Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Eduard Lintner feierte am 4. November seinen 60. Geburtstag und der Kollege Siegfried
Scheffler am 5. November ebenfalls seinen 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich beiden
Kollegen sehr herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Der Kollege Christoph Hartmann hat am 1. November 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete
Dr. Karl Addicks am 1. November 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße
Sie sehr herzlich.
({1})
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass die Kolleginnen und Kollegen Alexander Dobrindt, Melanie
Oßwald, Hannelore Roedel und Andreas Scheuer ihr
Amt als Schriftführer niedergelegt haben. Als Nachfolger werden die Kolleginnen Dorothee Mantel, Doris
Meyer ({2}), Marlene Mortler sowie der Kollege
Thomas Silberhorn vorgeschlagen. Sind Sie mit diesen
Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kollegen als Schriftführer gewählt.
Der ehemalige Kollege Hubert Ulrich ist aus dem
Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen ausgeschrieben. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
schlägt die Kollegin Jutta Krüger-Jacob als ordentliches Mitglied für den Programmbeirat vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist die Kollegin Krüger-Jacob als ordentliches Mitglied
für den Programmbeirat benannt.
Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim
Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den
Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig,
Volker Beck ({4}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche
- Drucksache 15/4134 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der
Richtlinie 2001/42/EG ({6})
- Drucksache 15/4119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({8})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gräbergesetzes
- Drucksache 15/3753 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
- Drucksache 15/4170 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({11})
Thomas Dörflinger
Ina Lenke
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädigungsgesetzes ({12})
- Drucksache 15/3944 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({14})
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
- Drucksache 15/4169 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Manfred Kolbe
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bedeutung des Sparkassensektors für die Mittelstandsfinanzierung vor dem
Hintergrund von Forderungen nach Privatisierung der
Sparkassen
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/4133 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach,
Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Humanitäre Soforthilfe
zielgerichtet gestalten
- Drucksache 15/4130 ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze
- Drucksachen 15/3784, 15/3984 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({17})
- Drucksache 15/4173 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Reinhard Grindel
Dr. Max Stadler
ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen
Familienrecht
- Drucksache 15/3981 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({19})
- Drucksache 15/4168 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Bätzing
Christine Lambrecht
Ute Granold
Sibylle Laurischk
ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eheund Lebenspartnerschaftsnamensrechts
- Drucksache 15/3979 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({21})
- Drucksache 15/4167 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Daniela Raab
Sibylle Laurischk
ZP 9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Flexiblere
Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hochschulbereich schaffen
- Drucksache 15/4131 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({22})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren
- Drucksache 15/4151 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({23})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 15 a und b
- Änderung des Parteiengesetzes - abgesetzt werden.
Außerdem mache ich auf geänderte bzw. nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr
dem Verteidigungsausschuss federführend überwiesen
werden.
Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus
Haupt, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Bundeswehr stärken Beschäftigungsbedingungen für Soldatinnen
und Soldaten verbessern
- Drucksache 15/3960 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen
werden.
Antrag der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk
Fischer ({24}), Georg Brunnhuber, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Europäische Eisenbahnmagistrale Paris-Budapest im deutschen Abschnitt voranbringen
- Drucksache 15/3715 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({25})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Der in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Rechtsausschuss, dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform
der beruflichen Bildung ({26})
Präsident Wolfgang Thierse
- Drucksache 15/3980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({27})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
zunächst einen Geschäftsordnungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch behandeln. Frau Lötzsch hat
fristgerecht beantragt, den Tagesordnungspunkt 6 - Beratung des Jahresberichts zum Stand der deutschen
Einheit 2004 - bereits jetzt anschließend mit einer Debattendauer von zwei Stunden zu beraten.
Das Wort hat Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und
Herren! Wir als PDS-Abgeordnete halten es für angemessen, dass über den Stand der deutschen Einheit innerhalb der so genannten Kernzeit beraten wird. Wir haben kein Verständnis dafür, dass der Jahresbericht zum
Stand der deutschen Einheit erst am späten Nachmittag
- außerhalb der Kernzeit und, wie von den Fraktionen
intern vorgesehen, bei geringer Teilnahme - besprochen
werden soll.
Gestern hatte ja die Fraktion der CDU/CSU den
Wunsch geäußert, in einer Aktuellen Stunde über den
3. Oktober und dessen Abschaffung als arbeitsfreien
Feiertag zu sprechen. Augenscheinlich durch handwerkliche Ungeschicklichkeit, wenn ich das richtig verstanden habe, ist diese Rechnung nicht aufgegangen; es
hat nicht geklappt. Ich kann Sie nur ermuntern: Stimmen
Sie meinem Antrag zu, jetzt über den Stand der deutschen Einheit zu sprechen! Es ist ja nicht zu übersehen,
dass es in den letzten zehn Tagen in den Medien eigentlich kein anderes Thema gab als das, wer nun Vaterlandsliebe zeigt und zur deutschen Einheit steht und wer
den 3. Oktober als Feiertag abschaffen will.
Ich habe mir heute Morgen zwar überlegt, ob die Macher der Tagesordnung vielleicht vermeiden wollten,
dass zum Beginn der Karnevalszeit um 11.11 Uhr zum
Stand der deutschen Einheit gesprochen wird; aber ich
glaube, diejenigen, die aus dem Rheinland kommen,
wissen, dass auch Narren bei wichtigen Themen ernst
sein können.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Bedeutung des Themas „Stand der deutschen Einheit“ in der
Form angemessen zu würdigen, dass darüber zu einem
Zeitpunkt debattiert wird, zu dem die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit durch die Fernsehübertragung gewährleistet ist, und nicht erst zur Abendbrotszeit, wenn
die Fernsehkameras schon abgeschaltet sind.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Küster.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
9. November 1989 ist für uns immer ein Tag der freudigen Erinnerung. Mit diesem Tag nahm der Zug der deutschen Einheit seine Fahrt auf; die Mauer fiel. Wir haben
uns seit diesem Tag immer gern an die Ereignisse von
1989 erinnert, die zur Herstellung der deutschen Einheit
geführt haben. Anlässlich des Gedenkens an diesen Tag
ist in den vergangenen Tagen alles gesagt worden. Die
Medien haben ausführlich darüber berichtet; die unterschiedlichen Sichtweisen sind ausgetauscht worden. Wir
werden an dieser Stelle sozusagen keine Vermisstenanzeige stellen können.
Wir werden die Debatte zum Stand der deutschen
Einheit heute Nachmittag in aller Ausführlichkeit und
unter reger Beteiligung des Parlamentes führen. Frau
Lötzsch, Ihre Vorhersagen, die Sie aufgrund Ihrer seherischen Fähigkeiten geäußert haben, kann ich nicht teilen.
Der Zeitpunkt, zu dem wir die Debatte zum Stand der
deutschen Einheit führen, hat nichts mit dem Datum des
9. November zu tun. Sie wissen, dass es Tradition des
Hauses ist, dass wir uns jeweils im Herbst über den
Stand der deutschen Einheit auseinander setzen und über
die Konsequenzen für die Fortführung des Prozesses zur
Wiederherstellung der deutschen Einheit auch auf anderen Gebieten debattieren.
Sie von der PDS, der Nachfolgepartei der SED, haben
die Einheit Deutschlands 40 Jahre lang nicht gewollt.
({0})
Sie tragen die Verantwortung für das Auseinanderdriften
der beiden deutschen Staaten und für die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten.
Daher fällt es mir sehr schwer, zu akzeptieren, dass Sie
sich zum Fürsprecher der Debatte zum Stand der deutschen Einheit machen. Dieses Haus unterstützt eine solche Debatte jederzeit.
({1})
Wir lehnen Ihren Antrag eindeutig ab. Wir werden
heute Nachmittag die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt führen.
({2})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden
fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt.
Präsident Wolfgang Thierse
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in
Brüssel am 4./5. November 2004
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages in Rom trat der Europäische Rat in
Brüssel zusammen. Dabei standen vier europapolitische
Kernthemen im Mittelpunkt der Beratung: erstens die
Lissabon-Strategie, die auf die zentralen Bereiche
Wachstum und Beschäftigung angepasst und ausgerichtet wurde, zweitens die Verabschiedung des Haager Programms, in dem die gemeinsame europäische Asyl- und
Migrationspolitik weiterentwickelt wurde, drittens die
europäische Öffentlichkeitsarbeit, die angesichts des anstehenden Prozesses der Ratifizierung der Verfassung
verstärkt werden muss, und viertens eine ganze Bandbreite wichtiger außenpolitischer Themen. Dabei ging es
vor allen Dingen um die Perspektive für den Friedensprozess im Nahen Osten, um den Irak und den Iran sowie um die Lage in Sudan, Darfur. Damit wird klar, welche Bedeutung diese neue Dimension in der erweiterten
Europäischen Union hat.
Bevor ich auf die einzelnen Themen eingehen werde,
lassen Sie mich kurz auf einen anderen, allerdings zentralen Aspekt zu sprechen kommen, der selbstverständlich beim Rat ebenfalls eine Rolle gespielt hat. Während
der Europäische Rat tagte, liefen die Bemühungen des
designierten Kommissionspräsidenten Barroso um die
Aufstellung der neuen Kommission weiter. Auch wenn
es formal nicht auf der Tagesordnung des Rates stand,
spielte sein neues Personalpaket eine wichtige Rolle. Die
Bundesregierung ist der Meinung, dass der künftige
Kommissionspräsident Barroso die richtigen und notwendigen politischen Konsequenzen gezogen hat.
Das Europäische Parlament hat durch seine klare Haltung in beeindruckender Weise zu einer Stärkung seiner
Rolle im Zusammenspiel der europäischen Institutionen
beigetragen. Dies hat das demokratische Prinzip sichtbar
gefördert. Das war auch im Sinne der Verfassungsgeber
im Konvent.
Formell hat der Rat bereits seine Zustimmung zur
neuen Liste der designierten Kommissare erteilt. Es ist
jetzt erneut Sache des Europäischen Parlaments, eine
Entscheidung über die neue Kommission zu treffen. Die
Bundesregierung hofft, dass der designierte Kommissionspräsident im zweiten Anlauf eine klare Mehrheit für
die Kommission in der neuen Zusammensetzung erhält.
Damit werden wir wohl noch im November eine neue
Kommission bekommen. Dies ist - so unsere Meinung von entscheidender Bedeutung. Das erweiterte Europa
braucht starke und handlungsfähige Institutionen und als
entscheidende integrative Institution die Kommission.
({0})
Meine Damen und Herren, der Europäische Rat hat
sich intensiv mit der Lissabon-Strategie befasst. Deren
Halbzeitüberprüfung wurde konkret vorbereitet. Auf
dem Weg zu dem dafür entscheidenden Frühjahrsrat
2005 sind wir dabei ein großes Stück vorangekommen.
({1})
- Warum zurück?
({2})
- Zu wem?
({3})
Ich bitte Sie: Sie können doch nicht allen Ernstes behaupten, dass wir uns diesbezüglich zurückentwickeln.
({4})
- Ich fahre fort; aber diesen Zuruf nehme ich gerne auf.
({5})
Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen:
({6})
Von Wim Kok ist ein Bericht vorgelegt worden; genau
darüber wurde gesprochen.
({7})
- Das ist keine schallende Ohrfeige. Ich weiß nicht, ob
Sie sich selbst dabei bedenken wollen.
Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen
({8})
- nein, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen -:
({9})
Die Empfehlungen des Berichtes der Expertengruppe
um Wim Kok wie auch der Mitgliedstaaten wurden dort
vorgelegt und diskutiert. Die Konsequenzen aus diesem
Bericht werden in den Frühjahrsgipfel mit einfließen.
Mit den Leitlinien des Kok-Berichtes stimmt die Bundesregierung weitgehend überein. Er hält im Grundsatz
an dem ehrgeizigen Ziel fest, Europa bis 2010 zum
stärksten Wirtschaftsraum zu entwickeln. Die Bundesregierung unterstützt gemeinsam mit anderen Partnern in
der EU die Konzentration auf die beiden zentralen Ziele:
auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, wie es
im Kok-Bericht empfohlen wird.
Wir teilen auch seine richtigen und wichtigen Aussagen zu zentralen Schlüsselthemen wie Umwelt, Forschung, Binnenmarkt, Bildung und lebenslangem Lernen
sowie die Forderung, das Geschäfts- und Investitionsklima überall in Europa zu verbessern.
Trotz des schwierigen weltwirtschaftlichen Umfeldes
konnte im Rahmen der Lissabon-Strategie schon einiges
erreicht werden. Ich will hier nur vier Bereiche nennen:
Erneuerbare Energien leisten einen zunehmenden Beitrag
zu Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. Schlüsselmärkte wie die Telekommunikation wurden vollständig
für den Wettbewerb geöffnet. Heute wird in Europa verstärkt in Forschung und Entwicklung investiert. In
Deutschland werden trotz der derzeit schwierigen Haushaltslage Bundesmittel in Höhe von rund 8,9 Milliarden
Euro dafür bereitgestellt. Damit steigt der Anteil der
Forschungs- und Entwicklungsförderung am Bruttoinlandsprodukt. Die wissensbasierte Gesellschaft, wie sie
in der Lissabon-Strategie eingefordert wird, ist heute in
Deutschland und Europa bereits Realität geworden.
({10})
Ende vergangenen Jahres nutzten 98 Prozent der deutschen Unternehmen und mehr als die Hälfte der Privatpersonen bereits das Internet. Diese Entwicklung wird
weitergehen.
({11})
Wir waren uns auf dem Europäischen Rat aber auch einig: Solche Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es noch viel zu tun gibt, um das ambitionierte Lissabon-Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung hat zur Halbzeitbilanz ein eigenes Positionspapier erstellt, das sich
mit den Grundaussagen des Kok-Berichtes deckt.
({12})
Es wurde der Kommission vorgelegt und während des
Rates diskutiert. Seine zentralen Anliegen werden somit
in die Vorbereitung des nächsten Frühjahrsgipfels einfließen.
In diesem Papier betonen wir besonders folgende
Punkte: Die Bundesregierung sieht in einem wachstumsorientierten Verständnis von Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltschutz große Chancen. Die Bundesregierung tritt daher für eine Binnenmarktinitiative ein,
deren Schwerpunkt in folgenden Bereichen liegen soll:
Die Energiemärkte und die Energieversorgungssysteme
sollen zum Nutzen der Verbraucher weiter liberalisiert
werden. Durch die Einführung einheitlicher Standards
soll der europäische Zahlungsverkehr erleichtert werden.
Um Dienstleistungen gemeinschaftsweit anbieten zu
können, müssen die Arbeiten an europaweit geltenden
Regelungen vorangetrieben werden.
All das sind Maßnahmen, die von entscheidender Bedeutung für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
sind, die allerdings Anpassungsprobleme für die jeweiligen nationalen Wirtschaften mit sich bringen. Wer
meint, dies sei nicht wichtig, dem kann ich nur sagen,
dass die Dienstleistungsrichtlinie uns alle gemeinsam
vor sehr große Herausforderungen stellen wird.
Ein gesamteuropäisches Vertragsrecht soll geschaffen werden, um grenzüberschreitende Geschäfte zu erleichtern. Auch dies ist, wie es scheint, ein trocken klingender Punkt; aber es wird ganz erheblicher Leistungen
bedürfen, um hier eine Harmonisierung zu erreichen.
Eine einheitliche Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteuerung soll eingeführt werden, um die
Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Europa insgesamt
zu fördern. Ein europäisches System der Finanzaufsicht
soll geschaffen werden, da die Stabilität und Krisenresistenz der Finanzmärkte für Europa von entscheidender
Bedeutung ist. Zugleich soll ein einheitlicher Rüstungsbinnenmarkt die Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie unterstützen und zur Entwicklung einer
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beitragen.
Im Rahmen der Vorbereitung der Halbzeitüberprüfung hat der Europäische Rat auch die gemeinsame Initiative des Bundeskanzlers, des französischen Staatspräsidenten und der Ministerpräsidenten von Spanien und
Schweden zur stärkeren Einbeziehung der Jugend in den
Lissabon-Prozess aufgegriffen. Hierbei geht es konkret
darum, einen europäischen Pakt für die Jugend auszuarbeiten, das heißt, allen Jugendlichen die Möglichkeit beruflichen Erfolgs zu geben.
({13})
- Ich wage nicht, das zu wiederholen, was Sie gerade gesagt haben.
({14})
- Natürlich sind Regierungserklärungen aufgeschrieben. Sie werden nicht frei formuliert; denn Sie wollen ja,
dass sie Ihnen, bevor sie gehalten werden, schriftlich
vorliegen.
Kollege Schäuble, ich will das Wort, das Sie benutzt
haben, nicht wiederholen. Aber ich sage Ihnen: Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die es zwar
nicht in Deutschland, aber in anderen Ländern gibt, ist
das eine wichtige Initiative, die ich nicht mit einem solch
unflätigen Wort besetzen würde, wie Sie es gerade getan
haben. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
({15})
Die Schaffung einer stärkeren Kohärenz der unionsweiten Maßnahmen für Jugendliche und die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
({16})
- in diesem Bereich, in dem andere Länder wesentlich
weiter sind, haben wir in Deutschland aufgrund 16 Jahre
langer Versäumnisse und einer ideologiegesteuerten
Politik große Defizite -,
({17})
das sind entscheidende Punkte, die der Initiative von
Staatspräsident Chirac, des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten von Spanien und Schweden zugrunde
liegen. Auch wenn Sie das langweilig finden, handelt es
sich hierbei um große Herausforderungen,
({18})
denen wir uns auf europäischer Ebene zu stellen haben.
({19})
Mit diesen klaren Perspektiven hat der Rat ein Signal in
Vorbereitung des wichtigen Frühjahrsgipfels 2005 gegeben. Mit einer verbesserten Lissabon-Strategie hält die
EU Kurs, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Das ist für die Bundesregierung ebenfalls ein
wichtiges Ziel.
Meine Damen und Herren, auf dem Rat wurde darüber hinaus das Haager Programm beschlossen. Dieses
neue, auf fünf Jahre ausgerichtete Programm für den Bereich Justiz und Inneres knüpft an die im Oktober 1999
in Tampere vereinbarte Schaffung eines Raumes der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa an.
Dies hat zum bisher größten Integrationsschub seit der
Schaffung des Binnenmarktes geführt. Dieser Erfolg soll
jetzt weitergeführt werden.
Das Haager Programm setzt dabei drei zentrale, zukunftsweisende Schwerpunkte: Erstens soll eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik entwickelt werden, die mit Fragen der inneren Sicherheit,
insbesondere der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, verknüpft wird.
Zweitens wollen wir europaweit einsetzbare Rechtsinstrumente schaffen, insbesondere im zivil- und wirtschaftsrechtlichen Bereich, beispielsweise ein europäisches Mahnverfahren.
Drittens müssen bereits bestehende Rechtsinstrumente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit aus
dem Tampere-I-Programm evaluiert und entsprechend
umgesetzt werden.
Ein längerfristiges Ziel des Haager Programms ist die
weitere Ausgestaltung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das Programm soll dabei helfen, das In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages in diesen entscheidenden Politikbereichen vorzubereiten.
Deshalb enthält es detaillierte Arbeitsaufträge und klar
definierte Zeitpläne, so zum Beispiel die Entwicklung
eines gemeinsamen europäischen Asylsystems sowie
den Aufbau einer europäischen Asylbehörde bis 2010.
Die Bundesregierung begrüßt dieses Programm nachdrücklich. Wir wären bereit gewesen, gerade im Bereich
der justiziellen Zusammenarbeit noch weiter zu gehen;
aber unser von Frankreich und Spanien unterstützter
Wunsch, schon jetzt mit den nötigen Vorarbeiten, beispielsweise für die Einrichtung einer europäischen
Staatsanwaltschaft, zu beginnen, ließ sich noch nicht
umsetzen.
Meine Damen und Herren, „Europa den Menschen
vermitteln“, so lautete die Überschrift.
({20})
- Ich will Ihnen eines sagen, Kollege Schäuble: Sie können mir sicher viel vorwerfen, aber nicht, dass ausgerechnet ich Defizite hätte, Europa zu vermitteln.
({21})
Im ganzen Europawahlkampf war ich sehr erfolgreich
unterwegs. Ich kann kein solches Defizit feststellen.
({22})
Dass Sie davon nicht begeistert sind, ist doch völlig klar;
darüber brauchen wir nicht zu streiten.
({23})
Schauen Sie: Ich saß jahrelang auf den Oppositionsbänken, als Sie die Mehrheit hatten. Ich werde nie die
Regierungserklärungen morgens um 9 Uhr vom Bundeskanzler - heute a. D. - Dr. Helmut Kohl vergessen: Regierungserklärungen sind Regierungserklärungen und
nicht frei gehaltene Reden. Sie tun alles, um wieder in
den Zustand zu kommen, solche Regierungserklärungen
abgeben zu müssen. Und wir tun alles, damit das nicht
eintritt, und Sie können davon ausgehen, wir werden dabei erfolgreich sein.
({24})
- Ihnen, Herr Schäuble, gefällt das nicht. Der vor Ihnen
sitzt, sagt: „Tragen Sie erst einmal zu Ende vor!“ Sie
werden gleich auf die Regierungserklärung antworten
können, also bitte ich Sie: Lassen wir das doch, das sind
doch nur Scheingefechte; das wissen Sie als erfahrener
Parlamentarier so gut wie ich.
({25})
- Nein, ich gebe es nicht zu Protokoll.
({26})
Ich muss Ihnen eines sagen: Diese Reihe großartiger
Redner hier vorne bei der CDU/CSU, von denen ja nachher ein paar zu Wort kommen,
({27})
die werden natürlich alle frei reden und jeder von denen
würde bei einem Rednerwettbewerb die Nummer eins.
Dabei kennen wir Ihre Reden seit langem. Jetzt hören
Sie doch damit auf!
({28})
- Ich lasse mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen,
({29})
sondern ich empfinde es als wohltuend. Insofern kann
ich nur sagen - ({30})
- Herrgott, was soll man dazu sagen? Meine Güte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Europa
den Menschen vermitteln“, ich sehe, wir sind gerade heftig dabei. Neulich haben wir den Widerspruch Ihrer
Fraktion in der Verfassungsfrage erlebt, Kollege
Schäuble.
({31})
- Nicht „aba“!
({32})
Ich habe doch den Kollegen Müller aus München, den
Kollegen Silberhorn und wie diese genialen Staatsmänner von der CSU alle heißen ({33})
große Freunde Europas! - hier gehört, als es um die Bedingungen ging; ich habe doch gesehen, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen und ohne die Hand zu rühren
dabeisaßen und Frau Merkel vorher, nach dem „FAZ“Artikel,
({34})
tapfer durch die Reihen ging und versuchte, die Fraktion
zusammenzubringen. Europa vermitteln, das wird sich
vor allen Dingen daran festmachen, ob es wirklich gelingt, hier Mehrheiten für den Verfassungsvertrag zu bekommen. Das ist die entscheidende Frage.
({35})
Vor allen Dingen der Kollege Wolfgang Schüssel hat
hierzu einen besonderen Beitrag geleistet. Herr Bundeskanzler, wir haben es doch selbst gehört: Es waren vor
allen Dingen Angehörige von konservativen Mehrheiten
- Ministerpräsidenten und Bundeskanzler -, die dieses
betrieben haben. Ich werde ihnen berichten: Die CDU/
CSU-Fraktion findet dieses lustig und meint tatsächlich,
man könnte darüber hinweggehen.
({36})
- Es ist überhaupt nicht nötig, mir die Seite zu nennen;
ich weiß selbst, auf welcher Seite ich bin.
({37})
Es ist ja schön, dass Sie die Seiten mitgezählt haben. Ich
sehe, Sie sind mit Begeisterung dabei. Das Thema Europa zu vermitteln, es ist gelungen: Wir können sehen,
dass Sie aufgewacht sind.
({38})
Der Europäische Rat hat sich weiter mit dringenden
außenpolitischen Fragen beschäftigt; das ist eine, wie ich
finde, immer wichtigere Dimension. Die Europäische
Union ist zunehmend gefordert, ein stärkeres außenpolitisches Profil zu zeigen. Denken wir an das Jahr 2001
zurück, an die furchtbaren Attentate in New York: Damals stellten wir fest, dass die Europäische Union zwar
mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik begonnen hatte, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Aber angesichts einer solchen
Krise wie den furchtbaren Verbrechen vom 11. September 2001 hat sich gezeigt, dass die Europäische Union
für die Frage von Krieg und Frieden nicht gebaut war.
Heute stellen wir fest, dass der europäische Beitrag
für die Beantwortung der offenen Fragen im Iran, im
Irak, im Nahen Osten und auf dem Balkan unverzichtbar
geworden ist. Dies gilt auch für Afrika und den Mittleren
Osten. Krisenbewältigung und Krisenprävention sind
dabei zwei der entscheidenden Aufgaben geworden.
Ohne substanzielle Fortschritte im Nahost-Friedensprozess sind alle anderen Konflikte in der Region unseres Erachtens - damit meine ich nicht nur die Bundesregierung, sondern den gesamten Europäischen Rat - nicht
lösbar. Der Plan für den Rückzug aus Gaza und Teilen
der Westbank eröffnet eine Chance für einen Fortschritt
im Friedensprozess, die es zu nutzen gilt. Angesichts des
Todes von Präsident Arafat - die Bundesregierung hat
der palästinensischen Führung, der Familie und dem
ganzen palästinensischen Volk ihre Anteilnahme und ihr
Mitgefühl ausgedrückt - ist es aber wichtig, dass jetzt
kein Machtvakuum entsteht und dass es einen geordneten Übergang auf die Nachfolger gibt. Dieser Plan für
den Rückzug aus Gaza und Teilen der Westbank eröffnet
nach Meinung des Europäischen Rats die Chance für
Fortschritte.
Die Positionen der EU und des Quartetts hierzu sind
klar: Der Abzug darf nicht in einer chaotischen Situation
enden; er muss vielmehr ein beispielhafter Schritt in
Richtung weiterer Fortschritte auf dem Weg zur ZweiStaaten-Lösung gemäß der Roadmap sein. Das ist von
entscheidender Bedeutung, weil wir - damit meine ich
wiederum den Europäischen Rat - der festen Überzeugung sind, dass dieser alte, tragische Konflikt, dem auf
beiden Seiten so viele unschuldige Menschen zum Opfer
gefallen sind, nur durch eine Zwei-Staaten-Lösung, gemäß der Israel und Palästina friedlich als Demokratien
Seite an Seite leben, aus der Welt geschaffen werden
kann. Nur so kann auf Dauer auch das Existenzrecht Israels gesichert werden, an dem wir ein besonderes Interesse haben.
({39})
Wenn man dies so sieht, dann ist es allerdings ebenso
wichtig, die palästinensische Staatsfähigkeit herzustellen. Die palästinensischen Autonomiegebiete dürfen sich
nicht zu einem Failed State entwickeln, bevor sie überhaupt die Chance haben, ein eigener Staat zu werden.
Deshalb sind Reformen der Sicherheits-, der Verwaltungs- und der Wirtschaftsstrukturen unbedingt erforderlich. Vor allem aber sind Wahlen unerlässlich. Nur sie
können der palästinensischen Regierung die notwendige
Legitimation verleihen, die sie als Verhandlungspartner
im Friedensprozess international benötigt.
Der Europäische Rat hat deshalb das vom Hohen Repräsentanten Solana vorgelegte Programm gebilligt. Es
sieht kurzfristig umsetzbare und breit gefächerte Maßnahmen zur Umsetzung der überfälligen Reformen und
die Unterstützung der Wahlen in den palästinensischen
Autonomiegebieten vor. Wichtig wird dabei zunächst
die Unterstützung der Kommunalwahlen sein, die für
den 23. Dezember 2004 vorgesehen sind. Durch den Tod
von Präsident Arafat kommt jetzt hinzu, dass gemäß der
Verfassung eine 60-Tage-Frist zu laufen beginnt. Auch
das muss bei diesen Überlegungen berücksichtigt werden. Die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen
müssen im Einklang mit dem palästinensischen Grundgesetz erfolgen.
Auf dem Europäischen Rat bestand auch Einvernehmen darüber, dass alle konkreten Maßnahmen der EU
die Aufnahme echter politischer Verhandlungen zwischen der palästinensischen Führung und der Regierung
von Israel unterstützen müssen. Wir wollen, dass alle
konkreten Maßnahmen in diese breite politische Perspektive eingebettet werden. Zur Untermauerung einer
solchen Perspektive hat der Rat deshalb beschlossen,
dass Javier Solana in Kürze entsprechende Konsultationen mit den Parteien der internationalen Gemeinschaften
und vor allem mit den Mitgliedern des Quartetts durchführen wird.
Meine Damen und Herren, auch im Irak muss eine
politische Lösung gefunden werden. Deshalb haben die
Vorbereitungen und die Durchführung demokratischer
Wahlen bis zum Januar 2005 entsprechend der einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen eine große Bedeutung, um dort landesweit eine demokratisch begründete
Legitimität herzustellen. Die Verbesserung der Sicherheitslage ist eine entscheidende Voraussetzung für den
erfolgreichen Übergang zu Demokratie und Wiederaufbau.
Der Europäische Rat hat die jüngsten Terroranschläge, Geiselnahmen und Morde an unschuldigen Zivilisten im Irak erneut auf das Schärfste verurteilt. Während des Mittagessens beim Treffen mit dem irakischen
Ministerpräsidenten Alawi hat die Europäische Union
am Freitag zum Ausdruck gebracht, dass wir den Kurs in
Richtung der Wiederherstellung von Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, den das irakische Volk
eingeschlagen hat, unterstützen werden. Dabei wurden
konkrete Maßnahmen aus dem bereits laufenden umfassenden Hilfspaket der Union erörtert.
Diese Maßnahmen sind breit gefächert. Wir unterstützen die Wahlen und den Wiederaufbau mit insgesamt
mehr als 300 Millionen Euro für 2003 und 2004. Darauf
haben wir in einem bilateralen Treffen mit Präsident
Alawi deutlich hingewiesen. Bei diesem Treffen hat es
übrigens überhaupt keine Kritik von seiner Seite gegeben. Im Gegenteil: Das Treffen begann seitens Ministerpräsident Alawi mit Dankesworten für die bisher geleistete Unterstützung und Hilfe, die Deutschland gegenüber
dem „neuen“ Irak erbracht hat, und der Bitte darum,
diese Unterstützung und Hilfe in Zukunft zu intensivieren. Wir haben gegenüber Ministerpräsident Alawi klar
gemacht, dass sich Deutschland bilateral intensiv im
Irak, vor allen Dingen im Bereich des Wiederaufbaus
und der Sicherheit, engagiert. Wir haben für diese Maßnahmen einschließlich der humanitären Hilfe bisher rund
200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Wir sind auf dem Treffen des Europäischen Rates
weiterhin übereingekommen, dass eine integrierte Polizei-, Rechtsstaats- und Zivilverwaltungsmission einen
wertvollen Beitrag zum Wiederaufbau des Iraks leisten
könnte. Wir waren uns aber einig, dass für eine solche
Mission, die mit Verbindungselementen im Irak präsent
sein soll, erst alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sein
müssen; vorher kann keine konkrete Entscheidung getroffen werden.
Auf dem Treffen des Europäischen Rates haben wir
einvernehmlich bekräftigt, dass der Ausbau der politischen Beziehungen mit dem Iran für die Europäische
Union weiterhin prioritär ist. Unser politisches Ziel bleiben langfristig angelegte gute Beziehungen, die auch
eine wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit
umfassen. Entscheidende und unabdingbare Voraussetzung für den Ausbau dieser Beziehungen sind aber die
Herstellung von überprüfbarem Vertrauen in den friedlichen Charakter des iranischen Nuklearprogramms.
Nur die vollständige und anhaltende Suspendierung der
Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsaktivitäten
durch den Iran kann den Weg für ergebnisorientierte Gespräche über eine langfristige Zusammenarbeit öffnen.
Der Europäische Rat hat deshalb nachdrücklich die
anhaltenden Bemühungen der EU-3 um eine Lösung der
Nuklearfrage noch vor Beginn der Sitzung des Gouverneursrats der Internationalen Atomenergie-Agentur am
25. November in Wien unterstützt. Es ist gelungen, in
den Gesprächen voranzukommen, aber ich kann noch
keinen Durchbruch vermelden. Der aktuelle Stand ist,
dass wir die Gespräche noch nicht wirklich abschließen
konnten.
Unsere Haltung ist zweifelsfrei klar: Wir wollen nicht
das souveräne Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie infrage stellen, das jedem Land im Rahmen der eingegangenen internationalen Verpflichtungen vertraglich
zusteht. Diese Entscheidungen sind national zu treffen.
Klar ist aber auch, dass eine militärische Nuklearisierung des Irans zu einer gefährlichen Entwicklung in der
gesamten Region, die schon heute zu den gefährlichsten
Regionen gehört, führen würde. Deswegen engagieren
wir uns, hier eine Lösung herbeizuführen. Ich hätte mich
gefreut, Ihnen am heutigen Tag eine positive Nachricht
übermitteln zu können. Ich kann Ihnen aber weder etwas
Positives noch etwas Negatives mitteilen; denn der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Allerdings muss ich
hinzufügen: Diese Gespräche auf der Ebene der hohen
Beamten sind alles andere als einfach gewesen.
Weiterhin hat sich der Europäische Rat mit der Situation in Darfur befasst. Wir hatten gestern beim Besuch
des Premierministers von Äthiopien Gelegenheit,
schwerpunktmäßig über die dramatische Situation in
Darfur zu sprechen. Die Lage im Westen des Sudans
bleibt weiter dramatisch. Mit großer Besorgnis haben
wir in den vergangenen Wochen die eingehenden Berichte über Angriffe auf die Zivilbevölkerung, anhaltende Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen sowie
Vertreibungen zur Kenntnis nehmen müssen.
Die sudanesische Regierung hat ihre gemachten Versprechungen - so der Bericht des Sonderbeauftragten der
Vereinten Nationen - bisher nicht eingehalten. Die Milizen in der Region wurden entgegen der gemachten Zusagen bislang nicht entwaffnet. Wir hoffen, dass die gesamtsudanesischen Friedensgespräche und vor allen
Dingen die Umsetzung zu einem positiven Ergebnis führen. Ermutigend ist die Unterzeichnung von Protokollen
zu humanitären und Sicherheitsfragen durch die sudanesische Regierung und die Rebellenorganisationen in
Darfur.
Es ist jetzt überaus wichtig, dass der politische Druck
vor allem auf die sudanesische Regierung, aber auch auf
die Rebellenorganisationen weiter aufrechterhalten wird.
Für ein solches politisches Zeichen haben wir uns auf
dem Europäischen Rat entschieden eingesetzt. Ich verhehle nicht: Aufgrund unserer nationalen Position wären
wir gerne weitergegangen. Aber ich denke, dass das
Signal, das jetzt gesetzt wurde, ein wichtiges und bedeutsames Signal in die richtige Richtung ist.
Die Achtung der Menschenrechte und die Verbesserung der Sicherheitslage für die Bevölkerung in Darfur
bleibt unser zentrales Anliegen. Dahinter steht natürlich
die Frage einer drohenden Desintegration dieses großen
und für diesen Teil Afrikas und dessen Stabilität entscheidenden Landes. Die humanitären Besorgnisse stehen im Vordergrund, aber eine falsche Politik kann dazu
führen, dass es nicht zu einem neuen nationalen Konsens
kommt, sondern zu dessen Gegenteil und damit zu sehr
viel weiter gehenden, sehr viel schlimmeren humanitären Folgen. Deswegen bleibt die Bundesregierung mit
ihren Partnern in den Vereinten Nationen wie auch in der
Europäischen Union und der Afrikanischen Union engagiert.
Ich möchte nochmals unterstreichen, wie wichtig das
Engagement der Afrikanischen Union ist. Die Mittel,
die die Afrikanische Union hat, sind gering. Dort, wo
wir helfen können, sollten wir helfen. Wenn diese Hilfe
angefordert wird, sollten wir sie tatsächlich leisten; denn
es ist eine völlig neue Entwicklung in Afrika, dass
Afrika die Verantwortung für die Konfliktlösung, für die
Stabilisierung und für den Frieden auf dem eigenen Kontinent übernimmt. Ich denke, das ist eine herausragende
Entwicklung, die aller Unterstützung seitens der Europäer und auch unseres Landes wert ist.
({40})
Wir haben deshalb beschlossen, dass die Afrikanische
Union durch uns materiell, finanziell, logistisch und personell unterstützt wird; denn letztendlich bleibt eine
politische Lösung notwendig, die wir mit unseren europäischen Partnern, insbesondere auch im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen, weiter mit Nachdruck einfordern.
Der Europäische Rat vom 4. und 5. November hat in
wichtigen europapolitischen Kernbereichen Neuerungen oder Vorbereitungen für wichtige Entscheidungen,
die unmittelbar bevorstehen, gebracht. Es war vor allen
Dingen ein Rat, auf dem vorbereitet wurde, auf dem die
Arbeiten nur an wenigen Punkten abgeschlossen werden
konnten, ein Arbeitsrat, gleichwohl, wenn man sich die
parallele Entwicklung im Parlament und in der Kommission anschaut - das hatte Einfluss auf den Rat -, ein sehr
bedeutsamer. Es war ein Rat, in dem wichtige außenpolitische Fragen zur Entscheidung anstanden.
Ich freue mich, dass es gelungen ist, nicht nur Konsense zu erzielen, sondern zugleich wichtige Entscheidungen in außenpolitischen Bereichen zu treffen. Ich
erwähne etwa den Plan von Solana, der die Partnerschaftsfähigkeit der palästinensischen Seite betrifft, die
eine Voraussetzung für eine positive Entwicklung im
Rahmen der Roadmap ist. Die Unterstützung des Europäischen Rates im Hinblick auf die Initiative der EU-3
gemeinsam mit Javier Solana gegenüber Iran ist von
zentraler Bedeutung, auch wenn ich, wie gesagt, Ihnen
noch nicht von einem positiven Abschluss berichten
kann.
Dieser Rat und sein Erfolg sind nicht zuletzt der geschickten Vorbereitung durch die niederländische Präsidentschaft zu verdanken. Deswegen möchte ich ihren
Beitrag hier abschließend ganz besonders würdigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({41})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, Sie haben sich ein wenig betroffen gezeigt, als wir kritisiert haben, dass Ihre Regierungserklärung eine sehr bürokratische Pflichtübung gewesen ist.
Sie haben gesagt, bei früheren Regierungserklärungen
sei das auch so gewesen. Sie hätten gleich hinzufügen
sollen, wie Ihr Verhalten damals als Oppositionspolitiker
war.
({0})
Spaß beiseite. Wenn es beim Europäischen Rat ein
Thema war, Europa zu kommunizieren, also Europa den
Menschen näher zu bringen, dann ist diese Form einer
bürokratischen Regierungserklärung, wo über alle wesentlichen Punkte hinweggeredet wird, ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf, wenn man die Menschen für Europa gewinnen will.
({1})
Es macht auch keinen Sinn, so zu tun, als wäre alles
Friede, Freude, Eierkuchen und als gäbe es überhaupt
keine Probleme, und über alles hinweg zu reden.
({2})
Ich nenne vorweg nur ein Beispiel. Sie sagen: Mit
dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi gab es
überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil. Ich frage
mich nur, warum dann der Bundeskanzler in seiner ihm
eigenen Art davon gesprochen hat, Herrn Alawi sei „ein
Lapsus sprachlicher Art“ unterlaufen. Irgendetwas ist ja
offensichtlich geschehen; es muss also doch ein Problem
gegeben haben.
({3})
- Es muss jedenfalls eine Auseinandersetzung gegeben
haben, weil der irakische Ministerpräsident Kritik an der
Zuschauerhaltung Deutschlands und Frankreichs geäußert hat. Beim Problem Irak können wir aber keine Zuschauerhaltung gebrauchen.
({4})
Diese Bundesregierung hat der Resolution des Weltsicherheitsrats ausdrücklich zugestimmt, wonach diese
Übergangsregierung unterstützt werden muss. Man kann
deshalb nicht sagen, es habe überhaupt kein Problem gegeben. Schließlich hat sich Ministerpräsident Alawi
nicht bedankt, sondern die Haltung Deutschlands kritisiert. Offenbar wollen Sie über diese Kritik nicht reden,
sonst hätten Sie dazu in Ihrer Regierungserklärung etwas
gesagt.
Ich möchte noch auf einige Themen eingehen, die Sie
in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht erwähnt
haben, von denen ich aber hoffe, dass beim Europäischen Rat vielleicht doch darüber geredet worden ist. Sie
haben natürlich über Darfur gesprochen - das ist richtig
und das unterstütze ich auch -, aber Sie haben kein Wort
über die Elfenbeinküste gesagt. Vor allen Dingen haben
Sie aber über die Vereinigten Staaten von Amerika und
über das Verhältnis zwischen Europa und den USA
gar nichts gesagt. In Amerika waren Präsidentschaftswahlen und es gibt eine allgemeine Debatte darüber, ob
jetzt die Chance besteht, in einer neuen Etappe und nach
vorne blickend die Schwierigkeiten im transatlantischen
Verhältnis, die nicht zuletzt durch die Politik dieser Bundesregierung in den letzten Jahren verursacht worden
sind, zu überwinden.
({5})
Kein Wort darüber in der Regierungserklärung über den
Europäischen Rat. Meine Damen und Herren, das ist ein
Skandal. So kann man die transatlantischen Beziehungen nicht verbessern.
({6})
Ich nenne als weiteres Beispiel die Lissabon-Strategie. Sie haben es fertig gebracht, hier den Eindruck zu
erwecken, als würden im Zwischenbericht der Kommission von Wim Kok die erreichten Fortschritte auch
noch gelobt. Damit wir uns nicht über Pressemeldungen
streiten müssen, habe ich die deutsche Übersetzung des
Berichts mitgebracht. Bereits im zweiten Absatz der Zusammenfassung steht:
Denn in vielen Bereichen der Lissabon-Strategie
wurde es versäumt, die Reformen mit dem erforderlichen Nachdruck voranzutreiben. Dass die Umsetzungsbilanz so enttäuschend ausfällt, hat verschiedene Gründe: eine überfrachtete Agenda, eine
mangelhafte Koordinierung, miteinander konfligierende Prioritäten. Vor allem aber mangelt es an einem entschlossenen politischen Handeln.
({7})
Diese Aussagen im Kok-Bericht muss man einmal mit
Ihren Aussagen vergleichen. Das geht so nicht!
({8})
- Ich will Ihnen genau sagen, wen er meint - das ist
nämlich das Entscheidende an dem Kok-Bericht -, und
das bringt mich gleich zum nächsten Punkt. Sie, Herr
Bundeskanzler, Herr Außenminister, müssen aufhören,
die Europäische Union als faule Ausrede für die Probleme in unserem Land zu nehmen, die durch Ihre falsche Regierungspolitik nicht gelöst, sondern verschärft
werden. Das ist der Punkt.
({9})
Kok sagt ganz klar in seinem Zwischenbericht: Entscheidend für den Erfolg der Lissabon-Strategie - von
dem bisher nicht die Rede sein kann; wir haben uns von
der Erreichung der Lissabon-Ziele in den ersten Jahren
weiter entfernt als angenähert - ist, dass die nationalen
Regierungen die Probleme lösen. Sie lösen sie aber
nicht, sondern Sie verursachen sie. Sie müssen dieses
Land voranbringen durch eine bessere Politik oder Sie
müssen als Regierung Platz machen für eine bessere Politik. Das ist der entscheidende Punkt und darüber kann
Europa nicht hinwegtäuschen.
({10})
Weil wir gerade bei dem Thema „faule Ausreden“
sind: Der Bundeskanzler beliebt ja inzwischen immer zu
sagen - auch bei der Debatte über die Lissabon-Strategie -, das würden wir ja alles machen, aber leider haben
wir den europäischen Stabilitätspakt. Meine Damen und
Herren, die Ursache für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme unseres Landes liegt nun wirklich nicht
darin, dass wir zu wenig Schulden machen. Wir beraten
in diesem Monat noch den Bundeshaushalt 2005 und den
Nachtragshaushalt 2004. Wir müssen das Verfassungsgericht anrufen, weil Sie alle Grenzen sowohl des europäischen Stabilitätspakts wie auch des nationalen
Grundgesetzes überschreiten. Wir haben die höchste
Neuverschuldung in der Geschichte unseres Landes.
Und dann kommt diese Regierung und sagt, wenn wir
mehr Schulden machen könnten, hätten wir weniger Probleme. Nein, das Problem ist: Wir machen zu viele
Schulden und zu wenig Reformen und diese Regierung
kann es nicht. Das ist der Punkt.
({11})
Deswegen dürfen Sie Europa nicht als Ausrede benutzen, um die von Ihnen selbst gemachten Probleme zu erklären. Denn wenn wir die Ursachen der Probleme nicht
richtig analysieren, dann können sie nicht gelöst werden.
Darum geht es und darum bitte ich Sie.
Ich will noch etwas zu dem Haager Programm anmerken. Wenn Sie schon eine Regierungserklärung zu diesem Thema abgeben, Herr Bundesaußenminister, dann
hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich auch zu der Frage
geäußert hätten, mit der die Regierung die Öffentlichkeit
in letzter Zeit mehr beschäftigt hat als alles andere, insbesondere zu der Reaktion der europäischen Partner auf
die Idee des Bundesinnenministers, in Afrika Auffanglager für Asylbewerber einzurichten. Darüber ist in
Den Haag gesprochen worden. Ich hätte gerne erfahren,
was die Partner dazu gesagt haben und ob es zutrifft,
dass unsere engen französischen Freunde diesen Vorschlag nachhaltig unterstützen oder ob sie eher dagegen
sind. Darüber sollte man nicht einfach hinweggehen.
Wer Europa kommunizieren will, muss darüber reden,
was in Europa Sache ist, statt so zu tun, als würde es um
Themen gehen, die das Zuhören nicht lohnen. Man gewinnt im Grunde den Eindruck, dass der vortragende
Außenminister schon Mühe hatte, seinen Text nur vorzulesen.
Wenn wir schon über eine gemeinsame Zuwanderungspolitik reden, dann würde ich von der Regierung
gerne hören - demnächst wird sich auch ein Untersuchungsausschuss damit beschäftigen -, was es mit der in
den vergangenen Jahren immer wieder geäußerten Kritik
unserer EU-Partner auf sich hat, dass die Visapolitik
dieser Bundesregierung in der Verantwortung des Bundesaußenministers nicht die gemeinsamen konsularischen Richtlinien des Schengen-Mechanismus einhält;
vielmehr stellt die Umkehr der Beweislast bei der Visaerteilung einen Verstoß dagegen dar. Dazu müssen Sie
Stellung nehmen. Damit würden Sie sich Ihrer Verantwortung stellen. Nur so kommen wir zu einer gemeinsamen Visapolitik.
({12})
Lassen Sie mich noch etwas zu der Lage im Nahen
und Mittleren Osten ausführen. Bei diesem Thema besteht eine größere Übereinstimmung zwischen uns als in
anderen Fragen. Sie haben Ihr Mitgefühl gegenüber dem
palästinensischen Volk angesichts des Todes von Jassir
Arafat zum Ausdruck gebracht. Wir teilen das Mitgefühl. Das palästinensische Volk hat mit Jassir Arafat einen politischen Führer verloren, der ihm über eine lange
Zeit seine Identität vermittelt hat. Aber das Leben von
Arafat war zwischen den beiden Extremen Terrorismus
und Friedensnobelpreis zerrissen. Insofern ist sein Leben, wie ich meine, fast ein Symbol für die zutiefst zerrissene Lage in diesem Teil der Welt. Im Grunde wünschen wir nicht nur dem palästinensischen Volk, dass es
nach Arafats Tod besser gelingt, die Zerrissenheit im
Sinne eines nachhaltigen Friedens zu überwinden. Dafür
sollten sich alle einsetzen. Diese Chance sollte genutzt
werden.
Dies würde übrigens notwendigerweise auch bedeuten, dass man sich im Europäischen Rat mit der transatlantischen Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten
von Amerika beschäftigt. Denn es wird den Europäern
nicht alleine gelingen, den Anstoß zu geben, um Israel
und den Palästinensern zu helfen, auf dem Weg des Friedensfahrplans voranzukommen; dies wird nur gelingen,
wenn Europa und Amerika gemeinsam tatkräftig die Initiative ergreifen. Ich rate sogar dazu, auch Russland stärker zu beteiligen.
Ihre Iranpolitik unterstütze ich. Man sollte nicht
streiten, wenn dazu kein Anlass besteht. Ich hoffe vielmehr, dass Sie mit Ihrer Politik Erfolg haben. Aber ich
wiederhole an dieser Stelle: Ich halte es für sehr wichtig,
dass die Politik gegenüber dem Iran nicht nur zwischen
den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union in engster Abstimmung, Geschlossenheit
und auch Entschlossenheit gestaltet wird. Der Iran muss
wissen, dass wir alles daransetzen werden, dass der Iran
keine Nuklearwaffen erhält. Ich rate auch dazu, Russland stärker in diese Partnerschaft einzubeziehen. Die
Vereinigten Staaten von Amerika, Europa und Russland
zusammen haben die beste Chance, den Iran auf dem
Wege der Zusammenarbeit zu überzeugen, dass das Streben nach Nuklearwaffen auch nicht im wohlverstandenen Interesse des Iran liegt und dass die Welt gefährlicher würde, wenn der Iran über Atomwaffen verfügte.
Darauf müssen wir uns konzentrieren.
Was das Thema Irak anbetrifft - das hat mit der transatlantischen Agenda zu tun, mit der sich der Europäische
Rat hoffentlich beschäftigt hat, auch wenn der Bundesaußenminister in seiner Regierungserklärung kein Wort
darüber verloren hat -, so muss in den nächsten Jahren
die Chance genutzt werden, die schweren Beschädigungen des transatlantischen Verhältnisses zwischen Europäern und Amerikanern, die in den vergangenen
Jahren eingetreten sind, in der kommenden Amtszeit des
mit einer so eindrucksvollen Mehrheit wiedergewählten
Präsidenten Bush zu reparieren. Das liegt doch in unserem gemeinsamen Interesse.
Es macht gar keinen Sinn, darüber zu diskutieren, wer
in der Vergangenheit welchen Fehler gemacht oder wer
mit welcher Mahnung Recht behalten hat. Wir haben immer gesagt: Die Amerikaner können den Krieg vielleicht
alleine gewinnen, aber nicht für Frieden sorgen. Dies
bleibt richtig. Aber es liegt auch in unserem gemeinsamen Interesse, dass eine stabilere, friedlichere und nachhaltigere Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten,
insbesondere im Verhältnis Israels zu Palästina, im Iran
und im Irak, möglich wird und dass Fortschritte in der
Frage betreffend die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen erzielt werden. Der internationale Terrorismus, die zunehmende Verbreitung von Atomwaffen sowie das Konfliktpotenzial im Irak und im Iran - wo auch
immer - bedrohen nicht nur die Amerikaner, sondern
auch uns. Deswegen müssen wir für eine stärkere Geschlossenheit in den Beziehungen zwischen Amerika
und Europa sorgen.
Wenn der Europäische Rat in der vergangenen Woche
eine Aufgabe hatte, dann war es die, vertrauensvoll darüber zu beraten, wie wir in Zukunft das, was in den vergangenen Jahren nicht gut gelungen ist, besser machen
können; denn nur transatlantische Gemeinsamkeit garantiert unsere Sicherheit und kann die Welt insgesamt stabiler machen. Dass Sie dazu kein Wort in Ihrer Regierungserklärung gesagt haben, ist für mich ein
unfassbares Versäumnis. Das zeigt, dass Sie offenbar
nicht die Fähigkeit haben, sich der Lösung der Probleme
zu stellen.
({13})
Ich möchte ein einfaches, konkretes Beispiel nennen.
In einer Resolution des Weltsicherheitsrates ist beschlossen worden, die irakische Übergangsregierung bis zu
den Wahlen zu unterstützen und nach den Wahlen dem
frei gewählten Parlament zu helfen, das Land zu stabilisieren. Der Weltsicherheitsrat hat in diesem Zusammenhang die Mitgliedstaaten aufgefordert, für den notwendigen Schutz und insbesondere für eine militärische
Absicherung zu sorgen.
Herr Fischer, ich habe mit Ihrem neu ernannten ungarischen Kollegen am Tag seiner Amtseinführung in der
vergangenen Woche über das Problem gesprochen, dass
Ungarn - nach der bisherigen Beschlusslage - zum Jahresende seine Soldaten aus dem Irak zurückziehen will.
In Polen ist die Situation ähnlich. Ich habe den ungarischen Außenminister gefragt, ob es angesichts der Tatsache, dass im Januar kommenden Jahres Wahlen im Irak
anstehen und dass wir alle ein Interesse daran haben
- auch in den Vereinigten Staaten von Amerika findet
eine entsprechende Überprüfung statt -, die Tendenzen
in der amerikanischen Politik hin zu mehr multilateralen
Entscheidungen zu stärken, klug sei, wenn sich weitere
europäische Truppensteller aus dem Irak zurückzögen.
Er hat mich - so höflich können manche Außenminister
sein - daraufhin gefragt, ob ich glaubte, dass deutsche
Vertreter besonders legitimiert seien, eine solche Frage
zu stellen.
Ich habe gedacht, dass vielleicht unsere Staats- und
Regierungschefs auf dem Europäischen Rat am
4./5. November dieses Jahres über die Fragen betreffend
einer europäischen Solidarität, für die Ungarn mit seinem Engagement im Irak steht, reden werden. Herr
Fischer, ich hätte gerne etwas von Ihnen dazu gehört;
denn wenn wir multilaterale Entscheidungen wollen,
müssen wir multilaterale Entscheidungen auch gemeinsam vollziehen.
Die NATO hat beschlossen, die irakischen Streitkräfte
im Rahmen einer von ihr geführten Mission auszubilden,
damit sie die Sicherheit im eigenen Land gewährleisten
können. Das ist auch unstreitig. Deutschland leistet seinen Beitrag durch die Ausbildung in den Vereinigten
Arabischen Emiraten. Das will ich gar nicht kritisieren.
Diese Woche war der Oberbefehlshaber der NATO vom
Kommando in Norfolk, Admiral Giambastiani, in Berlin
zu Besuch. Er hat nicht nur mir, sondern auch Kollegen
von den Koalitionsfraktionen gesagt, dass in den Kommandos in Norfolk und in Stavanger - dort geht es um
die Transformation der NATO - die meisten Offiziere,
die für die Tätigkeit in integrierten NATO-Stäben ausgebildet würden, nach den Amerikanern Deutsche seien;
aber es stoße auf große Probleme, wenn in konkreten
Entscheidungssituationen, beispielsweise während der
Ausbildungsmission der NATO im Irak, die deutschen
Offiziere aus den integrierten Stäben zurückgezogen
würden.
So werden wir multilaterale Entscheidungstendenzen
nicht verstärken. Das ist deutscher Unilateralismus. Er
ist nicht besser als der Unilateralismus anderer und er
muss aufgegeben werden.
({14})
Wenn wir multilaterale Strukturen, wenn wir die atlantische Partnerschaft wollen, dann müssen wir verlässliche
Partner sein, dann müssen wir integrierte Strukturen
stärken und dann dürfen wir nicht das Gegenteil machen,
weil wir sonst nicht vorankommen, sondern weiter zurückfallen werden.
({15})
- Ja, ich kenne dieses Thema.
Der Bundesaußenminister beschreibt die Bedrohungen in dieser Welt gelegentlich richtig: internationaler
Terrorismus, „failing states“, und zwar nicht nur im Nahen und Mittleren Osten. Vor einiger Zeit war Kaschmir
das allergrößte Problem. Es gibt ohne Ende Gefahren.
Ich erinnere an die Spaltung auf dem afrikanischen Kontinent. Man hätte auch etwas zur Elfenbeinküste und zu
all dem, was sonst noch entsetzlich ist, sagen können.
Die Beobachtungsliste der Vereinten Nationen zeigt,
dass die Situation im Osten des Kongo noch schlimmer
als die Lage in Darfur ist. Das ist aber nicht so, weil sich
in Darfur etwas verbessert hat, sondern weil die SituaDr. Wolfgang Schäuble
tion im Osten des Kongo noch katastrophaler geworden
ist.
Wenn wir diesen und anderen Bedrohungen wehren
wollen, dann müssen wir uns klar machen, dass dies nur
durch atlantische Solidarität und durch eine Stärkung der
Gemeinsamkeit der zivilisierten Welt möglich ist. Wenn
wir uns noch nicht einmal an integrierten Stäben beteiligen, dann stärken wir diese Tendenzen nicht, sondern
schwächen sie. Wenn wir nicht in diesem Sinne europäische Politik machen, dann werden wir eine Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht erreichen.
Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht erreichen, dann werden wir die
Menschen nicht davon überzeugen, dass dieses Europa
im Interesse unserer eigenen nationalen Zukunft notwendig ist; schließlich können wir unsere Sicherheit nur gemeinsam gewährleisten. Dann muss sie aber auch gemeinsam gewährleistet werden. Das alles hat mit der
Integration zu tun. Entscheidend sind dabei nicht die
großen abstrakten Phrasen, sondern die konkreten Entscheidungen.
Man sollte sagen: Lasst uns die Streitigkeiten der Vergangenheit vergessen und lasst uns nach vorne blicken!
({16})
- Ich habe es doch gerade gesagt: Wir dürfen uns nicht
aus integrierten Stäben zurückziehen. Das wäre ein erster konkreter Schritt.
({17})
Wenn wir uns selbst aus integrierten Stäben zurückziehen, dann signalisieren wir: Wir setzen nicht auf Partnerschaft. Dadurch wird in Washington die Tendenz verstärkt, zu sagen: Am Ende müssen wir es doch wieder
allein oder mit einer „coalition of the willing“ machen
und eben nicht mit Bündnissen, da sie wegen der europäischen Partner nicht verlässlich sind. Das ist das Problem. Man kann es konkret oder allgemein darstellen.
Wichtig ist, dass dort, wo Entscheidungen anstehen, entschieden wird.
({18})
Es geht um Folgendes: Europa ist doch - das steht im
Gegensatz zu der Routine, mit der diese Regierungserklärung vorgetragen wurde - in einer wirklich schwierigen, entscheidenden und auch kritischen Phase. Europa
ist voller Chancen, aber auch voller Schwierigkeiten und
Widerstände. Machen Sie sich weniger Sorgen über die
Ratifizierung des Verfassungsvertrages! Die Zustimmung der Bevölkerung zur europäischen Politik zu
erlangen ist sehr viel schwieriger. Diese Zustimmung ist
aber entscheidend. Wir können Europa nicht als ein artifizielles, bürokratisches Gebilde bauen; vielmehr müssen wir die Menschen in Deutschland, in Frankreich, in
Polen und in allen Teilen Europas davon überzeugen,
dass dieses Europa die politische Einheit ist, der wir unser Schicksal anvertrauen. Daher müssen wir - in einer
schwierigen Phase - eine glaubwürdige Politik machen,
die über die Probleme der Menschen nicht hinweggeht.
Auch der Verfassungsvertrag ist in vielen Bereichen
zu kompliziert, als dass man ihn wirklich kommunizieren kann. Die Erweiterung der Europäischen Union ist in
Bezug auf ihre politische Dimension noch lange nicht
wirklich so konsolidiert, dass sie von den Menschen akzeptiert wird. Ständig über die nächsten Schritte zu reden, ohne auf die wirklich ernsthaften Besorgnisse, Gefühle, Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen
einzugehen, gefährdet das europäische Projekt. Wenn
man dann noch nicht einmal darüber redet, wie man
Europa zu unser aller Garanten für Sicherheit, Frieden
und Freiheit in der atlantischen Partnerschaft entwickeln
kann, dann wird man den großen, kritischen Zuspitzungen in der europäischen Politik nicht gerecht.
Europa ist in einer kritischen Phase: Erweiterung,
Vertiefung; die Institutionen müssen ihre Rolle finden.
Darin bestand der Konflikt zwischen Kommission und
Parlament. Dieser Konflikt, der vielfältige Facetten hat,
ist noch nicht ausgetragen. Die Ablehnung der Kommission durch das Europäische Parlament war übrigens eine Niederlage der Regierungen wie der Kommission; schließlich hat der Rat die Zusammensetzung der
Kommission ausdrücklich gebilligt. Der Bundeskanzler
hat sich für die Zustimmung des Europäischen Parlaments zur Kommission eingesetzt. Es handelte sich also
nicht nur um ein Problem der Kommission, sondern
auch um ein Problem der Regierungen der Mitgliedstaaten. Wir wollen hoffen, dass es jetzt gut geht.
({19})
- Die haben dafür gestimmt. Dagegen gestimmt haben
die wortbrüchigen Sozialdemokraten, obwohl der Bundeskanzler auf sie eingewirkt hat, sowie Grüne und
Liberale. Aber lassen wir das. - Das zeigt, dass die Institution ihr Selbstverständnis noch nicht hinreichend gefunden hat. Es muss aber gefunden werden.
Eine Bemerkung ist mir noch wichtig. Wenn wir die
Menschen davon überzeugen wollen, dass Europa im Interesse unserer Zukunft und unserer Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist, dann brauchen wir eine integrierte Politik.
({20})
Man muss gelegentlich daran erinnern, dass es schon in
der Präambel des Grundgesetzes heißt: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden
der Welt zu dienen“.
Weil dies so ist: Hören Sie auf, Außenpolitik auf nationalen Sonderwegen zu machen! Setzen Sie auf verlässliche europäische Zusammenarbeit, nicht auf Dominanz von Achsen, sondern auf Gemeinsamkeit aller in
Europa, und setzen Sie auf verlässliche atlantische Partnerschaft! Das und nicht nationale Sonderwege und Renationalisierung von Außenpolitik ist der Weg in eine
bessere Zukunft.
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat nun die Kollegin Angelica SchwallDüren für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen
auch vonseiten der SPD-Fraktion dem palästinensischen Volk unsere Solidarität ausdrücken; denn es hat
mit dem Tod von Jassir Arafat eine Person verloren, die
in der Tat die Verkörperung der palästinensischen Identität bedeutet. Wir hoffen und erwarten, dass die palästinensischen Führungskräfte nun ihrer Verantwortung gerecht werden und dem Frieden den Weg ebnen. Alle
Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstützen
diesen Weg über die Umsetzung der Roadmap. Sie unterstützen die Zwei-Staaten-Lösung. Sie unterstützen die
Durchführung demokratischer Wahlen.
Der Frieden im Nahen und Mittleren Osten ist das
Wichtigste, was wir in der kommenden Zeit erreichen
müssen. Das gilt genauso für den Irak mit der Wiederherstellung einer friedlichen Gesellschaft und mit dem
Ende der Gewalt. Auch hierbei ist die Europäische
Union gefordert und hat auf dem Europäischen Rat ihre
Unterstützung zugesagt; mein Kollege Dietmar Nietan
wird näher darauf eingehen.
Das Haager Programm, das den Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts fünf Jahre nach den Beschlüssen von Tampere neu anpackt, wird auch ein Programm sein, das den Menschen Europa stärker vermittelt; denn wenn sich die Menschen sicher fühlen und
wenn die Menschen demokratische Beteiligung erleben,
dann werden sie sich mit diesem Europa identifizieren.
Deswegen freue auch ich mich darüber, dass am
29. Oktober von den Staats- und Regierungschefs der
Verfassungsvertrag unterzeichnet worden ist.
({0})
Ich freue mich auch darüber, dass wir nun gute Aussichten dafür haben, dass die neu zusammengestellte
Kommission ihre Arbeit beginnen kann; denn, wie wir
schon in der Regierungserklärung gehört haben, es liegt
ein großes Arbeitsprogramm vor uns.
Ich will heute hier vor allem auf die Lissabon-Strategie eingehen; denn sie ist eine Strategie für mehr
Wachstum und mehr Beschäftigung. Das ist das, was
die Menschen unmittelbar spüren, was sie unmittelbar
erwarten. In den Monaten nach dem Jahr 2000, als die
Lissabon-Strategie entwickelt worden ist, ist man von einem sehr optimistischen Klima ausgegangen, und zwar
im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Bereich
der New Economy. Jetzt ist es Zeit, eine Zwischenbilanz
zu ziehen. Im Hinblick auf den Frühjahrsgipfel wird es
hierzu umfangreiche Debatten geben. Es ist jetzt schon
klar, dass es eine Neuausrichtung und Neufokussierung
dieser Strategie geben muss; denn man kann heute nicht
umhin, festzustellen, dass sich die Umstände durch die
sich rasch verschlechternde weltwirtschaftliche Situation
aufgrund einer Reihe von externen Schocks - dem Platzen der spekulativen Blase an der Börse, den Terroranschlägen am 11. September, dem Irakkrieg, den steigenden Weltmarktpreisen für Öl und andere Rohstoffe - in
der Tat sehr negativ entwickelt haben. Dies hat natürlich
auch Auswirkungen auf Deutschland gehabt: Wir haben
eine dreijährige Phase wirtschaftlicher Stagnation erlebt.
Dennoch, Herr Schäuble, hat Europa in diesem
schwierigen Umfeld eine Reihe richtungweisender
Reformen auf den Weg gebracht, vor allem bei der Gestaltung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes
und bei der Integration der Energie-, Finanz- und Kapitalmärkte. Die gemeinsame Währung konnte erfolgreich
eingeführt und ihre Stabilität auch in schwierigen Zeiten
gewährleistet werden. Aber auch in Deutschland sind
wir dank der Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen ein gutes Stück vorangekommen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
glaube, in diesem Bereich müssen wir uns den Schuh Ihrer Kritik nicht anziehen,
({1})
und zwar aus zweierlei Gründen:
Zunächst einmal möchte ich angesichts Ihrer Klage,
dass im Rahmen der Lissabon-Strategie nicht ausreichend Reformen durchgeführt worden sind, in Erinnerung rufen, in welch starkem Ausmaß Sie selbst dafür
die Verantwortung tragen. Sie wissen doch ganz genau,
dass mithilfe des Bundesrates eine ganze Reihe unserer
Reformvorschläge ausgebremst, abgeblockt und gedeckelt wurden.
({2})
Das müssen Sie sich anrechnen lassen.
Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen: Herr
Schäuble hat heute kein Wort dazu gesagt, geschweige
denn eigene Vorstellungen entwickelt, was im Rahmen
dieser Lissabon-Strategie getan werden sollte. Er hat
darauf verwiesen, dass hierfür die nationale Ebene verantwortlich ist. Das ist richtig. In Ihrem Leitantrag für
den Bundesparteitag im Dezember in Düsseldorf können
wir aber kein Konzept für mehr Wachstum und Beschäftigung erkennen. Das Fehlen von Vorschlägen ist auf die
vielen ungeklärten Widersprüche innerhalb der CDU
und erst recht zwischen CDU und CSU zurückzuführen.
Warum haben Sie denn beispielsweise das entscheidende
Kapitel Finanzpolitik ausgeklammert? Doch nicht nur,
weil Ihnen der Kollege Merz abhanden gekommen ist,
sondern auch, weil Ihre Vorschläge für mehr - ({3})
- Sie, Herr Merz, sind insofern abhanden gekommen, als
Sie die wichtige Funktion des Stellvertreters nicht mehr
bekleiden, nachdem Ihre Positionen mit anderen nicht in
Übereinstimmung zu bringen waren.
Glauben Sie allen Ernstes, dass die Menschen draußen nicht merken, dass Sie weniger Sozialstaat und weniger Rechte für Arbeitnehmer wollen? Sie wollen die
Tarifautonomie einschränken. Sie wollen de facto
Lohnsenkungen. Sie wollen den Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit abschaffen. Sie wollen eine längere Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Sie wollen die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik kürzen.
({4})
Schließlich sind Sie gegen die Angleichung der Löhne
im Osten an die des Westens und fordern die Kopfpauschale in der Krankenversicherung. Wollen Sie uns heute
weismachen, dass Sie in der Gesundheitspolitik tatsächlich mehr als einen Formelkompromiss zustande bringen?
({5})
Wir fordern Sie auf: Erläutern Sie uns, wie mit sinkenden Arbeitnehmereinkommen die Binnenkonjunktur
in Schwung kommen soll. Legen Sie einen Vorschlag
vor, auf welche Weise Ihr Bauchladen von Ideen finanziert werden kann. Es ist völlig unklar, wie Sie mehr Bildung und mehr Forschung, den Sozialausgleich bei der
Kopfpauschale, die staatliche Subventionierung von
Niedriglöhnen und die merzsche Steuerreform finanzieren wollen. Erklären Sie, warum Sie hier im Bundestag
unseren Vorschlag, die Eigenheimzulage abzuschaffen,
ablehnen. Wir wollten die frei werdenden Mittel in Bildung und Forschung investieren, eines der ganz wichtigen Schwerpunktfelder der Lissabon-Strategie.
({6})
Unser Vorgehen leuchtet den Menschen generationenübergreifend ein, während Sie Klientelpolitik betreiben,
verantwortungslos handeln, die Menschen verunsichern
und unseren Standort schlechtreden.
Kehren wir zu dem zurück, was in der Bundesrepublik tatsächlich schon erreicht worden ist. Der KokBericht gibt in fünf wichtigen Feldern Hinweise. Das
sind die Wissensgesellschaft, der Binnenmarkt, das
Wirtschaftsklima, der Arbeitsmarkt und die ökologische
Nachhaltigkeit. Ich will diese Felder der Reihe nach betrachten.
In Bezug auf die Wissensgesellschaft stellen wir fest,
dass wir die Zukunft nur gewinnen können, wenn wir die
Massenökonomie zugunsten einer Wissensökonomie
überwinden, wenn wir mit neuen Produkten, neuen Produktionsmethoden und Innovationen reagieren und Qualität produzieren. Dafür brauchen wir Menschen, brauchen wir Investitionen in die Köpfe. Diese Investitionen
hat die Bundesregierung getätigt. Seit 1998 haben wir
die Mittel für Forschung und Technologieentwicklung
um 36,7 Prozent erhöht. Während der Kohl-Regierung
ist von 1992 bis 1998 aus diesem Zukunftsfeld eine
Summe von weit über 600 Millionen verschwunden.
Herr Rüttgers lässt grüßen, sage ich. Wo sind hier die
Zukunftsperspektiven?
({7})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen aus
der Opposition, die Wissensgesellschaft braucht Bildung
von Anfang an. Das bedeutet auch Investitionen in die
Kleinen, in die Kinder. Hier hat die Bundesregierung mit
ihrem Programm für die Betreuung der unter 3-Jährigen
und mit ihrem Ganztagsschulprogramm einen ganz
wichtigen Anstoß gegeben. Wir warten darauf, dass die
Länder in ihrer Bildungsverantwortung, die sie gerade
im Rahmen der Föderalismuskommission sehr hoch halten, in diesem Bereich nun ebenfalls entscheidend investieren.
Ich komme zum nächsten Punkt: Der Binnenmarkt
braucht im Bereich der Dienstleistungen noch eine
Vereinheitlichung, eine konkrete Dynamisierung. Die
Bundesregierung reagiert mit ihrem Vorschlag sehr
differenziert auf die Belange und die Chancen des Binnenmarktes. Ich möchte an dieser Stelle nur auf den
Dienstleistungsbereich eingehen; denn sein Wachstumspotenzial zu entwickeln ist eine ganz entscheidende Zukunftsinvestition. Wir müssen dabei aber auch die berechtigten Schutzbelange der Mitgliedstaaten und die
Auswirkungen auf die Beschäftigung berücksichtigen.
Die Dienstleistungsrichtlinie bedarf eines intensiven Beratungsprozesses, damit Wege gefunden werden, die auf
dem Dienstleistungsmarkt Wachstumsimpulse setzen,
ohne Sozial-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards aufzugeben.
({8})
Wir sind uns bewusst, dass dieses Vorhaben eines der
wichtigsten und umfangreichsten der kommenden Zeit
sein wird. Deshalb wird meine Fraktion die Gesetzgebungsarbeit sorgfältig begleiten. Gerade hier gilt, dass
die Folgenabschätzung europäischer Gesetzgebungsvorhaben auch mit Blick auf die Beschäftigung verbessert
werden muss.
In diesem Feld ist die Frage des Wirtschaftsklimas
wichtig. Wir brauchen ein wirtschaftsgünstiges, ein
gründungsfreundliches und unternehmensfreundliches
Umfeld. Hier kann uns der Abbau von bürokratischen
Hemmnissen in der Tat sehr voranbringen. Deshalb ist
auch hier die Initiative der Bundesregierung zu begrüßen.
Wir haben Reformen am Arbeitsmarkt angepackt,
sie sind beschlossen. Nun geht es darum, diese Reformen konsistent umzusetzen. Dazu müssen alle Ebenen
beitragen: Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die
Agenturen für Arbeit und ihre Beschäftigten, ebenso die
Unternehmen und die Arbeitsuchenden selbst. Niemand
darf sich aus der Verantwortung stehlen.
Außerdem brauchen wir eine Strategie des lebenslangen Lernens, die Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik
gleichermaßen in die Verantwortung nimmt. Nur die
Menschen, denen man die Möglichkeit bietet, sich weiter zu qualifizieren, können ihre Zukunftschancen verbessern und ihre Existenz auf Dauer eigenverantwortlich
sichern.
({9})
Nun zur ökologischen Nachhaltigkeit: Dabei geht es
insbesondere um die Verbreitung ökologischer Innovationen, den Ausbau führender Positionen in der Ökoindustrie und die Implementierung von Politiken, die nachhaltige Produktivitätssteigerungen im Sinne einer größeren
Ökoeffizienz ermöglichen. Hier hat diese Bundesregierung in den vergangenen Jahren schon sehr viel erreicht.
Der Außenminister hat bereits darauf hingewiesen, dass
wir gerade im Bereich der erneuerbaren Energien und
anderer Umwelttechnologien gut vorangekommen sind.
Bereits heute werden in diesem Bereich 120 000 Arbeitsplätze gesichert. Aber die neuerliche Ölkrise verschärft die Herausforderungen an eine nachhaltige Ressourcenpolitik. Deshalb müssen wir uns auf den Weg zu
einer Politik weg vom Öl machen. Wir müssen im Bereich der Steigerung der Energie- und Materialproduktivität weiter voranschreiten. Das wird dann auch in der
Zukunft Arbeitsplätze sichern.
({10})
Deutschland hat auf die eingetretenen und anstehenden Veränderungen mit einem Modernisierungs- und
Reformprogramm reagiert, das sich in die europäische
Reformagenda einfügt. Zur Bewältigung künftiger Herausforderungen sind allerdings weitere Anpassungen
unerlässlich. Zu deren Umsetzung bedarf es der Zusammenarbeit aller. Das unwürdige und für die Bürger und
Bürgerinnen nicht durchschaubare Schauspiel, dass über
den Bundesrat wichtige Reformarbeit blockiert und die
Verantwortlichkeiten verschleiert werden, darf nicht
fortgesetzt werden.
({11})
Insofern hoffe und erwarte ich, dass die Kommission zur
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Arbeitsergebnisse vorlegt, die die politische Handlungsfähigkeit
stärken und für mehr Durchschaubarkeit dergestalt sorgen, dass die Bürger und Bürgerinnen wissen, welche
politische Kraft welche Entscheidungen getroffen hat.
Dann wird es uns auch gelingen, die Menschen auf den
Weg der Veränderungen mitzunehmen.
Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Arbeitsprogramm nicht nur die Zukunft unseres Landes und die Zukunft der Europäischen Union sichern, sondern dass wir
damit den Menschen Europa auch näher bringen, sodass
die Menschen verstehen, dass die gemeinsame Arbeit in
Europa dazu beiträgt, dass wir die Herausforderungen
der Zukunft im Wettbewerb des 21. Jahrhunderts gemeinsam bestehen. Deshalb fordere ich alle auf, auch Sie
von der Opposition, daran mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion,
Dr. Wolfgang Gerhardt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir hier Debatten über internationale Politik führen und dann eine solche Debattenkultur - gefehlt hätte nur noch das Dosenpfand - über uns gezogen
wird, erinnert man sich daran, dass bei uns Problemlösungen im Bereich des Zahnersatzes manchmal auch vor
der Lösung der Probleme auf dem Balkan gesucht werden.
({0})
Das macht die ganze Art deutlich, wie wir uns den Themen nähern:
({1})
Da war ein europäischer Gipfel. Nun müssen sich Gipfelveranstaltungen - das ist richtig - manchmal routinemäßig mit vielen Vorlagen beschäftigen. Aber aufgrund
der Zeitumstände, in denen dieser europäische Gipfel
stattfand, hätte man mehr erwarten dürfen. Im Kommuniqué lese ich:
The European Council warmly congratulated President Bush on his re-election.
Ich hätte in dem Kommuniqué gerne etwas mehr gelesen, weil sich dieser europäische Gipfel, der nach der
Wahlentscheidung in Amerika getagt hat, doch darüber klar sein muss, dass er sich nach den ganzen Differenzen, die diskutiert worden sind, jetzt überlegen muss,
ob nach dieser Entscheidung irgendein Teil des Seiles
wieder erfasst werden kann, um transatlantisch einiges
zu entspannen.
({2})
Natürlich gratuliert man einem amerikanischen Präsidenten zur Wiederwahl. Aber danach muss eine Gipfeldiskussion darüber stattfinden, wie jetzt das transatlantische Potenzial eingesetzt werden kann, um die weltweit
anstehenden Probleme zu lösen. Wenn darüber auf dem
Gipfel diskutiert worden ist, warum hat dann der Bundesaußenminister mit diesem Punkt nicht begonnen?
Denn weder die Fragen des Irak noch die des Iran noch
die Palästinas/Israels können gelöst werden, ohne dass
dieses geostrategische Potenzial gewinnbringend eingesetzt wird.
({3})
Dazu ist nichts gesagt worden. Das ist aber der Kernpunkt.
Wenn sich im Nahen Osten, Herr Bundesaußenminister, das Thema Iran zu einem gewaltigen, problematischen Thema schon entwickelt hat und wenn man es
nicht vorgreiflich mit allen Anstrengungen, die Sie sicher in Person und als Bundesregierung unternehmen,
lösen kann, was in der Region erneut zu einer sehr nervösen Situation führen wird, dann wird die Lösung des
Problems ohne intensive, klare Gespräche mit den amerikanischen Freunden nicht funktionieren. Die EU hat
viele Möglichkeiten. Sie kann diplomatische Anstrengungen unternehmen, sie hat ein Talent für Krisenprävention und auch für die Nachsorge; das ist unbestritten.
Aber in diesem Fall würde ich mich nicht allein darauf
verlassen wollen, dass die geschickten bisherigen Bemühungen der Europäischen Union - die ich begrüße, die
aber noch nicht zum durchschlagenden Erfolg geführt
haben - ohne die Vereinigten Staaten von Nordamerika
zu einem guten Ende kommen. Russland haben Sie beteiligt; das weiß ich. Aber jetzt sofort - wir haben kein
großes Zeitfenster - muss gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika der Prozess beginnen, im
internationalen Bereich etwas einzudämmen. Denn wir
stimmen Ihnen zu: Wir wollen nicht, dass sich dieses
Land zu einer Nuklearmacht entwickelt.
Präsident Arafat ist gestorben. Es ist von allen Fraktionen - das tue ich auch für meine - die Anteilnahme gegenüber dem palästinensischen Volk zum Ausdruck gebracht worden, bei allen Zwiespältigkeiten, die ein solches Leben verkörpert. Wenn man nun zu einem
europäischen Gipfel zusammentritt und tagt und weiß,
dass eines der wichtigsten Probleme im Nahen Osten
noch immer nicht gelöst ist, die das Image Amerikas, das
die Friedensfähigkeit dort nicht herstellt, so nachteilig
bestimmen, dann muss doch das Thema Israel/Palästina zu einem Hauptthema werden, und zwar gerade in
Verbindung mit der Wahlentscheidung in Nordamerika,
wo ein Präsident wiedergewählt worden ist, der sich jetzt
eigentlich die Zeit nehmen müsste, dieses Thema, das
wegen des Wahlkampfes praktisch liegen geblieben ist,
zuallererst anzugehen. Also hat man doch gute Gründe,
den amerikanischen Freunden von dieser Seite des Atlantiks aus zu sagen: Gehen wir jetzt gemeinsam entweder in die alte Roadmap oder mit dem israelischen
Ministerpräsidenten und dem Quartett in ein Gespräch
darüber, wie wir in dieser Situation wenigstens einigermaßen Friedensfähigkeit herstellen können: Wie können
wir stabile Institutionen in Palästina schaffen? Wie sieht
das Angebot der Europäischen Union aus? Wird das so
fortgesetzt, läuft das so weiter? Ist das ein spezieller
Aufgabenbereich für uns?
({4})
- Man mag das besprochen haben, Herr Bundesaußenminister. Es wäre besser gewesen, Sie hätten das hier
noch einmal konzeptionell vorgetragen.
({5})
Denn Europa können Sie den Menschen nur näher bringen, wenn Sie die Fähigkeit Europas, zur Lösung der
Probleme in der Welt etwas beizutragen, darstellen.
Europa hat zu wenig Gewicht. Bezüglich der Lissabon-Strategie, die das Ziel verfolgt, dass wir 2010 die
Besten auf der Welt sind, wenn wir unsere eigenen Beschlüsse ernst nehmen, haben wir ja die Hälfte des Weges bereits zurückgelegt, denn das ist 2000 beschlossen
worden und jetzt haben wir fast 2005.
Die Bilanz sieht laut Kok-Bericht äußerst mager aus.
Herr Bundesaußenminister, man kann darüber streiten,
wie dieser sehr kritische Bericht von Wim Kok sprachlich interpretiert werden kann. Der noch amtierende Präsident der EU-Kommission Prodi konnte diesem Bericht
nichts hinzufügen. Er hat vielmehr bedauert, dass sich
die Nationen in Europa überhaupt nicht an das gehalten
haben, was damals in Lissabon verabredet worden ist.
Es nützt eben nichts, dem Iran zu Leibe rücken oder
ein gewichtiges Wort bei anderen Konfliktherden der
Welt mitreden zu wollen, wenn man nicht eigenes Gewicht auf die Waage bringt. Eigenes Gewicht auf die
Waage bringen heißt, dass die Repräsentanten der Europäischen Union in internationalen Verhandlungen gar
nicht mit lauter Stimme sprechen müssen, weil die anderen schon wissen, dass in diesem Kontinent ein gewaltiges Potenzial und eine gewaltige Kraft in Wissenschaft,
Politik, gesellschaftlicher Entwicklung, Forschung und
Innovationsdrang steckt.
({6})
Das aber hat die Europäische Union bis heute nicht
zustande gebracht. Sie hat sich international kein Gewicht gegeben. Selbst bei den Beschlüssen zur eigenen
Sicherheitspolitik ist erkennbar, dass sich 400 Millionen Europäer im Kern immer noch auf 250 Millionen
Amerikaner verlassen. Dass wir mit Amerika angesichts
seiner Verteidigungsausgaben und seiner wirtschaftlichen Kraft nicht mithalten können, ist klar. Dass wir in
Europa aber so wenig aus unseren Chancen machen, das
hätte ich mir nach den Beschlüssen von Lissabon nicht
vorstellen können.
Das ist nichts, was auf Brüssel geschoben werden
könnte. Denn der Kern der Lissabon-Strategie ist die Erledigung der eigenen Hausaufgaben in jedem Mitgliedsland der Europäischen Union. Deutschland, eine der
größten Volkswirtschaften der Welt, trägt nur sehr wenig
dazu bei, dass die Europäische Union zu diesem Kraftpaket wird und dieses Fähigkeitspotenzial entwickelt,
das wir uns alle wünschen.
Diese Defizite müssen nicht auf einem europäischen
Gipfel besprochen werden. Die eigenen Hausaufgaben
muss man selbst erledigen. Sie müssen sich aber fragen
lassen, wie Sie es begründen, dass das bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union mit einer der
größten Volkswirtschaften der Welt bisher einen derart
dürftigen Beitrag zur Kraftentwicklung der Europäischen Union nach dem Lissabon-Prozess geleistet hat.
({7})
Wir bleiben weit hinter unseren Möglichkeiten zurück,
und zwar so weit, wie es in der Nachkriegsgeschichte
der Bundesrepublik noch nie der Fall gewesen ist.
({8})
Man kann den Menschen Europa nur vermitteln,
wenn man ihnen klar macht, dass wir die Chance haben
- und das auch wollen -, Probleme aktiv zu lösen, und
dass wir Führung in internationalen Angelegenheiten
nach einem Wertekanon übernehmen wollen, der in unserer Verfassung enthalten ist. Man kann den Menschen
Europa auch nur dann vermitteln, wenn sie das Gefühl
haben, dass sie etwas von Europa haben, dass ihre Freiheit gesichert wird und dass sie mehr wirtschaftliche
Chancen haben. All das wird gegenwärtig nicht in ausreichender Weise getan. Man sollte sich daher hinterher
nicht wundern, wenn gegrummelt wird und wenn sich
Gesellschaften nicht innovativ am europäischen Prozess
beteiligen. Diese Aufgabe obliegt uns; denn wir bilden
die politische Führung des Landes.
