Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses zu Fernabsatzverträgen auf
Drucksache 15/4062 zu erweitern. Der Punkt soll nach
Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden. Sind Sie mit
dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen
- Drucksache 15/3439 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen
- Drucksache 15/3920 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({2})
- Drucksache 15/4051 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Dreßen
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Dreßen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle
ehrenamtlich Tätigen und bürgerschaftlich Engagierten
können sich freuen: Mit dem heute zu verabschiedenden
Gesetzentwurf zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter
und weiterer Personen wird die Arbeit im Ehrenamt
sicherer. Mit diesem Gesetz stärken wir ihre für die Gesellschaft so wichtige Arbeit. Sie ist der Kitt in der Gesellschaft, der vieles zusammenhält. Dies hat auch die
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ erkannt, die in ihrem Bericht festgehalten hat, wie das Ehrenamt für die Zukunft zu stärken ist.
Was sind die wichtigsten Neuerungen? Es wird ermöglicht, dass Frauen und Männer, die ehrenamtlich für
eine privatrechtliche Organisation im Auftrag oder mit
Zustimmung von öffentlich-rechtlichen Institutionen aktiv sind, für circa 2,50 Euro pro Jahr einen unfallversicherungsrechlichen Schutz erhalten. Dies gilt auch für
gewählte Ehrenamtsträger in gemeinnützigen Organisationen. In Zukunft wird man zum Beispiel den Platzwart
in den Sportvereinen in den Vorstand wählen, um den
unfallversicherungsrechtlichen Schutz zu ermöglichen.
Auch die vielen aktiven Gewerkschaftsfunktionäre innerhalb des DGB und die Arbeitgeberverbände können
den Nutzen dieser Neuerung genießen.
Im Rettungswesen gibt es viele ehrenamtlich Tätige.
Auch diese Männer und Frauen profitieren von den Neuerungen. Auch diejenigen, die bei internationalen Organisationen ehrenamtliche Aufgaben wahrnehmen, fallen
unter das Gesetz.
Wir wissen, dass sich viele Menschen in Religionsgemeinschaften engagieren. Auch diese Gruppe wird von
den Vorteilen des Gesetzes positiv erfasst. Wir rechnen
damit, dass für die Vereine, öffentlich-rechtlichen
Redetext
Institutionen und Kirchen 2,50 Euro pro Person und Jahr
an zusätzlichen Kosten für den Versicherungsschutz entstehen. Das ist wahrlich eine günstige Relation.
Wir haben im Gesetzgebungsverfahren einige Änderungen des Bundesrates übernommen. Wenn wir der
Forderung nach Abschaffung der Schülerunfallrenten
nicht nachkommen, so hat dies nicht nur haftungsrechtliche Gründe. Wir sind der Meinung, dass bei einem Unfall, der vielleicht lebenslange Beeinträchtigungen nach
sich zieht, ein Schutz vorhanden sein muss.
({0})
Das gilt auch für Auszubildende. Auch sie müssen ein
Recht auf Hilfe nach einem Unfall haben. Wir halten es
im Sinne eines sozialen Rechtsstaates nicht für vereinbar, diese jungen Menschen von wesentlichen Teilen des
Schutzes der Unfallversicherung auszuschließen.
Dass bei den Berufsgenossenschaften bzw. den Unfallkassen im Organisationsbereich einiges verbessert
werden muss, pfeifen inzwischen die Spatzen von den
Dächern. Dabei können, nein müssen wir über die inhaltlichen Ziele, über Fusionen, sicherlich neue Wege gehen.
Die Erfahrungen mit der Rentenorganisation oder den
landwirtschaftlichen Alterskassen zeigen uns aber, dass
man hier nichts über das Knie brechen darf.
Ich finde es gut, dass wir, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, hierzu einen Entschließungsantrag eingebracht
haben. Ziel ist, dass auf Staatssekretärsebene eine
Arbeitsgruppe eingerichtet wird, die in spätestens vier
Jahren Ergebnisse vorlegen soll. Bis dahin gilt ein Moratorium, das verhindern soll, dass diejenigen, die bei der
gewerblichen Berufsgenossenschaft versichert sind,
durch Umfirmierung wechseln können.
Abschließend möchte ich noch einmal verdeutlichen:
Heute ist ein guter Tag für bürgerschaftlich Engagierte.
Ihre Tätigkeit wird sicherer; denn nicht selten sind die
ehrenamtlich geleisteten Tätigkeiten mit Gefährdungsrisiken verbunden. Diese Tätigkeiten erfordern den solidarischen Schutz der Gesellschaft, der nun durch das Gesetz verstärkt wird.
({1})
Man stelle sich vor, es gäbe bei uns keine Sportvereine, Musikvereine oder andere kulturelle Vereine. Wir
wären in diesem Land ein ganzes Stück ärmer. Manche
unserer Kinder könnten keinen Teamgeist oder soziale
Kompetenz entwickeln. Auch manche Rettungseinrichtungen wären ohne ehrenamtliche Mitarbeiter nicht zu
halten. Etliche Kommunen bedienen sich ebenfalls der
Kompetenz und des Engagements vieler Bürger, was
- nebenbei bemerkt - dem Steuerzahler sehr viel Geld
spart.
Mit dem Gesetz wollen wir den ehrenamtlich Tätigen
nicht - wie sonst üblich - einen warmen Händedruck geben und Dankeschön sagen, sondern einen Schutz im
Ehrenamt bieten. Ich bitte Sie daher, dem Gesetzentwurf
zuzustimmen.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegin Gerlinde Kaupa, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend
über einen Gesetzentwurf, der von den ehrenamtlich Tätigen schon lange erwartet wurde und der heute - Gott
sei Dank - verabschiedet wird. Von der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
ist vor über zwei Jahren eine Reihe von Handlungsempfehlungen formuliert worden, zu denen auch eine bessere versicherungsrechtliche Absicherung bürgerschaftlich Engagierter gehört. Die gesetzliche Umsetzung der
Empfehlung ist Gegenstand unserer heutigen Beratungen.
Leider hat dies alles sehr lange gedauert, wir wissen,
warum: weil sich die Regierungskoalition geziert hat,
gemeinsam mit der Union einen Gesetzentwurf einzubringen. Das hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber
nicht davon abgehalten, Ihren Gesetzentwurf und Ihren
Entschließungsantrag, meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, im Sinne des Ehrenamtes
wohlwollend und mit viel Zustimmung zu begleiten.
({0})
Ich bin daher froh, dass wir heute die Verbesserung des
unfallversicherungsrechtlichen Schutzes für bürgerschaftlich engagierte Menschen gemeinsam auf den Weg
bringen.
Die Gründe für das Gesetz sind - neben der schon genannten Umsetzung der Handlungsempfehlungen der
Enquete-Kommission - vielfältig. Wir würdigen einerseits die Tatsache, dass ohne die über 21 Millionen in
Deutschland ehrenamtlich Tätigen in vielen gesellschaftlichen Bereichen unseres Landes faktisch wenig bis gar
nichts laufen würde, und zwar sowohl im sozialen,
kirchlichen und kulturellen Bereich als auch im Sport,
beim Gesundheitsdienst, beim Katastrophenschutz, beim
Rettungsdienst und in der Rechtspflege. Überall setzen
sich Menschen ehrenamtlich, uneigennützig und unentgeltlich für einen gemeinnützigen Zweck ein.
Wir reagieren mit der Verbesserung des Unfallversicherungsschutzes auch auf eine Entwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass in Zeiten knapper öffentlicher Kassen bisher staatlich wahrgenommene
Aufgaben zunehmend ehrenamtlich erfüllt werden und
dass dem Ehrenamt damit wachsende Bedeutung zukommt. Gleiches gilt für den Bereich religionsgemeinschaftlichen Wirkens.
Die Notwendigkeit des Gesetzes, über das wir heute
beraten, ist nicht zuletzt daraus entstanden, dass in manchen Bereichen ehrenamtlich Tätige nicht versichert
oder nicht versicherbar sind, ein nur durch untergeordnete Regelungen bestimmter Versicherungsschutz existiert und gelegentlich unklar ist, wer zuständiger Versicherer ist.
Zudem hat die Enquete-Kommission beschrieben,
dass sich viele einzelne Engagierte sowie Vereine und
Organisationen möglicher Risiken, denen sie in Ausübung dieser Tätigkeit begegnen können, nicht ausreichend bewusst sind. Hieraus hat sich der Handlungsbedarf für den Gesetzgeber ergeben.
Vorreiter in dieser Sache sind übrigens einige unionsgeführte Bundesländer gewesen: Hessen und Niedersachsen haben für ihren jeweiligen Bereich bereits im
vergangenen Jahr gehandelt und als Auffangregelung
Rahmenverträge für Ehrenamtliche über einen Unfallversicherungsschutz und darüber hinaus über einen
Haftpflichtversicherungsschutz abgeschlossen.
({1})
Die eher grundlegenden Regelungen, die mit der Gesetzesvorlage des Bundes getroffen werden, gehen dem landesseitigen Sicherheitsnetz vor.
Mit dem heutigen Beschluss werden der Kreis der gesetzlich und freiwillig zu Versichernden ausgeweitet, die
Möglichkeit geschaffen, per Satzung Ehrenamtliche in
den Versicherungsschutz zu bringen, Zuständigkeiten
der öffentlichen Unfallversicherungsträger und der gewerblichen Berufsgenossenschaft geregelt, Regelungen
über das Entstehen des Versicherungsschutzes sowie Regelungen zur Beitragsberechtigung getroffen.
({2})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bei den Beratungen Ihres Gesetzentwurfes gelegentlich auftretende
Bedenken zurückgestellt und den nach der Stellungnahme des Bundesrates von der Regierungskoalition eingebrachten Änderungsanträgen weitgehend und dem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung am Ende ganz
zugestimmt.
Lediglich zur Regelung der Zuständigkeit der Versicherungsträger und zur Frage, wie im Zuge einer Gesamtreform der Sozialversicherung die Unfallversicherung auf die gewandelten Bedingungen des europäischen
Binnenmarktes auszurichten ist - der Kollege Gerald
Weiß wird sich dieses Themas nachher annehmen -, haben wir einen Entschließungsantrag - er wurde noch
nicht eingereicht - erarbeitet, der sich von dem der Koalition wesentlich unterscheidet.
Ihre Ablehnung unseres Antrags - er ist zumindest im
Gesundheitsausschuss abgelehnt worden; so viel möchte
ich dazu nur sagen - wird die Notwendigkeit der Beantwortung der damit verbundenen Fragen nicht von der
Tagesordnung verschwinden lassen. Das Ganze wird uns
begleiten.
({3})
Im Gegenteil: Bei Nichtstun werden sich die Probleme der gesetzlichen Unfallversicherung verschärfen.
Insofern besteht dringender Handlungsbedarf. Wir müssen noch in dieser Wahlperiode und nicht erst in der
nächsten nach Wegen suchen, um die gesetzliche Unfallversicherung auf gesunde Füße zu stellen.
Da wir dem mit diesem Gesetzentwurf verbundenen
Anliegen positiv gegenüberstehen, kann ich für meine
Fraktion sagen, dass wir darin einen Gewinn für das Ehrenamt sehen. Existierende Lücken im Versicherungsschutz werden geschlossen. Das begrüßen wir. Bestehendes Engagement wird stabilisiert und Hilfsbereitschaft
wird geweckt. Hilfsbereite werden besser rekrutiert werden können, wenn die versicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen solidarischen Schutz für den Fall der
Fälle gewähren.
Insgesamt wird erwartet, dass über 2 Millionen Menschen von der heutigen Neuregelung profitieren werden.
