nicht an diesem Datum, sondern am ersten Sonntag im Oktober zu feiern, wieder zurückgezogen wurde, halten Sie immer noch an diesem Vorschlag fest, versuchen, ihn zu begründen, oder halten ihn sogar für richtig. ({8}) Ich finde es bemerkenswert - dazu habe ich einiges lesen und leider auch hören müssen -, wie schlecht in Ihren Reihen über den 3. Oktober gesprochen wird. ({9}) Der eben bereits in einem bestimmten Zusammenhang erwähnte Bundesminister Stolpe hat zum Beispiel erklärt, dass es sich beim 3. Oktober schon immer um ein „willkürliches Datum“ gehandelt habe. Dieser Aussage will ich gegenüberstellen, was Richard von Weizsäcker, als er noch Bundespräsident war, am 3. Oktober 1990 dazu gesagt hat: Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet. Von diesem Tag als einem „willkürlichen Datum“ zu sprechen, das finde ich geradezu abwegig. ({10}) Herr Kollege Spiller, Sie mögen Ihren Geburtstag am ersten Sonntag des entsprechenden Monats feiern, weil Sie meinen, dadurch 0,1 Prozent sparen zu können, ({11}) aber ich finde, dass dieser Tag der Geburtstag des wiedervereinten und freien Deutschlands im Westen ist und dass wir ihn auch an diesem Datum feiern sollten. ({12}) Ich will noch ein Zitat anführen: Der 3. Oktober - kein Zweifel - ist für die Deutschen ein Tag der Freude. Wir freuen uns über die wiedererlangte Freiheit, die Voraussetzung für eine staatliche Einheit war. Wir freuen uns darüber, dass der 3. Oktober auch immer der Tag sein wird, an dem wir uns an den Mut erinnern, mit dem die Deutschen in der damaligen DDR die Mauer zum Einsturz gebracht und ein diktatorisches Regime beseitigt haben. An dieser Stelle müssten Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, eigentlich klatschen, denn das war der Anfangsabsatz der Rede, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am Tag der Deutschen Einheit des Jahres 2003 in Magdeburg gehalten hat. ({13}) Damals hat er noch davon gesprochen, dass wir uns am 3. Oktober jedes Jahres erinnern sollen; nur ein Jahr später war er der Ansicht, dass der erste Sonntag im Oktober dafür ausreichend sei. ({14}) Zum Schluss darf ich mir den Hinweis darauf erlauben, dass Sie in einer gewissen Tradition stehen, wenn Sie meinen, Feiertage abschaffen zu müssen. Die DDRFührung hat den Pfingstmontag und Christi Himmelfahrt abgeschafft. ({15}) Wo das geendet hat, hat man gesehen. Das Wirtschaftswachstum, das man sich damals davon versprochen hat, hat man jedenfalls nicht erreicht. Genauso dämlich ist auch Ihr Vorschlag gewesen. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 23. November 2004, 10 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.