Herr Bundesaußenminister, Sie sollten zu einem solch
wichtigen Thema nicht noch einmal eine Regierungserklärung wie nach einem normalen europäischen Gipfel
abgeben, wenn Sie aus Europa etwas machen wollen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Gerhardt, der Europäische Rat zeichnet sich durch einen komplexen Arbeitsprozess aus, in
dem viele Punkte behandelt werden. Aber Sie haben es
fertig gebracht, zu keinem dieser Punkte wirklich etwas
zu sagen.
({0})
Es war sicherlich ganz bewusst kein Gipfel, der sich mit
der US-Wahl oder mit der US-Politik befasst hat.
Ich will Ihr Stichwort aufgreifen, dass man Europa
den Menschen vermitteln muss. Dazu gehört für mich,
dass man wichtige und positive Entwicklungen in der
EU in den Vordergrund stellt. Dazu gehört ganz gewiss
die Unterzeichnung der EU-Verfassung durch die Regierungschefs. Diese Verfassung bedeutet mehr Demokratie, mehr Transparenz und die Stärkung des Europäischen Parlaments. Die für alle Mitgliedsländer und alle
Bürgerinnen und Bürger der EU verbindliche Grundrechte-Charta versteht Europa nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft. Das
ist ein wichtiger Prozess.
({1})
Dazu gehört dann auch Butter bei die Fische, Herr
Dr. Schäuble. Mit Ihrer Polemik vermitteln Sie den europäischen Prozess auch nicht besser. Dazu gehört vielmehr, die Ratifizierung der Verfassung in Deutschland
voranzutreiben, diesen Prozess gegen Instrumentalisierungen von rechts oder auch durch eine Fraktion dieses
Bundestages zu verteidigen und diese Ratifizierung zu
einem Erfolg zu führen.
Zu den positiven Entwicklungen gehören auch die
demokratischen Prozesse um die Bildung der neuen
EU-Kommission. Der Europäische Rat hat die neue
Liste der designierten Mitglieder der Kommission angenommen. In zwei Fällen wurde ein Kommissar ersetzt.
Auch in der Energiepolitik hat es einen Wechsel gegeben. Gerade bei dem hochaktuellen Thema der Energie
hoffen wir, bald in den Arbeitsprozess überzugehen. Ich
will darauf aufmerksam machen, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit Österreich und Irland erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass dem europäischen Verfassungsvertrag eine Erklärung beigefügt ist, die besagt,
dass der Euratom-Vertrag im Rahmen einer so rasch wie
möglich einzuberufenden Regierungskonferenz auf den
Prüfstand zu stellen ist. Hierzu wird eine kluge, starke
und kompetente EU-Kommission benötigt.
({2})
Man kann sich sicherlich die Frage stellen, ob nicht
eine umfassendere Umgestaltung der designierten Kommission angemessen gewesen wäre. Nach der Auswertung der Befragungen der Kommissare hätten wir uns in
einigen weiteren Fällen Veränderungen gewünscht. Aber
generell kann man sagen: Demokratie bringt Leben in
die Bude und führt zu mehr Aufmerksamkeit für die europäische Politik. Insgesamt lässt sich der Prozess, nach
dem sich die neue Kommission letztlich zusammensetzen wird, mit Fug und Recht als Beleg für das Funktionieren der europäischen Institutionen und als Beitrag zu
ihrer weiteren Stärkung werten.
Es zeigt sich übrigens auch, wie weise der Vorschlag
des Verfassungskonventes war. Er hatte nämlich vorgeschlagen, aus jedem Mitgliedsland eine Liste von drei
Kandidaten vorzulegen - darunter mindestens eine
Frau -, aus der der Kommissionspräsident wählen kann.
Eine solche Liste hätte den Charme gehabt, dass nationale Befindlichkeiten nicht so sehr getroffen würden,
wenn der eine oder andere Kommissar in die Kritik gerät. Man kann hoffen, dass es in Zukunft doch noch eine
solche Veränderung geben wird.
Zur Lissabon-Strategie. Ich denke, das ist, wie die
Kollegin Schwall-Düren schon betont hat, ein Prozess,
der die Menschen in Europa sehr direkt bewegt. Dies ist
darum auch ein sehr wichtiger Prozess für Europa. Nun
geht es um die Halbzeitüberprüfung. Der Plan, die EU
bis 2010 durch eine ausgewogene Strategie, die eine
wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Dimension
umfasst, zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wurde natürlich
seinerzeit in der Hochphase der New Economy geboren.
Er war - das wissen wir nun alle - zu ehrgeizig. Die Beschäftigungsraten auf 70 Prozent zu erhöhen war das
Ziel.
Großen Worten - das muss man sagen - sind bisher
zu wenige Taten gefolgt. Das ist nicht nur wirtschaftspolitisch bedauerlich, sondern, auch was die Glaubwürdigkeit der EU-Politik angeht, ein bedauernswürdiger Prozess, weil wir keine Erwartungen und Ziele formulieren
dürfen, die hinterher nicht erfüllt werden können; das
wissen wir auch aus der nationalen Politik. Sonst wird,
wie es Wim Kok hinsichtlich der Halbzeitbilanz in Bezug auf die Lissabon-Strategie formuliert hat, die EU zu
einem Synonym für verfehlte Ziele und gebrochene Versprechen. Das darf nicht der Fall sein.
Es ist klarzustellen - das hat Herr Schäuble schon betont -: Die negative öffentliche Meinung würde sich in
diesem Fall natürlich gegen die Mitgliedstaaten richten.
Festzustellen ist aber auch, dass die Schwierigkeiten, die
gesetzten Ziele zu erreichen, nicht die Ziele an sich, also
weder die Ziele im Hinblick auf die Beschäftigung noch
die Modernisierungsstrategie von Lissabon und Göteborg, falsch machen.
({3})
An der gesellschaftlichen Modernisierungsstrategie, die
auf dem Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt beruht, gilt es festzuhalten.
Jetzt wird kritisiert, dass die Agenda durch vielfältige
Ziele überfrachtet wird. Insbesondere die umweltpolitischen Ziele geraten in die Kritik. Als Antwort wird auch
im Kok-Bericht die Fokussierung auf das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit formuliert. Damit kann allerdings
nicht die Industriepolitik der 60er-Jahre gemeint sein;
denn im Zeitalter der Globalisierung kann man das Ziel
der Wettbewerbsfähigkeit durch sie ganz gewiss nicht
erreichen.
({4})
Europas Erfolg hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit und
Stabilität beruht auf der konzeptionellen Verbindung
von Sozialem, Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit. Insbesondere der Prozess von Kioto, der jetzt wieder einsetzt, wird dazu beitragen. Wir erwarten, dass die Europäische Union, wie es auch der Minister formuliert hat,
unterstützt von der Bundesregierung das Zusammenwirken von nachhaltiger Entwicklung und nachhaltigem
Wachstum zu einem Erfolg führen wird.
Eine letzte Bemerkung. Ich habe gesagt, dass die Mitgliedsländer in die Kritik zu nehmen sind. Aber ich will
auch ganz deutlich sagen: Es ist unerlässlich, dass wir
unsere Strukturreformen in Deutschland erfolgreich
umsetzen. Es ist von der Opposition unglaublich scheinheilig, in öffentlichen Debatten eine Fundilinie zu fahren, im Bundesrat den Subventionsabbau zu blockieren
und gleichzeitig nach dem Stabilitätspakt zu schreien.
Wir müssen unsere besagten Hausaufgaben gemeinsam
erledigen. Ich denke - die Kollegin hat das bereits gesagt -, dass die Bundesrepublik nicht schlecht da steht,
weder bei der Mehrwert- noch bei der Einkommen- oder
der Körperschaftsteuer.
({5})
Sehr wichtig ist allerdings die Binnenmarktstrategie
der Bundesregierung. Dazu wurde ein Positionspapier
formuliert, in dem unter anderem deutlich gemacht
wurde, dass wir bei der Unternehmensbesteuerung eine
einheitliche Bemessungsgrundlage und die entsprechenden Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene brauchen.
({6})
Frau Höfken, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Die Lissabon-Strategie wird dann ein Erfolg,
wenn die Mitgliedsländer der EU - so auch Deutschland - erfolgreich sind. Unsere Verantwortung, auch die
der Opposition, besteht darin, die begonnenen Reformen
im Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt zu
guten Ergebnissen zu führen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Wissmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Gipfel verlief den Zeitungen zufolge fast so wie die Rede des Bundesaußenministers:
({0})
ohne Spannungen und ohne Höhepunkte.
({1})
In Wahrheit führte dieser Gipfel aber zu einem der größten Fehlschläge beim Kernthema Lissabon-Strategie.
Welch ein Fehlschlag die Lissabon-Strategie gewesen
ist, wird nicht nur von uns christlichen Demokraten beschrieben. Das hat auch der Vertreter der SPD in der
Kok-Gruppe, Herr Mirow, getan, indem er gesagt hat:
Der wichtigere Aspekt ist, dass die Hausaufgaben
nicht gemacht worden sind.
Der noch amtierende Kommissionspräsident, Romano
Prodi, hat die Lissabon-Strategie in der „Financial
Times“ mit den Worten umschrieben: „Lissabon ist ein
großer Fehlschlag“. Wim Kok hat immer wieder gesagt:
Vor allem die fehlende Handlungsbereitschaft der nationalen Regierungen ist Grund dafür, dass die LissabonStrategie bis jetzt gescheitert ist.
Meine Damen und Herren, durch diese Aussagen
wird der Blick auf folgende Frage gelenkt: Was hat eigentlich die Bundesregierung in den letzten vier Jahren
getan,
({2})
damit das, was sie unterschrieben hat, auch umgesetzt
wird? Dass es anders gehen kann, dass man in einem europäischen Land Wachstumsimpulse setzen kann und
dass man über einen langen Zeitraum Innovationen realisieren kann, zeigt sich beim Vergleich zweier Länder.
Vergleichen Sie die Entwicklung in Großbritannien in
den letzten Jahren mit der in Deutschland: Das reale
Bruttoinlandsprodukt ist in den Jahren 2001 bis 2003 in
Deutschland um 0,9 Prozent, in Großbritannien um
6,2 Prozent gestiegen. Hätte Deutschland zwischen 2001
und 2003 das gleiche reale Wirtschaftswachstum erreicht wie Großbritannien, läge unser Bruttoinlandsprodukt heute um mehr als 100 Milliarden Euro höher. Herr
Bundesaußenminister, in den letzten zehn Jahren ist das
Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens Jahr für Jahr stärker gewachsen als das Deutschlands. In den letzten zehn
Jahren ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien immer
weiter gesunken, auf jetzt unter 5 Prozent - Größenordnungen, wie wir sie vielleicht noch im mittleren Neckarraum erreichen. Was die meisten vergessen: Vor zehn
Jahren lag das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in
Großbritannien um 10 Prozent unter dem in Deutschland. Heute liegt das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer
in Großbritannien im Schnitt um 10 Prozent über dem in
Deutschland. Das heißt, eine langfristig anhaltende, mutige Innovationspolitik in Großbritannien - früher von
Konservativen, heute von Sozialdemokraten - führt ganz
offensichtlich genau zu den Ergebnissen, die mit der Lissabon-Strategie beabsichtigt sind. Das gegenteilige Verhalten führt zu dem großen Fehlschlag, den wir leider in
Deutschland, Frankreich, Italien und anderen Ländern
der Europäischen Union zu verzeichnen haben. Ich
finde, das müssen wir zum Ausdruck bringen.
({3})
Wie reagiert der Bundeskanzler darauf? Der Bundeskanzler gibt im Anschluss an den Gipfel zu erkennen,
dass er überhaupt nichts davon hält, Ranglisten der reformfreudigsten EU-Mitglieder bezüglich der LissabonStrategie einerseits und der reformlangsamsten andererseits zu erstellen. Das ist ungefähr so, als würde ein Bundesliga-Fußballverein, der kurz vor dem Abstieg steht,
sagen: Bitte in Zukunft keine Tabelle mehr! Man könnte
ja merken, dass wir schlecht gespielt haben.
({4})
Das Gegenteil ist richtig: Wir brauchen Wettbewerb.
Wir brauchen Tabellen, um zu erkennen, wo wir Schwächen und wo wir Stärken haben. Betrachten wir zwei Beispiele: erstens die Erwerbstätigenquote älterer Arbeitnehmer. In Deutschland sieht sich mancher schon mit 55,
56, 57 oder 58, früher als er will, aus dem Arbeitsmarkt
herausgedrängt. In der EU der 25 liegt die Erwerbstätigenquote älterer Arbeitnehmer bei 40,2 Prozent. In
Deutschland liegt sie bei 39,5 Prozent, in den USA bei
59,9 Prozent. Das Lissabon-Ziel liegt bei 50 Prozent.
Zweites Beispiel: die Forschungsausgaben im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt: 2003 betrug das Verhältnis in Deutschland 2,5 Prozent, in den USA 2,8 Prozent, in Japan 3 Prozent, in Schweden sogar 4,3 Prozent.
Es genügt nicht, sich darüber hinwegzutrösten, dass die
Ausgaben für einzelne Forschungsbereiche etwas gestiegen sind; das ist ein Irrtum. Wenn wir in Deutschland
nicht mehr in Forschung und Technologie investieren,
dann werden wir weiter zurückfallen. Wir haben die Verdopplung der Forschungsausgaben nicht erreicht, die Sie
einst versprochen haben.
Die Expertengruppe der Europäischen Union mit
Herrn Mirow, einem sozialdemokratischen Mitglied,
nennt in ihrem Bericht dringend erforderliche Maßnahmen, die auf europäischer Ebene, aber auch in den Mitgliedstaaten angegangen werden müssen. Ich nenne nur
einige wenige:
Erster Punkt: Forschung und Entwicklung müssen
absolute Priorität bekommen. Sind wir dieses Ziel in
Deutschland wirklich mit Nachdruck angegangen? Sie
haben Ihr Versprechen der Verdopplung der Ausgaben
für Forschung nicht eingehalten. Sie sagen jetzt, sie wären um 36 Prozent angestiegen. In Wahrheit war es weniger. Dabei müsste hier im Parlament doch eigentlich
Konsens darüber bestehen, dass wir alles machen dürfen,
außer bei der Blutzufuhr zum Kopf Deutschlands kürzen.
({5})
Wir brauchen Wissenschaft und Forschung. Wir müssen
diese beiden Beispiel stärken und nicht auch noch dort
Mittel kürzen, wie wir es in den letzten Jahren leider erlebt haben.
({6})
Zweiter Punkt: der Binnenmarkt. Der Binnenmarkt
für den freien Kapital- und Warenverkehr in Europa
muss vollendet werden. Auch der Binnenmarkt für
Dienstleistungen muss unverzüglich geschaffen werden.
Die schnelle Verabschiedung der Richtlinie der EUKommission „Dienstleistungen im Binnenmarkt“ wäre
ein konsequenter Schritt zur Umsetzung der Forderungen und Vorschläge der Kok-Gruppe. Was tun wir in
Deutschland dafür, den vollständigen Binnenmarkt herbeizuführen? Ich finde, auch wir in Deutschland tun dafür zu wenig.
Herr Kollege Wissmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kuhn.
Herr Wissmann, Sie haben gerade gesagt, dass
Deutschland zu wenig für Forschung, Wissenschaft und
Ausbildung tut und dass deshalb die Lissabon-Ziele
nicht erreicht werden. Haben Sie die Haushaltsdiskussionen in den letzten Wochen mitbekommen, in denen RotGrün den Vorschlag gemacht hat, eine wesentliche Subvention alter Strukturen, nämlich die Eigenheimzulage,
zu streichen und diese Mittel für Wissenschaft, Forschung und Bildung auszugeben?
({0})
Wie können Sie sich hier hinstellen und sagen, die
Bundesregierung würde diese Ziele nicht anstreben und
nicht erreichen wollen? Sie, die Union, blockieren dies
systematisch. Sie wollen das Alte subventionieren und
damit den Weg für das Neue nicht frei machen. Das, was
Sie hier von sich geben, finde ich extrem.
({1})
Herr Kollege Kuhn, Sie erhalten von uns immer Unterstützung für eine intelligente Erhöhung der Forschungs- und Technologieanstrengungen nicht nur auf
Bundes-, sondern auch auf Länderebene. Schauen Sie
sich einmal an, was Bayern und Baden-Württemberg tun
und vergleichen Sie das mit der Situation in sozialdemokratisch regierten Ländern!
({0})
Ich sage Ihnen aber: Wir werden auf gar keinen Fall
damit einverstanden sein, dass Mittel von einem Haushaltstitel zu einem anderen umgeschichtet werden, während sich gleichzeitig die Schulden erhöhen. Kürzen Sie
den konsumtiven Teil des Haushalts und stärken Sie den
Forschungsteil! Kürzen Sie die Subventionen - auch mit
uns -, aber tun Sie das intelligent!
({1})
Greifen Sie nicht eine bestimmte Maßnahme heraus und
ersetzen Sie diese durch eine andere! Sie erhalten von
uns immer Unterstützung, wenn Sie den Gesamthaushalt
kürzen.
({2})
Eigenheimzulage gegen Forschung - was für ein
kleinkariertes Spiel!
({3})
Durch die Streichung der Eigenheimzulage könnten Sie
die Forschungsausgaben nicht so erhöhen, wie es dringend notwendig wäre. Kürzen Sie im konsumtiven Teil
des Haushalts!
({4})
Gehen Sie an die hohen Ausgaben der Bundesanstalt für
Arbeit!
({5})
Gehen Sie an die viel zu hohen Transferleistungen im
konsumtiven Bereich! Dann werden Sie unsere Unterstützung mit Sicherheit erhalten.
({6})
Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber ohne eine
Erhöhung unserer Forschungsausgaben werden wir im
weltweiten Wettbewerb nicht Schritt halten.
({7})
Meine Damen und Herren, in dem Expertenbericht
der 13 wird vorgeschlagen, die Empfehlungen der europäischen Task Force „Beschäftigung“ rasch umzusetzen,
das heißt unter anderem, Arbeitsmarktreformen durchzuführen. Wo sind Ihre Strategien für eine Erneuerung
des Arbeitsmarkts über die Agenda 2010 hinaus? Wo
sind Ihre Vorstellungen für eine langfristige Flexibilisierung des Arbeitsmarktrechts? Wo sind Ihre Maßnahmen
zur Modernisierung des Jugendschutzes? Wo sind Ihre
Vorschläge zur Deregulierung von Ausbildungsverordnungen? Wo sind Ihre Vorstellungen, die langfristig zu
einer Erneuerung unserer verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen führen?
Stattdessen hat sich der Bundeskanzler nach dem europäischen Gipfel dazu verstiegen, den Eindruck zu erwecken, man müsse den Stabilitätspakt aufweichen, um
der Lissabon-Strategie doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Dieses Argument ist meiner Ansicht nach schlichtweg falsch. Deutschland hat nicht Schwierigkeiten beim
wirtschaftlichen Wachstum, weil wir zu wenig Schulden
machen. Das Wachstum ist vielmehr wegen der schlechten politischen Rahmenbedingungen und gerade auch
wegen der zu hohen Staatsschulden so gering.
Seit dem Jahr der Euro-Bargeldeinführung hat die rotgrüne Bundesregierung die Kriterien von Maastricht bezüglich der Neu- und der Gesamtverschuldung permanent verletzt: 2002 betrug die Defizitquote 3,5 Prozent,
2003 waren es 3,9 Prozent und für 2004 erwarten wir
eine Quote von 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Wir verletzen ein weiteres Stabilitätskriterium. 2004
wird die Gesamtverschuldung Deutschlands 60 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts übersteigen und 66 Prozent
betragen. Damit verstoßen wir elementar gegen den Stabilitätspakt. Wir verstoßen auch gegen das, was wir als
Bundestag einmal gemeinsam beschlossen haben. Vor
zwölf Jahren hat der Bundestag beschlossen - ich zitiere
wörtlich -, sich jedem Versuch zu widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht vereinbart worden sind.
Der potenzielle Nachahmungseffekt der stabilitätswidrigen Haltung Deutschlands in Sachen Defizitverfahren darf nicht unterschätzt werden. Es wird der Eindruck
erweckt, Regeln zählten in Europa nicht, wenn es sich
um die Großen handelt, so wie damals, als Bundeskanzler Schröder und Finanzminister Eichel mit der Brechstange einen blauen Brief aus Brüssel abgewendet
haben. Inzwischen berufen sich andere Nationen auf das
schlechte Beispiel Deutschlands. Deutschland hat einmal den Stabilitätspakt herbeigeführt. Heute erwecken
der Bundeskanzler und die gesamte Bundesregierung
den Eindruck, als sei der Stabilitätspakt nichts mehr
wert. Sie verfolgen die falsche Strategie. Leider haben
Sie sich bis heute nicht zu einer Korrektur entschlossen.
({8})
Ich möchte ein anderes großes Thema des Gipfels ansprechen, das heute leider nur in wenigen Bemerkungen
thematisiert worden ist, nämlich das Verhältnis zwischen Europa und den USA. Wir müssen jetzt, nach
der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten, auf europäischer und amerikanischer Seite alle Anstrengungen
unternehmen, um Brücken zwischen Europa und Amerika zu bauen. Es gibt Bereiche, in denen wir die Interessen bündeln könnten. Wir müssen zum Beispiel neue Impulse für eine Öffnung der Märkte setzen. Wir müssen
bis 2015 das Ziel verfolgen, einen gemeinsamen europäisch-amerikanischen Handelsraum, eine Transatlantic
Free Trade Area, TAFTA, zu erreichen.
Zwischen den beiden Wirtschaftsräumen Europa und
Amerika ist bis heute - das wird auch in Zukunft so bleiben - der größte Handelsraum der Erde entwickelt worden. 40 Prozent des Welthandels finden in diesem Bereich statt. Die Amerikaner haben ein Interesse daran,
ihre konjunkturelle Entwicklung zu verstärken; die Europäer, vor allem wir Kontinentaleuropäer, haben ein Interesse daran, zusätzliche Wirtschaftsimpulse zu setzen.
Der Abbau bestehender Zoll-und-Nichtzoll-Barrieren im
transatlantischen Sektor hätte einen bedeutenden Wachstumsimpuls zur Folge. Für die Europäische Union wird
ein Zuwachs von 0,7 bis 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Auch für die Amerikaner wären erhebliche zusätzliche Wachstums- und Jobimpulse möglich.
Ich habe eine Aussage dazu vermisst, Herr Bundesaußenminister, was wir tun können und tun müssen, um im
europäisch-amerikanischen Dialog neue Wege zu beschreiten und positive Impulse zu setzen. Unser Vorschlag ist: Setzen Sie nicht nur, aber auch in der Wirtschafts- und Handelspolitik neue Impulse! Sorgen Sie
nicht für Gräben zwischen Europa und Amerika, sondern für transatlantische Brücken! Damit täte Europa etwas Gutes für die Welt, für die Wirtschaftsentwicklung
zu Hause und die Jobs in Deutschland. Hierzu haben wir
heute eine Aussage vermisst, Herr Bundesaußenminister.
In Zukunft wünschen wir uns weniger tönerne Erklärungen und mehr klare politische Schritte für Europa, für
Wirtschaftsimpulse und für ein besseres transatlantisches Verhältnis.
({9})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dietmar Nietan.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Europäische Rat hat gerade auch zu wichtigen außenpolitischen Rahmenbedingungen, die für Europas Sicherheit und Stabilität von grundlegender Bedeutung
sind, wichtige Entscheidungen getroffen und wichtige
Erklärungen abgegeben. Ich will darauf gleich zurückkommen.
Erlauben Sie mir bitte, zu Beginn auf das, was von
den Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagt
wurde, kurz einzugehen. Europa näher bringen bedeutet,
dass die Menschen im politischen Wettbewerb in Europa, aber auch in unserem Land erkennen können, wofür politische Parteien stehen. Ich bin sehr selbstkritisch
und sage Ihnen, dass manche in unserem Land vielleicht
schon graue Haare wegen des einen oder anderen handwerklichen Fehlers dieser Koalition bekommen haben.
Aber diesen werden die Haare ausfallen angesichts der
Tatsache, dass sie an diesem Tag nur Gezeter gehört haben, aber keine Aussage darüber, was diese Opposition
will.
({0})
Wie will man Europa den Menschen näher bringen,
wenn sie nicht wissen, wofür die Union steht. Kollege
Wissmann, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, aber
ich muss an dieser Stelle sagen: Wenn Sie von der Kürzung von Transferleistungen sprechen, dann sollten Sie
auch so mutig sein, zu sagen, welche Sie meinen, und
sich der öffentlichen Diskussion stellen. Wenn die Kopfpauschale kommt, dann werden wir uns über ganz andere konsumtive Transferleistungen in diesem Bundeshaushalt unterhalten. Wie Sie argumentiert haben, das
nenne ich unredlich.
({1})
Es ist hoch spannend zu sehen, dass der Kollege
Gerhardt - für uns alle nicht überraschend - sogar auf
Englisch zitiert, wie die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats zum transatlantischen Verhältnis beginnen. Es ist auch bezeichnend, dass der Kollege
Gerhardt nach dem ersten Satz aufhört. Ich will weiter
zitieren. Erlauben Sie mir, dass ich das auf Deutsch tue.
Nach dem Glückwunsch heißt es:
Unsere enge transatlantische Partnerschaft, die auf
gemeinsamen Werten basiert, ist für Europas Konzept der Schaffung von Frieden, Sicherheit und
Wohlstand auf internationaler Ebene
- jetzt kommt die entscheidende Passage von grundlegender Bedeutung.
Weiter heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates:
Die EU und ihre Mitgliedstaaten freuen sich darauf,
sehr eng mit Präsident Bush und seiner neuen Regierung zusammenzuarbeiten, damit gemeinsame
Anstrengungen - und zwar auch in multilateralen
Institutionen - unternommen werden können, um
die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und eine gerechte,
demokratische und sichere Welt zu schaffen.
Wenn Sie also zitieren, dann zitieren Sie bitte zu Ende
und versuchen Sie nicht krampfhaft, den Eindruck zu erDietmar Nietan
wecken, als würde diese Regierung weiterhin transatlantische Gräben aufreißen. Das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Ich möchte noch zu einem Punkt des Kollegen
Schäuble kommen. Natürlich kann man sagen, dass das,
was dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi auf dem
europäischen Gipfel versprochen wurde, noch nicht genug sei. Aber wenn Sie von einer Zuschauerrolle
Deutschlands und Frankreichs sprechen
({3})
- ja, aber Sie haben dem nicht widersprechen wollen und dies als Untermauerung Ihrer Kritik zitieren, dann
müssen Sie auch sagen, was Ihrer Meinung nach die
Bundesregierung tun muss, damit man nicht in den Verdacht gerät, eine Zuschauerrolle einzunehmen. Sie müssen auch zugeben, dass jetzt deutsche Truppen im Irak
stünden, wenn es seinerzeit eine unionsgeführte Bundesregierung gegeben hätte. Ich bin gespannt, ob das die
Bevölkerung dazu anhalten würde, Ihren Kurs in dieser
Sache zu unterstützen.
({4})
Ich will einen letzten Punkt ansprechen: Natürlich ist
es richtig - das steht außer Frage -, dass wir das transatlantische Verhältnis neu beleben und intensivieren
müssen. Ich halte es aber für an den Haaren herbeigezogen, wenn Sie die Tatsache, dass der Außenminister in
seiner Regierungserklärung nicht noch einmal auf diese
Punkte im Schlusskommuniqué eingegangen ist, als
Skandal bezeichnen. Der Außenminister hat zu Beginn
des Jahres mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz
in München
({5})
und auch mit seinen Ausführungen in der „FAZ“ zur Rekonstruktion des Westens gezeigt, dass er sich wie kaum
ein anderer in der Europäischen Union darum bemüht,
mit ganz konkreten Projekten wie zum Beispiel Broader
Middle East die transatlantische Zusammenarbeit zu verstärken. Ihm jetzt nur deshalb, weil er das an dieser
Stelle nicht noch einmal betont hat, skandalöses Verhalten vorzuwerfen, nenne ich unredlich, Herr
Dr. Schäuble.
({6})
Herr Gerhardt hat noch einmal zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Nahostfriedensprozess in einer ganz
entscheidenden Situation sind. Das möchte ich hier noch
einmal unterstreichen. Ich habe es für das richtige Signal
gehalten, dass der Europäische Rat den Beschluss der
Knesset vom 26. Oktober unterstützt, sich aus dem Gazastreifen und aus Teilen der nördlichen West Bank zurückzuziehen. Ich halte es auch für dringend notwendig,
dass die Europäer diesen Prozess unterstützen. Denn ich
glaube: Nur mit europäischer Hilfe und nur in dem
Maße, wie es auch schon Javier Solana mit seinem Maßnahmenprogramm angedeutet hat, können wir sicherstellen, dass im Gazastreifen nach einem Rückzug geordnete Verhältnisse eintreten.
Nach dem Tod von Präsident Jassir Arafat stehen wir
hier in der Tat an einem Scheideweg. Ich wünsche mir,
dass die Europäische Union über das hinaus, was sie
dankenswerterweise bisher schon getan hat, diesen Prozess mit weiteren und noch konkreteren Vorschlägen unterstützen wird. Ich glaube, gerade am Beispiel des
Rückzugs aus dem Gazastreifen wird deutlich, wie wichtig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
Europäischen Union ist und wie wichtig Europa als Akteur im Friedensprozess in dieser Region ist.
Ich halte es auch für dringend notwendig, bei diesen
Bemühungen der Europäischen Union zu unterstreichen,
dass der Rückzug aus Gaza der erste Schritt hin zu einer
Zwei-Staaten-Lösung ist. Es muss sichergestellt werden,
dass Verhandlungen folgen, die am Ende zu einem erfolgreichen Abschluss des Friedensprozesses führen
werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer?
Gern.
({0})
Herr Kollege, selbstverständlich bedanke ich mich
zunächst einmal für Ihre freundlichen Worte, aber ich
möchte Sie fragen, ob Sie meinen Eindruck teilen, dass
Herr Schäuble hier zum wiederholten Male in seiner Kritik an der Irakpolitik der Bundesregierung nichts anderes vorgetragen hat als seine eigene Position und damit
auch die Position der CDU/CSU, die es für notwendig
hält, deutsche Soldaten in den Irak zu schicken, und dass
wir hier völlig anderer Meinung sind.
Wir beide sind hier völlig einer Meinung und der gesunde Menschenverstand lässt aus den Äußerungen von
Herrn Schäuble nur den Schluss zu, den Sie gerade gezogen haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es noch einmal unterstreichen: Ich glaube, dass wir Europäerinnen
und Europäer die Verpflichtung haben, mit einem konkreten Engagement dafür zu sorgen, dass der Rückzug
aus dem Gazastreifen nicht im Chaos endet, sondern
dass er der Beginn einer Erfolgsstory ist, an deren Ende
eine friedenssichernde Zwei-Staaten-Lösung stehen
wird. In diesem Sinne sollten wir Europäer uns dafür
einsetzen.
({1})
Der Außenminister hat deutlich gemacht, dass Chancen für eine Übereinkunft mit dem Iran in der Frage seines Nuklearprogramms bestehen. Auch wenn wir noch
nicht absehen können, ob die Verhandlungen am Ende
erfolgreich sein werden, will ich schon darauf hinweisen, dass der Chefunterhändler der Iraner, Hossein
Mousavian, deutlich gemacht hat, er gehe davon aus,
dass man zu einer vorläufigen Übereinkunft gekommen
ist. Ich will sehr deutlich sagen: Wenn es gelingt, durch
das beständige Engagement der EU 3 nicht nur zu einer
vorläufigen, sondern zu einer echten und belastbaren
Übereinkunft mit dem Iran zu kommen, die sicherstellt,
dass das Zusatzprotokoll zum Nichtverbreitungsvertrag
unterschrieben wird und dass es bis zu langfristigen
Vereinbarungen mit dem Iran zur Suspendierung der
Urananreicherung kommt, die ein Monitoring und ein
Controlling in der Nuklearfrage sicherstellen, wäre das
ein großer Erfolg und der Beginn einer neuen Ära in der
gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Ich halte auch die gewählte Konstruktion nicht für bedenklich, dass die so genannten EU 3, bestehend aus
Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die Verhandlungen führen. Die Tatsache, dass an den letzten
Verhandlungen am vergangenen Wochenende auch ein
Vertreter von Javier Solana teilgenommen hat, zeigt,
dass die drei Staaten für die gesamte EU sprechen. Alle
diejenigen, die das mit einem gewissen Hochziehen der
Augenbrauen beobachtet haben, bitte ich, dafür zu sorgen und uns dabei zu unterstützen, dass die europäische
Verfassung möglichst schnell ratifiziert wird. Wenn wir
in Zukunft nicht mehr die EU 3 brauchen, weil wir einen
starken und handlungsfähigen europäischen Außenminister haben, würde das auch solche Verhandlungen
erleichtern und sie erfolgreicher machen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische
Rat von Brüssel hat aus meiner Sicht deutlich gezeigt:
Die EU muss sich weiterentwickeln. Sie muss sich in der
Gestaltung der verschiedenen Politikbereiche, zum Beispiel der gemeinsamen Agrarpolitik, weiterentwickeln.
Sie muss sich auch in der zentralen Frage der Lissabonstrategie weiterentwickeln. Es hilft nichts, drum herumzureden: Die Versäumnisse und Schwierigkeiten, das
Ziel zu erreichen, sind in dem Bericht der Kok-Kommission benannt worden. Sie müssen ernst genommen
werden. Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen und daran
arbeiten, dass die Lissabonstrategie letztlich doch zu einem Erfolg wird.
Genauso wichtig ist es aber, die Institutionen und Integrationsfähigkeit der Europäischen Union auch vor
dem Hintergrund der geplanten weiteren Erweiterung zu
stärken. Deshalb will ich zum Schluss die Forderung von
Herrn Schäuble aufgreifen, die Menschen mitzunehmen:
Lassen Sie uns durch entsprechende Gesetzesinitiativen
dafür sorgen, dass plebiszitäre Elemente in unsere Verfassung aufgenommen werden! Lassen Sie die Menschen in unserem Land gemeinsam über die EU-Verfassung abstimmen! Es ist das Beste, sie mitzunehmen, weil
sie dann ernst genommen werden und eine Stimme haben. Lassen Sie uns in einem solchen Prozess gemeinsam die Menschen davon überzeugen, mit einer großen
Mehrheit für Europa zu stimmen! Wenn Sie uns auf diesem Weg folgen, die Menschen mitzunehmen, dann zeigen Sie, dass Sie es mit Ihrer Forderung ernst meinen,
die Menschen in Europa mitzunehmen. Andernfalls
- das vermute ich eher - war sie Schall und Rauch.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Fischer hat in einer Zwischenfrage zum wiederholten Mal wahrheitswidrig unterstellt, die CDU/CSU
habe die Entsendung deutscher Soldaten in den Irak gefordert. Ich habe in meiner Rede ausdrücklich festgestellt: Es ist in Ordnung, dass die Bundesrepublik
Deutschland ihren Beitrag zur Ausbildung irakischer
Soldaten in den Vereinigten Arabischen Emiraten leistet.
Ich habe lediglich über das Thema gesprochen und von
einem Gespräch mit Admiral Giambastiani, einem der
Oberkommandierenden der NATO, am Dienstag dieser
Woche berichtet, in dem er gesagt hat: Wenn die deutschen Offiziere für die Arbeit in integrierten Stäben der
NATO ausgebildet würden, sei es schlecht, schädlich
und widersprüchlich, wenn sie im Einsatzfall zurückgezogen würden.
Deswegen möchte ich den Abgeordneten Fischer und
den Bundesaußenminister bitten, die wahrheitswidrige
Verdrehung dessen, was hier gesagt worden ist, zu unterlassen.
({0})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter
Kollege Schäuble, ich denke nicht daran, irgendetwas
zurückzunehmen. Sie haben sich zum wiederholten
Male - es begann bereits vor dem Irakkrieg - in öffentlichen Äußerungen dafür ausgesprochen, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Koalition mit Soldaten
präsent sein soll. Ich habe Sie in einer der letzten Debatten - aus dem Stand kann ich nicht genau verifizieren, in
welcher - schon einmal darauf hingewiesen.
Joseph Fischer ({0})
Heute haben Sie das Argument der Bündnisverpflichtung angeführt. Ich halte Ihnen entgegen, dass die Haltung der Bundesregierung unverändert ist: Wir werden
keine Soldaten in den Irak schicken.
({1})
Dafür gibt es gute Gründe, die ich Ihnen nochmals nennen will. Wir waren von Anfang an der Meinung, dass
- anders als im Fall Afghanistan - weder die Gründe belastbar noch die Folgewirkungen bedacht worden sind.
Deswegen wird die Frage, was westliche Truppen leisten
können, von uns negativ beantwortet. Wir sehen uns
durch die Entwicklung diesbezüglich bestätigt.
({2})
Wir lassen es Ihnen und Ihrer Partei aber nicht durchgehen - ich erinnere in diesem Zusammenhang an den
gemeinsamen Auftritt Ihrer Parteivorsitzenden mit dem
Kollegen Pflüger vor dem Weißen Haus in Washington
an einem Februartag -, dass Sie die Bundesregierung auf
der einen Seite dafür kritisieren, dass wir unseren Verpflichtungen nicht nachkämen, auf der anderen Seite
aber insinuieren - und zwar manchmal in der Sprache
eines Winkeladvokaten -, dass deutsche Truppen beteiligt werden sollten. Darin liegt der grundsätzliche Dissens zwischen Ihrer und unserer Politik, den man auch
benennen muss. Das werden wir auch immer wieder tun.
Gegebenenfalls stellen wir die Frage ein weiteres Mal
zur Abstimmung. Dann werden wir sehen, wie sich die
Mehrheit des deutschen Volkes entscheidet.
Ich bin mir sicher, dass die Irakpolitik der Bundesregierung, die auch durch die Fakten getragen wird, von
der Mehrheit unseres Volkes - und zwar auch von vielen
CDU/CSU-Wählerinnen und -Wählern im konservativen
Süden unseres Landes - unterstützt wird. Wir werden
Sie mit Ihrer Position nicht entkommen lassen.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die FDP steht auf der heutigen
Tagesordnung nicht - ich denke, das gilt genauso für die
CDU/CSU -, sich - vielleicht sogar positiv - zu der
Frage zu äußern, ob deutsche Soldaten in den Irak geschickt werden sollen. Das steht tatsächlich nicht auf der
Tagesordnung.
({0})
Wir wollen vielmehr, dass sich Deutschland in starkem
Maße an humanitärer und ziviler Hilfe beteiligt und dass
es die Ausbildung gerade derjenigen Kräfte unterstützt,
die in Zukunft im Irak für mehr Stabilität und Ordnung
sorgen sollen. Lassen Sie uns mit der heutigen Debatte
über den europäischen Gipfel in Brüssel nicht den Wahlkampf 2006 vorziehen!
({1})
Auf dem Gipfel sind sehr wichtige Dinge gerade im
Bereich der Innen- und Justizpolitik entschieden worden, die in der bisherigen Debatte keine Rolle gespielt
haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang aus dem
Bericht von Herrn Kok zitieren. Er sagte zu der bisher
gescheiterten Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung:
Die Spitzenvertreter Europas müssen die Hoffnung
verbreiten, dass das Morgen besser sein wird als das
Heute.
Genau darum geht es. Wenn wir die Bürgerinnen und
Bürger für Europa begeistern wollen, müssen wir klar
sagen, wo die Defizite liegen und wie sich die derzeitige
reale Situation darstellt, und zwar gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir bisher bei der Umsetzung der Lissabonstrategie für mehr Wettbewerb,
Wachstum und Beschäftigung überhaupt nicht vorangekommen sind. Wir müssen auch erklären, was sich hinter
dem Haager Programm - das ist der zweite Komplex verbirgt. Dort geht es um Freiheit, Sicherheit, den
Schutz der Grundrechte, bessere Möglichkeiten zur Verfolgung von Terroristen und eine bessere Zusammenarbeit der Polizeien sowie um eine gemeinsame Asyl- und
Flüchtlingspolitik. Wir müssen den Menschen ehrlich
sagen: Jawohl, das beschlossene, umfassende Haager
Programm - das war ein Schwerpunkt des Gipfels in
Brüssel - bedeutet in vielen Punkten einen echten Paradigmenwechsel in der deutschen Innen- und Justizpolitik. Wir müssen zudem die Punkte nennen, die wir unterstützen, und diejenigen, in denen wir Gefährdungen
sehen und die wir kritisieren.
Wir Liberale unterstützen die Forderung nach Verbesserung der Kontrolle und Überwachung der europäischen Außengrenzen. Wir wollen des Weiteren eine gemeinsame Asylpolitik in der Europäischen Union. Das
ist schon im ersten Punkt des Asylkompromisses von
1992 vereinbart worden, in dem die Forderung nach einer umfassenden europäischen Asylkonvention erhoben
wird. Wir wollen des Weiteren, dass in Zukunft das Europäische Parlament eine stärkere Rolle spielt, wenn es
um die Innen- und Justizpolitik sowie die Zusammenarbeit der Polizeien in Europa geht. Frau Höfken, Sie und
auch Vertreter der Sozialdemokraten haben gesagt, dass
das Europäische Parlament eine stärkere Rolle spielen
müsse. Das könnte es bereits nach dem nun zu Ende gegangenen Gipfel, wenn sich der Bundesinnenminister
dafür eingesetzt hätte und wenn er einige zaudernde Kollegen, die sonst gerne seiner Fährte folgen, davon überzeugt hätte, dass es auch im Bereich der legalen Migration qualifizierte Mehrheitsentscheidungen geben muss,
und zwar unter Berücksichtigung der Entscheidungskompetenz des Europäischen Parlaments; denn das gehört unverzichtbar zusammen.
({2})
Warum macht man das nicht bereits heute - das würde
eine Stärkung des Europäischen Parlaments bedeuten -,
wenn dies in zwei Jahren nach der Ratifizierung und
dem In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages sowieso
kommen wird? Wir halten das, was jetzt beschlossen
worden ist, für keine richtige Weichenstellung. Das wird
für eine Blockade in der EU sorgen.
Da ich leider nur noch wenig Zeit habe, möchte ich
eine Bemerkung zur Flüchtlingspolitik machen. Im
Haager Programm ist nicht der Vorschlag des Bundesinnenministers aufgenommen worden, außerhalb der Europäischen Union Asyllager - oder wie auch immer man
diese Einrichtungen nennen will - zu errichten. Es gibt
zwar einen Prüfauftrag, wonach Zweckmäßigkeit und
Durchführbarkeit untersucht werden sollen. Das muss
aber - das sollten Sie genau nachlesen - auf der Grundlage internationaler Konventionen und europäischen
Rechts erfolgen. Das fordern wir ein. Das zu tun ist
wichtig. Ich vermisse auch in der heutigen Debatte - gerade aus den Reihen der Grünen - Stimmen, die diesen
Vorschlag einmal massiv kritisieren ({3})
Frau Kollegin!
- und deutlich machen, dass wir diese Form von europäischer Flüchtlingspolitik nicht wollen.
Vielen Dank.
({0})
Da die Redezeit schon deutlich überschritten war,
konnte ich keine Zusatzfrage zulassen.
Ich will hier deutlich auf Folgendes hinweisen: Die
Einhaltung der von den Fraktionen vereinbarten Debattenzeiten können wir nur dann einigermaßen organisieren, wenn sich die Redner möglichst an die Redezeiten
halten, die die Fraktionen für sie angemeldet haben, und
wenn darüber hinaus keine Zusatzfragen nach Ablauf
der Redezeit angemeldet und eingefordert werden. Das
führt nämlich wegen der Nichtanrechnung auf die Redezeit selbstverständlich zu einer weiteren Verlängerung
der Debattenzeit. Ich bitte alle Fraktionen um Nachsicht
dafür, dass das jeweilige Präsidium bemüht ist, sich an
die Vorgaben zu halten, die die Fraktionen durch ihre
Vereinbarungen gesetzt haben.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte die Angriffe des Kollegen
Schäuble und des Kollegen Gerhardt - er ist nicht mehr
anwesend - gegen den Bundesaußenminister und die
Bundesregierung nicht unwidersprochen lassen. Aber
der Kollege Nietan und der Kollege Fischer sind mir zuvorgekommen und haben dazu alles Notwendige gesagt.
Ich erspare es mir deswegen, das zu wiederholen.
Ich möchte an dieser Stelle nur sagen: Herr Kollege
Schäuble, die Kritik an der Bundesregierung, die Sie bezüglich des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten
von Amerika formuliert haben, ist wohlfeil. Bei all Ihrer
Kritik drücken Sie sich immer vor einer konkreten Darstellung der von Ihnen gewünschten Position der Bundesrepublik Deutschland in den weiterhin strittigen Fragen. Ich nenne als Beispiele Kioto, Internationaler
Strafgerichtshof und - diese Frage ist mit der Wiederwahl von Präsident Bush nicht ad acta gelegt - die Bewertung des militärischen Eingriffs im Irak.
Angesichts der Wackelpolitik Ihrer Vorsitzenden in
dieser Frage und der Schwäche der FDP sage ich Ihnen
- auch wenn Sie mit Ihrer Kurzintervention dazu noch
einmal Stellung genommen haben -: Sie dürfen den
Menschen im Lande nichts vorgaukeln. Wenn Sie die
Regierung in der entscheidenden Situation geführt hätten, dann wären deutsche Soldaten im Irak. Unseretwegen sind sie es nicht und das bleibt auch so.
({0})
Der Europäische Rat hat sich in Brüssel mit dem Haager Programm, mit der Fortentwicklung und der Stärkung der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Menschen in der Europäischen Union, befasst. Seit fünf
Jahren, seit der Verabschiedung des Vertrags von Amsterdam, wird an einer schrittweisen Errichtung dieses Raums
gearbeitet. Das ist auch richtig so. Wir wissen: Wirkliche
Freizügigkeit in der Union kann es nur geben, wenn alle
Menschen in den Mitgliedstaaten der Union gleichen Zugang zu gleichen oder zumindest zu vergleichbaren Rechten haben, wenn ihre Grund- und Bürgerrechte im gesamten Gebiet der Gemeinschaft gewahrt sind und wenn sie
vor grenzüberschreitender Kriminalität und auch vor terroristischen Anschlägen geschützt werden.
Dazu hat der Europäische Rat bereits 1999 in Tampere ein Fünfjahresprogramm aufgestellt, das diese Bundesregierung und die rot-grüne Koalition - im Sinne von
Hausaufgaben, die uns gestellt worden sind - im Bereich
der europäischen Justiz- und Innenpolitik abgearbeitet
haben. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.
Die rot-grüne Koalition hat die Grundlagen für die
Zusammenarbeit deutscher Strafverfolgungsbehörden mit
Europol und Eurojust geschaffen. Wir haben den Europäischen Haftbefehl in internationales Recht umgesetzt.
Der Bundestag hat zuletzt erstmals auf dem Gebiet der
Rechtspolitik nach Art. 23 des Grundgesetzes einen Beschluss in die Debatte über eine Regelung einer europäischen Beweisanordnung eingebracht. Damit haben wir
deutlich gemacht, dass wir gewillt sind, uns in Zukunft
frühzeitiger und noch dezidierter in europäische Gesetzgebungsverfahren einzuschalten.
Dazu hat der Deutsche Bundestag nicht nur das Recht,
sondern, wie ich meine, auch die Pflicht.
({1})
Angesichts grenzüberschreitender Kriminalität und
realer terroristischer Bedrohung machen die Tätigkeit
von Olaf sowie die Tätigkeit von Europol und Eurojust
selbstverständlich Sinn. Wir sind auch mit dem geplanten Ausbau der Befugnisse dieser Stellen, soweit
sachlich begründet, einverstanden. Die Ergebnisse der
vergangenen fünf Jahre belegen jedoch, dass die schrittweise Realisierung des Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts überwiegend von exekutiven
Elementen geprägt ist. Die Terroranschläge vom
11. September 2001 und vom 11. März 2004 haben diese
Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Wir haben hier im
Deutschen Bundestag zum Beispiel mit der Umsetzung
des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung
auch auf diesem Gebiet das getan, was wir tun mussten.
Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit hat
in Europa eine rasche Entwicklung genommen. Die
grundlegenden Verfahrensrechte der Menschen sind
bisher aber dahinter zurückgeblieben. Ich will es so sagen: Die eine Sache steht schon im Gesetzblatt und die
andere Sache steht immer noch in Grünbüchern und in
Entwürfen. Wenn die Kommission in ihrer Mitteilung an
den Rat und an das Europäische Parlament im Juni dieses Jahres schreibt: „Fakt ist, dass sich das europäische
Aufbauwerk auf diesem Gebiet“ - sicherheitspolitische
Maßnahmen - „rigoros auf die Grundrechte stützt“, dann
sagen wir und dann sage ich: So soll es sein, so muss es
in Zukunft auch sein, aber so ist es heute noch nicht in
vollem Umfang.
Der im April 2004 vorgelegte Vorschlag für einen
Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in
Strafverfahren greift leider nur ganz wenige Aspekte des
Schutzes grundlegender Verfahrensrechte in Europa auf.
Weite Bereiche wie die Garantien einer fairen Beweisaufnahme und des Schutzes der Unschuldsvermutung
sind noch nicht angegangen worden. Eine Kodifizierung
des Verbots der Doppelbestrafung in Europa ist bislang
noch nicht zur Entscheidungsreife gekommen. Deswegen darf sich die Bilanzierung der Ergebnisse von Tampere als Voraussetzung für das Haager Programm nicht
darauf reduzieren, finde ich, die tatsächlich fehlende
Verabschiedung einiger der im Programm vorgesehenen
Rechtsakte zu beklagen. Im Rahmen des neuen Haager
Programms, das diese thematische Schwerpunktsetzung
von Tampere für den Aufbau einer harmonisierten Innen- und Rechtspolitik aufgreift, müssen wir im Sinne
des von mir beschriebenen Missverhältnisses die Arbeit
vielmehr dahin gehend voranbringen, dass die bisher
noch fehlenden Mindeststandards für Beschuldigtenrechte geschaffen werden. Ich möchte mich an dieser
Stelle ausdrücklich beim Bundesjustizministerium bedanken, das im Rahmen der Vorschläge Deutschlands
für das Mehrjahresprogramm 2004 bis 2009 genau die
Vorstellung des Deutschen Bundestages in die europäische Ebene eingebracht hat.
Nach einer „Eurobarometer“-Umfrage vom 12. März
dieses Jahres - damit komme ich zum Schluss - sind
70 Prozent der Bürger der Europäischen Union der Ansicht, dass gemeinsames Handeln der bessere Weg ist,
um Kriminalität zu bekämpfen. 90 Prozent sind aber sogar für die Festschreibung gleicher Verteidigungsrechte
in allen Mitgliedstaaten. Deshalb sage ich: Die Aufgabe
des Haager Programms muss eine doppelte sein: Europa
muss Sicherheit für die Grund- und Bürgerrechte der
Menschen sowie Sicherheit der Menschen vor Verbrechen und Gewalt schaffen.
Danke.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
beginne mit einem Vorgipfel, den viele EU-Parlamentarier als Sternstunde empfanden: Das EU-Parlament erzwang eine Neu- und Umbesetzung der künftigen EUKommission. Es verhinderte, dass mittelalterliche Positionen zum Beispiel in der Gleichstellungspolitik in der
EU Gewicht bekamen. Dieses Beispiel macht aber zugleich auch eine Schattenseite des EU-Parlaments deutlich: Es hat nach wie vor zu wenig Gewicht. Die EUPolitik wird in aller Regel von der Exekutive und den
Regierungen der Nationalstaaten dominiert. Das ist eine
nach wie vor bestehende Bruchstelle im EU-Gefüge. Damit bleibt die EU hinter üblichen Demokratiestandards
zurück.
({0})
Nun soll durch die künftige EU-Verfassung am Verhältnis von Parlament zu Kommission einiges verbessert
werden. Das ist gut und wichtig und wird von der PDS
im Bundestag begrüßt, auch wenn nach unserer Meinung
die angestrebten Änderungen längst nicht ausreichen.
Der bisherige Zustand aber, nach dem die EU-Bürgerinnen und -Bürger ein Parlament wählen dürfen, das bei
Lichte betrachtet kein richtiges ist, muss überwunden
werden, auch damit EU-Politik endlich transparenter, erkennbarer und bewertbarer wird.
Damit bin ich schon bei unserem Dauerthema. Viele
hier im Bundestag und auch viele Redner heute in der
Debatte beklagen, dass die EU einerseits immer wichtiger wird, andererseits aber von den Bürgerinnen und
Bürgern als fremd und weit weg von ihnen empfunden
wird. Das ist übrigens auch ein Einfallstor für Rechtsextremisten, das wir gemeinsam schließen sollten.
({1})
Zu diesem Problem trägt allerdings auch der Deutsche
Bundestag seinen Teil bei: Solange Sie sich weigern, die
Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, solange Sie eine
Volksabstimmung über die EU-Verfassung verweigern,
({2})
so lange nähren Sie auch das beklagte Problem. Deshalb
wiederhole ich die Forderungen der PDS: erstens Änderung des Grundgesetzes, damit auch auf Bundesebene
endlich mehr direkte Demokratie möglich wird,
({3})
zweitens eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung
auch in der Bundesrepublik und drittens ein EU-weites
Plebiszit über die EU-Verfassung am 8. Mai des nächsten Jahres, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.
({4})
Durch mehr Rechte für das EU-Parlament und mehr
Mitbestimmung der EU-Bürgerinnen und -Bürger
könnte übrigens auch eine andere Unart eingedämmt
werden: das üblich gewordene Spiel über die Bande. Wir
alle kennen Beispiele dafür. So manches, was daheim in
der Bundesrepublik nicht mehrheitsfähig ist, wird über
den Umweg EU eingespeist. Dort wird es in Richtlinien
gegossen und kehrt als bindendes EU-Recht nach
Deutschland zurück. Das stärkt nicht die Demokratie,
sondern umgeht sie. Ein praktisches Beispiel liegt vor
uns: Otto Schily ist ein Fan von persönlichen Daten. Er
sammelt sie und will sie in großen Dateien und kleinen
Dokumenten speichern - natürlich namens der Sicherheit. Seine Pläne fanden auch im Bundestag Widerhall,
insbesondere bei der CDU/CSU. Sie stießen aber insgesamt auf Skepsis. Von Datenschützern und Bürgerrechtlern werden sie ohnehin abgelehnt, und zwar strikt. Das
Gleiche gilt auch für mich und die PDS.
({5})
Nun ereilt uns die Erfassung biometrischer Daten doch,
von ganz oben, aus der EU. Mehr noch: Es sollen gemeinsam verfügbare Dateien angelegt werden, um
potenzieller Terroristen und Straftäter besser habhaft zu
werden. „Potenziell straffähig“ ist jeder und jede. Das ist
die Dimension, über die wir hier reden. Ich glaube nicht,
dass jede und jeder seine persönlichen Daten gern beim
Geheimdienst der Regierung Berlusconi abliefert. Ich
kann mir auch nur schwer vorstellen, dass sich Bürger
der Bundesrepublik über prophylaktische Vermerke
beim CIA oder beim „Heimatschutz“ der USA freuen.
Das aber ist bzw. wird Praxis dank EU-Bandenspiel.
Nun noch zu einem weiteren Gipfelthema der EU,
dem Stabilitätspakt. Er besagt, dass die nationale Verschuldung einen Umfang von 3 Prozent des jeweiligen
Haushaltes nicht übersteigen darf. Andernfalls drohen
drastische Strafen. Die PDS hat diese Regelung immer
abgelehnt, vor allem, weil es zu diesem Geldpakt keinen
adäquaten Sozialpakt gibt. Er wäre aber sehr wichtig, um
der EU-weit steigenden Arbeitslosigkeit, der wachsenden Verarmung großer Schichten und der ungehemmten
Privatisierung öffentlicher Leistungen zu begegnen.
({6})
Mein letzter Punkt zum Thema EU-Gipfel heißt „Verwunderung“; denn wenn ich es recht gelesen und gehört
habe, wurde die Wiederwahl des US-Präsidenten nicht
nur pragmatisch begrüßt, sondern „besonders“. Wenn
das stimmt, dann war das ein übler Kniefall vor jemandem, der die UNO missachtet, willkürlich Kriege entfacht und die Menschheit gefährdet.
({7})
Für eine EU, die das toleriert, ist die PDS nicht zu haben.
Wir wollen eine soziale, eine demokratische und eine
friedfertige EU.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Rüdiger Veit für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Zu den allgemeinen Zielsetzungen des
Haager Programms haben der Bundesaußenminister,
aber auch die Kollegin Schwall-Düren und der Kollege
Jerzy Montag einiges gesagt. Ich darf mir daher im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden, eher knappen Zeit
ein paar innenpolitische Anmerkungen und Hervorhebungen erlauben.
Zunächst einmal zum Komplex Biometrie- und Informationssysteme bzw. Visumspolitik. Wir finden
hierzu im Haager Programm die Absicht, das Schengener Informationssystem, genannt SIS II, das Visainformationssystem, genannt VIS, und Eurodac zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und der Grenzkontrolle
besser miteinander zu verbinden. Ich glaube, in dieser
Zielsetzung stimmen wir alle überein. Ihnen, Frau Pau,
möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Machen
Sie sich da keine Sorgen! Wir werden sorgfältig darauf
achten, dass dabei die Einhaltung der Grundrechte und
auch der Maßstäbe des Datenschutzes, wie wir sie kennen, gewährleistet wird, wie das auch der Rat beabsichtigt hat.
({0})
Erklärtermaßen sollen Mindestnormen für nationale
Identitätsausweise entwickelt und die Aufnahme biometrischer Identifikatoren in Reisedokumente, also in Visa,
in Aufenthaltstitel und in die Reisepässe der EU-Bürger,
sowie auch in die Informationssysteme vorbereitet und,
was die Visa angeht, bis Ende des Jahres 2007 rasch verwirklicht werden. Ich bin mir sicher - auch das sage ich
an Ihre Adresse, Frau Pau -, dass wir diese Bestrebungen - die wir vom Grundsatz her für richtig halten und
die auch immer das Anliegen von Bundesinnenminister
Otto Schily waren -, diese Aufgabe sei auf europäischer
Ebene einheitlich anzugehen, sorgfältig beobachten und
kritisch begleiten werden.
Bei den Stichworten Terrorismusbekämpfung und
polizeiliche Zusammenarbeit finden wir nicht nur als
Ziel, sondern als die ausdrücklich so formulierte Voraussetzung - ich zitiere -,
dass die Mitgliedstaaten die Befugnisse ihrer Nachrichten- und Sicherheitsdienste nicht nur zur AbRüdiger Veit
wehr von Bedrohungen der eigenen Sicherheit, sondern gegebenenfalls auch zum Schutz der inneren
Sicherheit der anderen Mitgliedstaaten nutzen; den
zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten
alle ihren Diensten vorliegenden Informationen,
- ich wiederhole: alle ihren Diensten vorliegenden Informationen die Bedrohungen der inneren Sicherheit eines der
anderen Mitgliedstaaten betreffen, unverzüglich zur
Kenntnis bringen …
An anderer Stelle heißt es, dass mit Wirkung vom
1. Januar 2008 unionsweit ein Strafverfolgungsbeamter
alle für die Erfüllung seiner Aufgaben nötigen Informationen auch aus anderen Mitgliedstaaten erhalten soll.
An dieser Stelle fragt man sich natürlich unwillkürlich, wie eigentlich die Bundesrepublik ihre so eingegangenen oder noch einzugehenden Verpflichtungen auf europäischer Ebene erfüllen will, solange wir diese
Aufgabe noch nicht einmal bei uns selbst im Lande auch
nur annähernd befriedigend gelöst haben. Ich nenne hier
beispielsweise den meines Erachtens völlig unnötigen
Bestand eigenständiger Landesämter für Verfassungsschutz und höchst unzureichende Ermittlungskompetenzen des Bundeskriminalamtes. Viele der diesbezüglichen
Vorstellungen von Bundesinnenminister Otto Schily finden ihre aktuelle Begründetheit auch in dem hier dargelegten europäischen Kontext. Einiges davon, wenn nicht
vieles oder gar alles, sollte von uns Bundespolitikern gegenüber antiquierten Föderalismusdebattierern ausdrücklich unterstützt werden.
({1})
Um einmal ein Beispiel herauszugreifen: Können Sie
mir vielleicht erklären, was das spezifisch Schützenswerte etwa einer Bremer Landesverfassung ist, dass zu
ihrem Schutz eigens zwei Dutzend Beamte aufgeboten
werden müssen, die vielleicht wesentlich sinnvoller als
Außenstelle eines Bundesamtes arbeiten würden?
({2})
Wie gesagt, auch hier wird ausdrückliche Zustimmung
signalisiert.
({3})
- Ich habe keinen ausgemacht, ich würde das aber auch
Nichtbremern - meinetwegen auch Hessen - in ähnlicher Weise sagen.
({4})
Bezogen auf Bremen ist das Beispiel eigentlich am niedlichsten und am deutlichsten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein wichtiger weiterer Punkt ist die Integration. Dieses Thema haben wir nicht nur im Zusammenhang mit den Beratungen des Zuwanderungsgesetzes erörtert und haben das
Jahrzehnt der Integration ausgerufen. Wir bemühen uns
jetzt um die Umsetzung, erleben aber gerade jetzt aktuell
und sogar auch in dieser Nacht in den Niederlanden,
dass Rückschläge bei dem Versuch der - offensichtlich
misslungenen - Integration zu beklagen sind.
Deswegen ist es notwendig, sinnvoll und richtig, dass
die europäischen Regierungschefs die zentralen Forderungen der Integration noch einmal vorangestellt haben,
indem sie ausgeführt haben: Integration umfasst Antidiskriminierungspolitik. Sie setzt selbstverständlich Respekt vor den Grundwerten des Gastlandes voraus und erstreckt sich vor allem auch auf Beschäftigung und
Bildung. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, es handele sich um einen fortlaufenden, wechselseitigen Prozess, an dem sich die sich rechtmäßig aufhaltenden
Migranten und die Gesellschaft des Gastlandes beteiligen sollten.
({5})
Am Rande sei bemerkt: Ich fand es erfreulich, dass
der Europäische Rat nicht nur im Dezember 2003 vorgeschlagen hat, mit aller Entschlossenheit gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vorzugehen, sondern dass auch jetzt vorgeschlagen worden ist,
den Aufgabenbereich der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in
Wien dahin gehend auszuweiten, dass sie zu einer Agentur für Menschenrechte wird.
Bei der Asyl-, Migrations- und Grenzpolitik wurde
eine zweite Phase - Beginn 1. Mai 2004 - eingeleitet;
was wir sehr begrüßen. Zugleich wird angemahnt, die
erste Phase durch baldige einstimmige Annahme der
Asylverfahrensrichtlinie abzuschließen. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang daran, dass der Inhalt dieser
Richtlinie bereits im Frühjahr dieses Jahres politisch
konsentiert wurde, aber in Bezug auf die Frage der Liste
der sicheren Drittstaaten noch Dissens besteht. Auch
wenn es in der deutschen Flüchtlings- und Anerkennungspraxis insoweit keine aktuellen Probleme gibt,
sollten wir aus deutscher Sicht einer Ausweitung der
Liste sicherer Drittstaaten auf solche Staaten, in denen
die Genitalverstümmelung immer noch zur gesellschaftlichen Realität gehört, wie etwa Mali und Benin, widersprechen.
({6})
Nun komme ich auf das Stichwort „Auffanglager“ des
Kollegen Wolfgang Schäuble zurück. Was die Schaffung
einer einheitlichen europäischen Asylbehörde oder auch
die Frage von Aufnahmeeinrichtungen in Transitund Herkunftsländer angeht, würde ich am liebsten die
entsprechenden Passagen aus dem Haager Programm
wörtlich zitieren:
In dieser Hinsicht
- gemeint ist die zweite Phase bis 2010 ersucht der Europäische Rat die Kommission, eine
Studie über die Zweckmäßigkeit, die Möglichkeiten
und Schwierigkeiten sowie über die rechtlichen und
praktischen Auswirkungen einer gemeinsamen Behandlung von Asylanträgen in der Union vorzulegen.
Ferner sollten in einer gesonderten, in enger Absprache mit dem UNHCR durchzuführenden Studie
die Vorteile, die Zweckmäßigkeiten und die Durchführbarkeit einer gemeinsamen Behandlung von
Asylanträgen außerhalb der EU geprüft werden,
wobei dieses Verfahren die gemeinsame europäische Asylregelung ergänzen und den einschlägigen
internationalen Normen entsprechen würde.
Weiterhin heißt es dort:
Der Europäische Rat stellt fest, dass unzureichend
regulierte Wanderungsbewegungen zu humanitären
Katastrophen führen können. Er verleiht seiner großen Besorgnis über die menschlichen Tragödien
Ausdruck, die sich im Mittelmeer bei Versuchen
abspielen, illegal in die Europäische Union einzureisen.
In diesen Formulierungen kommt eine durchaus angemessene kritische Distanz zum Ausdruck. Die Prüfaufträge verdeutlichen, dass auch der Europäische Rat zu
diesem Themenkomplex mehr Fragen als Patentlösungen oder Antworten parat hat. Insoweit befinden wir uns
hier in diesem Parlament und auch in den Koalitionsfraktionen in guter Gesellschaft und werden diesen Prozess kritisch begleiten.
Zum Thema Arbeitsmigration kann ich aus Zeitgründen leider nicht mehr kommen, obwohl Sie, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, mir das Stichwort gegeben haben.
Ich will Ihnen aber auch zu den Themen „Legale Zuwanderung“ und „Wechselbeziehung zur Flüchtlingspolitik“ etwas ins Stammbuch schreiben
Das müssen Sie aber bitte knapp halten.
- das wird geschehen -, was Kofi Annan - so viel
Zeit muss sein - bei der Verleihung des „Sacharow-Preises für geistige Freiheit“ vor dem Europäischen Parlament gesagt hat:
Einwanderer brauchen Europa. Aber Europa
braucht auch Einwanderer!
Binnen der kommenden 50 Jahre werde die alternde
Bevölkerung der erweiterten Europäischen Union drastisch sinken. Daher seien wir zwingend auf Zuwanderer
angewiesen. Er plädiert im Übrigen für „breite Wege für
legale Zuwanderung“. Er erinnerte die Europaabgeordneten daran, dass eine restriktive Asyl- und Einwanderungspolitik die Menschen massenhaft in die Fänge krimineller Schlepperbanden treibe und damit zahllose von
ihnen in den Tod.
({0})
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, sollten wir bei den einschlägigen Diskussionen hier im Haus - jetzt richte ich meine
Worte an und meine Augen ausdrücklich auf die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU - häufiger bedenken, bevor wir mit populistischen Parolen versuchen,
Stimmung zu machen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Otto Schily.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Weil von mehreren Rednern die Frage angesprochen
worden ist, wie wir uns bezüglich der Migration aus
Nordafrika nach Europa verhalten sollen, scheint es mir
geboten, Sie über einen Sachverhalt zu informieren.
Bereits Ende November des Jahres 2003 ist vom Rat
der Europäischen Union ein Programm zur Bekämpfung
der illegalen Migration über das Mittelmeer beschlossen
worden. Es gibt also bereits einen Beschluss. In diesem
Beschluss ist enthalten, dass die Personen, die an der illegalen Einreise über das Mittelmeer gehindert werden,
in ihre Heimatländer zurückgebracht werden müssen
({0})
und dass man dafür eine Zwischenunterbringung in den
Transitländern schaffen muss. Es heißt dort wörtlich,
dass dafür entsprechende Aufnahmeeinrichtungen geschaffen werden müssen.
({1})
Dieser Beschluss sollte sich vielleicht einmal herumsprechen, damit über dieses Thema etwas sachlicher diskutiert werden kann, als es mitunter in der Öffentlichkeit
geschehen ist.
({2})
Als zweiten Punkt habe ich zur Sprache gebracht,
dass wir uns die Frage stellen müssen, was mit den Menschen geschieht, die sich auf den Flüchtlingsstatus berufen. Ich habe gesagt - übrigens in Übereinstimmung mit
dem EU-Kommissar Vitorino -: Man muss der Frage
nachgehen, ob es nicht Sinn macht, sich über das Schutzbedürfnis solcher Personen schon außerhalb der Grenzen
der Europäischen Union ein Bild zu machen und dann
darüber zu entscheiden, wie wir diesen Personen helfen
können. Dazu habe ich geäußert: Auch wenn es um ein
festgestelltes Schutz- und Hilfebedürfnis geht, ist es
richtig, dem zu folgen, was grundsätzlich vom UNOFlüchtlingskommissar immer wiederholt wird und was
meine Zustimmung findet: dass wir den Schutz und die
Hilfe für die Flüchtlinge tunlichst in der Region, aus der
sie kommen, organisieren.
Das ist der Stand der Diskussion. Wenn einige meinen, zu dem Wort „Lager“, das ich nie gebraucht habe,
auf kritische Distanz gehen zu sollen, wie ich es soeben
gehört habe, ist es vielleicht ganz sinnvoll, solche kritischen Distanzen auf einer sachlichen Grundlage noch
einmal zu überprüfen, damit man über einen Sachverhalt
redet und nicht über ein Mediengespinst.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Jahr 2000 haben die europäischen Regierungschefs in Lissabon beschlossen, dass die Europäische Union bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der
Welt werden soll. Als ob man so etwas einfach beschließen könnte! Wissen Sie, ich hatte in meinem Büro eine
Zimmerpflanze, die mir vertrocknet ist. Als ich sie gekauft habe, habe ich beschlossen, dass sie grünt, wächst
und gedeiht; aber dann habe ich das Gießen und Düngen
vergessen und so ist es halt gekommen.
({0})
Ebenso haben wir heute wieder erlebt, wie die Regierung zum x-ten Mal beschließt, jetzt endlich erfolgreich
zu werden.
({1})
Sie haben die letzten sechs Jahre darauf verwendet,
scheibchenweise Reformen durchzuführen, die Sie vorher im Bundesrat blockiert haben, Stichwort: Steuerreform. Sie haben die Zeit darauf verwendet, Reformen
durchzuführen, die Sie zuvor rückgängig gemacht haben. Stichworte sind: 400-Euro-Jobs, Selbstbeteiligung
im Gesundheitswesen oder der demographische Faktor
in der Rente. Sechs Jahre Fehlerkorrektur!
Das zarte Pflänzchen „Wachstum“, das 1998 vor dem
Regierungswechsel aufkeimte - vielleicht erinnern Sie
sich daran, dass der Bundeskanzler schon vor dem Regierungswechsel den Aufschwung für sich in Anspruch
genommen hat und gesagt hat, dass es sein Aufschwung
sei -, haben Sie erst vertrocknen lassen. Jetzt sind Sie
dabei, es mithilfe der Opposition mühsam aufzupäppeln.
({2})
Deutschland war der tragende Ast der europäischen
Wirtschaft. Das ist vorbei. Kollegin Schwall-Düren, das
liegt nicht an der Weltwirtschaft. Sonst müssten die Briten andere Auswirkungen der Weltwirtschaft spüren,
was natürlich nicht der Fall ist. Der Grund, weshalb wir
uns in dieser wirtschaftlichen Situation befinden, ist,
dass in Deutschland die Hausaufgaben nicht gemacht
wurden, die man aber machen muss, um in Europa weiterzukommen.
({3})
Heute sind Sie an einem Punkt angelangt, an dem Sie
sich angesichts einer komplett verfehlten Wirtschaftsund Finanzpolitik genötigt sehen, Hand an den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu legen. Dieser Pakt war
eine vertrauensbildende Maßnahme bei der Euroeinführung.
({4})
Soweit ich das übersehen kann, bestand damals Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg, dass diese vertrauensbildende Maßnahme notwendig ist. Wer jetzt so vorgeht, wie Sie es vorhaben, wer jetzt Hand an den
Stabilitätspakt legt, der beschädigt nicht nur sein eigenes
Ansehen, er beschädigt nicht nur die Europäische Union
und den Euro, sondern er beschädigt auch die gesamte
deutsche Politik.
({5})
Tun Sie doch bitte nicht so, als ginge es Ihnen um
Haushaltsspielräume für Wachstum! Ihnen müsste doch
bekannt sein, dass Deficit-Spending-Strategien wie
Strohfeuer verpuffen. Die Wirklichkeit sieht doch so aus:
Sie wollen einen Blankoscheck für hemmungslose
Staatsverschuldung.
({6})
Den wird Ihnen die Opposition nicht ausstellen.
({7})
Der Spielraum, den die Maastricht-Kriterien, beispielsweise das 3-Prozent-Kriterium, aufweisen, muss
angesichts der demographischen Entwicklung künftig
ausreichen. Wenn Sie schon keine Sorge um die langfristige Stabilität des Euro drückt, wenn Sie schon europäische Vereinbarungen nicht ernst nehmen, dann sollten
Sie doch bitte wenigstens das Interesse der nachfolgenden Generation berücksichtigen.
Wir laufen im Jahr 2004 auf eine Rekordverschuldung in Höhe von 43,7 Milliarden Euro zu. Finanzminister Eichel kündigt bereits den nächsten Korrekturbedarf
an, verbunden mit einer - ich sage es ganz deutlich - lächerlichen und unpatriotischen Diskussion um den
3. Oktober.
({8})
Jeder fünfte Euro der Steuereinnahmen des Bundes geht
für Zinsen drauf. Die Schuldenuhr rast mit 2 660 Euro
pro Sekunde auf den Rekordschuldenstand von
1,41 Billionen Euro für das gesamte deutsche Gemeinwesen zum Jahresende zu. Die Pro-Kopf-Verschuldung
beträgt derzeit knapp 17 000 Euro.
Ich habe einmal folgendes Gedankenspiel durchgeführt:
({9})
Wenn wir ein durchschnittliches Wachstum in Höhe von
2 Prozent unterstellen - das hätten Sie gerne - und eine
Neuverschuldung in Höhe von 3 Prozent annehmen,
dann würde bei dem prognostizierten Bevölkerungsrückgang auf 74,2 Millionen Menschen die Pro-Kopf-Verschuldung im Jahr 2040 rund 66 000 Euro betragen.
({10})
Das ist in etwa das Vierfache des heutigen Standes.
Noch schlimmer sähe es aus, wenn man nicht die Gesamtbevölkerungszahl, sondern nur die Zahl der Erwerbstätigen betrachten würde. Dann würde die Alterung noch stärker durchschlagen. Diese Zahlen muss
sich jeder vor Augen halten, der den Stabilitätspakt aufweichen will.
({11})
Ihre Strategie heißt: Augen zu und durch. Mir ist auch
klar, warum. Bevor ich Abgeordneter geworden bin, war
ich Banker. Ich habe vielfach erlebt, wie sich Leute verhalten, denen das Wasser bis zum Hals steht: Luftbuchungen und kreative Finanzierungen. Der Preis für das
kurzfristige Überleben hat nie eine Rolle gespielt. Es ist
doch ganz deutlich: Herr Eichel diskutiert offen darüber,
Forderungen gegenüber der Telekom und der Post zu
verkaufen. Das käme uns nicht nur wegen des Abschlags, der in einem solchen Fall erheblich über dem
Zins liegt, den man für die normale Verschuldung zahlen
würde, sondern auch deswegen teuer zu stehen, weil die
langfristigen Verpflichtungen für Pensionen bei der Post
und der Telekom als Verpflichtungen bei der Bundesrepublik verbleiben würden. Treffen würde das die junge
Generation.
({12})
Pensionszusagen und damit Eventualverbindlichkeiten haben wir genug. In keinem öffentlichen Haushalt
werden diese berücksichtigt. Man müsste sie eigentlich
mit einrechnen. Stattdessen schlagen Sie vor, dass man,
um den Stabilitätspakt der Form halber erfüllen zu können, bestimmte Ausgaben herausrechnen sollte: die
Franzosen die Rüstungsausgaben, Deutschland die Ausgaben für Bildung und Forschung oder die Nettozahlungen an die EU.
Ich sage Ihnen ganz offen: Jeder Gerichtsvollzieher
wird Ihnen bestätigen, dass man Schulden nicht wegdiskutieren bzw. wegbeschließen kann, sondern dass man
sie am Ende zahlen muss. Für mich liegt die Vermutung
nahe: Wer mit einem Pakt, mit einer klaren Vereinbarung, so umgeht wie die Bundesregierung, nimmt eine
bloße Strategievereinbarung wie die von Lissabon erst
recht nicht ernst. Belege dafür gab es heute. Der Bundesaußenminister spricht die Telekommunikation als
Schlüsselmarkt an. Als Sie aber für teures Geld UMTSLizenzen versteigert und die Branche beschädigt und benachteiligt haben, haben Sie das offenkundig vergessen.
Heute wurde auch über Forschung, Bildung und
Innovationen gesprochen. Dabei wird immer über das
Geld diskutiert. Das alles ist aber nicht nur eine Frage
des Geldes. Sie müssen auch die Frage beantworten, wo
Sie Forschung, Bildung und Entwicklung vorantreiben
wollen. Diese Frage beantworten Sie nur negativ. Sie sagen: Die Grüne Gentechnik wollen und brauchen wir
nicht. Die Chemie wollen und brauchen wir nicht.
({13})
- Durch REACH wird doch der Chemiestandort Europa
insgesamt beschädigt. - Die Kerntechnologie wollen
und brauchen wir nicht.
({14})
Meine Damen und Herren, beantworten Sie die Frage,
wo die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland liegen
soll und in welchen Bereichen Sie Bildung und Forschung vorantreiben wollen! Die Geisteswissenschaften
allein werden zu keinem Erfolg führen.
({15})
Vielfach ist von Steuerharmonisierung die Rede. Einheitliche Bemessungsgrundlagen werden gefordert; auch
das ist richtig. Dann müssten Sie aber auch darüber mit
den neuen europäischen Kollegen aus den Ländern reden, die Steuerdumping betreiben und sich ihre Haushalte über die Europäische Union und den Nettozahler
Deutschland ausgleichen lassen.
({16})
Wir beklagen ein Übermaß an Bürokratie; Kollegin
Schwall-Düren hat dies ausgeführt. Wo bleiben dann
aber die Initiativen? Wohlgemerkt, seit der letzten Bundestagswahl haben Sie mehr als 500 neue Rechtsverordnungen und an die 100 Gesetze erlassen. Das ist Bürokratieabbau?
({17})
Schauen Sie sich einmal abgesehen von Hartz IV
- diese Reform finde ich insgesamt positiv; das sage ich
ganz offen - Ihre Reformen an: Im Rahmen der Ich-AGs
haben Sie 500 000 Arbeitslose weniger pro Jahr versprochen. 180 000 Gründungen sind tatsächlich in zwei Jahren erfolgt. 30 000 haben aufgegeben. Dafür wurden aus
Beitragsmitteln 1,1 Milliarden Euro bis zum Jahresende
zur Verfügung gestellt.
Sie sollten ein Wort von Altkanzler Helmut Schmidt
beherzigen:
Nicht alle Reformen kosten Geld und nicht alles,
was Geld kostet, ist deshalb schon eine Reform.
Vielen herzlichen Dank.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Vogelsänger,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Dr. Nüßlein, Sie sind Nachfolger im Wahlkreis von
Dr. Theo Waigel. Er war nicht gerade ein Sparkommissar gewesen; das sollten wir in diesem Hause einmal
festhalten.
({0})
Europa ist unsere gemeinsame Zukunft. Auf dem
Weg zu einem gemeinsamen Europa haben wir einiges
erreicht. Bei aller vielleicht nicht immer ganz unberechtigten Kritik an Europa sollte man dies nicht vergessen.
Ich möchte nur daran erinnern, dass noch vor 15 Jahren
hier am Reichstag eine Mauer stand. Diese ist auf Druck
der ostdeutschen Bevölkerung gefallen. Die deutsche
Einheit aber wurde nur im gesamteuropäischen Konsens
möglich. Wir haben Europa also sehr viel zu verdanken.
({1})
Dies war der entscheidende Schritt für die europäische
Einigung. Daran, dass die Europäische Union einmal
25 Mitgliedstaaten haben wird, hat damals allerdings
niemand zu denken gewagt.
In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in
Brüssel am 4. und 5. November werden auf der Basis einer Analyse des Iststandes das im europäischen Einigungsprozess Erreichte und die Aufgaben für die Zukunft dargestellt. Neben den Schwerpunkten in der
Außen- und Sicherheitspolitik und in der gesamteuropäischen Innenpolitik steht die Vorbereitung der Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie in den Schlussfolgerungen an erster Stelle. Diese Halbzeitbilanz - das
kann gar nicht anders sein; denn im Jahr 2000 lagen
ganz andere Voraussetzungen vor - wird mit Sicherheit
nicht unkritisch ausfallen. Aber in Deutschland ist einiges auf den Weg gebracht worden. Im Rahmen dieses
eingeleiteten Prozesses hat die Bundesregierung, hat
Gerhard Schröder mit der Umsetzung der Agenda 2010
wichtige politische Forderungen realisiert.
({2})
Die Umsetzung insbesondere der Reformen am Arbeitsmarkt ist eine große Kraftanstrengung, bei der sich alle,
auch die Opposition, einbringen sollten.
Einen weiteren Schwerpunkt der Lissabon-Strategie
bildet die Forderung nach größeren Anstrengungen bei
den Investitionen in Forschung und in die allgemeine
sowie berufliche Bildung. Forschung und Entwicklung
haben absolute Priorität. Die Debatte zur Vorbereitung
der Halbzeitbilanz im März 2005 wird sich mit Sicherheit in besonderer Weise auf diesen Punkt konzentrieren.
Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir dafür
deutliche Zeichen gesetzt. Jetzt liegt es an Ihnen, meine
Damen und Herren von der Opposition, die Mittel, die
bisher für die Eigenheimzulage zur Verfügung gestellt
wurden, im Bundesrat in eine nachhaltige Förderung des
Wissenschaftsstandortes Deutschland umzuwandeln.
({3})
Sie fordern doch immer einen umfassenden Subventionsabbau. Fangen Sie jetzt damit an! Gemeinsam sollten wir uns weiterhin für die Erhöhung der Mittel im
nächsten, dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm einsetzen, wohlgemerkt innerhalb der Obergrenze von
1 Prozent.
Eine weitere Aufgabe, die in den Schlussfolgerungen
des Europäischen Rates in Brüssel genannt wird, ist die
Bekämpfung von Schattenwirtschaft und illegaler
Beschäftigung. An dieser Stelle sei den Tausenden Kolleginnen und Kollegen der Bundesagentur für Arbeit,
des Bundesgrenzschutzes, der Polizei und der Finanzbehörden gedankt, die die illegale Beschäftigung täglich
bekämpfen.
({4})
Durch diese Arbeit und durch die Maßnahmen der Bundesregierung - ich nenne nur die Stichworte Minijobs,
Ich-AGs und Eingliederungshilfen für Arbeitnehmer konnten, insbesondere in großen Städten wie Berlin,
erste sichtbare Erfolge bei der Zurückdrängung illegaler
Beschäftigung erreicht werden.
({5})
Trotzdem bedarf es weiterer, zusätzlicher Anstrengungen. Vor allen Dingen brauchen wir ein entsprechendes
gesellschaftliches Klima.
Sehr geehrte Damen und Herren, wie sind die
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Brüssel
aus der Sicht der Region, aus der ich komme - einer
Grenzregion zu Polen -, zu bewerten? Der Rat weist darauf hin, dass das Bewusstsein aller Bürger für Europa
gestärkt werden muss. Gestern haben wir zu diesem
Thema - das kann man fraktionsübergreifend so sagen eine sehr interessante Anhörung im EU-Ausschuss
durchgeführt, auf die ich kurz eingehen möchte.
Der geschäftsmäßige Umgang der Menschen auf beiden Seiten der Grenze ist bereits heute Realität. Die Anerkennung der Realitäten ohne Wenn und Aber bildet gerade für die Entwicklung eines freundschaftlichen und
menschlichen Miteinanders in der europäischen Völkerfamilie eine solide Basis. Die neue Koordinatorin für das
deutsch-polnische Verhältnis, Frau Professor Gesine
Schwan, wird diesen Prozess - dessen bin ich mir sicher - in vorbildlicher Weise befördern.
({6})
Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder
mit über einem Drittel ausländischer, insbesondere osteuropäischer Studenten unterstützt mit ihrer Ausrichtung
die Stärkung des Bewusstseins für ein neues Europa.
Dies färbt natürlich auch auf die Menschen in der Region positiv ab. Ein Osteuropa-Kompetenzzentrum in
Frankfurt/Oder würde diesen Prozess nicht nur substanziell, sondern auch mental unterstützen.
Europa den Menschen vermitteln heißt aber auch,
dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auf europäischer,
nationaler und regionaler Ebene höchste Priorität beizumessen. Dafür wurde und wird viel getan, aber es zeigt
sich schon fünf Monate nach der EU-Erweiterung, dass
dies möglicherweise nicht ausreichen wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich habe nur einige Aspekte der Schlussfolgerungen von Brüssel beleuchtet, doch an diesen lässt
sich exemplarisch festmachen, welchen Weg die Europäische Union schon zurückgelegt hat und welcher Weg
noch vor uns liegt. Es bleibt eine spannende Aufgabe,
Europa zu gestalten. Ich wünsche uns - bei allen, unbestrittenen Problemen - ein wenig mehr Mut, ein wenig
mehr Zuversicht beim europäischen Einigungsprozess.