Aus dem Kreis der verschiedenen Nutznießer möchte ich
gerne eine Sparte herausgreifen: die Sportvereine. Der
Kreis der Ehrenamtlichen ist auch deshalb so groß, weil
sich die Regelung, die eine freiwillige Versicherung für
gewählte Ehrenamtliche vorsieht, an die zahlreichen gemeinnützigen Vereine in Deutschland richtet. Allein für
den Bereich Sport rechnen wir mit einer halben Million
Adressaten, die durch Ergänzung von § 6 Abs. 1
SGB VII erreicht werden.
Zwar hat der Finanzausschuss des Bundesrates diesen
Punkt unter dem Eindruck möglicher ausufernder Kostenbelastungen und rechtssystematischer Erwägungen
anders bewertet und damit dem einen oder anderen
- ganz besonders Frau Freitag, die zu diesem Zeitpunkt
aber nicht auf der Höhe des Beratungsstandes war; aber
die Angelegenheit hat sich ja wieder beruhigt - vielleicht
eine Schrecksekunde beschert; doch der Bundesrat hat
am Ende die diesbezügliche Ergänzung des Gesetzentwurfes ausdrücklich gebilligt. Wir von der CDU/CSUBundestagsfraktion tun das auch.
Zukünftig können sich die Vorstandsmitglieder von
gemeinnützigen Vereinen in der gesetzlichen Unfallversicherung freiwillig versichern lassen. Dies entspricht einer Forderung des DSB. Der Deutsche Sportbund argumentiert schon seit mehreren Jahren, dass Menschen, die
sich in Ehrenämtern für den Sport und für andere Menschen über das übliche Maß hinaus engagieren, Anspruch auf den Schutz der Solidargemeinschaft haben
sollen. Es war bislang auch nicht wirklich nachvollziehbar, dass für Übungsleiter, Trainer, Platzwarte und Zeugwarte über die Weisungsgebundenheit gegenüber dem
Vorstand ein Beschäftigungsverhältnis angenommen
werden kann, mit dem ein Unfallversicherungsschutz
einhergeht, während dem Vorstand selbst dieser Versicherungsschutz vorenthalten bleibt. Dieser Widersinn
wird mit der Gesetzesvorlage geändert.
Ich hoffe, dass auch die Einbeziehung der Schiedsrichter, Kampfrichter, Wertungsrichter usw. in den unfallversicherungsrechtlichen Schutz sichergestellt wird;
in der abschließenden Beratung im Gesundheitsausschuss haben wir darüber schon gesprochen. Ein unfallversicherungsrechtlicher Schutz kommt bislang nur zustande - so steht es in den Statuten der VBG -, wenn
eine arbeits- oder dienstvertragliche Beziehung zu dem
Verein oder Verband besteht bzw. ein Zugang zur Tätigkeit vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus nicht möglich
ist. Diese Voraussetzung wird von den Schiedsrichtern
nicht erfüllt. Nach der in der Gesetzesänderung enthaltenen
Definition wird sich für diesen im Bereich des Sports
eine wichtige Aufgabe erfüllenden Personenkreis auch
nichts ändern. Das bedaure ich sehr.
Der Herr Staatssekretär Thönnes hat in der Ausschusssitzung am Mittwoch bekundet, es sei gewollt, die
Schiedsrichter in den Versicherungsschutz einzubeziehen. Eine Bestätigung habe ich leider noch nicht erhalten; vielleicht kommt sie noch. Wir alle müssen deshalb
davon ausgehen, dass es in diesem Punkt offenbar noch
Beratungs- und Nachbesserungsbedarf gibt.
Noch ein anderes Beispiel. Es gibt die Organisationsleiter im Sport. Da muss man unterscheiden. Wenn sie
eine Aufgabe laut Satzung übernehmen, haben sie ein
unversichertes Vorstandsamt; dann sind sie nicht versichert. Wenn sie aber ihre Organisationsleiteraufgabe gemäß Vertrag ausüben, dann sind sie versichert. Für denjenigen, der im Verein eine Aufgabe übernimmt, ist es
also nicht einfach, herauszufinden, ob er versichert ist
oder nicht. Es gibt Tennisvereine, in deren Satzung steht,
dass die Mitglieder im Frühjahr soundso viele Stunden
für die Herrichtung des Platzes leisten müssen. Wenn das
so in der Satzung steht, sind sie nicht versichert. Wenn
sie sich aber im Jahr zusätzlich in der Weise engagieren,
dann sind sie versichert. Diese Unterscheidung ist idiotisch.
({4})
Deshalb muss unbedingt eine Regelung geschaffen werden, die für alle durchsichtig ist. Da ist eine Nachbesserung notwendig.
({5})
- Jeder fühlt sich betroffen.
Noch ein Wort zur Schülerunfallversicherung, weil
sie vorhin angesprochen worden ist. Dabei ging es nur
um die Differenz zwischen Gesundheitsschadenausgleich und Erwerbsschadenausgleich, darum, ab wann
die Rente gezahlt wird, ab dem Tag, an dem die Schule
oder das Ausbildungsverhältnis beendet wird, oder auch
schon vorher.
Alles in allem - damit bin ich schon am Schluss kommen wir mit unserer Zustimmung zu den Änderungen des SGB VII der schon lange erhobenen Forderung
nach, dem bürgerschaftlichen Engagement in Deutschland Anerkennung zu zollen und der zunehmenden Bedeutung des Ehrenamts in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen.
Ich danke fürs Zuhören und freue mich unwahrscheinlich darüber, dass wir endlich einmal etwas gemeinsam verabschieden. Das könnten wir öfter tun.
({6})
Ich erteile Kollegen Markus Kurth, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Frau Kaupa, ich lade Sie
gern ein, viele Gesetzesvorhaben, die wir noch einbringen werden, mit uns zusammen zu verabschieden.
({0})
Bürgerschaftliches Engagement ist ein Engagement
für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Wer sich ehrenamtlich betätigt, übernimmt Verantwortung für andere und für die Gesellschaft. Gerade in Zeiten, in denen wir den Sozialstaat umbauen und die Eigenverantwortung erhöhen, nimmt bürgerschaftliches
ehrenamtliches Engagement auf jeden Fall zu. Es ist
nicht so, dass wir professionelle Angebote durch ehrenamtliches Engagement ersetzen wollten; aber allein das
Beispiel der rechtlichen Betreuung zeigt, dass wir ohne
ehrenamtlich Engagierte in Teufels Küche kämen. Wenn
wir zum Beispiel keine ehrenamtlichen Betreuer von
nicht Geschäftsfähigen hätten, wenn wir das alles über
Berufsbetreuer leisten müssten, wären die Kosten für
den Staat sehr hoch.
Aus diesem Grund ist es für Bündnis 90/Die Grünen
begrüßenswert, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein bedeutendes Zeichen gesetzt wird. Dass die
Solidargemeinschaft auch für die Gefährdungsrisiken
eintritt, die mit dem ehrenamtlichen Engagement verbunden sind, ist ein wichtiges Symbol.
Die Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ hat in ihrem Bericht sehr deutlich darauf hingewiesen, dass es nicht Sache des einzelnen Engagierten
sein kann, die mit dem Engagement verbundenen Risiken abzusichern. Es kann auch nicht erwartet werden,
dass sich diejenigen, die sich unentgeltlich für unser Gemeinwesen einsetzen, im Schadensfalle mit der eigenen
privaten Haftpflichtversicherung auseinander setzen
müssen. Erst recht geht es nicht an, dass sie völlig ohne
Versicherungsschutz dastehen.
Von daher sehen wir es in diesem Hause gemeinsam
mit der CDU/CSU als vordringliche engagementpolitische Aufgabe an, für einen angemessenen Unfallversicherungsschutz der Engagierten zu sorgen. Aus diesem
Grunde freue ich mich sehr, dass wir nun hier und heute
diesen Gesetzentwurf verabschieden und vom nächsten
Jahr an mehr als 1,5 Millionen Menschen einen umfassenden Unfallversicherungsschutz bieten können.
Im genannten Bericht der Enquete-Kommission wird
noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich
häufig weder die Engagierten noch die Vereine oder Organisationen der Gefahren bewusst sind, denen ehrenamtlich Engagierte alltäglich ohne eine ausreichende
Absicherung ausgesetzt sind. Anlässlich dieses Gesetzentwurfs habe auch ich mir noch einmal Gedanken darüber gemacht, wie ich selbst als Jugendlicher und junger Erwachsener unbekümmert als Jugendgruppenleiter
losgezogen bin. Welche Risiken ich dabei teilweise eingegangen bin, wird mir erst jetzt klar, da wir über diesen
Gesetzentwurf beraten. Ich freue mich, dass wir hier
jetzt für eine grundlegende Sicherheit sorgen können.
Es geht aber nicht nur darum, diejenigen versicherungsrechtlich abzusichern, die sich bereits seit langem
ehrenamtlich engagieren. Vielmehr verfolgen wir mit
dem vorliegenden Gesetz auch das Ziel, die Akzeptanz
unentgeltlicher Arbeit zu stärken. Gemäß dem Ursprungsentwurf profitierten vor allem diejenigen von
dieser Neuerung, die sich in Kommunen, Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen engagieren. Ich möchte auf eine wichtige Änderung, die wir vorgenommen haben, hinweisen: Wir eröffnen nun auch
den Unfallversicherungen die Möglichkeit, individuell
in ihren Satzungen zu regeln, welche weiteren Gruppen
ehrenamtlich Tätiger in den Versicherungsschutz einbezogen werden können. Dadurch können auch gemeinnützige Vereine und freie Initiativen leichter für Unfallversicherungsschutz ihrer Engagierten sorgen. Damit
kommen wir dem Ziel näher, alle Formen freiwilliger
Tätigkeit in ihrer ganzen Breite in den Versicherungsschutz einzubeziehen.
Vergessen wir nicht: Die Zukunft unserer Demokratie
und unseres Gemeinwesens hängt im Wesentlichen davon ab, ob wir es schaffen, dass sich in Deutschland eine
lebendige Zivilgesellschaft entwickelt, die das Engagement möglichst vieler zur Entfaltung bringt. Demokratie
lebt von Beteiligung, auf allen Ebenen und in allen Organisationsformen.
Im Laufe des Gesetzgebungsverfahren haben die
Fraktionen von SPD und Bündnisgrünen weitere Änderungen eingebracht, die vor allen Dingen darauf abzielten, die Zustimmung des Bundesrates zu erhalten, um
das Gesetz pünktlich zum Jahresanfang in Kraft treten zu
lassen. Dazu gehört auch die Regelung, dass für privatisierte Unternehmen der Länder und Kommunen für die
Dauer von fünf Jahren der derzeitige Unfallversicherungsträger zuständig bleibt. Meine Damen und Herren
von der Opposition, Sie haben diese Regelung zwar kritisiert, aber wollen deswegen dem Gesetz Ihre Zustimmung nicht verweigern. Das freut mich. Man muss jedoch sehen, dass auch die unionsgeführten Länder im
Bundesrat sehr vehement auf einer dementsprechenden
Regelung bestanden haben. Indem wir einem Wunsch
der Länder nachgekommen sind, wollen wir dafür sorgen, dass dieses Gesetz schneller den Bundesrat passiert
und in Kraft treten kann.
({1})
Ich denke, dass wir mit dem genannten Moratorium
und den Berichten, die gemäß unserem Entschließungsantrag eingefordert werden sollen, Regelungen gefunden
haben, wodurch sichergestellt wird, dass die Länderkammer zustimmen kann. Damit kann das von diesem Gesetz ausgehende Signal zu mehr Engagement möglichst
bald seine Wirksamkeit entfalten.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Ausbau des
versicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter.
({0})
Bürgerschaftliches Engagement ist Ausdruck einer liberalen Bürgergesellschaft.
({1})
Eine Bürgergesellschaft braucht aktive und ehrenamtlich
tätige Bürger.
Die Tätigkeit Ehrenamtlicher ist mit Risiken verbunden, die der Einzelne im Rahmen seines Engagements
selten bedenkt oder die ihm nicht bewusst sind und die
nun besser als bisher unfallversicherungsrechtlich aufgefangen werden. Die Ausweitung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes Ehrenamtlicher trägt der Entwicklung Rechnung, dass Gemeinden und Länder
vermehrt zivilgesellschaftliche Gruppen, Verbände und
Vereine in ihre Aufgabenerfüllung einbeziehen. Sie
schafft damit die notwendig Erweiterung des rechtlichen
Rahmens für eine liberale Bürgergesellschaft.
Allerdings, Herr Kollege Dreßen - Sie neigen da
manchmal zu überschießender Euphorie -,
({2})
sollten wir jetzt nicht den Eindruck erwecken, als ob der
unfallversicherungsrechtliche Schutz Ehrenamtlicher
mit dem heutigen Tag vollkommen neu erfunden würde.
Schon heute können sich viele Betroffene, zum Beispiel
gewerkschaftlich Tätige, auf eine gute, teilweise sogar
bessere - wie wir in der Anhörung gehört haben - Absicherung stützen. Wäre es anders, müsste aus unserer
Sicht auch die Frage, ob sich die Mehrausgaben für alle
Kommunen zusammen tatsächlich bei nur 150 000 Euro
bewegen, neu aufgeworfen werden.
({3})
Leider - das ist der Wermutstropfen, den ich in die
Debatte einbringen muss - entscheiden wir heute nicht
nur über die von uns unterstützten Verbesserungen für
ehrenamtlich Engagierte, sondern auf Wunsch der Regierungskoalition und zugegebenermaßen auf Drängen
des Bundesrats zugleich über Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen öffentlichen Unfallkassen und gewerblichen Berufsgenossenschaften bei Unternehmen
mit öffentlicher Beteiligung. Die FDP lehnt die sachwidrige Verbindung dieser beiden zusammenhanglosen Materien in einem Gesetzgebungsverfahren ab. Die Neuregelung der Zuständigkeiten in der Unfallversicherung
betrifft grundlegende Fragen der Abgrenzung zwischen
öffentlicher und gewerblicher Unfallversicherung und
bedarf deswegen einer sorgfältigen Vorbereitung. Aus
diesem Grund fordern wir, dass die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Unfallkassen und der Berufsgenossenschaften, die an Lösungen der Zuständigkeitsabgrenzungen arbeitet, abgewartet werden.
Die FDP-Fraktion lehnt die vorgelegte Neuregelung
der unfallversicherungsrechtlichen Zuständigkeiten von
Berufsgenossenschaften und öffentlichen Unfallkassen
aber auch inhaltlich ab. Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition sieht vor, die grundsätzliche Zuständigkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften für erwerbswirtschaftlich tätige Unternehmen mit öffentlicher
Beteiligung abzuschaffen und eine generelle Zuständigkeit der öffentlichen Unfallkassen für Unternehmen mit
öffentlicher Beteiligung oder ausschlaggebendem öffentlichen Einfluss festzulegen.
Erwerbswirtschaftlich tätige Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung würden damit im Ergebnis nicht mehr
am Lastenausgleichsverfahren der Berufsgenossenschaften beteiligt werden. Das führt - das muss man deutlich
sehen und auch benennen - zu Wettbewerbsvorteilen
({4})
- nein, das ist ein wichtiger Punkt, Herr Dreßen; ich
werde ihn gleich noch vertiefen - gegenüber privaten
Wettbewerbern, die bei den Berufsgenossenschaften
Beiträge entrichten und am Lastenausgleichsverfahren
beteiligt sind.
Aus unserer Sicht bedeutend ist, dass es bei diesen
strittigen Fällen nicht nur um Unternehmen aus dem Bereich der Daseinsvorsorge geht, beispielsweise Krankenhäuser, die mehr oder weniger zufällig in privater
Rechtsform betrieben werden. Die neue Rechtslage führt
dazu, dass beispielsweise auch kommunale oder andere
öffentliche Gebäudereinigungsbetriebe, die zum Beispiel
in Nordrhein-Westfalen insgesamt Lohnsummen im
dreistelligen Millionenbereich auszahlen, von den Beiträgen an die Berufsgenossenschaften und vom Lastenausgleich ausgenommen würden, weil dann die Unfallkassen für sie zuständig wären. Das ist aus unserer Sicht
nicht tragbar,
({5})
nicht nur weil es aus einzelwirtschaftlicher Sicht zu Verzerrungen kommt, sondern auch weil - das ist ganz entscheidend - dadurch einzelne Berufsgenossenschaften
bis zu 25 Prozent ihres Mitgliederbestandes verlieren
würden und damit selbst im Bestand gefährdet wären,
was in der Konsequenz zu einer weiteren Verschärfung
in der Frage des Lastenausgleichs zwischen den Berufsgenossenschaften führen würde.
Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion einen
Entschließungsantrag eingebracht, in dem sie fordert,
dass erwerbswirtschaftlich tätige Unternehmen - ob
mit oder ohne öffentliche Beteiligung - gleichen Wettbewerbsbedingungen unterstellt werden. Wegen der dargelegten ordnungspolitischen Bedenken gegen die sachwidrige Erweiterung wird sich die FDP-Fraktion,
obwohl sie das Grundanliegen der Ausweitung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes ehrenamtlich Tätiger uneingeschränkt unterstützt,
({6})
insgesamt der Stimme enthalten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes.
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Kolb, Sie haben über den Teil des Gesetzes gesprochen, der durch eine Initiative des Bundesrates in den Entwurf aufgenommen wurde. Wir haben eine
Übergangsregelung gefunden, die Ihrer Skepsis Rechnung trägt und zu einem guten Ergebnis führt. Wir sollten aber auf den Kern der heutigen Beratungen zurückkommen.
({0})
Wir beraten ein Gesetz, von dem wir hoffen, dass seine
Wirkung nie genutzt werden muss. Denn wir wünschen
all denjenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, dass
sie bei ihrem Engagement keine Unfälle erleiden. Dann
muss dieser Schutz auch nicht greifen. Aber die Menschen sollen bei ihrem ehrenamtlichen Engagement die
Gewissheit haben, dass sie den Unfallversicherungsschutz der Solidargemeinschaft haben, wenn einmal etwas passiert.
({1})
Gerade die ehrenamtlich Engagierten haben ein Anrecht darauf, dass wir ihnen diese Sicherheit und Solidarität in unserer Gesellschaft geben. Sie sorgen mit ihrem
Engagement dafür, dass unser Gemeinwesen funktioniert. Sie sorgen dafür, dass alte und pflegebedürftige
Menschen Zuwendung bekommen, vielleicht sogar
mehr, als das ansonsten in unserer durchorganisierten
Welt möglich wäre.
Sie sorgen auch dafür, dass bei schwieriger finanzieller Lage in den Kommunen die eine oder andere Leistung fortgeführt werden kann, sei es der Betrieb des
Schwimmbades und der Bibliothek, sei es die Renovierung des Klassenzimmers. Sie sorgen mit dafür, dass die
Jugendlichen in ihrer Freizeit auf dem Fußballplatz oder
im Schachclub ihre Zeit sinnvoll gemeinsam mit anderen
verbringen können. Ferner sorgen sie in vielen Bereichen dafür, dass kranke oder behinderte Menschen einen
Ansprechpartner haben, auf den sie sich verlassen können.
Diese wenigen Beispiele machen uns allen deutlich:
Das gesellschaftliche Leben wird durch bürgerschaftliches Engagement bunter und vielfältiger. Vor allen Dingen gilt: Unser soziales Netz wird dadurch viel dichter
und sicherer, als wir es jemals durch gesetzliche Regelungen gestalten könnten.
({2})
Deswegen will ich all denjenigen, die sich in diesen
Bereichen engagieren und einsetzen, ein großes Dankeschön von dieser Stelle sagen. Sie leisten einen unermesslichen Beitrag für die Stabilität unserer Gesellschaft. Sie sind sozusagen das soziale Gesicht der
Gesellschaft in Deutschland.
({3})
Nun sagt man zwar „Ehre, wem Ehre gebührt“, aber
die bildhaften Lorbeeren, die man sich damit vielleicht
verdienen kann, schmücken zwar das Haupt, schützen es
allerdings nicht. Deswegen wollen wir zur Anerkennung
und zum Schutz des bürgerschaftlichen Engagements
den Kurs fortsetzen, den wir in der Vergangenheit mit
Erleichterungen und Verbesserungen eingeschlagen haben.
Ich erinnere daran, dass die Übungsleiterpauschale
auf 1 848 Euro angehoben worden ist. Inzwischen gilt
sie als steuerfreie Einnahme. Ich erinnere daran, dass
auch die Neuregelung der 400-Euro-Minijobs in Kombination mit der Übungsleiterpauschale neue Gestaltungsspielräume geschaffen hat,
({4})
die dazu beitragen, dass die Honorierung der Übungsleiter im Sportbereich steuer- und abgabenfrei ist. Das sind
nur zwei Beispiele.
Wir führen mit dem heutigen Gesetz weitere Verbesserungen ein. Wir wollen, dass diejenigen, die sich für
die Mitmenschen und für das Gemeinwohl engagieren,
Dankbarkeit erfahren und dass ihnen soziale Anerkennung zuteil wird. Und wir wollen ihnen den dringend
notwendigen Schutz zukommen lassen.
Nun wissen wir, dass wir nicht jede einzelne Tätigkeit
gesetzlich versichern können. Wir konzentrieren uns daher auf bestimmte Gruppen. Ich will zwei Gruppen herausgreifen. Künftig ist derjenige versichert, der im Auftrag und mit Einwilligung der Kommune Aufgaben
erledigt, die eigentlich kommunale Aufgaben sind.
({5})
- Nein. Hier ist eine Einwilligung notwendig. - Die
Menschen sollen wissen, dass sie gesetzlich versichert
sind, wenn sie beispielsweise helfen, das Klassenzimmer
zu renovieren oder im Sommer Aufsicht in einem
Schwimmbad zu führen.
Daneben sollen aber auch die gemeinnützigen Organisationen die Möglichkeit haben, ihre gewählten
Ehrenamtsträger in der gesetzlichen Unfallversicherung zu versichern. Ich glaube, dies nimmt den größten
Teil des gesamten Regelungswerkes ein.
Die Umsetzung wird unbürokratisch und verwaltungsmäßig sehr einfach durchgeführt werden. Der
Name des Versicherten kommt erst im Leistungsfall ins
Spiel. Die Vereine melden der zuständigen Unfallversicherung lediglich, um wie viele Personen es sich handelt. Die Kosten sind bereits von den Kolleginnen und
Kollegen angesprochen worden. Der Preis für die Mitgliedschaft wird wahrscheinlich 2,50 Euro pro Jahr und
versicherte Person betragen.
Falls die kommunalen Gebietskörperschaften Bedenken haben, sei ihnen an dieser Stelle gesagt: Sie sollten,
abgesehen von diesem geringen Versicherungsaufwand,
nicht unterschätzen, dass die Wertsteigerung, die zum
Beispiel durch die Renovierung eines Klassenzimmers
in einer Schule erfolgt, eine Gabe an die Gemeinde ist
und die Kommunen entlastet.