Das sind wir unseren Menschen in Europa schuldig.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Schockenhoff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Tagen wurde in Rom in einer feierlichen
Zeremonie der Vertrag der europäischen Verfassung unterschrieben. Am Wochenende befasste sich der EUGipfel mit der Lissabon-Strategie, mit der Europa bis
2010 zur dynamischsten Wachstumsregion weltweit gemacht werden soll. Müsste eine Regierungserklärung
nach solchen Ereignissen nicht Aufbruchstimmung, Optimismus und europäisches Selbstbewusstsein vermitteln?
({0})
Mit seinem müden, gelangweilten und griesgrämigen
Aktenvortrag hat der Außenminister heute Morgen Antiwerbung in Sachen Europa betrieben.
({1})
Seit dem Ende des Kalten Krieges waren wir uns im
Bundestag auf allen Seiten einig, dass mit der Osterweiterung der Europäischen Union ihre politische Vertiefung einhergehen muss. Tatsächlich hat die Erweiterung
ohne die erforderlichen Integrationsfortschritte stattgefunden. Im Gegenteil, derzeit geben uns deutliche Desintegrationstendenzen in der EU Anlass zu großer Sorge.
Die Europäische Union kann ihr Potenzial, Wachstum
und Beschäftigung zu fördern, nicht entfalten, solange
die beiden größten Volkswirtschaften - vor allem
Deutschland, aber auch Frankreich - ihre Strukturprobleme nicht lösen. Der Bundeskanzler hat dazu viel zu
spät Anlauf genommen, dann mithilfe der Opposition einen Schritt getan und tritt jetzt wieder auf der Stelle.
Herr Müntefering nennt das „das Ende der Zumutungen“.
Auf dem Brüsseler Gipfel plädierte der Bundeskanzler für eine Aufweichung der Stabilitätskriterien, weil er
wie weiland Lafontaine glaubt, dauerhaftes Wachstum
durch höhere Staatsverschuldung erzeugen zu können.
Genau das, Herr Müntefering, ist eine Zumutung - für
kommende Generationen. Nur wer sich den schwierigen
Problemen - Umbau des Gesundheitswesens und der Alterssicherung, Vereinfachung des Steuerrechtes, Flexibilisierung des überregulierten Arbeitsmarktes - stellt und
Widerstände überwindet, kann Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Europa nachhaltig fördern.
({2})
Der Verfassungsvertrag sieht einen Präsidenten des
Europäischen Rates und einen Europäischen Außenminister vor. Das sind wichtige Schritte, die Europäische
Union zu einem starken internationalen Akteur zu machen.
({3})
In ihrer praktischen Politik aber hat die Bundesregierung
eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union verhindert: durch die Alleingänge von
Schröder und Chirac, nicht nur in der Irakfrage. Im Interesse unserer eigenen Sicherheit muss sich die Europäische Union stärker im Nahen und Mittleren Osten und
beim Wiederaufbau des Iraks engagieren. So steht es übrigens in den Schlussfolgerungen des Rates.
Nun hat der Kollege Schäuble von einem Gespräch
mit dem NATO-Oberbefehlshaber berichtet, wonach dieser gesagt habe, es sei problematisch, in integrierten
NATO-Stäben dabei zu sein, aber a priori zu erklären, im
Einsatzfall die deutschen Soldaten zurückzuziehen. Daraufhin hat sich der Abgeordnete Fischer zu einer Kurzintervention gemeldet und zum wiederholten Mal dem
Kollegen Schäuble vorgeworfen, er fordere den Einsatz
deutscher Soldaten im Irak. Das war beim letzten Mal
wahrheitswidrig und das war auch heute wieder wahrheitswidrig.
({4})
Der Kollege Fischer hat uns auch explizit gesagt, weshalb er diese Kurzintervention gemacht hat. Er sagte
nämlich, dass man darüber 2006 noch einmal abstimmen
lassen werde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundesregierung vor einer engen und vertrauensvollen Abstimmung mit den EU-Partnern und mit den Vereinigten
Staaten aus rein wahltaktischen Gründen ständig betont,
woran sich Deutschland unter keinen Umständen beteiligen werde - nicht im NATO-Rahmen und auch nicht im
EU-Rahmen -, dann schwächt das die politische Rolle
Europas und die transatlantischen Beziehungen. Lieber
Kollege Fischer, die Wähler sind nicht so blöd, dass sie
das nicht merken.
({5})
Bei der Reform der Vereinten Nationen strebt die
Bundesregierung für Deutschland einen ständigen Sitz
im Sicherheitsrat an, mit der Begründung, dass ein europäischer Sitz heute nicht erreichbar sei. Für diesen Prestigegewinn der nationalen Außenpolitik will diese Regierung den Preis bezahlen, dass es auf Jahrzehnte
keinen europäischen Sitz mehr geben wird. Damit opfert
sie ein wichtiges Motiv für eine integrierte europäische
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch das
trägt zur Desintegration der Europäischen Union bei.
Die CDU/CSU-Fraktion bleibt dem Ziel einer wertorientierten Politischen Union verbunden. Um den politischen und ideellen Zusammenhalt der EU nicht zu
gefährden, ist die privilegierte Partnerschaft der richtige
Weg zur Einbindung der Türkei in Europa. Wenn die
Bundesregierung beim nächsten EU-Gipfel am 17. Dezember 2004 ausschließlich über eine Vollmitgliedschaft
verhandeln will, dann gefährdet sie die politische Integration der EU.
({6})
So sieht es im Übrigen auch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Niedersächsischen Landtag, Sigmar Gabriel. In
einem „Focus“-Interview in der vergangenen Woche
sagte er - ich zitiere Es gehört zur Political Correctness, dass wir immer
für EU-Erweiterungen sind und wenig über Vertiefung reden. Aber erst wenn Dinge wie eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik
geklärt sind, können wir über weitere Beitritte reden.
Sigmar Gabriel fährt fort:
Zurzeit brauchen wir die Türkei-Debatte doch nur,
um uns vor unseren eigenen Aufgaben zu drücken.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo
er Recht hat, hat er Recht.
({7})
Herr Ramsauer, bitte.
Frau Präsidentin! Wir sind bereits am Ende dieser Debatte. Da ich der Bundesregierung bewusst die Chance
geben wollte, den einen oder anderen Bundesminister
herbeizuholen, möchte Sie erst jetzt fragen, was Sie davon halten, dass große Teile der Aussprache zu einer
Regierungserklärung - vor allem der letzte Teil der Debatte - ohne ein einziges Mitglied der Bundesregierung
geführt wurden. Ist das nicht eine ausgesprochene Missachtung des Parlaments?
({0})
Es ist eigentlich nicht üblich, dass die Sitzungsleitung, die zur Neutralität verpflichtet ist, einzelne Vorgänge im Parlament kommentiert.
Ich bin aber eben informiert worden, dass Außenminister Joschka Fischer - mit Zustimmung Ihres Geschäftsführers, Herrn Kauder ({0})
in der Sitzung des Haushaltsausschusses ist.
({1})
Das ist nun einmal eine parlamentarische Verpflichtung,
die zu den Aufgaben eines Ministers gehört. Wenn solche Ausschüsse parallel zum Plenum tagen, wird ja die
Zustimmung der anderen Geschäftsführer eingeholt. So viel nur dazu.
Wenn Sie etwas beantragen oder eine Debatte darüber
beginnen wollen, dann können Sie das tun. Eine Diskussion mit dem Präsidium ist aber normalerweise nicht üblich.
({2})
Frau Präsidentin, vielleicht können Sie mir trotzdem
noch einmal das Wort erteilen. - Auf dieses Argument
Ihrerseits war ich natürlich vorbereitet. Was Sie sagen,
trifft zwar zu, aber das ist keine Antwort auf meine
Frage; denn die Bundesregierung umfasst nicht nur den
Außenminister, sondern auch andere Bundesminister. Es
wäre ohne weiteres möglich gewesen, sie ins Plenum zu
holen. Früher wäre so etwas nicht passiert, da hätte mindestens ein anderer Bundesminister auf der Regierungsbank gesessen.
Jedenfalls sehe ich, dass Sie keinen Antrag stellen
wollten. Daher nehme ich Ihren Beitrag als eine Art
Kurzintervention; eine solche Möglichkeit sieht unsere
Geschäftsordnung ja vor.
({0})
Möchte noch jemand dazu das Wort ergreifen? - Frau
Schwall-Düren, bitte.
Herr Ramsauer, sind Sie so freundlich, zur Kenntnis
zu nehmen, dass auf Wunsch Ihrer Fraktion heute Morgen zunächst Fraktionssitzungen stattgefunden haben,
die dann noch länger als erwartet dauerten, und deswegen die Debatte eine Stunde später als ursprünglich geplant begonnen hat, wodurch natürlich die Terminpläne
der Minister durcheinander gebracht wurden?
({0})
Damit schließe ich zu diesem Punkt die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach, Maria
Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Vermeidung von Spätabtreibungen - Hilfen
für Eltern und Kinder
- Drucksache 15/3948 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Psychosoziale Beratungsangebote bei Schwangerschaftsabbrüchen nach medizinischer Indikation ausbauen
- Drucksache 15/4148 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Maria Böhmer.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jede Spätabtreibung ist eine Abtreibung zu viel. Deshalb
unternehmen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
heute erneut den Versuch, dass es hier im Deutschen
Bundestag zu einer tragfähigen Initiative kommt, damit
Spätabtreibungen vermieden werden.
Wir müssen Frauen und ihren Partnern, wir müssen
dem Kind, das sie erwarten, und wir müssen den Ärztinnen und Ärzten und den Hebammen die notwendige
Hilfe und Unterstützung geben. Darum geht es; das sage
ich in aller Deutlichkeit. Es geht nicht um die Bevormundung der Frau, wie es uns von Rot-Grün unterstellt
wird. Unser Ziel ist es, die Verzweiflung der Frauen zu
mindern. Das verdient unseren vollen Einsatz.
({0})
Ebenso klar möchte ich sagen, dass niemand bei uns Interesse an einer erneuten Diskussion über den
§ 218 StGB insgesamt hat.
({1})
Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt. Diesem Auftrag müssen wir endlich nachkommen.
Es gab im Jahr 2003 217 Spätabbrüche. Geht man davon aus, dass die Lebensfähigkeit des Kindes aufgrund
des medizinischen Fortschritts heute schon sehr viel früher gegeben ist, nämlich ab der 22. Schwangerschaftswoche, dann ist es im vergangenen Jahr sogar zu 337 Spätabbrüchen gekommen. Das mag manchem angesichts
von insgesamt 128 000 Schwangerschaftsabbrüchen pro
Jahr wenig vorkommen. Aber die Zahl ist kontinuierlich
gestiegen. Dabei ist noch die Dunkelziffer zu berücksichtigen; denn so mancher Schwangerschaftsspätabbruch
wird als Totgeburt registriert. Ich will hier eines klar sagen: Das ist keine Frage von Zahlen. Es geht hier um die
Frage: Wie können wir in einer besonders bedrückenden
Situation Leben schützen?
({2})
Diese Situation ist deshalb so bedrückend, weil Spätabbrüche zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem die Kinder bereits lebensfähig sind, weil sie Paare betreffen, die
sich ein Kind wünschen, und weil es um den Umgang
mit behindertem Leben geht. Ich hatte in den vielen Gesprächen, die wir fraktionsübergreifend geführt haben,
den Eindruck, dass wir uns darin einig waren - ich hoffe,
dass wir uns darin noch einig sind -, dass das Leben des
Kindes zu schützen ist, dass Eltern in dieser verzweifelten Situation Hilfe erfahren müssen und dass behindertes
Leben zu achten ist.
Wir wissen aber auch - dies zeigt die Entwicklung
nach der Reform des § 218 StGB -, dass bei Spätabbrüchen ein besonderer Handlungsbedarf besteht; denn die
embryopathische Indikation ist damals in guter Absicht entfallen. Man wollte dafür sorgen, dass damit
keine weitere Diskriminierung behinderten Lebens stattfindet. Aber damit ist gleichzeitig die zeitliche Begrenzung von Abtreibungen bis zur 22. Woche entfallen.
Weggefallen sind auch die verpflichtende Beratung und
die Bedenkzeit. Das heißt, Schwangerschaftsabbrüche
sind im Rahmen der medizinischen Indikation heute
ohne jegliche Beratung und ohne jede Bedenkzeit praktisch bis unmittelbar vor der Geburt zulässig. Das mag
nachvollziehbar sein und muss es sogar sein, wenn unmittelbare Lebensgefahr für die Mutter besteht. Aber das
ist nicht mehr nachvollziehbar, wenn es um eine mediziDr. Maria Böhmer
nische Indikation im Zusammenhang mit PND geht. Es
ist doch geradezu widersinnig, dass dann, wenn die
Schwangerschaft fortgeschritten ist und das Konfliktpotenzial und die Belastung der Frau in dieser Situation
noch größer werden, weil das Kind lebensfähig ist, das
Schutz- und Beratungskonzept wegfällt. Denn dann sind
keine verbindliche Beratung und keine Bedenkzeit mehr
gegeben. Die Mutter steht ohne Hilfe da, sie ist auf sich
allein gestellt, sie ist allein gelassen. Unsere Auffassung
ist: So kann es nicht bleiben, das muss geändert werden.
({3})
Das Ziel, behindertes Leben besser zu schützen, ist
bisher nicht erreicht worden. Die Praxis zeigt, dass Kinder nach wie vor wegen einer erwarteten Behinderung
abgetrieben werden. Das steht in krassem Gegensatz
zum Grundgesetz; dort haben wir in Art. 3 den Satz eingefügt:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Dieser Vorschlag kam in der letzten Legislaturperiode,
als wir interfraktionell darüber beraten haben, von dem
früheren Kollegen Schmidt-Jortzig von der FDP. Wir haben ihn gerne aufgegriffen.
Deshalb möchten wir klarstellen: Eine absehbare Behinderung allein ist kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Es kommt auf die Gefährdung für das
Leben der Mutter an. Es kann nicht sein, dass allein wegen einer Behinderung abgetrieben wird.
({4})
Sie haben in einem Zwischenruf gefragt, was denn die
Ärztinnen und Ärzte und die Hebammen dazu sagen. Ich
will Ihnen aus dem Positionspapier des Bundes Deutscher Hebammen etwas mit auf den Weg geben. Dort
heißt es, dass gerade die Spätabtreibungen die dunkelste
Seite von pränataler Diagnostik sind, weil die Frauen
traumatisiert sind und weil diese Traumata Auswirkungen auf die Gesundheit, auf nachfolgende Schwangerschaften und Geburten haben. So sehen es die Hebammen. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir können das
Problem nicht einfach negieren, wie Sie es in Ihrem Antrag tun.
({5})
Wenn ein Kind dank medizinischen Fortschritts heute
ab der 22. Schwangerschaftswoche lebensfähig ist, dann
wird dieses Kind häufig im Mutterleib getötet - das ist
Fetozid - oder es kommt auf die Welt und bleibt unter
Umständen unversorgt liegen, in der Erwartung, dass es
bald sterben wird. Sie alle kennen den Fall des Oldenburger Babys Tim, der durch die Presse gegangen ist. Es
ist 1997 wegen eines Downsyndroms in der 25. Schwangerschaftswoche abgetrieben worden, aber wie durch ein
Wunder hat Tim überlebt. Er hätte heute wahrscheinlich
weniger Behinderungen, wenn er nicht nach der Abtreibung viele Stunden unversorgt liegen gelassen worden
wäre. Ein solcher Fall darf sich nicht wiederholen.
Ich glaube, an erster Stelle muss es zu einem Wertewandel in unserer Gesellschaft kommen, und zwar in
zweifacher Hinsicht. Wir müssen wieder verstärkt die
Tatsache in das Bewusstsein rücken, dass Schwangerschaftsabbrüche dem Grunde nach eine Tötung sind und
damit rechtswidrig.
({6})
So steht es auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Ein ungeborenes Kind hat denselben Anspruch
auf Schutz wie ein geborenes Kind.
Zum anderen brauchen wir eine andere Einstellung zu
Menschen mit Behinderungen. Sie dürfen in unserer Gesellschaft nicht ausgegrenzt werden.
({7})
Die Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer 1 000-FragenAktion die Frage aufgeworfen: Gibt es ein Recht auf ein
gesundes Kind? - Natürlich gibt es ein solches Recht
nicht. Es gibt den Wunsch von Eltern - der ist nachvollziehbar -, ein gesundes Kind zu haben. Aber was heißt
gesund? Was heißt behindert? Die Aktion Mensch tritt
für ein Recht auf Unvollkommenheit ein. Ich glaube, wir
brauchen dringend diese neue, andere Sicht behinderten
Lebens sowie auch seiner Qualität und seines Wertes.
Dafür müssen wir uns gemeinsam stark machen.
({8})
Dem dient unser Ansatz und dem dient unser Bemühen,
Spätabtreibungen zu vermeiden.
Wir haben immer wieder neue Anläufe unternommen.
Wir haben mit Ihnen das Gespräch gesucht und über
viele Stunden hinweg verhandelt. Oft hatte ich die Hoffnung, wir würden zusammenkommen und gemeinsam
einen Weg finden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Versuch unternommen, aber unser Antrag
wurde kurz vor Ende der Legislaturperiode abgelehnt.
Wir haben es erneut versucht und wir werden auch in
den Ausschussberatungen weiterhin versuchen, gemeinsam mit Ihnen diesen Weg zu finden. Ihr heute vorliegender Antrag erschöpft sich in Appellen und kann deshalb nicht der Weg sein. Wir haben gesehen, dass der in
der letzten Legislaturperiode aufgrund Ihrer Initiative
beschlossene Appell an die Ärzteschaft, den Rechtsanspruch auf Beratung im Mutterpass festzuschreiben,
ins Leere gegangen ist und sich nichts geändert hat.
Aus unserem Antrag ergeben sich fünf Ansatzpunkte, die realisiert werden müssen:
Erstens. Wir legen großen Wert auf eine verbesserte
umfassende Beratung. Sie muss verbindlich sein und sie
muss über die medizinische Beratung hinausgehen. Sie
muss psychosozialer Art sein und sie muss den Müttern
in dieser verzweifelten Situation helfen.
({9})
Zweitens. Es bedarf der Sicherheit im Befund. Deshalb braucht man ein interdisziplinär besetztes Gremium
von Ärzten. Hier sind neben dem Gynäkologen auch der
Kinderarzt und der Genetiker gefordert. Es geht nicht
darum, dass die Frau vor ein Gremium zitiert wird, sondern darum, den ärztlichen Befund abzustützen und damit Klarheit zu schaffen.
Drittens. Wir brauchen die Einführung einer Bedenkzeit von drei Tagen, denn in einer Schocksituation kann
man nicht verantwortlich handeln. Diese Frist ist notwendig, damit die Frauen und ihre Partner sich Klarheit
verschaffen können, um Ja zum Kind zu sagen oder unter Umständen in dieser bedrängten Situation doch den
Weg zur Abtreibung zu gehen. Diese Entscheidung darf
nicht in einer Schocksituation getroffen werden.
Viertens. Wir müssen die Arzthaftung auf den Prüfstand stellen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Viele Ärzte drängen die Frauen zur Abtreibung. Deshalb glauben wir, dass man den Weg, der in Frankreich
eröffnet worden ist, diskutieren muss, nämlich die Haftung auf grobe Fahrlässigkeit zu beschränken.
Fünftens. Wir legen Wert darauf, dass der gesetzgeberische Wille klargestellt wird.
Ich appelliere noch einmal an Sie: Gehen Sie mit uns
gemeinsam diesen Weg. Lassen Sie die Frauen nicht allein. Helfen Sie denjenigen, die sich ein Kind wünschen,
und helfen Sie, dass behindertes Leben in unserem Land
besser anerkannt wird!
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung hat die Staatssekretärin
Christel Riemann-Hanewinckel das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1995 haben wir in diesem Haus nach intensiver fünfjähriger Debatte und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 für Deutschland eine
Neuregelung über den Schwangerschaftsabbruch geschaffen. Die embryopathische Indikation entfiel, da niemand mehr wollte, dass eine Schwangerschaft allein wegen einer Schädigung des zu erwartenden Kindes
abgebrochen werden darf.
Mit der Einführung der medizinischen Indikation
nach § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch ging die Zahl der
danach indizierten Abbrüche seit 1996 kontinuierlich zurück. Der Anteil an der Gesamtzahl der Abbrüche liegt
seitdem gleich bleibend bei 3 Prozent. Der Anteil der so
genannten späten Abbrüche - der Abbrüche, die nach
der 23. Schwangerschaftswoche erfolgen - liegt gleich
bleibend bei 0,1 Prozent der gesamten Abbrüche; 2003
waren das in Deutschland 217 Fälle.
Heute liegen dem Parlament zwei Anträge zur Beratung vor. Der CDU/CSU-Antrag zielt in Übereinstimmung mit den Forderungen der Deutschen Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe in erster Linie darauf
ab, die Position der behandelnden Ärztinnen und Ärzte
gegenüber der Schwangeren zu stärken und insofern die
der schwangeren Frau sowohl in rechtlicher als auch in
psychosozialer Hinsicht zu beschränken.
({0})
Hierzu enthält der Antrag unter anderem folgende
Maßnahmen: psychosoziale Pflichtberatung nach pränataler Diagnose mit Befund; Kostenübernahme für pränatale Diagnostik durch die Krankenkassen nur bei Inanspruchnahme ärztlicher und psychosozialer Beratung;
Feststellung einer medizinischen Indikation im Zusammenhang mit einer Behinderung des Ungeborenen durch
Begutachtung eines interdisziplinären Gremiums; Haftungsbeschränkung behandelnder Ärztinnen und Ärzte
bei mangelhafter Durchführung der Pränataldiagnostik;
Erweiterung des Weigerungsrechts der Ärzte, an einem
späten Abbruch mitzuwirken; Ausweitung der statistischen Erfassung sowie Ergänzung des § 218 a Abs. 2
Strafgesetzbuch in dem Sinne, dass ein embryopathischer Befund alleine nicht ausreicht, um eine Abtreibung durchführen zu können.
Ich will mich an dieser Stelle auf den letzten Punkt
beschränken. Der Gesetzgeber hat deutlich gemacht
- dass geht aus dem § 218, wie wir ihn 1995 gemeinsam
verabschiedet haben, eindeutig hervor -, dass nicht allein ein die Gesundheit der Frau gefährdender Befund im
Rahmen der Schwangerschaft, sondern darüber hinaus
auch familiäre und soziale Lebensumstände zu berücksichtigen sind. Damit hat der Gesetzgeber die Konflikte
und Belastungen der Schwangeren anerkannt, auch aus
der Vorausschau auf ihre umfassenden Sorge- und Einstandspflichten für das Kind. Diese Intention kommt fast
wortgleich auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 zum Ausdruck.
({1})
Der Wortlaut der geltenden Regelung im Gesetz von
1995 ist damit eindeutig und nicht ergänzungsbedürftig.
({2})
Ein interdisziplinär besetztes Gremium, das über
das Vorliegen der Voraussetzung einer medizinischen Indikation entscheidet, müssen wir nicht gesetzlich festschreiben. Die Kliniken, die heute Spätabbrüche vornehmen - Sie können sich in der Charité erkundigen -,
arbeiten schon jetzt interdisziplinär und klären mit allen
betroffenen Fachrichtungen, inwieweit die Befunde eine
Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren darParl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel
stellen. Aus meiner Sicht stellen Sie Forderungen auf,
die nach ärztlichem Standesrecht selbstverständlich sind.
({3})
Alles in allem stellen die im CDU/CSU-Antrag geforderten Maßnahmen eine starke Bevormundung und aus
meiner Sicht eine Diskriminierung schwangerer Frauen
dar.
({4})
Der Zusammenhang zwischen dem Leben der Frau und
dem Schicksal ihres Kindes wird weitgehend vernachlässigt.
({5})
- Sie können sich sicher sein, dass ich ihn sehr genau gelesen habe. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit
diesem Thema.
SPD und Grüne dagegen wollen die Position der
schwangeren Frau stärken, indem ihre Entscheidungskompetenz im Zusammenhang mit pränataldiagnostischen Maßnahmen und ihre Entscheidungsautonomie
respektiert bzw. verbessert werden.
({6})
Hierzu fordern wir unter anderem flexible psychosoziale
Beratungsangebote zwischen Beratungsträgern und pränataldiagnostischen Zentren sowie - das ist ein sehr
wichtiger Punkt - die Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten im Blick auf ihre eigene Beratungskompetenz. Außerdem fordern wir die Bundesärztekammer auf, Richtlinien zur verbindlichen Information und
Beratung von Schwangeren zu verabschieden, die auch
die Kooperation mit Fachleuten anderer ärztlicher Disziplinen und anderer betroffener Berufsgruppen sicherstellen. Daran herrscht bis heute ein großer Mangel.
({7})
Was die betroffenen Frauen brauchen, ist keine Pflicht
zur Beratung. Vielmehr müssen die Ärztinnen und Ärzte
verpflichtet werden, die schwangere Frau über ihren Anspruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 Schwangerschaftskonfliktgesetz und vor allen Dingen über die Auswirkungen der pränatalen Diagnostik - und zwar vor
deren Einsatz - zu informieren.
Sie müssen auch lernen, zu respektieren, dass es ein
Recht auf Nichtwissen gibt. Frauen haben mir berichtet,
dass sie im Paket die Schwangerschaftsvorsorge abzeichnen und damit Untersuchungen über sich ergehen
lassen mussten, über deren Sinn sie nicht informiert waren und die sie abgelehnt hätten, wenn sie Bescheid gewusst hätten.
Die Pränataldiagnostik ist in Deutschland in den
letzten Jahren zu einem festen und selbstverständlichen
Bestandteil der Schwangerenvorsorge geworden. Jede
schwangere Frau muss bzw. soll sich heute in der ärztlichen Schwangerschaftsvorsorge mit einem sehr breiten
Spektrum von pränatalen Untersuchungsmethoden auseinander setzen. Viele wissen nicht - dieses Wissen wird
den Frauen oft vorenthalten -, dass die Untersuchungen
neben der Kontrolle des allgemeinen Schwangerschaftsverlaufs eine gezielte Suche nach Fehlbildungen bzw.
chromosomalen Auffälligkeiten des Fötus beinhalten. Es
macht Sinn, in diesem Hause darüber zu debattieren,
welchen Stellenwert wir insgesamt der Pränataldiagnostik beimessen wollen und wie wir als Gesellschaft in Zukunft mit den Ergebnissen, die diese Diagnostik zeitigt,
umgehen wollen.
({8})
Leider wird die Pränataldiagnostik häufig ohne entsprechende Beratung der Schwangeren und ohne Thematisierung der Konsequenzen bzw. Aufzeigen von
Alternativen durchgeführt. Da bisher nur bei wenigen
Diagnosen intrauterine Therapiemöglichkeiten bestehen,
geht es letztlich zumeist darum, bei einem auffälligen
Befund über einen Abbruch der Schwangerschaft zu
entscheiden. Ein solcher Befund bringt sehr oft die
Schwangere und ihren Partner in enormen Entscheidungszwang. Oft genug wird den Betroffenen - auch das
wissen Sie alle - die Entscheidung von ärztlicher Seite
abgenommen, indem ihnen mit der Verkündung der Diagnose gleich der Termin für den Abbruch genannt wird.
Es wird also nicht über Alternativen diskutiert.
Was meistens nicht angeboten bzw. worauf nicht verwiesen wird, ist der Anspruch der Schwangeren auf
psychosoziale Beratung. Notwendig ist die Verpflichtung der Ärztinnen und Ärzte, den Betroffenen darzulegen, welche Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten es gibt,
damit die Frauen eine für sie verantwortliche und verantwortbare Entscheidung treffen können. Dafür muss aber
vor allem die Beratung im Kontext der Pränataldiagnostik sowohl vor als auch nach Inanspruchnahme der Diagnostik verbessert werden, um Frauen eine kompetente
Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme bestimmter diagnostischer Methoden zu ermöglichen. Wir
müssen also schon sehr viel früher beginnen, aus der rein
medizinischen Betrachtungsweise auszusteigen und zu
fragen: Was kann und was soll Pränataldiagnostik? Wird
respektiert, dass Eltern bestimmte Untersuchungen nicht
in Anspruch nehmen wollen?
Vor diesem Hintergrund finde ich es doppelt ungeheuerlich, dass im Antrag der CDU/CSU die Finanzierung
der Pränataldiagnostik an die psychosoziale Beratung
gekoppelt werden soll. Die Eltern, die von einer ernsthaften Behinderung oder Krankheit ihres ungeborenen
und in der Regel erwünschten Kindes erfahren, suchen
von sich aus Information und Beratung, ohne dass ihnen
dies bei Strafandrohung vorgeschrieben werden muss.
({9})
Ein Anspruch auf Beratung, der auch die Information
über die Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschen
und ihre Familien umfasst, die vor und nach der Geburt
eines in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen
Gesundheit geschädigten Kindes zur Verfügung stehen,
besteht schon jetzt nach § 2 Abs. 1 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes.
Als eine Frau, die aus der Beratungsarbeit kommt,
weiß ich, dass Menschen in Situationen kommen können, in denen sie nicht mehr weiter wissen und in denen
sie Beratung und Begleitung brauchen. So ist es auch bei
späten Schwangerschaftsabbrüchen. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, vermuten - das
wird durch Ihre Forderungen offenbar -, dass Frauen aus
nichtigen Gründen abtreiben. Doch keine Frau nimmt
leichtfertig einen späten Abbruch vor.
({10})
Alle 217 Spätabbrüche sind besondere und einmalige
Fälle.
({11})
Es handelt sich um Frauen, die sich ein Kind gewünscht
haben. Wer den Konflikt, eine Entscheidung über einen
Abbruch in diesem Stadium der Schwangerschaft fällen
zu müssen, nicht selbst erlebt hat, kann die Tragweite
des Konfliktes und der Krise kaum erfassen.
Medizinische Beratung und psychosoziale Begleitung
können Frauen in diesen wirklich schwierigen Situationen helfen. Der Gesetzgeber kann nur Rahmenbedingungen schaffen, damit genügend fachübergreifende Beratungsangebote zur Verfügung stehen und Frauen nicht
alleine gelassen werden.
Wir brauchen keine Klarstellung des § 218 StGB. Wir
brauchen auch keine Verschärfung des § 218 StGB.
({12})
Wir brauchen vor allen Dingen Vertrauen in die Frauen,
die in dieser Krise qualifizierte Begleitung, Hilfestellung
und Respekt benötigen, und zwar durch Ärztinnen und
Ärzte, Beraterinnen und Berater, Seelsorgerinnen und
Seelsorger und nicht zuletzt durch Politikerinnen und
Politiker.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Der Umgang mit den Chancen und Risiken der
Pränataldiagnostik beschäftigt uns fraktions- und parteiübergreifend schon seit langem. Der Schutz des Lebens
und ganz besonders der Schutz des ungeborenen Lebens
sind eine wichtige Aufgabe und eine Verpflichtung des
Staates, die wir auch heute wieder wahrnehmen wollen.
({0})
Die Frauenorganisation der FDP Bundesvereinigung
Liberale Frauen, deren Vorsitzende ich bin, hat auch im
März dieses Jahres einen Beschluss zur Vermeidung von
späten Schwangerschaftsabbrüchen gefasst. In diesem
Parlament haben wir uns - wir müssen sagen: dank der
Union - in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aller Fraktionen in mehreren Sitzungen mit dieser Problematik befasst. Bei Fragen der Ethik wie bei der des Schwangerschaftsabbruchs ist meines Erachtens ein sehr breiter
politischer Konsens wichtig. Das stärkt das Vertrauen
in die Politik und ist ein gutes Signal an Bürger und Bürgerinnen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich sehr klar sagen:
Die gesetzlichen Bestimmungen des § 218 StGB mit der
bestehenden Beratungsregelung, die Frauen vor einem
Schwangerschaftsabbruch - er ist bis zur zwölften Woche erlaubt - zur Beratung verpflichten, stehen für die
FDP - gerade heute - nicht zur Debatte.
({1})
Wir alle, die im politischen Geschäft tätig sind, wissen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Parlament
die Pflicht zur Beobachtung und gegebenenfalls zur
Nachbesserung beim Schutz des ungeborenen Lebens
auferlegt hat. Das zwingt uns - da hat die CDU Recht zu einer genaueren Analyse.
1995 fasste der Deutsche Bundestag § 218 a
Abs. 2 StGB mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz neu. Darauf ist schon in einer der letzten Reden hingewiesen worden. Ich glaube, es ist ganz
wichtig, dass wir uns klar machen, dass die embryopathische Indikation mit dieser Neuregelung weggefallen ist. Diese Indikation gewährte Straffreiheit bei großer
Gefahr einer nicht behebbaren Schädigung des Gesundheitszustandes des Kindes, die so schwer wiegt, dass die
Fortsetzung der Schwangerschaft von der Schwangeren
nicht verlangt werden kann.
Gleichzeitig wurde 1995 die so genannte medizinische Indikation neu geregelt. Sie sieht vor, dass ein
Schwangerschaftsabbruch nicht als rechtswidrig gilt,
wenn damit eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr
einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der
schwangeren Frau abgewendet wird. Das ist ein großer
Unterschied. Eine zeitliche Befristung des Abbruchs
- deshalb reden wir darüber - sowie eine Pflicht zur Beratung bestehen in diesen Fällen nicht.
Die seit 1996 erfassten Abbrüche nach medizinischer
Indikation gingen von damals 3,7 Prozent auf 2,7 Prozent - in Zahlen: 3 421 - im Jahr 2003 zurück. Auch
Frau Böhmer hat darauf hingewiesen. Die Zahl der so
genannten Spätabbrüche bei einer Schwangerschaftsdauer von 23 Wochen und mehr - da ist manches Frühchen schon lebensfähig; diese Fälle beschäftigen uns alle
so sehr - betrug deutschlandweit laut Bundesstatistik im
Jahr 2003 217.
Frau Böhmer, diese Zahlen allein sagen uns aber noch
nicht, ob ein politischer Handlungsbedarf besteht. Da die
embryopathische Indikation seit 1995 nicht mehr existiert, wissen wir nicht - das ist richtig -, wie viele der
3 421 Fälle einer medizinischen Indikation mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung des ungeborenen Kindes in
Zusammenhang stehen.
Die Pränataldiagnostik, das heißt die Untersuchung
der Schwangeren und des Ungeborenen, steht nun im
Fokus der Diskussion. Wir sollten zunächst einmal festhalten, dass die Pränataldiagnostik zuallererst eine wertvolle medizinische Errungenschaft und eine Chance ist.
Oft können mit ihrer Hilfe der Schwangeren die Sorgen
über den Verlauf der Schwangerschaft genommen werden, können Risiken ausgeschlossen oder gemindert
werden. Durch die Pränataldiagnostik können - das ist
doch das Gute - Fehlbildungen oder schwere Erkrankungen des Ungeborenen erkannt werden. In manchen Fällen - das haben uns die Ärzte in den Arbeitskreissitzungen gesagt - gibt es bei solch einem Befund pränatale
Therapiemöglichkeiten oder auch Therapiemöglichkeiten direkt nach der Geburt.
({2})
Das ist doch etwas Gutes. Das sollten wir zunächst einmal
begrüßen. In wenigen Fällen - das wissen wir, die wir uns
damit beschäftigen, auch - ist zu erwarten, dass ein Kind
nicht lebensfähig sein würde oder mit schweren Behinderungen oder schweren Krankheiten leben müsste.
Wir wissen, dass solche Diagnosen zum Teil erst in
einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft
gestellt werden können. Man kann das nicht bis zur
zwölften Woche feststellen. Frauen und ihre Partner werden durch einen solch schwierigen Befund natürlich oft
in eine wirklich verzweifelte Situation gestürzt. Deshalb
bin ich der Meinung, dass auch die Zulassung der PID
am Anfang einer Schwangerschaft - da sind wir unterschiedlicher Meinung, Frau Böhmer - eine Hilfe für
Frauen in Konfliktsituationen sein könnte.
Aus der Ärzteschaft selbst und auch von Behindertenverbänden haben wir im Beratungsvorlauf Anregungen
dafür erhalten, wie Frauen in dieser Situation mehr geholfen und ungeborenes Leben möglicherweise besser
geschützt werden kann. Die derzeitige Praxis ist also
sehr sorgfältig zu prüfen.
Die FDP will die verantwortungsvollen Regelungen
für betroffene Männer und Frauen verbessern und eine
überstürzte Entscheidung für einen Abbruch vermeiden
helfen.
({3})
Darüber sind wir uns doch nun wirklich einig.
({4})
Fraktionsübergreifend wollen wir gemeinsam beraten
und für folgende Problematiken - jetzt komme ich zu
meinen Punkten - Lösungen finden:
Erstens. Frauen sollen sich auf der Basis einer guten
Information und Aufklärung für, aber auch gegen pränataldiagnostische Maßnahmen entscheiden können.
Frauen haben ein Recht auf Wissen; sie haben aber auch
ein Recht auf Nichtwissen.
({5})
Zweitens. Die Beratung vor und nach der Pränataldiagnostik soll verstärkt werden, wie die Staatssekretärin
schon gesagt hat. Wenn der Befund einer Erkrankung,
Behinderung oder Entwicklungsstörung des Ungeborenen vorliegt, kann eine interdisziplinäre Beratung durch
Gynäkologen, Humangenetiker oder Pädiater sehr sinnvoll sein. Die psychosoziale Beratung - auch das haben
wir festgestellt - ist besonders wichtig. Frauen und ihre
Partner brauchen sie. Wir wollen Frauen in den vielen lebenspraktischen und ethischen Fragen, mit denen sie
konfrontiert sind, Hilfe von professioneller Seite gewähren. Der lebenspraktische Aspekt ist ganz wichtig, wenn
zu dem Kind Ja gesagt wird.
Drittens. Ich plädiere für eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen der Feststellung der medizinischen Indikation und der möglichen Durchführung eines Abbruchs.
Eine dreitägige Frist soll für weitere ärztliche und psychosoziale Beratung Zeit geben. Das wollen wir aber
auch wohl alle.
({6})
- Ja. Ich habe doch gesagt, dass wir alle das wollen.
Aber auch die Position der FDP muss heute hier deutlich
werden.
({7})
Viertens und letztens. Wir wollen einem Anliegen der
Ärzte entsprechen. Ganz klar muss künftig geregelt sein,
dass auch bei einem Schwangerschaftsabbruch nach medizinischer Indikation der Arzt oder die Ärztin die Mitwirkung verweigern kann, sofern nicht eine akute Lebensbedrohung für die Schwangere besteht.
Auch die FDP will das Thema mit Experten in einer
Anhörung vertiefen.
({8})
Wir wollen zudem einen eigenen Antrag in den Bundestag einbringen.
Abschließend möchte ich sagen, dass wir alle uns gemeinsam bemühen sollten, Frauen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen. Sie haben es wirklich nötig.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard
Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen haben sich 1995 zu Recht dafür eingesetzt,
dass die embryopathische Indikation aus dem § 218 herausgenommen wurde; denn eine Behinderung des Embryos allein - darüber sind wir uns über Fraktionsgrenzen hinweg einig - darf kein Grund für einen
Schwangerschaftsabbruch sein. Aber ich bin davon
überzeugt, dass die medizinische Indikation, so wie sie
jetzt im Gesetz steht, notwendig ist.
Eine Schwangere wäre in unzumutbarer Weise überfordert, wenn das Austragen der Schwangerschaft auf
Kosten ihres eigenen Lebens oder Gesundheitszustandes
von ihr verlangt würde. Der Gesetzgeber hat aber auch
deutlich gemacht, dass nicht allein eine Gefährdung der
körperlichen Gesundheit der Frau, sondern darüber hinaus auch familiär-soziale Lebensumstände zu berücksichtigen sind. Diese Intention kam im Übrigen schon in
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von
1993 zum Ausdruck.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in
diesem Zusammenhang zunächst auf die Fragen der pränatalen Diagnostik eingehen. Schwangerschaft wird
zunehmend als Krankheit definiert. Zahlen aus Niedersachsen zeigen, dass im Jahre 1999 bei 74 Prozent aller
schwangeren Frauen Schwangerschaftsrisiken im Mutterpass angegeben wurden. Diesen Schwangeren wird
nicht nur ein hoher Untersuchungsaufwand zugemutet,
sie werden oft auch zu Untersuchungen gedrängt, über
deren Auswirkungen sie oft nicht genügend informiert
sind. Das führt zu Verunsicherungen und zu Ängsten.
Dabei kommen zwischen 96 und 98 Prozent aller Kinder gesund auf die Welt.
Wir sehen insgesamt mit Sorge, dass den Frauen immer mehr pränatal-diagnostische Maßnahmen angeboten
werden. Das stellt bei sinkenden Geburtenzahlen sicherlich auch einen wirtschaftlichen Faktor für viele Praxen
dar. Die Schwangeren erwarten von der PND ja keine
auffälligen Befunde, sondern wollen beruhigt werden,
wollen, dass ihnen gesagt wird, dass alles in Ordnung ist.
Das ist auch ein Grund für die hohe Akzeptanz. Wir wollen, dass die Frauen in die Lage versetzt werden, wirklich nur die Untersuchungen zuzulassen, die sie auch
wollen. Dabei muss auch das Recht auf Nichtwissen eingeräumt werden. Auch hier sind wir uns einig. Wenn
sich eine Frau gegen eine Fruchtwasseruntersuchung
ausspricht, muss das akzeptiert werden. Ich weiß, dass es
häufig ganz schwierig ist, das gegenüber den Ärzten
durchzusetzen.
Die Wahrscheinlichkeit für eine 37-Jährige, ein Kind
mit Down-Syndrom zu haben, liegt bei 0,5 Prozent. Das
Risiko, durch eine Fruchtwasseruntersuchung eine Fehlgeburt zu erleiden, ist doppelt so hoch. Das sollte uns zu
denken geben, liebe Kollegin Lenke. Deshalb sehe ich
die Pränataldiagnostik nicht so positiv, wie Sie sie eben
dargestellt haben. Darum wollen wir den im Schwangerschaftskonfliktgesetz bereits ausdrücklich verankerten
Rechtsanspruch auf Beratung stärken. Bei vielen, vor
allen Dingen bei invasiven Untersuchungen sind die
Auswirkungen eines eventuell auffälligen Befundes für
Frauen nicht übersehbar. Hier sollte in jeder Phase das
Recht der Schwangeren auf psychosoziale Beratung ausgebaut werden. Ich finde, die Ärztinnen und Ärzte haben
die Pflicht, die Schwangeren darauf hinzuweisen. Dabei
spielt eine angemessene Bedenkzeit zwischen den Beratungen nach einem auffälligen Befund bzw. bis zu einem
eventuellen Schwangerschaftsabbruch eine große Rolle,
dass alles seelisch verarbeitet werden kann und voreilige
Entscheidungen vermieden werden können. Auch hier
sind wir uns mit den Kolleginnen der CDU/CSU und
auch der FDP einig.
Darüber hinaus setzen wir uns aber für eine Stärkung
der Begleitung der Schwangeren durch Hebammen ein.
Dieses könnte der Medizinisierung von Schwangerschaften etwas entgegensetzen. Das heißt, wir wollen
vermeiden, dass sich immer mehr Schwangere möglichst
vielen, oft risikoreichen Pränataldiagnoseverfahren in
der Hoffnung auf vorgeburtliche Therapiemöglichkeiten,
die es kaum gibt, unterziehen müssen. Bei einem Herzfehler ist etwas zu machen, aber bei fast allen anderen
Diagnosen wird den Frauen suggeriert, man könne etwas
tun, obwohl das nicht der Fall ist. Darum wollen wir den
Informed Consent der Schwangeren durch einen Ausbau
von Aufklärung und Beratung stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten sowohl
in dieser wie auch in der letzten Legislaturperiode eine
interfraktionelle Arbeitsrunde zu diesem Thema. Allerdings wurde deutlich, dass Teile der CDU/CSU eher an
einer Verschärfung des § 218 interessiert waren und dafür das Thema Spätabtreibung als Aufhänger nutzten.
({0})
Frau Böhmer hat heute den Beweis dafür - erstmalig
hörte ich das von Ihrer Seite, Frau Böhmer - geliefert,
indem sie sagte, ein Schwangerschaftsabbruch bei einer
medizinischen Indikation sei rechtswidrig. So stimmt
das nicht. Ein Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen ist rechtswidrig, aber straffrei.
({1})
- Dann sind wir uns ja einig.
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU ist meines Erachtens von einem tiefen Misstrauen gegenüber Frauen
sowie Ärztinnen und Ärzten geprägt. Anders sind die
Forderungen in Ihrem Antrag, eine Zwangsberatung für
die Schwangeren vorzusehen, nicht zu verstehen. Sie
misstrauen den Frauen so sehr, dass Sie ihnen damit drohen, dass die Krankenkassen die PND nicht bezahlen
würden, wenn nicht vorher eine Pflichtberatung absolIrmingard Schewe-Gerigk
viert wurde. Wir glauben dagegen, dass Schwangere mit
einer diagnostizierten Behinderung ihres Kindes ein weit
reichendes, umfassendes und zeitnahes Beratungsangebot brauchen. Sie brauchen die Aufklärung und sie brauchen die Beratung. Sie brauchen das aber als Angebot,
nicht als Zwang. Sie brauchen in einer solchen Situation
jede Unterstützung, nicht aber die finanzielle Keule der
Krankenkassen.
In die Kategorie Misstrauen fällt auch, dass eine medizinische Indikation nach Ihren Vorstellungen nur durch
ein interdisziplinäres Ärztegremium festgelegt werden
soll.
({2})
Die Unterstellung, Frauen machten es sich leicht und
würden wegen einer zu erwartenden Kiefer-GaumenSpalte einen Abbruch verlangen, entbehrt jeder Grundlage.
({3})
- Das wird immer unterstellt; fragen Sie vielleicht einmal Herrn Hüppe. - Es gibt lediglich einen Fall in England, in dem so etwas aktenkundig geworden ist.
({4})
Zu der anderen Frage: Expertenbefragungen an den
Universitätskliniken Bonn und München haben ergeben,
dass 80 Prozent der durchgeführten Abbrüche Schwangerschaften mit außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähigen Kindern betrafen. Den Kindern fehlten lebenswichtige Organe, sie hätten also nicht leben können. So viel zur Versachlichung dieser Debatte.
({5})
Wie Sie dennoch mit einer statistischen Erfassung
über die Art der Behinderung und des Eingriffs künftig
Spätabtreibungen verhindern wollen, ist mir ein Rätsel.
Erstens ist eine Behinderung kein Abbruchgrund. Zweitens reden wir von etwas über 200 Fällen pro Jahr. Aufgeschlüsselt wären das ein bis zwei Personen pro Quartal
und Bundesland, auf die natürlich direkte Rückschlüsse
möglich wären. Der Datenschutzbeauftragte hat das in
der letzten Legislaturperiode sehr deutlich gemacht.
({6})
Dass in Deutschland Spätabbrüche durch Fetozide
erfolgten - auch Frau Böhmer hat das eben angesprochen -, die in der Bundesstatistik als Totgeburten gemeldet wurden, fällt leider auch in die Kategorie Misstrauen.
Es gibt keinen Beweis dafür. Die Zahl der Totgeburten
ist seit 1996 kontinuierlich zurückgegangen. Wenn Ihre
These stimmen würde, dass neuerdings die Abbrüche
durch Fetozide zunähmen und als Totgeburten gemeldet
würden, dann müsste diese Zahl angestiegen sein. Das
entbehrt also jeder Grundlage.
({7})
Lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen vorgeschlagenen Haftungseinschränkung für Gynäkologen
und Gynäkologinnen sagen. Sie soll nur noch bei grober
Fahrlässigkeit gelten. Wollen Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, tatsächlich Schwangere und
Ungeborene schlechter stellen als andere Patientinnen?
Mir fehlt dafür wirklich jedes Verständnis.
({8})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Es gibt keinen
bundesgesetzlichen Handlungsbedarf. § 218 a Abs. 2
des Strafgesetzbuches ist eindeutig: Eine absehbare Behinderung allein ist kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch und wäre nach geltendem Recht strafbar.
Was wir allerdings brauchen, ist eine Verbesserung der
Beratung. Das haben wir in unserem Antrag, der Ihnen
vorliegt, sehr deutlich belegt. Die Beratung ist allerdings
nicht Sache des Gesetzgebers, sondern der Ärzteschaft,
die wir dabei sehr gerne unterstützen wollen. In Gesprächen ist ja sehr häufig darauf eingegangen worden, dass
die Ärzte von sich aus viel machen müssen.
Was wir aber auch brauchen, sind eine verstärkte
Fortbildung und Qualitätssicherung rund um die pränatale Diagnostik. Was die Schwangeren dringend brauchen, ist eine bessere Information und Aufklärung. Aber
auch hier ist nicht der Bund gefragt, sondern der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Eine angemessene Bedenkzeit im Rahmen einer medizinischen Indikation, wenn Leben und Gesundheit der Schwangeren
nicht akut bedroht sind, wird von uns begrüßt, muss aber
auch vom Bundesausschuss in den Richtlinien verankert
werden. Tun Sie doch nicht immer so, als wollten wir
hier alles ablehnen. Hier ist nicht der richtige Ort, das zu
entscheiden; das muss in den Richtlinien festgelegt werden. Helfen Sie uns, das umzusetzen!
Ich glaube, dass es gerade in solchen Fällen für die
Frauen ganz dringend notwendig ist, Bedenkzeit zu haben. Ich würde auch nicht sagen, dass sie drei Tage Zeit
haben sollen, sondern dass sie angemessen Zeit haben
sollen.
({9})
Ich habe mit vielen gesprochen, die gesagt haben: Es kann
kürzer sein, es kann aber auch länger sein. Es kann auch
Frauen geben, die sagen: Ich möchte 14 Tage Trauerarbeit
machen. Diese Möglichkeit muss man ihnen geben.
Dass bei einer diagnostizierten Behinderung Fachleute verschiedener Disziplinen hinzugezogen werden,
damit sich die Eltern umfassend informieren können, ist
doch eine Selbstverständlichkeit.
Meine Damen und Herren, die Grünen verbindet
ebenso wie die Sozialdemokraten und früher auch die
FDP eine lange Geschichte mit dem § 218.
({10})
Für mich selbst war dies vor 30 Jahren der Grund, in die
Politik zu gehen. Wir haben uns immer für Frauen eingesetzt. Gerade in schwierigen Situationen brauchen die
Frauen unsere Unterstützung und nicht unser Misstrauen. Wir aber vertrauen den Frauen, dass sie das Leben ihrer Kinder schützen. Das wird auch so bleiben.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Verlust menschlichen Lebens berührt
uns alle. Ich denke, das gilt in ganz besonderem Maße
für das bedrückende Phänomen der Spätabtreibung. Es
ist tief beunruhigend, dass die Zahlen in den letzten Jahren gestiegen sind.
({0})
Das darf uns nicht ruhen lassen.
Die Entscheidung der Mutter, ihre Schwangerschaft
in einem Spätstadium abbrechen zu lassen, wird in einem großen Gewissenskonflikt getroffen. Die Entscheidung, das eigene Kind wegen körperlicher Schädigungen nicht austragen zu können, mit der seelischen
Belastung, die individuell empfunden wird, ist die
schwerste Entscheidung, die ein Mensch überhaupt treffen kann.
({1})
Die seelische Not der Mutter ist deshalb so groß, weil
der Konflikt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern
auch das zu erwartende Schicksal ihres behinderten Kindes betrifft. Es geht hier nicht um die Frage von Gut und
Böse. Es geht darum, den betroffenen Eltern einen Raum
zu schaffen, der ein Ja für das Kind ermöglicht. Genau
das ist das Anliegen des Antrages der Christlich Demokratischen Union.
({2})
Eine Besonderheit bei Abtreibungen nach der
23. Schwangerschaftswoche ist die fortgeschrittene Entwicklung des Kindes, das in diesem Stadium außerhalb
des Körpers der Mutter meist lebensfähig ist. Dies verleiht der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben ein ganz besonderes Gewicht.
Je weiter das Kind entwickelt ist, desto größer ist
auch die emotionale Bindung der Mutter an ihr Kind. In
der heutigen Zeit fühlt sie ihr Kind nicht nur, sondern sie
kann es sehen und beobachten, seinen Herzschlag hören
und damit einen ganz besonderen Bezug zu ihrem Kind
entwickeln. Das bedeutet, dass nicht nur das Kind eines
besonderen Lebensschutzes bedarf. Es geht auch um einen besonderen Schutz der Mutter. Spätabtreibungen
sind eine extreme Belastung. Viele Frauen leiden ein Leben lang unter dem Verlust des Kindes und sind traumatisiert durch die in einer Zwangslage getroffene Entscheidung.
Nach einer embryopathischen Diagnose befinden sich
viele Frauen in einem Schockzustand. Vielen erscheint
es so, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Sie fühlen sich
angesichts der Vorstellung, ein schwer behindertes Kind
aufzuziehen, überfordert und meinen, über Jahre daran
gefesselt zu sein. Sie verspüren Angst vor Isolation und
haben das Gefühl, ein krankes Kind bedeute ein Versagen ihrerseits. Neben das Gefühl, dem Erfolgsdruck
nicht gerecht geworden zu sein, tritt oft die Befürchtung,
den erhöhten Betreuungsanforderungen nicht gerecht
werden zu können. Nicht unerheblich trägt auch der
Druck durch Angehörige dazu bei. Insbesondere die
Partner fürchten oft den Verlust von Freiheit und drängen die Mutter nicht selten zum Abbruch. Gravierend ist
auch die Furcht, den Lebenspartner zu verlieren.
Die wichtigste Aufgabe ist es deshalb, den Eltern
Perspektiven für ein gelungenes und glückliches Leben
mit ihrem behinderten Kind aufzuzeigen.
({3})
Dazu gehört neben der Erörterung der medizinischen
Fragen auch die Gelegenheit, die seelischen Konflikte in
Ruhe zu besprechen und nicht zuletzt auch praktische
Fragen bezüglich eines Lebens mit Behinderung zu klären. Ein ärztliches und ein psychosoziales Beratungsgespräch sollten daher unbedingte Voraussetzungen eines
späteren Schwangerschaftsabbruchs sein. Auch der Vater des Kindes sollte dabei berücksichtigt werden; denn
beide Elternteile sind davon betroffen.
({4})
Eine gute Beratung kann Raum schaffen, der den
Eltern ein selbstbestimmtes Ja zum Kind eröffnet.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Bischof Huber, hat darauf hingewiesen,
dass Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen,
damit die Schwangerschaft, also das Lebensverhältnis
zwischen Mutter und Kind, gelingt. Schärfere strafrechtliche Vorkehrungen seien dafür weder hilfreich noch
sinnvoll, so Wolfgang Huber.
Sehr geehrte Damen und Herren, an die Beratung
muss sich unseres Erachtens stets eine Bedenkzeit von
drei Tagen anschließen, sofern das Leben der Mutter
nicht akut gefährdet ist. Bei so extrem weit reichenden
Überlegungen wie der einer späten Abtreibung muss der
Frau und dem Paar Gelegenheit zu einer alles abwägenden Entscheidung gegeben werden. Die Frau muss Zeit
haben, sich über ihre Situation und die Beziehung zu ihrem Kind klar zu werden und über das nachzudenken,
was ihr die Beratung ermöglichen wollte. Die Bedenkzeit stellt damit die sinnvolle Fortsetzung einer guten
Beratung dar. Deswegen möchten wir diese Bedenkzeit.
({5})
Der Mutter wird dadurch auch Zeit gegeben, den Kontakt zu Familien mit behinderten Kindern zu suchen.
Dies nimmt Ängste.
Das Problem der Spätabtreibung wird auch durch Folgendes verschärft. Es gibt Fälle, in denen der Anlass eines späten Abbruchs eine embryopathische Diagnose ist,
die sich später als falsch herausstellt. Deshalb muss es
uns auch um Qualitätssicherung bei der pränatalen Diagnose gehen.
Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der haftungsrechtliche Hintergrund. Gynäkologie und Geburtshilfe ist die heute am stärksten vom Haftungsrisiko belastete Fachrichtung der Medizin. Die
Rechtsprechung zum - Zitat - „so nicht gewollten Kind“
als „Schaden“ hat auch die betroffene Ärzteschaft verunsichert. Dies verhindert die gebotene Zurückhaltung in
den Fällen, in denen eine Fehlbildung oder Schädigung
zwar möglich, aber eben nicht sicher ist.
Deshalb sind wir dafür, eine Beschränkung auf die
grobe Fahrlässigkeit, wie es sie auch in Frankreich gibt,
einzuführen. Dies erscheint uns als Christdemokraten als
sinnvolle und angemessene Lösung.
({6})
Sehr geehrte Damen und Herren, bei späten Abbrüchen sollte auf jeden Fall der Schutzrahmen geschaffen
werden, der auch für das Anfangsstadium einer Schwangerschaft gilt, also Beratung und Bedenkzeit. Hier fehlen
die entsprechenden Regelungen. Diese Regelungslücke
ignoriert die Tatsache, dass die Schutzbedürftigkeit von
Mutter und Kind mit fortschreitender Schwangerschaft
zunimmt und sich die mögliche Konfliktsituation verschärft.
Wir sind deshalb sehr froh, dass der Antrag der Unionsfraktion zur Vermeidung von Spätabtreibungen von der
Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unterstützt wird; denn sie ist an den Betroffenen am
nächsten dran.
Auch die anderen Fraktionen sehen die Probleme der
Spätabtreibung. Wir bedauern es aber, dass sich die Koalitionsfraktionen bisher einer wirksamen Regelung versperren.
({7})
Die Belastungen für Eltern sind generell gestiegen,
sowohl in finanzieller Hinsicht als auch im Hinblick auf
den gesellschaftlichen Kontext. Extremes Gewicht erlangen diese Mehrbelastungen, wenn sich herausstellt,
dass das erwartete Kind behindert sein wird. Es wird
dann zusätzlicher Pflege, Betreuung und Begleitung bedürfen sowie unter Umständen einen größeren finanziellen Einsatz erfordern. Dies kann aus Sicht der betroffenen Eltern existenzielle Fragen aufwerfen, vor denen wir
nicht die Augen verschließen dürfen. Deshalb müssen
wir bei allen Reformmaßnahmen im sozialen Bereich
sehr aufpassen, dass wir den besonderen Anliegen der
Behinderten und ihrer Angehörigen gerecht werden.
Dies müssen wir im Blick behalten.
({8})
Für die späten Schwangerschaftsabbrüche dürfen
nicht allein die Eltern und die Ärzte verantwortlich gemacht werden. Auch wir tragen Verantwortung. Unsere
Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen für die Betroffenen zu verbessern, ihnen ein erweitertes Betreuungsangebot, finanzielle Unterstützung und eine gelingende
Integration ihrer Kinder in die Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass die Gesellschaft positiv auf behinderte Kinder zugeht, haben
wir schon sehr viel erreicht. Das muss unser gemeinsames Anliegen sein.
({9})
Ich will abschließend sagen: Es steht uns nicht an, die
betroffenen Eltern zu verurteilen, sondern es ist unsere
Aufgabe, unserer Fürsorgepflicht gerecht zu werden.
Das wollen wir gemeinsam tun.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Ober.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich stehe heute hier als Abgeordnete, aber auch als
Gynäkologin und Geburtshelferin. Ich beschäftige mich
mit diesem Thema seit 30 Jahren. Ich weiß um viele
schwere Schicksale, die damit verbunden sind. Ich kenne
auch die Verzweiflung der Frauen und Familien. Ich
weiß, wovon ich rede.
Der Antrag der CDU/CSU „Vermeidung von Spätabtreibungen - Hilfen für Eltern und Kinder“ zielt darauf
ab, Spätabtreibungen im großen Umfang zu vermeiden
und sie eigentlich ganz abzuschaffen. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, wollen eine
Pflichtberatung bei der Spätabtreibung einführen. An
diese Zwangsberatung soll dann auch die Kostenübernahme des Eingriffs durch die Krankenkasse geknüpft
werden. Das wurde vorhin zwar geleugnet, aber es ist in
Ihrem Antrag enthalten. Zudem soll eine Frau in dieser
sehr schwierigen Situation immer mindestens drei Tage
warten müssen, bevor ein Eingriff stattfinden kann. Ich
teile Ihre Meinung nicht. Denn mit Ihrem heute vorgelegten Antrag unterstellen Sie, dass viele Spätabtreibungen fälschlicherweise vorgenommen werden.
Worum handelt es sich, medizinisch gesehen, bei einer
Spätabtreibung? Spätabtreibungen sind Abbrüche der
Schwangerschaft nach der 23. Schwangerschaftswoche.
Sie unterscheiden sich von psychosozialen Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölfte Woche durch ein ganz
wichtiges Merkmal: Bei Abbrüchen nach der zwölfte
Schwangerschaftswoche handelt es sich grundsätzlich
um Abbrüche von Schwangerschaften, die gewollt waren. Hier geht es um Wunschkinder.
({0})
Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Aber auch wenn
Mutter und Vater sich für ein Kind entschieden haben,
können Schwangerschaften in ihrem Verlauf entweder
für die Mutter oder für das Ungeborene oder für beide
erhebliche gesundheitliche Gefahren und Schäden mit
sich bringen. Dann müssen die Eltern die Möglichkeit
haben, sich neu entscheiden zu dürfen.
Mutter und ungeborenes Kind sind eine Einheit. Ein
ungeborenes Kind kann nicht isoliert von der Mutter gesehen werden. Ich nenne Ihnen drei Gefährdungspotenziale für Mutter und Kind, die aus medizinischer Sicht
auszumachen sind.
Erstens kann eine Gefährdung der Mutter vorliegen,
wie zum Beispiel ein Herzfehler, eine Uterusmissbildung oder eine Lungenerkrankung. Weil Mutter und
Kind eine Einheit sind, haben solche Erkrankungen der
Mutter auch Auswirkungen auf das Ungeborene. Das
Kind ist dann auch gefährdet. Stellt sich eine solche Gefährdung der Mutter im Verlauf der Schwangerschaft
heraus, darf es keinen Zwang für die Mutter geben, unter
Gefahr für ihr eigenes Leben das Kind austragen zu müssen.
({1})
- Lassen Sie mich die Beispiele weiter nennen! Man
sollte diese Punkte einmal systematisch auflisten und
nicht immer nur hochemotional diskutieren.
({2})
Zweitens kann eine spezifische Schwangerschaftserkrankung auftreten, zum Beispiel eine Präeklampsie,
landläufig auch Schwangerschaftsvergiftung genannt.
Durch einen solchen Befund sind Mutter und Kind erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Es kann
zu einem Versagen aller Organe sowohl der Mutter als
auch des Kindes kommen. Auch hier darf es keinen
Zwang für die Mutter geben. Sie muss zusammen mit
dem Vater frei entscheiden können.
Drittens können auch die Lebensaussichten von Mutter und Kind nach der Geburt gefährdet sein. Eine
Schwangerschaftspsychose und auch eine Suizidgefahr
sind für die Lebensaussichten der Mutter und des Kindes
von Bedeutung.
Diese drei Gefahrenpotenziale für Mutter und Kind
können wir nicht voneinander trennen. In der Medizin
gibt es oft fließende Übergänge. Es ist keine reine Mathematik.
Ein weiterer Aspekt. Schwangeren Frauen werden
immer mehr Untersuchungen angeboten. Das haben wir
auch heute schon mehrfach gehört. Die meisten Schwangeren wollen viele dieser Untersuchungen. Ob sie diese
Angebote wahrnehmen wollen, ist zu Recht allein eine
Entscheidung dieser Frauen und der werdenden Väter.
Sie haben aber auch - das möchte ich betonen - ein
Recht auf Nichtwissen.
Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frauen
und Familien vor einer Untersuchung über mögliche
Folgen aufgeklärt werden. Die behandelnden Ärzte haben eine Informationspflicht. Die qualifizierte Beratung im Vorfeld der Untersuchung ist ebenso notwendig
wie nach Erhalt eines möglicherweise pathologischen
Befundes. Über die Notwendigkeit einer qualifizierten
Beratung sind wir uns alle sicher einig.
Es gibt heute viele Untersuchungsmethoden für
Schwangere, die während der gesamten Schwangerschaft auf mögliche gesundheitliche Probleme aufmerksam machen und gegebenenfalls Erkrankungen in der
Schwangerschaft aufdecken und, wie schon gesagt, eine
Therapie aufzeigen können. Dies schützt Leib und Leben der Mutter und des Kindes.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union,
Ihr Argument für eine Pflichtberatung ist schwach. Sie
führen eine Scheindiskussion. Denn Sie geben nicht zu,
dass das Mehr an diagnostischen Möglichkeiten eben
nicht zu einem Mehr an Spätabtreibungen geführt hat;
auf die entsprechenden Zahlen wurde schon hingewiesen. Die Zahlen der Spätabbrüche - ich habe sie genau
notiert - schwanken seit 1996 jährlich zwischen 159 und
217 - und dies nicht kontinuierlich ansteigend, sondern
von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Die Abbrüche sind von
der Indikation abhängig. Insgesamt 0,1 Prozent aller in
Deutschland vorgenommenen Abbrüche sind Spätabbrüche.
({3})
Wir wenden uns ausdrücklich gegen Ihren Antrag, der
unserer Meinung nach eine Schlechterstellung von
Frauen zur Folge hätte. Sie diskriminieren und bevormunden mit Ihrem Vorschlag Frauen und Familien.
({4})
- Sie sollten einmal zuhören, um was es hier geht.
Im Falle von Spätabtreibungen müssen wir davon
ausgehen, dass das Kind gewollt und es ein Wunschkind
ist, es aber ein für die Einheit von Mutter und Ungeborenem schwerwiegendes gesundheitliches Problem gibt.
Spätabtreibungen kann man nicht durch eine Pflichtoder Zwangsberatung von Frauen verhindern, wie hier
fälschlicherweise dargestellt wird.
Wir reden bei Spätabtreibungen auch über Kinder, die
nach der Geburt nicht lebensfähig sind. Wir reden über
Familien, in denen ein Kind beispielsweise lebenslang
von Maschinen abhängig ist; auch darauf möchte ich
hinweisen. Wir reden auch über Frauen, die durch den
Antrag der Union möglicherweise neuen Risiken ausgesetzt wären. Mit Ihrem Antrag müsste zum Beispiel eine
suizidgefährdete Frau nach einer Pflichtberatung mindestens drei Tage auf einen ihr zustehenden Abbruch
warten. Das ist doch nicht Ihr Ernst! Ich frage Sie, Frau
Professor Böhmer: Wie können Sie dieser Frau, die
suizidgefährdet ist und drei Tage warten müsste, mit diesem Vorschlag helfen?
({5})
- Das ist keine Seltenheit; das ist in der Praxis Alltag,
Frau Müller.
Ich möchte noch ein weiteres Beispiel aus der Praxis
ansprechen. Bei schwangeren Frauen kann es während
der gesamten Phase der Schwangerschaft zu einem Blasensprung kommen. Dies lässt sich nicht prospektiv
feststellen. Es ist fast unmöglich, eine Schwangerschaft
mit einem Blasensprung über die normale Dauer einer
Schwangerschaft durchzuhalten.
({6})
Die Folgen können sein: Ein Kind kommt durch die sich
nach einem Blasensprung entwickelnde Infektion
schwer geschädigt zur Welt. Die Frau kann schwer geschädigt sein. Dies kann sogar zum Tode führen.
({7})
Ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit - das betrifft
die Mehrzahl der Spätabtreibungen, über die wir reden;
Sie wollen sie ja abschaffen -: Es geht bei Spätabtreibungen nicht darum, dass eine Frau ein Kind leichtfertigerweise plötzlich nicht mehr haben möchte. Es wurde
in den Raum gestellt - das wurde mehrfach gesagt; die
Kollegin eben hat auch darauf hingewiesen -, dass in
Deutschland zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu Spätabbrüchen führen würde. Ich sage Ihnen: Das ist unsachlich. Eine späte Abruptio wird nicht
wegen einer Hasenscharte des Kindes vorgenommen,
sondern kann nur aus Gründen eines schwerwiegenden
medizinischen Befundes der Mutter - wohlgemerkt: der
Mutter - vorgenommen werden.
Mit dem Thema Spätabtreibung soll - ich unterstelle
das; das erkennt man, wenn man zwischen den Zeilen
liest - die Diskussion um den § 218 StGB wieder aufgemacht werden.
({8})
Wir als SPD-Fraktion wollen das nicht. Wir wollen
keine Gesetzesänderung und keine Beratungspflicht für
Frauen nach einem medizinischen Befund.
({9})
Wir wollen keine Verschlechterung der Situation der
Frauen durch eine Zwangsberatung. Wir wollen die
Frauen und Familien im Falle eines schwerwiegenden Befundes in dieser ohnehin schwierigen Situation nicht noch
zusätzlich belasten. Wir wollen, dass mit diesem Gesetz
auch weiterhin verantwortungsvoll umgegangen wird.
Frau Kollegin.
Noch eine Bemerkung, Frau Präsidentin; dann bin ich
fertig. - Frauen und Männer sollen qualitativ hochwertige Beratungsangebote vorfinden. Das unterstützen wir.
Aber Frauen und Familien sollen auch in Zukunft die
Entscheidungsgewalt über ihre Gesundheit behalten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, es geht nicht um eine Verschärfung des § 218
StGB, sondern darum, Frauen in einer extremen Konfliktsituation mehr Hilfe anzubieten
({0})
und einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens zu
gewährleisten. Das hat für meine Fraktion und für mich
oberste Priorität.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem
Urteil vom 28. Mai 1993 beauftragt, menschliches Leben - auch das ungeborene - zu schützen sowie ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, damit ein angemessener und somit wirksamer Schutz erreicht wird. Als der
Deutsche Bundestag diese Vorgaben umsetzte, musste
ich, die ich für die CDU/CSU-Fraktion mit den anderen
Fraktionen verhandelt habe, erleben, wie schwierig es
war, nach jahrelangem Streit zu einem parteiübergreifenden Kompromiss zu kommen.
Mit der Verabschiedung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes wurde im Juni 1995 die so
genannte embryopathische Indikation als eigener Tatbestand abgeschafft und als Bestandteil der medizinischen
Indikation aufgenommen. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Union, die damals dabei waren, wissen, wie
schwierig uns diese Entscheidung gefallen ist und wie
sehr wir damals bei diesem Thema miteinander gerungen haben.
Insbesondere die Behindertenverbände, aber auch die
Kirchen haben uns immer wieder aufgefordert, auf eine
embryopathische Indikation zu verzichten. Behinderte
Menschen sahen in dieser Indikation eine Diskriminierung. In der Begründung zur neu formulierten medizinischen Indikation haben wir klargestellt, dass eine Behinderung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes
führen darf. Damit haben wir unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine Behinderung als solche niemals
der Grund für eine Abtreibung sein kann.
Das setzt natürlich voraus, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, die ein Leben mit behinderten Menschen ermöglichen. Es kommt darauf an, wie wir mit Behinderten umgehen und wie wir uns gegenüber Müttern
verhalten, die ein behindertes Kind zur Welt bringen.
Wenn Eltern behinderter Kinder gefragt werden, ob denn
das Kind nicht hätte abgetrieben werden können, ist das
ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.
({1})
Die Art und Weise, wie bei uns in zunehmendem Maße
darüber geurteilt wird, ob Leben lebenswert ist, ist erschreckend. Das gilt übrigens nicht nur für den Anfang
des Lebens.
({2})
Dieser Entwicklung müssen wir mit allem Nachdruck
entgegentreten.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns, dem Gesetzgeber, eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht
aufgegeben. Entgegen der gesetzgeberischen Erwartung
aus dem Jahre 1995 zeigt sich jedoch, dass Schwangerschaftsabbrüche allein wegen einer Behinderung des
Kindes erfolgen.
({4})
Der Grund für eine medizinische Indikation kann jedoch
nur eine schwerwiegende Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der Schwangeren sein.
Da die Kinder immer früher lebensfähig sind, werden
auch immer mehr lebensfähige Kinder abgetrieben. Dieser Tatsache dürfen wir uns nicht verschließen. Die Zahlen, die in Ihrem Antrag genannt werden, beweisen, dass
die Anzahl der Spätabtreibungen gestiegen ist. Frau
Ober, in Ihrem Antrag steht, dass es im Jahre 1996 zu
159 und im Jahre 2003 zu 217 Spätabtreibungen gekommen ist. Das ist doch eine Steigerung.
({5})
Der Bundesverband Lebensrecht nennt eine Dunkelziffer von 800 Spätabtreibungen, also weit mehr. Diese
Zahlen können Sie nicht einfach vom Tisch wischen,
meine Damen und Herren von der Koalition.
({6})
Bei der medizinischen Indikation findet weder eine
psychosoziale Beratung statt, noch gilt eine Frist für die
Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs. Wir hatten
deswegen bereits in der letzten Legislaturperiode Gespräche geführt und einen entsprechenden Antrag zur
Vermeidung von Spätabtreibungen im Bundestag eingebracht, den Sie aber - leider Gottes - abgelehnt haben.
Auch jetzt wollen Sie auf unsere Vorschläge nicht eingehen. Sie ignorieren auch, dass die Deutsche Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe dringend Änderungen
fordert. Bei der Verabschiedung des Gesetzes 1995
wurde die pränatale Diagnostik wesentlich seltener angewandt: nur in Ausnahmefällen. Heute findet bei 70 bis
80 Prozent aller Schwangerschaften Pränataldiagnostik
statt. Das sind völlig andere Verhältnisse.
Natürlich kann man mit der Pränataldiagnostik helfen, schon im Mutterleib. Aber der umgekehrte Fall,
nämlich dass mit einer Diagnose sozusagen der Rollladen abläuft und die Frauen sich in dann großer Not zu einer Abtreibung raten lassen, kommt doch weit häufiger
vor. Vor dieser Tatsache können Sie die Augen nicht verschließen.
({7})
Deswegen ist eine umfassende Beratung vor und nach
pränataler Diagnose ein Kernpunkt unseres Antrags.
({8})
Das Recht auf Beratung gibt es bereits, aber es reicht
nicht aus, um das ungeborene Leben zu schützen und genügend Hilfen für die Frauen in großer Not anbieten zu
können. Werdende Eltern müssen frühzeitig über mögliche Konfliktsituationen aufgeklärt werden, besonders im
Zusammenhang mit Pränataldiagnostik. Deswegen brauchen wir die psychosoziale Beratung. Nach einer pränatalen Diagnose mit pathologischem Befund muss nach
unserer Meinung und nach Meinung der Fachleute Beratung erfolgen, und zwar ärztliche und psychosoziale. Die
Praxis zeigt eben, dass Frauen dort, wo ihnen die
Diagnose gestellt wird, zugleich der Abbruch angeboten
wird. Diese Frauen stehen unter großem Druck und nehmen sich oft nicht genug Zeit zum Überlegen, weil die
Lösung so nahe zu liegen scheint. Eine sofortige Abtreibung bietet sich nicht nur räumlich an, sondern ist auch
praktikabel, weil sich in der Schocksituation zunächst
keine andere Lösung anzubieten scheint.
Mit der Beratungspflicht wollen wir erreichen, dass
die Entscheidungsfindung nach dem ersten Schock erfolgt. Unser Ansatz ist, neben einer medizinischen Beratung alle Möglichkeiten und Hilfen aufzuzeigen, die Eltern ermutigen, auch Kinder mit einer Behinderung
anzunehmen. Auf der Grundlage möglichst umfassender
Informationen, die alle Aspekte einbeziehen, kann sich
eine Frau für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden. Wenn aber eine Abtreibung vorgenommen wurde, ist die Entscheidung nicht mehr änderbar. Viele leiden ein Leben lang darunter, sich vorschnell
entschieden zu haben. Deswegen fordern wir, nach Feststellen der Indikation eine verbindliche Bedenkzeit von
mindestens drei Tagen vorzuschreiben, sofern das Leben
der Mutter nicht gefährdet ist.
Wenn Sie gemäß Ihrem Antrag nur wollen, dass
Schwangere auf eine angemessene Bedenkzeit hingewiesen werden, wird das keinerlei Verbesserungen bringen.
Denn das Recht auf Beratung hatten wir auch bisher. Es
ist nicht in genügender Weise wahrgenommen worden.
So ist es mir unbegreiflich, dass Sie, meine Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, die Ihrer Meinung nach bewährte Beratungsregelung nach § 218 a Abs. 1 StGB für
die medizinische Indikation ablehnen. Gerade diese
Schwangeren sind in besonderer Not und bedürfen unserer besonderen Hilfe. Darum geht es.
({9})
Eine Beratungspflicht und eine verbindliche Bedenkzeit sollen der Mutter helfen, sie vor einer Entscheidung
zu bewahren, die sie vielleicht ihr Leben lang bereut.
Um der Nachbesserungspflicht gemäß dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, ist aus
Sicht der Ärzte eine genauere statistische Erfassung von
Abtreibungen dringend erforderlich. Die BundesregieMaria Eichhorn
rung hat auf unsere Kleine Anfrage zur Abtreibung geantwortet, dass entsprechende Statistiken fehlen. Vor
diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum Sie
sich einer verbesserten statistischen Erfassung der Abtreibungen widersetzen.
({10})
Wir werden bei der Anhörung Gelegenheit haben, die
Fachleute zu befragen. Ich hoffe sehr, dass es dann gelingen wird, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Nachdem ich hier zu Beginn dieser Legislaturperiode
im Rahmen der Debatte über die Regierungserklärung
das Thema Spätabtreibung angesprochen hatte, kam Ministerin Renate Schmidt auf mich zu und hat gesagt, dass
wir das Problem lösen müssen.
({11})
Mit dem Antrag, den Sie vorgelegt haben, werden Sie
die Zahl der Spätabtreibungen nicht verringern. Dieser
Antrag ist nur ein Scheingefecht. Der Lebensschutz ist
eine Frage des Gewissens. Daher muss der Fraktionszwang bei der Abstimmung über die Spätabtreibung
nach unserer Überzeugung aufgehoben werden.
({12})
Wenn es Ihnen tatsächlich Ernst damit ist, etwas verändern zu wollen, dann bitte ich Sie, die Vorschläge der
Fachleute, die wir in unseren Antrag aufgenommen haben, aufzugreifen. Nur so ist es nach unserer Überzeugung möglich, ungeborenes Leben - auch ungeborenes
behindertes Leben - zu schützen und Frauen in größter
Not mehr zu helfen, als das bisher möglich war.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, worüber wir heute diskutieren. Wir diskutieren heute über
die Situation von Frauen, die sich in einer äußerst
schwierigen Konfliktsituation befinden, von Frauen, die
sich zwar ein Kind wünschen, aufgrund einer medizinischen Indikation aber vor eine schwerwiegende Entscheidung gestellt werden. Sie werden von den Ereignissen häufig überrollt, weil die entsprechende Beratung
fehlt.
({0})
Diese Frauen haben ein Recht auf unsere Unterstützung.
Sie stehen für uns im Vordergrund. Werdendes Leben
kann nicht gegen sie, sondern nur gemeinsam mit den
Frauen geschützt werden.
({1})
Wie soll nun unsere Unterstützung aussehen? Meine
Herren und Damen von der Opposition, Sie fordern eine
ärztliche und psychosoziale Pflichtberatung. Sie sagen:
Wird diese nicht wahrgenommen, dann sollen die Kosten der pränatalen Diagnostik von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen werden. Wir glauben nicht, dass wir die Frauen bevormunden müssen und
dass Druck das richtige Mittel ist, wenn Hilfe benötigt
wird.
({2})
Darüber hinaus erfordert die besondere Situation der
Schwangeren ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen dem behandelnden Arzt und der betroffenen Frau.
Eine Pflichtberatung wäre an dieser Stelle mit Sicherheit
kontraproduktiv. Darum setzen wir auf ein freiwilliges
psychosoziales Beratungsangebot zur Stärkung der
Entscheidungskompetenz der Frauen. Ganz genau darum geht es nämlich.
Im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik sehe
ich zunehmend die Gefahr, dass Schwangeren heutzutage nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen und
häufig auch ohne eine ausreichende Aufklärung und Beratung über mögliche Konsequenzen eines so genannten
- in Anführungszeichen gesprochen - positiven Befundes zu viele dieser Untersuchungen angeboten werden.
Wir wollen die Frauen daher ermutigen, nicht zwingend
jede mögliche und verfügbare Pränataldiagnostik durchführen zu lassen. Die Schwangere soll ihr Recht auf
Nichtwissen ausdrücklich in Anspruch nehmen. Das ist
hier von mehreren entsprechend vertreten worden. Dies
kann sie aber nur, wenn sie durch eine professionelle Beratung unterstützt wird. Hier sehen wir vor allen Dingen
die Ärzteschaft in der Pflicht; denn obwohl seit 1992 ein
Anspruch auf Beratung nach § 2 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes besteht, ist bisher noch kein ausreichendes psychosoziales Beratungsangebot entwickelt worden. An dieser Stelle gebe ich allen Vorrednerinnen
Recht.
Die Opposition fordert in ihrem Antrag, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer medizinischen Indikation - ({3})
- Danke, Frau Lenke; Sie haben Recht. - Die CDU/CSU
- das wiederhole ich gerne - fordert in ihrem Antrag,
({4})
dass die Entscheidung über das Vorliegen einer medizinischen Indikation dem behandelnden Arzt entzogen
werden soll.
({5})
- Hören Sie zu, Sie müssen Ihren Antrag genauer
lesen. ({6})
Dabei soll die Schwangere verpflichtet werden, sich der
Entscheidung eines Ärztekollegiums zu beugen. Die
Konfliktsituation der Frau ist im jeweiligen Fall tragisch
genug. Ich glaube nicht, dass die Entscheidung eines solchen Kollegiums für die betroffene Frau eine Hilfe darstellen würde. Im Gegenteil: Sie wird eher das Gefühl
haben, einer entwürdigenden Vorführsituation ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
({7})
Wir dagegen fordern, dass die Ärzteschaft dafür
Sorge trägt, dass durch den behandelnden Arzt Fachleute
anderer Disziplinen herangezogen werden, wenn die Behinderung des Ungeborenen diagnostiziert wurde. Das
ist im Übrigen in vielen Fällen schon heute der Fall. Dies
noch mehr in das Bewusstsein der Ärzteschaft hineinzutragen ist unser Anliegen.
Der Antrag der CDU/CSU enthält den Vorschlag,
§ 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch um die Formulierung zu
erweitern, dass ein embryopathischer Befund allein kein
Grund für den Abbruch einer Schwangerschaft darstellt.
Eine solche Klarstellung ist aber unserer Ansicht nach
nicht erforderlich; denn eine diagnostizierte Behinderung des Ungeborenen stellt bereits heute keinen Grund
für einen Schwangerschaftsabbruch dar. Eine Ergänzung
des § 218 a Strafgesetzbuch ist damit völlig überflüssig.
Genauso überflüssig ist die von Ihnen gewollte Prüfung des Haftungsrechts für Ärzte bei Diagnoseirrtümern. Im Klartext heißt das nämlich, Sie fordern eine
Einengung der Haftung auf Fälle von grober Fahrlässigkeit. Ich frage Sie: Wollen Sie, dass ausgerechnet gegenüber dem ungeborenen Leben eine geringere Sorgfaltspflicht der Ärzte gelten soll? Das kann doch nicht Ihr
Ernst sein. Wir sind der Meinung, dass die geltende Regelung der allgemeinen Arzthaftung im Interesse der betroffenen Frauen beibehalten werden muss. Sie dürfen
anderen Patienten gegenüber nicht benachteiligt werden.
({8})
Schließlich fordern Sie eine deutliche Ausweitung
der statistischen Erfassungsmerkmale für die Abbruchstatistik, Frau Eichhorn.
({9})
Ihrer Forderung stehen erhebliche datenschutzrechtliche
Bedenken gegenüber; das wissen wir. Die Quote aller
medizinisch indizierten Abbrüche liegt bei knapp
3 Prozent. Spätabtreibungen machen in der Gesamtzahl
aller Schwangerschaftsabbrüche einen Anteil von gerade
einmal 0,1 Prozent aus. So ist es leicht möglich, aus der
Statistik Rückschlüsse auf die betroffenen Personen zu
ziehen. Das können wir nicht zulassen.
({10})
Um es auf den Punkt zu bringen: Der Antrag der CDU/
CSU ist nicht zielführend, weder im Hinblick auf die Vermeidung von Spätabtreibungen noch im Hinblick auf nötige Hilfestellungen für die Frauen. Deshalb sagen wir:
Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind ausreichend und sorgen für die notwendige Rechtssicherheit.