Frau Kaupa, ich greife das auf, wonach Sie im Zusammenhang mit dem Schiedsrichterwesen gefragt haben. Wir haben es noch einmal recherchiert. In den Gesprächen, die in der Enquete-Kommission und auch mit
den Sportverbänden geführt worden sind, hat dieser Bereich nie eine große Rolle gespielt. Wir werden das noch
einmal mit dem DSB bereden. Wir müssen Klarheit bekommen, wie es dort mit dem Versicherungsschutz aussieht.
Einen Punkt will ich ergänzen, der denjenigen zugute
kommt, die bereits heute im Bereich der Rettungskräfte
aktiv sind und teilweise ihr Leben einsetzen, um anderes
Leben zu schützen. Diese Personen sind zwar versichert;
aber Sachschäden, die sie erleiden, sind bisher nicht
versichert. Das bedeutet: Wir wollen, dass im Rahmen
der schon bestehenden Versicherung Sachschäden, die
im Rettungswesen ehrenamtlich Tätige erleiden, versichert sind. Es ist nicht einzusehen, dass ehrenamtliche
Rettungskräfte, die keinen Obolus für ihren Einsatz fordern, bei persönlichen Sachschadensfällen im Einsatz
Einbußen erleiden. Das darf nicht passieren.
({6})
Kollege Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Riegert?
Aber selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, Sie haben das Problem der
Schieds-, Kampf- und Wertungsrichter nur kurz gestreift. Es besteht in der Tat das Problem, dass diese
nicht gewählt und daher keine Amtsträger im Verein
sind. Ich möchte eine Aufforderung in eine Frage
kleiden: Sind Sie mit mir einer Meinung, dass wir versuchen sollten, diesen Bereich, der im Sport eine wichtige
Funktion hat, aber ähnlich wie die Justiz unabhängig
sein muss, in den Versicherungsschutz des Gesetzes aufzunehmen?
Herr Riegert, wir hatten eine ähnliche Fallkonstellation - Herr Kolb hat dies angesprochen - bei den Gewerkschaften. Wir hatten zunächst vorgesehen, dass diejenigen, die bei den Gewerkschaften und den
Arbeitgeberverbänden in einem Ehrenamt tätig sind,
„zwangsversichert“ werden. Wir haben uns darüber informiert, wie es dort mit dem Versicherungsschutz aussieht, und haben dann gesagt: Lasst uns das auf freiwilliger Basis regeln; denn es gibt bereits eine Menge an
Versicherungsvereinbarungen, die die Verbände selbst
getätigt haben.
Vor diesem Hintergrund möchte ich sagen: Unsere
Grundlinie ist zwar klar; aber wir wollen versuchen, in
Gesprächen mit dem Deutschen Sportbund ein bisschen
mehr Klarheit zu erreichen. Dann werden wir schauen,
welche Möglichkeiten es an dieser Stelle gibt, damit
auch die von Ihnen genannten Personen versichert sind.
Wir müssen aber auch sehen, inwieweit sie schon jetzt
versichert sind. Ich glaube, darin sind wir uns einig.
Ich freue mich auch darüber, dass wir uns hier im
Hause insgesamt einig sind. Denn eigentlich ist die heutige Stunde eine Nagelprobe - ich bitte Sie, das nicht abwertend zu verstehen - in Bezug auf unsere sonntäglichen Reden auf Verbandstreffen.
({0})
Da sagen wir auch immer, dass wir das Ehrenamt stärken
wollen. Heute können wir das durch Handaufheben gemeinsam beweisen und helfen, dass dies in der Praxis
umgesetzt wird. Ich hoffe, alle tragen dazu bei, dass der
Bundesrat das ebenfalls möglich machen wird. Denn ich
bin mir sicher: Der Dank der Ehrenamtlichen
({1})
wird unserer gesamten Gesellschaft zugute kommen und
mit dazu beitragen, dass wir in dieser sich rasant verändernden Welt weiterhin ein gutes, stabiles Netz sozialer
Sicherheit haben.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Gerald Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die CDU/CSU dankt den Millionen Menschen
in Deutschland, die als Träger der aktiven Bürgergesellschaft ehrenamtlich engagiert sind. Die heutige gesetzgeberische Entscheidung ist eine Abschlagszahlung auf
den Dank, den die gesamte Gesellschaft diesen Menschen schuldig ist.
({0})
Deshalb machen wir mit - dies ist ein Stück Gemeinsamkeit und findet parteiübergreifend statt -, wenn es
darum geht, den Unfallversicherungsschutz Ehrenamtlicher zu verbessern. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Er schafft bessere Rahmenbedingungen
für die Menschen im Ehrenamt. Diese Leistungsverbesserung wurde im Konsens beschlossen. Dieser Konsens
ist die angemessene Antwort auf das, was in der Gesellschaft an Selbstverantwortung und Mitverantwortung
geleistet wird. So weit, so gut!
Nicht gut finden wir, dass die rot-grüne Regierungskoalition - nach dem Prinzip „Gute Fracht, schlechte
Beiladung“ - sachwidrig eine im Ergebnis falsche Regelung in dieses Gesetzeswerk, das wir gemeinsam befürworten, hineingepackt hat. Diese Kritik können wir Ihnen nicht ersparen.
({1})
Es geht um eine Neuregelung der Zuständigkeit für
Betriebe und Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung:
In Zukunft sind die öffentlichen Unfallkassen und nicht
mehr die Berufsgenossenschaften für sie zuständig.
Kollege Kolb hat das hier völlig zutreffend dargestellt.
Heute ist es so, dass die Unternehmen, die in den gewerblichen Berufsgenossenschaften organisiert sind, am
Lastenausgleichsverfahren teilnehmen. Das gilt natürlich auch für die Unternehmen, die privatisiert wurden,
beispielsweise kommunale Krankenhäuser, die etwa als
Stadtkrankenhaus GmbH rechtlich neu organisiert wurden. Mit diesem Gesetz wird die Möglichkeit eröffnet,
den Unfallkassen beizutreten. Im Ergebnis heißt das:
Man kann sich auf recht billige Weise aus der Solidarität, die es bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften
durch den Lastenausgleich gibt, herausstehlen.
({2})
Das ist selbstverständlich in keiner Weise zu akzeptieren.
({3})
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dreßen?
Ja, bitte.
({0})
Damit halte ich es immer gut. - Kollege Weiß, das,
was Sie jetzt anmahnen, steht nicht im Gesetz, sondern
ist in der Entschließung - in ihr wird das Moratorium gefordert - enthalten. Sie sind mit mir einer Meinung, dass
es hierzu bei Bund und Ländern verschiedene Auffassungen gibt? Denn die Länder wollen eine entsprechende Regelung. Halten Sie es deshalb nicht für richtig,
dass wir diesen Weg beschreiten und ein Moratorium
brauchen?
In vier Jahren schauen wir - ich selbst habe erwähnt,
dass es einige Ungereimtheiten gibt -,
({0})
ob es sich bewährt hat. In diesen vier Jahren können wir
eine ordentliche Reform der Berufsgenossenschaften
und der Unfallkassen hinbekommen, bei der auch für
dieses Problem eine Regelung gefunden werden kann.
Sie müssen doch zugestehen, dass diejenigen, die daran
arbeiten, gegensätzlicher Meinung sind. Wenn ich sehe,
wie lange wir für die Rentenorganisationsreform oder
für die Reform der landwirtschaftlichen Alterskassen gebraucht haben, dann muss ich feststellen, dass vier Jahre
sogar ein sehr kurzer Zeitraum sind. Die anderen haben
nämlich Jahrzehnte gebraucht, um die Angelegenheiten
einigermaßen in Ordnung zu bringen. Mit der Entschließung wollen wir erreichen, dass wir Zeit gewinnen und
das Problem in Ruhe behandeln können.
Herr Kollege Dreßen, manchmal stehen die Sichtweisen und Interessenslagen der Länder - ich selbst war
25 Jahre in der Landespolitik aktiv und war vier Jahre
Staatssekretär in einer Landesregierung - im Widerspruch zu dem, wofür der Bund Sorge tragen muss: Wir
müssen auch im Interesse der Beitragszahler in der gesetzlichen Unfallversicherung handeln. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, die Selbstverwaltung, haben zu Recht ihre Stimme erhoben und gesagt, dass es
durch die Regelung, die Sie treffen, im Ergebnis Wettbewerbsverzerrungen geben wird, weil öffentliche Unternehmen aus den Berufsgenossenschaften austreten und
zu den Unfallkassen wechseln. Diejenigen, die in den
Berufsgenossenschaften zurückbleiben, müssen dann
natürlich eine höhere Beitragslast tragen.
({0})
- Nein, ich bin noch nicht fertig.
({1})
Der Beitragsdruck in der Sozialversicherung und in
der Unfallversicherung, besonders in Krisenbranchen, ist
doch weiß Gott schon heute viel zu groß. Deshalb ist der
Weg, den Sie eröffnen, falsch.
({2})
- Nein, Ihre Frage ist noch nicht beantwortet. Ich muss
Sie noch um einen Augenblick Geduld bitten.
Sie schlagen jetzt den Weg des Moratoriums vor. Dabei wissen Sie - Sie sind ein alter Fahrensmann, genau
wie auch wir -, dass Sie diese Regelung doch im Leben
nicht mehr rückgängig machen können.
({3})
Das kann kein Mensch mehr korrigieren, wenn es schon
vier Jahre Geltung hat.
({4})
Das ist eine Sackgasse. Man muss abwägen, welches Interesse man berücksichtigen will. Wir stellen das Interesse der gesetzlichen Unfallversicherung und der
Berufsgenossenschaften in den Vordergrund. Deshalb
möchten wir nicht gern eine solche Regelung ermöglichen. Auch Sie fühlen sich nicht ganz wohl in Ihrer
Haut.
({5})
Das hat Ihre Zwischenfrage bewiesen.
Ich nenne folgenden Fall: Was heute eine Stadtkrankenhaus GmbH ist, kann morgen durch Umgründung
vielleicht Gesundheitszentrum GmbH heißen. Das wäre
eine neue Firma, für die dann die Unfallkasse und nicht
mehr die Berufsgenossenschaften zuständig wäre.
({6})
Schon hat man sich auf billige Weise aus dem Lastenausgleich gestohlen, den wir in der Berufsgenossenschaft haben. Das ist ein völlig inakzeptabler Weg.
({7})
Ihre Reaktion im Ausschuss war bezeichnend. Sie haben gesagt: Wir geben jetzt noch einmal zu Protokoll,
dass wir diesen Missbrauch nicht wollen. - Auch wir
wollen ihn nicht. Deshalb darf man ihn gesetzlich gar
nicht erst möglich machen. Das ist unsere Folgerung aus
diesem Sachverhalt.
({8})
Wir als Union sind jetzt in der Situation, dass wir den
verbesserten Unfallversicherungsschutz für ehrenamtlich Tätige, den wir wünschen, nur bekommen, wenn wir
diese unliebsame Ergänzung in Kauf nehmen. Sie bringen uns damit in eine erpresserische Situation. Allerdings ziehen wir daraus eine andere Folgerung als die
FDP.
({9})
Gerald Weiß ({10})
Wir sagen: Der Inhalt dieses Gesetzes insgesamt ist uns
natürlich wichtiger als der Fremdkörper, den Sie draufsetzen. Deshalb werden wir nach verantwortlicher Abwägung, obwohl Sie uns - das sage ich noch einmal - in
unangenehmer Weise in die Situation „Friss, Vogel, oder
stirb!“ bringen, diesem wichtigen Gesetz zustimmen.