Was Frauen in ihrer sehr persönlichen Notlage tatsächlich
brauchen, ist ein besseres Beratungs- und Hilfsangebot,
wie wir es in unserem Antrag festschreiben.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei der heutigen Diskussion um neue oder ergänzende Regelungen bei späten Schwangerschaftsabbrüchen, wie Sie sie fordern, können wir uns diesem Thema
natürlich auf unterschiedliche Weise nähern, wie dies
alle Vorrednerinnen und der Vorredner heute getan haben. Sie können dies mit moralischen und ethischen Aspekten, medizinischen und statistischen, bevölkerungspolitischen oder kulturellen Argumenten tun. Aber ich
bin ganz sicher: Zum Schluss sind es meistens ganz subjektive und emotionale Gründe, die unsere grundsätzliche Einstellung zu diesem Thema prägen. Es geht gar
nicht vorrangig - das darf es auch nicht - um die Frage,
ob Schwangerschaftsabbrüche auch in Zukunft möglich
sein sollen und müssen, sondern - da gebe ich Frau
Lenke Recht - es muss darum gehen, wie werdende
Mütter und Väter in Konfliktsituationen eine bestmögliche Betreuung und Beratung erfahren können. Deshalb
müssen wir uns diesem Thema aus der Sicht der Betroffenen nähern und uns fragen, was werdende Mütter und
Väter brauchen.
Sie brauchen eine verbesserte und zielgenauere ärztliche und psychosoziale Beratung. Darin sind wir uns einig. Aber die Frage ist, auf welchem Weg wir diese erreichen. Wir sind davon überzeugt, dass eine
Pflichtberatung, bei der zwischen den Zeilen immer
das Misstrauen gegenüber den Eltern mitschwingen
kann, nicht der richtige Weg ist.
({0})
Ich will ausdrücklich niemandem von Ihnen dieses Misstrauen unterstellen, aber ich will Ihnen deutlich machen,
dass wir die Gefahr, dass Misstrauen zwischen den Zeilen mitschwingen kann, vermeiden wollen.
({1})
Der Schutz der Frauen ist notwendig. Das will ich ausdrücklich für uns betonen.
({2})
Sie wecken mit der Überschrift Ihres Antrags die
Hoffnung, echte Hilfen für Eltern und Kinder zu vermitteln. In der Passage Ihres Antrags über die Haftung haben Sie fast wörtlich die Forderungen der Gynäkologen
übernommen. Es geht Ihnen eher um die Hilfen für diese
Ärzte. Das können wir nicht mittragen. Wir können nicht
mittragen, die Haftung in solchen Fällen gegenüber der
Haftung in sämtlichen anderen Krankheitsfällen zu beschränken. Das ist für uns nicht akzeptabel. Das will ich
hier ganz deutlich machen.
({3})
Ich frage mich, welch negatives Bild Sie von der Ärzteschaft haben, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben,
dass in „der ärztlichen Praxis die Tendenz besteht, im
Zweifel einen Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen“.
({4})
Sie können darauf doch nicht mit einer Beschränkung
der Haftung reagieren. Damit stellen Sie das Problem
auf den Kopf und bieten falsche Lösungen an.
({5})
Ich bitte Sie, noch einmal Ihren Antrag daraufhin zu
überdenken, wie dieses Gremium beraten soll, das Sie
vorschreiben. Frau Böhmer sagt in Interviews, Frauen
müssten nicht vor dieses Gremium treten.
({6})
Das wäre ein richtiger Ansatz. In Ihrem Antrag ist das
offen. Ihre Formulierung kann völlig frei interpretiert
werden. Ohne eine Klarstellung ist das für uns indiskutabel.
Sie beziehen sich auf Sachverständige und nennen dabei vor allem die Gynäkologen.
({7})
Es gibt Sachverständige in diesem Bereich, die jeden
Tag mit solchen Situationen zu tun haben: Das sind die
Beraterinnen und Berater von Pro Familia. Sie müssten
deren Brief auf dem Tisch haben, in dem sie uns dringend bitten, die Beratungs- und Betreuungssituation der
Frauen und Väter zu verbessern, dieses aber nicht durch
Regelungen zur Verschärfung der medizinischen Indikation oder durch Beschränkungen bei der Haftung zu tun.
In der Anhörung werden wir uns mit diesen Argumenten
auseinander setzen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam einen
sinnvollen, die Würde der Frauen achtenden Weg finden.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3948 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 15/4148 soll an dieselben Ausschüsse über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie
die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf:
26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung der Bundes -Tierärzteordnung
- Drucksache 15/4023 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz ({1})
- Drucksache 15/4067 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des Antrags der Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergängen sofort verbessern
- Drucksache 15/4150 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bürokratieabbau und mehr Bürgernähe
durch Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen
- Drucksache 15/3106 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy
Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker
Beck ({4}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche
- Drucksache 15/4134 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG
({6})
- Drucksache 15/4119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4150 soll
zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 4. Juni
2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und
zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem
Gebiete
- Drucksache 15/4026 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 15/4166 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Frechen
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4166, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt
es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgesetzes und arzneimittelrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/3593 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({11})
- Drucksache 15/4174 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4174, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU/CSU
und FDP angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 15/3943 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({13})
- Drucksache 15/4152 Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4152, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Erheben Sie sich bitte, wenn
Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist daVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
mit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen
worden.
Zusatzpunkt 2 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gräbergesetzes
- Drucksache 15/3753 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({15})
- Drucksache 15/4170 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({16})
Thomas Dörflinger
Ina Lenke
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4170, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Einigkeit in der Gräberfrage in zweiter Beratung.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 2 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädigungsgesetzes ({17})
- Drucksache 15/3944 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19})
- Drucksache 15/4169 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4169, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen worden,
während sich die CDU/CSU enthalten hat.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
auch in dritter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der
CDU/CSU angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bedeutung des Sparkassensektors für die Mittelstandsfinanzierung vor dem Hintergrund
von Forderungen nach Privatisierung der
Sparkassen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Hans-Ulrich Krüger.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Gemäß § 2 des Sparkassengesetzes
Schleswig-Holstein haben die dortigen Sparkassen die
Aufgabe, die angemessene und ausreichende Versorgung
aller Bevölkerungskreise, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft, mit geld- und kreditwirtschaftlichen
Leistungen auch in der Fläche sicherzustellen. Dadurch
unterstützen sie die Aufgabenerfüllung der Kommunen
im wirtschaftlichen, regionalpolitischen, sozialen und
kulturellen Bereich. Das gilt auch für Nordrhein-Westfalen, Herr Dautzenberg.
({0})
Gemeinwohlorientierung auf der einen Seite, Mittelstandsförderung auf der anderen - das sind die zwei Fundamente, auf denen die Sparkassen in Schleswig-Holstein wie auch in der gesamten Bundesrepublik
aufbauen.
({1})
Dies funktioniert so hervorragend, dass Sparkassen mit
Marktanteilen von 50, 60 oder sogar 70 Prozent - sowohl was ihre Privatkunden als auch die Firmenkunden
angeht - keine Ausnahme, sondern eher die Regel sind.
Die Gründe für diese Erfolgsstory liegen auf der
Hand. Sie liegen zum einen in der dezentralen öffentlich-rechtlichen Struktur der Sparkassen, zum anderen in
der Kenntnis der regionalen und lokalen Belange. Diesen in Deutschland bewährten Standard wollen nun die
FDP und CDU/CSU in Schleswig-Holstein aufweichen;
denn sie beabsichtigen die Privatisierung der Sparkassen. Wohin dies führen kann, zeigt das Beispiel Großbritannien. Mehr als 3 Millionen Briten haben kein
Konto. In Großbritannien haben die Kirchen die Funktionen von Finanzdienstleistern übernehmen müssen.
({2})
Noch schlimmer ist es in Amerika, wo dubiose Geldanbieter Wochen- oder Monatschecks von Menschen
ohne Konto kaufen und für diese Leistung exorbitante
Kosten in Rechnung stellen. Solche Zustände wollen wir
in Deutschland nicht haben, Herr Carstensen.
({3})
Es macht keinen Sinn, durch Privatisierung der Sparkassen den erfolgreichsten Anbieter auf dem heimischen
Markt aus dem Rennen zu nehmen. Die Interessen des
Mittelstandes und der Kunden an einer zufrieden stellenden Versorgung mit Finanzdienstleistungen vor Ort würden auf der Strecke bleiben. Eine Großbank, die eine
Sparkasse übernimmt, wird - insbesondere auf dem
Lande - nicht deren Filialnetz fortführen. Damit geht die
enge Bindung zu den Kunden vor Ort verloren. Im Mittelpunkt stehen dann nicht mehr die Interessen der Kunden, sondern die der Bank.
Die Bedeutung der Sparkassen für die Finanzierung
des Mittelstandes ist bekannt. Ich verweise hierzu nur
auf eine Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer vom November 2003. In der Mittelstandsfinanzierung sind die Sparkassen als klare Sieger
gegenüber den Privatbanken hervorgegangen. Dies gilt
sowohl hinsichtlich der Mittelstandsorientierung als
auch hinsichtlich der Betreuungsqualität für die kleinen
oder mittleren Unternehmen, die mehr als 90 Prozent aller deutschen Unternehmen ausmachen, 50 Prozent der
Bruttoinvestitionen tätigen und 70 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigen.
Diejenigen von Ihnen, die meinen, bei einem wie in
Schleswig-Holstein beabsichtigten Privatverkauf würden
nur bis zu 49 Prozent an Kunden, Mitarbeitern und Institutionen veräußert, erkennen nicht, dass im Aktienrecht
zum einen kein Platz für Gemeinwohlorientierung ist.
Die Gewinnerzielung im Interesse der Aktionäre ist das
dominierende Unternehmensziel. Auch ein Minderheitsaktionär hat Anspruch darauf, dass sein investiertes Kapital den höchstmöglichen Gewinn abwirft. Der Vorstand
einer AG handelt daher unter Umständen pflichtwidrig,
wenn die AG durch soziale Kosten, zum Beispiel durch
Sponsoring, belastet wird. Zum anderen wird eine Regelung, die eine Eingrenzung des Verkaufs auf nur wenige
Begünstigte vorsieht, mit EU-Recht nicht vereinbar sein
und wird aus Brüssel nur lädiert zurückkommen.
Haben Sie in Schleswig-Holstein und überall dort, wo
Privatisierungsüberlegungen verfolgt werden, den Mut,
Ihren Bürgermeistern vor Ort zu sagen, was es heißt,
wenn die Sparkassen nach erfolgter Privatisierung die
Aufgaben der Kommunen nicht mehr unterstützen können! Alleine im Jahre 2001 haben die deutschen Sparkassen hierfür über 270 Millionen Euro ausgegeben. Sie
sind damit in Deutschland der größte nicht staatliche
Förderer sozialer und kultureller Belange. Sagen Sie den
aktuell Betroffenen, den 10 000 Mitarbeitern der Sparkassen in Schleswig-Holstein, wie viele von ihnen im
Falle einer Privatisierung arbeitslos werden! Sagen Sie
den Bürgerinnen und Bürgern, wo sie die nächste geöffnete Filiale finden werden, wenn ihre Sparkasse eines
Tages privatisiert ist! Erkennen Sie doch bitte die Realitäten! Nehmen Sie die Bürgerinnen und Bürger in ganz
Deutschland, das heißt auch in Schleswig-Holstein, im
Saarland und insbesondere in Stralsund, ernst! Die Bürger wollen keine Privatisierung der Sparkassen, weil sie
das, was Sie vorhaben, als untauglichen und aussichtslosen Versuch ansehen!
Last, not least: Hören Sie auf den Deutschen Sparkassen- und Giroverband, der deutlich davor warnt, das
Ende der öffentlich-rechtlichen Sparkassen mit der Umsetzung Ihrer Vorschläge zur Privatisierung einzuläuten.
Was wir brauchen, sind solide, kundennahe, effektive
und potente Finanzdienstleister, wie wir sie in ganz
Deutschland und insbesondere in Schleswig-Holstein
haben. Die kommunale Familie kommt in diesem Fall
ohne die Privatwirtschaft sehr gut aus.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte gleich zu Beginn meiner Rede das wiederholen,
was ich von dieser Stelle aus sicherlich schon ein halbes
Dutzend Mal gesagt habe: Die CDU/CSU-Fraktion steht
hinter den Sparkassen. Für uns sind die Sparkassen ein
unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Bankenwesens.
({0})
Niemand von uns will die Sparkassen gefährden oder
zerstören. Nein, wir werden alles tun, damit die Sparkassen auch morgen so erfolgreich arbeiten können wie
heute.
({1})
Als jemand, der sich beruflich nach wie vor mit der
Mittelstandsfinanzierung beschäftigt, erlaube ich mir
den Zusatz: Ohne die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken wäre die Finanzierung des Mittelstandes
in Deutschland mit Sicherheit nicht gewährleistet.
({2})
Die konkrete Gestaltung des Sparkassenrechtes ist
nicht Angelegenheit dieses Hauses; das ist gut so. Das
haben vielmehr die Bundesländer zu regeln. Schon heute
gibt es sehr unterschiedliche Bestimmungen. Einige gestatten stille Beteiligungen, andere gestatten sogar Genussscheinanteile.
({3})
Nun wird in Schleswig-Holstein über einen weiteren
Schritt diskutiert. Herr Dr. Krüger, Ihre Ausführungen
haben gezeigt, dass Sie die Situation in Schleswig-Holstein nicht kennen.
({4})
Dort ist gerade die vierte Sparkasse dabei, eine AG zu
werden. Die drei, die schon eine AG sind, leisten hervorragende Arbeit, so auch in meiner Heimatstadt Rendsburg.
({5})
Was CDU und FDP in Schleswig-Holstein in ihrem
Regierungsprogramm festgelegt haben, fordern die
Fraktionen dieser beiden Parteien schon lange im dortigen Landtag. Das ist also überhaupt nichts Neues. Die
Aufregung einiger Verbandsfunktionäre kann ich daher
nicht verstehen. Aber noch fehlt uns die Mehrheit, um
das, was wir in unseren Regierungsprogrammen festgelegt haben, durchzusetzen. Ich sage ganz klar: Dabei
geht es um ein Angebot an die Träger. Die Entscheidung,
ob man dieses Angebot nutzt - das unterscheidet uns
wahrscheinlich -, haben die Kommunalpolitiker zu treffen. Wir von der Union haben volles Vertrauen, dass
Kommunalpolitiker vernünftig entscheiden.
({6})
Sie und auch einige Verbandsfunktionäre scheinen Angst
vor den Kommunalpolitikern zu haben.
Ich sage von dieser Stelle aus sehr deutlich: CDU und
FDP in Schleswig-Holstein befinden sich in guter Gesellschaft. Das, was denen vorschwebt, fordern der Internationale Währungsfonds, die EU und auch die Deutsche Bundesbank seit langem.
({7})
Zurück zur Mittelstandsförderung. Dass weite Teile
des Mittelstandes in Deutschland heute gravierende Probleme haben, hat nichts mit den Banken zu tun. Das ist
- um es deutlich zu sagen - das Ergebnis Ihrer schlechten Mittelstandspolitik.
({8})
Sie haben zwar einen Mittelstandsbeauftragten;
({9})
aber die Politik, die Sie für den Mittelstand machen, ist
- vorsichtig ausgedrückt; ich neige zur Sachlichkeit äußerst schlecht.Heute müssen jeden Tag mehr als
100 mittelständische Firmen Konkurs anmelden. Das ist
ein Ergebnis Ihrer Mittelstandspolitik und hat nichts mit
den Banken zu tun.
({10})
Wie Sie zum Mittelstand wirklich stehen, das wird
durch eine neue Maßnahme der Regierung deutlich
- und Sie folgen der Regierung -: Man will jetzt 2 Milliarden Euro - das sind 20 Prozent - des ERP-Sondervermögens, des wichtigsten Instruments zur Förderung
des Mittelstandes, nehmen, um Haushaltslöcher zu stopfen. Steckte man diese 2 Milliarden Euro in die Mittelstandsförderung, machte man eine vernünftige Politik.
({11})
Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen:
Sie von Rot-Grün sollten sich keine Sorgen um die Sparkassen machen. Die Sparkassen können sich auf uns verlassen. Sie sollten eine bessere Mittelstandspolitik machen. Wenn Sie das tun, dann werden wir in Deutschland
manche Probleme nicht haben.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bernhardt, ich schätze Ihre sachliche Art sehr.
({0})
Sie haben hier so getan, als ob dem deutschen Mittelstand 2 Milliarden Euro verloren gingen. Das ist schlicht
und ergreifend falsch.
({1})
Es ist Unsinn; denn das ERP-Sondervermögen bleibt natürlich zur Förderung des Mittelstandes erhalten. Das ist
doch völlig klar. Daran will doch niemand kratzen.
({2})
Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, hier nicht solche
Gerüchte zu verbreiten, die mit der Wahrheit über die
Förderung des Mittelstandes wirklich nichts zu tun haben.
({3})
Wir hatten eine sehr unergiebige Diskussion über den
möglichen Verkauf der Sparkasse in Stralsund. Wir hatten Auseinandersetzungen über das Thema Sparkassen
während des Wahlkampfes im Saarland. Wie wir alle
wissen, wird diese Diskussion jetzt auch in Schleswig-Holstein geführt. Herr Bernhardt, ich glaube Ihnen
schon, dass Sie der Auffassung sind, dass die Sparkassen
eine sehr wichtige Funktion in unserer Bankenlandschaft
einnehmen.
({4})
Ich sehe aber auch, dass es in der CDU/CSU viele, aber
noch mehr in der FDP gibt, die der Auffassung sind, dass
die privaten Großbanken mehr Unterstützung brauchen.
({5})
Wer die starke Wettbewerbsposition der Sparkassen
auf dem deutschen Bankenmarkt - sie haben eine solche
Position - zugunsten privater Großbanken verändern
will, muss ehrlicherweise sagen, dass das Management
mehrerer Großbanken in Deutschland seine Aufgaben
offensichtlich nicht gelöst hat. Erst Ende September hat
die Deutsche Bank den Heimatmarkt wiederentdeckt
und einen verantwortlichen Deutschland-Chef ernannt.
Dies ist eine begrüßenswerte Reaktion auf die vielfältige
Kritik der mittelständischen Betriebe am Vernachlässigen des Kreditgeschäftes auf dem deutschen Binnenmarkt.
Auch die Dresdner Bank und die Commerzbank haben das Management neu ausgerichtet. Aber das ist nicht
verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die privaten
Großbanken im Geschäftsjahr 2003 einen Verlust von
6,8 Milliarden Euro zu verkraften hatten. Der jüngste
Quartalsbericht der Hypo-Vereinsbank ist ebenfalls kein
Ruhmesblatt.
Wir wissen auch, dass die Banken viele Fehlinvestitionen mitfinanziert haben und dass sie jetzt mehr oder
weniger hohe Wertberichtigungen vornehmen. Der Sparkassenbereich der Deka-Fonds - das muss man ehrlicherweise dazusagen - ist ebenfalls betroffen. Jedes
Management hat vor seiner eigenen Tür zu kehren.
Wenn man sich die finanzielle Situation der Sparkassen sowie der Volks- und Raiffeisenbanken anschaut, erfährt man, dass für das Jahr 2003 die Sparkassen
1,75 Milliarden Euro und die Volks- und Raiffeisenbanken 1,41 Milliarden Euro Gewinn verbuchen konnten.
({6})
Das war ihnen aufgrund ihrer starken Marktstellung in
Deutschland, aber auch aufgrund einer soliden Anlagepolitik - das muss man natürlich sehen - möglich.
Ich halte es für völlig richtig, dass wir in Deutschland
das Drei-Säulen-Modell von privaten Großbanken, Sparkassen und Volksbanken haben.
({7})
Wir sind damit sehr gut gefahren, weil dieses Modell
letztlich einen wirklich starken und funktionsfähigen
Wettbewerb sicherstellt.
Natürlich befinden sich die Sparkassen und die Landesbanken durch das Auslaufen der Regelungen zur Anstaltslast und zur Gewährträgerhaftung in einem Umstrukturierungsprozess; das bestreitet niemand. Aber wir
meinen, dass es völlig unangebracht ist, Privatbanken zu
ermöglichen, mittels regionaler Aufkäufe einzelner
Sparkassen einen verstärkten örtlichen Marktanteil zu
erzielen.
({8})
Wettbewerb verlangt Kostenkonkurrenz, nicht Aufkaufstrategien.
Wir sind der Meinung, dass die Position, die die Sparkassen mit ihrer ökonomischen Kraft insgesamt haben,
gut ist, und zwar auch für den europäischen Binnenmarkt. Sie sind mit ihrer Finanzierung gerade für kleine
und mittelständische Betriebe - darauf hat Herr
Bernhardt dankenswerterweise schon hingewiesen; die
Sparkassen sind da wirklich sehr engagiert - gut aufgestellt. Das beweist übrigens auch der hohe Anteil der
KfW-Kredite, die über die Sparkassen geleitet werden.
60 Prozent aller dieser Kredite, glaube ich, gehen durch
die Sparkasse. Das ist gut so. Dabei soll es auch bleiben.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin der Koalition außerordentlich dankbar dafür,
dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat;
({0})
denn so kann man doch einiges klarstellen. Gerade an
Ihrem Beitrag hat man gemerkt, dass Sie von der Sache
anscheinend überhaupt keine Ahnung haben; ich werde
nachher auf Schleswig-Holstein zurückkommen.
({1})
Die Kollegin Scheel hat gar nicht über die Sparkassen
gesprochen. Sie hat Pfeile in Richtung Großbanken abgeschossen, statt hier einmal darüber zu sprechen, wie
wir die Sparkassen stärken können. Hier geht es doch
um die Stärkung der Sparkassen und um nichts anderes.
Die Länder müssen sich um das Thema kümmern. Insofern wundere ich mich dann doch darüber, dass die
Koalition diese Aktuelle Stunde beantragt hat.
Ich beginne mit einem Zitat aus einer Sitzung des
Schleswig-Holsteinischen Landtags in dieser Woche.
Der Wirtschaftsminister des Landes hat gesagt: Rund die
Hälfte der kleinen und mittleren Betriebe kämpft mit Finanzierungsproblemen. - Warum? Unter anderem auch
deshalb, weil die Sparkassen nicht helfen können, weil
ihr Kapital zu gering ist.
Wir wollen die Sparkassen stärken. Der Vorsitzende
der FDP-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Wolfgang Kubicki, hat sehr richtig gesagt: Wir wollen den Sparkassen helfen, über private öffentliche Beteiligungen mehr Eigenkapital zu erhalten, um den
Mittelstand zu fördern. - Darum geht es. Das ist unsere
Zielsetzung.
({2})
Nun können wir uns darüber unterhalten, ob das der
richtige Weg ist; vielleicht haben Sie andere Vorschläge.
Wir wollen also die Sparkassen stärken.
({3})
Ihnen soll es möglich sein, zusätzlich Kapitalgeber bis
zu einer Grenze von 49 Prozent hereinzunehmen.
Da gerade dieser Zuruf kam, will ich sagen: Ich weiß
gar nicht, warum Sie uns beschimpfen, und zwar auch in
Schleswig-Holstein. Wir von der FDP sind da in allerbester Gesellschaft. Ich will einmal zitieren, was Karl
Otto Pöhl, immerhin Mitglied der Sozialdemokraten, in
diesem Jahr in der „Wirtschaftswoche“ gesagt hat:
„Dennoch leuchtet es mir nicht ein, warum eine Kommune eine Bank besitzen muss. Mittelstandskredite kann
auch eine privatisierte Sparkasse effizient vergeben. …
Die Politik ist noch nicht soweit. Das ist ein weiterer
Grund, warum sich das deutsche Bankensystem so
schwerfällig ändert.“
({4})
({0})
Um vermehrt Fusionen in allen drei Säulen und zwischen den Säulen zu ermöglichen, müsste, soweit dies
von den Eigentümern gewünscht würde - das unterstützen wir von der FDP -, im Bereich der öffentlich-rechtlichen Banken über alternative Rechtsformen nachgedacht
werden.
({1})
Dann verweise ich, Kollegin Scheel, noch auf den
Monatsbericht der Bundesbank vom Dezember 2003;
auch Sie lesen ja hoffentlich so etwas. Da hat die Deutsche Bundesbank genau die gleiche Auffassung vertreten. Die FDP befindet sich also in allerbester Gesellschaft.
({2})
Wir wollen das daher auch umsetzen.
Nun gibt es neben den öffentlich-rechtlich organisierten Sparkassen die privatisierten Sparkassen. Erstaunlicherweise sagen Vertreter der privatisierten Sparkassen
in Schleswig-Holstein, die neue Rechtsform habe ihnen
sehr geholfen. Ich zitiere einmal, was der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Lübeck sagt: Mit der neuen
Rechtsform sind wir besser für die Anforderungen des
zu erwartenden Wettbewerbes gerüstet. Ein Vertreter der
Sparkasse Bordesholm sagt: Für das Überleben sei es
notwendig, sich in eine AG umzuwandeln. Ich könnte
jetzt noch Aussagen von der Spar- und Leihkasse zu
Bredstedt zitieren, in denen man sich ebenfalls sehr positiv geäußert hat, usw. Wollen Sie denn behaupten, dass
all diese Aussagen falsch sind? Nein, diese Möglichkeiten müssen eröffnet werden. Herr Kollege, kommen Sie
mir nicht mit Beispielen aus England, den USA oder
sonst woher. Bringen Sie mir doch lieber Beispiele aus
Ländern wie Rheinland-Pfalz und Bremen. Da wurde
genau das mit großem Erfolg gemacht.
({3})
Nach dem, was Sie aus Schleswig-Holstein erzählt
haben, muss ich Ihnen sagen, davon haben Sie wirklich
keine Ahnung. Nehmen wir einmal den Kreis, in dem ich
wohne, nämlich den Kreis Segeberg.
({4})
Die Kreissparkasse dort hat - hören Sie zu, Kollege
Stiegler - so eine Totalpleite hingelegt, dass sie sich jetzt
aus der Fläche völlig zurückzieht. Selbst in Orten mit
3 000 Einwohnern gibt es keine Kreissparkasse mehr.
({5})
Wissen Sie, wie sie gerettet wurde? Sie ist dadurch gerettet worden, dass der Kreis mit Bürgschaften einsprang. Dem stimmte die CDU zu - ich will das den
Kolleginnen und Kollegen von der CDU nicht vorwerfen -, Sozialdemokraten, Grüne und FDP stimmten dagegen, weil Vermögen des Kreises für die Kreissparkasse verbürgt werden musste. Dabei handelt es sich um
nichts anderes als um eine Wettbewerbsverzerrung bzw.
eine Benachteiligung der anderen Banken.
({6})
Ich weiß, dass sich die CDU dort viele Sorgen um die
Kreissparkasse gemacht hat, und will ihr das auch nicht
übel nehmen. Aber bei der Diskussion ging es schon
heiß her. Erstaunlicherweise waren da SPD, Grüne und
FDP auf einer Seite. Hier aber verhalten Sie sich ganz
anders.
Nun komme ich zu einem weiteren Beispiel: Es ist in
meinen Augen ein Skandal, dass der Sparkassen- und
Giroverband in Schleswig-Holstein 500 000 Euro genommen hat, um eine Kampagne gegen die FDP und die
CDU zu führen.
({7})
Mit Geldern der Kunden führen sie eine Kampagne. Ich
würde gerne einmal wissen, ob eine öffentlich-rechtliche
Anstalt für 500 000 Euro Kampagnen gegen Parteien
führen darf. So viel Geld habe ich als Landesvorsitzender der FDP im Wahlkampf nicht zur Verfügung. Da
werden Kunden angeschrieben und ganzseitige Anzeigen geschaltet. Das geht nicht. Das ist nichts anderes als
ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot, das für öffentlich-rechtliche Körperschaften gilt.
({8})
Nun noch Folgendes: Wenn Sie - das sage ich insbesondere an Ihre Adresse, Frau Scheel - auf dem Standpunkt beharren - lassen Sie mich das etwas polemisch
sagen -, dass alle Sparkassen weiterhin öffentlich-rechtlich verfasst bleiben sollen, entgegne ich als Liberaler,
dass man dann die Spitzenfunktionäre auch nach den Tarifen des öffentlich-rechtlichen Dienstes bezahlen sollte.
Man sollte ehrlicherweise nämlich einmal sagen, dass
die Leute teilweise ein höheres Gehalt als die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein haben.
({9})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
({0})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin; mein letzter Satz: Ich glaube, dass die Sparkassen ohne Funktionäre überleben könnten; ohne neues Kapital können sie
nicht überleben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Bernhardt sagte, die CDU/CSU stehe hinter den
Sparkassen. Diese Aussage erinnert mich an eine von
Theo Waigel, der immer sagte: Wenn ich von vorne angegriffen werde, stehen meine Freunde hinter mir. Das
ist die Art und Weise, wie Sie damit umgehen.
({0})
Was Sie hier betreiben, führt zu einer Gefährdung der
Versorgung des Mittelstandes mit Krediten. Sie wollen
im Grunde den Shareholder-Value ins Sparkassensystem
einführen.
({1})
Die Gemeinnützigkeit und der Förderauftrag sollen also
ausgetrieben und der Shareholder-Value eingetrieben
werden. Das werden wir als Sozialdemokraten nicht zulassen.
({2})
Die Argumente, die Sie bringen, sind scheinheilig. Es
wird den Sparkassen ein Kapitalbedarf aufgeschwatzt.
({3})
Ich wollte, wir hätten ein Wirtschaftswachstum, das dem
Finanzierungspotenzial der Sparkassen entspricht. Die
Sparkassen könnten leicht das Eigenkapital aufbringen,
das für die Finanzierung eines 5-prozentigen Wirtschaftswachstums notwendig ist. Sie sind nämlich durch
ihre Thesaurierung und ihre Verbandsstruktur wohl dafür
gerüstet. Nachrangkapital konnten sie ja schon immer
aufnehmen. Von daher gesehen kommen Sie wie die
böse Hexe zum Schneewittchen und wollen ihr einen
vergifteten Kamm bzw. einen vergifteten Apfel verkaufen, indem Sie von Kapitalstärkung reden.
({4})
In Wahrheit wollen Sie die Sparkassen den Kapitalmärkten ausliefern und den Mittelstand dazu.
({5})
- Jeden Tag sind wir damit befasst.
Wenn wir die Sparkassen nicht hätten, dann wäre der
deutsche Mittelstand längst am Ende. Schauen wir uns
doch einmal die famosen Großbanken an: Im Jahre 1999
haben sie noch 168 Milliarden Euro an den Mittelstand
ausgeliehen, im Jahre 2004 sind es 131 Milliarden Euro.
Die Sparkassen haben ihre Kredite an den Mittelstand im
gleichen Zeitraum von 344 auf 389 Milliarden Euro erhöht. Der Anteil der Großbanken ist von 19,2 auf
14,4 Prozent gesunken, der der Sparkassen von 39,2 auf
42,9 Prozent gestiegen. Während die Großbanken mit
der Gier nach dem großen Geld mit den Investmentbanken ins Ausland gewandert sind, haben die Sparkassen
zu Hause den Mittelstand aufrechterhalten. Das soll auch
in Zukunft so bleiben.
({6})
Die Großbanken sollen, wenn sie jetzt heimkehren
wie der verlorene Sohn, nicht glauben, dass wir ihnen
das Schwein der Sparkassen braten und dass sie hier
ohne weiteres aufgenommen werden. Sie sollen ihre
Hausaufgaben machen und sich, genauso wie die Sparkassen, um die kleinen und mittleren Unternehmen kümmern. Dann kämen wir weiter.
Meine Damen und Herren, es ist ein Schwindel zu behaupten, die Sparkassen könnten in der Kreditversorgung nur überleben, wenn sie privates Eigenkapital bekämen.
({7})
Sie sind in aller Regel gut für das Kreditgeschäft ausgestattet. Deswegen ist das ein Vorwand. Sie wollen, dass
auch die Sparkassen gezwungen sind, Eigenkapitalverzinsungen in derselben Größenordnung wie die Deutsche Bank anzustreben, statt mit soliden Eigenkapitalverzinsungen dem Mittelstand zu helfen. Auch Ihr
Argument im Hinblick auf Basel II ist fern jeder Wirklichkeit. Die Eigenkapitalanforderungen für den Mittelstand sind durch die Granularisierung der Mittelstandskredite eher günstiger als schwieriger geworden. Auch
von daher besteht also keine Notwendigkeit zu Eigenkapitalerhöhungen.
Wir können die Städte und Gemeinden nur warnen
- im Saarland genauso wie in Schleswig-Holstein oder
wo auch immer -,
({8})
sich für ein Linsengericht einer Einmalzahlung das Erbe
und die Struktur von vielen Jahrzehnten Arbeit am Kunden und am Mittelstand abkaufen zu lassen. Es wäre ein
schwerer Schlag gegen den Wirtschaftsstandort DeutschLudwig Stiegler
land, wenn wir hier den Einbruch zuließen. Ich kann Sie
nur bitten: Verlassen Sie diesen falschen Weg und erhalten Sie eine Struktur aufrecht, die wir für die Zukunft
brauchen und die für die Gemeinden keine Anstaltslast
mehr bedeutet, sondern eher eine Anstaltslust - von einigen Ausnahmen abgesehen.
Wenn Sie sich einmal anschauen, wie viele private
Banken die BaFin abgewickelt hat, dann können Sie aus
der Tatsache, dass einmal ein bestimmtes Institut dabei
ist, keinen Staatsskandal machen. Nein, meine Damen
und Herren, Sie betätigen sich hier als Eideshelfer der
Kapitalmärkte, die dem Mittelstand bisher nie etwas Gutes bedeutet haben. Lasst uns deshalb gemeinsam Widerstand dagegen leisten und lasst uns die bewährte Sparkassenstruktur im Interesse der Bürgerinnen und Bürger
und der kleinen und mittleren Unternehmen erhalten!
({9})
Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Diese Aktuelle Stunde ist ein plumpes Ablenkungsmanöver von Rot-Grün von der selbst verursachten Wirtschafts- und Finanzmisere in unserem Land.
({0})
CDU/CSU ist nicht die Gefährdung, Herr Stiegler; wir
sind eine bessere Perspektive. Rot-Grün ist die Gefährdung unserer Wirtschaft und des Mittelstandes.
({1})
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Jeder Mittelständler, der Sie von Kapital sprechen hört,
kann eigentlich nur noch seine Kasse festhalten.
({2})
Herr Stiegler, niemand von der Union will einen Angriff
auf die Sparkassen oder will die Einschränkung der Mittelstandsfinanzierung. Das ist der rot-grüne Popanz, der
hier aufgezogen wird.
({3})
Die Verbesserung der Mittelstandsfinanzierung hat für
uns höchste Priorität. Hier lassen wir uns von niemandem übertreffen und schon gar nicht von Rot-Grün.
({4})
Wenn ausgerechnet Rot-Grün für die Mittelstandsfinanzierung spricht, geschieht dies wieder einmal nach
dem Motto „Haltet den Dieb“. Tatsächlich bedeutet rotgrüne Politik: Deutschlands Wirtschaft, insbesondere der
Mittelstand, erlebt die schwerste Krise. Wir haben ein
geringes Wirtschaftswachstum, Höchststände bei den
Lohnzusatzkosten und immer höhere Belastungen, die
insbesondere dem Mittelstand große Schwierigkeiten bereiten.
({5})
Die Insolvenzrate mit über 40 000 Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2004 ist auf Rekordhöhe. Das hat
doch eine Ursache! Hier muss man vom Erbe sprechen.
({6})
Unsere Betriebe wollen die Generationenbrücke, wollen
Erbe weitergeben. Sie können es aber nicht aufgrund Ihrer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({7})
Der rot-grüne Zickzackkurs in der Wirtschafts-,
Steuer- und Finanzpolitik hat zu schwerwiegenden Fehlentwicklungen geführt: Die Investitionsquote sinkt. Die
Verbraucher haben hohe Kaufkraftverluste. Der Arbeitnehmer hat immer weniger netto. Die Konsumwirtschaft
leidet. Die Unternehmen haben keine Planungssicherheit
und auch die Nachfrage nach Krediten sinkt.
({8})
Fazit: Rot-Grün schadet Mittelstand, Banken und den
Arbeitnehmern in unserem Land.
Ich sage: Nur eine Kehrtwende mit Strukturreformen
und zuverlässiger Wirtschafts- und Finanzpolitik führt
zum Ziel,
({9})
zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Es muss eine
neue Vertrauensbasis für unseren Standort hergestellt
werden. Dauerhaftes Wachstum und mehr Beschäftigung
gibt es nur, wenn die angebotsseitigen Rahmenbedingungen der Wirtschaft in Ordnung gebracht werden.
Hierfür benötigen wir eine leistungsfähige Finanzdienstleistungsinfrastruktur; denn nur, wo investiert wird und
Investitionen finanziert werden, kann sich Zukunft entwickeln. Hierzu braucht es natürlich Kreditinstitute, die
in den Regionen vor Ort sind und eine hohe Leistungsfähigkeit gewährleisten.
Bei allen Diskussionen gibt es keinen Zweifel:
({10})
Die Kreditwirtschaft befindet sich seit Jahren in einem
Prozess tief greifender Veränderungen, was durch faule
Außenstände und niedrige Margen noch verstärkt wird.
({11})
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass nach Wegfall von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung und bei
den zukünftigen Anforderungen nach Basel II die Leistungsfähigkeit und die Mittelstandsunterstützung auch in
Zukunft erhalten bleiben.
({12})
Wir haben in Deutschland durchaus ein gutes Fundament. Letzten Endes aber müssen unsere Kreditinstitute
die Erträge steigern, die Kosten senken und eine Stärkung des Haftungsvolumens angehen.
({13})
Das alles soll im Konsens geschehen. Es gibt sicher
Handlungsbedarf. Ich bin dagegen, alles rosarot zu malen, weder bei der Mittelstandsfinanzierung noch bei unseren Banken und Kreditinstituten. Hier besteht teilweise die Notwendigkeit, zu fusionieren und die
Eigenkapitalbasis zu stärken.
({14})
Das ist zu machen. Das muss jedoch dezentral geschehen und muss von den Verantwortlichen in den Ländern
entschieden werden.
Wir brauchen ein klares Gesamtkonzept. Zum einen
müssen wir eine bessere steuerliche Behandlung von Eigenkapital anstreben. Zum anderen muss es ein breites
Finanzierungsangebot und bessere Bedingungen für die
Beteiligungsfinanzierung geben. Zum dritten müssen die
Konditionen im Mittelstandskreditprogramm verbessert
werden.
({15})
Nicht zuletzt brauchen wir eine mittelstandsfreundliche
Umsetzung von Basel II.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
({0})
Ich komme zum Schlusssatz. - Die CDU/CSU kämpft
für eine stetige Verbesserung der Mittelstandsfinanzierung und lässt sich dabei von niemandem übertreffen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krüger-Jacob, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es kommt einem wirklich so vor, als stünde jedes
Jahr nicht nur Weihnachten vor der Tür, sondern auch
die Debatte um die Reform des Sparkassensystems.
Standen zunächst Stralsund und das Saarland im Vordergrund, so ist es jetzt Schleswig-Holstein. Dort will die
CDU, unterstützt von der FDP,
({0})
zur Stärkung der kommunalen Kompetenz, wie sie selbst
sagt, das Sparkassengesetz liberalisieren und die Sparkassen teilweise privatisieren. Ein solcher Schritt hätte
verheerende Auswirkungen insbesondere für kleine und
mittelständische Unternehmen; denn ein eigenständiges
regionales Bankensystem ist die Basis für die Kreditvergabe an kleine einheimische Firmen.
Fakt ist, dass die Sparkassen und Genossenschaftsbanken die Hauptlast bei der Finanzierung von kleinen
Unternehmen vor Ort tragen. Wenn ein kleines Unternehmen Kredite bekommt, dann bei ihnen. Durch die
Privatisierung würden den Bürgerinnen und Bürgern des
Landes mittelfristig die Sparkassen entzogen, da das
Vorhaben von CDU und FDP - das dürfte ihnen auch
klar sein - eine zwangsläufig geänderte Geschäftspolitik
der Sparkassen zur Folge hätte.
Aufgabe der Sparkassen ist es, Finanzdienstleistungen für alle und überall anzubieten und mit ihrer gemeinwohl- und aufgabenorientierten Geschäftspolitik die jeweilige Region und die dortigen Unternehmen zu
fördern. Aufgrund ihrer Bindung an die Region verfolgen Sparkassen eine langfristig orientierte Geschäftspolitik mit auf Kontinuität ausgerichteten Kundenbeziehungen. Ihre Aufgabe ist es hingegen nicht, die
Interessen einer beschränkten Zahl von Aktionären
durch möglichst hohe Renditen zu befriedigen. Gerade
hier liegt für den Kunden das wesentliche Kriterium.
Denn zu seinen Gunsten oder Lasten wirkt sich aus, ob
mit Unternehmensentscheidungen Mittelstandsfinanzierungen, flächendeckende Versorgung, langfristige Geschäftsverbindungen und Leistungen für alle Bevölkerungsgruppen angestrebt werden oder aber im Interesse
des Börsenkurses die Entscheidungsfreiheit lediglich auf
die lukrativsten Geschäftsfelder und Kunden beschränkt
ist. Da eine börsennotierte Aktiengesellschaft verpflichtet ist, den größtmöglichen Ertrag für die eigenen Aktionäre im Blick zu haben, wird zwangsläufig eine Konzentration auf die lukrativsten Kunden, Geschäfte und
Regionen erfolgen. Die Kreditvergabe an kleine und
mittlere Unternehmen gilt hingegen als renditeschwaches Geschäftsfeld, weshalb sich die privaten Bankenkonzerne in der Vergangenheit aus dem Projekt Mittelstandsfinanzierung systematisch zurückgezogen haben.
Damit wird deutlich, dass mit dem Wegfall der öffentlich-rechtlichen Sparkassen die Gefährdung der Finanzierung des Mittelstandes Hand in Hand geht und für
diesen, aber auch für einkommensschwache Kunden sowie Kunden in wirtschaftsschwachen Regionen kein
ausreichendes Angebot an Finanzdienstleistungen mehr
zur Verfügung stehen würde.
Mittelständische Unternehmen in Deutschland sind
auf die flächendeckende Präsenz der Kreditwirtschaft
angewiesen; denn sie brauchen Beratung und Betreuung
vor Ort. Kundennähe und Kundenkenntnis sind im Kreditgeschäft unersetzlich, wobei die Bedeutung dieser
beiden Faktoren durch Basel II und das Rating der Unternehmen sogar noch zunehmen wird.
Natürlich kommen auch Sparkassen aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht an einer Straffung und Umstrukturierung ihrer Filialnetze vorbei. Aber gerade die
dezentralen Strukturen der Verbundgruppe sind der beste
Garant dafür, dass in Regionen ohne Zweigstellen der
privaten Großbanken auch weiterhin intensiver Wettbewerb in der Kreditwirtschaft herrscht, ein Wettbewerb,
der ohne die Sparkassen nicht möglich wäre, ein Wettbewerb, der zugunsten der Verbraucher sowie mittelständischer Unternehmen stattfindet, weil er ihnen leistungsfähige Angebote zu vernünftigen Konditionen macht.
Auch die CDU-Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein stellt zumindest in ihrer Pressemitteilung unstreitig,
dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken der Garant
für eine Stärkung der mittelständischen Wirtschaft und
damit in einem vom Mittelstand geprägten Land wie
Schleswig-Holstein von ganz besonderer Bedeutung
sind. Trotz dieser Bewertung ein erfolgreiches System
aufzugeben und damit bewusst zum Nachteil des Mittelstandes zu handeln ist auch bei der Absicht, kommunale
Haushaltslöcher zu stopfen, der falsche Weg.
Danke.
({1})
Es ist wunderbar: Wir haben wieder neue Kolleginnen
und Kollegen. Frau Krüger-Jacob, ich gratuliere Ihnen
recht herzlich zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen
Bundestag und wünsche Ihnen persönlich und politisch
alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein, Ralf Stegner.
({1})
Dr. Ralf Stegner, Minister ({2}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Wird in Schleswig-Holstein über
die Zukunft des öffentlichen Kreditwesens in Deutschland entschieden? Ich vermute, ja. Nachdem Verkaufsbestrebungen von Sparkassen in Stralsund und im Saarland
dank des klaren Bürgerwillens verhindert worden sind,
versucht sich nun die CDU-FDP-Opposition in Schleswig-Holstein im dritten Aufguss.
({3})
Das ist Ihre Sache und auch Ihr gutes Recht, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der rechten Seite.
({4})
Aber eine Zerstörung der Sparkassenlandschaft ist
schädlich für unser Land, seine Bürgerinnen und Bürger
und seine Wirtschaft.
({5})
- Herr Koppelin, ich kann im Gegensatz zu Ihnen sogar
frei reden. - Es geht bei den Sparkassen allein in Schleswig-Holstein um 10 000 hoch qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und um deren Familien.
({6})
- Sie müssen offenbar nervös sein. Denn Sie können
sich meine Ausführungen nicht in Ruhe anhören. - Da
hört der „Spaß“ also auf.
({7})
- Ihre Lautstärke verstärkt nicht die Kraft Ihrer Argumente.
({8})
Herr Minister, einen Augenblick bitte. Auch wenn es
vielleicht nicht immer gefällt: In diesem Hohen Haus besteht die Gepflogenheit, dass überwiegend der Redner
das Wort hat und dass die anderen zuhören.
({0})
Dr. Ralf Stegner, Minister ({1}):
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Die FDP möchte, dass sich private Geldgeber mit bis
zu 49 Prozent bei kommunalen Sparkassen einkaufen
können. Die CDU in Schleswig-Holstein wollte zunächst die volle Privatisierung; jetzt ist sie etwas zurückgerudert.
({2})
Minister Dr. Ralf Stegner ({3})
Der Entwurf des CDU-Bundesvorstandes für den Bundesparteitag Ihrer Partei sieht übrigens wieder ganz anders aus. In ihm werden die besonderen Strukturen betont. Offenbar weiß in der CDU die rechte Hand nicht,
was die linke Hand tut. Jedenfalls passen diese beiden
Positionen nicht zusammen.
({4})
Die schleswig-holsteinische CDU will den Kreis
möglicher Anteilskäufer nun auf Mitarbeiter, Kunden
und Mitglieder der S-Gruppe einschränken. Dieses halbe
Zurückrudern ist sicher auch ein Erfolg der Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, dessen Aktivitäten ich nachvollziehen kann.
({5})
Herr Koppelin, wie kommen Sie als Mitglied einer liberalen Partei dazu, so viel Angst zu haben, wenn sich
ein Verband äußert? Wir ertragen es seit Jahren, dass der
Bauernverband oder andere das, was wir tun, nicht gut
finden. Aber Sie können es nicht ertragen, dass der Sparkassen- und Giroverband sagt, was er von dem hält, was
Sie vorschlagen. Er hält nichts von Ihren Vorschlägen,
weil sie den Bürgerinnen und Bürgern schaden.
({6})
Die Wehleidigkeit, die Sie an den Tag legen, muss einen
Grund haben. Sie werden am 20. Februar erleben, welchen.
Auch dieses Zurückrudern bleibt jedoch eine Mogelpackung. Denn in Wirklichkeit bestimmt im Norden bei
Schwarz-Gelb die FDP den Kurs. Herr Koppelin, das
werden Sie sicherlich bestätigen können.
({7})
Die Sparkassenpolitik der Opposition in Schleswig-Holstein trägt quasi eine gelbe Binde mit schwarzen Punkten.
({8})
Dies geschieht teilweise vorsätzlich wie bei dem privatbankenpolitischen Sprecher Herrn Bernhardt. Ich will
Ihnen eines sagen, Herr Bernhardt: Es mag ja sein, dass
Sie hinter den Sparkassen stehen, aber - das ist das Problem - mit dem Knüppel in der Hand. Das wollen die
Sparkassen nicht.
({9})
Bei Ihnen mag das Absicht sein. Aber die EU-wettbewerbsrechtlichen Bedenken kümmern Ihren Spitzenkandidaten, den Herrn Agrarexperten, wenig.
({10})
Er sagt sogar fröhlich, dass das, was Sie in Ihr so genanntes Regierungsprogramm hineingeschrieben haben,
schließlich kein Gesetzentwurf, sondern ein Programm
sei. Vielleicht brauchen Sie nicht einen Mittelstandsbeauftragten, sondern einen Mittelmaßbeauftragten für Ihren Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein.
({11})
Das ist nämlich das, worüber wir hier eigentlich reden.
({12})
Selbst wenn Sie sich durchsetzen würden, Herr
Koppelin, wäre es ein Pyrrhussieg. Denn es wäre das
Ende der Sparkassen und damit der Mittelstandsfinanzierung in der Fläche.
({13})
Es ist doch ganz einfach - der Kollege Stiegler hat es
schon gesagt -: Die Privatbanken haben sich lange Zeit
nicht um den Mittelstand und um die Privatkunden geschert.
({14})
Jetzt versuchen sie dieses Versäumnis wettzumachen,
indem sie angebliche Wettbewerbsverzerrungen beklagen und sich einkaufen wollen. So simpel ist das. Aber
so wird es nicht funktionieren.
Mit dem Erwerb durch private Dritte würden die
Sparkassen den Bürgern entzogen, um sie den Kapitalinteressen weniger Personen zu öffnen. Wir wollen keine
Entwicklung wie in England und den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Entwicklung wird es mit der Sozialdemokratie auch nicht geben.
({15})
Die schleswig-holsteinische Bevölkerung weiß um
die Bedeutung von Gemeinwohl und Daseinsfürsorge. In
einer Forsa-Umfrage vom September 2004 sprechen sich
mehr als drei Viertel der Bevölkerung, genauer
Minister Dr. Ralf Stegner ({16})
77 Prozent, gegen den Verkauf von Sparkassen im Land
an private Dritte aus.
({17})
Bei allem Selbstbewusstsein, das ich wirklich habe,
muss ich Ihnen, Herr Bernhardt, sagen: Das ist noch ein
wenig mehr als die Stammwählerschaft von Rot-Grün in
Schleswig-Holstein. 77 Prozent sind dagegen.
({18})
Ich glaube, dass Sie darum wissen. Sie haben Angst davor, dass die Wähler das merken. Deswegen sind Sie
hier so aufgeregt.
({19})
Die schleswig-holsteinische Landesregierung will solide, kundennahe, effektive und potente Sparkassen. Ich
meine, die Bereitstellung einer Bankverbindung für jeden und jede ist Ausdruck der sozialen Verantwortung
der Sparkassen. Wir fügen nämlich dem Wort „Marktwirtschaft“ das Adjektiv „sozial“ bei. Manches, was ich
von Ihnen höre, enthält dieses Adjektiv nicht. Das ist
falsch; denn unser wirtschaftlicher Erfolg in Deutschland hat auch etwas mit sozialer Marktwirtschaft zu tun.
({20})
Tragfähige Sparkassenstrukturen sind gerade in unserem durch kleine und mittlere Unternehmen geprägten
Land unentbehrlich. Der Hinweis auf die freien Sparkassen, Herr Koppelin, besagt doch das Gegenteil. Wir haben in Schleswig-Holstein ein liberales Sparkassengesetz. Wir haben freie Sparkassen. Wir brauchen keine
Liberalisierung und keine Öffnung in dem Sinne, wie
Sie sie wollen.
({21})
Es funktioniert doch auch so. Insofern sind die Behauptungen, die Sie aufstellen, eher von Unkenntnis über die
Gesetzeslage bestimmt.
Das, was Sie über unseren Wirtschaftsminister, Herrn
Rohwer, gesagt haben, ist natürlich Unfug. Er hat zwar
im Landtag gesagt
({22})
- ja, ich habe es gestern gehört; ich saß auf der Regierungsbank -, die kleinen und mittelständischen Unternehmen hätten ein Kreditproblem. Aber das lösen Sie
doch nicht, indem Sie den Teufel mit dem Beelzebub
austreiben und das Problem noch dadurch verschärfen,
dass die Privatbanken es in die Hand bekommen.
({23})
Die kümmern sich nämlich überhaupt nicht darum.
Kooperationen von Sparkassen und Sparkassenverbänden bleiben bei Gewährleistung des Regionalprinzips
ein Weg zur Kapitalstärkung.
({24})
- Übrigens weiß ich viel besser als Sie, was ich vor einem halben Jahr gesagt habe, weil ich nämlich immer
das Gleiche sage, wohingegen Sie sich ab und zu drehen
und wenden,
({25})
wie das bei der FDP so üblich ist.
({26})
- Aber gern.
Es sollte durchaus Veränderungen dadurch geben,
dass sich Sparkassen zusammenschließen. Starke Sparkassen werden ihre Kostenseite unter Beibehaltung von
Qualität und Service weiter optimieren müssen. Wir
wollen aber nicht - Herr Stiegler hat das zu Recht gesagt -, dass sich die Sparkassen in Richtung ShareholderValue entwickeln. Sie sollen vielmehr dem Gemeinwohl
verpflichtet bleiben.
({27})
Im Übrigen zahlen die Sparkassen im Gegensatz zu
den meisten Banken sogar noch - auch das finde ich als
Finanzminister richtig - Steuern.
({28})
Auch dies sollte man hier einmal feststellen. Denn aus
diesen Steuern und nicht aufgrund der windigen Methoden, die es teilweise gibt, werden die Aufgaben des Gemeinwesens finanziert.
({29})
Wird sich in Schleswig-Holstein die Zukunft des öffentlichen Kreditwesens entscheiden? Ich sage Ihnen: Ja.
Ich weise aber auch auf Folgendes hin: Die Zukunft wird
bei starken und zukunftsfähigen öffentlich-rechtlichen
Sparkassen liegen. CDU und FDP wollen hier als Retter
auftreten; aber die Bürger und die Sparkassen vernageln
ihre Fenster, weil sie solche Rettertruppen gar nicht haben wollen.
({30})
Sie bewirken nämlich das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollen.
({31})
Opposition ist die Kunst, etwas zu versprechen, was
die Regierung nicht halten kann. Diese Kunst verstehen
Sie einigermaßen, mehr aber auch nicht. Zur Regierungsfähigkeit gehört deutlich mehr.
Minister Dr. Ralf Stegner ({32})
Ich bedanke mich sehr bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({33})
Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Stegner, es
muss um die Mehrheitsverhältnisse in Schleswig-Holstein schon sehr schlecht gestellt sein,
({0})
wenn Sie sich hier in dieser Art und Weise zu sachpolitischen Positionen äußern und ein Szenarium an die Wand
malen, das jeder Grundlage entbehrt und auch nicht den
Beschluss des Landesparteitages der CDU widerspiegelt.
({1})
Hier werden, Herr Kollege Krüger, Szenarien an die
Wand gemalt, die mit diesem Beschluss nichts zu tun haben und die nicht die Interpretationsmöglichkeit hergeben, wie Sie es hier dargestellt haben. Wenn das so wäre,
müsste das Sparkassenwesen in Rheinland-Pfalz im
Grunde schon längst untergegangen und müssten all die
Dinge eingetreten sein, die Sie hier an die Wand gemalt
haben. Wir haben in Rheinland-Pfalz im Sparkassengesetz als Landesrecht genau die gleiche Gesetzgebung
und die gleichen Möglichkeiten, wie es von der Union
gemeinsam mit der FDP für Schleswig-Holstein gefordert wird.
Lassen Sie mich auf die eigentlichen Fakten zurückkommen. Ich darf den Beschluss des Landesparteitages
noch einmal kurz darstellen - ich zitiere -:
Es wird gesetzlich sichergestellt, dass die Mehrheit
der Anteile bei den kommunalen Trägern verbleibt
und die gewünschte Zuführung von Kapital auf
Kunden aus der Region, Mitarbeiter und Institutionen der Sparkassen-Finanzgruppe beschränkt
bleibt.
Meine Damen und Herren, das ist klar auf einen Bereich eingegrenzt. Die Mehrheit der Anteile wird sich
auch weiterhin in öffentlicher Trägerschaft befinden.
({2})
Daher spielt es im Grunde genommen keine Rolle, für
welche juristische Organisationsform man sich entscheidet. Es kommt nach wie vor darauf an, welcher Auftrag
mit dem Träger, der Organisation, der Sparkasse verbunden ist. Wären sonst nicht alle Neugliederungen, die wir
in manchen Ländern schon durchgeführt haben, fehlgeschlagen, Herr Stiegler?
({3})
Teilweise handelt es sich dabei sogar um die Rechtsform
der Aktiengesellschaft. Trotzdem sind damit öffentliche
Aufträge verbunden.
Ich möchte betonen: Das, was die schleswig-holsteinische CDU und das, was sowohl die Bundespartei als
auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschlossen haben, ist widerspruchsfrei.
({4})
In unserem Papier zum Thema Finanzplatz - Herr Kollege Pronold, vielleicht hören Sie einmal zu - haben wir
uns ausdrücklich für die Dreigliedrigkeit der Bankenstruktur ausgesprochen. Wir wollen sie erhalten und fortentwickeln; denn wer nur im Status quo verharrt, wird
die Zukunft des Bankensektors nicht gestalten können.
Gewisse Bereiche muss man fortentwickeln. Das soll bei
den Sparkassen auch weiterhin in Form einer öffentlichrechtlichen Struktur geschehen.
({5})
Da dieses Thema der Landesgesetzgebung unterliegt,
Herr Kollege Stiegler, ist der einzige Punkt, den wir als
Bundesgesetzgeber beeinflussen können, § 40 KWG, in
dem festgelegt ist, was Sparkasse bedeutet und inwiefern
sie als öffentlich-rechtliche Institution geschützt ist.
({6})
Alles andere ist Landesrecht.
({7})
Warum reden wir eigentlich über Subsidiarität und Föderalismus,
({8})
wenn wir den Ländern hinsichtlich ihrer Sparkassengesetzgebung nicht Raum zur Eigengestaltung lassen, um
es so zu regeln, wie es vor Ort erforderlich ist?
Sie sollten verbal abrüsten.
({9})
Wenn ich sehe, welche Untergangsszenarien betreffend
den öffentlichen Sektor hier präsentiert worden sind,
dann glaube ich, dass ich auf der falschen Veranstaltung
bin.
({10})
Sehen Sie sich doch die Situation in Italien und Spanien
an! Dort sind alle öffentlich-rechtlichen Institutionen
über Stiftungen neu konzipiert worden.
({11})
Heute gehören sie, zum Beispiel in Italien, sogar zu einer
der größten Bankengruppen. Trotzdem erfüllen sie weiterhin einen öffentlich-rechtlichen Auftrag.
({12})
Sehen wir uns an, was in Baden-Württemberg passiert
ist! Dort ist es teilweise schon gelungen, eine Neustrukturierung des öffentlich-rechtlichen Bankensektors vorzunehmen. Dort hat man sich tatsächlich auf die neuen
Gegebenheiten des Marktes als öffentlich-rechtliche
Aufgabe ausgerichtet. Das ist auch die Aufgabe der Länder. In Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Krüger, muss
noch Entscheidendes geleistet werden, wenn es um den
Verbund geht. Dies gilt auch für den genossenschaftlichen Bereich - wir reden hier immer nur über die Sparkassen -, den wir ebenfalls für die Kreditversorgung sowohl in der Fläche als auch für die mittelständische
Wirtschaft brauchen.
({13})
- Auch nach einer Privatisierung kann der öffentlichrechtliche Auftrag erfüllt werden,
({14})
und zwar dann, wenn man sich für die Rechtsform einer
juristischen Person des privaten Rechts entscheidet. Man
muss sich deshalb darüber klar werden, was man unter
Privatisierung versteht.
({15})
Lassen Sie uns keine Szenarien an die Wand malen,
die ohnehin nicht eintreten werden! Lassen Sie uns, die
wir die Strukturveränderungen vornehmen wollen, die
Zeit lieber nutzen, um als Bundesgesetzgeber die Rahmenbedingungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik
so zu setzen, dass mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung generiert wird.
({16})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Sie sollten nicht aus Wahlkampfgründen wegen der
bevorstehenden Wahl in Schleswig-Holstein auf Nebenkriegsschauplätze ausweichen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Kofler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Mittelpunkt dieser Aktuellen Stunde steht das
öffentlich-rechtliche Sparkassenwesen in Deutschland.
Jeder kennt das Drei-Säulen-System des deutschen Bankensektors: Einerseits gibt es das altbewährte System der
Sparkassen mit öffentlich-rechtlicher Trägerschaft und
die Genossenschaftsbanken, andererseits die privatwirtschaftlich organisierten Banken.
In den vergangenen Jahren haben sich die privaten
Großbanken zunehmend aus dem Flächengeschäft in
Deutschland zurückgezogen und auf das Geschäft auf
den internationalen Finanzmärkten gebaut. Von 1998 bis
2003 haben die privaten Großbanken jede zweite Zweigstelle geschlossen. Plötzlich aber scheint der deutsche
Markt für die Privatbanken wieder interessant zu sein
und sie versuchen, ihn zurückzuerobern. Genau in diesem Moment machen sich die FDP und die Union stark
für eine Privatisierung des öffentlich-rechtlichen Sparkassenwesens. Das muss doch sehr verwundern.
({0})
Die Sparkassen sind in ihrer bisherigen öffentlichrechtlichen Organisationsform ein Garant für die Stabilität des deutschen Bankenwesens und der regionalen sowie der mittelständischen Wirtschaft. Gerade die kleinen
und mittelständischen Unternehmen haben dank der
Sparkassen Aussicht auf Kredite, die ihnen von privatwirtschaftlich arbeitenden Bankinstituten nicht angeboten würden; diese haben sich vom Finanzgeschäft mit
kleinen und mittleren Unternehmen weit gehend verabschiedet. Es sind die Sparkassen, die mit besonderer Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer
Region handeln und lange und stabile Kundenbeziehungen pflegen. Das Engagement der Sparkassen für den
Mittelstand und ihre Regionen ist seit Jahren ungebrochen. Bei gleich hohen Kreditbestandszahlen finanzieren
die Sparkassen zudem erheblich mehr Einzelvorhaben
als private Großbanken. Sie sind damit für die Förderung
des Mittelstandes unentbehrlich. Für die Privatkunden
sind die Sparkassen insbesondere aufgrund ihrer flächendeckenden Versorgung mit Bankdienstleistungen
bedeutsam. Internet- und Telefonbanking dürfen nicht
die einzigen Angebote einer Bank sein; es braucht auch
kundennahe Beratung und Betreuung vor Ort.
({1})
Wir haben in Deutschland ein Bankensystem, in dem
ein intensiver Wettbewerb herrscht. Dieser trägt dazu
bei, dass Bankdienstleistungen in Deutschland flächendeckend und kostengünstig angeboten werden. Aufgrund ihres öffentlichen Auftrages unterstützen die Sparkassen zudem in produktiver Weise die strukturellen
Reformprozesse in Deutschland. Mit der Mittelstandsfinanzierung und den Vorsorgemöglichkeiten für alle Teile
der Bevölkerung bilden die Sparkassen den notwendigen
Resonanzboden dafür, dass Reformen in Deutschland im
Einklang mit den Menschen erfolgreich sind.
({2})
- Ohne die Sparkassen, nur mit Privatbanken wäre es
schon schlechter.
({3})
Es gilt somit festzuhalten, dass durch das öffentlichrechtliche Sparkassenwesen in Deutschland ein wichtiger Beitrag zur Daseinsvorsorge geleistet wird. Es besteht ein am Gemeinwohl orientiertes Verbandssystem
aller Sparkassen. Die Forderungen nach Privatisierung
sind hier schädlich. Daher lehnen wir diese ab.
({4})
Auch in diesem Bereich gilt, was wir aus der Erfahrung
mit Privatisierungen öffentlich-rechtlicher Einrichtungen bereits kennen: Ein Mehr an Privatisierung heißt
nicht zwingend ein Mehr an Qualität.
Darüber hinaus trägt das Drei-Sulen-System des Bankensektors zur Krisenfestigkeit des deutschen Finanzsystems bei. Daran hat der öffentlich-rechtliche Bankensektor der Sparkassen einen erheblichen Anteil. Angesichts
der immer größeren, weltweiten Verflechtung der Finanzmärkte ist Stabilität von unschätzbarem Wert. Das
internationale Finanzsystem ist immer wieder von Krisen
geschüttelt worden. Die Funktionsfähigkeit des deutschen Finanzsystems wurde dadurch jedoch nicht beeinträchtigt, was für unsere gesamte Volkswirtschaft von
großer Bedeutung war und ist. Nicht zuletzt dient die Stabilität des deutschen Banken- und Finanzsystems dem
Vertrauensschutz für die Anlagen der Bürgerinnen und
Bürger. Gerade dezentrale Kreditinstitute wie die Sparkassen tragen zur Stabilität in konjunkturell schwierigen
Phasen bei und helfen, negative Entwicklung abzufedern.
Egal wer nach einer Privatisierung der Sparkassen
ruft, ihm muss doch eines klar sein: Dadurch würde
nicht nur die Daseinsvorsorge ganzer Regionen betroffen, sondern auch volkswirtschaftlicher Unsinn produziert.
Danke.
({5})
Frau Kollegin Kofler, auch Sie sind eine neue Kollegin, auch Sie haben heute Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag gehalten. Wir gratulieren Ihnen recht herzlich
und wünschen Ihnen ebenfalls alles Gute für Ihre persönliche und politische Zukunft.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Da es um eine wichtige Fragestellung in unserer
mittelständisch organisierten Volkswirtschaft geht, sollten wir die Sachlichkeit in den Vordergrund stellen und
versuchen, zu überlegen, worüber hier überhaupt Streit
entstehen kann und ob er nötig ist.
Die Bundesregierung - Koch-Weser, Clement etc. hat mehrfach erklärt, dass das dreigliedrige Bankensystem, also das Drei-Säulen-System, höchst renovierungsbedürftig sei und dass man die Dinge ändern müsse.
({0})
Ich könnte Ihnen die Zitate zeigen. Wolfgang Clement
sagte: Auf dem deutschen Markt gibt es zu viele Kreditinstitute. Ich sollte von hier aus nicht über eine Überkreuzzusammenarbeit sprechen, aber ich bezweifle, dass
wir so weitermachen können wie bisher. - Koch-Weser
plädierte im Oktober 2003 zum Verdruss der Sparkassen
für säulenübergreifende Fusionen zwischen privaten
Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Was
ist das anderes, als die Kapitalbasis zu verbreitern und
den öffentlich-rechtlichen Auftrag zu schmälern? Die
Gutachter des Finanzministers sind ganz aktuell dafür,
die Rentabilität des deutschen Bankensystems zu steigern,
({1})
indem die Sparkassen zurückgedrängt werden.
Die CDU wird auf ihrem Parteitag in Düsseldorf folgenden Text beschließen - ich darf Ihnen den Text vorlesen -, der jetzt abgestimmt ist:
Bei der Weiterentwicklung des deutschen Bankenmarktes kommt den Sparkassen und Genossenschaftsbanken eine besondere Bedeutung im
Hinblick auf die Kreditversorgung der mittelständischen Wirtschaft zu. Hier liegt eine Rechtfertigung
für die besondere Struktur des Sparkassensektors.
Das ist nach dem Parteitagsbeschluss das Programm der
CDU.
({2})
Die Bundestagsfraktion hat einen Antrag eingebracht,
wonach die dreigliedrige Bankenstruktur in Deutschland
zu erhalten und fortzuentwickeln ist usw.
({3})
Das und nichts anderes ist die Gefechtslage.
Im internationalen Vergleich ist die Stabilität im Kreditgewerbe in Deutschland hervorragend. Der stabilste
Teil der deutschen Kreditwirtschaft war der Sparkassenund Genossenschaftssektor. Er wurde manchmal zwar
belächelt, aber er ist sehr stabil, wertvoll und nützlich.
({4})
Kein Vernünftiger - das kann die CDU also überhaupt
nicht treffen; denn in ihr sind alle äußerst vernünftig ({5})
kann also ernsthaft darüber nachdenken, die Sparkassen
abzuschaffen. Diese Legendenbildung passt Ihnen ins
Programm. Wissen Sie, was Sie tun, wenn Sie so weiterreden?
({6})
Sie sorgen dafür, dass sich diese Diskussion festfrisst.
Mit dieser Überzeichnung des Themas schaden Sie den
Sparkassen sehr. Ich finde das nicht klug und nicht in
Ordnung. Ich muss das gar nicht vertiefen.
({7})
Die Bundesbank hat ausdrücklich bestätigt, wie sehr
die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken zur Stabilität beitragen. Sie sind also ein Schatz.
Die eigentliche Frage lautet ganz anders, nämlich:
Wie können wir in Deutschland möglichst viele dezentrale Bankdienstleistungen nah am Mittelstand, fest verankert in den Regionen und verbunden mit Wettbewerb
aufrechterhalten?
({8})
Ich will Ihnen noch eine ganz nüchterne Frage stellen.
In einer Stadt - egal, wie sie heißt - gibt es eine Sparkasse, die sagt, dass ihr Markt zu klein ist oder dass ihr
Kapital nicht reicht.
({9})
In diesem Fall kann sie mit einer anderen Sparkasse
fusionieren. Der Fusionsprozess in diesem Säulensystem
beschleunigt sich;
({10})
am Ende werden ganze Regionen blankgezogen.
({11})
Was würden Sie denn von der Variante halten, dass man
der Bürgerschaft einer Stadt, also dem Mittelstand, die
ein hohes Interesse an dem Erhalt ihrer Sparkasse hat,
({12})
erlaubt, sich an ihrer Sparkasse zu beteiligen, wodurch
die Sparkasse möglicherweise in den Mauern dieser
Stadt erhalten bleibt?
({13})
Das ist zum Beispiel ein Ziel, das mit dem Antrag in
Schleswig-Holstein verfolgt wird. Was ist daran
schlecht?
({14})
Wir haben doch nichts anderes vor. Ich nenne nur das
Genussscheinkapital. Das ist doch möglich.
Wir werden sowohl im Genossenschafts- als auch im
Sparkassenbereich jede Modernisierung und Verbreiterung mitmachen, wenn dafür gesorgt wird, dass möglichst viele dezentrale Bankdienstleistungen erhalten
bleiben. Wir wollen keine Konzernierung, aber wir brauchen an der einen oder anderen Stelle neues Kapital, um
die Konzentrationsbewegung möglicherweise sogar verlangsamen zu können, damit wir ortsnäher bleiben.
Sie reden davon, dass man spartenübergreifend miteinander fusionieren kann. Die Banken haben zuallererst
eine Dienstleistungsfunktion.
({15})
Sie sind nicht aus sich selbst heraus legitimiert, sondern
sie sind legitimiert, weil sie die Finanzwirtschaft in modernen Volkswirtschaften betreiben und optimieren müssen.
Stellen Sie sich einmal vor, die Genossenschaftsbank
und die Sparkasse vor Ort fusionieren. Damit sind in den
meisten Städten und Gemeinden 80 Prozent der Finanzdienstleistungen unseres Landes in einer Hand. Wo soll
der arme Mittelständler dann noch einen Wettbewerber
finden?
Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wenn er mit den fusionierten Banken redet und diese
ihm nicht mehr helfen wollen, dann hat er für den Rest
seines Lebens keine Chance mehr.
Erhalten wir also diesen Wettbewerb! Alles, was den
Wettbewerb stärkt und möglichst viel Dezentralität ermöglicht, ist gut für den Mittelstand und den Standort
Deutschland. Machen Sie hier keine Schaukämpfe!
Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist trotzdem
überschritten.
Die CDU/CSU wird dieses Ziel konsequent weiterverfolgen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
wollen Arbeitsplätze in Deutschland sichern und neue
Arbeitsplätze schaffen.
({0})
Keine Frage: Dafür brauchen wir einen starken Mittelstand.
({1})
Die 3,3 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen
sind es, die 70 Prozent aller Arbeitsplätze und sogar
80 Prozent der Ausbildungsplätze bereitstellen. Wir
brauchen in Zeiten zunehmender Globalisierung standortfeste Unternehmen, die ihre Produktionen nicht mir
nichts, dir nichts ins Ausland transferieren, wenn sich
dort bessere Gewinnmaximierungsmöglichkeiten eröffnen, und mal eben 200, 400, 1 000 oder mehr Menschen
in die Arbeitslosigkeit entlassen.
Eines ist klar: Ohne wirtschaftsstarke, innovative und
investitionsbereite mittelständische Unternehmen werden wir die Arbeitslosigkeit in unserem Land nicht in
den Griff bekommen. Ohne Moos nichts los - dieser
Satz gilt auch für den Mittelstand. Um neue Ideen in
Produkte umzusetzen, brauchen Unternehmen Kapital.
Das finden sie nicht auf der Straße, sondern in Banken.
Wie sieht es hier aber aus? Immer mehr private Banken
und Kreditinstitute ziehen sich aus ihrer Verantwortung
zurück und lassen innovationsfreudige, hoffnungsvolle
Unternehmer im Regen stehen.
({2})
Im letzten Jahr haben zum Beispiel nur 6 Prozent der
Handwerksbetriebe ihre Kredite von privaten Banken erhalten.
Ich komme zu den Sparkassen. Wenn wir sie nicht
hätten, dann sähe es düster aus.
({3})
Sie stützen den Mittelstand vor allem durch ihre größere
Bereitschaft zur Kreditvergabe und durch ihre Regionalität.
({4})
Warum ist Regionalität so wichtig? Wir brauchen in
Deutschland eine flächendeckende Versorgung der
Kommunen mit Finanzdienstleistungen. Es ist die Beratung von Angesicht zu Angesicht, die die Sparkassen
und Genossenschaftsbanken leisten. Ein Glück, dass wir
sie haben! Auch sie müssen sich zwar nach der Decke
strecken, aber sie haben ihr Regionalitätsprinzip erfolgreich verteidigt.
Was machen CDU und FDP? Sie holen in SchleswigHolstein zum großen Schlag gegen bewährte Strukturen
aus. Ich komme aus Schleswig-Holstein und verfolge
diese Politik mit großer Sorge. Herr Bernhardt, Herr
Dautzenberg und Herr Schauerte, wenn Sie sich hier hinstellen und behaupten, dass das gar nicht so ist, so sagen
Sie schlichtweg die Unwahrheit.
({5})
Natürlich wollen CDU und FDP in Schleswig-Holstein
Dritten Beteiligungen an den Sparkassen ermöglichen
und damit den Weg für Privatisierung freimachen. Genau darum geht es.
({6})
Sie begründen ihr Anliegen auch. Angeblich ist die
Eigenkapitalbasis der Sparkassen zu schmal und die
Banken somit nicht krisenfest.
({7})
Alles Quatsch, sagen dazu die Sparkassen. Ihrer Meinung nach ist ihr Haus fit für Europa und damit fit für
die Zukunft. Die Sparkassen sollten es doch wohl am
besten wissen.
({8})
Wenn Sie ihnen nicht glauben, führe ich eine weitere
Quelle an. Auch der Internationale Währungsfonds bescheinigt dem deutschen Bankenwesen erstklassige
Krisenfestigkeit. Diese hohe Sicherheit ist vor allem auf
die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute zurückzuführen.
({9})
Eines ist klar: Wenn die Tür für private Investoren
auch nur einen Spalt breit geöffnet wird, werden die
Großbanken nicht zögern, sie ganz aufzustoßen, und unliebsame Konkurrenz schlucken. Bewährte Sparkassenlandschaft ade; es wäre ihr Ende.
({10})
Nicht auszudenken, was das für die Menschen vor allem
im ländlichen Raum und für den Mittelstand bedeuten
würde. Denn öffentlich-rechtliche Institute sind im Gegensatz zu den privaten Banken dem Gemeinwohl verpflichtet. Damit wäre dann Schluss.
Deshalb sagen wir: Nein, nicht mit uns, Kolleginnen
und Kollegen von der CDU und FDP aus SchleswigHolstein. Wir setzen uns für die ländlichen Regionen
ein. Wir stärken den Mittelstand.
({11})
Sie schwächen die ländliche Region, schaden dem Mittelstand und grenzen Menschen aus.
({12}) - Ludwig Stiegler [SPD]: Wir
gehen mit der Deutschen Bank auf die
Cayman Islands!)
Werfen wir einen Blick in die USA und nach Großbritannien. Da gibt es nämlich das alles schon, womit Sie
uns in Schleswig-Holstein beglücken wollen. Dort bestimmen die privaten Banken, wo es langgeht: hohe Gebühren, schlechte Dienstleistungen, von Verantwortung
für das Gemeinwohl keine Spur. Ich nenne ein Beispiel:
In den USA ziehen Banker rote Linien um Stadtteile, in
denen sie keine Hypotheken vergeben. Die Auswirkungen sind so katastrophal, dass die Regierung schon vor
einigen Jahren ein Gesetz erlassen musste, mit dem Banken gezwungen werden sollen, dieses Verhalten zu ändern und Kredite und Dienstleistungen über alle sozialen
Gruppen und strukturschwachen Gebiete zu verteilen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie müssen
jetzt den Schlusssatz sagen.
({0})
Da die Institute ständig überwacht werden müssen, ist
dies mit einem riesigen bürokratischen Aufwand verbunden. Auf diese Verhältnisse verzichten wir dann doch
lieber in Deutschland. Schützen wir unsere bewährten
Sparkassenstrukturen!
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist jetzt zu Ende.
Das ist gut für die Menschen, das ist gut für den Mittelstand und das stärkt den Finanzplatz Deutschland.
Danke schön!
({0})
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSUFraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass Kollege
Stiegler den Antrag der CDU in Schleswig-Holstein
nicht genau kennt. Wenn aber ein Minister aus diesem
Land kommt, hier Falsches sagt und polemisiert, dann ist
das der Würde des Hauses nicht angemessen.
({0})
Von keiner Seite wird bestritten, dass die Sparkassen
ein deutsches Erfolgsmodell sind. Sie garantieren die Finanzierung des Mittelstandes sowie die Versorgung des
ländlichen Raums mit Finanzdienstleistungen.
({1})
Der Name Sparkasse ist ein Markenzeichen, das jeder
Mitbürger kennt. Es steht für Kundennähe, persönliche
Ansprache, regionale Verwurzelung und die Betreuung
von 75 Prozent aller Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland. Stolz dürfen die Sparkassen darauf
sein, dass vor nicht allzu langer Zeit der Sachverständigenrat der Bundesregierung wieder bestätigt hat, dass
die Sparkassen und die Landesbanken einen möglichen
Kreditengpass in Deutschland verhindert haben.
({2})
Sparkassen und Landesbanken haben bei der Mittelstandsfinanzierung nach Berechnungen der Bundesbank
seit Anfang 1999 ihren Marktanteil von 38 Prozent auf
über 42 Prozent ausbauen können.
({3})
Bei Krediten an Handwerksunternehmen liegt der
Marktanteil der Sparkassen bei 67 Prozent. Auch hier ist
seit drei Jahren eine Steigerung um circa 3 Prozent feststellbar.
({4})
Im gleichen Zeitraum haben die privaten Großbanken ihren Kreditbestand um über 36 Milliarden Euro bzw.
20 Prozent zurückgefahren. Davon ist überwiegend der
Mittelstand betroffen.
({5})
Auch bei den KfW-Programmen für kleine und mittlere
Unternehmen sowie für die Existenzgründer liegen die
Sparkassen mit einem Marktanteil bei den Gesamtfördersummen von 40 Prozent weit vor der Konkurrenz.
({6})
Das lässt sich hören. Ich möchte das ausdrücklich hier
feststellen.
Für mich ist unbestritten: Das Drei-Säulen-Modell
der deutschen Kreditwirtschaft hat sich bewährt. Es ist
ein Erfolgsmodell.
({7})
Wir dürfen alle froh darüber sein, dass der deutsche Bankenmarkt stabil ist. Das ist der Mischung zu verdanken,
zu der die Sparkassen als öffentlich-rechtliche Institute,
die Genossenschaftsbanken und auch die privaten Großbanken gehören.
({8})
Ich meine aber, dass gerade im einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum regional tätige Kreditinstitute ein
Zukunftsmodell sein müssen. Daran sollten und müssen
wir arbeiten.
({9})
Ich sage auch deshalb ganz klar: Die Sparkassenfinanzgruppe darf kein Steinbruch sein, aus dem sich
Wettbewerber jeweils ein passendes Stück herausschlagen können.
({10})
- Ich bedanke mich für den Beifall. - Das genau will
auch die CDU Schleswig-Holstein, an der Spitze Harry
Peter Carstensen. Das ist ganz klar.
({11})
Die Sparkassen sind die wichtigste Bank für Mittelstand und Handwerk und neben den Genossenschaftsbanken deren Hausbank. Sparkassenkredite sind der
Treibstoff, der den Mittelstand voranbringt. Ohne die
Sparkassen wäre der Mittelstand nicht zu dem geworden, was er heute ist, nämlich Antriebsmotor der gesamten deutschen Wirtschaft und Hauptarbeitgeber in
Deutschland.
Meine Damen und Herren, gerade als ein von einem
Kreistag gewähltes Verwaltungsratsmitglied einer Sparkasse weiß ich: Es gibt kaum noch einen Mittelständler,
der Geld braucht und nicht über die restriktive Kreditvergabe klagt. Umfragen zeigen: Über die Hälfte der Firmen haben Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Die
Eigenkapitaldecke wird immer dünner und beträgt im
Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme.
({12})
Das wirtschaftliche Umfeld des Mittelstandes ist gekennzeichnet durch schwache gesamtwirtschaftliche
Nachfrage, hohe Arbeitslosigkeit, ständig neue Rekorde
bei den Unternehmensinsolvenzen, steigende Bürokratiekosten, explodierende Energiepreise, insbesondere
durch die Ökosteuer, hohe Steuern und Abgaben, künstliche Konkurrenz durch staatlich subventionierte IchAGs,
({13})
Kollege Stiegler. Für diese Bremsklötze sind Sie, meine
Damen und Herren, mit verantwortlich. Das kann nicht
wegdiskutiert werden.
({14})
Sie müssen sich endlich für bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen einsetzen und damit die Voraussetzung
dafür schaffen, dass der Mittelstand weiterhin anpacken
kann und dass es aufwärts geht. Wir müssen einen
grundsätzlichen Bewusstseinswandel in der Bundesrepublik Deutschland herbeiführen, eine Kultur, die von Unternehmergeist und Leistungsbereitschaft geprägt ist. Ich
bin fest davon überzeugt, dass die Sparkassen auch dazu
ihren Beitrag leisten.
({15})
Sie sollten hier nicht schwarz in schwarz malen,
({16})
sondern auch die positiven Fortentwicklungen sehen, denen wir uns nicht verschließen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Florian Pronold, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Hinsken - das darf ich jetzt sagen -,
alles, was Sie hier zu Sparkassen vorgetragen haben, findet, wie Sie an unserem Beifall gesehen haben, die volle
Unterstützung der SPD. Sie müssen es aber Ihren Kolleginnen und Kollegen in Schleswig-Holstein sagen, denn
die haben das noch nicht begriffen.
({0})
Heute ist der 11. 11. und um 11.11 Uhr beginnt die
fünfte Jahreszeit.
({1})
Wenn ich an das denke, was Herr Michelbach hier von
sich gegeben hat, kann ich nur sagen: Er hat in dieser
fünften Jahreszeit die erste Büttenrede gehalten. Vor allem das, was Union und FDP in Schleswig-Holstein planen, ist schlimmer als so mancher schlechte Faschingsscherz. Die fünfte Jahreszeit endet, wie mir bekannt ist,
mit der Fastenzeit. Wenn man aber die Sparkassen privatisiert, bedeutet das Fastenzeit für immer, und zwar sowohl für den Mittelstand als auch für die Masse der Bürgerinnen und Bürger, die bisher davon profitieren, dass
die Sparkassen auch dem Gemeinwohl verpflichtet sind.
({2})
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Aussagen der
Erfolgsmanager einer großen deutschen Bank und einer
anderen Bank, die mit ihr fusioniert hat, sie seien nur
noch für Kunden da, die mindestens 200 000 DM - daFlorian Pronold
mals ging es noch um D-Mark - auf der hohen Kante haben, und um das ganze „Kleinvieh“ sollten sich doch die
Sparkassen kümmern. Daran erinnere ich mich noch
recht gut. Dieselben Nieten in Nadelstreifen haben sich
auf den Finanzmärkten das große Geld versprochen.
({3})
Wenn man heute in die Bilanzen der Banken schaut,
sieht man bei den Sparkassen eine durchaus gute Ertragslage, während eben jene, die immer nur auf Shareholder-Value zielen, jetzt mit dem Ofenrohr ins berühmte Gebirge schauen.
({4})
Ausgerechnet denen, die eine solche Misswirtschaft
betrieben haben, wollen Sie jetzt über die Privatisierung
der Sparkassen auch noch dieses Erfolgsmodell ausliefern. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn wir
diesen Unsinn mitmachen würden. Wir sind froh, dass es
die Sparkassen als stabile dritte Säule unseres Bankensystems gibt, die sich durch die Gemeinwohlverpflichtung sowohl um den Mittelstand kümmert als auch für
die kleinen Leute da ist.
Ich wundere mich darüber, dass Sie immer wieder die
gleiche Rede zur Mittelstandspolitik halten, Herr
Michelbach, und ausgerechnet uns, die SPD, mit Vorwürfen überhäufen,
({5})
die im Übrigen falsch sind. Wir haben vor kurzem gemeinsam bei „Antenne Bayern“ über die Bürgerversicherung und die von der Union vorgesehene Kopfpauschale diskutiert. Sie haben sich für das Modell von
Angela Merkel stark gemacht - damit waren Sie meines
Wissens bisher der Einzige in der CSU -,
({6})
das eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes vorsieht. Das
würde doch am meisten dem Mittelstand schaden, weil
das für die vielen Mittelständler der Grenzsteuersatz ist.
Sie als Mittelstandsvertreter fordern Steuererhöhungen,
die den Mittelstand treffen. Das bringen auch nur Sie
fertig.
({7})
Lassen Sie mich zur Mittelstandspolitik noch eines
anmerken. Wenn Sie so viel für den Mittelstand getan
hätten wie wir - wir haben zum Beispiel die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer ermöglicht, massivste Steuerentlastungen für den Mittelstand geschaffen und das Meister-BAföG eingeführt; wir
haben mit der KfW zusammengearbeitet und im Rahmen
von Basel II Korrekturen vorgenommen -, dann würden
Sie mit einer Monstranz über jeden Marktplatz laufen
und sich beweihräuchern lassen.
Sie machen aber das Gegenteil und reden alles
schlecht. Diese Nestbeschmutzung ist die größte Gefahr
für den Standort Deutschland und dient weder dem Mittelstand noch uns allen.
({8})
Deswegen bitte ich Sie: Machen Sie nicht die Sparkassen kaputt, sondern reden Sie wie Ihr Kollege
Hinsken Ihren Kollegen aus Schleswig-Holstein ordentlich ins Gewissen, diesen Unsinn zu unterlassen!
Vielen Dank.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Klaus Brandner, Doris Barnett, Dr. Axel Berg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Fritz Kuhn, Volker Beck
({1}), Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Für eine qualifizierte Mitbestimmung bei
grenzüberschreitenden Fusionen
- Drucksachen 15/3466, 15/4087 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Rainer Funke, Daniel Bahr ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Konzernmitbestimmung neu ordnen - Aufsichtsräte und Eigentümerrechte stärken
- Drucksache 15/4038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Antrag könnte keinen aktuelleren Bezug haben als
den Schlag mit dem Holzhammer aus dem fernen Detroit
auf die Belegschaft bei Opel.
Managementfehler wie Investitionszurückhaltung und
Innovationsfeindlichkeit bei ständig wechselnden Vorständen in Deutschland haben bei Opel zu Betriebsergebnissen geführt, die zu harschen Maßnahmen zwingen,
nämlich Tausende Arbeitsplätze in Europa und damit
auch Existenzen von Menschen zu vernichten. Diese
Menschen sind aber keine Schachfiguren, selbst wenn die
Mitarbeiter oft so behandelt werden.
Deshalb mutet es schon seltsam an, wenn gerade die
deutsche Mitbestimmung - also der Betriebsrat und die
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat - die Schuld
dafür tragen sollen. Hätte man den Kolleginnen und Kollegen nur rechtzeitig zugehört, wäre die Situation heute
eine andere.
Die demokratische Teilhabe der Arbeitnehmerschaft
- des Faktors Arbeit - an Unternehmensentscheidungen
ist doch gerade die Kehrseite der Medaille der abhängigen Beschäftigung, der Bindung der Existenz an den Arbeitsplatz. Im Jahr 2004 kann doch niemand glauben,
dass wir uns eine Rückkehr zu Arbeitsbedingungen der
vorindustriellen Zeitrechnung leisten können. Eine globalisierte Wirtschaft bedingt geradezu die gleichmäßige
Partizipation der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital.
Wer engagierte Mitarbeiter will, die mit Einfallsreichtum, Erfindungsgeist und Interesse ihre Arbeit versehen,
kann nicht erwarten, dass die demokratischen Prinzipien
am Werkstor abgegeben werden. Das wissen nicht nur
die Gewerkschaften in Deutschland, sondern selbst die
Arbeitgeber akzeptieren dies und praktizieren es auch.
Was wäre aus VW oder der BASF geworden, wenn die
Umstrukturierungen nach Gutsherrenart statt mit Vernunft vorgenommen worden wären?
In dem Betrieb in meiner Heimat wurden binnen
15 Jahren ohne allzu große Verwerfungen 18 000 Arbeitsplätze ausgelagert und abgebaut, sodass das Unternehmen dank der konstruktiven Mitarbeit der Arbeitnehmer im Betriebsrat und im Aufsichtsrat - also der
paritätischen Mitbestimmung - und der IG BCE heute
eine stärkere Marktstellung als je zuvor hat und sogar
zum Worldplayer wurde. Wenn nun Teile des Arbeitgeberlagers behaupten, die Mitbestimmung sei ein Irrtum
der Geschichte, muss man sich fragen, in welchem Jahrhundert und in welchem Land diese Leute leben. Nachvollziehen kann man das nicht, da Herr Rogowski selbst
nie schlecht über die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat seines eigenen Unternehmens gesprochen hat.
Aber vielleicht wollte er im vorauseilenden Gehorsam
europäische Unternehmen, besonders solche, die mit
deutschen fusionieren wollen, vor der deutschen Mitbestimmung retten. Oder steckt dahinter vielleicht doch
mehr, nämlich dass unser bewährtes Mitbestimmungsrecht mit Hinweis auf die EU-Kommission und die Weltlage generell geschleift werden soll?
Entgegen der von interessierter Seite ständig erhobenen Behauptung, die deutsche Mitbestimmung sei einzigartig - das ist sie auch - und nirgendwo sonst gebe es
so etwas, kann ich feststellen, dass es Mitbestimmungsregelungen in 18 von 25 EU-Staaten gibt. Diese sind
zwar anders ausgestaltet. Dennoch weiß man auch dort,
dass die Beteiligung von Arbeitnehmern an Entscheidungsprozessen der Unternehmen sinnvoll ist. Nicht umsonst beneidet man uns wegen des sozialen Friedens in
den deutschen Betrieben und der damit verbundenen
verschwindend geringen Zahl an Ausfalltagen.
({0})
Deshalb haben wir uns nach jahrelangen Verhandlungen
erfolgreich eingesetzt und durchgesetzt, dass auch in der
Europäischen Gesellschaft, der SE, deutsches Mitbestimmungsrecht möglich ist. Für dieses gute Verhandlungsergebnis darf ich an dieser Stelle unseren Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlamentes, den
Gewerkschaften, aber auch unserer Regierung Danke sagen.
({1})
Nachdem die Diskussion über die Richtlinie zur Europäischen Gesellschaft zu dem wirklich vernünftigen
Ergebnis geführt hat, dass sich Kapital und Arbeit über
die Beteiligung auf dem Wege der Verhandlung einigen
und dass - falls das fehlschlägt - die günstigere Mitbestimmungsregelung zieht, wollen wir dies auch bei der
Fusionsrichtlinie umsetzen. Das ist doch die logische
Konsequenz. Oder glauben Sie wirklich, dass wir eine
quasi offizielle SE-Regelung wollen, die auch das deutsche Mitbestimmungsrecht zulässt, um sie mithilfe einer
Fusionsrichtlinie durch die Hintertür wieder zu kassieren, einer Richtlinie für Firmenzusammenlegungen - im
Gegensatz zu Firmengründungen -, die im Falle des
Scheiterns der Verhandlungen über die Mitbestimmung
als Lösung das Recht des Sitzlandes vorsieht? Wie die
Verhandlungen über die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer dann aussehen würden, können wir uns lebhaft vorstellen. Das Ergebnis - dafür braucht man keine
Kugel - wüssten wir ebenfalls im Voraus.
Wir wollen ein soziales Europa, in dem die Menschen
im Mittelpunkt stehen. Deshalb ist auch bei grenzüberschreitenden Fusionen von Firmen die Unternehmensmitbestimmung kein Nachteil, sondern wird sich als produktive Kraft erweisen. Daher kann die von den
Arbeitgebern geforderte Reform der Aufsichtsräte nicht
funktionieren, wenn sie einseitig die Arbeitnehmerseite
schwächt. Handeln ist gefordert, aber in eine ganz andere Richtung. In den Aufsichtsräten internationaler
Konzerne, die bei uns ihren Sitz haben, müssen zum Beispiel auch ausländische Arbeitnehmervertreter sitzen.
Deshalb ist das Wahlrecht zu öffnen. Wir brauchen gut
informierte und qualifizierte Aufsichtsräte auf beiden
Seiten. Denn wir meinen es mit der Unternehmenskontrolle doch wirklich ernst, oder?
Die Reform des Unternehmensrechts ist notwendig
und muss durchgeführt werden. Aber wer glaubt, dass
bei dieser Gelegenheit die Mitbestimmung abgeschafft,
zumindest massiv zurückgeführt werden kann, wird
nicht nur mit dem Widerstand der Gewerkschaften und
der Koalition rechnen müssen. Vielmehr hat sich auch
Heiner Geißler bei denjenigen eingereiht, die Widerstand leisten werden. Bei einer Veranstaltung der
Konrad-Adenauer-Stiftung in Saarburg vor gerade einmal drei Tagen forderte er die großen Volksparteien, also
auch die CDU/CSU, auf, die derzeitige Weltwirtschaft
aufzuhalten, weil sie nur das Recht des Stärkeren kenne.
In der heutigen Ausgabe der „Zeit“ sagt der CDU-Politiker:
Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen
sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre
Hirne zerfrisst …
Recht hat er. Der Shareholder-Value wird nie ein Ersatz
für Mitarbeiter sein, die ihre ganze Kraft, ihr Können
und ihre Leistungsfähigkeit für ihr Unternehmen einbringen, wenn sie bei Entscheidungen mitwirken können, die letztlich auch ihre Existenz bestimmen.
({2})
Wenn das endlich verstanden wird, wenn begriffen
wird, dass der Mitarbeiter wertvoller ist als ein schneller
kurzfristiger Gewinn, dann wird auch begriffen, dass die
Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite kein Hemmschuh, sondern ein Siebenmeilenstiefel für Unternehmen
im Umbruch sein kann.
Bei einer sich ständig ändernden Welt wird es auch
ständigen Umbruch geben, der am besten mit den
Mitarbeitern bewältigt wird. Das sehen wir so, das sieht
Heiner Geißler so. Deshalb unsere Einladung an die
CDU/CSU, an die CDA-Kollegen, besonders an den
Kollegen Laumann: Wenn Sie Ihre Partei tatsächlich als
die „Mutter der sozialen Marktwirtschaft“ betrachten,
wie es Heiner Geißler tut, dann unterstützen Sie uns und
die Regierung in den Anstrengungen, die Fusionsrichtlinie nicht zu einer Möglichkeit der Flucht aus der deutschen Mitbestimmung werden zu lassen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf
Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Barnett, Sie haben natürlich Recht: Die Union,
CDU und CSU, sind tatsächlich Mutter, Vater, Erfinder
der sozialen Marktwirtschaft. Wir lassen nicht zu, dass
das Wort „sozial“ vom Wort „Marktwirtschaft“ abgetrennt wird; „sozial“ und „Marktwirtschaft“ gehören für
uns zusammen. Deswegen sind wir auch Befürworter
der deutschen Mitbestimmung. Wir haben an dieser Mitbestimmung seit 1976 maßgeblich gearbeitet.
Heute geht es aber nicht um die deutsche Mitbestimmung, sondern um die Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Fusionen, das heißt, es geht um europäisches Recht. Ihr Redebeitrag hat bei mir den Eindruck
hinterlassen, dass Sie überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, was sich auf europäischer Ebene zwischenzeitlich
getan hat und wie sich das europäische Recht weiterentwickelt hat. Wir haben in Europa 40 Jahre benötigt, um
zur Europäischen Aktiengesellschaft zu kommen. Diese
40 Jahre waren im Kern durch einen Streit um die Mitbestimmung von Arbeitnehmern gekennzeichnet. Wer in
einem Wirtschaftsraum wie Europa aber gemeinsam
handeln will, der braucht natürlich auch gemeinsame Organisationsformen. Deswegen brauchen wir in Europa
eine Neustrukturierung des Gesellschaftsrechts. Daran
müssen wir uns in Deutschland beteiligen.
Die Auffassungen der Mitgliedstaaten zur Mitbestimmung von Arbeitnehmern in den Unternehmensorganen
gehen dabei in Europa krass auseinander. Aus deutscher
Sicht ist immerhin erfreulich, dass sich die Europäische
Kommission bereits 1975 prinzipiell zu einer gemeinschaftsrechtlichen Verankerung des Mitbestimmungsgedankens bekannt hat. Dies wiederum ist verstärkt
worden in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 und
auch in Art. 137 Abs. 3 des EG-Vertrages. Wer also behauptet, der Mitbestimmungsgedanke sei in Europa
nicht anerkannt - manchmal hört man dies in diesen Tagen -, der verkennt die tatsächliche Rechtslage.
({0})
Höchst streitig ist allerdings, wie das Mitbestimmungsrecht im europäischen Gesellschaftsrecht verankert werden soll. Diese Frage wird sich nicht nur bei der
Behandlung der Richtlinie über grenzüberschreitende
Fusionen stellen, sondern auch bei der Diskussion über
die Schaffung der europäischen Genossenschaft, einer
europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft, die wiederum das GmbH-Recht angleichen soll, insbesondere
aber bei der Gestaltung des europäischen Konzernrechts.
Bei all diesen Regelungen bleibt das deutsche Mitbestimmungsrecht der Hauptstreitpunkt. Die Bundesregierungen unter Helmut Kohl - daran muss man an dieser
Stelle wieder erinnern - haben bis 1998 stets deutlich gemacht, dass ein europäisches Gesellschaftsrecht, welches wegen der Mitbestimmungsregelung zu Standortnachteilen für Deutschland führen kann, von deutschen
Regierungen nicht akzeptiert wird. Auf diese Weise haben unionsgeführte Bundesregierungen die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland vor europaweiter
Aushöhlung schützen können.
Mit dem hier so gelobten Formelkompromiss des Jahres 2001 hat Rot-Grün diesen Pfad erstmals verlassen
und einer Verhandlungslösung zugestimmt. Folge ist,
dass der Wettbewerb unter den nationalen Mitbestimmungsregelungen in der Europäischen Gemeinschaft
nunmehr eröffnet ist.
Wenn heute also über Flucht aus der deutschen Mitbestimmung geredet wird, so ist dies auch ein Ergebnis des
völlig unausgereiften Kompromisses von 2001. Die Einigung der damals 15 Mitgliedsländer auf die Richtlinie
zur Mitbestimmung eröffnet die Möglichkeit, das deutsche Mitbestimmungsrecht vertraglich aufzuheben, zumindest aber die Möglichkeit, Europäische Aktiengesellschaften unter Außerachtlassung der deutschen
Mitbestimmungsregelungen zu gründen. Wenn sich daher ausgerechnet der Bundeskanzler in diesen Tagen vor
den Delegierten der Eisenbahnergewerkschaft Transnet
zum Bewahrer der deutschen Mitbestimmung aufspielt
und an alle appelliert, die Finger von der Mitbestimmung zu lassen, so ist dies angesichts seiner eigenen
Politik in Europa ein geradezu dreister Versuch, Menschen für dumm zu verkaufen.
({1})
Mit dem Formelkompromiss von Nizza ist die Tür für
den nunmehr so beklagten Wettbewerb um die interessantesten nationalen mitbestimmungsrechtlichen Lösungen geöffnet worden. Das hat Rot-Grün zu verantworten.
Der Europäische Gerichtshof hat in der Folgezeit in
einer Vielzahl von Entscheidungen aufgezeigt, dass die
von Ihnen beklagte Flucht aus der deutschen Mitbestimmung europarechtlich nicht mehr aufzuhalten ist. Spätestens seit der so genannten Überseering-Entscheidung vom November 2002 steht fest, dass die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit einer Gesellschaft
zu achten haben, die diese Gesellschaft in dem Staat ihrer Gründung besitzt. Diese Voraussetzung war bisher
nach deutschem Recht nicht gegeben. Mit anderen Worten heißt dies, dass europäische Unternehmen mit Sitz
außerhalb Deutschlands aufgrund der Niederlassungsfreiheit in Deutschland Niederlassungen in beliebiger
Größe betreiben können, ohne dem deutschen Mitbestimmungsrecht zu unterliegen. Es ist nicht einmal zu
beanstanden, wenn eine Gesellschaft nur deshalb im
Ausland gegründet wird, um sie bei Tätigwerden in
Deutschland dem deutschen Mitbestimmungsrecht zu
entziehen.
Wer daher, wie Rot-Grün im vorliegenden Antrag, die
Bundesregierung auffordert, zu verhindern, dass durch
europäische Regelungen die Flucht aus der deutschen
Mitbestimmung ermöglicht wird, der nimmt die europäische Rechtslage nicht zur Kenntnis oder täuscht bewusst
die deutsche Öffentlichkeit.
({2})
Die europäische Entwicklung ist seit der Einigung
über die Europäische Aktiengesellschaft in großen
Schritten weitergegangen. Der deutsche Sonderweg in
Sachen Mitbestimmung wird von der europäischen
Wirklichkeit eingeholt. Im Vergleich der Rechtsordnungen hat Deutschland mit seiner ausgeprägten unternehmerischen Mitbestimmung heute einen Standortnachteil
gegenüber allen anderen europäischen Staaten. Gründungen europäischer Gesellschaften unter deutscher Beteiligung werden eben wegen des hiesigen Mitbestimmungsmodells gescheut. Wir mögen auf die deutsche
Mitbestimmung stolz sein; im Ergebnis wird uns dieses
Modell von möglichen Neuordnungen in Europa ausschließen. Niemand - auch nicht die Bundesregierung kann hiervor die Augen verschließen. Von daher ist es
eher ein kontraproduktives Ablenkungsmanöver, nunmehr die Bundesregierung aufzufordern, durch europäische Regelungen die Flucht aus der deutschen Mitbestimmung zu verhindern. Ihr Antrag ist Dokument einer
gescheiterten rot-grünen Europapolitik in Sachen Mitbestimmung.
({3})
Rot-Grün trägt Verantwortung dafür, dass Deutschland im Wettbewerb der europäischen Rechtsordnungen
ohne klare Positionierung in dieser Frage ausgespielt
wird.
({4})
Der sich hieraus ergebende Standortnachteil wird dauerhaft zu schweren Schäden für unsere Wirtschaft führen. Darum ist es nur natürlich, dass Arbeitgeber wie Gewerkschaften über die Praktizierung der Mitbestimmung
in Europa neu nachdenken müssen. Gerade bei Fusionen
von Unternehmen drängt es sich auf, den fusionierenden
Parteien über vertragliche Vereinbarungen die Möglichkeit der Ausgestaltung der Mitbestimmung im unternehmerischen Bereich zu übertragen. Nur wer den Mut hat,
das Wie der unternehmerischen Mitbestimmung Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Unternehmen und Betrieben zu überlassen, wird die erkennbaren Standortnachteile für Deutschland abwenden können. Zum Schutz der
Arbeitnehmer reicht es dann aus, eine fusionierte Gesellschaft erst dann handelsrechtlich einzutragen, wenn eine
Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer,
gegebenenfalls auch durch besondere Schiedsverfahren,
nachgewiesen ist.
Nach alledem kann die Union die vorliegenden Anträge nicht unterstützen. SPD und Grünen ist vielmehr
dringend anzuraten, die europäische Wirklichkeit auch
in Sachen Mitbestimmung zur Kenntnis zu nehmen und
mit uns weitere Schäden für den Wirtschaftsstandort
Deutschland zu verhindern.
Ich sage Ihnen: Es ist höchste Zeit, endlich damit aufzuhören, uns immer wieder selber mit dem Segen der
Mitbestimmungsordnung zu beweihräuchern. Die deutsche Mitbestimmung hat natürlich ihren Erfolgsweg,
aber europaweit werden Fusionen und Neugründungen
wegen dieser Mitbestimmungsordnung ohne deutsche
Unternehmen stattfinden.
Herr Kollege.
Wir sagen weiterhin Ja zum Mitbestimmungsrecht bei
der deutschen Aktiengesellschaft und bei der deutschen
GmbH.
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr.
Das ist mein letzter Satz. - Wir sagen, dass wir angesichts der europarechtlichen Entwicklungen darüber diskutieren und hier zu neuen Lösungen kommen müssen.
Da bringt es nichts, Frau Kollegin, die Frage zu diskutieren, wer mehr und wer weniger für Mitbestimmung ist.
Herr Kollege, ich dachte, es wäre Ihr letzter Satz.
Die Union ist für Mitbestimmung. Wir werden unserer Verantwortung nachkommen und sie auch europaweit verankern.
({0})
Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Union erstaunt mich manchmal schon. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn wir hier Mitbestimmungsdebatten führen - das war bei der letzten über die
Europäische Gesellschaft so und ist auch heute bei der
über die Fusionsrichtlinie so -, dann wird jemand als
Redner benannt, der uns erzählt, die Union bekenne sich
zur Mitbestimmung.
({0})
Auf Podiumsdiskussionen bei politischen Veranstaltungen oder in Talkshows treten sehr häufig Vertreter der
Union auf, zum Beispiel der Herr Merz, die sagen, die
Mitbestimmung sei ein Risiko für den Standort Deutschland. Was nun, meine Damen und Herren? Darf eine
Volkspartei nach dem Motto verfahren, wir machen es,
wie es gefällt? Ich sage klipp und klar: So läuft es nicht,
dass bei jeder Themenstellung jeweils ein anderer, das
jeweilige Publikum ansprechender Redner auftritt. Sie
müssen öffentlich klar und deutlich sagen, was Sie wirklich wollen.
({1})
Damit komme ich zum springenden Punkt: Wenn Sie,
Herr Bietmann, für die Mitbestimmung sind, also für etwas, was sich in Deutschland bewährt hat, dann ist es
nur vernünftig, auch in Europa dafür zu werben, dass
diese richtige und gute Lösung dort zum Tragen kommt.
Ich kann doch nicht hergehen und sagen: Bei uns finde
ich sie gut, aber auf europäischer Ebene bin ich gegen
ihre Umsetzung, weil das einen Standortnachteil nach
sich zöge.
({2})
Diese Haltung vertreten Sie aber gegenwärtig in den entsprechenden Debatten.
({3})
Damit kommen Sie in diesem Hause nicht durch, weil
wir immer dann, wenn es notwendig ist, genau zuhören.
Jetzt wollen wir einmal Ordnung und Struktur in diesen Punkt hineinbringen. Dabei will ich gleich auf Ihre
Argumente eingehen. Wir haben für die Europäische Gesellschaft eine, wie ich finde, vernünftige Lösung gefunden, nämlich ein abgestuftes Verfahren: Es wird verhandelt und erst dann, wenn man sich nicht einigt,
greifen die Regelungen des Landes, in dem die Mitbestimmung am stärksten ausgeprägt ist, etwa in Form der
paritätischen Mitbestimmung. Hierdurch wird, wenn es
Probleme bei der praktischen Umsetzung gibt, ein hoher
Druck auf die Verhandlungen ausgeübt. Genau das wollen wir.
Jetzt zu Ihrem Argument, die Bundesregierung hätte
mit ihrer Zustimmung zur Einführung der Europäischen
Gesellschaft die Mitbestimmung geschleift. So haben
Sie ja argumentiert, wenn ich Sie richtig verstanden
habe.
({4})
Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich ein äußerst
abstruses Argument. Stellen Sie sich einmal vor, was das
bedeutet hätte, wenn die Bundesregierung diesem Kompromiss nicht zugestimmt hätte. Sie wären doch die Ersten gewesen, die gesagt hätten: Nach jahrzehntelangen
Verhandlungen hat die Bundesregierung verhindert, dass
es zur Einführung der Europäischen Gesellschaft
kommt. Dieses Argument lief doch schon über die
Ticker, bis Sie merkten, dass es sich anders verhält. Dass
man Kompromisse eingehen muss, wenn es um die Harmonisierung von Mitbestimmungsmodellen unterschiedlicher europäischer Volkswirtschaften geht, ist doch
wohl logisch.
({5})
Es ist eine gute Lösung, dass bei der Europäischen Gesellschaft zuerst über das Mitbestimmungsmodell verhandelt wird, bevor eine starre Vorschrift greift. Deshalb
haben wir zugestimmt. Von daher ist also Ihr Argument
nicht viel wert.
Jetzt komme ich auf die Fusionsrichtlinie zu sprechen. Es ist doch klar, dass wir nicht sagen können, bei
der Europäischen Gesellschaft wurde eine richtige Konstruktion gefunden, aber bei der Fusionsrichtlinie regeln
wir das anders. So hat ja die EU-Kommission vorgeschlagen, andere Mitbestimmungsmodelle vorzusehen,
die in unseren Augen schlechter wären. Deswegen
verhandeln wir über den vorliegenden Antrag. Im Prinzip wird in ihm nichts anderes gesagt, als dass bei der
Fusionsrichtlinie ein ähnliches Modell festgeschrieben
werden soll wie bei der Europäischen Gesellschaft.
({6})
Wenn Sie sich vor Ihrer Rede besser informiert hätten,
Herr Kollege, hätten Sie wissen können, dass unter der
irischen Ratspräsidentschaft ein neuer Vorschlag auf
den Tisch gelegt wurde. Gemäß diesem sollen in der Fusionsrichtlinie analoge Regelungen wie bei der Europäischen Gesellschaft vorgesehen werden, indem zunächst
verhandelt wird und erst dann, wenn man zu keinem Ergebnis kommt, so wie bei der Europäischen Gesellschaft
verfahren wird. Das halte ich für vernünftig. Deswegen
begrüßen wir einhellig den Vorschlag, den die irische
Ratspräsidentschaft unterbreitet hat. Sie sollten sich jetzt
eigentlich nur noch dafür einsetzen, dass er durchkommt. Damit hätten wir in beiden Bereichen, die wir zu
gestalten hatten, klare Regelungen.
({7})
Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass es
bei dem irischen Vorschlag ein praktisches Problem gibt,
das noch nicht gelöst ist. Was passiert, wenn ein dualistisch strukturierter Betrieb, der einen Vorstand und einen
Aufsichtrat hat, mit einem monistisch strukturierten Betrieb, der einen Verwaltungsrat und ein Board of Directors hat, fusioniert? Zu dieser Fragestellung gibt es den
Vorschlag von der EU, dass nur ein Drittel der Aufsichtsratssitze von Arbeitnehmervertretern besetzt wird.
Das halte ich für falsch. Da muss meines Erachtens
nachverhandelt werden.
Der letzte Punkt, den ich in der mir verbleibenden Redezeit noch ansprechen will, ist Ihr Diskussionsumfeld.
Schauen Sie sich doch einmal das Diskussionsumfeld
an, in dem Sie sich bewegen. Da gibt es Leute aus dem
Unternehmerlager - zum Beispiel Herrn Rogowski -,
die sagen, die Mitbestimmung sei ein historischer Irrtum. BDA und BDI schlagen jetzt vor, bei der Mitbestimmung nicht über ein Drittel der Sitze hinauszugehen.
Das heißt, auf der einen Seite starten Leute, die zum Teil
in der Union oder unionsnah sind, einen breiten Angriff
auf die Mitbestimmung. Auf der anderen Seite gibt es
praktische Unternehmer wie die aus Zuffenhausen und
aus meiner Heimatstadt Stuttgart, die sagen, dass sich
die Mitbestimmung in vielen praktischen Konflikten so
bewährt hat, dass sie sie nicht missen möchten. Die
Union weiß jetzt nicht so richtig, ob sie sich nach der
BDA, nach dem BDI oder nach Herrn Merz richten soll
oder ob sie sich nach dem Arbeitnehmerflügel richten
und grundsätzliche Bekenntnisse zur Mitbestimmung
ablegen soll.
({8})
Ich kann nur sagen: Wir von den Grünen halten die
Mitbestimmung in Deutschland für ein gutes Modell. Es
gibt nichts Gutes, was man nicht reformieren könnte. Es
gibt natürlich Punkte, die man reformieren muss. Wir
müssen uns zum Beispiel fragen, ob bei der paritätischen
Mitbestimmung die Zahl der Aufsichtsräte nicht zu groß
ist; denn Aufsichtsrat und Vorstand tagen meistens zusammen, dann sitzen zu viele Leute am Tisch. Ich finde,
dass man so etwas regeln kann, ohne die paritätische
Mitbestimmung pauschal anzugreifen, so wie es die
BDA getan hat. Man muss konstruktiv nach vorne gerichtet die Mitbestimmung verbessern, um sie zu bewahren.
({9})
Das sollte die Lösung sein. Wenn Sie dem zustimmen,
dann können Sie jetzt - weil ich zum Schluss komme heftig Beifall klatschen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
erste Lesung des Antrags der Regierungskoalition fand
in einer Nachtsitzung und findet heute zu einer wenig attraktiven Zeit statt. Das Ganze ist meines Erachtens eine
Art Placeboeffekt, den Sie bei Ihren Gewerkschaftsfreunden erzielen wollen. Die Bundesregierung wird
meiner Einschätzung nach nicht ernsthaft meinen, dass
sie auf dieser Basis in Brüssel Verhandlungen führen
kann.
Am deutschen Mitbestimmungswesen wird die Welt
sicherlich nicht genesen.
({0})
Kein Land in Europa hat die Absicht, die deutsche Ausformung der paritätischen Mitbestimmung zu übernehmen; kein Land in Europa wird sie übernehmen. Ihre
protektionistische Haltung bei der Mitbestimmungsfrage
gefährdet den Unternehmensstandort Deutschland.
({1})
Die Erfahrungen haben es gezeigt: Die Unternehmen,
die nur verlängerte Werkbänke sind und deren Entscheidungszentren - die Konzernzentralen und Holdings nicht im Lande sitzen, sind am ehesten vom Arbeitsplatzabbau betroffen. Deshalb ist Ihre protektionistische
Haltung falsch. Ich begrüße es übrigens sehr, dass sich
der CDU-Wirtschaftsrat unseren Vorstellungen weitestgehend angeschlossen hat.
({2})
Was man machen muss, ist, die Unternehmensverfassung in Deutschland zu modernisieren. Wir brauchen
eine Runderneuerung. Wir müssen die Aufsichtsräte verkleinern - nach unserer Ansicht höchstens auf zwölf Personen - und die Eigentumsrechte stärken. Es sollte das
Recht der Eigentümer, also der Hauptversammlung
sein, zu entscheiden, ob Managergehälter veröffentlicht
werden und ob es Zulagenprämien oder Ähnliches gibt.
So etwas sollen die entscheiden, denen das Unternehmen
gehört.
({3})
Es sollte eine Schamfrist geben, wenn ein Vorstandsvorsitzender Aufsichtsratsvorsitzender werden will. Das
kann nicht sofort sein, sonst kontrolliert der Aufsichtsratsvorsitzende seine frühere Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender.
({4})
Es muss dabei eine Mindestfrist geben.
Kernpunkt ist aber die paritätische Mitbestimmung,
die ein deutscher Sonderweg ist. Kein Land der Welt hat
diesen Weg übernommen, er war eine Illusion. Ich kann
mich sehr gut erinnern: Das ist in den 70er-Jahren entstanden, als man einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus gesucht hat. Das war die Zeit, als
in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen wie der Bank
für Gemeinwirtschaft, der Neuen Heimat und der Volksfürsorge Milliarden von Arbeitergroschen versenkt wurden. Ansatzpunkt war, etwas dazwischen zu erfinden.
Das Vorhaben ist traurig gescheitert.
({5})
Speziell für die Neue Heimat sollten Sie sich heute noch
schämen.
Keiner ist gegen Mitbestimmung, man muss aber diesen Sonderweg, den Irrweg der paritätischen Mitbestimmung, zugunsten einer drittelparitätischen Mitbestimmung, die der Sache gemäß ist, verlassen. Opel und
Karstadt beispielsweise sind paritätisch mitbestimmte
Betriebe und fast alle Beschlüsse sind von den Gewerkschaftsvertretern mitgetragen worden.
({6})
Das hat eben nicht zur Befriedung der Unternehmen beigetragen.
({7})
Bei Opel in Bochum gab es trotz paritätischer Mitbestimmung und Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern
wilde Streiks.
Nach unserer Auffassung sollten Gewerkschaftsvertreter, die dem Betrieb nicht angehören, somit Betriebsfremde sind, nicht im Aufsichtsrat sein.
({8})
Am deutlichsten sehen Sie das bei dem grünen Gewerkschaftsführer Bsirske.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
({0})
Bitte, gern.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Brüderle, Sie haben eben die Mitgliedschaft von betriebsfremden Gewerkschaftsfunktionären in den Aufsichtsräten angesprochen. Wie beurteilen Sie, dass sich
der grüne Gewerkschaftsführer Bsirske als Aufsichtsratsmitglied bei der Lufthansa mit seiner Gewerkschaft
Verdi selbst bestreiken konnte, im Hinblick auf die Interessen des Unternehmens?
Dieser Fall, Herr Kollege Niebel, ist geradezu exemplarisch für die Interessenskollision, die hierdurch hervorgerufen wird.
({0})
Nach dem Aktiengesetz ist es die Aufgabe des Aufsichtsrates einer Aktiengesellschaft, das Wohl des Unternehmens und seiner Beschäftigten zu fördern. Wenn der
stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Lufthansa,
Herr Bsirske, gleichzeitig Streikführer gegen das gleiche
Unternehmen sein kann, zeigt das die Absurdität dieser
Regelung und dass das Gewerkschaftsprivileg beseitigt
gehört.
({1})
Wer nicht Betriebsangehöriger ist, kann im Aufsichtsrat
seine im Aktienrecht vorgegebene Aufgabe der Wahrnehmung der Interessen der Betriebsangehörigen eben
nicht erfüllen. Das ist eine klare Fehlsteuerung. Deshalb
muss dies auch geändert werden.
({2})
Wenn Unternehmensvertreter wie Herr Schrempp
oder andere der Auffassung sind - was Herr Kuhn ansprach -, dass Herr Steinkühler - sehr erfahren in
Insiderfragen -, Herr Zwickel und Herr Peters für ein
Unternehmen sehr hilfreich sind und den Wert des Unternehmens steigern, haben sie auch heute schon alle
Möglichkeiten: Nach dem Aktiengesetz kann die Hauptversammlung jeden in den Aufsichtsrat wählen. Wenn
Herr Schrempp die Eigentümer seines Unternehmens
überzeugen kann, kann er den Aufsichtsrat seines Hauses komplett mit Gewerkschaftsfunktionären besetzen.
Das geht heute nach dem Aktienrecht.
({3})
- Sie müssen einmal das Gesetz lesen. Wenn Sie statt zu
schreien, lesen würden, würden Sie schlauer werden,
aber Sie wollen ja nicht.
({4})
Er kann den gesamten Aufsichtsrat mit Gewerkschaftsfunktionären besetzen. Er hat nur ein Problem zu
lösen: Er muss die Eigentümer seines Unternehmens, die
ihn als leitenden Angestellten bezahlen, davon überzeugen, dass dadurch der Wert des Unternehmens nachhaltig gesteigert wird. Ich wünsche Herrn Schrempp heute
schon viel Vergnügen bei seinen Bemühungen,
({5})
seine Eigentümer davon zu überzeugen, dass Herr
Steinkühler, Herr Zwickel oder Herr Peters als Aufsichtsräte den Wert des Unternehmens nachhaltig steigern. Dafür brauchen wir nichts Neues einzuführen. Man
muss einfach nur das Aktienrecht kennen.
Nun kommen wir zu dem aktuellen Anlass der Debatte. Wenn wir in Europa ernsthaft mitwirken wollen,
muss man die Realitäten anerkennen.
({6})
Von dem, was Sie heute mit Ihrem Antrag initiieren wollen, werden Sie nichts erreichen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bundesregierung diesen Antrag nicht als
Basis für ihre Arbeit wählen wird. Er dient zur Beruhigung von Zwischenschreiern und Gewerkschaftsfunktionären, bringt in der Sache aber nichts.
Wir müssen uns in Deutschland als Standort attraktiv
halten. Es gibt ja das Europarecht; denn eine holländische Gesellschaft kann hier genauso wirken. Sie werden
erleben, wie unser Standort zunehmend an Bedeutung
verlieren wird. Herr Breuer von der Deutschen Bank hat
vor 14 Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ in einem langen Interview dargelegt: Wenn sein
Unternehmen mit einem anderen Institut zusammengeht,
werden sie wegen der Steuerpolitik und der Mitbestimmung nicht Deutschland als Firmensitz wählen. Das
können Sie auch für andere nachlesen.
({7})
Tun Sie doch bitte einmal etwas für die Arbeitnehmer!
Tun Sie etwas, dass wir die Standorte und die Entscheidungen in Deutschland halten können, damit wir in der
Zukunft möglichst viele Arbeitsplätze sichern können.
({8})
Und kommen Sie aus den ideologischen Schützengräben
heraus! Den Gewerkschaften laufen die Mitglieder weg;
jedes Jahr treten rund 500 000 aus den DGB-Gewerkschaften aus, weil Sie die Realitäten nicht sehen. Kehren
Sie zu einer Basis zurück, die für Deutschland und die
Arbeitnehmer wirklich etwas bringt. Verlassen Sie die
Schützengräben von vorgestern, aus denen Sie noch immer operieren.
({9})
- Spät kommenden Schreiern, die noch nicht in der Realität unserer Tage angekommen sind,
Herr Kollege, Ihre Redezeit!
- kann ich nur sagen: Sie haben das Recht zu abwegigen Äußerungen, aber Sie müssen nicht jeden Tag demonstrieren, dass Sie nichts von der Sache verstehen. Stellen Sie die Weichen endlich so, dass die Arbeitnehmer in Deutschland eine Chance haben, ihren Job zu behalten!
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ditmar Staffelt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst etwas aus meiner Sicht zum Antrag
der Koalitionsfraktionen. Ich habe diesen Antrag so verstanden, dass das deutsche Parlament die Bundesregierung in ihrem Bemühen, deutsche Positionen in Europa
zu formulieren und durchzusetzen, ausdrücklich zu unterstützen gedenkt. Das ist der Sinn dieses Antrages.
({0})
Vor diesem Hintergrund haben wir, so denke ich, einen
guten Anlass, uns darüber zu unterhalten, was wir wollen und was bisher auf dem Sektor der europäischen Mitbestimmung erreicht worden ist.
Eigentlich - wenigstens einige Ansätze dazu habe ich
heute hören können - liegen die großen ideologischen
Schlachten um die Mitbestimmung ja schon 30 Jahre
hinter uns.
({1})
Viele Unternehmen leben mit dieser Mitbestimmung
außerordentlich gut. Die Beispiele bestärken uns in dieser Auffassung.
Ich sage das vor dem Hintergrund, dass manch ein
Unternehmer, der sich in einer Zeit des Umbruchs und
der Modernisierung vorwagt, häufig vergisst, dass Mitbestimmung in guten Zeiten möglicherweise lästig erscheinen mag, in schlechten Zeiten aber von vielen herbeigesehnt wird, gebraucht wird, unerlässlich ist, um den
Betriebsfrieden und insbesondere die ökonomische Basis vieler Unternehmen wiederherzustellen.
({2})
Wir sehen das ganz aktuell an den Beispielen KarstadtQuelle und Opel. Ich möchte nicht wissen, meine Damen
und Herren, wo wir in diesen schwierigen Fällen heute
stünden, wenn es nicht eine seitens der Arbeitnehmerschaft organisierte Verantwortung gäbe, die letztendlich
in den Betrieb hinein Einfluss ausübt und damit stabilisierend wirkt. Wenn mir jemand sagen will, dass diejenigen, die an der Sanierung mitgewirkt haben, etwa unverantwortlich gehandelt hätten, dass es nicht einer
erheblichen Bewegung der Arbeitnehmerschaft bedurft
hätte, um diese Unternehmen wieder auf die richtige
Schiene zu bringen, wenn mit dem Finger auf die Mitbestimmung und die Arbeitnehmer gezeigt wird, dann
weiß ich nicht, vor welchem Hintergrund das geschieht.
Ich warne ausdrücklich davor, dass in dieser Zeit, in
der die Gewerkschaften und auch die Arbeitnehmerschaft weitgehend bereit sind, viele Wege der Reformen
mitzugehen, so schwer sie auch erscheinen mögen, immer und immer wieder draufgesattelt wird, weil es eben
gerade ins ideologische Konzept passt.
({3})
Das werden wir jedenfalls nicht zulassen. Die Bundesregierung wird bei ihrer Position bleiben und nicht nachgeben.
({4})
Wir wollen die Mitbestimmung auch in Europa sichern. Wir wissen, dass wir in Europa eine neue Mitbestimmungskultur benötigen, weil die Unterschiede in
den europäischen Ländern außerordentlich groß sind.
Ich denke, dass wir bisher gut verhandelt haben, indem
wir Lösungen angestrebt haben, die aus einer Kombination aus Verhandlung und Auffangregelung bestehen. Das
heißt: Immer dort, wo Unternehmen miteinander fusionieren, wird zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern verhandelt, um eine tragfähige Mitbestimmungsregelung zu finden. Sollte dies zu keinem Ergebnis führen,
dann würde über die Auffangregelung praktisch die weitgehendste Mitbestimmungsregelung in Kraft treten. Das
ist, wie der Kollege Kuhn zu Recht gesagt hat, ein guter
Ansatz. Denn alle Beteiligten müssen sich mit der Frage
auseinander setzen, wie man passgerechte Regelungen
für europäische Unternehmen schaffen kann, die sowohl
den Interessen der Arbeitnehmer wie auch denen der Arbeitgeber Rechnung tragen.
({5})
Wir sind uns der Tatsache sehr wohl bewusst, dass wir
noch nicht alle Hürden genommen haben. Hier ist schon
der Begriff von der monistischen Leitungsstruktur genannt worden. Es ist klar: Wenn es in einem Unternehmen keinen Aufsichtsrat und keinen Vorstand, sondern
ein Board of Directors gibt - das ist das angloamerikanische Modell -, dann ist die Implementierung der Mitbestimmung schwieriger. Hier wird man verhandeln müssen.
Wir wollen ganz im Sinne der deutschen Interessen so
viel Mitbestimmung wie nur irgend möglich durchsetzen. Aber wir wissen auch, dass das nicht einfach sein
wird. Deshalb muss man mit Augenmaß und Realismus
sehen, was unter diesen Bedingungen an Mitbestimmung durchsetzbar ist.
({6})
- Was heißt hier „Aha“? Das ist nun einmal so. Europa
ist in diesem Bereich sehr unterschiedlich strukturiert.
Spanien hat im Bereich der Mitbestimmung praktisch
keine Tradition. Deutschland und andere Länder hingegen haben eine große Tradition. Das alles muss auf vernünftige Weise miteinander verbunden werden. Ich
glaube, darüber sind wir uns alle einig.
Ich sage noch einmal: Wir werden, so gut es nur irgend geht, die Mitbestimmung und damit die Interessen
der Arbeitnehmer in Europa verteidigen.
({7})
Wir werden einer Absenkung des Mitbestimmungsniveaus nicht zustimmen, schon gar nicht des Mitbestimmungsniveaus im eigenen Land. Wir werden uns auch
nicht von Ihnen treiben lassen. Das gilt nicht für Sie,
Herr Bietmann. Sie haben heute die große Überraschungsnummer gezogen. Kollege Kuhn hat das Nötige
schon dazu gesagt.
({8})
- Frau Wöhrl, bei aller Freundschaft muss ich Ihnen sagen: Ausgerechnet Sie, die Sie die Mitbestimmung für
die größte Plage der letzten 50 Jahre halten, wollen heute
das Hohelied der Mitbestimmung mit Ihrem Kollegen
singen. Das geht nicht. Sie sollten da redlich sein.
Es gibt, wie der Berliner sagt, so ’ne und solche. Ich
will einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion ihre Haltung zur
Mitbestimmung durchaus abnehmen. Aber die Grundmelodie Ihrer Fraktion und Ihrer Partei ist eine andere.
Sie liegt näher bei den Auffassungen von BDI und BDA
als etwa bei denen der Gewerkschaften. Da wollen wir
uns nichts vormachen.
({9})
- Natürlich sind wir eine Volkspartei.
Ich will an dieser Stelle grundsätzlich sagen: Wir wissen, dass es Herausforderungen gibt, die uns in Europa
auf diesem Sektor über die Globalisierung erreichen.
Aber die Antwort darauf kann nicht etwa die Abschaffung der Mitbestimmung, sondern muss ihre sinnvolle
und angemessene Weiterentwicklung in den europäischen Unternehmen sein.
({10})
Ich denke, das ist unser gemeinsames Ziel.
Da Sie dieser Feststellung zustimmen, kann ich nur
sagen: Es wäre schön, wenn es auf mancher Veranstaltung und in mancher Fernsehdiskussion mehr Sachlichkeit und ein größeres Miteinander und weniger Konfrontation in dieser Frage geben würde. Dann können wir an
das anknüpfen, was Sie vorhin zugestanden haben, nämlich dass auch die CDU und die CSU in Sachen Mitbestimmung in diesem Land recht aktiv gewesen sind.
Auch wenn es um die Ausgestaltung von Mitbestimmungsrechten in Europa geht, vergessen Sie bitte Ihre
historischen Wurzeln in diesem Bereich nicht gänzlich.
Danke schön.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger,
CDU/CSU-Fraktion.
Geschätzte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute über den Antrag der
Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen, in dem
die Bundesregierung aufgefordert wird, auch auf europäischer Ebene das Instrument der Mitbestimmung
durchzusetzen. Das ist zwar sicherlich eine gute Forderung. Aber möglicherweise ist der Antrag, den beide
Fraktionen formuliert haben, nicht ganz realitätskonform, weil aufgrund der Beschlüsse, die in der Vergangenheit mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung getroffen wurden, auf der europäischen Ebene ein
Kompromiss - die Europäische Gesellschaft - zustande
gekommen ist. Natürlich ist es wichtig, einen solchen
Kompromiss herbeizuführen. Aber, Herr Kollege Kuhn,
dann sollte man auch zu diesem Kompromiss stehen und
nicht versuchen, ihn in der nationalen Umsetzung wieder
auszuhebeln.
({0})
Das kann nicht gut sein und kann nicht funktionieren.
Dies ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland schädlich.
({1})
Die CDU/CSU steht zur Mitbestimmung. Wir sind allerdings auch dafür, dass die Mitbestimmung in den europäischen Rahmen, den wir nun einmal haben, eingepasst wird. Denn wir möchten die Diskussionen
natürlich nicht realitätsfern führen.
Die Entwicklung sieht ja so aus: 1976 wurde das
Mitbestimmungsrecht unter maßgeblicher Beteiligung
von CDU und CSU eingeführt. Seitdem sind fast
30 Jahre vergangen. Die europäische Einigung ist vorangekommen. Es hat die deutsche Wiedervereinigung mit
der Öffnung nach Osten gegeben. Das bedeutet, dass
man denjenigen Unternehmungen, die über die Grenzen
hinaus tätig sind und die Niederlassungen und Zweigbetriebe in anderen Ländern haben, ein Unternehmensrecht
geben muss, das sie in der Weise agieren lässt, dass in
Europa und vor allen Dingen in Deutschland neue Arbeitsplätze entstehen.
Deshalb ist es entscheidend, über die daraus entstehenden Fragen ohne ideologische Scheuklappen zu diskutieren. Wir müssen uns überlegen, was dies für den
Wirtschaftsstandort Deutschland bedeutet. Kollege
Brüderle hat bereits ausgeführt, dass die Deutsche Bank
dann, wenn sie eine Holdinggesellschaft gründet oder
sich mit einem anderem Institut zusammenschließt,
möglicherweise nicht in Deutschland ihren Firmensitz
haben wird, sondern im Ausland, in einem europäischen
Partnerland.
({2})
Was hat das dann für Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland? Ich glaube, dies wäre ein nicht
wieder gutzumachender Verlust.
({3})
Welche Auswirkungen sind für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu befürchten, wenn aufgrund
von Zusammenschlüssen deutscher Firmen mit europäischen Partnern die Konzernzentralen im Ausland
entstehen, um damit deutsches Mitbestimmungsrecht zu
umgehen? Das ist möglich, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und den Grünen. Das ist blanke
Realität. Wie gehen wir mit diesem Umstand um und
wie schützen wir die Arbeitnehmerrechte in Deutschland? Das oberste Arbeitnehmerrecht ist der Bestand des
Arbeitsplatzes in Deutschland. Das ist meines Erachtens
an erster Stelle in der Gesetzgebung zu beachten und in
den gesetzlichen Regelungen vorzusehen.
Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob es noch
zeitgemäß ist, dass in den Aufsichtsräten drei Posten
für Gewerkschafter frei gehalten werden. Von mehr als
5 200 Aufsichtsratsposten, die hoch dotiert sind, werden
mehr als 1 600 von führenden Gewerkschaftsmitgliedern
eingenommen. Natürlich leisten viele von ihnen eine
gute Arbeit für ihre Unternehmungen. Aber es kann
nicht angehen, dass die, die in den Aufsichtsräten sitzen,
einen Streik herbeiführen, wie es bei Lufthansa unter
dem Gewerkschaftsvorsitzenden Bsirske geschehen ist,
und den Unternehmen dadurch Schaden zufügen.
({4})
Wenn ausländische Investoren solche Handlungsweisen
von Aufsichtsratsmitgliedern einzelner Unternehmungen
beobachten, empfinden sie unser Mitbestimmungsrecht,
das wir so hoch loben und das gute Erfolge gezeitigt hat,
zum Teil als Bedrohung.
Wir müssen uns dieser realistischen Sichtweise stellen,
sie in Gesetzesform gießen und das Mitbestimmungsrecht weiterentwickeln. Wir, CDU und CSU, halten
nichts von der pauschalen Kritik am Mitbestimmungsrecht, wie sie zum Beispiel BDI-Präsident Rogowski geäußert hat. Das ist völlig klar.
({5})
Aber wir müssen uns fragen, wie wir durch die bewährten Elemente unseres Mitbestimmungsrechts, die in verschiedenen Umfragen von deutschen Führungskräften
genannt worden sind, die Gründung neuer Gesellschaften befördern und Investitionen und Kapital aus aller
Herren Länder in den Wirtschaftsstandort Deutschland
holen können. Das ist mit dem geltenden Recht sicherlich nicht zu schaffen. Wir müssen die Mitbestimmung
an die neuen Gegebenheiten anpassen.
Ich glaube, der Antrag von SPD und Grünen hat eigentlich nur einen Sinn: wieder eine starke Bindung zwischen
der SPD - bei den Grünen dürfte diese Bindung sicherlich
weniger ausgeprägt sein - und den Gewerkschaften beziehungsweise ihren führenden Funktionären herbeizuführen.
({6})
Bei aller Bedeutung der Gewerkschaften muss man feststellen, dass die gewerkschaftliche Bindung von Tag zu
Tag schwindet, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland an Arbeitsplätzen und nicht an
theoretischen Diskussionen interessiert sind.
Wir müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass die
positiven Elemente unseres Mitbestimmungsrechts auch
im Hinblick auf die neue europäische Aktiengesellschaft
erhalten werden. Das schaffen wir aber nur durch eine
gute Zusammenarbeit. Wir müssen eine Diskussion führen, die wir als CDU/CSU heute ausdrücklich anstoßen
wollen und in die wir unsere eigenen Vorschläge einbringen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hans-Jürgen Uhl, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die aktuelle Mitbestimmungsdebatte macht
deutlich, worum es beim Thema Mitbestimmung geht
und wer wo für welche Interessenlagen steht. Herr
Rogowski, die FDP, insbesondere auch Sie, Herr
Brüderle, und manch einer in der CDU/CSU - wir haben
ja heute wieder zwei Sowohl-als-auch-Reden gehört wollen mit ihren Angriffen auf die Mitbestimmung einen
entscheidenden Produktivitätsfaktor ausschalten.
Herr Brüderle, die Konsequenz Ihrer Befangenheitsargumente hinsichtlich der Gewerkschafter wäre, dass
alle Aufsichtsräte abgeschafft werden müssten; denn
dort sitzen in der Tat Personen, die Interessen vertreten
und dementsprechend ein Stück weit befangen sind. Wer
die Mitbestimmung und damit die Mitverantwortung der
Arbeitnehmer und der Gewerkschaften infrage stellt, der
gefährdet den sozialen Frieden.
({0})
Worum geht es? Die Unternehmensmitbestimmung in
den Aufsichtsräten ist, in enger Verbindung mit den Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte, ein wesentlicher
Eckpfeiler unserer Demokratie. Hier erinnere ich an das,
was der Arbeitnehmerflügel innerhalb der CDU im
Laufe der Geschichte unseres Landes zur Mitbestimmung beigetragen hat.
({1})
Wie wären wohl die Strukturwandelprozesse in den
Branchen Eisen und Stahl, Kohle, Bergbau, bei der
Bahn, in der Chemieindustrie und der Automobilindustrie abgelaufen, wenn es die qualifizierte Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften nicht
gegeben hätte?
({2})
Das kann jeder in den Kahlschlagsregionen der USA und
Großbritanniens besichtigen.
({3})
Welchen Grund sollte es deshalb geben, Bewährtes über
Bord zu werfen und den Häuserkampf in den Betrieben
dafür einzutauschen?
({4})
Die Krise bei Opel bzw. General Motors macht das
doch ganz deutlich: Die Konzernzentrale der mitbestimmungsfreien Zone in Detroit schickte Manager nach
Rüsselsheim, die zur Förderung ihrer persönlichen Karriere am kurzfristigen Gewinntransfer in die Zentrale,
aber nicht an einer soliden, nachhaltigen Investitionsund Produktpolitik interessiert waren. Ausbaden müssen
das jetzt die Arbeitnehmer und ihre Familien. Da ist es
doch besser, wenn Betriebsräte mit der Kenntnis der
Stärken und Schwächen der Betriebe und des Marktes,
unterstützt vom Sachverstand außerbetrieblicher Gewerkschaftsvertreter, gemeinsam mit den Kapitalvertretern und dem Vorstand die Weichen für Innovation und
Zukunftsentwicklung der Unternehmen stellen.
Darum gilt: Unser in Jahrzehnten bewährtes und erfolgreiches deutsches Mitbestimmungsmodell muss
auch im europäischen Recht gesichert und weiterentwickelt werden.
({5})
Deshalb wollen wir von SPD und Grünen mit unserem
Antrag der Bundesregierung den Rücken für die abschließenden Verhandlungen in Brüssel zur europäischen Fusionsrichtlinie stärken. Wir wollen, dass sich
die Arbeitnehmervertreter und die Kapitalvertreter weiterhin auf gleicher Augenhöhe begegnen.
({6})
Wir wollen, dass der betriebliche Sachverstand und
überbetriebliche Erfahrung auf beiden Seiten dafür sorgen können, die Belange von Kapital und Arbeit auszugleichen - im Interesse der Unternehmen, der Belegschaften und vor allem der Standortregionen. Deshalb
sind BDI und BDA völlig auf dem Holzweg, wenn sie
mit ihren Vorschlägen unseren gesellschaftlichen Konsens zur kooperativen Konfliktbewältigung leichtfertig
über Bord werfen.
Während sich Daimler-Chrysler-Chef Jürgen
Schrempp, VW-Personalvorstand Peter Hartz und die
Vorstandsvorsitzenden von EnBW und Porsche klar zur
Mitbestimmung bekennen, wollen Arbeitgeberverbandsfunktionäre und ihre Freunde in Wissenschaft und Politik die Mitbestimmung kippen.
({7})
Das ist Rückschritt und schwächt den Standort Deutschland.
({8})
Tatsache ist: Deutschland ist mit unserer Unternehmensverfassung Exportweltmeister geworden. Deutschland ist Investitionsschwerpunkt für amerikanisches Kapital. Die Amerikanische Handelskammer in Deutschland
ist mit über 3 000 Mitgliedern die größte der Welt. Kein Betriebsrat und kein Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
schrecken ausländische Kapitalgeber davon ab, in
Deutschland zu investieren.
Meine Damen und Herren, schauen wir uns den vorliegenden FDP-Antrag etwas genauer an:
({9})
Ein Zurück zur Drittelbeteiligung kommt für uns nicht
infrage. Ihre Angriffe auf die Gewerkschaften sind abgedroschene Ideologie; das höre ich in jeder Talkshow, in
der Herr Brüderle auftritt.
({10})
Aber, meine Damen und Herren von der FDP, wo Sie
Recht haben, da haben Sie Recht: Eine Begrenzung der
Zahl der Aufsichtsratsmandate pro Person halte ich für
sinnvoll - gut wäre es, wenn die Aufsichtsräte das freiwillig lösen würden; wir wollen ja nicht alles gesetzlich
regeln -; denn was auf den Kapitalbänken an Ämterhäufung zusammenkommt, ist schon beachtlich. Zehn bis
15 Aufsichtsratsmandate sind keine Seltenheit; Graf
Lambsdorff war seinerzeit in dieser Disziplin Weltmeister. Es ist wohl so, dass sich in den Aufsichtsräten der
100 größten deutschen Unternehmen dieselben rund
30 Spitzenmanager immer wieder begegnen.
({11})
Alle Achtung, was die an Terminen neben ihrem hauptberuflichen Job wahrnehmen!
Ebenso halte ich es nicht für sinnvoll, wenn ehemalige Vorstandsvorsitzende nach ihrem Ausscheiden Aufsichtsratsvorsitzende desselben Unternehmens werden
und ihren Nachfolger kontrollieren.
Sie sehen, in Ihrem Antrag stehen durchaus ein paar
Punkte, die man mittragen kann.
Aber fragen wir uns auch, warum immer wieder die
Unabhängigkeit von Gewerkschaftsvertretern in den
Aufsichtsräten infrage gestellt wird, nicht aber die der
Vertreter der Kapitalseite. Interessenkollisionen ergeben sich häufig gerade auf der Kapitalseite. Nehmen wir
doch einmal die Vertreter von Banken, die Kredite an
Unternehmen vergeben, oder Überkreuzmandate: Erinnern wir uns an den Übernahmekampf zwischen Thyssen und Krupp. Die Deutsche Bank war an der Übernahmeaktion beteiligt. Sie hatte sowohl einen Sitz im
Aufsichtsrat von Thyssen als auch in dem von Krupp.
Nennen wir das unabhängig?
({12})
Gleichzeitig möchte ich diejenigen, die die Gewerkschaften von der Unternehmensmitbestimmung ausschließen wollen, warnen. Deutschland gilt als streikarme Zone. Das verdanken wir der Tatsache, dass sich
Arbeitnehmervertreter und Arbeitgebervertreter häufig
begegnen, dass sie sich respektieren und dass sie Probleme kooperativ lösen. Warum sollten wir das ändern?
({13})
- Die haben wir ja.
Meine Damen und Herren, BDA und BDI wollen mit
dem Hinweis auf andere Länder und europäische Richtlinien Einschnitte bei der deutschen Mitbestimmung. Sie
sagen, Deutschland sei in der Frage der Mitbestimmung
isoliert. Das ist für mich Unsinn, zumal in der Mehrzahl
der EU-Staaten die Mitbestimmung als Instrument der
Unternehmenskontrolle genutzt wird. Die Beitrittsstaaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien haben
sich dabei sogar am deutschen Modell der Mitbestimmung orientiert.
({14})
- Schauen Sie sich das einmal an. Slowenien ist zwar ein
kleines Land, aber dort gibt es die 50/50-Parität; in der
Slowakei übrigens auch.
({15})
In Europa gibt es eine Vielzahl von Kulturen und Traditionen zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Wirtschaftsleben. Deshalb dürfen wir es nicht akzeptieren,
dass EU-Richtlinien die Flucht aus der deutschen Mitbestimmung eröffnen. Europa hat nämlich nicht nur eine
wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Dimension.
Dazu gehören Teilhabe und Mitbestimmung. Deshalb
haben die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften uns
Sozialdemokraten an ihrer Seite.
Wir wollen die Mitbestimmung in ihrer bewährten
Form erhalten und ihr eine europäische und eine internationale Perspektive geben; denn die Mitbestimmung
schafft gerade in globalen Unternehmen die Voraussetzung für die demokratische Kontrolle wirtschaftlicher
Macht und schränkt ihren Missbrauch ein. Wir wollen innovative Unternehmen, in denen Manager und Arbeitnehmer den Unternehmen und den arbeitenden Menschen durch die Kontinuität der Entscheidungen
Zukunftsperspektiven, sichere Einkommen und Arbeitsplätze bieten und in deren Aufsichtsräten soziale Verantwortung praktiziert wird.
Vielen Dank.
({16})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer gerade der Rede unseres Kollegen Uhl
zugehört hat, der hatte den Eindruck, diese Rede sei
schon einmal 1976 gehalten worden und der Kollege
hätte nicht mitbekommen, dass wir mittlerweile ein Europarecht, einen europäischen Binnenmarkt, viele weitere internationale Verpflichtungen und große Unternehmensverschmelzungen haben, was man sich damals
überhaupt nicht vorstellen konnte.
({0})
Das hörte sich gut an und ich hätte die Rede auch so
halten können,
({1})
aber ob sie mit der Wirklichkeit, in der wir jetzt leben,
noch in Einklang zu bringen ist, weiß ich nicht.
({2})
Ich finde, es gibt einen klaren Grundsatz. In Deutschland - dies ist hier so wie in allen anderen Ländern der
Erde auch - gibt es Interessengegensätze zwischen Arbeit und Kapital. Manchmal sind diese Interessengegensätze in Unternehmen auch Konflikte. Das haben wir
alle zum Beispiel bei Opel mitverfolgen können. Es ist
doch völlig klar, dass ein Land und auch Unternehmen
Spielregeln brauchen, wie man diese Konflikte austrägt.
Wir haben uns in Deutschland für ein Partnerschaftsmodell ausgesprochen. Dies geschah im Grundsatz im
Übrigen schon in der Weimarer Republik und dann vor
allem während der Entwicklung nach dem Zweiten
Weltkrieg.
({3})
Dieses Partnerschaftsmodell findet seinen Ausdruck in
der überbetrieblichen Mitbestimmung, über die wir
heute in erster Linie sprechen und die von den gestellten
Anträgen betroffen ist, und in der betrieblichen Mitbestimmung, die für noch viel mehr Arbeitnehmer relevant
ist. Das ist unser Modell.
Ich sage Ihnen: Dieses Konsensmodell, dieses Partnerschaftsmodell, für das wir uns einmal entschieden haben,
({4})
hat eher mit der christlich-sozialen Idee in der Geschichte unseres Landes als mit der sozialistischen Idee
zu tun.
({5})
Deswegen braucht sich hier keiner großartig aufzuregen.
Mit der christlich-sozialen Bewegung in Deutschland ist
die deutsche Mitbestimmung, sowohl die überbetriebliche wie die betriebliche, eng verbunden.
({6})
Sie gehört für die christlich-soziale Bewegung in
Deutschland zu unserer Identität - ich gehöre ihr auch
durch andere Verbände außerhalb der CDU an - und
diese lassen wir uns auch nicht nehmen.
({7})
Weil das so ist, ist es völlig klar, dass Mitbestimmung
und Partnerschaftsmodell in der Christlich Demokratischen Union verwurzelt sind. Ich will nicht bestreiten,
dass es in der Christlich Demokratischen Union auch
den einen oder anderen gibt, der nicht in dieser Tradition
steht und vielleicht zu einem anderen Entschluss kommt.
Ein Beispiel dafür ist die heutige Entscheidung des Wirtschaftsrates.
({8})
Ich glaube im Übrigen, dass sich dieses Modell bewährt hat. Wir haben damit viele Konflikte gelöst. Wer
sich die mitbestimmten Betriebe anschaut, stellt fest,
dass es in einer Reihe von mitbestimmten Betrieben gewaltige Umstrukturierungen gegeben hat. Denken Sie an
die RAG, an Bayer, an Schering, an die BASF. Überall
dort sind die Umstrukturierungen in großem Frieden verlaufen,
({9})
und zwar mit der Parität.
Zur Wahrheit gehört auch, dass es in Deutschland anerkannte Arbeitgeberpersönlichkeiten gibt, die ganz klar
sagen, dass sich diese Idee der Partnerschaft und der
Mitbestimmung bewährt hat. Ich will nur einmal Herrn
Martin Kannegiesser anführen, der in der „Süddeutschen
Zeitung“ vom 26. Oktober 2004 mit den Worten zitiert
wird:
Mitbestimmung kann in Großkonzernen den Vorteil
haben, dass Entscheidungen hier und da langfristiger angelegt werden - dass also nicht die kurzfristige Auswirkung auf den Börsenkurs das Maß aller
Dinge ist.
Wer aber bei einem Mann wie Kannegiesser, den ich
sehr ernst nehme, genauer hinschaut, stößt auch auf
Sätze wie: Wir müssen, obwohl wir den Grundgedanken
richtig finden, zu einer Modernisierung dieser Mitbestimmung kommen. Deswegen glaube ich, dass eine
Modernisierung der deutschen Mitbestimmung,
wenn wir die Auseinandersetzung und die Überlegungen
dazu klug führen, dem Ziel eines partnerschaftlichen
Modells, wie es auch in der Vergangenheit unser Grundanliegen war, nicht unbedingt widerspricht.
({10})
Es scheint mir sehr logisch zu sein, dass gerade die Arbeitnehmervertreter in den mitbestimmten Betrieben
- das gilt im Übrigen sowohl für die betriebliche wie für
die überbetriebliche Mitbestimmung - den Standort
Deutschland sehr genau im Auge haben. Denn wir Arbeitnehmer - ich sage das einmal so - sind natürlich auf Arbeitsplätze an diesem Standort angewiesen, wahrscheinlich stärker als die Kapitalgeber; denn Kapital kann auch
außerhalb des Landes angelegt werden. Ein Arbeitnehmervertreter muss - erst recht, wenn er einem Aufsichtsrat angehört - im Auge behalten, wie viele Arbeitsplätze
es in Deutschland gibt. Daher glaube ich, dass man auf
dieser Seite den Standort Deutschland stets im Blick behält. Dass sie nicht irrational handeln - das sage ich noch
einmal -, beweisen die riesigen Umstrukturierungen, die
trotz der Mitbestimmung in Deutschland möglich waren.
Deswegen ist die Mitbestimmung eine bewährte und gute
Sache.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Mitbestimmungsgesetz aus dem Jahre 1976 von unseren Kollegen
im Bundestag zu einer Zeit durchgesetzt worden ist, als
die Wirtschaft noch sehr national ausgerichtet war. Für
diese Bereiche war die Mitbestimmung richtig und ist sie
auch heute noch unstreitbar. Nur stehen wir heute vor
dem Problem transnationaler Unternehmensverschmelzungen. Beschleunigt wird diese Entwicklung
vom europäischen Binnenmarkt. Hinzu kommt, dass Europa über Richtlinien Recht schafft.
Natürlich hat die Bundesregierung als Vertreterin der
industriestärksten Nation dieser Gemeinschaft hier die
ganz große Verantwortung, unsere Art und Weise, Konflikte in Betrieben zu lösen, in Europa durchzusetzen.
({11})
Dabei wünsche ich der Bundesregierung viel Glück.
Herr Staatssekretär Staffelt, in Ihrer Rede haben Sie gerade gesagt, dass sich die Bundesregierung dafür stark
machen wird. Sie hätten nur noch den Satz hinzufügen
müssen: Wir werden uns zwar heldenhaft einsetzen; aber
wenn wir am Ende überstimmt werden, werden wir
überstimmt. - Das wäre dann die Wahrheit gewesen.
({12})
Hinzu kommt - das muss man wissen -, dass der Vorschlag der Kommission, der bislang im Raum stand,
ohne Aussprache einstimmig zustande gekommen ist.
Ich frage mich dann schon: Wo war denn Herr
Verheugen von der SPD und wo war Frau Schreyer vom
Bündnis 90/Die Grünen, Herr Kollege Kuhn, wenn man
doch weiß, dass das auf europäischer Ebene so gelaufen
ist? Deswegen sind die Anträge, die Sie hier stellen,
schon ein bisschen doppelzüngig.
({13})
Mir liegt Folgendes am Herzen: Wir werden die Mitbestimmung in einigen Punkten modernisieren müssen.
Natürlich müssen die Aufsichtsräte effektiver werden.
Vielleicht werden sie kleiner werden müssen. Das ist
noch leicht zu machen, wenn man es will. Aber die
Frage, wie man ausländische Arbeitnehmer an Wahlen
beteiligt, wird schon schwerer zu beantworten sein.
Ich habe nachgelesen, dass Siemens circa 1 000 ausländische Töchter - von Südostasien bis nach Südamerika hat. Angesichts dessen ein Wahlrecht praktisch zu organisieren, stelle ich mir schwer vor. Wir werden das Problem aber lösen müssen, denn das internationale Recht
und das europäische Recht werden verlangen, dass wir
ausländische Arbeitnehmer an den Entscheidungen beteiligen.
Was die Gewerkschaftsvertreter betrifft, so kann ich
mit der Situation gut leben. Ich finde allerdings, das Vorschlagsrecht sollte bei den Belegschaften liegen. Ich
würde es für richtig halten, dass die Belegschaften auch
Leute vorschlagen können, die nicht im Unternehmen
arbeiten. Wenn sie einen Gewerkschaftsfunktionär vorschlagen, dann soll das eben so sein. Gewerkschaftsfunktionäre sind nicht immer schlechter als Bankenvertreter; die können in den Aufsichtsgremien genauso
bestimmte Interessen vertreten.
({14})
Ich finde, da sollte man fair bleiben: Das Initiativrecht
sollte bei den Belegschaften liegen und nicht bei den Gewerkschaftszentralen. Wenn wir darin übereinstimmen,
können wir uns einigen.
({15})
Viel schwieriger aber ist die Frage zu beantworten, wie
wir es schaffen, dass Deutschland in Zukunft auch als
Sitz für transnational verschmolzene Unternehmen ein
attraktiver Standort bleibt. Daran müssen wir ein Interesse haben. 30 Prozent der deutschen Unternehmen, die
der Mitbestimmung unterliegen, haben eine ausländische Mutter. Sie haben diese Mutter trotz unserer Mitbestimmung bekommen. Bedenken Sie das, wenn geäußert
wird, keiner wolle diese Mitbestimmung. Das ist ein
Faktum, das man im Auge haben muss.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit!
Ein Satz noch. - Deswegen finde ich es wichtig, dass
wir uns die Entwicklung des europäischen Rechts und
die Richtlinie anschauen. Wir müssen dann die Entscheidungen so treffen, dass die Holdings in Deutschland entstehen können. Wenn wir vernünftig sind, sprechen wir
das mit den beiden Sozialpartnern ab. Daran wäre mir in
dieser Frage sehr gelegen.
Schönen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/
4087 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine qua-
lifizierte Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Fu-
sionen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3466 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
mit Mehrheit angenommen.
Zum Tagesordnungspunkt 4 b wird interfraktionell
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4038 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offen-
kundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Anita Schäfer ({0}), Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Konversionsregionen stärken - Sechs-PunktePlan zur Strukturpolitik
- Drucksache 15/4029 Überweisungsvorschlag:
Auschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Auschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Auschuss für Tourismus
Auschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga
Daub, Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich
Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung
und Schließung betroffenen Bundeswehrstandorte ist unverzichtbar
- Drucksache 15/1022 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Auschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen wehrt
sich offenkundig niemand. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Peter Harry Carstensen für die
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wenn man lange in diesem Parlament gewesen ist, erlebt man immer wieder etwas Neues.
({0})
Wenn es um die Sparkassen geht und dazu eine Aktuelle
Stunde vereinbart wird, dann kommt ein leibhaftiger Minister aus Schleswig-Holstein, um noch einmal die Möglichkeit zu haben, im Bundestag zu reden. Die Gelegenheit wird er wahrscheinlich nicht wieder bekommen.
({1})
Wenn es aber um die wichtigen Dinge für SchleswigHolstein geht, nämlich darum, die Folgen des Abzugs
der Bundeswehr zu debattieren, ist die Bank hier vorne
leer. Ich bin schon sehr erstaunt.
Ich glaube, es ist notwendig, einmal auf die Auswirkungen dieser Entscheidungen gerade in dem leider ja
immer noch strukturschwachen Schleswig-Holstein hinzuweisen. Wir sind am stärksten betroffen. Das Land
Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen Einwohnern wird
8 900 Dienstposten verlieren, während das Land Schleswig-Holstein, welches gerade einmal 2,8 Millionen Einwohner hat - ein Sechstel von Nordrhein-Westfalen -,
8 600 Dienstposten verlieren wird.
Nun wird keiner die Notwendigkeit von Strukturveränderungen und Reformen bestreiten. Aber es gibt Zorn
und Unverständnis über Einzelentscheidungen, weil
nämlich nicht ausgewogen entschieden wurde und weil
die Folgen in einigen Gebieten Schleswig-Holsteins und
in anderen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland
nicht bedacht wurden.
Ich bestreite die Aussage des Bundesverteidigungsministers, die Entscheidungen bei der Bundeswehr hätten nichts mit Strukturpolitik zu tun. Wenn man die
Entscheidungen der Bundeswehr nur betriebswirtschaftlich beurteilt und die volkswirtschaftlichen Auswirkungen nicht betrachtet, wird man feststellen, dass die Entscheidungen zwar zu Einsparungen im Haushalt des
Bundesverteidigungsministers führen werden, dass es
aber in manchen strukturschwachen Gebieten zu extremen Belastungen kommen wird, die auf andere Haushalte verteilt werden müssen. Deshalb muss man einige
Entscheidungen noch einmal überdenken und über einige Auswirkungen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit
noch einmal sprechen.
Ich will Ihnen einmal schildern, welche Auswirkungen diese Entscheidungen im Landesteil Schleswig, einem besonders strukturschwachen Bereich, haben. In
Schleswig wurde die Kaserne mit 1 400 militärischen
und zivilen Dienstposten geschlossen. Ende nächsten
Jahres wird der Flugplatz in Eggebek mit 1 800 militärischen und zivilen Dienstposten geschlossen, genauso
wie jetzt der Marinehafen Olpenitz mit 2 000 militärischen und zivilen Dienstposten. Wenn Sie dann noch die
Angehörigen des von der Bundeswehr lebenden Gewerbes, des zuliefernden Gewerbes und alle anderen, die aus
den Depots entlassen werden, hinzurechnen, summiert
sich der Verlust von Kaufkraft, wie ihn die IHK ausgerechnet hat, auf eine Höhe von ungefähr 200 Millionen Euro im Jahr. Deshalb sind Veränderungen in der
Hilfe notwendig.
Herr Staatssekretär Kolbow, ich will Sie in diesem
Zusammenhang mit drei Forderungen konfrontieren. In
einem Papier heißt es:
Den Einsparungen im Verteidigungshaushalt müssen regionale Sonderprogramme zur Schaffung von
neuen Arbeitsplätzen außerhalb des militärischen
Bereichs und zur Verbesserung der regionalen Infrastruktur gegenübergestellt werden …
Die bisher militärisch genutzten Flächen müssen
nach dem Verursacherprinzip von den bisherigen
Nutzern bzw. vom Bund in seiner Gesamtverantwortung von Altlasten befreit und saniert werden …
Die bisher militärisch genutzten Flächen und Liegenschaften sollen zu günstigen Bedingungen für
eine zivile Verwendung den anderen Gebietskörperschaften zur Verfügung gestellt werden … Es ist
eine über die Bundeshaushaltsordnung hinausgehende Sonderregelung erforderlich, die eine stark
Peter H. Carstensen ({2})
verbilligte und in besonderen Fällen auch kostenlose Abgabe altlastenfreier Liegenschaften ermöglicht …
Die Ministerpräsidentin des Landes hat einen Brief an
den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses geschrieben.
({3})
- Sicherlich gibt es auch in anderen Bundesländern solche Probleme, aber ich darf doch wohl die Möglichkeit
nutzen, exemplarisch an einigen Beispielen deutlich zu
machen,
({4})
wie notwendig es ist, hier zu Hilfen zu kommen.
({5})
Es ist notwendig, darüber zu sprechen, weil ich hier
nämlich nicht aus Anträgen zitiert habe, die von uns gestellt worden sind.
({6})
sondern weil ich aus einem Antrag zitiert habe, der mit
den Unterschriften von Herrn Kolbow und Herrn
Dr. Peter Struck am 1. Juli 1991 hier in diesem Haus gestellt worden ist. Das darf man doch wohl noch einmal
erwähnen, meine Damen und Herren.
({7})
Es muss doch erwähnt werden, dass es durch die Entscheidungen an einigen Standorten - nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern auch in anderen Bundesländern zu einer extremen Belastung kommt. Im Antrag der
CDU/CSU wird dezidiert begründet, warum wir zu einer
Verbesserung der Situation in diesen Regionen kommen
müssen: weil sie sonst ausbluten und weil der Abbau
von Bundeswehrstandorten gerade in strukturschwachen
Gebieten zu erheblichen negativen Strukturveränderungen führen würde. Deshalb ist es hier dringend notwendig, den betroffenen Bundesländern zu helfen und die
strukturschwachen Gebiete zu stärken.
Insofern bin ich gespannt, wie sich insbesondere die
Abgeordneten der Koalition - ob rot oder grün -, die in
diesen Gebieten wohnen und dort ihre Wahlkreise haben,
in der Abstimmung über die Anträge entscheiden werden, ob sie für oder gegen ihre Region abstimmen werden. Ich bin sehr gerne bereit, dieses Thema auch vor Ort
zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie werden verstehen, dass ich mich nicht auf
eine Debatte einlassen kann, die die militärischen Entscheidungen betrifft. Ich gehe davon aus, dass alle diese
Entscheidungen aus militärisch-funktionaler und betriebswirtschaftlicher Sicht heraus verabschiedet worden
sind
({0})
und dass in diesem Hause kein Zweifel daran besteht,
dass diese Entscheidungen notwendig gewesen sind,
weil eine tief greifende Reform unserer Streitkräfte und
ihrer Verwaltung vor dem Hintergrund einer völlig veränderten Sicherheitslage in Deutschland und in der Welt
unvermeidlich ist.
({1})
Wir sind sehr wohl der Auffassung, dass Entscheidungen zur künftigen Stationierung von Streitkräften und
territorialer Wehrverwaltung für die Angehörigen der
Bundeswehr und die betroffenen Standorte erhebliche
Veränderungen und harte Einschnitte mit sich bringt.
Das will niemand bezweifeln.
Lassen Sie mich deshalb etwas zu den Zuständigkeiten und möglichen Hilfen für diesen Strukturwandel bei
der Bundeswehr ausführen. Die strukturpolitische Verantwortung für die Bewältigung der Konversionsfolgen
liegt nach der föderalen Aufgabenverteilung des Grundgesetzes zweifelsfrei vorrangig bei den betroffenen Ländern und Gemeinden. Der Bund wirkt daran mit. Deshalb wurde im Rahmen des Steueränderungsgesetzes
1992 der Länderanteil am Umsatzsteueraufkommen ab
1993 von 35 auf 37 Prozent erhöht. Im Vermittlungsausschuss einigte man sich damals auf eine Empfehlung,
wonach die Senkung des Bundesanteils am Umsatzsteueraufkommen insbesondere zur finanziellen Flankierung der Folgen des Truppenabbaus dienen sollte. Diese
Mittel stehen den Ländern seit 1993 dauerhaft zur Verfügung.
({2})
Wir bitten die Länder, die zusätzlichen Mittel, die ihnen
aus diesen 2 Prozentpunkten aus dem Steueraufkommen
zufließen, auch für die vorgesehenen Zwecke zur Verfügung zu stellen.
Ich merke in diesem Zusammenhang an, dass beispielsweise dem Land Bayern - dies haben die fleißigen
Haushälter in unserer Fraktion errechnet - aus den
2 Prozentpunkten am Umsatzsteueraufkommen pro Jahr
eine Summe von 300 Millionen Euro zur Verfügung
steht.
({3})
Herr Staatssekretär - Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:
Nein.
Sie wissen doch noch gar nicht, was ich fragen will.
({0})
Aber ich interpretiere Ihren Reflex so, dass Sie meine
mögliche Frage, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen
würden, negativ bescheiden wollen.
Ja, ich wollte schneller zum Ende kommen.
Dann teile ich das hiermit dem Kollegen Heiderich
mit.
Die Regionen können - auch das will ich klarstellen bei der Bewältigung der Konversionsfolgen zusätzlich
auf die zur Verfügung stehenden Förderinstrumente wie
die Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, der Verkehrspolitik, der Städtebauförderung sowie der Mittelstandsund Existenzförderung zurückgreifen.
Die regionalpolitischen Instrumente der Europäischen
Union, des Bundes und der Länder können in den betroffenen strukturschwachen Gebieten, sofern die entsprechenden Konversionsstandorte von der Fördergebietskarte erfasst werden, zielgerecht eingesetzt werden.
Auch auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“ könnte grundsätzlich unter Berücksichtigung der GA-Förderregeln im
Rahmen des bis Ende 2006 beihilferechtlich genehmigten Fördergebiets zurückgegriffen werden. Allerdings
bietet der derzeitige finanzielle Rahmen der GA nur geringen Spielraum zur Bewältigung der Konversionslasten. Das ist uns sehr wohl klar.
Hinzu kommt, dass die von Schließung bzw. Truppenreduzierung betroffenen Standorte nur zu circa
54 Prozent im Fördergebiet der GA liegen. Soweit Konversionsstandorte in den Fördergebieten der GA liegen,
können sowohl Investitionen der gewerblichen Wirtschaft als auch Investitionen in den Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur mit GA-Mitteln gefördert
werden. Alleinige Verantwortung der Länder ist - Herr
Carstensen, Sie sind im Moment in allererster Linie mit
Landesthemen befasst; Sie sollten sich das schon für die
Debatten merken, die Sie als Oppositionspolitiker im
Schleswig-Holsteinischen Landtag führen werden -, regionale Schwerpunkte und Prioritäten beim Einsatz dieser Förderinstrumente zu setzen. Die Höhe der GA-Mittel konnte bis 2008 verstetigt werden. An eine
Aufstockung ist allerdings aus haushaltspolitischer Sicht
- das sage ich hier sehr deutlich - nicht zu denken.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aus aktuellem Anlass kurz etwas zu der anstehenden Entscheidung der Föderalismuskommission hinsichtlich der GA
sagen. Gerade die Bundesländer fordern die Abschaffung der GA. Sie sollten sich aber im Klaren darüber
sein, dass in diesem Fall ein Einsatz dieses regionalpolitischen Förderinstrumentariums zur teilweisen Bewältigung des konversionsbedingten Strukturwandels nicht
mehr möglich sein wird. Andererseits ist ein eigenständiges bundesfinanziertes Konversionsprogramm nicht
vorgesehen.
Die in den beiden Anträgen geforderte Verbilligung
der Veräußerung zukünftig nicht mehr militärisch genutzter Liegenschaften im Rahmen des neuen Standortkonzeptes ist nicht geplant. Ein derartiges, früher bestehendes Verbilligungsprogramm ist bereits mit dem
Bundeshaushalt 2001 - von wenigen Ausnahmen abgesehen - ausgelaufen.
({0})
Im Übrigen sind Verbilligungen umso effizienter, je höher der Bodenwert liegt. Dieser ist aber in strukturschwachen Regionen, von denen Sie sprechen, in der
Regel besonders gering, sodass gerade hier das Instrument der Verbilligung eher wenig greifen würde.
Der Bund beteiligt sich aber nach wie vor an für zivile
Anschlussnutzungen notwendigen Kosten für die Sanierung der von Boden- und Gewässerverunreinigungen betroffenen bundeseigenen Liegenschaften. Wie bisher
wird der Bund bei der zivilen Anschlussnutzung der
bundeseigenen Liegenschaften eng mit den Kommunen
zusammenarbeiten.
({1})
- Entschuldigung, Sie haben doch das Recht auf eine
vollständige Berichterstattung zu Ihrem Antrag. Hätte
ich es nicht gesagt, hätten Sie es mir vorgeworfen. Also
immer schön ruhig bleiben!
({2})
Für einzelne Liegenschaften, insbesondere mit Entwicklungspotenzial, hat das BMVg die Verwertungszuständigkeiten der Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb übertragen. Einer in dem Antrag
der CDU/CSU-Fraktion geforderten Entbürokratisierung
des Verfahrens bedarf es jedenfalls aus unserer Sicht
nicht.
Für die personelle Umsetzung der Strukturmaßnahmen gilt weiterhin: Die notwendigen Maßnahmen werden so sozialverträglich wie nur möglich und ohne betriebsbedingte Kündigungen umgesetzt. Ich denke, das
ist ein ganz wichtiger Sachverhalt.
Die Personalführung der Bundeswehr hat bereits vorbeugend Initiativen ergriffen, um dies sicherzustellen.
Dabei hat die Prüfung struktursicherer Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten besondere Bedeutung. Außerdem
steht unter anderem der Tarifvertrag über sozialverträgliche Begleitmaßnahmen im Zusammenhang mit der Umgestaltung der Bundeswehr vom 18. Juli 2001 zur Verfügung. Dieser enthält bereits vielfältige Möglichkeiten
zur sozialverträglichen Begleitung, zum Beispiel Altersteilzeit, Härtefallregelung, Abfindungen und die erweiterte Altersteilzeitregelung für Beamte.
Wir sehen sehr wohl, dass es gilt, Probleme in den betroffenen Bereichen gemeinsam anzupacken. Aber wir
wollen hier in aller Klarheit sagen: Jede Ebene hat ihre
Aufgaben wahrzunehmen. Der Bund wird die seinen
wahrnehmen. Aber die Länder sollen wissen: Sie müssen vor dem Hintergrund der geschaffenen Strukturen
der letzten Jahre ihre Verantwortung in vollem Umfang
wahrnehmen. Dazu fordern wir sie auf.