({11})
Jetzt greife ich den Reformimpetus auf, den mehrere
Redner in dieser Debatte angesprochen haben: Auch in
der gesetzlichen Unfallversicherung gibt es Reformbedarf. Diese Reformen dürfen nicht erst im Jahr 2008
- bis dahin soll nach Ihrem Willen eine Bund/LänderKommission tagen - stattfinden.
({12})
Dieser Reformbedarf ist - Kollegin Kaupa hat es mit
Recht ausgeführt - noch in dieser Legislaturperiode anzugehen. Sie wollen den Zeitrahmen bis 2008 stecken.
({13})
- Nein, Sie haben gesagt, dass die Kommission bis 2008
Ergebnisse vorlegen soll.
Bis 2006 muss etwas passieren. Das Dringendste
muss jetzt angegangen werden. Ich nenne die Stichworte: Verbesserung des Lastenausgleichs, Erhöhung
der Effizienz und der Effektivität in der Berufsgenossenschaft. Die organisatorische Flurbereinigung in der Berufsgenossenschaft muss fortgesetzt werden, und zwar
beschleunigter als in der Vergangenheit.
({14})
Es gibt ja viele sinnvolle Vorschläge. Als Beispiel
nenne ich: Einmalzahlung statt der lebenslangen Auszahlung einer Kleinrente. Wir wissen, dass viele Kleinrenten, die als Ausgleich für leichtere Unfälle ein Leben
lang gezahlt werden, für die Berufsgenossenschaften einen unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand bedeuten. Man sollte über eine Einmalzahlung nachdenken.
Es gibt also Reformansätze zur Flurbereinigung der
Organisation der gesetzlichen Unfallversicherung, die
fortgesetzt werden müssen. Aus dieser Diskussion darf
sich der Deutsche Bundestag vor dem Hintergrund der
zu schaffenden Bund/Länder-Kommission nicht ausklinken. Vielmehr müssen wir die elende Entparlamentarisierung der Politik beenden. Der Bundestag muss sich an
dieser Reformdebatte beteiligen. Er muss diese Fragen
parallel zu den lobenswerten Bemühungen, die in den
Ländern und in der Kommission unternommen werden,
aktiv erörtern und voranbringen. Daher kommen wir zu
folgendem Ergebnis: In verantwortungsvoller Abwägung werden wir diesem wichtigen Gesetzentwurf zustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Götz-Peter Lohmann, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste und Besucher!
({0})
Ich werde etwas näher auf den Sportbereich eingehen,
({1})
nicht, weil wir denken, dass der Sport etwas Besonderes
ist, sondern, weil es nun einmal eine unbestrittene Tatsache ist, dass der Deutsche Sportbund, in dem
27 Millionen Bürgerinnen und Bürger organisiert sind,
die größte Bürgervereinigung in der Bundesrepublik
Deutschland ist. Deshalb werde ich ein paar Aspekte aus
der Sicht des Sports ansprechen. Es ist zwar das Schicksal der Redner, die zum Schluss an der Reihe sind, dass
manches schon gesagt wurde,
({2})
aber ein paar Sätze möchte ich noch anbringen.
Vor kurzem war der Präsident des Deutschen Sportbundes, Manfred von Richthofen, sowohl im Sportausschuss als auch im Unterausschuss „Bürgerschaftliches
Engagement“ zu Gast. Ich kann mich gut daran erinnern,
dass er unseren Gesetzentwurf sowohl im Sportausschuss als auch im Unterausschuss „Bürgerschaftliches
Engagement“ begrüßt hat. Daher möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich bei den Mitgliedern des Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ ganz
herzlich für ihre Arbeit zu bedanken.
({3})
Durch die geschaffenen Neuregelungen wird - auch
das ist schon gesagt worden - eine Lücke im Unfallversicherungsschutz für ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger geschlossen. Dadurch können bis zu
2 Millionen weitere ehrenamtlich Tätige in den Genuss
dieses Versicherungsschutzes kommen,
({4})
der bisher nur für ausgewählte ehrenamtliche Funktionsträger die Folgen von Unfällen im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engagements abfederte. Dieser Schutz wird
also zukünftig ausgedehnt. Es werden nicht nur Trainer
und Übungsleiter, sondern darüber hinaus auch alle gewählten Funktionsträger versichert sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar
Zahlen nennen. Wie gesagt, in Deutschland treiben rund
27 Millionen Menschen aktiv Sport, neuerdings übrigens
auch wieder verstärkt Bundestagsabgeordnete. Sie tun
das in fast 90 000 Turn- und Sportvereinen. Allein in den
Sportvereinen - diese Zahl muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen - werden Jahr für Jahr von rund 2,7 Millionen überwiegend ehrenamtlich tätigen Mitarbeitern
rund 500 Millionen Arbeitsstunden geleistet.
({5})
Rund ein Fünftel der im Sportbereich bürgerschaftlich
Engagierten sind gewählte Ehrenamtsträger, denen nun
endlich die Möglichkeit eines umfassenden Unfallversicherungsschutzes gewährt wird.
Die übrigen Zahlen, die ich noch nennen wollte, sind
größtenteils bereits angesprochen worden. Lassen Sie
mich daher noch folgenden Gedanken äußern: Das Risiko eines gewählten Funktionsträgers in einem Sportverein ist in der Regel geringer als das eines Trainers
oder Übungsleiters, der mehrfach in der Woche auf
Sportplätzen oder in Sport- bzw. Schwimmhallen aktiv
ist. Wenn einem ehrenamtlich tätigen Funktionsträger
- aus welchen Gründen auch immer - dennoch etwas
passiert, soll er nach unserer Auffassung gleichermaßen
abgesichert sein. Denn es ist nicht einzusehen, dass ein
Trainer, der in diesen Tagen während der Übungszeit auf
der Sportanlage auf nassem Herbstlaub ausrutscht, in
den Genuss von berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherungsleistungen kommt, der Vereinsvorsitzende hingegen, dem auf dem Weg zur Vorstandssitzung das gleiche Missgeschick passiert, jedoch nicht.
Mit dieser Ungleichbehandlung soll in Zukunft
Schluss sein,
({6})
und das - darauf hat Herr Staatssekretär Thönnes hingewiesen - bei im Vergleich zum Nutzen relativ geringen
Kosten und unbürokratisch. Die Landessportbünde rechnen mit einer sehr geringen zusätzlichen finanziellen Belastung; die Zahlen wurden genannt. Der zuständige
Landessportbund soll in einem einfachen Verfahren die
Zahl der Versicherten melden und den Versicherungsbeitrag entrichten. Erst im Leistungsfall müssen die persönlichen Daten des Einzelnen erfasst werden. Besonders
wichtig und beruhigend für alle Ehrenamtlichen ist auch,
dass die Leistungen von den Berufsgenossenschaften unabhängig von der Schuldfrage zur Verfügung gestellt
werden müssen; damit erübrigt sich jede Art von Streit
mit dem Unfallversicherungsträger über die Ansprüche
des Versicherten.
({7})
Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Kaupa?
Bitte, meiner hochgeschätzten Kollegin Frau Kaupa
werde ich das immer gestatten.
Vielen Dank, lieber Götz-Peter. - Zum Sport gehört ja
auch das Feiern und wir wissen, dass die Sportvereine
gerne feiern und Veranstaltungen organisieren. Ist in den
Regierungsfraktionen bereits geklärt worden, ob auch
derjenige, der etwa beim Zeltaufstellen oder beim Ausschank hilft, mitversichert ist?
({0})
Dass der Vorsitzende jetzt mitversichert sein soll, wissen
wir, aber es gibt ja noch mehr Leute, die ehrenamtlich tätig sind.
Es ist eigentlich nicht meine Aufgabe, aber ich
möchte dennoch um etwas Ruhe bitten.
({0})
Ich schätze in der Tat sehr an der hochgeschätzten Kollegin Kaupa, dass sie in ihrer Heimat im Kreissportbund
eine ausgezeichnete, engagierte Arbeit leistet. Ich erinnere an die Ausführungen von Staatssekretär Thönnes:
Er hat ausgeführt, dass zurzeit Gespräche zwischen dem
Ministerium und dem Deutschen Sportbund geführt werden. Ich weiß, dass noch Klärungsbedarf besteht; darüber sind wir uns einig. Der DSB hat das, was wir heute
beschließen wollen, begrüßt. Er will, dass es heute beschlossen wird und dass das, was noch offen ist und geklärt werden müsste, besprochen wird. Wir werden gemeinsam darauf achten, dass das auch passiert.
Es fällt mir jetzt doppelt schwer, doch noch auf das
einzugehen, was Sie gesagt haben, Kollegin Kaupa. Sie
wissen genau - ich erinnere mich an die Situation im
Sportausschuss und in dem Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ -, dass es eine Bundesratsinitiative gab und einen Mehrheitsbeschluss der unionsgeführten Länder im Finanzausschuss des Bundesrates
- diese Initiative kam aus Ihrer Richtung -, mit der allen Ernstes die Streichung von Art. 1 Nr. 4 des Gesetzentwurfes, über den wir hier sprechen, verlangt wurde.
Ich hätte das jetzt nicht angeführt, wenn nicht diese
Kritik gekommen wäre, aber nun muss ich meine Zurückhaltung doch ablegen. Ich weiß aber auch - wir alle
wissen das -, dass dieser Unfug mittlerweile vom Tisch
ist. Für uns stellt sich nur die Frage: Was ist die Ursache dafür, dass dieser Unfug nun Gott sei Dank vom
Tisch ist? War es der entschiedene Brief von Manfred
von Richthofen oder war es der gesunde Menschenverstand?
({1})
Zum Schluss möchte ich nur noch sagen:
Menschen, die sich engagieren, haben Anspruch
auf den Schutz der Solidargemeinschaft.
({2})
So lautete kürzlich die Überschrift einer Veröffentlichung des Deutschen Sportbundes. Diese Aussage sollte
unseren ungeteilten Beifall finden.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen, Drucksache 15/3439.
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4051, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und
Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4051 empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 15/3920 zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.
Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4076. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur
Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen
- Drucksachen 15/2946, 15/3483, 14/3870,
15/4062 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist ebenso nicht der Fall.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/4062? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Helge Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Abwanderung deutscher Nachwuchswissenschaftler und akademischer Spitzenkräfte
({1})
- Drucksachen 15/1824, 15/3185 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ein starkes Exportland und unser
teuerster Exportartikel sind kluge Köpfe.
Die Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“ hat in
einer sehr drastischen Kampagne auf den Exodus der
Klügsten aufmerksam gemacht.
({0})
Sie sehen auf dem Plakat ein Gehirn in Plastik eingeschweißt; es ist quasi versandfertig. Mit diesem Exportartikel verdienen wir kein Geld. Das kommt uns teuer zu
stehen.
Bundesbildungsministerin Bulmahn hält den Braindrain für einen Mythos; denn was nicht sein darf, das
kann auch nicht sein. Wir wollten dem auf den Grund
gehen und haben eine Große Anfrage gestellt. Sie haben
uns geantwortet und teilten uns mit, dass Sie keine gesicherten Aussagen über dauerhafte oder zeitweilige Abwanderungen von Hochschulabsolventen und Wissenschaftlern machen können. Gleichzeitig verkündete die
Bundesbildungsministerin, es gebe keinen Braindrain.
Wie das zusammenpasst, weiß ich nicht.