Dies ist eine gemeinsame Aufgabe. Ich habe hier in
der Fragestunde schon erlebt, dass jeder Abgeordnete
um seinen Standort besorgt ist. Das Bundesverteidigungsministerium befindet sich in einem intensiven Dialog mit den Abgeordneten. Dieser Dialog wird fortgesetzt.
Ich füge noch eines hinzu: Auch wir aus dem Bundeswirtschaftsministerium sind selbstverständlich bereit,
wann immer erforderlich und wann immer wir es können, Auskünfte zu erteilen und im Rahmen der Gegebenheiten, die ich Ihnen hier eben vorgetragen habe, mitzuhelfen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Helga Daub für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Standortentscheidungen sind gefallen. Sie betreffen fast alle Bundesländer und eben nicht nur Schleswig-Holstein.
({0})
Die FDP-Fraktion hat immer deutlich gemacht, dass sie
eine vernünftige, militärisch und betriebswirtschaftlich
begründete Neustrukturierung der Bundeswehr mittragen wird. Wir stehen zu unserem Wort.
({1})
Die neue Ausrichtung der Bundeswehr mit all ihren
Konsequenzen erfordert eine neue Struktur. Es war mehr
als an der Zeit, die lange bekannten Notwendigkeiten
umzusetzen. In letzter Konsequenz aber, nämlich in der
Wehrpflichtfrage, hat es die rot-grüne Regierung - das
muss hier angesprochen werden - dennoch nicht getan.
({2})
Leider muss die Bundeswehr noch immer mit einer zu
geringen finanziellen Ausstattung auskommen. Ich
spreche das hier ganz bewusst an; das Ganze ist schließlich gemacht worden, um Betriebsmittel zugunsten von
Investitionen einzusparen. Wir alle kennen die Hiobsbotschaften: Der Verteidigungsetat wurde erneut um circa
250 Millionen Euro gekürzt. Das ging zulasten der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und ihrer Soldatinnen
und Soldaten.
({3})
Für den Verteidigungshaushalt ist jetzt das Ende der
Fahnenstange erreicht. Die Bundeswehr ist ganz einfach
nicht das Sparschwein der Nation. Sie steht vor großen
Herausforderungen und muss wenigstens die mageren
Mittel erhalten, die angekündigt waren.
({4})
Mir kommt das Ganze vor wie die Geschichte von
Hase und Igel: Der Verteidigungsminister trifft Entscheidungen, um zu sparen, und der Finanzminister freut sich
und sagt: Ich bin schon da! Ich habe erwartet, dass der
Finanzminister und nicht nur ein Vertreter aus dem Wirtschaftsministerium hier anwesend ist.
Der Schock in den von Schließungen betroffenen
Standorten und Gemeinden ist verständlicherweise groß.
Die Bundeswehr war dort ein großer Wirtschaftsfaktor.
Dass den betroffenen Kommunen geholfen werden
muss, steht für die FDP außer Frage. Der Blick muss
jetzt aber nach vorne gerichtet werden. Ich lebe im Hier
und Heute und kenne die von der rot-grünen Bundesregierung zu verantwortende desolate Haushaltslage. Deshalb müssen Hilfen zielgerichtet sein. Nach dem Gießkannenprinzip vorzugehen bringt hier natürlich nichts.
Wenn man sich die Schließungspläne anschaut - wir
alle haben die Pläne bekommen -, dann kann man
durchaus erkennen, dass es auch kommunale Filetstücke
gibt. Diese liegen mitten in der Stadt, sind infrastrukturell günstig gelegen und werden meines Erachtens ohne
größere Probleme einer anderen Nutzung zuzuführen
sein. Hier liegt es vornehmlich in der Hand der Kommunen, durch zielgerichtetes und kreatives Handeln eine
Lösung herbeizuführen. Dazu gehört natürlich auch, die
Liegenschaften gegebenenfalls in die Verfügungsgewalt
der Standortgemeinden zu überführen, damit diese zuHelga Daub
sammen mit den zuständigen Behörden - Bundesbehörden, Landesbehörden - Nachnutzungskonzepte entwickeln können.
({5})
Es gibt aber auch andere Regionen; wir wissen das.
Es gibt Härtefälle, die einer Härtefallregelung bedürfen.
Olpenitz, Schneeberg und Wildeshausen seien jetzt nur
als Beispiele genannt. Es ist ganz klar ersichtlich, dass
die betroffenen Garnisonen und Regionen die Konversion nicht ausschließlich aus eigener Kraft bewältigen
können. Hilfe seitens des Bundes, der die Standortschließungen verfügt hat, sind - auch das steht für die FPD außer Frage - zwingend vonnöten. In unserem Antrag haben wir in Form von Forderungen konkret aufgelistet,
wie den betroffenen Kommunen geholfen werden kann.
Es bedarf einer genauen Prüfung und der Einbeziehung
aller bestehenden Förderprogramme.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Mit den
Standortschließungen wird ein weiteres Argument für
den Erhalt der Wehrpflicht - nach meiner Auffassung
und nach Auffassung meiner Fraktion ist es inzwischen
nur noch vorgeschoben - endgültig ad absurdum geführt.
({6})
- Ja, mit Sicherheit. Er wird auch direkt nach mir
reden. - Ich spreche in diesem Zusammenhang von dem
immer wieder angeführten Argument der Integration der
Bundeswehr in die Gesellschaft durch die Wehrpflichtigen. Das war lange Zeit so richtig. Das war unter einem
anderen Konzept der Bundeswehr auch gut. Aber jeder
Standort weniger und damit jeder Wehrpflichtige weniger bedeutet in dieser Logik auch ein Stück weniger Integration. Das bestärkt uns einmal mehr in der Position,
dass die Wehrpflicht ausgesetzt werden muss.
Ich freue mich auf die nächste Wehrpflichtdebatte,
Herr Nachtwei, vor allem deshalb, weil sich die Grünen
in dieser Woche endlich öffentlich zu der Position der
FDP-Fraktion bekannt haben. Wenn ich das richtig verstanden habe und wenn Sie nicht wieder umfallen, sind
Sie offenbar gewillt, auch im Deutschen Bundestag noch
in dieser Legislaturperiode den SPD-treuen Pro-Wehrpflicht-Kurs zu verlassen. Wir haben zu dem Thema gestern erneut einen Antrag in den Bundestag eingebracht.
Wir werden Sie beim Wort nehmen. Im Gegensatz zu Ihnen - Sie hätten ja sonst schon im September unserem
Antrag zustimmen können - wissen wir, was wir wollen.
({7})
Noch ein Wort an die beiden großen Fraktionen in
diesem Haus. Wir sind nicht hier im Deutschen Bundestag - der Meinung sind wir jedenfalls -, um wichtige
Entscheidungen - die Entscheidung über die Wehrpflichtfrage ist eine solche - am Ende den Gerichten zu
überlassen. Wir sind gewählt worden, um selber zu entscheiden. Das sollten wir dann auch tun.
({8})
- Warten Sie es ab, wie es in Ihrer Fraktion sein wird!
Zurück zu den Standortschließungen.
Darüber werden Sie sich, wenn überhaupt, nur noch
ganz kurz äußern können.
({0})
Ja. - In den betroffenen Gemeinden haben sich in den
vielen Jahrzehnten der Bundeswehr spezielle Wirtschaftsstrukturen entwickelt. Ohne Hilfe des Bundes stehen kleine und mittelständische Betriebe, die daran hängen, vor dem wirtschaftlichen Aus. Die FDP-Fraktion
wird dagegen kämpfen. Diese Politik ist gegen die Menschen gerichtet. Nicht alle Standards dürfen unter die finanzpolitische Guillotine kommen.
Danke.
({0})
Nun erhält, wie angekündigt, der Kollege Winfried
Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der vorigen Woche wurde so breit und lebendig wie seit
Jahren nicht über die Bundeswehr diskutiert. War endlich bewusst geworden, dass wir zurzeit in der radikalsten Bundeswehrreform seit der Gründung der Bundeswehr stehen, dass wir es mit einem historischen
Auftragswandel zu tun haben? Nein, es ging um die
Bundeswehr zu Hause am Standort. Das betrifft die
Menschen direkt und ist deshalb auch zu Recht Thema.
Aber es ist völlig falsch, dieses Thema ganz von seinem
sicherheits- und militärpolitischen Hintergrund zu trennen, wie es in den Oppositionsanträgen geschieht und
wie es auch in der Eröffnungsrede des Kollegen
Carstensen eben sehr deutlich zum Ausdruck kam.
Hintergrund ist die Transformation der Bundeswehr und der Wandel ihres Auftrages. Die Bundeswehr ist selbstverständlich weiterhin für den äußeren
Schutz Deutschlands zuständig, das tut sie aber nicht
mehr durch traditionelle Landesverteidigung, sondern
dadurch, dass sie ihren Beitrag zur Bewältigung internationaler Krisen im Rahmen des Systems der Vereinten
Nationen leistet, Unterstützung beim Katastrophenschutz gibt usw. Dementsprechend werden die bisherigen 123 Heeresbataillone um 45 auf 78, die bisherigen
17 Artilleriebataillone auf sechs und die 13 bisherigen
Panzerbataillone ebenfalls auf nur noch sechs Bataillone
reduziert. Da Bataillone standortbegründend sind, heißt
das im Klartext, dass viele Standorte sehr stark reduziert
oder gar geschlossen werden müssen.
Richtig ist, dass der Bundesminister der Verteidigung
nach militärisch-funktionalen und betriebswirtschaftlichen Kriterien entschieden hat. Richtig ist, dass er dabei
sehr wohl auch Rücksicht auf den Katastrophenschutz
genommen hat, dieser also in keiner Weise vernachlässigt wird. Dieses Konzept ist durchdacht und - das muss
man heutzutage ausdrücklich sagen - es ist auch mutig.
({0})
Sie, Herr Carstensen, haben dagegen in Ihrer Rede ein
Beispiel für politischen Opportunismus gebracht.
({1})
Dieses Konzept entspricht auch den Empfehlungen der
Weizsäcker-Kommission aus dem Jahre 2000.
Bei aller Notwendigkeit starker Reduzierung bzw. des
Schließens von Standorten sind deren Folgen oft
schmerzhaft und auch bedrohlich für die entsprechenden
Kommunen,
({2})
durch Arbeitsplatz- und Kaufkraftverluste sowie sinkende Steuereinnahmen. Experten des Internationalen
Konversionszentrums Bonn, die bundesweit vielleicht
die beste und umfassendste Expertise in diesem Bereich
haben, haben aber in der letzten Woche vor Endzeitstimmung bzw. entsprechender Stimmungsmache gewarnt:
Bei allen Problemen sollten wir nicht vergessen,
dass die bis dato durchgeführten Konversionsvorgänge durchaus nicht nur zu einer Schwächung der
jeweiligen Kommunen und Regionen geführt haben.
Inzwischen gibt es einen reichen Erfahrungsschatz
gelungener Konversionen. Ich verweise nur auf den letzten Konversionsbericht des Landes Nordrhein-Westfalen, in dem die in den letzten zehn Jahren in diesem Bereich gesammelten Erfahrungen dargestellt werden.
Dabei wird deutlich, dass es ganz entscheidend darauf
ankommt, und zwar als erstes, wie man die mit der Konversion verbundenen Herausforderungen angeht. Es
kommt also dabei nicht als erstes aufs Geld an, sondern
auf die Methode.
In den Anträgen der Opposition wird mittels der darin
erhobenen Forderungen der Bund zum Hauptverantwortlichen für die Konversion erklärt.
({3})
Das widerspricht der föderalen Ordnung des Grundgesetzes, gemäß dem die Hauptverantwortung für Wirtschaftsförderung bei Ländern und Kommunen liegt. Der
Bund steht deshalb keineswegs außerhalb der Verantwortung. Streitkräfte können und dürfen zwar kein Mittel der Strukturpolitik mehr sein, aber der Bund trägt
Mitverantwortung für die Folgen des eigenen Tuns. Deshalb haben wir in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben:
Die Bundesregierung wird auch in Zukunft gemeinsam mit Kommunen und Ländern an der Konversion militärisch genutzter Liegenschaften arbeiten.
Staatssekretär Staffelt hat gerade darauf hingewiesen,
in welchen Bereichen der Bund diese Mitverantwortung
wahrnimmt. Wer von der Opposition wusste denn in der
letzten Woche überhaupt, dass die Umsatzsteuer im Jahr
1993 um 2 Prozentpunkte angehoben wurde und welche
Einnahmen das noch jetzt Jahr für Jahr ausmacht?
({4})
Das darf man doch nicht einfach so beiseite wischen.
Die anderen Maßnahmen brauche ich jetzt nicht anzusprechen. Sie sind vom Staatssekretär genannt worden.
Ein Problem ist, dass die entsprechenden Programme auf
EU-Ebene meines Wissens inzwischen ausgelaufen sind.
Da ist dann auf EU-Ebene zu diskutieren, ob eine Neuauflage bezogen auf die Beitrittsländer und auf strukturschwache Regionen in den übrigen EU-Ländern nötig
ist. Zu Zeiten weniger leerer Kassen haben auch wir die
Forderung nach einem Bundeskonversionsprogramm
unterstützt. Wir müssen aber nüchtern feststellen, dass
dies seit einigen Jahren leider nicht mehr machbar ist.
Auch der Vorschlag, Hilfen für Konversionen aus Einsparungen des Verteidigungsetats zu nehmen, ist nicht
realisierbar. Es ist übrigens bemerkenswert, wer das
heute vorschlägt: Die CDU im Düsseldorfer Landtag
schlägt dies in einem Antrag vor. Die CDU hier im Bundestag lehnt dies übrigens kategorisch ab.
({5})
Von erfahrenen und erfolgreichen Konversionsbeauftragten auf Länderebene hören wir in den letzten Wochen
wieder verstärkt, dass auf Bundesebene eine Anlaufstelle
fehlt und dass so etwas wie ein Konversionsbeauftragter als Informations- und Koordinationsstelle sowie als
Lotse in dieser schwierigen Materie sehr wohl dringend
notwendig wäre. Für Anfang nächsten Jahres lädt der Minister der Verteidigung betroffene Bürgermeister zu einer
großen Konversionskonferenz ein. Daran werden auch
das Finanzministerium, das Ministerium für Wirtschaft
und Arbeit sowie entsprechende Experten von Instituten
teilnehmen. Ich sage ausdrücklich, dass das ein sehr guter Schritt ist. Ich bin mir sicher, dass das nicht einfach
eine Show ist, mit der Konversionsmitverantwortung simuliert werden soll. Nein, dies wird ein Beitrag zur Konversion auch von der Bundesebene aus sein. Ich hoffe,
dass unser Vorschlag zur Schaffung eines Konversionsbeauftragten dabei entsprechende Unterstützung finden
wird.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hofbauer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Reform der Bundeswehr
bedeutet tief greifende Einschnitte für die Bundesrepublik Deutschland, und zwar in militärischer als auch in
strukturpolitischer Hinsicht. Man kann über diese Strukturreform diskutieren. Es bestehen auch einige Befürchtungen. Eine Befürchtung aus militärischer Sicht ist,
dass unsere Bundeswehr erhebliche Probleme bekommen wird, die Auslandseinsätze überhaupt noch bewältigen zu können. Die Probleme bei der inneren Sicherheit
werden schwerwiegend sein. Wenn man die Ankündigungen des Finanzministers hört, dass der Verteidigungsetat wieder gekürzt werden soll, dann kommt man
zu dem Schluss, dass diese Reform von Haus aus zum
Scheitern verurteilt ist, bevor sie überhaupt begonnen
hat.
({0})
Uns muss bewusst sein, dass wir insgesamt - wenn man
auch das Umfeld einer Kaserne mit heranzieht - von
100 000 Arbeitsplätzen sprechen, die in der Bundesrepublik Deutschland durch diese Entscheidung verloren gehen. 100 000 Arbeitsplätze in der jetzigen, wirtschaftlich
schwierigen Zeit!
Die SPD macht ja Ankündigungen. Zum Beispiel hat
letzte Woche der stellvertretende Fraktionsvorsitzende
der SPD, Herr Stiegler, in Bayern Tag und Nacht über
Rundfunk bekannt geben lassen, dass der Bund in die
Konversion einsteigt. In der Praxis müssen wir feststellen, dass der Bund nur ein Ziel hat, nämlich die Probleme auf die Länder und die Kommunen abzuschieben
und selber keinen Beitrag zu leisten.
Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben einige Beispiele aufgezeigt. Ich weiß, dass Sie diese Themen hier
behandeln. Eines möchte ich Ihnen aber sagen: Alle Ihre
Vorschläge sind stumpfe Schwerter, die in der jetzigen
Phase überhaupt nichts bringen. Sie wissen, dass zum
Beispiel die GA-West fast auf null gefahren wurde.
({1})
- Wenn ich sehe, Herr Staatssekretär, dass zum Beispiel
in Ostbayern 7,7 Millionen Euro von diesen 100 Millionen Euro übrig geblieben sind, dann muss ich feststellen,
dass man davon keine Wirtschaftsförderung mehr betreiben kann. Dieses stumpfe Schwert hilft uns in der jetzigen schwierigen Phase nicht.
({2})
- Auf diesen Punkt komme ich noch zu sprechen. - Die
GA fällt also in Gänze aus.
Ein zweiter Punkt, den Sie ansprechen, ist die europäische Strukturpolitik. Herr Staatssekretär, Sie wissen, dass die jetzigen Richtlinien der europäischen
Strukturpolitik dieses Thema nicht beinhalten. In den
Grundsätzen der europäischen Strukturpolitik ist eine
Konversion von Bundeswehrstandorten nicht enthalten.
Ich frage Sie, Herr Staatssekretär: Haben Sie entsprechende Initiativen bei der EU eingereicht, sodass dieses
Problem behandelt wird? Wird die EU-Strukturpolitik ab
2006 völlig neu geschrieben? Haben Sie die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir europäische Gelder
bekommen? Auch Sie wissen, dass viele Orte von der
EU-Strukturpolitik nicht mehr berücksichtigt werden.
Die Bundesrepublik West fällt in Zukunft fast ganz heraus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf
noch einen Punkt herausgreifen: den Verkauf von Immobilien. Ich habe Herrn Staatssekretär Kolbow schon
einmal erzählt: Als einer Ihrer Beamten an den ehemaligen Bundeswehrstandort Kötzting, unmittelbar an der
Grenze, kam, erwähnte er die Preise, die in Pullach bei
München erzielt würden, und meinte, diese könne er
auch in Kötzting erreichen. Zu geringeren Preisen verkaufe man nicht; man gebe die Immobilien nicht verbilligt an die Kommune ab. - Wir fordern ganz konkret,
dass bei diesen Verhandlungen über Immobilien die
Schwerfälligkeit der Behörden abgeschafft wird. Die
Verhandlungen dürfen nicht so langwierig geführt werden. Vor allem muss die Preisgestaltung praxisnah - anhand der örtlichen Verhältnisse - erfolgen.
Herr Kollege Nachtwei, Ihren Vorschlag, einen Ansprechpartner entweder im Wirtschaftsministerium
oder im Verteidigungsministerium zu benennen, halte
ich für gut. Darüber sollte man diskutieren. Ein solcher
Ansatz kann helfen. Zur Lösung der Probleme vor Ort
benötigen die Kommunen beim Bund einen konkreten
Ansprechpartner.
Meine Damen und Herren, der Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion enthält ganz konkrete Vorschläge.
Ein solcher Antrag ist 1991 von der SPD gestellt worden.
({3})
Die gesamte heutige Spitze des Verteidigungsministeriums hat diesen Antrag unterschrieben. Stellen Sie sich
doch hinter diese Forderungen und unterstützen Sie sie!
Die damalige Bundesregierung hat gehandelt. Sie hat
wirklich etwas für die Konversion der Bundeswehrstandorte getan.
({4})
Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung.
Dieser Antrag bedeutet keine Zustimmung der Opposition bzw. meiner Fraktion zu dieser Reform der Bundeswehr. Sie wirft noch ganz erhebliche Probleme auf. Aber
eines ist klar: Der Bund kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Er muss handeln, und zwar sofort.
Danke fürs Zuhören.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jetzige
Standortentscheidung des Verteidigungsministers mit
der angekündigten Schließung von 105 Standorten der
Bundeswehr bis zum Jahre 2010 ist ganz zweifellos ein
gravierender Einschnitt. Aber dieser Einschnitt ist vor
dem Hintergrund der sich verändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen notwendig geworden. Dieser neuen Ausgangslage muss sich auch die Bundeswehr
anpassen, um das veränderte Aufgabenspektrum und die
gestiegenen internationalen Verpflichtungen abzudecken. Wir werden feststellen, dass dann, wenn die Reform beendet ist, die Bundeswehr mehr Fähigkeiten haben wird als bisher.
({0})
War zu Zeiten des Kalten Krieges eine breit aufgestellte, in der Fläche dislozierte und hauptsächlich auf
die Panzerwaffe gestützte Bundeswehr zur Erfüllung der
ihr gestellten Aufgaben erforderlich, so hat sich dies spätestens seit dem Fall der Mauer vor nunmehr 15 Jahren
entscheidend geändert. Alle Verteidigungsminister seit
1990 haben in ihrer jeweiligen Amtszeit nicht nur einen
Umbau der Bundeswehrstrukturen eingeleitet, sondern
auch eine Reduzierung der Anzahl der Bundeswehrangehörigen sowie der Standorte vorgenommen. Ich darf nur
daran erinnern, dass von ehemals rund 670 000 deutschen Soldaten und mehr als 230 000 Zivilbeschäftigten
in Zukunft 250 000 Soldaten und 75 000 Zivilbeschäftigte übrig bleiben.
Die Konfrontation der Blöcke ist beendet, die befürchteten Panzerschlachten in der norddeutschen Tiefebene drohen nicht mehr.
({1})
- Das sagen Sie, Herr Nolting; darüber werden wir dann
reden. - Ich denke, man sollte sich häufiger die gute
Nachricht vergegenwärtigen, dass wir in Deutschland in
einem sicherheitspolitisch guten Umfeld leben.
Herr Carstensen, Sie äußern, dass Schleswig-Holstein von der Schließung der Standorte ganz besonders
stark betroffen sei. Ich sage Ihnen und allen, die das
noch nicht gelesen haben: Ja, die Schließung der Standorte in Schleswig-Holstein ist beschlossen; zwei Standorte mit über 1 000 Dienstposten, sechs Standorte mit elf
bis 100 Dienstposten usw. werden gestrichen. Sie haben
aber nicht gesagt, Herr Carstensen, dass Schleswig-Holstein nach wie vor das Ranking der Stationierungsdichte
anführt.
({2})
Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Dienstposten je
1 000 Einwohner, in Schleswig-Holstein sind es nach
wie vor 9,1 Dienstposten je 1 000 Einwohner. Damit
führen Sie die Hitliste in Deutschland an.
({3})
- Ich finde schon, dass Sie sich dafür bedanken können,
dass Schleswig-Holstein im Bundesdurchschnitt nach
wie vor sehr gut dasteht.
An dieser Stelle darf auch gesagt werden: Die bisher
schon stattgefundene Reduzierung der Bundeswehr war
eine große Leistung. Wir haben im Augenblick etwa
280 000 Dienstposten militärischer Art und 110 000 zivile Dienstposten. Diese große Leistung ist dem Engagement der Beschäftigten der Bundeswehr zu verdanken.
In den letzten 15 Jahren hat sich die Struktur der Verteidigung gewandelt, von der Heimatverteidigung hin
zu internationalen Verpflichtungen im Rahmen von
UNO und NATO, einschließlich der Auslandseinsätze.
Die Zahl der Auslandseinsätze nimmt zu und wird leider
auch in Zukunft weiter zunehmen. Seit dem 11. September 2001 hat diese Entwicklung eine neue Qualität bekommen, auf die der Bundesminister der Verteidigung
mit dem Erlass der Verteidigungspolitischen Richtlinien
im Mai letzten Jahres angemessen und auf die Zukunft
ausgerichtet reagiert hat.
Die von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, kritisierte Entscheidung zur Stationierung der Bundeswehr setzt diesen 2003 eingeleiteten
Transformationsprozess konsequent fort. Die Maßstäbe
dieser Entscheidung waren allerdings erstmals rein militärisch und betriebswirtschaftlich begründet. Angesichts
der allgemeinen Lage der öffentlichen Haushalte, nicht
nur des Einzelplans 14, ist dies ein aus meiner Sicht unumgängliches und zugleich transparentes Verfahren.
Die Einsparungen im Bereich der Personalausgaben und
der Betriebskosten sind erforderlich, um die notwendigen Beschaffungsinvestitionen im Bereich der Bundeswehr finanzieren zu können.
Wir sind uns doch alle einig, dass der investive Anteil
am Verteidigungshaushalt ansteigen muss, meine sehr
verehrten Damen und Herren. Eine wichtige Wegmarke
in Bezug auf dieses Ziel ist die Anpassung der Standorte
an die aufgeführten Notwendigkeiten. Mit der Aufteilung in 35 000 Eingreifkräfte, 70 000 Stabilisierungskräfte und 106 000 Unterstützungskräfte sowie 75 000 zivile Beschäftigte ist die Bundeswehr für die jetzt
bekannten Herausforderungen in Zukunft gut und vernünftig aufgestellt. Diese Größe und die neuen Aufgaben sind die Grundlage für die Dislozierung in der Fläche.
Die am 2. November vom Minister vorgestellten
Standortschließungen wie auch die Reduzierungen sind
für die betroffenen Regionen teilweise hart und sicherlich in vielen Fällen nur schwer zu verkraften. Das steht
außer Frage. Im Zweifelsfall - das ist nur zu verständlich - sind jede Reduzierung und vor allem jede Standortschließung für die Betroffenen von Nachteil.
Auch die Klagen der betroffenen Kommunen waren
in der Vergangenheit und sind auch heute aus ihrer jeweiligen Sicht sicherlich begründet. Diese Kommunen
haben einen Anspruch darauf, nicht allein gelassen zu
werden.
({4})
Die negativen Folgen müssen - hier sind alle Beteiligten
in der Pflicht - so weit wie möglich abgemildert werden.
Im Rahmen ihrer Möglichkeiten und einer guten Zusammenarbeit mit den Kommunen wird die Bundeswehr
ihren Beitrag hierzu leisten, wie es auch schon in der
Vergangenheit geschehen ist. Die in einigen Bundesländern eingerichteten Konversionsarbeitsgruppen leisten
hier bereits eine gute Arbeit. Diese Verantwortung wird
aus unserer Sicht von den Ländern allerdings sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle als niedersächsischer Bundestagsabgeordneter einen Appell an die
CDU-geführte Landesregierung in Hannover: Stellen Sie
sich Ihrer Verantwortung gegenüber den betroffenen
Kommunen und nehmen Sie die Streichung der Konversionsmittel zurück!
({5})
Die Forderungen aus der CDU-Landtagsfraktion in Hannover nach einem vom Bund finanzierten Konversionsprogramm sind angesichts dieser Streichung einfach nur
billige Polemik.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die
durch die Standortentscheidung betroffenen Angehörigen der Bundeswehr eingehen. Ich - wie auch der Verteidigungsminister - verkenne nicht, dass dieser Transformationsprozess, verbunden mit einem Abbau der
Truppenstärke, oft persönliche Härten für die Soldatinnen und Soldaten, für die Zivilbeschäftigten und auch
deren Angehörige nach sich zieht. Das war allerdings bei
allen Standortentscheidungen seit 1990 der Fall. In all
diesen Fällen hat das Verteidigungsministerium die Folgen der Veränderungen durch geeignete Personalmaßnahmen und durch entsprechende tarifvertragliche Vereinbarungen geregelt und aufgefangen.
Es hat bisher keine betriebsbedingten Kündigungen
gegeben. Das wird auch in Zukunft so sein. Die Zusage
des Ministers steht. Auch die insgesamt gesehen vernünftige und attraktive Möglichkeit des frühen Ausscheidens aus dem Arbeitsleben wird ganz sicherlich
verlängert werden. Die Angehörigen der Bundeswehr
können den Aussagen ihres Ministers vertrauen. Einer
erneuten Aufforderung durch den Bundestag, die Belange der Bundeswehrangehörigen zu berücksichtigen,
wie im CDU/CSU-Antrag populistisch gefordert, bedarf
es aus unserer Sicht nicht. Dies ist seit langem Wirklichkeit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bundesverteidigungsminister Struck will 105 Standorte
der Bundeswehr schließen. Schon sein Vorgänger, Bundesminister Scharping, hatte 76 Filialen geschlossen.
Ginge es um systematische Abrüstung: Die PDS im
Bundestag würde diesen Schließungen sofort zustimmen.
({0})
Aber das Gegenteil ist der Fall. Es geht um Umrüstung. Die Bundeswehr wird zu einer Interventionsarmee
umgebaut. Die Landesverteidigung rückt ins dritte
Glied. Stattdessen soll die Bundeswehr weltweit agieren.
Insofern, Herr Kollege Nachtwei, haben Sie ein wahres
Wort gesprochen. Fürwahr, es ist eine ganz radikale Reform.
Das widerspricht allerdings dem Grundgesetz.
({1})
Aber es ist inzwischen Programm aller im Bundestag
vertretenen Parteien, ausgenommen die PDS. Wir bleiben bei unserem Nein. Wir wollen stattdessen eine wirkliche Abrüstung, wozu im Übrigen auch die Abschaffung der Wehrpflicht gehört.
({2})
Nun befürchten viele Städte und Gemeinden, die von
einem Abzug der Bundeswehr betroffen werden, drohende Bedeutungs-, Steuer- und Kaufkraftverluste. Darauf komme ich gleich zurück.
Es gibt aber auch Regionen, in denen gegen den Willen der Landesregierung, gegen den Willen der Landkreise und gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger aufgerüstet wird. Ich nenne zum Beispiel die KyritzRuppiner Heide, wo das so genannte Bombodrom unbeirrt wieder in Betrieb genommen werden soll, diesmal
für die NATO. Ich warte insofern immer noch sehr gespannt auf Ihren im Brandenburger Wahlkampf so vollmundig angekündigten Gruppenantrag, der das verhindern soll, Kollege Nachtwei.
({3})
Als die Bürgerrechts- und Friedensbewegung der
DDR seinerzeit mit der Forderung „Schwerter zu Pflugscharen“ auftrat, war ihr der Beifall aus der alten Bundesrepublik gewiss. Nun wendet die neue Bundesrepublik zum Beispiel in der Kyritz-Ruppiner Heide das
Friedenssymbol: Sie macht aus Pflugscharen Schwerter - und das unter Federführung von SPD und Grünen.
Nun zu den Sorgen der betroffenen Standorte. Sie
sind berechtigt. Berechnungen besagen: Je sieben Soldaten, die abgezogen werden, kosten die heimische Wirtschaft einen Arbeitsplatz. Bundesweit geht es bei dieser
Strukturreform um Zigtausende zivile Arbeitsplätze. In
manchen Garnisonsorten geht es dann ans Eingemachte.
Nun höre ich vom Bundesverteidigungsminister, er
entscheide streng nach militärischen Gesichtspunkten
und nach Effektivitätskriterien der Bundeswehr, für die
regionale Entwicklung sei er nicht zuständig. Auf den
ersten Blick mag das einleuchten. Aber er ist auch Bestandteil der Bundesregierung, die eine Gesamtverantwortung hat und nicht nur für den militärischen Teil zuständig ist.
({4})
Die PDS erwartet, dass die betroffenen Regionen mit
den Umstrukturierungsproblemen nicht allein gelassen
werden. Insofern teilen wir das Anliegen des CDU/CSUAntrages; es kommt ja nicht oft vor, dass PDS und CDU/
CSU übereinstimmen.
Noch ein kleiner Tipp für den Staatssekretär. Die Anfrage des PDS-Abgeordneten André Brie an den zuständigen EU-Kommissar hat bestätigt, dass die Europäische
Union umfangreiche Fördermittel für Konversionsprogramme zur Verfügung stellt. Die sind aber an die Bedingung geknüpft, dass es auch entsprechende nationale
Programme gibt, die die betroffenen Städte und Kommunen fördern. Sie können solche Programme nicht den
Kommunen und den Ländern aufbürden, die ohnehin
klamm sind.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Anita Schäfer, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre
nach ihrer Aufstellung steht die Bundeswehr vor ihrer
Neugründung. Anders kann man den Vorgang nicht bezeichnen, den die Bundesregierung Transformation
nennt. Sicher, die weltpolitische Situation hat sich
grundlegend geändert. Die Ausrichtung auf neue Bedrohungsszenarien ist unumgänglich. Es steht also
nicht das Ob zur Debatte, sondern das Wie.
({0})
Aber dieses Wie wird immer fraglicher. Erst gestern haben wir erfahren, dass der Verteidigungsetat nochmals
vom Finanzminister gekürzt wird. Bei dieser Regierung
sind die Gläser nicht halb voll; sie sind leer.
Wir alle hier in diesem Hause haben zwei epochale
politische Zäsuren erlebt: den Zusammenbruch des Warschauer Paktes und den terroristischen Angriff auf die
Vereinigten Staaten. Waren diese Ereignisse vorhersehbar? Nein. Heute kämpfen deutsche Spezialeinheiten am
Hindukusch, sichern Tausende Soldaten die Demokratisierung Afghanistans, steht die Bundesmarine im Indischen Ozean.
Daraus sollten wir die Lehre ziehen: Nichts ist vorhersehbar. Wer in unseren Tagen Heimatschutz und
Bündnisverteidigung als wichtige Pfeiler einer verantwortungsvollen Vorsorgepolitik abschafft, hat sicherheitspolitisch nichts gelernt. Er verstößt aber auch gegen
das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Die Attentate
in Madrid haben uns deutlich vor Augen geführt, dass
auch wir in Europa nicht vor Anschlägen sicher sein
können.
Sicherheit erfordert aber Investitionen. Als die Kollegen von der SPD noch in der Opposition waren, haben
sie ständig davor gewarnt, den Verteidigungshaushalt zu
einem Steinbruch zu machen. Die Genossen haben es als
Regierung heute sogar fertig gebracht, den Steinbruch
der Bundeswehr fast leer zu räumen. Ihr Konzept lebt
von der Hand in den Mund. Es ist ohne Weitblick. Es ist
- so wie Ihre ganze Bundeswehrplanung - nicht an den
möglichen Bedrohungsszenarien ausgerichtet.
Lassen Sie mich nur zwei Fragen stellen, die zeigen,
wie riskant Ihr Konzept ist: Die ABC-Abwehrtruppe
wird um zwei aktive Bataillone reduziert. Wie wollen
Sie mit den verbliebenen Kräften alle - zwar nicht wünschenswerten, aber möglichen - Szenarien bewältigen?
Wenn sich ein Einsatz wie der in Kuwait wiederholt,
dann stünde fast die Hälfte der deutschen ABC-Abwehrtruppe im Ausland. Zu eventuell notwendigen Hilfeleistungen im Inland wäre die Bundeswehr nicht mehr in der
Lage. Der derzeit für die Soldaten bestehende Rhythmus
eines Zweijahreseinsatzes wäre eine Utopie. Sieht so
eine umsichtige Planung aus?
({1})
Bei den Standortschließungen bleibt so manches im
Unklaren. Die Jägerbrigade 37 bleibt bestehen. Ihre beiden Jägerbataillone aber verschwinden. Mit 1 400 Soldaten liegt der moderne Standort Schneeberg weit über
der neuen Durchschnittsgröße von 900 Soldaten. Gebirgsjäger sind schon heute im Rahmen der Auslandseinsätze besonders wichtig. Warum also wird dieser
Standort geschlossen? In Rheinland-Pfalz trifft es den
Heeresfliegerstandort Mendig. Kein Einsatz läuft ohne
Heeresflieger ab. Sie sind ein Stück Zukunft. Der Fliegerhorst Mendig wurde mit Millionensummen auf den
neuesten Stand gebracht. Der Minister soll den Soldatinnen und Soldaten in Mendig einmal erklären, warum
dieser Standort geschlossen wird.
Anita Schäfer ({2})
({3})
Es gibt viele solcher Fragen, die zeigen, dass es diesem Konzept an weitsichtiger Planung fehlt. Dass der
Verteidigungsminister noch vier Stützpunkte für zivilmilitärische Zusammenarbeit erfunden hat, ist nur ein Feigenblatt, gewährleistet im Notfall aber nicht den Schutz
der Bevölkerung. Wir haben es also mit einem Streichkonzert zu tun, bei dem längst nicht mehr der Verteidigungsminister, sondern der bankrotte Finanzminister den
Taktstock schwingt,
({4})
einem Konzert, das schwere Auswirkungen auf die Bundeswehr und die betroffenen Gemeinden hat.
Die Gemeinden haben in der Vergangenheit Geld in
die Infrastruktur gesteckt, die von den Soldatinnen und
Soldaten gebraucht wurde. Mit dem Abzug der Soldaten
verlieren die Gemeinden Einwohner, also Kaufkraft.
Gleichzeitig gehen auch noch viele Arbeitsplätze verloren. Diese dramatischen Standortschließungen finden in
einer Zeit statt, in der sich Deutschland in der tiefsten
Strukturkrise der Nachkriegszeit befindet. Insbesondere
die strukturschwachen Regionen sind von einer mehrjährigen ökonomischen Talfahrt betroffen. Besonders
schmerzlich vermissen wir, dass die Standortschließungen in Deutschland entgegen der Aussage des Bundesministers der Verteidigung nicht mit den Amerikanern
abgestimmt wurden. Ich befürchte daher schon heute,
dass manch eine Gemeinde doppelt betroffen sein wird.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierung,
ich prophezeie Ihnen, dass Sie Ihre Verweigerung nicht
durchhalten werden und am Ende doch Konversionshilfe leisten werden. Im Jahre 1991 haben Sie von der
SPD in einer ähnlichen Situation vehement gefordert,
auf strukturschwache Regionen besonders Rücksicht zu
nehmen. Wir als Union haben uns schon damals unserer
Verantwortung als Regierung gestellt. Die Menschen in
Schneeberg, Mendig und anderswo können jetzt erkennen, wie treu die SPD zu ihren Forderungen von damals
steht.
Deshalb ist es besonders wichtig, dass den betroffenen Soldaten und den zivilen Mitarbeitern so schnell wie
möglich verlässlich mitgeteilt wird, wann genau ein
Standort geschlossen wird. Herr Staatssekretär, Sie haben eine besondere Fürsorgepflicht für die Menschen in
der Bundeswehr. Werden Sie ihr gerecht und schaffen
Sie für die Ihnen anvertrauten Menschen eine verlässliche Perspektive.
({5})
Kollege Hofbauer hat die Notwendigkeit unseres Antrags klar dargelegt. Daher möchte ich nur eines ergänzen: Der Verteidigungsminister sollte nicht die unmögliche GEBB beauftragen; denn sie kostet nur Geld,
verkauft aber fast keine Liegenschaft.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich die Abgeordneten der Regierungsfraktionen auffordern: Stehen Sie zu
Ihren früheren Forderungen, unterstützen Sie unseren
vorliegenden Antrag und helfen Sie den betroffenen Gemeinden!
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Müller,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bedeutung der Bundeswehrreform und ihre Folgen sind zu Recht von allen Seiten diskutiert und beleuchtet worden. Insgesamt ist das ein sehr ernstes
Thema, über das auch ernsthaft diskutiert wird. Lassen
Sie mich deswegen unterstreichen, dass es für keine Region leicht ist, mit den Folgen eines tief greifenden
Strukturwandels gleich welcher Art fertig zu werden.
Hierzu liegen aus den letzten 14 Jahren - nicht nur, aber
vor allem auch aus den ostdeutschen Regionen - umfangreiche Erfahrungen vor. Das gilt insbesondere für
die Folgen der Schließung von Bundeswehrstandorten,
die jetzt ansteht.
Strukturpolitische Herausforderungen infolge Konversion stehen allerdings in einer Reihe mit den Folgen
der Globalisierung, dem überregionalen Wettbewerb der
Standorte, dem Standortwettbewerb innerhalb der Europäischen Union und dem Strukturwandel im ländlichen
Raum und anderswo. Auch angesichts der noch nicht behobenen wirtschaftlichen Defizite in Ostdeutschland
bleibt dies ein ernstes Thema. Allerdings tritt keines dieser Probleme für sich allein auf. Folglich ist ihnen auch
nicht mit der gelegentlichen Auflage einzelner Sonderprogramme zu begegnen. Mit anderen Worten: Wir müssen die vorhandenen Instrumente und Programme - so
sie denn noch greifen - nutzen und vernünftig miteinander kombinieren. Natürlich ist die Frage, ob eine schwache Region den Strukturwandel aus eigener Kraft zuwege bringt, durchaus berechtigt, wenngleich dafür nach
dem Grundgesetz auch ihr Bundesland zuständig und
verantwortlich ist. Deswegen halte ich es für sehr sinnvoll, dass Bund und Länder eine verstärkte Verantwortung für Moderation, Koordinierung und Begleitung des
Strukturwandels in den Regionen übernehmen.
Ich will unterstreichen, was unser Kollege Staffelt
ausführlich dargestellt hat: dass wir zurzeit noch über ein
bewährtes strukturpolitisches Instrumentarium verfügen,
das wir zur Anwendung bringen können. Die Gemeinschaftsaufgabe ist in ihrer Bedeutung bereits gewürdigt
worden. Sie wird, wie Sie wissen, seit 2001 von den Ministerpräsidenten offensiv infrage gestellt, was im Übrigen im Kontrast zu den Ansichten der Wirtschaftsminister der Bundesländer steht, die nach wie vor etwas von
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ halten.
Es ist schon auf die Verhandlungen zur Entflechtung
der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern
Christian Müller ({0})
hingewiesen worden. Das halte ich persönlich für ein
sehr sorgenvolles Thema und deswegen hielte ich etwas
davon, wenn wir alle gemeinsam darauf achten würden
- auch dort, wo man Einfluss auf ein jeweiliges Bundesland ausüben kann -, dass uns bewährte, bundesweit
gültige, vor allen Dingen regelgebundene Systeme wie
die Gemeinschaftsaufgaben nicht abhanden kommen.
Denn ich glaube nicht, dass wir ohne sie künftig besser
fahren würden oder besser fahren könnten, auch wenn
das einige in dieser Republik offenbar glauben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Günther?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Müller, Sie sprachen gerade von Einflussnahme und von Strukturwandel in den Regionen.
Welchen Einfluss haben Sie denn als Sachse darauf genommen, dass zum Beispiel in Schleswig-Holstein, wie
wir gehört haben, 9,1 Soldaten auf 1 000 Einwohner
kommen, in Sachsen nach dem Standortabbau in einer
der schwächsten Regionen aber nur noch 1 Soldat auf
1 000 Einwohner kommen wird?
Wissen Sie, wir führen hier nicht zum ersten Mal eine
Debatte, die zugleich Standortentscheidungen in der Verteidigungspolitik und ihre strukturpolitischen Folgen
zum Gegenstand hat. Die letzte solcher Debatten war
eine intensive bayerische Debatte: Bayern glaubte damals, besonders benachteiligt zu werden. Lieber Kollege, ich finde, das führt am Ende zu nichts, weil sich so
präzise, dass überall in etwa die gleiche Zahl Soldaten
pro Einwohner herauskäme und die Folgen überall
gleich wären, wohl nicht planen lässt. Insofern geht
diese Diskussion eher an der Realität vorbei; es tut mir
Leid.
({0})
Herr Kollege, nun möchte auch die CDU/CSU-Fraktion in Gestalt des Kollegen Schindler Ihre Redezeit verlängern.
({0})
Ja, bitte schön, gerne.
Die Gestalt ist ja in Ordnung, Herr Präsident. - Herr
Kollege Müller, es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie
die Föderalismusdiskussion, von deren Vorschlägen
noch keiner Gesetzeskraft hat, jetzt als Entschuldigung
hernehmen für etwas, wofür andere die Verantwortung
zu tragen haben. Nehme ich einen Standort wie Baumholder, der sozusagen übermorgen tot wäre - da sollen
die Lichter ausgehen; diese Entscheidung trifft der
Bund -, dann ist bei aller Freude über die Rückführung
der militärischen Gewaltpotenziale, die wir Gott sei
Dank nicht mehr brauchen, meine Frage an Sie: Was gestaltet der Bund als Ausgleich und als Fördermaßnahme
für solche Regionen? Diese Antwort sind Sie in der Debatte bis heute schuldig geblieben. Haben Sie darauf
eine Antwort?
Ich persönlich werde Ihnen diese umfängliche Antwort so nicht geben können, weil sie eine gemeinsame
Antwort sein muss - vom Bund und den Ländern. Mit
meinem Hinweis auf die Föderalismusdiskussion wollte
ich auf die Gefahr aufmerksam machen, dass wir künftig
viel schlechter auf solche Dinge reagieren könnten.
Wenn der Bund nicht mehr in der strukturpolitischen
Verantwortung wäre, sondern nur noch die Länder, wie
wollten wir als Bundestagsabgeordnete dann in unseren
Regionen auftreten? Wir müssten sagen: Tut uns Leid,
das geht uns nichts mehr an. Darüber nachzudenken war
mein Plädoyer. Denn wir können immer wieder Strukturwandel bekommen, egal ob durch Konversion bedingt
oder aus anderen Gründen. Wir sollten die Instrumente,
die uns zur Verfügung stehen, in der Zukunft nicht verlieren. Darum geht es mir; vielen Dank.
Daran anknüpfend dürfte es sehr wichtig sein, dass
wir uns in den nächsten Jahren alle zusammen etwas
mehr Gedanken darüber machen müssen, wie es zusammenpasst, dass es auf der einen Seite einen sich beschleunigenden Strukturwandel gibt und dass wir auf der
anderen Seite die entsprechenden regionalpolitischen
Handlungsmöglichkeiten und Instrumente nicht zuletzt
auch wegen der europäischen Entwicklung und des
Wirkens der Kommission in Brüssel vielleicht nicht
mehr in der Hand haben könnten. Das heißt also, künftig, ab 2007, geht es darum, dass wir die regionalpolitischen Instrumente beihilferechtlich absichern müssen.
Wenn wir dies nicht mehr können, verlieren wir an dieser Stelle natürlich Möglichkeiten. Deswegen unterstützen wir die Bundesregierung dabei, Spielräume für eigenes regionalpolitisches Handeln zu behalten.
({0})
- Wir können uns ja hinterher noch ein bisschen unterhalten. Also bitte, ich rede jetzt doch nicht über den Abbau der Bundeswehr. Ich rede über Regionalpolitik und
Strukturpolitik. Das sind ja wohl Facetten dieses Themas.
({1})
Ich bin der Meinung, dass Erfolge bei der Regionalentwicklung und natürlich auch bei der Konversion am
besten und am ehesten durch eine vernünftige regionale
Koordinierung auf Projektebene erreichbar sind, sodass erkennbaren Mängeln beim Zusammenführen der
raumwirksamen Politiken des Bundes und der Länder
begegnet werden kann. Dass wir die Instrumente leistungsfähig erhalten müssen, ist heute schon angeklunChristian Müller ({2})
gen. Das ist ebenfalls kein einfaches Thema. Mit Blick
auf Ihre Anträge sage ich: Sie gehen damit natürlich an
der Wirklichkeit Ihrer eigenen haushalts- und finanzpolitischen Vorstellungen vorbei, weil Sie in diesen Anträgen überhaupt nicht erklären, wie Sie das mit Ihrer geplanten Politik der Steuersenkung und Ihrer Form von
Haushaltskonsolidierung verbinden wollen.
Insofern können wir diese bedauerlicherweise nur ablehnen. Die Lösung sind also nicht neue Programme.
Nur die bessere Koordinierung der vorhandenen und bewährten strukturpolitischen Instrumente kann es sein.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({3})
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Günter
Baumann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der CDU/CSU hat für die Kasernenschließungen in den neuen Bundesländern eine ganz
besondere und existenzielle Bedeutung, weil die Lage
dort noch ein ganzes Stück komplizierter ist. Ich möchte
versuchen, dies an einem ganz konkreten Beispiel darzustellen, nämlich an Schneeberg im Freistaat Sachsen.
In Schneeberg gibt es gegenwärtig über 1 500 Dienstposten. Diese fallen nach den Plänen des Ministers weg.
Dadurch ginge Kaufkraft verloren. Die heimische Wirtschaft verlöre ihren größten Auftraggeber im Ort. Circa
100 Betriebe wären betroffen und Kündigungen wären
die Folge. Es gibt ein Studie der TU Dresden, nach der
man 200 Millionen Euro investieren müsste, wenn man
diese Verluste kompensieren wollte. Das ist in dieser
Grenzregion in Sachsen illusorisch. Kurzum: Für die
Region Schneeberg mit bereits jetzt 20 Prozent Arbeitslosigkeit wäre die Schließung der Kaserne ein wirtschaftliches Desaster. Es wäre aber zusätzlich ein demographisches Desaster, weil die Abwanderung der jungen
Menschen aus dieser Region bereits jetzt sehr stark ist
und sich noch weiter verstärken würde.
Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt, dass er
nicht für die Infrastruktur zuständig ist. Das mag richtig
sein. Das Problem ist aber, dass man nicht weiß, wer in
der Bundesregierung wirklich für die Infrastruktur zuständig ist. Nicht einmal der Minister für den Aufbau
Ost hat hierauf eine Antwort gegeben. Von Herrn Stolpe
war auch nichts zu hören, als der Verteidigungsminister
am 2. November 2004 in einer Pressekonferenz meinte,
dass nicht der Bund, sondern allein die Wirtschaftsminister der Länder für entsprechende Kompensationen
sorgen sollten.
Herr Staatssekretär Staffelt, der Hinweis in Ihrer Rede
auf die GA-Mittel kann angesichts der Diskussion, die
wir gegenwärtig führen, nicht als ernste Alternative angesehen werden.
({0})
In einer Region, die nicht einmal in der Lage ist, Eigenanteile zu beschaffen - ich nenne als Beispiel die Stadt
Zeithain, die vor zwei Jahren vom Hochwasser fast zerstört wurde -, kann der Hinweis, mit GA-Mitteln etwas
aufzubauen, nicht ernst genommen werden. Woher sollte
eine Stadt wie Zeithain, die stark vom Hochwasser 2002
zerstört wurde, die Eigenanteile für eine GA-Förderung
nehmen?
({1})
Ihr zweiter Vorschlag, die Mittel aus der Erhöhung
der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte, die 1993 beschlossen worden ist, zu nutzen, kommt ebenfalls nicht
in Betracht, weil dieses Geld - ich glaube, das wissen
wir alle - zur Finanzierung der deutschen Einheit gedacht war, nicht um in irgendeiner Form die Schließung
von Bundeswehrstandorten auszugleichen.
({2})
- Darüber können wir diskutieren.
({3})
Das Stationierungskonzept, das gegenwärtig vorliegt,
ist auch militärisch sehr fragwürdig und haushaltspolitisch ein Fall für den Bundesrechnungshof. Exakte Zahlen zur Wirtschaftlichkeit - das ist heute auch schon gesagt worden - und eine überzeugende militärpolitische
Begründung zu den Schließungsabsichten blieb auch
Herr Staatssekretär Wagner am Mittwoch in der Fragestunde schuldig. Er hat auf diese Fragen keine Antworten geben können.
Wie fragwürdig das Konzept ist, zeigt sich ebenfalls
bei dem Gebirgsjägerbataillon am Standort Schneeberg. Erstens. Die überwiegend aus Sachsen stammenden Soldaten dürfen sich spätestens seit ihrem Einsatz in
Afghanistan zur militärischen Elite in unserer Armee
zählen. Zweitens. Seit 1991 sind in diesen Standort - das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen über 60 Millionen Euro investiert worden. Im Jahr 2001
hat der Verteidigungsminister Scharping nach einer Prüfung festgelegt, Schneeberg bleibt erhalten und es wird
weiter investiert. Von 2001 bis heute, und zwar auch
noch in diesem Jahr, sind über 20 Millionen Euro investiert worden.
({4})
In Schneeberg steht eine der modernsten Kasernen der
Republik. Diese zu schließen ist auch vor dem Hintergrund der Finanzlage in Deutschland keinem Bürger
mehr zu vermitteln.
({5})
Die Kollegin Schäfer wies bereits darauf hin - ich
möchte es noch einmal unterstreichen -, dass die Auflösung des Standortes Schneeberg auch die Ressourcen
des Heimatschutzes empfindlich treffen würde. Die
Schneeberger Soldaten haben sich bereits im zivilen Katastrophenschutz als starke Truppe bewährt. Ich erinnere
an das Hochwasser der Oder 1997 oder 2002 in Sachsen.
Der Einsatz war hier in einer sehr kurzen Reaktionszeit
möglich. Soldaten von Truppen aus anderen Bundesländern hätten nicht das erreichen können, was Schneeberger Soldaten in Sachsen durch ihren schnellen Einsatz
ermöglicht haben.
Nicht nur die Auflösung des Standortes Schneeberg
würde das zeitnahe Heimatschutzkonzept der Bundeswehr
erheblich schwächen. Nach den Plänen des Verteidigungsministers wird, wenn die Schließung umgesetzt wird,
Sachsen nur noch 1,1 Dienstposten auf 1 000 Einwohner
haben. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Dienstposten. Von den zehn größten Schließungen in der Bundesrepublik sind drei in Sachsen vorgesehen: Schneeberg,
Zeithain und Leipzig.
({6})
Nennen Sie uns eine einzige Begründung, warum diese
großen Schließungen in Sachsen stattfinden sollen und
Sachsen dann mit 1,1 Dienstposten weit unter dem Bundesdurchschnitt liegen wird.
({7})
Sachsen ist in den vergangenen Wochen als einziges
Land dafür gelobt worden, dass die Mittel aus dem Solidarpakt ausschließlich für Investitionen eingesetzt worden sind. Ausgerechnet dafür wird Sachsen gegenwärtig
am härtesten getroffen. Seine Bürger empfinden dies
nach den Anstrengungen, die sie in den letzten 15 Jahren
vollbracht haben, als - ich sage das einmal so - Strafe.
Ich appelliere an den Bundesverteidigungsminister:
Wenn Sie schon die Gebirgsjäger nicht am Standort
Schneeberg lassen wollen - aus welchen Gründen auch
immer -, dann denken Sie bitte über eine militärische
Nutzung für andere Einheiten nach, um die
60 Millionen Euro Steuergelder nicht sinnlos investiert
zu haben.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/4029 und 15/1022 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2004
- Drucksache 15/3796 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache eine Stunde dauern. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Manfred Stolpe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor zwei Tagen wurde in ganz Deutschland an
den Fall der Mauer erinnert. Für uns Potsdamer geschah
das Wunder genau heute vor 15 Jahren. Am 11. November 1989 wurde die Glienicker Brücke wieder für Deutsche freigegeben. Sie hatte 28 Jahre Ost und West
getrennt und war nur für Alliierte und ausländische Diplomaten passierbar. Heute ist sie wirklich Brücke der
Einheit, so wie sie in der Mauerzeit offiziell hieß.
({0})
Wer dort die Trennung erlebte und heute die Brücke
überquert, vergisst nicht das Wunder der Freiheit und
Einheit, gleich ob er vom Westen oder vom Osten
kommt. Vielleicht brauchen wir mehr Brücken der Erinnerung an das Geschenk vom Herbst 1989.
Einheit und Freiheit haben wir gewonnen. Zu berichten ist, wie wir nun teilungsbedingte Belastungen Ostdeutschlands abbauen. Die Bundesregierung hat im September den „Jahresbericht zum Stand der Deutschen
Einheit“ nach 15 Jahren Aufbau Ost vorgelegt. Wir berichten über Erfolge, Fortschritte und Leistungen, über
Probleme, Hemmnisse und verbleibende Aufgaben. Der
Aufbau Ost ist noch nicht beendet. Was fast ein halbes
Jahrhundert gewaltsam getrennt war und sich radikal
auseinander entwickelte, braucht Zeit und Geduld, um
wieder vergleichbar zu werden.
Bis 2019 haben wir den Solidarpakt II gemeinsam für
den Aufbau Ost beschlossen. Das sind dann 30 Jahre
nach dem Fall der Mauer. Jetzt haben wir Halbzeit. Deshalb muss die Bundesregierung auch weiterhin jährlich
Bericht erstatten; denn es ist wichtig, dass die FortsetBundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
zung des Aufbaus Ost in der parlamentarischen Beratung
auch künftig die nötige Priorität hat. Die Zukunft Ostdeutschlands ist die Zukunft ganz Deutschlands. Betroffen sind alle Deutschen. Es geht um eine nationale Aufgabe.
({1})
Der Weg ist ohne Alternative. Wir müssen den Aufbau
Ost konsequent fortsetzen.
Finanzielle Hilfen und eigene Anstrengungen der
Länder waren erfolgreich. Der Osten Deutschlands hat
seit 1990 einen Entwicklungssprung gemacht: die Modernisierung von Städten und Gemeinden, die Erneuerung und der Ausbau der Verkehrswege, die Infrastruktur der Telekommunikation, der Produktivitätszuwachs,
die Etablierung neuer Dienstleistungen, die am Verbraucher orientierte Qualitätssteigerung der Agrarbetriebe
und der Nahrungsmittelwirtschaft.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kretschmer?
Der Kollege Kretschmer wird erleben, dass ich alles
sage. Zum Schluss antworte ich gerne.
Im Osten ist ein unternehmerischer Mittelstand entstanden, eine halbe Million neuer Unternehmen. Der
Saldo von An- und Abmeldungen der Gewerbe ist positiv. Die erste Hälfte des Aufbaus Ost hat gute Ergebnisse
gebracht. In der zweiten Hälfte müssen wir uns auf die
Hauptaufgaben für einen erfolgreichen Abschluss des
Aufbaus Ost konzentrieren: Arbeit schaffen, Abwanderung stoppen und das Schlechtreden beenden.
({0})
Mit dem Solidarpakt II sind die finanziellen Grundlagen für die zweite Hälfte des Aufbaus Ost gesichert.
156 Milliarden Euro stehen in den nächsten 15 Jahren
zur Verfügung. Die Sonderzuweisungen des Bundes an
die ostdeutschen Länder machen mit mehr als
100 Milliarden Euro den größten Teil aus. Über die Verwendung legen die Empfänger jedes Jahr ihren Fortschrittsbericht vor.
Im Jahr 2003 haben die neuen Länder
10,5 Milliarden Euro Sonderhilfen des Bundes zum
Abbau des infrastrukturellen Nachholbedarfs und zum
Ausgleich der kommunalen Finanzkraft erhalten. Im Ergebnis sehen wir, dass wieder erhebliche Fortschritte
beim Infrastrukturausbau zu verzeichnen sind. Aber wir
müssen auch feststellen, dass ein großer Teil der Aufbaumittel noch durch die allgemeinen Bedarfe der Länderhaushalte aufgezehrt wurde. Die Konjunktur stockte
und die Steuerausfälle kamen schockartig. Das waren
objektive Härten des vergangenen Jahres.
Doch wir alle haben die Pflicht, den ostdeutschen
Aufbauprozess durch Investitionen abzusichern. Deshalb werden die ostdeutschen Länder ihre Struktur- und
Förderpolitik konsequent auf Modernisierung und
Wachstum ausrichten müssen.
({1})
Deshalb muss auch der Bund weiterhin Mittel für arbeitsplatzschaffende Investitionen zur Verfügung stellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die ostdeutschen Länder brauchen effektive Verwaltungsstrukturen.
Ostdeutschland hat in den eineinhalb Jahrzehnten des
rechtsstaatlichen Verwaltungsaufbaus aus der Not eine
Tugend entwickelt. Abläufe mussten nicht nur gelernt
werden, sondern ihre praktische Anwendung stand im
Vordergrund. So ist das Bewusstsein für die grundsätzliche Eilbedürftigkeit von Entscheidungen sehr hoch.
Ausländische Investoren erkennen die Standortvorteile Ostdeutschlands. So war zum Beispiel kürzlich in
der italienischen Presse zu lesen:
Ostdeutsche Gebiete befinden sich heute im Zentrum des europäischen Binnenmarktes und stellen
gleichzeitig einen natürlichen Zugang zum östlichen Teil des alten Kontinents dar sowie einen
Produktionsstandort, der in den letzten Jahren Gegenstand radikaler Erneuerungs- und Modernisierungsmaßnahmen war.
Die Bundesregierung hat die besondere Situation in
Ostdeutschland durch Vereinfachung der Verwaltungsverfahren berücksichtigt. Gute Erfahrungen werden auch bundesweit umgesetzt. Ein Beispiel ist das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich begrüße es, dass sich die Koalitionsfraktionen auf eine Verlängerung verständigt haben.
({2})
Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz Deutschland
zur Planungsvereinfachung bei allen Verkehrsträgern zu
kommen. Eine erneute Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes ermöglicht den direkten Übergang in ein für ganz Deutschland verbessertes
Planungsrecht.
Wir wissen, dass die ostdeutschen Länder Stärken
entwickelt und Potenziale ausgebildet haben. Diese Stärken und Potenziale wollen wir zielgenauer fördern. Deshalb strebe ich mit den ostdeutschen Ländern und mit
den Förderministerien des Bundes eine Handlungsgrundlage für den Solidarpakt II an. Bund und Länder
können durch einen gezielten Einsatz der Investitionsund Innovationsförderung Unternehmensnetzwerke,
Branchenschwerpunkte und Kompetenzfelder stärken.
Kompetenzen stärken und Innovationen voranbringen,
das sind ganz wesentliche Herausforderungen in den vor
uns liegenden Jahren.
Wer Regionalpolitik macht, weiß, dass wir dafür auch
den Verkehrswegebau brauchen.
({3})
Der Bundesverkehrswegeplan 2003 sieht für die neuen
Bundesländer im Zeitraum bis 2015 einen Anteil von
rund 35 Prozent für alle Verkehrsträger am vordringlichen Bedarf vor. Damit geben wir ein Signal für den
Aufbau Ost an die ostdeutsche Wirtschaft und an Investoren.
({4})
Notwendig sind die Verlängerung der A 14 von Magdeburg nach Schwerin und der Bau der A 72 von Chemnitz
nach Leipzig. So werden wirtschaftliche Entwicklungskerne miteinander vernetzt.
Wir müssen immer auch die Wirtschaftsimpulse
durch die Osterweiterung der Europäischen Union im
Auge behalten. Deshalb ist der Bau der A 17 zwischen
Dresden und der tschechischen Grenze vorrangig von
uns vorangetrieben worden.
({5})
Das gilt auch für den Ausbau der Eisenbahnstrecken von
Berlin über Frankfurt/Oder bis Poznan und von Dresden
über Görlitz nach Wroclaw.
Unsere Infrastrukturförderung erschließt die Potenziale der ostdeutschen Länder. Fortschritt gibt es aber
nicht nur in Ballungsräumen. Stabile Produktion, moderne Dienstleistungen und neue Technologien finden
sich auch in den dünner besiedelten Landesteilen. Es
gibt die Potenziale des ländlichen Raums. Neben der
klassischen Landwirtschaft zählen Nahrungsmittel,
Holzverarbeitung, aber auch Energietechnologie dazu.
Rohstoffanbau für und Produktion von Bioethanol sind
bedeutsam. Sonnenenergie, Windkraft und Biomasseanlagen schaffen Arbeit und Einkommen. Das ist kein
Wunschtraum, sondern bereits Realität.
Im Feld der Dienstleistungen haben wir den Tourismus zu einer Erfolgsgeschichte des Ostens gemacht. Der
Osten hat seinen Anteil am gesamtdeutschen Tourismus
von 10 auf 20 Prozent verdoppelt.
({6})
Eine gute Nachricht aus dem Osten ist das überproportionale Wachstum des produzierenden Gewerbes.
Trotz der Konjunkturschwankungen wuchs die Produktion der ostdeutschen Industrie in den vergangenen zehn
Jahren mit einer durchschnittlichen Jahresrate von
5,5 Prozent. Die Exportquote ist seit 1991 auf knapp
25 Prozent gestiegen; sie hat sich mehr als verdoppelt.
Diese Chance wollen wir in förderpolitischer Hinsicht in
eine Wachstumsstrategie umsetzen.
Die wirtschaftlichen Entwicklungskerne und Technologieregionen sind unsere Joker; in diesen Bereichen
wird die Vergleichbarkeit mit westdeutschen Standorten
am schnellsten erreicht werden.
({7})
- Sie lachen über sich selber. Das sind schließlich Regionen, in denen auch Sie politisch tätig sind.
Absolut vordringlich ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Arbeit, die Bestand hat, entsteht in einer
Wirtschaft, die wettbewerbsfähig ist. Der Arbeitsmarkt
im Osten reagiert flexibel auf die Bedürfnisse der Unternehmen. Die Ostdeutschen arbeiten länger und sind bereit, betriebliche Bündnisse für Arbeit einzugehen. Die
Arbeitsmarktreformen mit der starken Betonung auf Fördern und Fordern, auf Wiedereingliederung der Menschen in den Arbeitsmarkt werden dem Osten, aber auch
anderen schwierigen Regionen helfen.
({8})
Denn das gesamte arbeitsmarktpolitische Instrumentarium steht jetzt allen erwerbsfähigen Arbeitslosen zur
Verfügung. Berufliche Weiterbildungs- und Trainingsmaßnahmen, Beschäftigung schaffende Infrastrukturmaßnahmen, Mobilitätshilfen und kommunale Zusatzjobs können in Anspruch genommen werden.
({9})
Arbeitsmarktregionen mit vielen Langzeitarbeitslosen
und wenigen offenen Stellen werden besonders berücksichtigt. Die Eingliederungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose werden aus Bundesmitteln bezahlt. 2005 sind
10 Milliarden Euro vorgesehen. Ein überproportionaler
Anteil von 42 Prozent fließt in die ostdeutschen Länder.
In der Monitoringgruppe achten wir gemeinsam mit
meinem Kollegen Clement und Vertretern der ostdeutschen Ländern auf Probleme im Reformprozess. Zusätzlich wurden Christine Bergmann, Kurt Biedenkopf und
Hermann Rappe als Mitglieder eines Ombudsrates zur
Begleitung der Arbeitsmarktreform berufen. Das ist ein
positives Signal. Diese Persönlichkeiten kennen sich in
den Bedingungen des Ostens aus. Sie werden dafür
Sorge tragen, dass Einzelschicksale ebenso berücksichtigt werden wie die grundsätzlichen Probleme in diesem
Prozess.
Der „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“
liefert Daten und Einschätzungen, die ein genaues und
differenziertes Bild bieten. Der Verlauf des Aufbaus Ost
zeigt an vielen Orten wichtige Erfolge. Wir sind nicht
gescheitert. Wir sind aber noch nicht am Ziel. Wir haben
im Osten Schlüsselbranchen angesiedelt, die auch als
Motoren der Entwicklung wirken - von der Chemie,
Pharmazie und Optoelektronik über die Automotive, die
Luftfahrt und die Halbleiterindustrie bis zur Avantgarde
der Biotechnologie und der Softwaresystematik.
Zu den Stärken des Ostens gehört aber auch die Logistik. Mit hervorragenden Standortbedingungen hat sich
der Flughafen Leipzig im europäischen Wettbewerb
durchgesetzt. Das neue zentrale Logistikzentrum der
DHL kommt nach Ostdeutschland.
({10})
Wir erwarten dadurch einen Beschäftigungsschub von
mindestens 3 000 direkten und mehr als 6 000 indirekten
Arbeitsplätzen. Dieser Erfolg kann uns für die zweite
Halbzeit des Aufbaus Ost ermutigen. Ich bin sicher, dass
wir die große nationale Aufgabe des Aufbaus Ost gemeinsam - dies ist wirklich nur gemeinsam möglich bewältigen können.
Der Kollege Kretschmer hat jetzt die Möglichkeit zu
einer Zwischenfrage oder besser gesagt: zu einer Anschlussfrage; denn die Redezeit des Ministers ist vorbei.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie unserem Antrag zustimmen werden und ob Sie dies auch Ihren Kollegen empfehlen. Denn Sie haben zu Recht festgestellt - ich freue
mich, dass ich Ihnen einmal zustimmen kann -, dass ein
jährlicher Bericht zum Stand der deutschen Einheit notwendig ist. Wir brauchen in der Tat einen solchen Bericht. Es ist wichtig, dass das Thema immer wieder auf
die Tagesordnung kommt.
Wir haben gemeinsam mit der FDP einen exzellenten
und sehr sachlichen Entschließungsantrag eingebracht.
Ich bitte Sie, bei Ihrem Wort zu bleiben und ihn Ihren
Kolleginnen und Kollegen zur Beschlussfassung zu
empfehlen.
Ich glaube, es gibt noch eine Zwischenfrage.
Ich kann nach dem Ende Ihrer Redezeit, Herr Minister Stolpe, nicht noch serienweise Zwischenfragen zulassen.
Herr Kretschmer, schönen Dank für Ihren Hinweis.
Ich halte es für zwingend notwendig und habe begründete Hoffnung, dass das nicht umsonst gewesen ist.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister Stolpe, mit dieser Auskunft haben Sie uns
aus dem Herzen gesprochen. Ich bedanke mich. Ich
hoffe, dass die Koalitionsfraktionen tatsächlich Ihrem
Aufruf folgen und den gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU/CSU und FDP annehmen.
({0})
Ich möchte mit dem Positiven beginnen. In den Flughafen Leipzig/Halle werden 300 Millionen Euro für die
Errichtung des Logistikdrehkreuzes der DeutschenPost-Tochter DHL investiert. Ich halte das tatsächlich
für einen großen Erfolg, auf den wir alle gemeinsam
stolz sein können.
({1})
Ich möchte ausdrücklich sagen, dass das eine Gemeinschaftsleistung ist. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn sich auch die Bundesregierung diesen Erfolg
an das Revers heftet.
Aber ich möchte Folgendes hinzufügen: Herr Stolpe
hat seine Ausführungen mit einem Rückblick begonnen.
Auch hier ist es notwendig, zurückzublicken, wenn man
die Voraussetzungen für den Zuschlag an den Flughafen
Leipzig/Halle erkennen will. Sie wissen genauso gut wie
ich, dass der Zuschlag erst durch die sehr schnellen Genehmigungsverfahren in Sachsen - innerhalb kürzester
Zeit wurde über die Verlängerung von Rollbahnen entschieden - sowie durch die außerordentlich präzise Vorarbeit der sächsischen Staatskanzlei und insbesondere
durch das zähe Drängen des sächsischen Ministerpräsidenten, Georg Milbradt, möglich wurde.
({2})
Ohne dieses Drängen wäre der Zuschlag nicht erteilt und
demzufolge wäre die Finanzierungsnotwendigkeit wahrscheinlich nicht erkannt worden.
Eigentlich haben die Vorarbeiten noch sehr viel früher
begonnen, nämlich mit dem unverzüglichen Ausbau des
Flughafens Leipzig/Halle. Ich möchte daran erinnern,
was die anderen Bundesländer zu diesem Zeitpunkt gemacht haben. Die damalige Regierung Höppner hat sich
aus diesem Projekt langsam davongestohlen und hing einem Gedankengebilde von einem riesigen Luftdrehkreuz
in der Altmark nach. Davon will mittlerweile niemand
mehr etwas wissen. Herr Stolpe, Sie haben damals als
Ministerpräsident das Cargolifter-Geld im märkischen
Sand verscharrt.
({3})
Berlin und Brandenburg standen 13 Jahre auf der Stelle,
als es um den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld
gegangen ist.
({4})
Das sind die Unterschiede: Erfolge in Ostdeutschland
gibt es dort, wo wie im Fall des Flughafens Leipzig/
Halle - ich möchte hinzufügen: zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der sozialdemokratischen Fraktionen in den Landtagen - vernünftige Investitionsentscheidungen schnell durchgesetzt werden konnten.
({5})
Sie machen der Öffentlichkeit ständig weis, auch die
CDU/CSU habe keine Konzepte für den Aufbau Ost.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Unsere Konzepte liegen
Ihnen vor und sind anhand der Unterschiede zwischen
den einzelnen Bundesländern sogar optisch sichtbar. Wir
stellen heute im Bundestag unseren gemeinsamen Entschließungsantrag zur Abstimmung, in dem Sie aufgefordert werden - das tun wir schon seit längerer Zeit -,
mit dem Bürokratieabbau sowie der Verkürzung von
Planungs- und Genehmigungszeiten - das geht weit über
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hinaus - ernst zu machen und insbesondere den Bundesländern mehr Gestaltungsspielräume zu geben, damit
solche positiven Leistungen wie beispielsweise der
schnelle Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle
({6})
keine Eintagsfliegen bleiben, sondern zur Regel werden.
({7})
Herr Stolpe, Sie selbst haben gesagt, es gebe in Ostdeutschland ein starkes Bewusstsein für die grundsätzliche Eilbedürftigkeit von Entscheidungen. Ich halte das
für eine hervorragende Formulierung. Jetzt machen Sie
bitte Nägel mit Köpfen und sorgen Sie dafür, dass in
Ostdeutschland nicht nur die Politiker daran arbeiten, die
Bürokratie ein Stück weit abzubauen. Sorgen Sie darüber hinaus dafür, dass der Bürger, insbesondere derjenige, der investieren, ein Unternehmen gründen und Arbeitsplätze schaffen will, das Gefühl bekommt, dass
diese Regierung es mit Bürokratieabbau und mit Genehmigungsbeschleunigungen wirklich ernst meint. In Ihrem Bericht ist davon leider nichts zu erkennen.
({8})
Nun komme ich auf das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu sprechen. Ich sage Ihnen zunächst ausdrücklich: Ich begrüße, dass Sie sich mittlerweile durchgerungen haben, die Gültigkeitsdauer dieses
Gesetzes um ein weiteres Jahr zu verlängern. Gleichzeitig sage ich: Das ist nicht das, was wir wollten. Dieses
eine Jahr ist eine kurze Atempause, die uns aber langfristig keine Planungssicherheit gewährt. Ich fordere Sie
auf, dieses Gesetz nicht nur befristet bis 2005, sondern
unbefristet in Kraft zu setzen.
({9})
Ich bin froh und erleichtert darüber, dass Sie die Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes endlich verlängern werden. Dennoch frage ich Sie: War es eigentlich nötig, dass
wir erst so eine lange Diskussion, so eine lange Zeit der
Verunsicherung aller Beteiligten in Kauf nehmen mussten, bis Sie sich jetzt, also anderthalb Monate vor dem
planmäßigen Ende der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes,
dazu durchringen konnten, endlich einmal Ja zu sagen?
So hätten Sie schon vor anderthalb Jahren, vor zwei Jahren oder vor vier Jahren handeln können. Das ist die Realität.
({10})
- Natürlich sind wir in dieser Frage mehrfach und nicht
nur einmal initiativ geworden.
Es genügt nicht, uns den Aufbau Ost statistisch aufzubereiten, wie Sie das auch im diesjährigen Bericht getan
haben. Wäre die Lage nicht so ernst, müsste man fast
schmunzeln, wenn Sie in Ihrem Bericht ein Wachstum
von 0,2 Prozent im Jahr 2003 als hoffnungsvoll werten
und die Wirtschaft bei einer Arbeitslosenquote von
18 Prozent auf gutem Wege sehen. Meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, Sie beschönigen die
Situation, weil sich die Schere zwischen Ost und West,
was die Positionen Arbeitsplatzdichte, Wachstum, Konsequenzen der demographischen Entwicklung, Kaufkraftentwicklung in Ostdeutschland angeht, in den letzten Jahren eben nicht weiter geschlossen, sondern weiter
geöffnet hat. Es ist diese Tendenz, die uns in Ostdeutschland beunruhigt. Die Bürger erwarten keine Veränderung
ihrer Lage von heute auf morgen, aber sie erwarten, dass
die Tendenz in Richtung Anstieg, Verbesserung, Normalisierung geht. Leider ist immer noch genau das Gegenteil zu verzeichnen.
({11})
Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Man sucht in Ihrem Bericht vergeblich nach Rezepten
dafür, wie man neue Arbeitsplätze generieren und der
ostdeutschen Wirtschaft neue Impulse und neue Hoffnung geben kann. Im konkreten Handeln tun Sie das Gegenteil von dem, was Sie versprechen.
Wir haben eben eine große Diskussion über den Abbau der Militärstandorte gehabt. Bundesminister
Struck hat zu Recht darauf hingewiesen, dass er nicht Infrastrukturminister, sondern Verteidigungsminister ist.
Das ist allen klar. Er hat aber die Gelegenheit versäumt,
die Stationierungsdichte Ost an die Stationierungsdichte
West heranzuführen. Er hat die Stationierungsdichte Ost
gegenüber der Stationierungsdichte West prozentual sogar verringert. Das ist die Realität. Das kann nicht der
Geist des Aufbaus Ost sein.
Ich darf Sie an Folgendes erinnern: Wir hatten einmal
eine Föderalismuskommission, die beispielsweise festgelegt hat, dass der Osten bei der Schaffung neuer Institutionen vorrangig berücksichtigt werden soll. Niemand
konnte sich damals vorstellen, dass der Osten auch beim
Abbau von bestehenden Strukturen vorrangig berücksichtigt werden würde. Eine solche Vorgehensweise generiert nicht Arbeit, sondern Arbeitslosigkeit. Das zeigt,
dass Ihr konkretes Handeln von Ihren konkreten Reden
oftmals weit entfernt ist.
({12})
Da wird auch die überproportionale Zuwendung von
Eingliederungsmitteln nicht viel helfen. Eingliederungsmittel sind eine Notmaßnahme, nachdem das Kind in
den Brunnen gefallen ist. Das ist eher ein Eingeständnis
von tiefer Ratlosigkeit.
Zu den allgemeinen Rahmenbedingungen für den
Aufbau Ost, zu klaren Perspektiven und Zielen, aber vor
allem auch zur Zukunft der Strukturförderung bleibt Ihr
Bericht vage und unbestimmt. Sie wollen die Förderung
mehr auf Wachstumszentren konzentrieren, notfalls
auch so genannte Cluster schaffen. Dazu kann ich nur
sagen: Erstens. Willkommen im Klub! Zweitens. In Ihrem Bericht sucht man vergeblich nach Formulierungen,
die dies konkretisieren. Wir wollen endlich wissen, was
mit Wachstumszentren und Clustern konkret gemeint ist.
Herr Bundesminister Stolpe, Sie haben eben die Biotechnik als Ihren Joker vorgestellt. Ich weiß nicht, ob
Sie wissen, dass im Englischen der Komparativ von
„joke“ nicht „joker“ heißt.
({13})
Alles das kann nur dann wirklich in die Zukunft weisen,
wenn sich die Biotechnik auch entfalten kann. Da ist die
technikfeindliche Philosophie, die wir beispielsweise
von den Grünen oft hören, Gift für den Standort.
({14})
Biotechnik ja, aber eine befreite Biotechnik, die sich hier
genauso entfalten kann wie in Amerika und wie in anderen Staaten Westeuropas, in denen das Wort Wachstum
noch kein Fremdwort ist!
Sie haben auch keine Klarheit darüber geschaffen,
wie Sie sich nun den Einsatz der 51 Milliarden Euro aus
dem Korb II des Solidarpakts II vorstellen. Das wüssten
wir schon gern. Solange diese Klarheit nicht vorhanden
ist, ist keine reale Kalkulationsgrundlage für die ostdeutschen Länder gegeben.
Wir brauchen außerdem Klarheit darüber, wie wir eigentlich die meisten ostdeutschen Landeshaushalte aus
ihrer bedrückenden Lage befreien können. Die Landeshaushalte sind durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts so mit Kosten überfrachtet worden,
insbesondere was die Bedienung der Sonderversorgungssysteme aus der DDR-Zeit betrifft, dass etliche
neue Länder überhaupt nicht mehr die Möglichkeit haben, die für Investitionen gedachten Mittel auch tatsächlich investiv einzusetzen.
({15})
Die Bundesregierung ist unter anderem auch dazu da,
solche Situationen zu erkennen und Wege dafür aufzuzeigen, wie man aus dieser beklemmenden Lage wieder
herauskommt; sie darf nicht alles auf die Länder abwälzen.
Ich freue mich darüber, dass Sie für die nächsten
Jahre die Berichtspflicht wieder einführen wollen. Deshalb werde ich dazu nichts weiter sagen.
({16})
Trotzdem stelle ich noch genug Zeichen dafür fest,
dass Ihre Beziehung zu dem Prozess der deutschen Einheit noch eine sehr kühle ist. Erst letzte Woche haben die
Herren Schröder, Eichel, Clement und Stolpe versucht,
wegen der klammen Steuerkassen den Tag der Deutschen Einheit als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, das war
einfach unwürdig.
({17})
Das hat uns international bloßgestellt.
Herr Kollege Vaatz, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja; mein letzter Satz. - Das hat zudem gezeigt, dass
Sie diesen Feiertag für den entbehrlichsten von allen halten. Das wiederum zeigt, Herr Stolpe: Aufbau Ost ist für
Sie alles andere, aber nicht Herzenssache.
({0})
Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Vaatz,
nachdem ich den Entschließungsantrag Ihrer Fraktion
und der Fraktion der FDP gelesen habe, habe ich gedacht: Na ja, die Wahlen in Sachsen, Brandenburg und
Thüringen sind vorbei und jetzt kommen wir wieder zu
ein bisschen mehr Sachlichkeit zurück. Aber Ihre Rede
war eigentlich ein deutliches Beispiel dafür, dass sich die
Lage offensichtlich nicht verändert hat. Wenn diese Versatzstücke Ihr Programm für den Aufbau Ost darstellen,
dann ist das wirklich ein Armutszeugnis für Ihre Fraktion.
({0})
Es tut mir wirklich Leid, dass ich das so feststellen muss.
Ich beschäftige mich lange genug mit dem Thema und
ich muss sagen: Das war wirklich traurig.
Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Rede
noch einmal meine Rede vom letzten Jahr zu diesem
Thema angeschaut und dabei ist mir aufgefallen, dass
ich damals gesagt habe: Ich glaube, dass Ost und West in
den letzten Jahren stärker zusammengewachsen sind und
dass die Mauer in unseren Köpfen ein Stück niedriger
geworden ist.
({1})
Wenn ich mir die Situation im Jahre 2004 anschaue,
dann muss ich feststellen, dass diese Hoffnung ein bisschen enttäuscht worden ist. Dazu haben sicherlich auch
die unselige und noch immer nicht beendete Debatte über
die angeblich zu hohen Transferleistungen an den Osten
oder die Demonstrationen gegen Hartz IV beigetragen,
die manches längst vergessene Vorurteil über die Ostdeutschen wieder hervorgebracht haben.
({2})
Mir ist bewusst, dass der Weg zur Einheit in den
Köpfen noch lang und steinig ist und wir ihn nur bewältigen können, wenn wir ihn gemeinsam gehen. Von daher kann ich immer wieder nur dafür werben - das sage
ich insbesondere an die Adresse der Westdeutschen -:
Kommen Sie in die neuen Bundesländer, schauen Sie
sich an, was die Menschen in Ostdeutschland in den vergangenen 15 Jahren auch mit Ihrer Unterstützung geleistet haben, und lassen Sie sich bitte von Ihren Vorurteilen
heilen.
({3})
Als gebürtiger Wessi darf ich noch einmal zuspitzend sagen: Es ist für mich eine Schande, dass 15 Jahre nach
dem Mauerfall viele Westdeutsche, nämlich circa
50 Prozent, von sich aus sagen, dass sie noch nie in Ostdeutschland gewesen sind.
Ich will nicht verhehlen, dass die Debatte über die
Transferleistungen von West nach Ost den Fokus auch
darauf gelenkt hat, dass wir in Ostdeutschland unsere
Hausaufgaben nicht immer zufriedenstellend erledigt haben. Die Kritik an der Fehlverwendung der Solidarpaktmittel ist nicht neu. Wir wissen schon seit längerem, dass die ostdeutschen Bundesländer Probleme
haben, die Mittel tatsächlich investiv einzusetzen. Ich
habe immer wieder davor gewarnt, dieses Thema auf die
leichte Schulter zu nehmen oder es zu ignorieren. Außerdem registriere ich in letzter Zeit eine steigende Zahl von
Veranstaltungen zu diesem Thema, die dann in der Frage
gipfeln: Muss der Solidarpakt II reformiert werden? Am
25. November wird hierzu eine Veranstaltung in Halle
stattfinden, erst neulich gab es eine Veranstaltung vom
BDI dazu.
Ich warne an dieser Stelle, dass uns hier möglicherweise eine Diskussion droht, die wir nicht mehr kontrollieren können. Da nutzen keine Hinweise seitens der
Länder, die Fehlverwendung wäre nur dem Berechungsverfahren geschuldet oder man könne sich halt aufgrund
der Haushaltssituation nicht anders verhalten. Dann
müssen sich eben alle Beteiligten zusammensetzen und
versuchen, eine Klärung im Sinne des Gesetzgebers herbeizuführen, Herr Vaatz. Augen zu und durch ist dabei
die falsche Taktik.
({4})
- Na also, das ist ein Angebot; das können wir dann ja
machen. Wunderbar.
({5})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage oder lassen Sie mich
ausreden.
Wir sollten uns von daher überlegen, ob der Solidarpakt II nicht eventuell dahin gehend ergänzt werden
sollte, dass wir den Ländern eine bessere Planung für die
Mittelverwendung abverlangen, möglicherweise eine
stärkere Kontrolle einführen und gegebenenfalls
auch - das tut mir Leid - Sanktionen vereinbaren.