Die Studien, auf die Sie sich beziehen, stützen Ihre
Thesen keineswegs. Die DFG hat ehemalige Stipendiaten befragt und festgestellt, dass von den vor zehn bis
15 Jahren geförderten deutschen Wissenschaftlern heute
12 bis 14 Prozent im Ausland leben. Von denen, die
Ende der 90er-Jahre gefördert wurden, leben bereits
22 Prozent im Ausland. Auch andere Studien zeigen,
dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend auswandern, insbesondere in die USA.
Der Braindrain ist nicht nur ein quantitatives, sondern
vor allem ein qualitatives Problem. Die Besten gehen.
Und von diesen Besten bleiben die Allerbesten dauerhaft
weg. Schlag auf Schlag haben zwischen 1998 und 2001
Deutsche für Physik und Medizin Nobelpreise geholt;
allerdings forschten alle vier Laureaten in den USA.
Der HRK-Präsident, Professor Gaehtgens, beschreibt
den Alltag an den Hochschulen mit folgenden Worten:
Wir können die Besten nicht halten. - Er schätzt, dass in
den USA 400 000 in Europa ausgebildete Akademiker
leben. Professor Bullinger, sonst der Kronzeuge der
Bundesregierung in Fragen der Innovation und Wissenschaft, von der Fraunhofer-Gesellschaft hat genau dieselbe Erfahrung gemacht. Er sagt: Wir haben einen hohen Wechsel von Wissenschaftlern in die USA. Schlimm
ist nicht, dass die Leute gehen. Schlimm ist, dass sie
nicht wiederkommen.
Warum geht die Elite? Warum wendet sie Deutschland den Rücken zu? Die Gründe des Weggangs liegen
auf der Hand.
({1})
Es sind die besseren Arbeitsbedingungen; jede Befragung und jede Studie - ob vom Stifterverband, BerlinPolis oder wem auch immer - weisen darauf hin. Die
Eliten suchen die Offenheit, den Leistungswillen, wertvolle Kontakte, flache Hierarchien und offensichtlich
das akademische Reizklima in den USA. Der Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle bringt es wie folgt auf den
Punkt: In den USA werden die jungen Leute systematisch aufgebaut. Wer sich bewährt, bekommt eine Stelle.
In Deutschland herrscht für junge Forscher zu große Unsicherheit. Das demotiviert. - Seit 1990 forscht er in den
USA.
({2})
Das MIT hat ihm einen Blitzaufstieg ermöglicht. Als
dann 1997 das Traumangebot von der Max-Planck-Gesellschaft kam, war es schon zu spät.
Das Land von Albert Einstein und Otto Hahn ist heute
vor allen Dingen wegen seiner starren Strukturen und
des Mangels an Freiheit für Wissenschaft und Forschung
kein Magnet mehr. In Deutschland fehlen die Dynamik,
der gewisse Kick, vor allem auch die gesellschaftliche
Anerkennung und die Offenheit für herausragende Forschungsleistungen. Dies hat Bundeskanzler Schröder vor
kurzem auf der Jahresversammlung von Acatech beklagt.
Ich will einige Defizite benennen. Die Juniorprofessur war allenfalls ein Anfang, aber ein richtiges Tenuretrack-System ist das noch lange nicht. Das Besoldungsrecht wird der modernen Wissensgesellschaft generell
nicht gerecht. Das betrifft auch das reformierte Professorenbesoldungsrecht, insbesondere wenn für die meisten
auf Jahre nur ein abgesenktes Grundgehalt realisiert
wird. Forschung und Lehre sind zu starr getrennt. Das
gilt aber nicht nur für das Wissenschaftssystem, sondern
auch für die Wirtschaft. Für einen Wechsel zwischen
Wissenschaft und Wirtschaft muss man viele Hürden
überwinden.
Wir pflegen unsere Absolventen zu wenig. Wir bilden
sie zwar gut aus, aber wir fragen dann nicht mehr, wohin
sie gehen und was sie eigentlich machen. Daran aber
müssten wir ein großes Interesse haben. Dass wir das
nicht wissen, liegt auch an der mangelnden Datenbasis.
In Deutschland wird das Klima zunehmend als technikfeindlich wahrgenommen. Vor allen Dingen gelten wir
als ein Land, das bei den ganz modernen Forschungsfeldern und Technologieentwicklungen nicht dabei ist.
({3})
Man kann es nur gebetsmühlenartig wiederholen: Grüne
Gentechnik wird blockiert, Deutschland verabschiedet
sich von der Kernenergieforschung und der Transrapid
fährt in Schanghai.
({4})
Das ist zwar alles nicht neu, aber leider hat sich nichts
geändert.
({5})
Der Siemens-Vorstand Klaus Wucherer resümiert:
Ideologische Abwehrkämpfe gegen Technik treiben die
Forscher aus dem Land. - Wie reagiert die zuständige
Bundesbildungsministerin darauf? Wie üblich: erstens
mit Wirklichkeitsverweigerung, zweitens mit PR und
drittens mit einem Diktat. Tolle Wissenschaftspreise
wurden ausgelobt - das ist übrigens auch deshalb gut,
weil man so eine Menge PR hat -, aber diese Preise
schaffen keine Trendumkehr. Es gibt den WolfgangPaul-Preis und den Sofja-Kovalevskaja-Preis, die jeweils mit mehr als 1 Million Euro dotiert sind. Damit
können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für
vier Jahre in Deutschland forschen. Aber nach diesem
Stipendium kehren sie Deutschland wieder den Rücken.
Von den 14 Paul-Preisträgern blieben ganze vier in
Deutschland, von den 29 Kovalevskaja-Preisträgern
blieben ganze zehn hier.
Die Ursache ist klar: Die Preisgelder helfen über eine
Durststrecke hinweg, aber sie lösen nicht das strukturelle
Problem.
({6})
Die Juniorprofessur hat gezeigt, dass man trotz eines
richtigen Gedankens eine fulminante Bruchlandung hinlegen kann. Frau Bulmahn ist für die Chaostage, die im
Herbst 2004 an den deutschen Hochschulen stattgefunden haben,
({7})
verantwortlich. Weil die Wahlfreiheit eingeschränkt
wurde und weil die Karrieremöglichkeiten unsicher sind
- durch ein miserabel vorbereitetes Gesetz, das das Bundesverfassungsgericht einkassiert hat -, hat sie es zu verantworten, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verunsichert sind.
({8})
Schlimm ist in diesem Zusammenhang, dass Sie in Ihrer
Notreparaturnovelle die Befristungsregeln, die sich als
untauglich erwiesen haben, eins zu eins in Kraft setzen
wollen. Sie sind damit Lichtjahre von den Bedürfnissen
der Forscherinnen und Forscher entfernt. Wir stellen Ihnen gerne unseren Gesetzentwurf zur Verfügung.
Ich glaube, wir brauchen eine neue Politik, insbesondere einen anderen Ansatz für die Hochschulen. Wir
müssen dafür sorgen, dass sich die Hochschulen ihre
Studenten selbst auswählen können. Wir dürfen ihnen
nicht verweigern, ihre finanziellen Mittel für Forschung
und Lehre aufzubessern. Frau Bulmahn hat zwar mit gigantischen Werbeinitiativen versucht, ausländische Studierende nach Deutschland zu holen, was wir begrüßen,
weil wir den Kontakt zu den jungen Eliten brauchen,
aber die Aktion ist nicht zu Ende gedacht. Am Mittwoch
hat der DAAD-Präsident im Ausschuss gesagt, dass die
Abbruchquote der ausländischen Studierenden bei über
50 Prozent liegt.
({9})
Realistisch betrachtet hält er eine bessere Betreuung und
Heranführung der ausländischen Studierenden an das
Studium nur dann für möglich, wenn Geld oder Beiträge
eingeworben werden können. Da weigern Sie sich ganz
hartnäckig. Machen Sie den Weg für eine Stärkung der
Hochschulen frei, machen Sie den Weg für mehr Freiheit
der Hochschulen frei! Ich glaube, das ist der richtige
Weg.
({10})
Sie werden, meine Damen und Herren von der Koalition und von der Bundesregierung, darauf hinweisen,
dass sich auch die Länder bewegen müssen. Ja, sie müssen sich bewegen, aber wir sind hier im Deutschen Bundestag, wir debattieren hier und hier müssen zuerst die
Hausaufgaben gemacht werden. Man wird Sie an Ihren
Taten messen, nicht an Ihren Worten. Nachdem Sie den
Hochschulbau im vergangenen Jahr schon drastisch von
rund 1,1 Milliarden Euro auf 900 Millionen Euro gekürzt haben,
({11})
werden Sie ihn in diesem Jahr erneut kürzen, und zwar
um 63 Millionen Euro.
({12})
Diesmal geschieht das durch die Hintertür, durch eine
Sperrung des Titels bis zur Abschaffung der Eigenheimzulage.
({13})
Das ist eine unseriöse Politik. Dieser Betrug wird Ihnen
auf die Füße fallen.
({14})
Ein letzter Punkt: Viele exzellente deutsche Wissenschaftler haben den Eindruck, dass sie in Deutschland
gar nicht erwünscht sind und man sich nicht um sie kümmert. Es gibt eine Privatinitiative, die German Scholars
Organization ({15})
- hinter ihr stehen insbesondere Unternehmen -, die sich
darum bemüht, deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Deutschland zurückzuholen. Im
BMBF hat man gesagt, das sei eine klasse Idee, man bedanke sich - und die GSO hat nie wieder etwas vom Ministerium gehört.
({16})
Wenn Sie das effektive Politik nennen, dann weiß ich es
auch nicht.
Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, die notwendigen Reformen vorantreiben und den Nachwuchswissenschaftlern in Deutschland eine Chance bieten, damit aus
dem Braindrain ein Braingain wird.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Braindrain, das Bild abwandernder Gehirne, geistert zurzeit durch viele bildungspolitische Diskussionen, so
auch heute hier. Das ist ein Szenario, das sicherlich so
manchen Horrorfilmregisseur inspirieren würde. Ich
kann Ihnen aber versichern: Das Bild ist falsch.
({0})
Die dauerhafte Abwanderung von hoch qualifizierten
Wissenschaftlern ins Ausland - auf gut neudeutsch:
Braindrain - findet so nicht statt. Deutsche Wissenschaftler und deutsche Studierende gehen zwar ins Ausland, aber sie kehren auch zurück. Genauso kommen
ausländische Forscher hierher und kehren später in ihre
Heimatländer zurück. Es handelt sich also um einen
Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
({1}) - Dr. Uwe Küster [SPD]: Ge-
nau das wollen wir!)
Um im Fachjargon zu bleiben: Es handelt sich um Braincirculation. Dies ist in Zeiten zunehmender Internationalisierung ausdrücklich gewünscht und erforderlich. Die
Deutsche Forschungsgemeinschaft zum Beispiel hat in
einer Studie festgestellt, dass drei Viertel ihrer Stipendiaten Auslandserfahrungen sammeln, von denen aber
85 Prozent später wieder in Deutschland arbeiten.
Dass Deutschland eine weitgehend ausgeglichene
Wanderungsbilanz an Wissenschaftlern hat, hat auch
die OECD in einer internationalen Untersuchung vom
Juni 2001 festgestellt. Darin weist sie auch darauf hin,
dass der internationale Austausch für die beteiligten
Länder große Vorteile hat und insbesondere stimulierend
für innovative Entwicklungen wirkt.
Nicht ohne Grund verlangen Arbeitgeber in Wirtschaft und Wissenschaft Fremdsprachenkenntnisse und
internationale Erfahrung.