({6})
Darüber hinaus sollten wir uns auch die Frage stellen,
was eigentlich investive Verwendung bedeutet. Ich erinnere mich noch an den Perspektivenkongress zum
Thema Ostdeutschland, auf dem sowohl Bundesminister
Stolpe als auch Ministerpräsident Platzeck sagten: Infrastruktur ist mehr als Beton.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Vaatz?
Gerne.
Herr Kollege Hettlich, Sie haben jetzt eine Reihe von
Forderungen vorgetragen,
({0})
die ich vorhin in meiner Rede auch genannt habe. Nachdem Sie denselben Mangel festgestellt haben, möchte
ich Sie Folgendes fragen: Können Sie mir erklären, warum der Bericht zur deutschen Einheit, über den wir ja
bei diesem Tagesordnungspunkt debattieren, auf diese
Fragen keine Antworten enthält?
Ich kann Ihnen das nicht beantworten, weil ich den
Bericht nicht geschrieben habe. Ich nehme in dieser Debatte die sich viel zu selten bietende Gelegenheit wahr,
allgemeine Themen zu behandeln, die uns als ostdeutsche Fachpolitiker umtreiben. Deshalb arbeite ich hier
nicht den Bericht zum Stand der deutschen Einheit ab,
sondern setze von meiner Seite aus Akzente und spreche
die mir wichtigen Punkte an. Sie müssten also im Prinzip
den Verfasser dieses Berichtes fragen, warum das nicht
in ihm steht. Ich spreche an dieser Stelle nicht für die
Bundesregierung, sondern über das, was mir aufgefallen
ist; tut mir Leid.
({0})
Gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Vaatz?
Er kann ruhig noch eine Frage stellen.
Herr Hettlich, ich kann aber davon ausgehen, dass Sie
den Bericht gelesen haben?
({0})
Natürlich habe ich ihn gelesen. Wir haben ihn sogar
umfangreich durchgearbeitet. Da kennen Sie mich wirklich schlecht. So eine Frage ist wirklich schwach.
Ich will noch einmal auf den Punkt investive Verwendung zurückkommen. Hier scheint mir möglicherweise
ein Problem zu liegen, deshalb hatte ich eben ja noch
einmal auf die Aussage verwiesen, Infrastruktur ist mehr
als Beton. Das heißt, wir sollten uns zumindest einmal
Gedanken darüber machen, ob investive Mittel nur in
die Infrastruktur gesteckt werden dürfen oder ob wir sie
nicht auch in andere Bereiche wie zum Beispiel Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, ja sogar in
die Unternehmensförderung umschichten können. Ich
verweise nur darauf, dass einige Leute aus der Wissenschaft, beispielsweise Vertreter des IWH, diese Vorschläge schon unterbreitet haben.
Ich weiß, dass das ein heikles Thema ist und es keinem den Vorwand bieten sollte, sich aus der Verantwortung für einen verfassungsmäßigen Haushalt zu stehlen.
Aber angesichts der demographischen Entwicklung
müssen wir uns schon die Frage gefallen lassen, wer
denn in 20 oder 30 Jahren die Infrastruktur in Ostdeutschland nutzen und unterhalten soll, in deren Aufbau wir in den kommenden Jahren nochmals sehr viel
Geld investieren wollen.
({0})
Dabei muss uns bewusst sein: Die für den weiteren Konvergenzprozess zur Verfügung stehenden Mittel sind begrenzt und vor allen Dingen in ihrem Mittelfluss - insbesondere was den Solidarpakt II angeht - degressiv
gestaltet. Das heißt, ab spätestens 2010 werden wir dies
auch praktisch zu spüren bekommen. Die Antwort wird
dann nicht mehr lauten können: Wir brauchen noch mehr
Geld. Vielmehr muss die Antwort dann lauten: Wir müssen aus dem Geld, das wir bekommen, mehr machen.
Nach der Währungsunion und der Wiedervereinigung
setzte ab 1990 in den neuen Bundesländern eine beispiellose Gründungswelle ein. Viele Unternehmensgründungen waren der puren Not geschuldet, die notwendigen
Voraussetzungen - ausreichendes Eigenkapital, betriebswirtschaftliches Know-how, eine tragende Geschäftsidee - waren oft nicht vorhanden. Das ist kein Vorwurf
an die damalige Gründergeneration, sondern eine
schlichte Tatsache. Insofern ist es auch eine bittere Erkenntnis, dass sich erst seit Mitte der 90er-Jahre - da
waren wir noch nicht an der Regierung - der Saldo zwischen den Gründungen und den Insolvenzen in Ostdeutschland nur ganz leicht im Positiven bewegt. Daran
hat sich erst im letzten Jahr etwas geändert.
Wir müssen eingestehen, dass wir quasi eine Unternehmensgeneration in Ostdeutschland schon verloren
haben; denn - das ist eine weitere bittere Erkenntnis wer in Deutschland einmal als Unternehmer gescheitert
ist, der kommt nicht mehr auf die Beine, von einer zweiten Chance zu einer Unternehmensgründung ganz zu
schweigen. Uns fehlt die Unternehmenskultur; da sind
die USA ausnahmsweise einmal Vorbild.
({1})
Ich möchte dafür werben, dass wir den weiteren Aufbau Ost auch von unten her denken und gestalten. Von
unten her heißt für mich: Wir brauchen mehr Unternehmensgründer, wir brauchen mehr Unternehmen, die
expandieren, und wir brauchen dafür viele langfristig
tragfähige und innovative Unternehmenskonzepte und
-ideen. Ich glaube, da sind wir gar nicht so weit voneinander entfernt. Das gilt für Ostdeutschland, dürfte
aber zunehmend auch für Westdeutschland gelten.
Wenn wir also die wirtschaftliche Entwicklung und
damit die Entstehung von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland fördern wollen, dann müssen wir genau hier ansetzen. Das können wir zum einen in den Bereichen
Bildungs-, Wissenschafts-, Forschungs- und Entwicklungsförderung und zum anderen im Bereich Wirtschaftsförderung.
Erst einmal müssen wir junge Wissenschaftler und
Forscher dazu bringen, sich überhaupt in die Selbstständigkeit zu trauen. Dazu gehören Mut, eine gute Geschäftsidee und das betriebswirtschaftliche Know-how.
({2})
Hier ganz praktische Unterstützung zu leisten, zum Beispiel bei der Bewertung von Geschäftsideen oder beim
Zusammenbringen von potenziellen Geschäftspartnern,
wäre schon ein erster Schritt. Hier ist auch ein stärkeres
interdisziplinäres Handeln schon an den Hochschulen
wünschenswert, wenn nicht sogar Voraussetzung.
Dann gilt es, dafür zu sorgen, dass diese Start-ups
dabei unterstützt werden, das notwendige Kapital für
eine Unternehmensgründung zusammenzubekommen.
Es fehlt insbesondere am Eigenkapital - ein spezielles
Problem in Ostdeutschland.
Weiterhin müssen wir uns dringend Gedanken machen - das sollten wir gemeinsam tun -, wie wir die Brücke zwischen der Mittelstandsbank und den Hausbanken
schlagen. Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir angesichts sinkender Immobilienwerte in Ostdeutschland
eine Besicherung von Krediten in Zukunft vornehmen
wollen.
Das sind eine ganze Menge Fragen, auf die es im Augenblick kaum Antworten gibt. Erst dann, wenn diese
Fragen beantwortet sind, kämen für mich die verschiedenen Möglichkeiten einer Wirtschaftsförderung hinzu;
denn Voraussetzung dafür ist, dass vorher die Grundlagen aus eigenem Antrieb oder gegebenenfalls mit entsprechender gezielter Unterstützung geschaffen worden
sind. Nur da, wo etwas ist, kann auch etwas gefördert
werden. Das gilt im Kleinen wie auch im Großen, also
dann, wenn wir von einer stärkeren Förderung von
Wachstumsregionen und -branchen sprechen.
Lassen Sie mich zum Schluss - auch angesichts der
aktuellen Föderalismusdebatte - nochmals eine Lanze
für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ brechen.
({3})
Sie ist sicherlich nicht das Allheilmittel, aber sie hat sich
als eines der erfolgreichsten Förderinstrumente bewährt.
Wenn ich an die letzte Debatte in diesem Hause zu diesem Thema zurückdenke, dann kann ich feststellen, dass
es damals keinen glühenderen Verfechter für die GA gab
als Herrn Milbradt. Jetzt müssen wir hören, dass sich die
ostdeutschen Bundesländer - Sachsen vorneweg - einer
Abschaffung der GA offensichtlich nicht mehr verweigern wollen. Hier kann ich nur sagen: Nicht mit uns. Es
ärgert mich, dass wir über den Bundeshaushalt die Mittel
zur Verfügung stellen, manche Bundesländer sich bezüglich ihrer Mitverantwortung aber einen schlanken Fuß
machen.
({4})
Wer bezahlt, muss auch mitbestimmen, welche Musik
gespielt wird; denn als bloßer Abnickaugust bin ich mir
zu schade.
({5})
Wir schlagen daher vor, dass die GA zumindest bis
2019 erhalten bleibt und die Investitionszulage - sollte
dies finanziell möglich sein - nach 2006 mit ihr zusammengeführt wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Stolpe, Ihr Eingangszitat hat mir ausgezeichnet gefallen, da Sie heute die Gelegenheit genutzt
haben, an den Mauerfall zu erinnern, der vor zwei Tagen
seinen fünfzehnten Jahrestag hatte. Umso verwunderter
bin ich, dass Mitglieder Ihres Kabinetts vor fünf Tagen
den Tag der Deutschen Einheit abschaffen wollten. So
etwas passt aus meiner Sicht nun wirklich nicht zusammen.
({0})
15 Jahre nach dem Mauerfall sollte die deutsche Einheit
keine Selbstverständlichkeit sein. Wir müssen vernünftig
damit umgehen, dass der Weg zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West länger als erwartet und
schwieriger als erhofft ist. Wir müssen für Antworten
sorgen.
Deshalb ist es besonders wichtig, in diesem Land weniger Zwietracht zu streuen. Damit meine ich nicht uns
hier, sondern die allgemeine Diskussion. Vielmehr sollten wir auf den gemeinsamen Erfahrungen von Ost und
West aufbauen. Mit diesen Erfahrungen wird es uns gelingen - davon bin ich überzeugt -, die Aufgaben, die
vor uns stehen, mit großer Sensibilität anzugehen und
ihre Lösung voranzubringen.
({1})
Doch dazu brauchen wir einen klaren politischen
Kompass, den ich im Moment bei der Regierungskoalition vermisse. 1998 hat der Herr Bundeskanzler die
Chefsache Ost ausgerufen. Ein merklicher Fortschritt
ist nach wie vor nicht erkennbar.
({2})
Herr Bundesminister, bei der Vorstellung Ihres Jahresberichtes sprechen Sie von der konsequenten Fortsetzung des Aufbaus Ost. Hier muss ich fragen: Was wird
konsequent fortgesetzt? Hätte die Bundesregierung in
den letzten Jahren ein Gesamtkonzept erstellt und umzusetzen versucht und hätten Sie als neuer Minister für
den Aufbau Ost die Umsetzung dieses Gesamtkonzepts
in Ihrem Hause zusammengeführt und besser strukturiert, würden wir vielleicht über eine niedrigere Arbeitslosenquote sprechen.
Sie haben ebenfalls verkündet, dass der Bund die Mittel für ausgewählte Programme verstetige und bündele.
So steht es im Bericht. Im vorgelegten Bericht fehlt es
aber an Konzepten, Rahmenbedingungen, Perspektiven
und strategischen Zielsetzungen. Ich zumindest kann sie
nicht finden. Sie sind vage, besonders im Hinblick auf
die Infrastruktur.
({3})
Nach wie vor fehlen auch klare Aussagen zu wichtigen Dingen, die die Bundesregierung vorantreiben
wollte. Ich nenne die von der EU-Osterweiterung betroffenen grenznahen Regionen. In einer Synopse der
SPD-Fraktion werden Äußerungen der Herren Dohnanyi
und Stolpe und anderer hierzu gegenübergestellt.
Antworten sind vorhanden. Auch in Ihrer Fraktion
wird von einer Sonderwirtschaftszone Ost gesprochen.
Wo aber bleiben Ergebnisse? Wo bleiben Ansätze? Man
kann in dieser Richtung nichts wahrnehmen.
Wir fordern, dass im Osten, aber auch in strukturschwachen Gebieten des Westens Modellregionen geschaffen werden. Wir sollten Öffnungsklauseln erproben, die den Ländern etwa im Arbeits- und im Baurecht
Sonderregelungen ermöglichen. Ich glaube, so würden
wir schnell einen Schritt vorankommen.
({4})
Joachim Günther ({5})
Handlungsbedarf besteht auch im Bereich der Infrastruktur. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert,
die Fördermittel aus den Strukturfonds vordringlich zum
Ausbau grenzüberschreitender, transeuropäischer Verkehrsnetze in Ostdeutschland, aber auch in Ostbayern
einzusetzen. Diese Grenzregionen haben im Moment mit
zum Teil unerträglichen Verkehrsbelastungen zu kämpfen.
Herr Minister, Sie nennen hier den Ausbau der A 17
Dresden-Prag als Beispiel. Ich möchte vorsichtig daran
erinnern, dass die SPD bis 1998, als sie in der Opposition war, diese Strecke am entschiedensten bekämpft hat.
Erst heute ist das anders geworden.
({6})
Wir brauchen diese leistungsfähigen Verkehrswege.
Sie sind für ganz Deutschland wichtig. Ich befürchte,
dass die Kürzungen bei den Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen, die für 2004 bis 2008 vorgesehen sind, auch
zahlreiche Projekte im Osten gefährden werden.
Die Standortschließungen haben wir bereits vorhin
hier diskutiert. Auch hier ein Auszug aus Ihrer Synopse
Ost: Es sollten maßgeschneiderte Ansiedlungen entstehen, habe ich gelesen. Ich bin gespannt, wann wir das
erste Erfolgserlebnis haben. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es mir vorstellen könnten.
In diese Schiene passt auch die von Ihnen jetzt gemachte Aussage, dass mit den Ländern weiter über die
Förderkonzeption verhandelt werden müsse. Diese Ankündigung haben wir schon oft gehört. Ich fordere Sie
deshalb auf, hier wirklich zu handeln. Aus den vorgelegten - freiwilligen - Fortschrittsberichten der neuen Bundesländer geht hervor, dass lediglich Sachsen die Mittel
des Solidarpaktes II für Investitionen eingesetzt hat.
Andere haben damit weiterhin Haushaltslöcher gestopft.
({7})
Das müssen wir ändern; wir müssen die Investitionen erhöhen.
({8})
Ich möchte noch kurz ein anderes Thema ansprechen,
das eine große Rolle spielt: die Abwanderungsproblematik. Es reicht nicht, festzustellen, dass das ein wichtiges Thema ist. Wir müssen Wege finden, die Abwanderung zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, denn
sonst wird die Situation noch komplizierter. Wir haben
dazu im Juni dieses Jahres eine Große Anfrage eingebracht. Herr Minister, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn
Sie jetzt zeigten, dass der Aufbau Ost Chefsache ist, indem Sie diese Anfrage möglichst schnell beantworten.
Das ist auch im Interesse der ostdeutschen Länder. Vielleicht können wir hieraus die eine oder andere Konsequenz ziehen.
Die bedrückend hohe Abwanderung von Ost nach
West hat fatale Folgen. Ich nenne nur einige: Die Kommunen in Ostdeutschland ziehen weniger Steuern ein,
die Kosten für die städtische Infrastruktur verteilen sich
auf immer weniger Personen, wodurch zum Beispiel die
Mietnebenkosten erheblich ansteigen. Das ist ein großes
Feld und wir müssen schnell reagieren.
Deshalb bin ich sehr optimistisch, dass Sie heute unserem Vorschlag zustimmen, dass wir auch in den nächsten Jahren über den Bericht der deutschen Einheit diskutieren. Denn es ist dringend erforderlich, in weitere
Details einzusteigen.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Meckern und
Klagen gehört fast schon zum guten Ton beim Thema
Aufbau Ost in diesem Hohen Hause. Wir werden nachher mit der Rede vom Kollegen Kuhn von der Opposition den Höhepunkt erleben.
({0})
Aber ich sage ganz deutlich: Damit tut man den Menschen im Osten Unrecht, die täglich ihre Frau oder ihren
Mann stehen, und damit tut man auch der Bundesregierung Unrecht, die einiges geleistet hat.
({1})
Ich sage das jedes Mal: Wenn wir nicht blind sind, müssen wir feststellen, dass wir zwischen Ostsee und Erzgebirge sehr viel erreicht haben.
({2})
- Ich sage das, weil es stimmt, aber Sie wollen das nicht
wahrhaben.
Der Jahresbericht der Bundesregierung blickt nicht
nur zurück, sondern gibt auch einen Ausblick, wie die
Neujustierung des Aufbaus Ost vorangebracht werden
kann. Hauptanliegen ist die Weiterentwicklung der
Förderkonzeption. Das hätten Sie sich einmal genauer
ansehen können. Ich werde mich im Wesentlichen darauf
konzentrieren.
Zuvor möchte ich aber meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass gestern die Entscheidung gefallen
ist, dass die Deutsche Post den Flughafen Leipzig/Halle
als Drehkreuz für den Frachtflugverkehr ausbauen will.
({3})
Aber neben dem Erfreulichen gibt es auch Negatives.
Negativ sind die auch von Ihnen, liebe Kollegen von der
Opposition, immer wieder genannten Horrorzahlen über
den West-Ost-Transfer. Ich will die gewaltigen, auch
heute noch stattfindenden Transfers in keiner Weise
schmälern; aber man sollte angesichts der Zahlen redlich
bleiben. Sie sollten vor allem - Sie haben ja vor Jahren
selbst jemandem vorgeworfen, dass er das nicht könne brutto und netto unterscheiden können. Von den genannten vierstelligen Milliardensummen sind nach den Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle
rund 300 Milliarden Euro direkt in die Staatskassen geflossen. Diese Summe wäre also schon einmal in Abzug
zu bringen. Von dem noch immer großen Rest entfällt
der weit überwiegende Teil auf gesetzlich für ganz
Deutschland - ich betone: für ganz Deutschland - festgelegte Leistungen wie zum Beispiel die Renten. An diesem Teil ließe sich nur dann etwas ändern, wenn die Einheit als solche auf den Prüfstand gestellt würde. Aber ich
glaube, das wollen wir alle hier nicht.
Wirklich beeinflussbar ist nur der Bereich der investiven Mittel. Hier sollten wir uns mit Recht für einen effektiven und sparsamen Einsatz stark machen. Sie haben
das ein bisschen verklausuliert schon angesprochen. Insbesondere Sachsen-Anhalt ist Spitzenreiter im negativen
Sinne unter den Ländern, die Mittel aus der GA für konsumtive Ausgaben heranziehen und ihre Haushaltslöcher
damit stopfen. Aber das betrifft auch die anderen neuen
Bundesländer, insbesondere - das sage ich als Berliner
an die Adresse des Berliner Senats - die Berliner Senatsverwaltung.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Bitte schön.
Herr Kollege Scheffler, als Berliner bewundere ich
ein wenig Ihren Mut, in Sachen Mittelverwendung auf
Sachsen-Anhalt zu zeigen. Sind Sie sich eigentlich der
Tatsache bewusst, dass die Art der Mittelverwendung
mit dem sehr viel höheren Schuldendienst zusammenhängt, den Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Freistaat
Sachsen zu leisten hat?
In Bezug auf die Ursachen dieses hohen Schuldendienstes möchte ich Sie fragen: Wissen Sie, dass es in
der Zeit des so genannten Magdeburger Modells unter
dem Ministerpräsidenten Höppner von der SPD gang
und gäbe war, dass Sachsen-Anhalt bei der Nettoneuverschuldung Spitzenreiter in Deutschland war? Auf wen
wollen Sie eigentlich zeigen, wenn Sie solche Behauptungen aufstellen?
({0})
Da ich an der Veranstaltung mit Ihrem Ministerpräsidenten und dem Minister Manfred Stolpe in der sachsenanhaltinischen Landesvertretung teilgenommen habe,
auf der mir Ihr Ministerpräsident auf meine Frage ausdrücklich bestätigt hat, dass dies nicht nur unter der Regierung Höppner so war - proportional gesehen haben
sich die Zahlen unter seiner Verantwortung sogar noch
erhöht -, muss ich diesen Vorwurf zurückweisen. Der
Weg, den Sie in Sachsen-Anhalt eingeschlagen haben,
ist nicht nur nicht besser. Er hat sogar noch zu einer höheren Verschuldung geführt.
({0})
Lassen Sie mich auf die investiven Mittel zurückkommen. Wir sollten uns zukünftig für einen effektiven
Einsatz dieser Mittel stark machen, insbesondere was die
im Rahmen des Solidarpakts II vorgesehenen Leistungen
des Bundes angeht. Hier werden wir in einen Dialog mit
den Ländern treten müssen. Die Schlussfolgerung muss
lauten, alles dafür zu tun, dass im Osten ein möglichst
großer Teil dessen, was verbraucht wird, auch selber erarbeitet wird. Das ist meines Erachtens ganz wichtig.
Das geht nur über Investitionen.
({1})
Ob investiert wird, darf nicht die Frage sein. Aber wo
und wie investiert werden soll, sollte der Deutsche Bundestag bestimmen. Wir als Mitglieder der Arbeitsgruppe
„Aufbau Ost“ haben uns vorgenommen, uns die Investitionen zukünftig genauer anzusehen.
({2})
In diesem Zusammenhang bin ich froh, dass es uns
gelungen ist, ein besonders wirkungsvolles Instrument
der Wirtschaftsförderung in strukturschwachen Regionen, nämlich die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, finanziell
besser auszustatten. Die bisherige Kappungsgrenze von
35 Millionen Euro bei den rückfließenden Mitteln entfällt.
({3})
Das hätten Sie ruhig einmal lobend erwähnen können.
Ich denke, dieses hervorragende Instrument wurde von
den Ländern positiv aufgenommen.
Es gehört zu jeder Diskussion, über den schleppenden
Bürokratieabbau zu reden. Wir müssen sagen, dass die
in 40 Jahren zivilen Wachstums in der alten Bundesrepublik gewachsenen Regelungen für eine Pioniersituation,
wie sie der Aufbau Ost darstellt - da stimme ich Ihnen
ausdrücklich zu -, nicht immer geeignet sind. Die Bundesregierung hat sehr viele Instrumente zum Bürokratieabbau eingeführt. Sie hat die Novellierung der Handwerksordnung auf den Weg gebracht. Da haben Sie
leider nicht mitgespielt. Ihre Entscheidung im Bundesrat
hat sich nicht gerade positiv ausgewirkt. Da könnten wir
ein bisschen weiter sein.
({4})
- Lieber Kollege, ich habe meinen Handwerksmeister in
den 60er-Jahren gemacht. Die Zeit ist seitdem vorangeschritten; sie ist nicht stehen geblieben. Wenn es nur
Stillstand geben würde, dann könnte kein Land vorangebracht werden.
({5})
Wir müssen das Übermaß an Regelungen im Steuer-,
Bau- und Umweltrecht zurückfahren, damit die Investitionsfreudigkeit gefördert wird. Der Hinweis auf das positive Beispiel des Planungsbeschleunigungsgesetzes ist
allein nicht ausreichend.
({6})
Unter Bundesminister Clement wurden drei Pilotregionen festgelegt. Die entsprechenden Ergebnisse müssen
wir abwarten. Wir können nämlich nicht über Projekte
diskutieren, wenn die Ergebnisse noch nicht bekannt
sind. Wir werden die entsprechenden politischen Konsequenzen daraus ziehen. Insofern, Herr Minister Stolpe,
kann ich Sie nur ermuntern, in Ihren Bemühungen nicht
nachzulassen.
Im Übrigen vertraue ich auf die Kraft des Faktischen.
Die Haushaltslage in den neuen Ländern, die sich durch
die demographische Entwicklung nicht wesentlich verbessern wird, ist so, dass kein Weg daran vorbei führt,
Verwaltungen zu verkleinern.
Da Sie Berlin angesprochen haben, lieber Kollege:
({7})
Das, was Berlin hinsichtlich der Verkleinerung der Senatsverwaltung und im Rahmen der Bezirksreform geleistet hat, sollten andere neue Bundesländer nachholen.
Ich sage es ausdrücklich: Auch ich bin nicht über die
Entscheidung glücklich, dass die Länder Berlin und
Brandenburg zumindest kurzfristig nicht zu einem Bundesland zusammenwachsen. Hier hätten wir für die
neuen Bundesländer eine Pilotfunktion übernehmen
können.
({8})
Nun zu Ihren Anträgen. Herr Vaatz und Herr Kuhn,
warum Sie Ihren Antrag, der ebenso wie der der FDP unserem Ausschuss vorliegt - es sind meines Erachtens in
einigen Teilen doch recht vernünftige Anträge -, jetzt
durch einen neuen ersetzen, ist mir schleierhaft. Wir hatten uns ja darauf verständigt, dass über die Anträge gemeinsam mit dem heute zu debattierenden Bericht abgestimmt wird. Ich muss schon die Frage stellen: Halten
Sie von Ihrem ursprünglichen Antrag so wenig, dass Sie
ihn durch einen neuen ersetzen müssen? Das sollten Sie
uns einmal erklären.
Was Sie heute vorgelegt haben, ist meines Erachtens
wirklich nicht das Gelbe vom Ei.
({9})
Ihre Analyse ist nicht ehrlich. Zum einen sehen Sie positive Ansätze, auf die Sie in Ihrem Antrag hinweisen, und
zum anderen bemängeln Sie das Tempo. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihren Altkanzler Helmut
Kohl zitieren, der gestern laut „Tagesspiegel“ gesagt hat
- ich zitiere, Frau Präsidentin -:
Es dauerte viel länger, als ich geglaubt habe, und
mir sind dabei … Fehler unterlaufen.
Zudem zeigt sich Kohl davon überzeugt, dass sich die
Lebensverhältnisse in den neuen Ländern bessern würden:
Schon bald werden wir in den neuen Ländern weitere erhebliche Fortschritte erreicht haben.
({10})
Recht hat der Mann.
Da wir, wenn man als Bezugspunkt das Auslaufen des
Solidarpaktes II im Jahre 2019 nimmt, erst die Hälfte des
Weges zurückgelegt haben, werden wir am Ende das erreicht haben, von dem Ihr Altkanzler in der Zeitung
spricht. Wir brauchen dafür Steigerungsraten von mehr
als 5 Prozent. Die gibt es im verarbeitenden Gewerbe;
der Minister hat es angesprochen. Die derzeit negative
Entwicklung wird natürlich erheblich durch die Bauindustrie beeinflusst.
Es ist übrigens schade, dass heute zur gleichen Zeit
der Zentralverband des ostdeutschen Baugewerbes einen
parlamentarischen Abend veranstaltet und wir aus der
zuständigen Arbeitsgruppe bzw. dem zuständigen Ausschuss nicht teilnehmen können. Dort hätten Sie die Botschaft mitbringen können, dass es Ihre Politik Anfang
der 90er-Jahre war, die zu einer großen Spekulationsblase in der Bauindustrie geführt hat. Sie hätten dem
Zentralverband auch sagen müssen, dass es Ihr Ministerpräsident Milbradt war, der mit einem Kabinettsbeschluss die Investitionszulage für den Mietwohnungsbau
gestoppt hat. Sie sollten auf die neue Regierung diesbezüglich Einfluss nehmen, um die Arbeitslosigkeit unter
den Bauarbeitern und in der Bauindustrie zu verringern.
Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit - das wurde schon
angesprochen - natürlich das große Problem. Mit der Situation sind wir - ob in den alten oder in den neuen Bundesländern ist völlig gleich - überhaupt nicht zufrieden.
Deshalb ist der Reformprozess, der mit der Agenda 2010
und mit Hartz I bis IV eingeleitet wurde, der richtige
Weg. Denn nur wenn wir insgesamt eine starke Bundesrepublik Deutschland haben, wird es auch in den neuen
Bundesländern weiter aufwärts gehen.
({11})
Mir geht es natürlich wie Ihnen viel zu langsam. Aber
ich habe weder von Ihnen, Herr Kollege Vaatz, in den
Ausschussberatungen noch von den Wirtschaftsweisen
und den so genannten Experten den Königsweg genannt
bekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie trotzdem eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz?
({0})
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Scheffler, können Sie mir erklären, welche positiven Effekte von einer weiteren Unterstützung
des Mietwohnungsbaus beispielsweise in Sachsen angesichts dessen zu erwarten sind, dass wir dort im Augenblick einen Leerstand von circa 100 000 Mietwohnungen aufzuweisen haben?
Das kann ich Ihnen sagen: Diese Mittel könnten, ob in
Sachsen oder in Sachsen-Anhalt, für den Stadtumbau
Ost und ähnliche Projekte verwendet werden. Insbesondere beim Stadtumbau Ost in Sachsen könnten sie für
den Abriss bzw. Umbau der Platte eingesetzt werden. Insofern war Ihre Frage sehr gut.
({0})
Was Deutschland braucht, was insbesondere die
neuen Länder brauchen, sind - das wurde angesprochen - qualitativ hochwertige, innovative Produkte und
Produktionen mit hoher Wertschöpfung. Das werden Sie
aber nicht durch die Einführung von Billiglöhnen erreichen. Die Investoren in diesen Regionen stellen keine
Vergleiche mit Löhnen an, die in Tschechien, Polen oder
anderen vergleichbaren Ländern gezahlt werden. Natürlich brauchen die qualifizierten Facharbeiter, Ingenieure
und Meister zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ein
bestimmtes Lohnniveau; das muss man einmal sagen.
Sie aber wollen praktisch über den Umweg Ostdeutschland die soziale Landschaft in Deutschland verändern.
Das wird mit uns nicht geschehen.
({1})
Im Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit werden die zur Neujustierung notwendigen Schritte vorgestellt, die in der neuen Legislaturperio-de, insbesondere im Jahr 2007, mit den Einnahmen
aus dem Solidarpakt II und dem Korb II des Steuervergünstigungsabbaugesetzes eingeleitet werden. Mit dem
Soli-darpakt II haben wir eine solide Finanzierungsgrundlage geschaffen; auch das hätten Sie loben können.
Aber angesichts der gegenwärtigen Haushaltslage - ich
möchte das nicht näher erläutern und nenne als Stichworte nur „Globalisierung“ und „fehlende Steuereinnahmen“ ({2})
ist es ein Gebot der Ehrlichkeit
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss -, zu sagen, dass wir keine Mittel aus dem Haushalt zur Verfügung stellen können. Ihre Entscheidung, gegen die Abschaffung der Eigenheimzulage zu votieren
({0})
und so zu verhindern, dass wir mehr Geld für Bildung
und Forschung haben, war falsch.
({1})
Herr Kollege Scheffler!
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Was wir gemeinsam für den Aufbau Ost tun könnten,
ist, den Standort nicht schlecht zu reden, wie Sie es landauf, landab tun.
({0})
Auch von dieser Debatte sollten positive Signale ausgehen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
Abgeordnete der PDS.
Ich bin mir sicher, dass kaum jemand den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit vollständig gelesen hat;
({0})
denn dann wäre Ihnen aufgefallen, dass auf mehreren
Seiten, so zum Beispiel auf Seite 49, ein ganzer Absatz
doppelt abgedruckt wurde. Ich habe mir überlegt: Vielleicht hat der Herr Bundesminister diesen Fehler extra
eingebaut, um zu sehen, ob überhaupt jemand seinen Bericht gelesen hat.
({1})
Um es kurz zu machen: Es ist jedes Jahr das Gleiche. Es
werden Erfolgsberichte vorgelegt, die mit der Realität
nicht übereinstimmen. Viele fragen sich: Warum soll
man diese geschönten Berichte eigentlich lesen?
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck,
dass der Bundesregierung, aber auch einigen Ministerpräsidenten der Osten einfach lästig geworden ist. Die
Diskussion über die Abschaffung des 3. Oktober als
Feiertag ist dafür nur ein Beispiel. Ich kann mir gut vorstellen, was dem Kanzler, als er dies vorgeschlagen hat,
durch den Kopf gegangen sein muss: Am
15. Hochzeitstag will er nicht mehr an die Hochzeit und
die Braut erinnert werden. Es ist schon schlimm genug,
dass er so viel Geld zahlen muss.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Scheffler?
Ja, bitte schön.
Frau Kollegin Lötzsch, Ihnen ist offensichtlich entgangen, dass der zuständige PDS-Minister in Mecklenburg-Vorpommern insbesondere die dortige wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre in sehr blumiger
Sprache hervorgehoben hat. Er hat betont, wie viele Arbeitsplätze in Mecklenburg-Vorpommern entstanden
sind und wie positiv sich unter dieser Regierung der
Tourismus und die Schiffbauindustrie entwickelt haben.
Das ist das Gegenteil dessen, was Sie uns hier vortragen.
({0})
Herr Kollege Scheffler, Sie haben keine Frage gestellt, sondern eine Bemerkung gemacht. Trotzdem will
ich gern darauf eingehen.
Selbstverständlich sind unter der Regierung in Mecklenburg-Vorpommern, an der die PDS beteiligt ist, wesentliche Fortschritte erreicht worden.
({0})
Aber Sie können doch nicht leugnen, dass die Arbeitslosigkeit im Osten ungeheuer hoch ist.
Wenn Sie sich hier nur einmal im Saal umschauen,
dann werden Sie feststellen: Die Kollegen aus dem Westen, die jetzt angereist sind, sind für den nächsten Tagesordnungspunkt da, nämlich für den Verkehrswegeplan.
Schauen wir auf die Regierungsbank. Wer sitzt dort? Da
sitzen der hochverehrte Kollege Stolpe, der Kollege
Schwanitz und noch zwei Staatssekretäre, die mir persönlich sympathisch sind, aber da sitzt kein weiteres
Mitglied der Bundesregierung. Ich frage mich natürlich
auch: Warum spricht der Bundeskanzler niemals zum
Stand der deutschen Einheit?
({1})
Er hat es zur Chefsache erklärt, aber er spricht nicht
dazu.
({2})
Mit dieser Antwort können Sie nach Hause gehen und
dort in Ruhe darüber nachdenken.
Meine Damen und Herren, es ist doch deutlich geworden: Der Osten ist vielen lästig geworden. Ohne Frage:
Die Transferzahlungen in den Osten sind beträchtlich.
Für viele Menschen in Ost und West ist der Solidarbeitrag eine zusätzliche Last. Aber nehmen wir einmal an,
Sie würden die Transferleistungen nach Ostdeutschland
noch heute einstellen und die Ossis würden dazu
nichts sagen. Was würde passieren? Als Erster würde
Herr Rogowski vom Bundesverband der Deutschen Industrie, als Zweiter Herr Hundt von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und vielleicht
als Dritter Herr Stoiber aufjaulen. Warum? Der Solidarpakt ist doch kein Geschenk des Westens an den Osten.
Er ist das größte steuerfinanzierte Konjunkturprogramm
der Bundesrepublik Deutschland. Damit werden Arbeitsplätze und Aufträge gesichert - in Ost und West.
Wer am Solidarpakt rüttelt, der rüttelt an der schwächelnden Konjunktur.
({3})
Da die Konjunkturdiagramme von der Regierung und
der konservativen Opposition wie Götzenbilder angebetet werden, habe ich keine ernsthaften Sorgen um das
Fortbestehen des Solidarpaktes. Diejenigen aber, die den
Solidarpakt infrage stellen, sind zahnlose Tiger, die glauben, die Ostdeutschen auf diese Weise gefügig machen
zu können.
Natürlich verstehe ich Herrn Eichel. Er braucht Geld
für einen ausgeglichenen Haushalt; darum macht er auch
absurde Vorschläge. Wir als PDS haben da einen solideren Vorschlag - er sichert den 3. Oktober als Feiertag
und bringt zusätzlich 5 Milliarden Euro in die Kasse -:
Verzichten Sie auf die Absenkung des Höchststeuersatzes von 45 auf 42 Prozent ab dem 1. Januar 2005 und
Sie haben im nächsten Jahr rund 5 oder 6 Milliarden
Euro mehr in der Kasse! Damit könnte man sogar fünf
weitere Feiertage finanzieren. Aber das wollen wir gar
nicht. Besser wäre es, zum Beispiel das Kindergeld zu
erhöhen. Das kurbelt die Binnennachfrage an und bringt
mehr Steuereinnahmen in die Kasse.
({4})
Ich denke, der Zeitpunkt und auch der Verlauf dieser
Debatte haben gezeigt, dass die Behauptung des Bundeskanzlers, der Osten sei Chefsache, nicht zutreffend ist.
Ich schlage vor, Sie alle unterstützen meinen Vorschlag,
dass der Bundeskanzler den Bericht zur Deutschen Einheit im nächsten Jahr persönlich hier vorträgt.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wer sich heute
Abend in der Debatte alles aufschwingt, Stararchitekt
der deutschen Einheit zu sein. Damals war die linke
Seite des Parlaments Zaungast. Sie standen draußen an
der Schaufensterscheibe und haben gekrittelt gegen all
das, was CDU und CSU zusammen mit der FDP zustande gebracht haben. Ich bin schon überrascht, wie Sie
jetzt reden.
({0})
Ich freue mich aber, dass Herr Minister Stolpe diese
Debatte genutzt hat, um ein Stück Würde einzubauen.
Mit Mut und Besonnenheit, aber auch mit einem unbändigen Willen zur Freiheit haben die Menschen in der
ehemaligen DDR den Eisernen Vorhang, der Europa geteilt hat, zerstört und die menschenverachtende Mauer,
die unser Vaterland geteilt hat - mitten durch Berlin -,
niedergerissen.
({1})
Wir haben den 15. Jahrestag dieses epochalen Ereignisses vor zwei Tagen würdig gefeiert. Ich hoffe, dass
Sie sich in diesen Reigen einbringen können; ich habe
nicht sonderlich viel davon gehört.
({2})
Ich kann nur sagen: Unsere Fraktion, die CDU/CSU, ist
stolz darauf, was unsere Landsleute vor 15 Jahren für
Demokratie und Freiheit in Deutschland vollbracht haben. Wir sind auch stolz darauf, welche Aufbauleistungen in Ostdeutschland in einer Generation, binnen
15 Jahren, realisiert worden sind. Aber es kann einen
manchmal ärgern und es können sich einem die Nackenhaare aufstellen, wenn man im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen in Talkshows mit ansehen muss, wie die Arbeit derer, die in dieser Zeit politisch verantwortlich waren, klein geredet wird und wie die Entscheidungen, die
von der Dynamik der Straße geprägt waren, mit einem
Male kritisiert und die damals handelnden Akteure desavouiert werden.
Unser Altbundeskanzler Helmut Kohl ist wahrlich
der Stararchitekt der deutschen Einheit. Er hat es einfach
nicht verdient, in der Öffentlichkeit so behandelt zu werden, wie es am letzten Sonntag in der uns allen bekannten Talkshow im ersten Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geschehen ist. Wir müssen ihn einfach
in Schutz nehmen. Das, was da abgelaufen ist, war schäbig.
({3})
Ohne eine solche europäische Führungspersönlichkeit
wäre die politische Einigung mit den Siegermächten nie
so souverän zustande gekommen.
Ich möchte noch eines sagen: Die Dynamik der Straße
war ein ganz entscheidender Punkt. Es wird gesagt,
dass die Wirtschafts- und Währungsunion am
30. Juni 1990 viel zu früh kam und dass der Umtauschkurs - er betrug übrigens eins zu zwei - viel zu schwach
angelegt war. Ich glaube, dass es notwendig war, zu handeln, und diese Regierung hat gehandelt nach dem
Motto: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie
nicht, gehen wir zu ihr. Die Flüchtlingslager in den alten
Bundesländern, in Westdeutschland, waren völlig überladen. Wie hätte man denn 17 Millionen Ostdeutsche in
diesem Land integrieren können? Das war genau die
richtige Entscheidung. Dadurch wurden das Vertrauen,
die Kaufkraft und die Binnenkonjunktur gestärkt.
({4})
Dass Ihnen auf der linken Seite dieses Hauses das
nicht passt, kann ich mir schon vorstellen. Der Traum
der Zweistaatlichkeit, die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und der Traum von der sozialistischen
Alternative auf deutschem Boden sind wie eine Seifenblase zerplatzt.
({5})
Frau Präsidentin, mit Verlaub: Das geschah mit dem Segen des Himmels und das ist auch gut so.
({6})
Wie sieht es nun 14 Jahre nach der Wiedervereinigung im Jahre sechs von Rot-Grün mit der Entwicklung
in den neuen Bundesländern aus? Wir haben gehört,
dass der Osten aufholt. Ich denke, in vielen Bereichen ist
das richtig. Diese Tendenz ist aber nur im verarbeitenden
Gewerbe zu verzeichnen. Allerdings ist das nicht unbedingt das Verdienst von Herrn Minister Stolpe. Wir haben damals schon gesagt, dass Schwerpunkte geschaffen
werden müssen und dass sich Cluster bilden müssen, wo
sich Universitäten befinden. Wo es außeruniversitäre
Forschung gibt und wo Industrieunternehmen angesiedelt sind, die Know-how besitzen, muss etwas entwickelt werden; das ist völlig klar. Die Produktentwicklung
darf aber nicht erfolgen, um einen Verdrängungswettbewerb durchzuführen, sondern, um neue Märkte zu erschließen. Nur so kann man Devisen generieren, nur so
kann man Wertschöpfung in den neuen Bundesländern
schaffen und nur so können wir die Wirtschaft dort wieder ankurbeln. Das muss aber in die Realität umgesetzt
werden und darf nicht nur auf dem Papier stehen.
({7})
Wer sich mit einer Wachstumsrate von 0,2 Prozent
begnügt, der muss seine Ansprüche bei einer Arbeitslosenquote von immerhin noch 18,5 Prozent schon relativ
weit herunterschrauben. Das ist kein guter Weg. Der
Kollege Vaatz hat das vorhin in seiner Rede zum Ausdruck gebracht. Wer für schlappe 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum den Tag der Deutschen Einheit wieder
in einen stinknormalen Arbeitstag umwandeln will, der
braucht sich nicht zu wundern, wenn die Menschen in
Ostdeutschland die Hoffnung verlieren, dass der Aufbau
Ost wirklich noch Chefsache ist. Die Bundesregierung
hat dies möglicherweise schon längst aufgegeben. Deshalb brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass
Werner Kuhn ({8})
nach Umfragen 20 Prozent der Menschen sagen, die
Mauer müsse eigentlich wieder aufgebaut werden. Das
ist ein schlechtes Ergebnis Ihrer Regierungsarbeit. Das
muss sich verbessern. Es muss auch mental, also in den
Köpfen, klar werden, dass wir ein Volk sind, dass wir die
Wiedervereinigung wollen und dass wir diese schwere
Aufgabe gemeinsam schultern werden.
({9})
Es gab große Wanderbewegungen; das ist völlig klar.
Wir hören immer nur, dass jedes Jahr 118 Milliarden
Euro an Transferleistungen von West nach Ost fließen
müssen, während der Osten aufgrund seiner eigenen
Steuerkraft gerade einmal 33 Milliarden Euro erwirtschaftet.
({10})
Nun überlegen Sie doch einmal, wohin nach 1992, als
die Sozialpläne in den von der Treuhand verwalteten
VEBs in Kraft getreten sind, die gut ausgebildeten, relativ jungen Leute, denen gemäß dem Sozialplan zuerst
gekündigt werden musste, und die Älteren, die schlecht
auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln waren, gegangen
sind. Sie haben natürlich eine Alternative gesucht. Sie
sind jetzt im Maschinenbaubereich als gute Facharbeiter,
im Elektrobereich als Ingenieure und in der Hotellerie
und im Gaststättenwesen tätig. Sie sind in der Bundesrepublik geblieben, aber nicht in den neuen Bundesländern, sondern in den alten. Dort verdienen sie gut und
zahlen ihren Beitrag zur Rentenversicherung und zur
Krankenversicherung und alle anderen Solidarbeiträge.
Davon steht kein Wort in Ihrem Bericht. Auch diese
Leistungen sind letztendlich von den Ostdeutschen vollbracht worden.
({11})
Da stimmt der Generationenvertrag noch. Ihre Altvordern sind zu Hause und zahlen einen Solidarbeitrag, damit sie ihre Rente bekommen.
In Talkshows oder Zeitungsüberschriften zum Thema
deutsche Einheit wird das oft anders dargestellt. Herr
Eichel sagt, an unserem Desaster in Deutschland seien
die Kosten der deutschen Einheit schuld; sie hätten zu
der hohen Neuverschuldung geführt. Deshalb kämen wir
auf keinen grünen Zweig. Ich sage Ihnen: Nicht die Kosten für die deutsche Einheit sind der Grund, sondern die
Kosten von 40 Jahren real existierender sozialistischer
Misswirtschaft. Diese Hypothek wollen wir aber tragen.
({12})
Herr Stolpe, ich will noch einmal auf Folgendes hinweisen - das mache ich in den Debatten öfter -: Sie
müssen darauf achten, nicht nur die Innovationen von
Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern, SachsenAnhalt oder Sachsen hervorzuheben. Sie müssen auch
die existierenden Betriebe im Blick haben. Die Bestandspflege ist sehr wichtig. Die Auftragslage im Binnenmarkt muss sich unbedingt verbessern. Die potenziellen Auftraggeber müssen finanziell wieder in die Lage
versetzt werden, Aufträge auslösen zu können. Dabei
spielt die öffentliche Hand eine sehr große Rolle. In den
Kommunen sind diesbezüglich noch genügend Aufgaben zu erledigen, egal ob es Straßen, Schulen oder Krankenhäuser sind, die hergerichtet werden müssen. Hier
müssen ganz gezielt Investitionsprogramme aufgelegt
werden. Ich sage Ihnen auch, wie.
Wir haben Ihnen gesagt, dass die Hartz-IV-Reformen
in Ostdeutschland einen riesigen Kaufkraftverlust mit
sich bringen werden. Von der Bundesregierung soll jedes
Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden, um
diesen Kaufkraftverlust auszugleichen. Wollen Sie den
Leuten dieses Geld direkt auszahlen? Ich bin dafür, ein
Investitionsprogramm aufzulegen. Für die Kosten sollen zu 50 Prozent der Bund und zu 50 Prozent die Kommunen aufkommen. Auf diese Weise würde Bewegung
in die Gesamtwirtschaft kommen. In Ihrem Vortrag, Herr
Stolpe, haben mir einfach die Visionen gefehlt. Wir müssen raus aus dem Teufelskreis
({13})
von Abwanderung, negativer demographischer Entwicklung und Überschuldung unserer Haushalte.
Sie haben erklärt, dass die Reform der Gemeindefinanzen die Lage der Kommunen verbessern wird und
wieder investiert wird. Bitte schön, probieren Sie es aus.
Ich habe einen Vorschlag gemacht. Aber ich bin dagegen, dass durch die Abwanderung eine immer stärkere
Zentralisierung der weichen Standortfaktoren stattfindet,
das heißt, Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten nur
noch in Mittel- oder Oberzentren angesiedelt werden.
Wir müssen aufpassen, dass das flache Land nicht an Attraktivität verliert und unsere kleineren Städte und Gemeinden, wo sich viele Menschen zu Hause fühlen, bei
diesem Prozess nicht hinten herunterfallen. Die Menschen fühlen sich aber von dieser Bundesregierung verlassen.
({14})
Alles in allem ist die Situation keineswegs so befriedigend, wie Sie es vorhin dargestellt haben. Ich halte es
für ein Riesenproblem, dass es bezüglich der Wirtschaftsförderung ein Wirrwarr an Fördermaßnahmen
gibt. Auch von der Bundesregierung offerierte Unterstützungsleistungen wie Existenzgründungsprogramme der
Mittelstandsbank, Förderung von Gründer-ServiceAgenturen oder Gründer-Coaching brachten bis dato
nicht den gewünschten Erfolg.
Unser Ausschuss hat gemeinsam mit der Kreditanstalt
für Wiederaufbau eine interessante Sitzung durchgeführt. Das Grundproblem ist, dass die ostdeutschen Unternehmen nach wie vor zu wenig Eigenkapital haben.
Hier müssen die Fördermaßnahmen der Bundesregierung ansetzen. Herr Stolpe, die Programme zur Gewährung von Mezzanin-Krediten mit Haftungsfreistellung
für die Hausbanken müssen endlich Anwendung finden.
Es reicht nicht, wenn dies nur auf dem Papier steht. Die
Binnennachfrage ist tot. Die Menschen geben kein Geld
Werner Kuhn ({15})
aus, weil sie auf Ihre Reformen warten. Das ist ein strukturelles Problem. Keiner weiß, was er in Zukunft für
seine Rente oder im Gesundheitsbereich privat leisten
muss.
Die Unternehmen warten auf die Belebung des Binnenmarktes. Nur wenn Nachfrage vorhanden ist, können
sie Investitionen in Angriff nehmen. Erst dann können
Arbeitsplätze, die dringend notwendig sind, entstehen.
Hier müssen Aktivitäten entwickelt werden. In den
neuen Bundesländern fehlen 3 000 kleine und mittelständische Unternehmen. Wir haben 1,6 Millionen Arbeitslose und 48 000 offene Stellen. Was Hartz IV zu
leisten hat, ist schon enorm. Da muss eine Unterstützung
erfolgen.
Herr Minister, mich würde schon interessieren, welche Zielvorstellung die Bundesregierung für das
Jahr 2010 hat. Im Bericht zum Stand der deutschen Einheit finde ich keine. Wie viele Arbeitsplätze werden wir
im Jahr 2010 haben? Wie hoch wird unser Bruttoinlandsprodukt sein? Wie hoch werden die Wertschöpfung
und die Kaufkraft sein? All diese Angaben fehlen. In der
gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Situation appelliert der Bundeskanzler an den Patriotismus seiner
Landsleute. Die deutschen Konzerne sollen am Standort
Deutschland produzieren und Arbeitsplätze nicht in Billiglohnländer verlagern. Die Menschen in Ost und West
sollen enger zusammenrücken und die nationale Aufgabe der Reformen schultern.
Herr Kollege, ich unterbreche ungern Ihre temperamentvolle Rede, aber Ihre Redezeit ist bereits überschritten.
Ich halte das nicht nur für völlig verfehlt, unangemessen und untragbar, sondern für ein geniales Ablenkungsmanöver.
Herr Kollege, ich erinnere Sie noch einmal, auch
wenn Sie ignorant sind: Ihre Redezeit ist zu Ende.
Frau Präsidentin, ich bin sofort am Ende. - Das ist nur
hilfloser Aktivismus, ohne eine Vision für ganz Deutschland und unsere Zukunft.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3796 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 15/4163 soll an dieselben Ausschüsse über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
7 a) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/777 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Dirk Fischer ({1}),
Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/461 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Horst Friedrich ({3}), Joachim
Günther ({4}), Daniel Bahr ({5}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/221 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({7})
- Drucksache 15/3843 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Danckert
Werner Kuhn ({8})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({9}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
- Drucksachen 15/2311, 15/2630 Nr. 1.4,
15/3843 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Danckert
Werner Kuhn ({10})
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 15/4133 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Auschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Rechtsausschuss
Auschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auschuss für Tourismus
Zu dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke.
({12})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung stehen
heute eine ganze Reihe von alten Gesetzentwürfen und
ein neuer Entwurf der Koalitionsfraktionen, die sich alle
mit der Verlängerung der Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes befassen. Sie reichen von einer Verlängerung um ein Jahr - das ist der
Vorschlag der Koalitionsfraktionen - bis zu einer Verlängerung bis zum Jahr 2010 bzw. 2019, zum Teil auch verbunden mit der Forderung nach einer Übertragung auf das
gesamte Bundesgebiet. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir
alle in diesem Haus dieses Thema sehr ernst nehmen.
({0})
Ich will die Historie dieses Gesetzes hier nicht im
Einzelnen darstellen, aber doch einige Aspekte betonen.
Mit dem Gesetz ist nach der Wiedervereinigung eine
ganz wesentliche Entscheidung für den zügigen Aufbau
einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Bundesländern getroffen worden. Mit strengen
Fristen für Behörden, vereinfachten Verfahren der Enteignung bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen und der
Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung von Planfeststellungsbeschlüssen auf eine Instanz, nämlich das
Bundesverwaltungsgericht, wurden die Voraussetzungen
für zügige Planungsverfahren geschaffen.
Es war konsequent, diese positiven Erfahrungen mit
dem Gesetz auch für die alten Bundesländer nutzbar zu
machen. Mit dem Planungsvereinfachungsgesetz von
1993 wurden nahezu alle wesentlichen Inhalte des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes in bundesweit geltendes Planungsrecht aufgenommen. Daher
geht übrigens die Forderung nach einer Übertragung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf das
gesamte Bundesgebiet an den Tatsachen weit vorbei.
({1})
Zu den wenigen nur für die neuen Bundesländer noch
geltenden Sonderregelungen gehört insbesondere die
Beschränkung des Rechtsweges für Anfechtungsklagen
gegen Planfeststellungsbeschlüsse oder Plangenehmigungen auf das Bundesverwaltungsgericht.
Das ist auch der wesentliche Grund dafür, dass jetzt
über die anstehende dritte Verlängerung des Gesetzes
diskutiert wird.
Natürlich steht außer Frage, dass ein verkürzter
Rechtsweg beschleunigende Wirkung haben kann, nämlich dann, wenn es zu Anfechtungsklagen kommt.
({2})
Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hat allerdings deutlich gemacht, dass die Vorhabenträger mit den
Einwendungen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
in der Regel sehr sorgfältig umgegangen sind,
({3})
sodass es im Berichtszeitraum kaum zu Verfahren kam,
die durch Urteil beendet werden mussten.
Ich will auch noch einmal an den eigentlichen Grund
für die seinerzeitige Einführung dieser Regelung erinnern. Die neuen Bundesländer verfügten damals nicht
über funktionierende Oberverwaltungsgerichte. Daher
war es konsequent, das Bundesverwaltungsgericht ausnahmsweise auch als Tatsacheninstanz zu bestimmen.
Sie werden ja wohl mit mir konform gehen, dass eine
nicht funktionierende Gerichtsbarkeit heute überhaupt
nicht mehr in Rede steht. Es hat sich einiges verändert.
Daher kann ich die Forderung nach einer Verlängerung bis zum Jahr 2010 oder gar bis zum Jahr 2019 nicht
wirklich ernst nehmen.
({4})
Das hieße nämlich in der Tat, die enormen Fortschritte
und Entwicklungen in den neuen Bundesländern zu negieren, die es dank des Gesetzes beim Aufbau der Infrastruktur, aber eben auch beim Aufbau der öffentlichen
Verwaltung gegeben hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verständnis habe
ich allerdings für den Wunsch der neuen Länder nach einem pragmatischen Übergang vom Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zum bereits im gesamten
Bundesgebiet geltenden Planungsrecht. Deshalb haben
wir uns zu einer nochmaligen Verlängerung des Gesetzes
um ein Jahr entschlossen. Ich will diese Entscheidung
und insbesondere auch die Frist von einem Jahr begründen:
Erstens. Planungsverfahren, für die der Antrag auf
Linienbestimmung noch innerhalb der Gültigkeit des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes gestellt
wird, werden auch nach dem Gesetz zu Ende geführt.
Das wissen Sie. Es macht aber keinen Sinn, dass für
wichtige Projekte, für die dieser Antrag in Kürze ansteht,
jetzt übereilt Unterlagen eingereicht werden, um die
Frist zu wahren, die Unterlagen dann aber unvollständig
oder unzureichend sind. Damit ist nichts gewonnen, das
können wir also auch nicht wollen. Hier wollen wir noch
einmal die Gelegenheit zu sorgfältiger Planungsvorbereitung geben.
({5})
Zweitens. Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz
Deutschland weitere Maßnahmen zur Planungsvereinfachung bei allen Verkehrsträgern zu ergreifen. Diese
Maßnahmen werden natürlich nicht mehr bis zum Auslaufen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes greifen, sondern können erst im Jahr 2005 in Kraft
treten.
Eine erneute Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes ermöglicht also den gleitenden Übergang in ein für ganz Deutschland verbessertes Planungsrecht. Eine Verlängerung bis zum
31. Dezember 2005 halten wir deshalb für angemessen
und ich bitte Sie ganz herzlich, dem Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen zuzustimmen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in den letzten Jahren in Ostdeutschland
gute Erfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz gemacht. Ein langer Name
für kurze Planungszeiten! Wir haben uns vorgenommen, dass Bauen schneller und einfacher werden soll. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir dieses Gesetz angesichts der Erfahrung, dass es keine
Minderung an Demokratie gab, nicht 2004 enden
lassen, sondern dass wir gemeinsam Möglichkeiten
für dessen Fortbestand erarbeiten. Lassen Sie mich
etwas ketzerisch in den Raum stellen: Warum sollen gute Erfahrungen, die wir im Osten gemacht haben, nicht auch für das ganze Land interessant sein?
({0})
So könnte ich meine Rede heute beginnen, aber ich
muss Sie enttäuschen: Ich habe nur unseren Bundesverkehrsminister Dr. Stolpe zitiert, dessen Anwesenheit in
dieser wichtigen verkehrspolitischen Debatte wir eigentlich erwartet haben. Er hat uns aber keinen plausiblen
Grund mitgeteilt, warum er diese Sitzung des Bundestages verlassen musste.
({1})
Ich kritisiere das für die Opposition ausdrücklich.
Herr Stolpe hat die zitierten Äußerungen in der Haushaltsdebatte am 5. Dezember 2002 vorgetragen. So wie
er sich im Parlament geäußert hat, hätte ich eigentlich erwartet, dass er seit 2002 an dem Fortbestand des Gesetzes arbeitet. Es ist aber nichts geschehen. Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz würde nach der
gegenwärtigen Rechtslage in etwas mehr als sieben Wochen auslaufen. Es besteht aber weiterhin ein besonderer
Nachholbedarf der neuen Länder am Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Die Anforderungen an das Verkehrssystem nach der deutschen Wiedervereinigung und der
EU-Osterweiterung sind noch nicht erfüllt. Wie auch in
Ihrem Bericht aufgeführt ist, sind Beschleunigungseffekte um ein bis eineinhalb Jahre durch die Verkürzung
gerichtlicher Verfahren bei erst- und letztinstanzlicher
Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach wie
vor gegeben. Angesichts der gestiegenen Transitfunktion
Deutschlands halte ich es sogar für klug, Lehren aus dieser Strukturveränderung zu ziehen und bei großen Verkehrsprojekten über eininstanzliche Gerichtsverfahren in
ganz Deutschland nachzudenken.
({2})
Begonnene Planungen in den neuen Bundesländern
können zwar nach dem Verkehrswegeplanbeschleunigungsgesetz zu Ende geführt werden, viele wichtige
Großvorhaben der Verkehrsplanung können aber zukünftig nicht mehr davon profitieren. Anträge auf Linienbestimmung für überregionale Verkehrsverbindungen, die erst mit dem In-Kraft-Treten des neuen
Bedarfsplans zum Fernstraßenausbaugesetz am 16. Oktober 2004 in den vordringlichen Bedarf aufgenommen
wurden, können aufgrund des planungstechnischen Vorlaufs nicht mehr rechtzeitig gestellt werden. Es reicht
nicht aus, einen Brief zu schreiben, in dem die Linienbestimmung beantragt wird; es müssen die notwendigen
Planungsunterlagen beigefügt sein.
Viele wichtige Infrastrukturvorhaben sind wegen
der unzureichenden Infrastrukturfinanzierung sogar nur
im weiteren Bedarf vorgesehen, sodass die Planungen
nicht vor 2015 aufgenommen werden können. Investitionen sind für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der
neuen Bundesländer als Wirtschaftsstandorte von herausragender Bedeutung. Es besteht also dringender
Handlungsbedarf.
CDU und CSU haben den Ernst der Lage frühzeitig
erkannt. Unsere Vorschläge liegen bereits seit über anderthalb Jahren vor. Ich meine mich zu erinnern, Kollege
Horst Friedrich, dass die der FDP sogar noch länger vorliegen.
({3})
Nach den Ausführungen Stolpes und den von uns gelieferten Entwürfen stellt sich die Frage, warum es bis
heute keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren in ganz Deutschland gibt. Wo bleibt die Initiative
aus dem Hause Stolpe, die das Außer-Kraft-Treten des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes verhindert bzw. kompensiert? Die Vertreterin der Bundesregierung hat sich so geäußert, als hätte die Bundesregierung
etwas vorgelegt. Von der Bundesregierung ist aber nichts
vorgelegt worden. Es gibt etwas vonseiten der Fraktionen, aber nicht von der Bundesregierung.
({4})
Dirk Fischer ({5})
Wann folgen den auf der Verkehrsministerkonferenz
am 12. und 13. Oktober 2004 in Bad Neuenahr-Ahrweiler geäußerten Worten Taten? Ich zitiere:
Minister Stolpe hat für die nahe Zukunft ein Gesetz
angekündigt, das die Beschleunigung von Planungsund Genehmigungsverfahren unter Berücksichtigung
der Ergebnisse des Länderfachausschusses „Straßenbaurecht“ vom August 2003 bundesweit vorsieht.
Daraufhin haben die Verkehrsminister der Länder fast
einstimmig einen Entschließungsantrag angenommen
und Minister Stolpe aufgefordert, die Geltungsdauer des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum
In-Kraft-Treten des von ihm angekündigten Gesetzes zu
verlängern. Wir haben dies in unserem vorliegenden
Entschließungsantrag textgleich gefordert. Es wird sich
zeigen, welche Werthaltigkeit solche Ankündigungen
haben oder ob sie nur Schall und Rauch sind.
({6})
Das Problembewusstsein ist bei Stolpe seit Ende 2002
- ich habe ihn zitiert - vorhanden. Auch positive Erfahrungen hat er als Ministerpräsident über viele Jahre
gewonnen. Warum verzögern Sie unabdingbare Infrastrukturvorhaben und damit die Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an die in Westdeutschland? Warum dulden Sie zusätzlichen Verwaltungsaufwand und höhere Kosten?
Auch der mit heißer Nadel gestrickte Gesetzentwurf
der Koalitionsfraktionen bringt die neuen Bundesländer
nicht weiter.
({7})
Herr Kollege Dr. Danckert, während der Beratungen im
Verkehrsausschuss hielten SPD und Grüne die Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes für unnötig. Ich frage mich deshalb, warum Sie jetzt
eine Verlängerung von einem Jahr vorsehen. Die Bundesregierung sollte doch - so stand das einmal in Ihrem
Entschließungsantrag - „Vorschläge für eine gesetzgeberische Umsetzung“ vorlegen. Da aber nichts Belastbares
herausgekommen ist, blieb Ihnen vorgestern nur noch
Zeit für ein Plagiat, das aber leider schlecht ist.
({8})
Es handelt sich um eine fehlerhafte Kopie, in der die
Formulierung „bis 2019“, also eine Verlängerung bis
zum Auslaufen des Solidarpaktes II, wie von Bundesrat
und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt, in
„bis 2005“ umgefälscht wurde. In einem Ihrer anderen
Entwürfe war noch von 2006 die Rede. Sie haben also
den Zeitraum für die Verlängerung noch einmal um ein
Jahr verkürzt.
({9})
Eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2005 reicht
nicht aus; denn kaum ist dieses „Magerprogramm“ beschlossen, herrscht schon wieder Zeitdruck. So können
die neuen Bundesländer nicht sinnvoll planen. Wir brauchen unverzüglich ein Gesetz, das eine Verlängerung der
Geltungsdauer für die neuen Bundesländer - wie der
Bundesrat und die Bundesländer das fordern - wenigstens bis zum Wirksamwerden eines bundeseinheitlichen
Gesetzes vorsieht. Eine solche Gesetzesinitiative zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren ist von der Bundesregierung unverzüglich zu erarbeiten. Auch dies gehört zum Fitnessprogramm für den
Standort Deutschland. Nur so können wir unsere Aufgaben im Herzen Europas erfüllen.
({10})
Abschließend: Noch ist es nicht so weit - das hätte
ich dem anwesenden Minister gerne zugerufen -, dass
wir ihn, salopp gesagt, in Ruhe lassen können, was er
sich - nach seinen Äußerungen in einem Interview in der
„Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom
31. Oktober 2004 - am allermeisten wünscht. Wir müssen vielmehr verlangen, dass alle Möglichkeiten ergebnisoffen geprüft werden, auch eine Ausdehnung der erstund letztinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts auf die alten Bundesländer, was für diese
neu wäre. Um im Gegensatz die Werthaltigkeit Ihrer
heutigen Ankündigungen zu überprüfen, bleibt dem Plenum des Deutschen Bundestages nur die Möglichkeit,
dem Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag von
CDU und CSU zuzustimmen.
({11})
Herr Kollege Fischer, mir wurde soeben mitgeteilt,
dass der Minister zu einer Sitzung des Haushaltsausschusses musste.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Fischer, Ihre Aufregung über die Wertschätzung, die der Bundesverkehrsminister in der letzten
Phase der entscheidenden Haushaltssitzung den Haushältern sowie dem Bundeshaushalt und insbesondere
dem Verkehrshaushalt entgegenbringt, können Sie sich
schenken, genauso wie Ihre künstliche Aufregung über
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich
werde Ihnen erklären, warum.
({0})
- Da Herr Fischer sich nicht abregt, warte ich noch ein
bisschen, bis ich meine Rede fortsetze.
({1})
Albert Schmidt ({2})
Wir debattieren, und zwar in aller Ruhe und ohne
Schaum vor dem Mund, heute über ein Gesetz, dessen
Name wie die Rede des Kollegen Fischer im Grunde
eine Suggestion ausdrückt: das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Lassen Sie uns einen Moment
darüber nachdenken, was dieses Gesetz eigentlich noch
beschleunigt. In Wahrheit geht es - das hat die Frau
Staatssekretärin völlig richtig ausgeführt - allein um die
Verkürzung des Instanzenweges für beklagte Verkehrsplanungen auf die erste und letzte Instanz Bundesverwaltungsgericht; denn alle anderen Beschleunigungsmaßnahmen, die dieses Gesetz vorsieht, sind schon 1993
umgesetzt - das müssten Sie doch eigentlich wissen; damit hatten Sie doch etwas zu tun - und in das allgemeine
Planungsrecht, das für das ganze Land gilt, übernommen
worden. Das kann man also gar nicht mehr anders in
Kraft setzen.
({3})
Herr Kollege Fischer, durch dieses Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz wird keine einzige Planung
auch nur um einen einzigen Tag beschleunigt - im Gegenteil.
Jetzt wollen wir einmal darüber reden, was Planungen
wirklich verlängert und verzögert.
({4})
Da fallen mir ganz andere Dinge ein: Das sind nicht nur
Möglichkeiten, sondern auch Erfahrungen. Zum Beispiel
fällt auf, dass die Mittel nicht auf realistische Projekte
konzentriert werden, sondern dass nach dem Gießkannenprinzip - überall ein bisschen - finanziert wird.
({5})
Es fällt auch auf, dass die Planungen in den Ländern
nicht sorgfältig genug durchgeführt werden. Darüber hinaus fällt auf, dass Verkehrsinvestitionen gekürzt werden, weil wieder Geld für die Rente oder für einen allgemeinen Sparbeitrag eingesammelt werden muss. Das
und nicht das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz sind die wahren Gründe für Verzögerungen.
({6})
Herr Kollege, es gibt einen Erfahrungsbericht der
Bundesregierung vom Dezember 2003, der uns allen
vorliegt. Darin steht wörtlich:
Die von den einzelnen Vorhabenträgern übermittelten Daten zu den Planfeststellungs- und Plangenehmigungsverfahren zeigen für den Berichtszeitraum
1. Januar 2000 - 31. Juli 2003 durchschnittliche
Verfahrensdauern. … Die Daten lassen nach Aussagen der Vorhabenträger keine Unterschiede zu Verfahren erkennen, bei denen die Regelungen des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes nicht
zur Anwendung kamen.
Das heißt, in den letzten drei Jahren gab es in Bezug auf
die Planungsdauer keine signifikanten Unterschiede.
Weiterhin wird in diesem Bericht daran erinnert - das
hat die Staatssekretärin zu Recht ausgeführt -, dass der
Grund für die Beschränkung auf die eine Instanz im
Bundesverwaltungsgericht zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes 1991 darin bestand, dass sich die
Verwaltungsgerichtsbarkeit im Osten Deutschlands
noch im Aufbau befand. Dieser Grund sei - so steht es
ebenfalls im Bericht - heute entfallen. Genau so ist es.
Dort gibt es heute eine flächendeckende Oberverwaltungsgerichtsbarkeit.
Auch im Eckpunktepapier des Bundesverkehrsministeriums „Bauen einfacher machen“ vom 7. Oktober 2004
heißt es, dass die wahren Verzögerungen andere Gründe
haben, zum Beispiel die verspätete Anmeldung von
FFH-Gebieten, also von Schutzgebieten nach der
Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, durch die Länder. Bei
diesen Verspätungen ist übrigens Bayern Spitzenreiter.
In diesem Eckpunktepapier heißt es wörtlich:
Die noch verbliebenen Regelungen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetze werden dieser Entwicklung gerade nicht entgegenwirken können.
Wenn die Länder ihren Pflichten der Anmeldung von
FFH-Gebieten nicht nachkommen, dann kann nicht zu
Ende geplant werden. Da helfen auch zehn Beschleunigungsgesetze nichts.
({7})
Der Präsident des - nach Ihrem Willen bis 2019 für
ganz Deutschland allein zuständigen - Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, Eckart Hien, zog bei einem
Expertengespräch der SPD-Bundestagsfraktion zu dem
Thema, das uns heute beschäftigt, folgendes Fazit:
Die Verlängerung der Zuständigkeit
- gemeint ist die Alleinzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ist sachlich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlich
bedenklich.
Eine Ausdehnung dieser Zuständigkeit auf das gesamte Bundesgebiet dürfte eindeutig verfassungsrechtlich unzulässig sein;
sie wäre auch rechtspolitisch verfehlt, weil die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Länder ohne tragfähigen Grund geschwächt würde und weil in einem so
wichtigen Rechtsgebiet eine rechtliche Kontrollinstanz ({8}) sowohl zur Fortentwicklung des Rechts als auch zur Gewährung eines
ausreichenden Rechtsschutzes notwendig erscheint.
Damit ist klar: Verfassungs- und verwaltungsrechtlich ist
das alles hochproblematisch.
Uns liegen verschiedene Anträge zur Verlängerung
der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes vor. Die FDP will
die Gültigkeitsdauer bis 2010 verlängern und die Union
sogar - nach dem Motto „Wer bietet mehr?“ - bis 2019.
Die Union möchte, dass es bis 2019 ein Sonderrechtsgebiet Ost und damit ein zwischen West und Ost gespalteAlbert Schmidt ({9})
nes Recht gibt. Das ist die Rechtsauffassung der Retter
des Nationalfeiertages.
({10})
Dazu kann ich nur sagen: Das ist alles Unfug.
Wir gewährleisten hier - das ist vernünftig -, dass
kein Dezemberfieber ausbricht und dass vor dem Ablaufen der Gültigkeitsdauer des Gesetzes schnell noch
schlampige, also nicht ausreichend sorgfältig ausgearbeitete Planungen eingereicht werden, um noch davon
zu profitieren, dass der Instanzenweg auf das Bundesverwaltungsgericht beschränkt ist. Das muss verhindert
werden. Deswegen ist die Verlängerung um ein Jahr
sinnvoll. Sie ist zielführend, weil damit ein übertriebener
Zeitmangel, aber auch eine übertriebene Verlängerung
einer Ausnahmerechtssituation bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vermieden wird.
Wir brauchen letztlich keine Verkürzung von Rechtswegen, um Verkehrswege in Deutschland schneller planen und bauen zu können. Wir brauchen in erster Linie
eine verantwortliche Bürgerbeteiligung einschließlich
aller Instanzen.
Die Erfahrung zeigt - das sagt auch Herr Hien vom
Bundesverwaltungsgericht Leipzig -: In 95 Prozent aller
Fälle, die überhaupt beklagt werden, reicht eine Instanz;
nur 5 Prozent gehen überhaupt in die nächste Instanz,
zum Bundesverwaltungsgericht.
Herr Kollege, auch Sie darf ich an die Redezeit erinnern.
Ich komme zum letzten Satz. - Von daher ist die Arbeit eines Oberverwaltungsgerichts, das ortsnah ist, das
Ortstermine schnell und mit größerer Sachkenntnis organisieren kann, der richtige Weg. Das ist die Erfahrung,
die wir gemacht haben und die auch in verschiedenen
Berichten niedergelegt ist. Danach haben wir gehandelt.
Alles andere ist ideologische Schaumschlägerei.
({0})
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Dass nun ausgerechnet die Partei, die
beim Gesetzgebungsverfahren zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz mit Schaum vor dem Mund
die Bedenken durch das Land getragen hat und von Beschneidung der Bürgerrechte sowie katastrophaler Verkehrswegeplanung gesprochen hat, bei der Verteidigung
dieses Gesetzes uns Ideologie vorwirft, ist schon erstaunlich.
({0})
Wenn am 9. November 2004 ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, der der Zustimmung des Bundesrates bedarf
- dazu muss man wissen, dass die letzte Sitzung des
Bundesrates in diesem Jahr am 17. Dezember stattfindet -, dann kann das nur wieder ein Gesetzgebungsverfahren im Schweinsgalopp werden - mit allen offenen
Fragen - oder von vornherein das Eingeständnis sein:
Wir haben irgendwo die Notbremse gezogen; wir wussten uns nicht mehr anders zu helfen. Das zeigt, dass man
eben nicht ein geordnetes Gesetzgebungsverfahren zur
Lösung all dieser Fragen auf den Weg bringen möchte.
({1})
Der Kollege Dirk Fischer hat schon darauf hingewiesen: Unser Vorschlag, Herr Kollege Beckmeyer, ist vom
18. Dezember 2002. Die Kollegen der Union haben im
Februar 2003 einen Gesetzentwurf vorgelegt, fast gleich
lautend mit einem Gesetzentwurf des Bundesrates. Sie
haben dagegen bis vorgestern gebraucht, um wenigstens
einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vorzulegen; wahrscheinlich wollten Sie sich nicht auch noch die
Zeit für die Stellungnahme des Bundesrates aufbürden
lassen.
Ihr Gesetzentwurf bleibt allerdings die Antworten auf
die wesentlichen Punkte des Erfahrungsberichts schuldig. Was muss ich denn daraus entnehmen, wenn es im
Einleitungsteil heißt: „Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz Deutschland weitere Maßnahmen zur Planungsbeschleunigung und -vereinfachung und Verbesserung des Verfahrensmanagements zu ergreifen“? Wo
sind denn Ihre konkreten Vorschläge dazu? Seit 2003
versprechen Sie den Länderverkehrsministern Vorschläge dazu. Nichts davon steht im Gesetzentwurf,
nichts.
({2})
Das eigentlich Entscheidende in Ihrem eigenen Erfahrungsbericht ist - das widerlegt all Ihre Bedenken vom
Beginn der Debatte 1991/92 -, dass selbstverständlich
sorgfältig damit umgegangen wird, aber jetzt zu erkennen ist, dass durch Umweltvorschriften, überwiegend
solche der EU, das, was man durch Verfahrensverkürzungen an Zeitersparnis erreicht hat, mittlerweile aufgefressen zu werden droht.
({3})
Herr Kollege Schmidt, aus dem Punkt 3.2 „Beschränkung des Rechtsweges auf eine Instanz“ in der Zusammenfassung in der Unterrichtung durch die Bundesregierung ist die Aussage zu zitieren, dass eine Verkürzung
des Rechtswegs auf eine Instanz eine Beschleunigung
Horst Friedrich ({4})
des gerichtlichen Verfahrens um circa ein bis eineinhalb Jahre bringen wird.
({5})
Das ist genau die Zeit, um die es geht und um die das
Verfahrensbeschleunigungsgesetz dem Planungsvereinfachungsgesetz immer noch überlegen ist. Über diese
Zeit müssen wir reden.
({6})
- Natürlich. Ich habe es Ihnen gerade vorgelesen. Oder
leugnen Sie, dass das in dem Erfahrungsbericht steht?
({7})
- Aber hundertprozentig steht das darin.
Im Übrigen steht darin - auch das widerlegt Ihre Aussagen zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens -, dass
man ordentlich damit umgeht. Sie bestätigen selbst, dass
95 Prozent der Fälle nicht zum Gericht gehen. Warum
wehrt man sich dann dagegen, dass die Regelung mit
dem einen Instanzenzug auf das ganze Bundesgebiet
ausgedehnt wird?
({8})
Unser Gesetzentwurf vom 2. Dezember 2002 sieht
vor, Herr Kollege Schmidt, dass die Geltungsdauer nicht
einfach bis 2010 verlängert wird, sondern dass die Regelung auch auf beide Teile Deutschlands ausgedehnt wird
und dann untersucht wird, ob das verfassungsrechtlich,
planungsrechtlich und von der Abwicklung der Verfahren her funktioniert. Genau das steht in unserem Entwurf. Damit haben Sie sich bisher offenbar nicht befasst.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schmidt?
Natürlich, immer.
Herr Kollege Friedrich, wollen Sie hier allen Ernstes
vorschlagen, dass ein einziges Gericht, nämlich das
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, in diesen Fragen die Verwaltungsgerichtsbarkeit für das gesamte
Bundesgebiet übernehmen soll, dass es also die Alleinzuständigkeit eines einzigen Gerichts für sämtliche Verfahren in der ganzen Republik geben soll? Ist Ihnen bewusst, dass gerade dazu der Präsident des von Ihnen
beglückten Bundesverwaltungsgerichtes ausgeführt hat,
er müsse dann mehrere zusätzliche Senate einrichten,
weil sonst die Arbeit gar nicht zu bewältigen wäre?
({0})
Herr Kollege Schmidt, offensichtlich machen Sie das,
was Sie anderen vorwerfen, selbst auch. Sie regen sich
nämlich auf, bevor Sie alles gehört haben. Ich habe wörtlich aus dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung
Punkt 3.2 zitiert:
Im Vergleich mit Verfahren, die in den alten Ländern geführt werden, dürfte die Verkürzung des
Rechtsweges auf eine Instanz
({0})
eine Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens
um ca. 1 bis 1½ Jahre bringen.
({1})
- Er hört noch nicht einmal zu, wenn man antwortet.
Warum sollte ich Ihnen überhaupt noch antworten, Herr
Kollege Schmidt, wenn Sie sowieso alles besser wissen?
({2})
Ich habe in all meinen Begründungen zu unseren Gesetzentwürfen gesagt, dass ich es in Kauf nehmen würde,
wenn das dazu führte, dass ein zweiter Senat beim Bundesverwaltungsgericht etabliert werden müsste. Dafür
fielen bei sämtlichen Oberverwaltungsgerichten die Verkehrssenate weg.
({3})
Wo gäbe es da eine Mehrung von Bürokratie - um auch
den anderen Zwischenruf noch zu beantworten? Man
kann sich gerne darüber streiten, ob es Sinn macht. Nur
wenn von den planfeststellenden Behörden mit den
Rechten der Bürger bei diesen Fragen so verantwortungsbewusst, wie es die Bundesregierung in ihrem eigenen Erfahrungsbericht dokumentiert hat, umgegangen
wird, dann sollte man meiner Meinung nach die Chance
nutzen und in einem Versuch bis 2010 testen, ob eine
solche Verkürzung des Instanzenweges funktioniert. Dafür könnte man auch die Einrichtung eines zweiten Senates beim Bundesverwaltungsgericht in Kauf nehmen.
Darüber können wir uns gerne streiten; dazu mögen unterschiedliche Auffassungen bestehen.
({4})
Das Problem, vor dem ich stehe, ist, dass Sie offensichtlich die Situation nicht ernst nehmen. Ich fürchte,
dass Sie über den Umweg des EU-Umweltrechtes versuchen werden, die Vereinfachungen, die wir mit dem
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Planungsrecht umgesetzt haben, rückgängig zu machen,
Horst Friedrich ({5})
({6})
nämlich zügigere Verkehrsplanungen zum Wohle aller.
Es muss doch zu denken geben, Herr Kollege Schmidt,
dass Sie hier gerade Bayern als Beispiel zitiert haben.
Sie sollten doch eigentlich wissen, dass das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz in Bayern, abgesehen von drei Ausnahmen, nicht gilt. Bei den drei Ausnahmen handelt es sich um die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ A 9, A 71 und A 73. Sie sind im Wesentlichen bereits abgeschlossen. Was soll also der entsprechende Vorhalt hier? Warum vergießen Sie darüber
Krokodilstränen? Wer auf andere zeigt, sollte sich zunächst einmal überlegen, welche Gesetzgebungsarbeit er
selber zu leisten hat.
Ich bleibe dabei: Ich freue mich, dass mittlerweile
auch die Kollegen von der Union bereit sind, darüber
nachzudenken,
({7})
die Rechtssituation mit dem Bundesverwaltungsgericht
auf die alten Länder auszudehnen.
({8})
Ich stimme Ihnen zu, dass wir kein zweigeteiltes Planungsrecht in Deutschland bis zum Jahr 2019 benötigen.
Da sind wir uns völlig einig.
({9})
Ich bin allerdings ebenso der Meinung, dass eine Verlängerung der geltenden Regelung bis zum Jahre 2005 das
Problem in keiner Weise löst.
({10})
Das Wort hat der Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Aufregung, die hier vonseiten der CDU/CSU und
auch von Herrn Friedrich von der FDP verbreitet wurde,
verstehe ich ehrlich gesagt nicht.
({0})
Angesichts der Geschichte dieses Gesetzes mit dem
monströsen Namen hat wohl keiner hier im Raum
Grund, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen.
({1})
Dieses Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
wurde 1991 unter Ihrer Regierung beschlossen.
({2})
Wissen Sie, mit welcher Geltungsdauer? Bis 1995, also
für vier Jahre. Diese Zeit hatten Sie sozusagen im Blick.
Sie waren der Meinung, dass dieses Gesetz nur vier
Jahre gelten sollte.
({3})
Heute bringen Sie einen Gesetzentwurf ein, der die Geltungsdauer bis zum Jahre 2019 ausdehnt. Wie kann man
mit dem Finger auf andere zeigen, wenn man selbst ein
so widersprüchliches Verhalten an den Tag legt?
({4})
Die Geltungsdauer des Gesetzes ist dann 1995 - das
sage ich, damit wir die historische Wahrheit nicht verdrängen; ich habe ja Verständnis dafür, dass man das
will, aber das sollte man nicht tun - bis 1999 verlängert
worden.
({5})
Daran haben Sie auch mitgewirkt. Nach meiner Erinnerung waren Sie damals an der Regierung. Dann hat sich
herausgestellt, dass weiterer Bedarf bestand. Deshalb haben wir das 1999 zunächst einmal bis zum 31. Dezember
2004 verlängert. Das ist die Situation.
Zwischenzeitlich haben viele Erfahrungen aus diesen
planungsrechtlichen Vorgängen dazu geführt, dass man
ein Planungsvereinfachungsgesetz erarbeitet hat. Daran
haben auch Sie mitgewirkt; Sie haben ja gerade dem
Kollegen Schmidt vorgeworfen, dass er damals vehement dagegen gestimmt hat.
({6})
Aus meiner heutigen Sicht - ich war damals nicht im
Parlament - war es sicherlich eine sinnvolle Maßnahme,
dieses Gesetz zu verabschieden. Planungsvereinfachung ist doch das Gebot der Stunde. Wir wollen unsere
Bürgerinnen und Bürger an den Planungen beteiligen.
Das heißt ja nicht, dass Planungszeiträume von 20 bis
30 Jahren angemessen sind; das kann wirklich nicht die
Lösung sein.
({7})
Von daher war es die richtige Entscheidung, das Planungsvereinfachungsgesetz zu erarbeiten und das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu verlängern. Wir haben die Fristen verkürzt und die Behörden
haben effektiver zusammengearbeitet. Dadurch hat sich
wirklich eine Straffung ergeben, die insbesondere in den
neuen Ländern viel bewirkt hat, weil gerade dort sehr
viele Maßnahmen im Straßenbau, im Wasserstraßenbau
und im Schienenbau erforderlich waren.
Ein weiterer Grund für die damalige Entscheidung
war, dass die Oberverwaltungsgerichte noch nicht eingerichtet waren. Wie ich glaube - vielleicht bin ich da mit
unserem grünen Koalitionspartner nicht unbedingt einer
Meinung -, war es eine weise Entscheidung, die gerichtliche Überprüfung auf eine Instanz zu beschränken. Damit ist der Rechtsstaatsgarantie Genüge getan worden.
Das hat in der Tat zu einheitlichen Entscheidungen geführt. Auch das muss man einmal sehen. Wenn wir das
wieder ändern - das scheint ja in der Debatte zu sein und die Oberverwaltungsgerichte erstinstanzlich entscheiden lassen, dann muss als weitere Stufe das
Bundesverwaltungsgericht die Vereinheitlichung der
Rechtsprechung wiederherstellen. Das ist ein komplizierter Vorgang. Deshalb spricht, glaube ich, viel dafür,
es bei einer Entscheidungsinstanz zu belassen. Ich weiß
nicht, ob nun beim Bundesverwaltungsgericht ein weiterer Senat eingerichtet werden muss oder nicht.