({2})
Besonders für Forscher, die sich auf dem internationalen
Parkett bewegen wollen, sind Auslandsaufenthalte von
existenzieller Bedeutung. Aber auch die Erfahrungen
mit den kulturellen Gepflogenheiten im Gastland sowie
die gesellschaftlichen Kontakte, die sich dort ergeben,
nützen unserem Land langfristig.
Nicht von ungefähr legen Firmen und Hochschulen
zunehmend Wert auf interkulturelle Kompetenz. Auch
deshalb arbeiten wir mit aller Kraft daran, das deutsche
Bildungswesen zu internationalisieren. Deshalb ist uns
zum Beispiel auch der Erfolg des Bologna-Prozesses so
wichtig. Wir wollen die Einführung von Bachelor- und
Masterstudiengängen in Deutschland und europaweit
forcieren. Wir brauchen nämlich den wissenschaftlichen
Austausch. Deshalb wollen wir vergleichbare Abschlüsse und Studieninhalte, um bis zum Jahr 2010 einen
einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen.
Wir wollen, dass sich unsere Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler international vernetzen. Darüber hinaus wollen wir ausländische Spitzenwissenschaftler in
unser Land holen. Lange genug war unser Land durch
eine Mauer abgeschottet.
({3})
Nach der verfehlten Technologiepolitik der KohlRegierung,
({4})
nach drastischen Kürzungen im Forschungshaushalt und
einem enormen Rückgang der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in den 90er-Jahren ({5})
in diesem Zusammenhang empfehle ich die Lektüre eines „Spiegel“-Artikels vom 9. September 1996, überschrieben mit dem Titel „Wir verlieren die Köpfe“ - hat
sich diese Bundesregierung von Anfang an darauf konzentriert, Bildung und Forschung zu stärken. Seit 1998
haben wir die Ausgaben in diesem Bereich um rund
36 Prozent erhöht. Aber nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch strukturell wurde seitdem viel getan,
um die Attraktivität des Wissenschaftsstandorts
Deutschland zu steigern.
({6})
Mit ihrer Initiative zur Einführung der Juniorprofessur - die Sie allerdings kurzfristig gestoppt haben; aber
inzwischen geht die Entwicklung wieder in die richtige
Richtung - hat die Bundesregierung attraktive Stellen
für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschaffen, auf denen sie früh selbstständig forschen und
lehren können.
({7})
Dank der Reform des Hochschulzugangs und der Professorenbesoldung können die Hochschulen autonome
Entscheidungen treffen, die - das wird Sie freuen, Frau
Reiche - bei der Anwerbung von Spitzenkräften wichtig
sind. Aber auch mit speziellen Förderprogrammen - die
Sie eben in Misskredit zu bringen versucht haben - wie
dem Bio-Future-Preis und dem Emmy-NoetherProgramm bietet die Bundesregierung dem wissenschaftlichen Nachwuchs interessante Förderangebote.
So erhält dieser die Möglichkeit, sich frühzeitig für Leitungsaufgaben zu qualifizieren.
Bedeutende Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Wissenschafts- und Forschungsbereich sind zudem die Modernisierung des Zuwanderungsrechts und der Ausbau der Kinderbetreuung.
({8})
- Genau: gegen den erklärten Widerstand der CDU/CSU
über einen langen Zeitraum.
({9})
Auch Frau Süssmuth konnte Sie leider nicht rechtzeitig
auf die richtige Bahn bringen.
Aber wir dürfen uns nicht auf unseren Erfolgen ausruhen. Vielmehr müssen wir stetig an Verbesserungen arbeiten.
In Ihrer Großen Anfrage zum Braindrain sprechen
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wichtige Punkte an, nämlich die Investitionen in Bildung und
Forschung und die Spitzenförderung. Vor genau sieben
Tagen haben Sie in diesem Haus den Vorschlag der Bundesregierung abgelehnt, durch die Streichung der Eigenheimzulage ungefähr 6 Milliarden Euro für Forschung,
Wissenschaft und Bildung zu mobilisieren.
({10})
Sie fordern zwar permanent höhere Bildungsausgaben,
lehnen es aber ab, die notwendige Finanzierung sicherzustellen und dafür eine Subvention abzubauen, die anerkanntermaßen nicht mehr zeitgemäß ist.
({11})
Genau das gleiche Verhalten legen Sie bei der Spitzenförderung an den Tag. Sie bestätigen zwar, dass akademische Spitzenkräfte ein wichtiger Standortfaktor
sind, und fragen, ob die Bundesregierung wirklich vorhat, die wissenschaftliche Elite zu fördern, wohl wissend
im Übrigen, dass die Regierung bereit ist, allein im Rahmen ihrer Exzellenzoffensive dafür 285 Millionen Euro
jährlich zur Verfügung zu stellen.
({12})
- Richtig, zusätzlich. - Aber gleichzeitig blockieren die
unionsgeführten Länder dieses Vorhaben. Seit drei Monaten liegt der Vorschlag der Bundesregierung zur Exzellenzförderung in der Bund/Länder-Kommission auf
Eis. Es wäre sehr verdienstvoll, wenn Sie mit der ganzen
Ihnen zur Verfügung stehenden Überzeugungskraft Einfluss auf Ihre Parteifreunde in den Bundesländern nehmen würden, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion.
({13})
Dann würde sich unsere Position im Hinblick auf die
Anwerbung von Spitzenkräften nach Deutschland
- „Braingain“ genannt - weiter verbessern. Dann könnten auch Sie ruhiger schlafen, ohne sich mit Albträumen
über „abwandernde Gehirne“ quälen zu müssen.
Sie sehen, dass die Bundesregierung eine Menge tut,
um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu fördern und Deutschland als Standort attraktiv zu machen.
Nun müssen aber auch Sie sich fragen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, welchen
Beitrag Sie dazu leisten wollen.
({14})
Meine Empfehlung: Reden Sie den Standort Deutschland nicht weiter schlecht und geben Sie Ihre Blockadehaltung auf! Unterstützen Sie die Bundesregierung dabei, die Attraktivität des Standortes Deutschland noch
weiter zu steigern, damit die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch in Zukunft gern hier leben
und arbeiten.
Danke schön.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen von Frau Reiche und Frau Berg haben eines
deutlich gezeigt: Unser großes Manko - auch in der heutigen Debatte - ist, dass wir nicht über verlässliche Zahlen debattieren. Wir führen eine fast virtuelle Debatte
über etwas, das wir alle offensichtlich erahnen und immer wieder sehr gerne ansprechen, nämlich dass die besten Köpfe dieses Land verlassen. Aber die diesbezüglichen Statistiken sind alles andere als aussagekräftig.
Deshalb lautet unsere erste Forderung: Die Bundesländer müssen sich endlich bereit erklären, verlässliche
Hochschulstatistiken auf den Tisch zu legen. Das ist
unser Problem.
({0})
Obwohl Sie diesen Gedanken im Rahmen der KMK, die
wir seit langem abschaffen wollen, offensichtlich verfolgen, kann ich keine Verbesserung der Situation erkennen. Das ist das eine.
Ich stimme der Bundesregierung in ihrer Antwort
ausdrücklich zu, dass eine quantitative Bewertung des so
genannten Braindrains deutlich zu kurz greift. Wenn wir
über dieses Thema ernsthaft debattieren wollen, müssen
wir selbstverständlich auch über die Gewinnung von
Wissenschaftlern aus dem Ausland sprechen.
({1})
Es ist richtig, wenn deutsche Wissenschaftler und Hochqualifizierte ins Ausland gehen. Wir unterstützen dies
und fordern das auch von jedem jungen Menschen, der
in diesem Lande in Forschung und Wissenschaft tätig
sein will. Aber die jungen Menschen müssen natürlich
auch wieder zurückkommen. Vor diesem Hintergrund
aber war Ihre Aktion, Herr Kasparick - Sie vertreten ja
heute die Ministerin -, aus Sicht der FDP mehr mitleiderregend. Das, was Sie uns bisher als Erfolg verkauft haben, ist alles andere als überzeugend und bewegt sich
mehr im virtuellen Raum, genauso wie die ganze Diskussion.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle betonen: Wenn wir Forscher in dieses Land zurückholen wollen, dann müssen
wir uns auch der Tatsache bewusst sein, dass es nicht nur
das Geld ist, das immer lockt. Ich kann für die FDP nur
sagen: Die Atmosphäre in diesem Lande stimmt nicht.
Es ist die Freiheit, die den Menschen hier fehlt. Eben das
aber bekommen sie in den USA geboten. Frau Reiche,
ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Die Offenheit der
Forschungsatmosphäre in dem Lande jenseits des
Ozeans lockt natürlich jeden jungen Menschen.
Nach unserer ersten Forderung - bessere Statistiken lautet unsere zweite deswegen: Ermöglichen Sie endlich
die Gedankenfreiheit, die wir in diesem Land so dringend brauchen!
({3})
Herr Tauss, ich sehe, was Sie mit allerlei Aktionen
versuchen. Was Sie da so in Gang setzen, ist allerdings
mehr instrumentarisch. Frau Reiche hat es aufgezeigt:
Vieles greift nicht. Sie haben mithilfe Ihres grünen Koalitionspartners nicht nur die Atmosphäre eindeutig verdüstert, sondern Sie sind mit Ihren entscheidenden Aktionen auch gescheitert. Gehen Sie doch einmal in eine
Versammlung mit jungen Forschern! Erleben Sie doch
einmal, wie das Urteil zur bundesweiten Einführung der
Juniorprofessur gewirkt hat! Es hat geradezu vernichtend gewirkt.
Oder verfolgen Sie doch einmal eine Debatte darüber,
wie sich der Föderalismus in diesem Lande auswirkt!
Die Föderalismusdebatte hat Unsicherheit bis weit über
die Grenzen dieses Landes hinaus hervorgerufen. Wir
haben uns vorige Tage von den Wissenschaftsattachés
unserer benachbarten Länder fragen lassen müssen, wie
lange wir uns in dieser Debatte eigentlich noch verfangen wollen.
Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Ungern, aber ich tue es.
Frau Kollegin Flach, Sie haben hier eine ganze
Menge Punkte angesprochen. Hatten Sie Gelegenheit,
das Protokoll unserer Anhörung zum Thema Juniorprofessur nachzulesen? Zu dieser Anhörung hatten wir
Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren geladen.
Diese haben allesamt ihre Arbeitsmöglichkeiten nicht
nur als hervorragend beurteilt, sondern auch dringend
darum gebeten, dieses Instrumentarium aufrechtzuerhalten und auf weitere Nachwuchsgruppen auszudehnen.
Die Anhörung hat ergeben, dass der eingeschlagene Weg
genau richtig ist. Können Sie das nicht einfach einmal
zur Kenntnis nehmen, anstatt die Situation des Wissenschaftsstandorts Deutschland hier mit wirklich falschen,
an den Haaren herbeigezogenen und inakzeptablen Polemiken, mit Ihrem - Entschuldigung! - Geschwätz bewusst schlecht zu machen?
({0})
Herr Präsident, muss ich mir das eigentlich bieten lassen?
Sie können hemmungslos widersprechen.
Ich werde auch hemmungslos widersprechen.
Im Gegensatz zu Ihnen, „lieber“ Herr Tauss, war ich
mit der Ministerin vor wenigen Tagen auf einer Podiumsdiskussion, zu der auch eine ganze Reihe von Juniorprofessoren geladen waren. Von dieser Aktion - sie ging
übrigens von der Organisation der Juniorprofessoren in
Deutschland aus - haben wir beide, Frau Bulmahn und
ich, mit nach Hause nehmen müssen, dass diese Menschen durch dieses Hickhack natürlich schwer verunsichert sind.