({8})
Die Tatsache, dass es nur eine Instanz gab, hat in den
letzten 15 Jahren dazu geführt, dass wir in diesen Fragen, die insbesondere die neuen Länder betreffen, eine
einheitliche, zügige Rechtsprechung hatten. Lieber geschätzter Kollege Schmidt, wenn wir die Zeiteinsparung
von eineinhalb bis zwei Jahren, die sich durch diese zügige Rechtsprechung ergeben hat, verlieren - das wäre
nämlich der Fall, wenn wir den Instanzenzug von Oberverwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht wiederherstellen würden -, dann ist das eine Planungsverzögerung, die nicht zu akzeptieren ist und die man
niemandem erklären kann. Es geht dann nur noch um die
rechtliche Überprüfung. Wenn die Oberverwaltungsgerichte uneinheitlich entscheiden, dann haben wir an dieser Stelle ein Problem. Von daher sollten wir darüber in
aller Ruhe noch einmal miteinander reden.
({9})
Der Gesetzentwurf, den die FDP eingebracht hat, geht
in eine ganz andere Richtung. Er sieht vor, dass das Planungsrecht gesamtdeutsch angelegt sein soll. Das ist natürlich im Augenblick ein zusätzliches Problem, weil wir
an dieser Stelle verfassungsrechtliche Gesichtspunkte
beachten müssen. Wir wissen ja, was der Präsident des
Bundesverwaltungsgerichtes - er ist eben schon zitiert
worden - dazu gesagt hat. Er hatte - ich will es einmal
vorsichtig ausdrücken - ganz erhebliche Bauchschmerzen, was diesen Vorgang angeht. Nun kann man mit dem
Kopf schütteln und das für bedenklich halten; das ist jedenfalls die Situation.
Wenn wir das resümieren, dann stellen wir fest, dass
wir ganz unterschiedliche Denkansätze gehabt haben.
Deshalb sollten wir in aller Ruhe prüfen, was eigentlich
notwendig ist. Auch wir waren anfangs im Zweifel, ob
eine weitere Verlängerung wirklich erforderlich ist. Wir
haben dann auf die neuen Länder gehört, nicht nur auf
das, was die Verkehrsminister gesagt haben.
({10})
Was haben uns die neuen Länder empfohlen? Wir haben
an dieser Stelle nachgefragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass sehr viele Projekte unter dem Gesichtspunkt
der Linienführung noch nicht so weit sind, dass sie unter
dem jetzt geltenden Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz abgewickelt werden können. Viele wichtige
Projekte in den neuen Ländern, die eine wirtschaftliche
Entwicklung in den neuen Ländern in Gang setzen
würden, wenn sie umgesetzt werden könnten, ließen
sich nach jetzigem Rechtszustand, der ein Auslaufen
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
zum 31. Dezember dieses Jahres vorsieht, nicht realisieren.
Die Fülle der Projekte, die wir uns sehr genau angesehen haben, hat uns dazu gebracht, unseren geschätzten
Koalitionspartner, der nicht allzu große Bereitschaft gezeigt hat - wenn ich das einmal so vornehm sagen
darf -,
({11})
zu überzeugen und mit ihm einen Kompromiss zu finden. Ich finde das gar nicht besonders problematisch. Zu
anderen Zeiten konnten Sie von der CDU/CSU die FDP
nicht immer überzeugen und umgekehrt.
Wir haben hier einen Kompromiss gefunden, der akzeptabel ist
({12})
und der Ausdruck von Demokratie und von einem guten
Verhältnis zueinander ist. Wir haben uns auf den
31. Dezember nächsten Jahres verständigt. Ich hoffe
- das ist meine Bitte an die Bundesregierung -, dass wir
bis dahin ein gesamtdeutsches Planungsvereinfachungsgesetz realisieren können. Das wird nicht ganz einfach
sein. Ich vermute, dass es viele Diskussionspunkte auch
aus Ihren Kreisen geben wird und dass wir Anhörungen
stattfinden lassen werden. Aber ein einheitliches Planungsrecht ist das eigentliche Ziel, hinter das auch Sie
sich eigentlich stellen könnten.
({13})
- Ein Planungsrecht für Gesamtdeutschland ist auch Ihre
Absicht. Insofern müsste es unser gemeinsames Ziel
sein, so schnell wie möglich ein effektives Planungsvereinfachungsgesetz zustande zu bringen.
({14})
Ursprünglich wollten wir bis 2006 abwarten. Ich bin
ganz froh, dass jetzt auch für das Ministerium ein gewisser Zeitdruck entsteht. Das kann gar nicht schädlich sein.
Ich hoffe, dass Anfang des Jahres ein passabler Gesetzentwurf vorliegt, an dem wir uns dann abarbeiten können, den wir in den Arbeitsgruppen und in den Ausschüssen diskutieren können und den wir dann hier im
Plenum verabschieden können. Ich glaube, das ist der
richtige Weg.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie sich der Verlängerung um ein Jahr, verbunden mit der Erwartung, dass
dann ein einheitliches Planungsvereinfachungsgesetz zustande kommt, anschließen könnten. Das entspricht der
Intention der Verkehrsminister, die natürlich etwas mehr
erwartet haben. Aber wenn wir ein für ganz Deutschland
einheitliches Planungsvereinfachungsgesetz im Fokus
haben, dann müssen wir als Parlament jetzt Druck machen. Das können wir nicht tun, indem wir das Gesetz
bis 2010, 2015 oder 2019 verlängern.
Das ist der richtige Weg. Schließen Sie sich unserem
Vorschlag an! Wir haben ein gemeinsames Ziel. Seien
wir an dieser Stelle einmal ehrlich: Die Materie ist so
neutral, dass sie sich für eine parteipolitische Auseinandersetzung wahrlich nicht eignet.
({15})
Wir wollen im Interesse der Bürger deren Beteiligung
und im Interesse der Wirtschaft, die sich darauf verlassen muss, eine schnelle Änderung. Damit ist uns allen
gedient. Das dient der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern und der zügigen Abwicklung dessen, was wir im neuen Fernstraßenausbaugesetz
beschlossen haben. Es ist der entscheidende Punkt, dass
wir an dieser Stelle zu einem positiven Ergebnis kommen.
Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Zeit erinnern?
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen
für Ihre Erkältung alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Blank,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Danckert, in einem Punkt gebe ich Ihnen Recht:
Der Gültigkeitszeitraum des Gesetzes war von Anfang
an etwas zu knapp bemessen. Aber im Unterschied zu
Ihnen haben wir das rechtzeitig gemerkt und ihn verlängert, während Sie unter Schmerzen und erst am
9. November endlich mit dem grünen Koalitionspartner
eine Gesetzesvorlage gemacht haben.
({0})
Dass sich die Bundesregierung und Rot-Grün mit diesem Gesetz sehr schwer tun, lässt sich leicht mit Äußerungen aus den vergangenen Jahren belegen. Ich zitiere
aus dem stenografischen Protokoll vom 7. November
1991 eine SPD-Kollegin:
Zu einem raschen Wirtschaftsaufschwung in den
neuen Bundesländern trägt das Gesetz nicht bei. Im
Gegenteil, es behindert die eigenständige regionale
Entwicklung auf Jahre hinaus. Statt den Bestand der
Verkehrswege zu sichern, erhält der Verkehrsminister ein Ermächtigungsgesetz und damit einen Blankoscheck auf die verkehrspolitische Zukunft und
dieser Blankoscheck ist auch noch ungedeckt.
Hier wird nämlich ein Sonderrecht nicht zugunsten,
sondern zulasten der Bürger und Bürgerinnen in
den neuen Bundesländern geschaffen. Weder die
technische Qualität der Planungen noch die wirksame Umweltvorsorge noch die Rechtssicherheit
und der Rechtsschutz der Bürger werden gewährleistet.
So viel zu den Äußerungen von damals und Ihrer negativen Haltung.
({1})
Angesichts des Erfolges dieses Gesetzes ist das nahezu
peinlich, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
({2})
Tatsache ist auch, dass der heftigste Widersacher damals die niedersächsische Landesregierung mit Ministerpräsident Schröder und Landesminister Trittin war.
Man merkt, dass Sie lange brauchen, bis Sie in die Puschen kommen. Auch die SPD und die Bündnisgrünen
haben gegen das Gesetz gestimmt. Man muss Ihnen die
Geschichte schon einmal vorhalten, Kollege Beckmeyer,
damit Sie sie mit dem vergleichen können, was Sie heute
sagen. Da sind manche Dinge peinlich.
({3})
1999 war es ein großer Kraftakt, mit einem Bundeskanzler Schröder und einem Bundesminister Trittin die
Gültigkeit des Gesetzes zu verlängern. Nur durch eine
Paketlösung ist das damals gelungen.
So versucht Rot-Grün bis heute mit allerlei fadenscheinigen Argumenten, den Erfolg des Gesetzes klein
zu reden, den Bedarf für erledigt zu erklären und somit
eine fehlende Notwendigkeit für eine Verlängerung der
Geltungsdauer des Gesetzes zu konstruieren, obwohl
doch auch in einer Anhörung von Experten durch die
SPD-Fraktion im März 2003 festgestellt wurde - Frau
Präsidentin, ich zitiere wieder -:
Das VerkPBG habe unter Wahrung der Bürgerrechte eine schnelle und kompetente Durchführung
von Klageverfahren ermöglicht, die sonst nicht
möglich gewesen wäre. Es habe nach der Wiedervereinigung ein großes Maß an Akzeptanz auf allen
Seiten bestanden, möglichst rasch den Zustand der
Verkehrsinfrastruktur zu verbessern. Die Bevölke12698
rung habe dieses Anliegen des VerkPBG unterstützt
und so eine friedliche und sehr schnelle Abwicklung der Verfahren ermöglicht.
Vergleichen Sie jetzt einmal Ihre Worte von 1991 mit
den Worten der Experten in dieser Anhörung! Dann
müssten Sie sich doch eigentlich Ihrer Bemerkungen aus
dem Jahr 1991 schämen.
({4})
Das Fazit aus all den Jahren: Die Wahrnehmung und
Argumentation von Rot-Grün und die Wirklichkeit der
Menschen sind weiter denn je voneinander entfernt.
Um dies zu ändern, sollten Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, denn das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hat zu einer erheblichen Verkürzung der Genehmigungsverfahren geführt, ohne dass
der Rechtsschutz von Betroffenen eingeschränkt worden
ist.
Für den Aufbau Ost - wir hatten ja vorhin eine Diskussion darüber - war und ist eine Überregulierung, wie
wir sie im Westen teilweise haben, ein regelrechter Klotz
am Bein.
({5})
Wir brauchen einen Aufschub des Verfalls des Gesetzes. Die rot-grüne Verweigerung läuft darauf hinaus,
dass demnächst beispielsweise wieder der Instanzenzug
in verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten eröffnet wird.
Was das bedeutet, ist aus der Vergangenheit und aus den
alten Bundesländern hinlänglich bekannt: Es ist mit zeitaufwendigen Klageverfahren zu rechnen. Es gibt Projekte, die seit über 30 Jahren beklagt werden.
Im Bundesrat, meine Damen und Herren, wird dies,
unabhängig von der Parteizugehörigkeit, genauso gesehen. Die Verkehrsministerkonferenz hat einstimmig eine
Verlängerung der Geltungsdauer des gegenwärtig noch
gültigen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis 2019 beschlossen; denn diese ist für ein zügiges
Umsetzen der noch vor uns stehenden Verkehrsplanungen unabdingbar. Also stimmen Sie unserem Gesetzentwurf im Ausschuss am besten zu!
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Volkmar Vogel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bei einem ist die rot-grüne Bundesregierung geschickt, nämlich wenn es darum geht, Namen für Gesetze zu finden.
({0})
Zum Beispiel heißt eine Ihrer Gesetzesänderungen, die
einen 17-seitigen Antrag nach sich zieht, schlicht
„Hartz IV“.
Die Union verabschiedete im Dezember 1991 das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz.
({1})
Das ist zugegebenermaßen ein schwieriger Name für ein
Gesetz, das Bürokratie verhindert, Entscheidungen beschleunigt und durch das wichtige Infrastrukturprojekte
schneller verwirklicht werden können. Dieses Gesetz hat
wesentlich zu den Erfolgen des Aufbaus Ost beigetragen. Daher sollte es nach meiner Meinung besser Aufbaugesetz heißen.
Autobahnprojekte wie die A 71, die A 73 oder auch
die Ostseeautobahn A 20 würden heute vielleicht nur
über die Flure der Verwaltungsgerichte verlaufen, gäbe
es dieses Gesetz nicht.
({2})
Auch Länder wie Bayern, Niedersachsen, Hessen und
Schleswig-Holstein konnten von der Verfahrensbeschleunigung profitieren, wenn es sich um länderübergreifende Projekte handelte. Die Realisierung der Verkehrsprojekte ist für die neuen Länder von zentraler
Bedeutung. Darum will die Unionsfraktion, dass dieses
Aufbaugesetz weiterhin Bestand hat. Es hat sich in der
Praxis bewährt.
({3})
Es ist daher völlig unverständlich, dass die Bundesratsinitiative des Freistaates Thüringen und der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion, dieses Gesetz bis zum
Jahre 2019 zu verlängern, im Verkehrsausschuss keine
Mehrheit gefunden haben. Das daraufhin von der Bundesregierung für den Sommer 2004 angekündigte Gesetz
zur Planungsbeschleunigung für Gesamtdeutschland
liegt leider immer noch nicht vor. Ich bin der Meinung,
das Herz dieser Bundesregierung schlägt eben nicht für
Ostdeutschland.
({4})
Die Diskussion über die Abschaffung des 3. Oktobers
als unseren Nationalfeiertag hat dies in aller Deutlichkeit
gezeigt.
Was wir brauchen, ist mindestens die Verlängerung
der Gültigkeitsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes über den 31. Dezember dieses
Jahres hinaus, bis eine neue Regelung in Kraft tritt.
({5})
Nur so bleibt Planungssicherheit für notwendige und anstehende Verkehrsprojekte erhalten.
({6})
Sinnvoll ist aus unserer Sicht eine bundeseinheitliche
Regelung.
({7})
Was sich beim Aufbau Ost bewährt hat, wird auch dem
Aufschwung ganz Deutschlands helfen. Diese Regelung
wird aber leider aufgrund der Untätigkeit der Bundesregierung am 1. Januar 2005 nicht in Kraft sein. Nur
durch unsere Initiative und durch den Druck der Länder
hat Rot-Grün doch noch einen eigenen Gesetzentwurf im
Hauruckverfahren ins Parlament gebracht und will diesen wohl bis zum 17. Dezember durchpeitschen. Dessen
Halbherzigkeit zeigt sich nach unserer Auffassung vor
allen Dingen darin, dass die Gültigkeitsdauer nur um ein
Jahr verlängert werden soll.
Doch mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Damit
es überhaupt vorwärts geht, werden wir uns dem rot-grünen Gesetzentwurf nicht verschließen, wenngleich auch
hier deutlich zu erkennen ist, dass diese Entscheidungen
der rot-grünen Bundesregierung den Menschen keinerlei
Planungssicherheit geben. Denn - auch das muss gesagt
werden - noch im September vertraten Sie im Verkehrsausschuss die Ansicht, dass eine Verlängerung dieses
Gesetzes nicht notwendig ist.
Bitte führen Sie sich noch einmal vor Augen, was wir
in 15 Jahren nach dem Fall der Mauer erreicht haben.
Wichtige Projekte wie die Neu- und Ausbaustrecken der
Autobahnen, der Bau neuer Schienenwege und neuer
Wasserstraßen und zum Beispiel auch der Aufbau der
gesamten Infrastruktur um den Flughafen Leipzig sind
so schnell zustande gekommen, weil es dieses Aufbaugesetz gab. Wir müssen uns die Frage stellen: Wohin
würde die DHL wohl mit ihrem europäischen Logistikzentrum und den über 6 000 Arbeitsplätzen gehen, wenn
der Ausbau dieser Infrastruktur um Leipzig immer noch
bei Gericht anhängig wäre?
Viele Fernstraßenprojekte sind realisiert oder im Bau.
In den nächsten Jahren brauchen wir eine Planungsbeschleunigung für die schnellen Anbindungen der Regionen an das Fernstraßennetz. Dazu gehören auch Umgehungsstraßen als Entlastung für Mensch und Umwelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheiden Sie
sich für den Aufbau Ost und für den Aufschwung
Deutschlands!
({8})
Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Alles andere wäre
halbherzig und planlos.
Danke.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Änderung des Verkehrswege-
planungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/
777. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzuleh-
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/461:
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/
CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/221: Der
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen emp-
fiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP
und der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 7 b: Unter Nr. 4 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/3843 empfiehlt
der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
in Kenntnis des Erfahrungsberichtes der Bundesregie-
rung zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/4164. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.
Zusatzpunkt 4: Interfraktionell wird Überweisung des
Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/4133 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Lilo Friedrich ({0}), Angelika
Graf ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Christa Nickels, Volker Beck ({2}), Thilo
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Humanitäre Verantwortung für Menschen in
Not
- Drucksache 15/4149 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1994 bis
- Drucksache 14/3891 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis
- Drucksache 15/2019 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Haibach, Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten
- Drucksache 15/4130 Die Abgeordneten Angelika Graf ({5}), Karin
Kortmann, Melanie Oßwald, Holger Haibach, Anke
Eymer ({6}), Thilo Hoppe und Rainer Funke sowie
die Staatsministerin Kerstin Müller haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)
Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
nen auf Drucksache 15/4149 mit dem Titel „Humanitäre
Verantwortung für Menschen in Not“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkte 8 b und 8 c: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3891 und 15/2019 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 5: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4130 mit
dem Titel „Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und
Enthaltung der FDP abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Christoph Hartmann ({7}), Cornelia
Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bildungsarmut in Deutschland feststellen und
bekämpfen
- Drucksache 15/3356 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Bernward Müller ({9}), Werner Lensing,
Grietje Bettin und Ulrike Flach haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.2) Die Kollegin Gesine Multhaupt will
ihre Rede halten. Das ist verständlich, weil es ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag ist.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Gesine Multhaupt. Bitte
schön.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Chancengleichheit verwirklichen, eine solide
Grundbildung für alle unabhängig von der sozialen Herkunft oder der kulturellen Zugehörigkeit, verlässliche
berufliche und akademische Aus- und Weiterbildung,
das sind für uns Sozialdemokraten die wichtigsten Leitgedanken unserer Bildungspolitik.
({0})
Vor diesem Hintergrund unterstützen und begrüßen
wir grundsätzlich die im vorliegenden Antrag aufge-
stellte Forderung, Bildungsarmut in Deutschland zu be-
2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
kämpfen. Aufgrund unserer Tradition, also historisch begründet, und vor dem Hintergrund der großen Aufgaben,
die vor uns liegen, ist es für uns Sozialdemokraten entscheidend, in dieser Debatte auf den Zusammenhang
von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit im
Bildungswesen hinzuweisen.
({1})
Wir wollen das Bildungswesen auf Integration und
Motivation ausrichten und Selektion und Sanktionen
entgegenwirken. Gut ausgebildete Menschen aus allen
Bereichen unserer Gesellschaft sind das Fundament unserer wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung.
({2})
Für die Förderung aller jungen Menschen in unserer Gesellschaft unabhängig von ihrem sozialen oder kulturellen Milieu darf es nie zu früh, aber auch nie zu spät sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, diesen Grundsatz in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik von morgen, diesen umfassenden Anspruch
vermisse ich in der Rhetorik des von Ihnen vorgelegten
Antrags ein wenig.
({4})
Im vorliegenden Antrag wird beispielsweise die Forderung nach theoriegeminderten Berufsbildern aufgestellt.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen zunächst mit der
OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ antworten.
Dort heißt es:
Es muss mehr in weiterführende Ausbildungsgänge
gesteckt werden, in denen die Menschen fit für die
beruflichen und sozialen Anforderungen der Zukunft gemacht werden. Das ist sehr viel wichtiger
als einzelne Qualifikationen, die heute vielleicht
nachgefragt werden, langfristig aber keine Zukunftsperspektive haben.
({5})
Diese Erkenntnis aus der OECD-Studie beschreibt für
uns Sozialdemokraten treffend die große Aufgabe, die
vor uns liegt.
({6})
Auf dem Arbeitsmarkt von morgen werden immer stärker Beschäftigte nachgefragt, die in der Lage sind, sich
als Person weiterzuentwickeln und Innovationsfähigkeiten für sich zu nutzen. In diesem Sinne gilt es, Bildungsarmut zu bekämpfen und alle jungen Menschen gleichberechtigt an unserem Bildungsgeschehen teilhaben zu
lassen.
Wir lassen unseren Worten Taten folgen. Mit dem
Ganztagsschulprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ hat die Bundesregierung als Reaktion auf die
gravierenden sozialen Disparitäten in unserem Bildungssystem das größte Schulentwicklungsprogramm auf den
Weg gebracht, das es in Deutschland je gab.
({7})
Jeder Schüler kann durch eine ganztägige Betreuung
unabhängig von seiner sozialen Herkunft gefördert werden. So gelingt es uns, gerade sozial schwächere Familien stärker als bisher in das Schulleben zu integrieren.
Ganztagsschulen leisten so einen Beitrag dazu, das Bildungsgefälle zwischen lernstarken und lernschwachen
Schülerinnen und Schülern abzubauen.
({8})
Ganztagsbetreuung darf nicht nur einseitig an sozialen
Brennpunkten oder aber nur in gutbürgerlichen Vororten
angeboten werden,
({9})
sie soll und muss für Kinder unterschiedlichster sozialer
Herkunft offen sein. Das verstehen wir unter sozialer
Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Bildungsbereich.
Bis 2010 werden wir außerdem schrittweise ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot für Kinder unter drei
Jahren schaffen. Damit ermöglichen wir eine frühzeitige
individuelle Förderung unserer Kleinsten. In den letzten
Jahren hat die Forschung klar bewiesen, dass gerade die
frühkindliche Lernphase entscheidend die weiteren Bildungs- und Lebenschancen prägt.
Die in Ihrem Antrag treffend beschriebene Gruppe
der großen Verlierer in unserer Gesellschaft sind nicht
selten Kinder, die vor Eintritt in die Grundschule nicht
ausreichend gefördert oder sogar vernachlässigt wurden.
Gleichzeitig unterstützen wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. Das
Armutsrisiko von Familien wird verringert und die eigenständige Lebensführung, insbesondere von Müttern
und Alleinerziehenden, wird ermöglicht.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die knappe Debattenzeit erlaubt es mir nicht, alle von der Bundesregierung bereits auf den Weg gebrachten Maßnahmen darzustellen.
({11})
Lassen Sie mich deswegen nur kurz, Herr Lensing, zu
der von Ihnen geforderten sprachlichen Förderung von
Migrantinnen und Migranten sagen, dass Rot-Grün auch
hier bereits vieles auf den Weg gebracht hat:
({12})
Die Mittel für die Sprachförderung werden bis zum
Jahre 2005 auf insgesamt 141 Millionen Euro aufge12702
stockt; das ist eine Steigerung von rund 40 Millionen
Euro. Ohne Frage zeigt nicht zuletzt auch der Bericht der
Bund/Länder-Kommission, dass in allen Bundesländern
bei der Bekämpfung der Bildungsarmut eine Menge diskutiert und auch angepackt worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, im zweiten Absatz Ihres Antrags formulieren Sie
völlig zu Recht, dass Anstrengungen zur Verbesserung
der Lebenschancen von Migrantinnen und Migranten
nur im Zusammenwirken mit den Ländern entwickelt
werden können.
({13})
An dieser Stelle würde mich besonders interessieren, ob
das auch Ihre Parteifreunde in den Länderparlamenten
wissen,
({14})
insbesondere in den Bundesländern, in denen Sie in einer Regierungskoalition Verantwortung tragen.
Gestatten Sie mir darum an dieser Stelle einen Blick
auf die Bildungspolitik einiger von Ihrer Partei mitregierter Bundesländer. Für die vorschulische Sprachförderung ausländischer Kinder steht in Niedersachsen
kein zusätzlicher Cent zur Verfügung.
({15})
Die schulbegleitende Sprachförderung für ausländische
Schülerinnen und Schüler wurde gestrichen, der muttersprachliche Unterricht um 13 Prozent gekürzt.
({16})
Die Lernmittelfreiheit wurde ganz abgeschafft, die
Hausaufgabenhilfe für alle Kinder gestrichen und die
kostenlose Schülerbeförderung stark eingeschränkt.
({17})
In Hessen, so habe ich nachgelesen, fehlen 2 020 Lehrerstellen. Diese strukturelle Mangelversorgung hat zur
Folge, dass die Lehrerzimmer in Hessen immer leerer,
die Klassenzimmer aber immer voller werden.
({18})
Zeitgleich wird in Hessen die Chance vertan, verändertes Lernen und eine intensive Förderkultur in neuen
Ganztagsschulen umzusetzen. Schulen, die Ganztagsschulen werden wollen, werden hingehalten und abgeblockt.
Zusätzlich wird durch eine Reihe von Maßnahmen
die frühe Auslese verschärft und die Durchlässigkeit
zwischen den Schulformen reduziert.
Natürlich will ich auch die Regierungskoalition in
Rheinland-Pfalz nicht unerwähnt lassen.
({0})
Unter den Bundesländern spielt Rheinland-Pfalz beim
Ausbau der Ganztagsschulen eine führende Rolle.
({1})
Mit einem erheblichen finanziellen Kraftakt stellt die
Landesregierung in Rheinland-Pfalz zusätzliche Lehrerstunden für die pädagogische Arbeit zur Verfügung.
({2})
Frau Kollegin Multhaupt, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Mit einem von der Landesregierung finanzierten Budget können die Schulen zusätzliches Personal einstellen,
beispielsweise für die Förderung unterschiedlich begabter Schülerinnen und Schüler.
Liebe Kollegin Multhaupt, Sie haben Ihre Redezeit
mittlerweile um 50 Prozent überzogen. Auch bei der ersten Rede hier im Deutschen Bundestag gibt es irgendwo
eine Grenze.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es große Gerechtigkeitsdefizite hinsichtlich der Bildungschancen in
unserem Land gibt, ist keine neue Tatsache. Ich glaube,
ich habe deutlich gemacht, dass die rot-grüne Bundesregierung auf einem guten Weg ist, diesen Disparitäten im
sozialen Bereich entgegenzuwirken.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Idee der
Chancengleichheit im Bildungsbereich in Ihren FDPAntrag aufnehmen und dieser Verantwortung auch in
den von Ihnen geführten Bundesländern nachkommen
würden.
Herzlichen Dank.
({0})
Frau Kollegin Multhaupt, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich muss allerdings dazusagen, dass Sie sich bei Ihrer
zweiten Rede an die Redezeit halten müssen.
({1})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3356 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stabilisierung und Weiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens
- Drucksache 15/4043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Bei diesem Tagesordnungspunkt sollen die Reden zu
Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden
der Kollegen Wolfgang Spanier, SPD, Klaus Minkel und
Gerhard Wächter, CDU/CSU, Franziska Eichstädt-
Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, und Eberhard Otto,
FDP.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4043 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und
weiterer Gesetze
- Drucksachen 15/3784, 15/3984 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 15/4173 -
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Reinhard Grindel
Dr. Max Stadler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper für die Bundesregierung das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir können stolz darauf sein, dass wir die Zuwanderungsgesetzgebung in diesem Jahr gemeinsam erfolgreich über die Bühne gebracht haben.
({0})
Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze dient in erster
Linie dazu, dringende redaktionelle und gesetzestechnische Anpassungen vorzunehmen, um eine reibungslose
Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes ab dem
1. Januar 2005 sicherzustellen. Dieses Ziel sollten wir
insbesondere im Interesse der Länder, die das neue Aufenthaltsrecht auszuführen haben, nicht aus den Augen
verlieren. Mit dem Änderungsgesetz soll und wird der
Kompromiss zum Zuwanderungsgesetz nicht infrage gestellt.
({1})
Ich appelliere auch an die Vertreter der Opposition,
dies nicht zu versuchen.
Die Mehrzahl der Änderungsvorschläge des Bundesrates, nämlich acht von 14, die auch von der CDU/
CSU-Fraktion eingebracht wurden, haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen positiv aufgegriffen. Sie sind jetzt Bestandteil des heute zur Abstimmung
stehenden Gesetzes. Das ist ein gutes Beispiel für das
konstruktive Umgehen mit diesen Vorschlägen.
({2})
Darüber hinaus wird mit der Schaffung einer Fundpapierdatenbank ein Anliegen insbesondere der Innenministerkonferenz aufgegriffen. Die Forderung wird auch
in dem hier zur Debatte stehenden Antrag der CDU/CSU
zur Beseitigung von Abschiebungshindernissen erhoben.
Mit der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Einrichtung einer zentralen Passabgleichsstelle wird die Zuordnung aufgefundener ausländischer Ausweispapiere
zu passlosen ausreisepflichtigen Ausländern und damit
deren Rückführung erheblich erleichtert werden.
Die von der CDU/CSU-Fraktion darüber hinaus vorgeschlagene Delegation der Regelungen auf den Verordnungsgeber begegnet hingegen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Mit den betroffenen Regelungen zu Inhalt
und Verfahren der Fundpapierdatenbank sind Eingriffe
in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden. Wesentliche Regelungen wie die Frage der Nutzer der Fundpapierdatenbank, der Dauer der Datenaufbewahrung, der Verpflichtung zu Maßnahmen der
Datensicherheit und des Datenschutzes muss der parlamentarische Gesetzgeber daher selbst treffen. Der Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion kommt daher insoweit
nicht in Betracht.
Darüber hinaus lehnt die Bundesregierung Änderungswünsche ab, die entweder sachlich nicht vertretbar
sind oder vonseiten der Opposition den Zuwanderungskompromiss infrage stellen.
({3})
Dies betrifft zum Beispiel den Antrag zur Verschärfung
des Tatbestandes der Ermessensausweisung. Die Ermessensausweisung zu eröffnen, sobald ein Ausländer
Arbeitslosengeld II erhält, widerspricht der neuen sozialgesetzlichen Systematik, die auch mit den Stimmen der
Union zu den Hartz-IV-Reformen eingeführt worden ist.
({4})
Der von der CDU/CSU-Fraktion geforderte Ausschluss der Widerspruchsmöglichkeit gegen die Versagung einer Duldung berührt auch den Kompromiss zum
Zuwanderungsgesetz.
({5})
Die Diskussion sollte bei diesem Gesetz nicht noch einmal geführt werden. Wir haben darüber ausführlich genug debattiert. Sofern die CDU/CSU-Fraktion ihrerseits
den Vorwurf erhebt, verschiedene Änderungsanträge der
Koalition würden den Zuwanderungskompromiss unterhöhlen, weise ich diesen mit aller Klarheit zurück.
({6})
Mit der unter anderem kritisierten Änderung des
§ 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes wird lediglich
die europäische Richtlinie über die Gewährung von vorübergehendem Schutz in nationales Recht umgesetzt.
({7})
Es geht darum, Ausländern, die aufgrund der Richtlinie
über die Gewährung von vorübergehendem Schutz eine
Aufenthaltserlaubnis erhalten, die erforderliche medizinische und sonstige Hilfe auch in den Fällen posttraumatischer Belastungsstörungen zu gewähren. Dies entspricht übrigens weitgehend der bisherigen Praxis. Auch
die Kosten halten sich in einem überschaubaren Rahmen, da es sich um einen relativ kleinen Personenkreis
handelt.
Der Zuwanderungskompromiss wird auch mit der
Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht infrage gestellt. Sie ist vielmehr eine
weitere Folge aus der Verabschiedung der Hartz-IV-Gesetzgebung. Vom Asylbewerberleistungsgesetz sollen
danach nur diejenigen erfasst werden, die über keine
Bleibeperspektive verfügen. Dieser Rechtszustand, der
im Übrigen der geltenden Rechtslage entspricht, wird
mit der Änderung hergestellt.
Die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der
Opposition dazu zeigt deutlich, dass der vorliegende Gesetzentwurf eine vernünftige Ergänzung zu unserer Zuwanderungsgesetzgebung darstellt. Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Parlamentarische Staatssekretär verdient für seine Rede
mildernde Umstände. Es ist der 11. 11. Das hat weite
Teile Ihrer Rede geprägt. Sie hatte mit der Realität nicht
so schrecklich viel zu tun.
Was allerdings fast auch als Narretei betrachtet werden kann, ist der Umstand, dass wir uns über Änderungen des Zuwanderungsgesetzes unterhalten, das erst am
1. Januar 2005 in Kraft treten wird. Das, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, ist ein starkes Stück. Ohne
die Erfahrungen mit dem Zuwanderungsgesetz abzuwarten, ohne überhaupt das In-Kraft-Treten abzuwarten,
wird dieses Zuwanderungsgesetz in einer Vielzahl von
Fällen sehr materiell verändert. Ich halte das für eine
sehr schlechte Vorgehensweise.
({0})
Es ist in der Tat eben nicht so, Herr Staatssekretär,
dass nur einige Anpassungen zu zeitgleich verabschiedeten Gesetzen, wie dem Kommunalen Optionsgesetz oder
dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz, vorgenommen
werden,
({1})
sondern diese Änderungen betreffen grundsätzliche Fragen des Aufenthaltsrechts.
Flüchtlinge, denen kleines Asyl gewährt wurde, erhalten jetzt nach drei Jahren sofort eine Niederlassungserlaubnis. Die Pflicht des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge, vor einer Verfestigung des Aufenthaltes
solcher Personen zu prüfen, ob die Situation im Herkunftsland überhaupt noch einen Schutz erfordert, soll
wegfallen und damit auch die Prüfung, ob das kleine
Asyl zurückzunehmen oder zu widerrufen ist.
Es war sehr verräterisch, was Herr Beck im Innenausschuss dazu gesagt hat. Er hat gesagt, er habe die Sorge,
dass wegen der zurückgehenden Asylbewerberzahlen im
Bundesamt in Nürnberg viele Mitarbeiter sitzen, die
nicht mehr mit der Bearbeitung von Asylanträgen befasst sind, sondern sich damit beschäftigen könnten, zu
prüfen, ob diejenigen, die sich auf das kleine Asyl berufen, diesen Schutz immer noch verdienen. Das, was die
Mitarbeiter in Nürnberg machen, ist ihre Pflicht. Sie
wollen das abschaffen. Ich sage Ihnen: Es geht Ihnen um
einen Rutschbahneffekt in Richtung auf ein Daueraufenthaltsrecht. Das verstößt gegen den Zuwanderungskompromiss, den wir gemeinsam verabredet haben.
({2})
- Herr Kollege Veit, es geht nicht um Systematik, sondern es geht darum, dass Sie - Herr Wiefelspütz und
Herr Beck - gerade in diesen Tagen eine Diskussion
über Bleiberegelungen begonnen haben,
({3})
obwohl wir diese bei den Zuwanderungsverhandlungen
nach langen und schwierigen Diskussionen ausgeschlossen haben.
({4})
SPD und Grüne haben im Menschenrechtsausschuss einen Entschließungsantrag eingebracht, allen rund
200 000 ausreisepflichtigen Ausländern, die geduldet
werden, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht einzuräumen.
Dieses ist eine Aufkündigung des Zuwanderungskompromisses. Das müssen wir mit aller Deutlichkeit feststellen.
Ich sage mit Bedacht: Wir als CDU/CSU haben uns,
gerade unter dem Eindruck der Gespräche, die wir mit
den Kirchen geführt haben, beim Aufenthaltsrecht erheblich bewegt. Wenn Sie fair wären, würden Sie das
zugestehen: bei der Härtefallregelung, bei der weit gehenden Abschaffung der Kettenduldungen. Ohne Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes abzuwarten, wollen Sie jetzt eine Bleiberechtsregelung einführen. Die
Änderungen des Aufenthaltsgesetzes sind die Ouvertüre
dazu. Ich sage Ihnen: Mit uns ist so etwas wie eine Bleiberegelung nicht zu machen. Personen, die durch Tricks
und Täuschungen, durch die Verschleierung ihres Reiseweges und die Vernichtung ihrer Ausweispapiere ihren
Aufenthalt in Deutschland künstlich verlängern, jetzt mit
einem Bleiberecht zu versehen,
({5})
ist falsch und verstößt gegen den Zuwanderungskompromiss.
({6})
- Lieber Herr Kollege Tauss, Sie sind im Kehlkopf stark,
({7})
im Kopf nicht ganz so. Denn hätten Sie heute in die
„Frankfurter Rundschau“ geschaut - ein Blatt, das bei
Ihnen morgens wahrscheinlich immer ganz oben liegt -,
({8})
hätten Sie lesen können, dass der Bundesinnenminister
diesen Vorschlägen von Herrn Wiefelspütz und Herrn
Beck eine klare Absage erteilt hat. Sie fahren eine Doppelstrategie: Sie beruhigen Pro Asyl und andere am linken Rand, indem Sie solche Interviews geben, und um
diejenigen SPD-Wähler, die in der Ausländerpolitik so
denken wie wir, kümmert sich der Bundesinnenminister.
In Wirklichkeit aber nehmen Sie eine diesem diametral
entgegenstehende Position ein.
({9})
Das ist keine saubere Linie. Diese Doppelstrategie werden wir deutlich enttarnen. Das alles ist mit uns nicht zu
machen.
({10})
- Der Kollege Winkler hat gesagt - dies für das Protokoll -: Wir gehen wenigstens offen mit diesen Widerständen um. Das ist eine Zustimmung, lieber Herr Kollege Winkler, für die ich sehr dankbar bin.
SPD und Grüne sagen mit dem Aufenthaltsänderungsgesetz, über das wir diskutieren, die Niederlassungserlaubnis für GFK-Flüchtlinge sei aus Gründen
der Integration notwendig. Wir haben es hier mit Personen zu tun, die höchstens drei Jahre in Deutschland sind.
({11})
Integration ist da nicht maßgeblich, sondern das Schutzbedürfnis dieser Menschen, dieser Flüchtlinge. Wir
brauchen mehr Integration und nicht mehr Zuwanderung. Wir lehnen jede Maßnahme ab, bei der mehr Zuwanderung durch die Hintertür organisiert werden soll,
wie Sie es vorhaben.
({12})
Die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, kündigt an
einer anderen Stelle in der Tat den Zuwanderungskompromiss auf. Sie will künftig Personen, die aufgrund
einer Bleiberegelung der obersten Landesbehörden eine
Aufenthaltserlaubnis besitzen, sowie Personen, deren
Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen verlängert wird, nicht mehr Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gewähren, sondern diese sollen entweder Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten.
Auch da sagt die Bundesregierung, dieses sei aus Integrationsgründen notwendig. Ich sage Ihnen: Diese Regelung behindert gerade die Integration, weil sie wegen der
höheren Sozialleistungen, die die Flüchtlinge erhalten,
jeden Antrieb erlahmen lassen, dass diese Menschen
sich um Arbeit bemühen und sich dadurch in Deutschland integrieren.
({13})
Bisher hatten diese Personen eine Duldung. Durch das
Zuwanderungsgesetz bekommen sie, und zwar mit unserer ausdrücklichen Zustimmung, einen Aufenthaltstitel
und eine Arbeitsmöglichkeit. Nur wollen wir damit
keine Besserstellung im Falle des Bezugs von Sozialleistungen. Wir sagen: Wir wollen die Arbeitsmöglichkeiten
nach einer Wartefrist von einem Jahr, um Schwarzarbeit
und Kriminalität entgegenzuwirken. Das soll jedoch
nicht dazu führen, dass sich diese Menschen auf ein
umfassendes Unterstützungspaket nach dem
Arbeitslosengeld II berufen können und dieses für sie
gilt.
Völlig widersprüchlich ist es, wenn SPD und Grüne
im Bundestag auf der anderen Seite den dauerhaften Bezug von Arbeitslosengeld II nicht zum Ausweisungstatbestand machen wollen. Ich muss Ihnen klar entgegenhalten, auch dem Staatssekretär, der das hier vertreten
hat: Eine Reihe von A-Ländern haben im Bundesrat dafür votiert - Sie nicken zustimmend -, dass der Bezug
von Arbeitslosengeld II Ausweisungstatbestand wird.
Bisher ist Sozialhilfebezug ein Ausweisungstatbestand. Der Kollege Veit hat im Innenausschuss gesagt, da
es nun ja viel mehr Bezieher von Arbeitslosengeld II als
Sozialhilfeempfänger gebe, wollten Sie diese Regelung
nicht. Auf der anderen Seite haben wir eben auch deshalb deutlich weniger Sozialhilfeempfänger im Sinne
des jetzigen Ausweisungstatbestandes, weil über
1 Million Personen in Zukunft in das Arbeitslosengeld II
wechselt.
Deshalb muss man fragen: Was ist der Sinn dieser
Vorschrift zu den Ausweisungstatbeständen? Es ist nicht
im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass Ausländer hier in Deutschland anwesend sind, die auf Dauer
auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das ist der Sinn
der Vorschrift. Das Arbeitslosengeld II ist eine staatliche
Sozialleistung; es ist keine Versicherungsleistung. Deswegen haben wir als Bundestagsabgeordnete in erster
Linie die Interessen unseres Landes und nicht die Interessen der möglicherweise von Abschiebung bedrohten
Ausländer zu wahren.
({14})
Deshalb muss der Bezug von Arbeitslosengeld II ein
Ausweisungsgrund sein, wie es unter anderem auch
SPD-regierte Bundesländer wollen. Wir machen uns dafür jedenfalls deutlich stark.
({15})
Ich möchte gern noch einen letzten Punkt ansprechen.
Der Kollege Beck hat gestern nach den Beratungen im
Innenausschuss eine Pressemitteilung veröffentlicht, in
der es heißt:
Wir haben letzte Unstimmigkeiten im Zuwanderungsgesetz beseitigt. So haben wir dafür gesorgt,
dass vorübergehend geschützte Personen, die zum
Beispiel Folter, Vergewaltigung erlitten haben, einen Anspruch auf die erforderliche medizinische
Behandlung erhalten.
({16})
- Sie sagen: Richtig.
({17})
Das heißt im Umkehrschluss, dass diese Menschen, die
zum Teil seit vielen Jahren bei uns sind, bisher keine
ausreichende medizinische Versorgung erhalten haben.
Eine solche Behauptung ist unerträglich. Wir weisen das
mit allem Nachdruck zurück. Auch an dieser Stelle ist
die Änderung, die Sie im Aufenthaltsgesetz durchsetzen
wollen, nicht notwendig.
({18})
Ich will gern nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?“ ein Positives deutlich hervorheben: Richtig ist die
Einführung der dateigestützten Passabgleichstelle. In
der Tat gibt es 20 000 herrenlose Pässe, die wir dringend
ausreisepflichtigen Ausländern zuordnen sollten, um deren Rückführung ins Heimatland zu ermöglichen.
Wir brauchen aber, Herr Staatssekretär, natürlich noch
viel mehr Anstrengungen, um Abschiebehindernisse zu
beseitigen. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben dazu einen Antrag vorgelegt. Wir wissen zum Beispiel, dass die
Pässe ausreisepflichtiger Ausländer plötzlich wieder auftauchen und bei unseren Botschaften und Konsulaten im
Ausland vorgelegt werden, wenn Verwandte und Bekannte dieser Personen nach Deutschland kommen wollen, um diese ausreisepflichtigen Ausländer in Deutschland zu besuchen. Ich verstehe nicht, weshalb man in
diesen Fällen nicht Kopien dieser Pässe zieht und sie mit
den ausreisepflichtigen Personen abgleicht. Das wäre
eine sehr praktikable Lösung, um Pässe, die wir dringend brauchen, um ausreisepflichtige Personen in ihr
Heimatland zurückführen zu können, wieder ans Tageslicht zu befördern. Eines allerdings muss man dazusagen: Wenn man Visa im Minutentakt vergibt, hat man
natürlich keine Zeit für diese notwendige Maßnahme.
Darüber werden wir morgen diskutieren - ich hoffe, bei
noch vollerem Haus; denn auch dieses Thema verdient
es.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({19})
Als nächster Redner hat der Kollege Josef Winkler
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Grindel, da Sie in Ihrer zwölfminütigen Redezeit
({0})
mindestens einmal pro Minute etwas falsch dargestellt
haben, kann ich nur auf wenige Aspekte eingehen.
({1})
Ich möchte aber im Gegensatz zu Ihnen sachlich bleiben.
Mit dem vorliegenden ersten Änderungsgesetz zum
Aufenthaltsgesetz - das ist das in der Öffentlichkeit als
Zuwanderungsgesetz bekannte Gesetzespaket ({2})
hat die rot-grüne Koalition rechtliche Hürden für das
In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 aus dem Weg geräumt.
({3})
Wie der Herr Staatssekretär völlig korrekt angemerkt
hat, waren diese Änderungen unter anderem durch die
zwischenzeitlich in Kraft getretene Hartz-IV-Gesetzgebung sowie die Strafvorschriften zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit notwendig geworden, Herr Grindel. Des
Weiteren haben wir noch einige Unstimmigkeiten im
Zuwanderungsgesetz beseitigt. Sie haben von dramatischen Änderungen gesprochen; ich nenne Ihre Dramatik
gekünstelt.
({4})
Die Anpassungen sind notwendig, weil es in einem so
großen Vermittlungsverfahren vorkommen kann, dass
eine bestimmte Gruppe übersehen werden kann. Wenn
wir schon rechtzeitig merken, dass ein kleiner Fehler
aufgetreten ist, dann müssen wir das vor dem In-KraftTreten des Gesetzes ändern. Sollen wir stattdessen warten, bis das Gesetz in Kraft getreten ist, nur damit Sie
uns das nicht vorwerfen können? Darauf verzichten wir,
Herr Grindel.
({5})
Sie haben die erforderliche medizinische Behandlung erwähnt, von der in der Pressemitteilung des Kollegen Beck die Rede war. Sie wehren sich mit Vehemenz
gegen den Begriff „erforderlich“, weil sonst nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz nur minimale Therapien
möglich sind. Das heißt, dass statt notwendiger umfangreicher psychotherapeutischer Maßnahmen nur eine Krisenintervention stattfinden kann, was der abgestuften
Leistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz entspräche. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass Menschen, die vorübergehend geschützt sind - Sie nennen
das „kleines Asyl“ -, die unter Folter oder Vergewaltigung gelitten haben oder Opfer von Menschenhandel geworden sind, einen Anspruch auf die erforderliche medizinische Behandlung erhalten.
({6})
- Sie als Christlich Demokratische Union können gerne
auch weiterhin dagegen sein. Wir als Koalition wollen
das aber ändern.
({7})
Wie der Staatssekretär ausgeführt hat, müssen wir ohnehin eine EU-Richtlinie umsetzen. Insofern werden
auch andere EU-Mitgliedstaaten folgen. Wir führen also
in Deutschland nicht etwa ein Luxusverfahren ein; vielmehr kommen wir einer Rechtsverpflichtung nach.
Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen. Sie
haben zum Beispiel die Niederlassungserlaubnis scharf
kritisiert, die den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention unmittelbar erteilt wird. Das ist unserer
Meinung nach auch aus integrationspolitischer Sicht
sinnvoll. Im Übrigen handeln wir als Koalition nicht alleine; auch etliche Bundesländer halten das für sinnvoll.
Es ist schwer zu vermitteln, dass Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben - zum Beispiel afghanische
Flüchtlinge -, die integriert sind und in Deutschland
bleiben wollen und müssen,
({8})
dann, wenn sie einen Antrag auf Einbürgerung oder Familienzusammenführung stellen, mit einer automatischen Widerrufung ihres Asylstatus rechnen müssen
({9})
und damit unter Umständen die Einbürgerung vergessen
können. Das geht unserer Meinung nach nicht an. Die
von Ihnen angesprochene Überprüfung bleibt auch nach
der Änderung notwendig.
({10})
Es geht nicht darum, eine Rutschbahn zu schaffen.
Wir wollen aber nicht, dass Beamte nur aus Lust am Aktenbewegen die Aktendeckel aufklappen. Wir wollen
keine Überprüfungspflicht; gegebenenfalls kann aber
auch weiterhin jeder Fall geprüft werden und können bereits gewährte Leistungen und sogar der Aufenthaltsstatus widerrufen werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass wir dem Bundesrat weitgehend entgegengekommen sind. Die Fundpapierdatei wurde bereits erwähnt. Wir haben acht von 14 Änderungsanträgen des
Bundesrats übernommen, die sich zum Teil auf wesentliche Änderungen bezogen. Insofern ist das eine ausgewogene Sache.
Im Übrigen haben wir mit der gesamten Opposition
verhandelt. Die FDP hat in einer Pressemitteilung deutlich gemacht, dass sie sich Ihrer Aufregung nicht anschließen könne und dass sie nicht davon ausgehe, dass
der Zuwanderungskompromiss aufgekündigt sei. Insofern können Sie das Ihrerseits nicht einseitig feststellen.
({11})
Abschließend möchte ich - auch diesen Punkt haben
Sie bereits angesprochen - auf die Bleiberechtsregelung zu sprechen kommen. Meine Fraktion würde sich
sehr freuen, wenn wir für die Menschen, die bisher keinen entsprechenden Status haben, obwohl sie schon
lange in Deutschland leben - nach dem neuen Zuwanderungsgesetz bekämen sie einen solchen Status -, ebenfalls eine Regelung finden könnten.
({12})
Da dies aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nichts zu tun hat, wird es darum im jetzigen Gesetzgebungsverfahren nicht gehen. Wir werden vielmehr
gemeinsam mit den christlichen Kirchen, die ebenfalls
seit vielen Jahren eine Lösung für diese Menschen fordern, eine entsprechende Initiative starten. Auch Kollegen von der SPD-Fraktion haben bereits angekündigt,
dass sie sich damit ernsthaft beschäftigen wollen. Ich
hoffe, dass sich von den beiden Oppositionsfraktionen
nicht nur die FDP, sondern auch die CDU/CSU damit
auseinander setzen wird.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Bürsch
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politik
zeigt offensichtlich immer wieder, welche selektiven
Wahrnehmungen und welche unterschiedlichen Auslegungen von eigentlich klaren Gesetzesvorlagen möglich
sind. Ich wiederhole in aller Ruhe und Besonnenheit
- das richtet sich besonders an die Adresse meines Vorvorredners, Herrn Grindel - folgende drei Punkte:
Punkt eins. Materielle Änderungen des beschlossenen
Zuwanderungsrechts finden nicht statt.
Punkt zwei. Eine Bleiberechtsregelung steht heute
nicht auf der Tagesordnung und ist auch nicht Gegenstand der Entscheidung, die wir zu treffen haben.
Punkt drei. Die heute zu beschließenden Ergänzungen
des Aufenthaltsrechts sind sinnvoll, maßvoll und erforderlich.
({0})
Ich rufe in Erinnerung, was wir nach langer Mühe tatsächlich - für manche unerwartet - geschafft haben. Mit
dem Zuwanderungskompromiss im Sommer dieses
Jahres haben wir in Deutschland parteiübergreifend die
Grundlage für ein modernes, in die Zukunft gerichtetes
Zuwanderungsrecht geschaffen, mit dem wir Migration
nach Deutschland steuern können. Es hat lange genug
gedauert, bis wir in Deutschland ein solches Zuwanderungsrecht auf den Tisch legen konnten. Lieber Herr
Grindel, das gerät bei allem Klein-Klein allzu schnell in
Vergessenheit. Es wird versucht, das klein zu reden sowie mit Polemik und Populismus aus der Welt zu schaffen. Sie müssen sich einfach an den beschlossenen Kompromiss gewöhnen. Es gibt genügend Mitglieder Ihrer
Fraktion sowie CDU- und CSU-Mitglieder aus den Bundesländern, die diesen Kompromiss gewollt und begrüßt
haben. Wir wissen aus der Entstehungsgeschichte, dass
es gerade in Ihrer Fraktion Widerstand gab. Ich plädiere
aber dafür, nun keine Nachhutgefechte anhand solcher
notwendigen Ergänzungen zu führen.
({1})
Das neue Zuwanderungsrecht liegt durchaus in deutschem Interesse. Der Wirtschaftsstandort Deutschland
benötigt hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte. Mit
dem neuen Aufenthaltsgesetz haben wir den richtigen
Weg beschritten, um die Bedürfnisse der deutschen
Wirtschaft zu befriedigen. Ebenso sind wir im eigenen
Land darauf angewiesen, dass deutsche und ausländische Mitbürger gedeihlich zusammenleben. Dabei
kommt es auch darauf an, dass die hier lebenden Ausländer ihren eigenen Beitrag zur Eingliederung in die deutsche Gesellschaft leisten. Deutschland wird im Rahmen
des neuen Aufenthaltsgesetzes diesen Beitrag unterstützen und Maßnahmen zur Integration fördern.
({2})
Mit dem heute von uns vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ergänzen
wir den Zuwanderungskompromiss um das am 1. Januar
2005 in Kraft tretende Gesetz in einigen wenigen notwendigen Punkten. Wir passen ihn an die inzwischen veränderte Rechtslage an und machen ihn praktikabel. Um
es klar zu sagen: Der Zuwanderungskompromiss steht
inhaltlich nicht zur Disposition. Er wird durch das heute
zu beratende Gesetz weder geschmälert noch ausgeweitet. Der Kompromiss wird in der Sache nicht angetastet.
Er bleibt so bestehen, wie er im Sommer dieses Jahres
beschlossen worden ist. Ich sähe es gern, wenn in diesem
Haus darüber Konsens bestünde. Vielleicht können wir
in den kommenden Monaten auch noch die letzten
Zweifler von unserem Kurs überzeugen.
Ich komme zum Schluss. Die momentanen Ereignisse
in Holland zeigen, mit welcher Sensibilität man das
Thema „Migration und Integration“ behandeln muss.
({3})
Ich sage in Richtung aller Fraktionen, insbesondere an
die Adresse derjenigen Fraktion, die dieses ganze Gesetz
und manche Ergänzung, die wir zuletzt vorgenommen
haben, kritisiert: Wir müssen alle Fragen der Zuwanderungspolitik jetzt und in Zukunft mit allergrößter Sorgfalt, mit großer Sensibilität und mit einer konstruktiven
Grundhaltung beantworten. Was schadet, sind Polemik,
Populismus und Dramatisierung.
({4})
Das Einzige, was uns nützt, ist die Gemeinsamkeit aller Fraktionen in diesem Hause. Sie müssen daran interessiert sein, dass wir friedlich miteinander umgehen
({5})
und dass wir die Probleme der Zuwanderung in einer
friedlichen, demokratischen Weise lösen.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Rede des Kollegen Dr. Max Stadler von der FDP
nehmen wir zu Protokoll.1)
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze,
Drucksache 15/3784 und 15/3984. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/4173, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Granold, Roland Gewalt, Wolfgang Bosbach,
1) Der Redebeitrag wird in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Scheinvaterschaften wirksam bekämpfen
- Drucksache 15/4028 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Alle Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
den der Kolleginnen Gabriele Fograscher und Christine
Lambrecht von der SPD-Fraktion, der Kollegin Ute
Granold und des Kollegen Roland Gewalt von der CDU/
CSU-Fraktion, des Kollegen Philip Josef Winkler von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4028 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright,
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Winfried Hermann, Albert
Schmidt ({3}), Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Umsetzung des nationalen Radverkehrsplans 2002 - 2012 forcieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({5}), Dirk Fischer ({6}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Radverkehr fördern - Fortschrittsbericht
vorlegen
- Drucksachen 15/3467, 15/3708, 15/4103 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Wolfgang Börnsen ({7})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern
- Drucksachen 15/2155, 15/4093 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
Gabriele Hiller-Ohm und Heidi Wright von der SPDFraktion, der Kollegen Wolfgang Börnsen ({9})
und Klaus Brähmig von der CDU/CSU-Fraktion, des
Kollegen Winfried Hermann von der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und des Kollegen Horst Friedrich
von der FDP-Fraktion.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Wohnungswesen auf Drucksache 15/4103. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 15/3467 mit
dem Titel „Umsetzung des nationalen Radverkehrsplans
2002-2012 forcieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimme der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/3708 mit dem Titel „Radverkehr fördern - Fortschrittsbericht vorlegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus
auf Drucksache 15/4093 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Den Fahrradtourismus in
Deutschland umfassend fördern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2155 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({10}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Pilotprojekt für die virtuelle Rekonstruktion
von vorvernichteten Stasi-Unterlagen begin-
nen
- Drucksache 15/3718 -
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Haushaltsausschuss
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden von Barbara Wittig, SPD-Fraktion, Hartmut
Büttner ({12}), CDU/CSU-Fraktion, Silke Stokar
von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, Gisela Piltz,
FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen Staatssekre-
tärs Fritz Rudolf Körper.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3718 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({13})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({14}), Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({15}), Daniel Bahr ({16}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksachen 15/3053, 15/3043, 15/3057,
15/4089 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({17})
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen
ebenfalls zu Protokoll genommen werden. Es handelt
sich um die Reden der Kollegen Dr. Margrit Wetzel,
SPD-Fraktion, Wolfgang Börnsen ({18}), CDU/
CSU-Fraktion, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen, und Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.3)
2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
3) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/4089 zu den Anträgen der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der FDP mit dem gleich
lautenden Titel „Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der
Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für
Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3053 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/3043 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3057 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Marketing für die Hauptstadt Berlin
- Drucksache 15/3491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({19})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anlehnung an den großen Berliner Bürgermeister Ernst
Reuter, der gesagt hat: „Deutsche, schaut auf diese
Stadt!“,
({0})
füge ich als Abgeordneter, der nicht aus Berlin kommt,
hinzu: Denn sie gehört uns, meine Damen und Herren,
sie geht uns an. Wir alle tragen Verantwortung für Berlin. Im Ausland wird Berlin geliebt. Wir als Deutsche
sollten der Welt nacheifern und unsere Hauptstadt von
ganzem Herzen lieben und alle Berliner werden.
({1})
Fangen Sie heute damit an, indem Sie unserem Antrag
zustimmen.
Seit 14 Jahren ist Berlin die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Durch die Erweiterung der
Europäischen Union nimmt unsere Hauptstadt im jetzt
vereinten Europa eine immer stärkere zentrale Rolle
ein. Die wachsende Zahl an Staatsbesuchen, Messen,
Kongressen und Ausstellungen demonstriert die nationale und internationale Beachtung Berlins. Wir wissen
aber auch, Berlin ist nicht London, nicht Paris, nicht
Warschau, nicht Moskau und nicht Madrid. Während
diese Hauptstädte in ihren Ländern mit Stolz ganz selbstverständlich als die Zentrale, als die Hauptstadt betrachtet werden, ist das bei Berlin leider noch etwas anders.
Die Stadt wird als Ort mit einer teilweise belasteten Geschichte wahrgenommen, in der zugleich aber auch einmalige historische Chancen für das Zusammenwachsen
Europas ergriffen wurden. Die Erinnerung an die preußische Hauptstadt ist hier ebenso lebendig wie das Berlin
der Nationalsozialisten oder auch die Wunden der Teilung, die hier, ganz wenige Schritte vom Reichstag entfernt, zu sehen sind.
Dann gibt es noch das Problem mit der „Umzugsschere“ in den Köpfen. Viele Westdeutsche sind trotz des
Umzuges immer noch nicht in Berlin angekommen. Sie
haben noch Bonn als Regierungssitz der alten Bundesrepublik im Kopf.
({2})
Zudem erleben wir immer noch die Nachwehen der Berlin-Bonn-Debatte, die die Öffentlichkeit geteilt hat und
von hitzigen Diskussionen und eben auch durch ein
knappes parlamentarisches Bekenntnis für Berlin geprägt war.
Meine Damen und Herren, was ist die Konsequenz
aus dieser Analyse? Manche mögen diese Analyse als
Quatsch bezeichnen, manche mögen sie dementieren,
aber sie ist jedenfalls aus westdeutscher Sicht richtig.
Was ist also die Konsequenz daraus? Wir müssen Berlin
stärker in den Köpfen und in den Herzen der Deutschen
verankern,
({3})
aber nicht nur in den Herzen der Deutschen, sondern
auch in den Herzen internationaler Besucher. Hierfür ist
jetzt ein guter Zeitpunkt, denn die Popularität Berlins als
Reiseziel ist ungebrochen. Die Besucherzahlen steigen
stetig. Berlin zieht aber nicht nur Touristen an, sondern
auch Studenten, Schriftsteller und Künstler können sich
dem Sog der Hauptstadt nicht entziehen.
Herr Kollege Klimke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollege Brähmig?
Ja, gerne.
Bitte, Herr Brähmig.
Lieber Herr Kollege Klimke, ich will jetzt nicht über
die Frage Bonn-Berlin sprechen, sondern Sie über das
Verhältnis zwischen Hamburg und Berlin befragen. Die
Deutsche Bahn beabsichtigt ja, im Dezember eine Fernverbindung mit einer Rekordreisezeit von 90 Minuten
zwischen diesen beiden großen deutschen Metropolen
einzurichten. Sind Sie mit mir der Meinung, dass dieses
den Wirtschafts- und Tourismusstandort Berlin letztendlich stärken wird und wir solche Schnellverbindungen
nicht nur zwischen Berlin und Hamburg brauchten, sondern durchaus auch - das sage ich jetzt im Hinblick auf
die EU-Osterweiterung - in Richtung Osteuropa?
Herzlichen Dank, Herr Kollege Brähmig, für diesen
Hinweis. Natürlich finde ich es ganz einzigartig, dass die
Fahrt zwischen Hamburg und Berlin bzw. umgekehrt
nicht mehr 2:30 Stunden dauert, was ja 150 Minuten entspricht, sondern nur noch 90 Minuten. Wir sparen also
eine Stunde. Die Städte können damit zusammenwachsen. Ich hoffe im Übrigen, dass beide Städte davon unter
touristischen und unter Marketinggesichtspunkten profitieren werden. Man kann als Hamburger, der in Berlin
gewesen ist, oder als Berliner, der in Hamburg war,
abends nach dem Theater noch nach Hause fahren.
({0})
Das zeigt, wie wichtig solche Schnellverbindungen zwischen den großen Städten sind. Ich könnte mir so etwas
beispielsweise auch zwischen Berlin und Prag mit Zwischenstopp in Dresden vorstellen.
Wir müssen das große Interesse, das im Moment an
Berlin besteht, nutzen. Unsere Hauptstadt muss als Gesicht des föderalen Deutschlands und als Identifikationspunkt für das föderale parlamentarische System noch
stärker wahrgenommen werden. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir die Bundesorgane und die deutsche
Geschichte in ihrer Gesamtheit, aber auch das architektonische Erbe hier in Berlin würdig darstellen. Wir müssen die kulturellen Ereignisse und Einrichtungen mit
Hauptstadtbedeutung fördern. Wir müssen auch den vor
wenigen Monaten hier beschlossenen Wiederaufbau des
Berliner Stadtschlosses umsetzen. Im Übrigen, Herr
Kollege Brähmig, könnten wir dabei auch die Erfahrungen vom Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden
nutzen. Diese Maßnahmen würden dazu beitragen, dass
Berlin als nationales Projekt von allen Deutschen und
dass Berlin auch vom Ausland verstanden wird.
({1})
Meine Damen und Herren, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich kann Sie nur auffordern: Unterstützen Sie unseren Antrag! Wir bieten Ihnen
eine einzigartige Gelegenheit, die peinliche Diskussion
um den 3. Oktober wenigstens etwas vergessen zu machen. Nutzen Sie die Chance und stimmen Sie unserem
Antrag zu.
({2})
Der Antrag hat folgende Schwerpunkte. Wir wollen
die Etablierung einer Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“
unter der Leitung von Berlin Tourismus-Marketing
GmbH, in der Vertreter des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Arbeit und Vertreter des Landes Berlin
zusammenarbeiten sollen. Wir wollen vor allen Dingen
auch die Ressourcen von staatlichen und nicht staatlichen Einrichtungen im In- und Ausland nutzen, ob das
Botschaften sind, ob das Außenhandelskammern sind,
ob das die Deutsche Zentrale für Tourismus ist oder ob
das die Goethe-Institute oder die Deutsche Welle sind.
Sie alle sollen Berlin als Hauptstadt national und international vermarkten.
Noch etwas ist aus unserer Sicht ganz besonders
wichtig. Es gab zum Beispiel zu meiner Schulzeit die
Verpflichtung jeder deutschen Abschlussklasse einer
Volks- und Realschule - der neunten Klasse -, für eine
Woche nach Berlin zu fahren. Wir sollten diese Verpflichtung, auch wenn wir sie subventionieren müssen,
wieder aufleben lassen. Meine Tochter fährt mit ihrer
Klasse mit Ryanair nach Pisa. Pisa ist wunderschön, aber
ich finde, sie sollte lieber nach Berlin fahren. Das gilt im
Übrigen für alle.
Wir haben hier in Berlin Bertelsmann, wir haben
Springer, wir haben öffentliche und private Medieneinrichtungen. Die Verantwortlichen dieser Häuser sollten
wir direkt ansprechen und sie auffordern, eine Medienkampagne „Berlin - Hauptstadt der Deutschen“ durchzuführen. Berlin ist mehr als nur ein Zweitwohnsitz.
({3})
- Richtig, auch ich kann das bestätigen.
Herr Kollege Klimke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mit einem Zitat habe ich begonnen und mit einem Zitat komme ich zum Schluss. John F. Kennedy hat gesagt:
„Ich bin ein Berliner.“ Meine Damen und Herren, wir
alle, die wir hier sind, aber auch diejenigen, die nicht
hier sind, sollten das als Anspruch und als Ansporn nutzen.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt hätte eigentlich die Kollegin Brunhilde Irber von
der SPD das Wort, aber sie gibt ihre Rede zu Protokoll.
Das Gleiche gilt für die Kollegin Franziska Eichstädt-
Bohlig1).
Deswegen hat jetzt der Kollege Markus Löning von
der FDP das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Klimke, es
gibt in Ihrem Antrag einen Absatz, der mir sehr gut gefällt, und zwar der Absatz über den beschlossenen Wiederaufbau des Stadtschlosses. In diesem Punkt stimme
ich Ihnen in der Tat aus vollem Herzen und aus voller
Überzeugung zu. Auch die Idee, sich an dem Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden zu orientieren, halte ich
für eine gute Idee.
Ansonsten, muss ich sagen, finde ich Ihren Antrag außerordentlich enttäuschend. Es ist richtig, die Völker der
Welt schauen auf diese Stadt. Diese Stadt braucht eine
Menge, sie hat eine Menge nötig. Wenn Sie sich den derzeitigen Senat anschauen, dann wissen Sie auch, warum:
Das ist ein Senat, der wenig kann und noch weniger
macht. Sie müssen zugeben: Auch Herr Diepgen war als
Regierender Bürgermeister nicht jemand, der die Stadt
Berlin besonders prickelnd dargestellt und der Welt besonders viel Geschmack auf Berlin gemacht hat.
({0})
Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Solch ein Antrag,
der versucht, das Marketing dieser Stadt dermaßen zu
bürokratisieren, wie Sie sich das hier vorstellen, geht
doch völlig daneben. Das, was Sie hier vorschlagen,
muss doch in die Hose gehen - entschuldigen Sie den
Ausdruck an dieser Stelle.
Ich kann - bei allem Respekt für das Wirtschaftsministerium - auch nicht verstehen, wie Sie auf die Idee
kommen, dass das Bundeswirtschaftsministerium diese
Stadt besonders gut vermarkten könnte. Dafür gibt es
eine gewählte Landesregierung. Die gewählte Landesregierung soll sich darum kümmern. Der gewählten Landesregierung sollte man das ins Stammbuch schreiben.
({1}) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
standen, Herr Kollege! Es geht um die Haupt-
stadt, nicht um die Berliner Kommune!)
Die Essenz Ihrer Rede - dass die Deutschen stolz auf
ihre Hauptstadt sein sollen - können Sie mit einem Antrag im Deutschen Bundestag beim besten Willen niemals erreichen. Das erreicht Berlin aus eigener Kraft und
eigener Stärke.
({2})
Dazu bedarf es keiner Anträge in diesem Haus. Vielmehr
sind es die Lebendigkeit der Stadt Berlin, ihr Kulturleben, die Menschen, die nach der Wende zugezogen sind,
und die Berliner, die hier schon immer leben, die die
Stadt lebenswert und liebenswert machen und die zu ihrer Geschichte mit all ihren Brüchen - mit dem Schlechten der Vergangenheit ebenso wie mit dem Guten der
Vergangenheit - stehen, die einen Teil der Faszination
dieser Stadt ausmachen. Wir brauchen keine bürokratischen Marketingmaßnahmen, um zu erreichen, dass die
Stadt geliebt wird.
({3})
Insofern finde ich es sehr schade, dass wir zu einem
so wichtigen Thema wie der Hauptstadt anhand eines so
bürokratischen Antrages sprechen. Es tut mir wirklich
Leid.
Es gibt einiges zu Details zu sagen, die Sie hier angesprochen haben. Eine Klassenfahrt nach Berlin als
Pflicht - entschuldigen Sie, wo leben wir denn heute?
Wo leben wir denn, dass wir unseren Kindern verordnen
sollen, nach Berlin an die Mauer zu fahren? Das sind
doch Vorstellungen von vorgestern. Die Kinder kommen
von alleine hierher. Das brauchen wir ihnen nicht zu verordnen. Das ist uns doch viel lieber.
({4})
In diesem Sinne, lieber Herr Kollege, fürchte ich, dass
wir diesen Antrag ablehnen werden.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Edeltraut Töpfer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich muss doch sagen, dass mich die Rede meines FDP-Kollegen sehr enttäuscht hat. Denn es macht einen Riesenunterschied, ob es um Berlin als solches oder
um Berlin als Hauptstadt geht.
({0})
Seit nunmehr 14 Jahren ist Berlin die Hauptstadt des
wiedervereinigten Deutschlands. Im Bewusstsein der
Bundesbürger besitzt Berlin als Hauptstadt, wie mein
Kollege Klimke bereits gesagt hat, aber nur selten den
Stellenwert, den andere Hauptstädte wie zum Beispiel
Rom, Paris, London, Moskau oder Tokio für ihre Staatsbürger, aber auch für Ausländer haben.
Durch diesen Antrag möchten wir erreichen, dass
Berlin in seiner Funktion als Bundeshauptstadt positiv
im Bewusstsein der Menschen aus der Bundesrepublik
und der ganzen Welt verankert wird. Die Hauptstadt
unseres Landes muss deshalb mehr als bisher als
Identifikationspunkt des föderalen, parlamentarischen
Systems der Bundesrepublik wahrgenommen werden.
Über 50 Jahre freiheitliche Demokratie auf deutschem Boden sind auch eine Chance für Berlin, für seine
Rolle im durch die Osterweiterung der Europäischen
Union friedlich wiedervereinigten Europa.
Notwendige Voraussetzung für die positive Weiterentwicklung Berlins als weltoffener Stadt ist eine gute
touristische Vermarktung auch als Hauptstadt. Schon
heute liegt Berlin mit circa 11 Millionen Übernachtungen im Jahr hinter Paris und London auf Platz drei in
Europa. Berlin ist ein interessanter Treffpunkt nicht nur
für Touristen, sondern auch für Studenten, Schriftsteller,
Künstler und die Medienbranche geworden. Bereits
heute erwirtschaftet die Tourismuswirtschaft in unserer
Stadt einen Bruttoumsatz von rund 5,2 Milliarden Euro.
Sie sichert direkt und indirekt 66 000 Arbeitsplätze,
meine Herrschaften, und verschafft damit dem Land
Berlin Steuereinnahmen in Höhe von circa 590 Millionen Euro jährlich. Da frage ich Sie, liebe Kollegen: Ist
Berlin es nicht wert, es als Hauptstadt weiter zu vermarkten? Wir brauchen Steuereinnahmen; Sie alle kennen das Loch im Berliner Staatshaushalt.
Berlin kann die Hauptstadtaufgaben nicht allein aus
eigener Kraft wahrnehmen. Das kann vom Land Berlin
auch niemand guten Gewissens fordern; denn es handelt
sich hier um Aufgaben der gesamten Nation. Insbesondere der Bund ist hier gefordert, sich für seine Hauptstadt nachhaltiger als bisher zu engagieren.
({1})
Frau Kollegin Töpfer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Löning?
Ja, bitte.
Bitte schön.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Töpfer, sind Sie nicht mit
mir der Meinung, dass ein Event wie die MoMA-Ausstellung, ein rein privat finanziertes Event, wesentlich
mehr für das Image und die Attraktivität unserer Stadt
getan hat, als das jegliche bürokratische Regelung, wie
Sie sie hier vorschlagen, jemals erreichen könnte?
({0})
Lieber Herr Kollege Löning, beides ist gefordert. Wir
brauchen zunächst eine gemeinsame Projektgruppe der
Bundesregierung und der Berlin Tourismus Marketing
GmbH. Dann finden wir auch weitere private Förderer
und können so Berlin als Hauptstadt besser vermarkten.
Es gibt gute Beispiele für private Förderung; aber das hat
nichts mit der Förderung Berlins als Hauptstadt zu tun.
Da muss man differenzieren.
({0})
Die Einrichtung einer Projektgruppe hat mein Kollege schon erwähnt. Innerhalb eines Zeitraums von drei
Jahren soll die Projektgruppe die Planung und Durchführung von Maßnahmen zur nationalen und internationalen
Darstellung Berlins als Hauptstadt koordinieren. Dabei
sollen auch die Ressourcen von deutschen Einrichtungen
im Ausland - wie deutsche Botschaften, Goethe-Institute und Deutsche Welle - genutzt werden.
Berlin sollte sich dabei unter anderem als kultureller
Schmelztiegel, als das Tor zum Osten und als Spiegel
der gesamtdeutschen Geschichte präsentieren. Zur Rolle
Berlins als weltoffene und gastfreundliche Metropole im
Herzen Europas gehört unter anderem eine verständliche
und würdige Darstellung der in Berlin vertretenen Bundesorgane, insbesondere des Bundesrates und des Bundestages, der wechselvollen und zum Teil dramatischen
Geschichte dieser Stadt und seines eindrucksvollen architektonischen Erbes aus verschiedenen, unser ganzes
Land prägenden Epochen.
Die Projektgruppe muss selbstverständlich finanziell
solide ausgestattet sein, damit sie ihre Ziele auch erreichen kann. Die benötigten finanziellen Mittel könnten
aus dem Budget der Bundesregierung für Öffentlichkeitsarbeit umgeschichtet werden. Ich bin mir sicher,
dass für eine bessere Vermarktung dann auch private
Sponsoren gefunden werden würden.
Meine Damen und Herren, eine weitere sehr sinnvolle
Maßnahme könnte meines Erachtens die - nicht zwangsweise, sondern freiwillige - Förderung von Abschlussfahrten von Schülern aus dem gesamten Bundesgebiet
sein.
({1})
In Berlin kann und sollte den jungen Menschen ein tiefer
Einblick in die wechselhafte deutsche Geschichte ermöglicht werden. Zahlreiche geschichtsträchtige Orte,
Gedenkstätten und Museen bieten einen hervorragenden
Querschnitt der Geschichte unseres Landes der letzten
200 Jahre.
Neben den großen Erfolgen auf dem Weg zur äußeren
und inneren Einheit unseres Landes können die Schülerinnen und Schüler in der Bundeshauptstadt auch den
Werkstattcharakter der Stadt auf dem Weg zur deutschen
Einheit - quasi wie auf einer Bau- und Schaustelle - erEdeltraut Töpfer
leben. Klassenreisen nach Berlin steigern die Anziehungskraft der Stadt für junge Menschen. Ein Teil von
ihnen kehrt, wie wir in der Vergangenheit gesehen haben, möglicherweise zum Studium, zur Ausbildung oder
zur Berufstätigkeit in die Stadt zurück und stärkt das Potenzial der Hauptstadt. Ich bin mir sicher, dass man mit
einem solchen Programm auch etwas gegen die häufig
erwähnte Politikverdrossenheit der Jugend erreichen
kann.
Die Durchführung einer Medienkampagne hat mein
Kollege Klimke schon erwähnt.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch einige Sätze zu einer sehr hilfreichen Unterstützung unserer Marketingoffensive für Berlin sagen. Es freut mich in
diesem Zusammenhang besonders, dass auch die CDUFraktion im Berliner Abgeordnetenhaus einen eigenen
Antrag mit dem Titel „Mehr als eine schöne Stadt - Tourismusinitiative für Berlin unterstützend begleiten!“ eingebracht hat, der das Anliegen meiner Fraktion aufgreift
und nachdrücklich unterstützt. So wird in diesem Antrag
zu Recht die aktive Teilnahme des Regierenden Bürgermeisters an der geplanten Projektgruppe „Hauptstadt
Berlin“ gefordert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung der Akademie der Künste
({0})
- Drucksache 15/3350 ({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({2})
- Drucksache 15/4124 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({3})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({4})
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/4127 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Lothar Mark
Anja Hajduk
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Eckhardt
Barthel, Erika Steinbach, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr,
Dr. Antje Vollmer und Dr. Christine Weiss für die
Bundesregierung werden zu Protokoll gegeben.1) Es verbleibt die Rede des Kollegen Otto von der FDP-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nutze
die wenigen Minuten meiner Redezeit, um Ihnen zu begründen, warum die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht ihre Zustimmung erteilen kann.
Die Akademie der Künste hat es nicht verdient, in einer Art Verschiebebahnhof von der Verantwortung des
Landes Berlin in die Verantwortung des Bundes überführt zu werden. Dies soll nicht etwa deswegen geschehen, weil dafür sachliche Gründe vorliegen, sondern
weil wieder einmal Geld im Berliner Kulturhaushalt
fehlt.
Es waren genau 22 Millionen Euro,
({0})
die für die Berliner Opernstiftung benötigt wurden. Frau
Weiss und auch Herr Flierl sind deswegen auf die Idee
gekommen, dass drei Berliner Institutionen in die Verantwortung des Bundes verschoben werden müssen.
Darunter befindet sich auch die Akademie der Künste.
Als in diesem Hause - übrigens ohne Aussprache - in
erster Lesung dieser Gesetzentwurf beraten wurde, hat
der Bundesrat Einspruch erhoben, weil er der Meinung
war, dass der Bundestag aufgrund fehlender Gesetzgebungskompetenz nicht darüber entscheiden kann. Daraufhin haben die Fraktionen von SPD und Grünen dem
Gesetzentwurf hinzugefügt - das ist eine wunderbare
Wortklauberei -, dass die Akademie der Künste eine national bedeutsame Einrichtung sei und der Repräsentation des Gesamtstaates diene. So kann man mit angesehenen Institutionen nicht umgehen. Man kann nicht
einfach schreiben, diese Maßnahme sei wichtig für den
Gesamtstaat.
({1})
Was wir von Frau Weiss und von der Regierungsko-
alition erwarten, ist, dass in die Hauptstadtkulturförde-
rung, deren Mittel rund zwei Drittel der gesamten För-
dermittel des Bundes ausmachen, eine Systematik
hineinkommt und dass begründet wird, warum be-
stimmte Institutionen in die Verantwortung des Bundes
kommen und bestimmte Institutionen in der Verantwor-
tung des Landes Berlin verbleiben. Dies hätten wir
schon im Falle der Akademie der Künste erwartet.
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Hans-Joachim Otto ({2})
Es ist ein problematischer Vorgang, dass eine Institution in den Verantwortungsbereich des Bundes verschoben wird - die Zusatzkosten dafür belaufen sich auf
16,2 Millionen Euro im Jahr -, weil Löcher im Haushalt
des Landes Berlin aufgetreten sind. Wir bekennen uns
zur Verantwortung des Bundes für die Hauptstadtkultur.
Aber wir akzeptieren es nicht länger, dass irgendwelche
Institutionen hin und her geschoben werden und die Verantwortung immer mehr auf den Bund abgeladen wird,
wenn sich im Haushalt des Landes Berlin ein Haushaltsloch auftut. Wir verlangen von Ihnen, dass Systematik,
Transparenz und Rationalität in die Hauptstadtkultur
eingeführt werden. Deswegen können wir diesem Gesetz
unsere Zustimmung nicht erteilen.
Ich möchte klarstellen, dass sich die Ablehnung der
FDP-Fraktion nicht gegen die Akademie der Künste
richtet. Sie leistet eine hervorragende Arbeit. Aber uns
hat niemand klar machen können, warum diese Akademie und auch andere Institutionen in die Verantwortung
des Bundes überführt werden sollen. Wir müssen in diesem Feld zu einer Systematik kommen. Deswegen sehen
wir uns außerstande, diesem Gesetzentwurf die Zustimmung zu erteilen.
Vielen Dank.
({3})
Eigentlich war das der letzte Redner des heutigen Tages. Aber der Kollege Günter Nooke hat das Bedürfnis,
eine Kurzintervention zu machen. Diese wollen wir dann
doch noch anhören. - Bitte schön.
Herr Präsident, das klingt ja so, als ob wir jetzt nicht
mehr reden dürfen, weil die Zeit schon so weit fortgeschritten ist. Ich denke, es lohnt sich schon, noch kurz
auf Herrn Otto zu reagieren, da ich ihn aus Sicht der
CDU/CSU-Fraktion in allem, was er zu den verfahrenstechnischen Aspekten gesagt hat, nur unterstützen kann.
Es ist in der Tat ein Gesetz gemacht worden, das vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre, das im Bundesrat
abgelehnt und dann verändert wurde. Im Zugriffsverfahren wurde ohne jede Systematik eine Berliner Institution
ausgewählt, die vom Bund übernommen werden sollte.
Das geht so nicht; das ist völlig richtig.
Ich will noch einmal für unsere Fraktion feststellen:
Wir kommen zu einem anderen Ergebnis als die FDP.
Weil die Staatsministerin so schäbig mit einer wichtigen
Institution umgegangen ist und verfahrenstechnisch alles
falsch gemacht hat, was man falsch machen kann, sagen
wir: Dieses Vorgehen sollte die ehrwürdige Akademie
der Künste nicht gefährden. Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, obwohl ich die Verfahrenskritik, die Kollege Otto vorgetragen hat, teile. Insofern ist es, glaube
ich, wichtig, deutlich zu machen, dass es uns nicht darum geht, die kleinlichen Verfahren in den Vordergrund
zu stellen, sondern eine wichtige Einrichtung in Berlin
finanziell gut auszustatten und mit der Unterstützung einer möglichst breiten Mehrheit des Parlamentes zu versehen.
Zur Erwiderung Herr Otto.
Lieber Herr Kollege Nooke, wir betrachten es nicht
als die Krönung der Anerkennung, wenn eine Institution
in die Verantwortung des Bundes gerät. Wir stehen zur
Arbeit der Akademie der Künste. Wir sind allerdings der
Meinung, dass sie dort, wo sie bisher ist, nämlich in der
Verantwortung des Landes Berlin, bleiben kann. Jedenfalls darf die Akademie der Künste nicht zu einem Verschiebebahnhof werden.
Wir erwarten, dass bei künftigen Verantwortungsverschiebungen zwischen dem Land Berlin und dem
Bund eine Systematik hergestellt wird, indem erklärt
wird, warum bestimmte Institutionen vom Bund zu übernehmen sind und andere nicht. Was hier in den letzten
Jahren passiert ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Ich will es noch einmal deutlich sagen: Unser Vorgehen richtet sich nicht gegen die Akademie der Künste.
({0})
Es richtet sich gegen die unterlassene Rationalität und
die unterlassene Transparenz aufseiten der Regierungskoalition. Wir wollen dies nicht auf dem Rücken der
Akademie der Künste austragen.
Danke.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Errichtung der Akademie der Künste auf
Drucksache 15/3350. Der Ausschuss für Kultur und
Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4124, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/
CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. November 2002 zur Gründung einer Assoziation
zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Chile andererseits
- Drucksache 15/3881 ({0}) ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2})
- Drucksache 15/4171 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({3})
Klaus-Jürgen Hedrich
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger,
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Für einen europäisch-kolumbianischen Dialog
und einen erfolgreichen Friedensprozess in
Kolumbien einsetzen
- Drucksache 15/3959 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Reden von Lothar Mark,
SPD-Fraktion, Klaus-Jürgen Hedrich, Erika Steinbach
und Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU-
Fraktion, Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die
Grünen und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Chile andererseits, Drucksache 15/3881 ({5}). Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4171, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3959 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum internationalen Familienrecht
- Drucksache 15/3981 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 15/4168 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Bätzing
Christine Lambrecht
Ute Granold
Sibylle Laurischk
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion, Ute
Granold, CDU/CSU-Fraktion, Irmingard Schewe-
Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen Staatssekre-
tärs Alfred Hartenbach.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum internationalen Familienrecht, Drucksache 15/3981. Der
Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4168, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Die Frage nach Gegenstimmen und Enthaltungen erübrigt sich. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts
- Drucksache 15/3979 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 15/4167 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Daniela Raab
2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sibylle Laurischk
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen Christine Lambrecht, SPD-
Fraktion, Ute Granold, CDU/CSU-Fraktion, Irmingard
Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, Sibylle
Laurischk, FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts,
Drucksache 15/3979. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/4167, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Frage nach Gegenstimmen und Enthaltungen erübrigt sich. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. November 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.