({0})
Sie wissen doch ganz genau - Herr Tauss, Sie brauchen sich gar nicht so künstlich aufzuregen -, dass die
FDP immer für die Juniorprofessur war. Wir sind allerdings immer ein entschiedener Gegner Ihres Vorgehens
im Gesetz gewesen.
({1})
Wir wussten doch, dass die Länder dagegen klagen werden. Wir wussten doch, dass die Länder Ihnen Knüppel
zwischen die Beine werfen werden. Das haben wir auch
in diesem Hause immer wieder besprochen.
({2})
Die FDP ist für die Juniorprofessur; aber man kann
sie nicht gegen die Länder durchsetzen. Bei diesem Versuch haben Sie Ihre große Schlappe erlebt. Herr Tauss,
wir werden in wenigen Tagen erleben, wie Sie beim
Thema Studiengebühren erneut eine Schlappe erleiden.
({3})
Lassen Sie uns das doch einfach einmal nüchtern betrachten: Die Juniorprofessur ist eine gute Sache; aber
sie ist von Ihnen grottenschlecht umgesetzt worden.
({4})
Wenn man sich heute die Situation in Deutschland anschaut, erkennt man auf der einen Seite sehr schlecht
umgesetzte Gesetze und auf der anderen Seite den immer wieder unternommenen Versuch - vor allen Dingen
des grünen Koalitionspartners -, Forschungsfreiheit in
diesem Lande zu behindern. Unser Land wirkt nach
außen doch nicht optimistisch und nicht aufbruchgestimmt. Es ist vor allen Dingen von Konsenssuche, von
knirschenden Reformrädern und von langatmigen
Debatten bestimmt. Das ist doch der Grund, warum viele
Leute hier abgeschreckt werden. Wenn ich ein junger
Forscher wäre, würde ich mir dreimal überlegen, ob ich
hier bleibe.
Ich bin geradezu entsetzt - Herr Kasparick, vielleicht
können Sie uns das gleich einmal erklären -, dass der
Herr Bundeskanzler mitten in diesen Debatten jetzt
plötzlich neue Denkkulturen im Bereich der Gentechnik
fordert. Herr Kasparick, während die CDU und wir seit
Jahren versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass wir in
diesem Land auf diesem Gebiet vorangehen müssen,
fängt der Bundeskanzler jetzt an zu denken.
({5})
Fazit dieser Situation: Wenn wir über abwandernde
Eliten reden, dann müssen wir uns der Tatsache stellen,
dass unser Land nach außen nicht mehr Forschungsoptimismus und Forschungsfreiheit ausstrahlt. Das muss
verändert werden und dafür werden wir sorgen.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der Union,
in Ihrer Anfrage zur Abwanderung deutscher Nachwuchswissenschaftler haben Sie schon im zweiten Satz
einen großen Fehler gemacht. Sie schreiben, dass
Deutschland aufgrund des Rohstoffmangels besonders
auf Humanressourcen angewiesen ist. Richtig ist, dass
Deutschland arm an fossilen, atomaren und metallischen
Rohstoffen ist. Aber Deutschland ist reich an nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energien.
Allerdings - das gebe ich zu - braucht es dafür die Erschließung großer Humanressourcen, vor allem damit
sich bei Ihnen und der FDP endlich die Erkenntnis
durchsetzt, dass wir hier große Chancen haben.
({0})
Ihre Forschungsfeindlichkeit zeigt sich genau daran,
dass Sie die Blockaden für den Wissenschaftsstandort
Deutschland in diesen Bereichen aufrechterhalten, Sie,
Frau Flach, mit Ihrem Beharren auf der Grünen Gentechnik, die 80 Prozent aller Verbraucherinnen und Verbraucher ablehnen, Sie, Frau Reiche, mit Ihrem Beharren auf der Atomenergie. Glauben Sie endlich an die
anderen Bereiche! Wir haben da den besten Wissenschaftsstandort. Sie reden ihn immer schlecht. Es ist genau Ihre Wissenschaftsfeindlichkeit, die diesen Standort
schlecht macht.
({1})
Wir sind uns einig darüber, dass die Stärkung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland sehr wichtig ist und zu einem hohen Anteil von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland führen muss.
Allerdings stellen wir das Ziel des Wissenschaftleraustausches nicht infrage. Es ist gerade für junge Leute
wichtig, Auslandserfahrungen zu sammeln. Daher ist
die Tatsache, dass es viele Deutsche im Studium und in
der beruflichen Praxis im Ausland gibt, eine erfreuliche,
über die wir positiv reden sollten. Gleiches gilt für den
hohen Anteil von ausländischen Wissenschaftlern und
Wissenschaftlerinnen in Deutschland. Das ist gerade ein
Beweis für die hohe Attraktivität des Wissenschaftsstandorts Deutschland.
Nun zu der von Ihnen befürchteten Abwanderung von
Wissenschaftlern aus Deutschland. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich den furchtbaren Begriff „Braindrain“ nicht verwende. Wer außer den Fachleuten versteht ihn? Niemand! Wir sollten hier im Parlament eine
Sprache wählen, die die Bürgerinnen und Bürger verstehen.
({2})
Die von Ihnen gesehene Gefahr einer Abwanderung
wird von der OECD als völlig überschätzt bezeichnet.
So kehren nach einer Studie der DFG 85 Prozent aller
Stipendiaten wieder nach Deutschland zurück. Die Anzahl der Deutschen, die im Ausland studieren, wird für
das Jahr 2000 - ich gebe zu, dass die Basis für diese
Zahlen erweitert werden müsste, um verlässliche Ergebnisse zu haben - mit 50 000 angegeben. Diese Zahl ist
deutlich geringer als die Anzahl der Bildungsausländer,
die in Deutschland studieren, nämlich 113 000. Auch
dies ist ein Zeichen für den hohen Rang des Wissenschaftsstandorts Deutschland.
({3})
Natürlich müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass
viele Studierende sowie Spitzenforscher hier in Deutschland beste Bedingungen bekommen. Die Bundesregierung hat bereits erfolgreiche Maßnahmen dazu ergriffen,
zum Beispiel das Emmy-Noether-Programm für exzellente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die
Graduiertenkollegs, hoch attraktive Förderpreise wie
den Sofia-Kovalewskaja-Preis oder den Bio-FuturePreis.
({4})
All diese Maßnahmen müssen von weiteren begleitet
und ergänzt werden; denn der internationale Wettbewerb
um die besten Köpfe ist eine Daueraufgabe. Sie, meine
Damen und Herren von der Union, haben die Bundesregierung erst in der letzten Woche in Ihrem Antrag zum
7. Forschungsrahmenprogramm aufgefordert, den Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
zwischen forschenden Unternehmen und öffentlichen
Forschungseinrichtungen weiter zu erleichtern und zu
erhöhen. Als Mittel dafür nennen Sie einen deutlichen finanziellen Ausbau der Fördermaßnahmen. D’accord!
Aber das reicht nicht aus. Hier müssen vor allem die
Bundesländer dazu angehalten werden, sich im Rahmen der Tarifverhandlungen endlich für einen Wissenschaftstarifvertrag einzusetzen. Das wäre eine entscheidende Basis auch für die Unterstützung, die Sie
immer anmahnen.
Eine Erhöhung der Forschungsmittel, vor allem der
Projektmittel, wird dazu beitragen, dass junge Wissenschaftler überhaupt genügend Arbeit bekommen können.
({5})
Die Zwänge des engen Bundeshaushalts - das will ich
hier durchaus zum Ausdruck bringen - bereiten mir tatsächlich Sorgen. Aber ich appelliere auch an Sie, Herr
Kretschmer: Gehen Sie auf die Unionsministerpräsidenten zu mit dem Ziel, damit auch die Länder endlich ihren
Beitrag zur Erhöhung der Forschungsmittel leisten, so
wie wir auf Bundesebene unseren Beitrag längst erbracht
haben!
({6})
Das ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes. Wir stehen
zur Mischfinanzierung. Also leisten auch Sie Ihren politischen Input hierzu!
Diese Woche hat das Kabinett einen wichtigen Schritt
getan, um die Arbeitsbedingungen an Deutschlands
Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zu verbessern. Die HRG-Novelle gibt als Reaktion auf die Verfassungsgerichtsentscheidung nun den mehr als 600 Juniorprofessorinnen und -professoren genauso
({7})
wie den Ländern, die die Juniorprofessur in ihren Landeshochschulgesetzen verankern wollen, Rechtssicherheit. Gemäß der Novelle liegt es nun in der Hand der
Länder, den gesicherten Aufstieg von der Juniorprofessur zur Vollprofessur zu regeln. Das haben sie ja immer
lautstark gefordert. Die Regelungen zur Befristung sehen wir Grüne nach wie vor sehr kritisch. Die ZwölfJahres-Regel mit ihren starren Anforderungen ist lebensfremd. Angesichts des Kompetenzstreites um die Hochschulen in der Föderalismuskommission war aber eine
Wiederherstellung des alten Zustandes derzeit die einzig
mögliche Lösung. Dennoch bleibt unser Ziel weiterhin
ein Wissenschaftstarifvertrag. Helfen Sie mit, die Ländervertreter zurück an den Verhandlungstisch zu bringen.
({8})
Ein weiterer Schritt der Bundesregierung ist der Pakt
für Forschung und Innovation. Wir freuen uns besonders, dass auch die Förderung von Frauen in Wissenschaft und Forschung ein wichtiger Bestandteil sein
wird. Vorgestern im Ausschuss beschämte uns Professor
Frühwald von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung
mit dem Hinweis, dass Korea ein Mittel gegen das merkwürdige Phänomen des vermeintlichen Fehlens von
Frauen in der Spitzenforschung gefunden hat. Dort
wurde ein eigenständiger Preis nur für Frauen ausgelobt;
plötzlich fiel den Forschungseinrichtungen auf, welch
hoch qualifizierte Frauen bei ihnen arbeiten. Dieses Beispiel sollte auch in Deutschland Schule machen.
({9})
Zwei Bemerkungen noch am Schluss:
Erstens. Bei aller Spitzenförderung dürfen wir die
Breite nicht vergessen. Nur aus einer qualifizierten
Breite kann eine herausragende Spitze kommen. Das
sage ich mit aller Deutlichkeit als einer, der sich im
bayerischen Bildungssystem auskennt, insbesondere mit
Blick auf Bayern. Dort geht es nämlich oft nur um die
Spitze und die Breite wird sehr vernachlässigt.
Auch meine zweite und letzte Bemerkung geht vor allem, aber nicht nur in diese Richtung: Sie von der Union
haben lange verhindert, dass der Anwerbestopp für
hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
aus den Beitrittsstaaten und für hoch qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt
aufgehoben wird. Wenn wir als Forschungsstandort international attraktiv sein wollen, müssen wir endlich aufhören, Forscherinnen und Forscher statt nach ihrer Qualität nach ihrer Nationalität zu beurteilen.
({10})
Wenn andere Nationen derzeit den Fehler machen, sich
abzuschotten, sollten wir diese Gelegenheit gerade nutzen, um als weltoffenes Land Menschen mit Ideen, Wissen und Tatkraft in unser Land einzuladen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich Kasparick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Vorabbemerkungen, die den Kanzler betreffen. Mich hat
sehr gefreut, dass er gemeinsam mit dem französischen
Präsidenten die Idee verfolgt - das hat er auch öffentlich
gesagt -, darüber nachzudenken, ob wir die Gelder, die
wir für Forschung ausgeben, nicht innerhalb des europäischen Stabilitätspaktes als Investitionen behandeln sollten. Das würde uns und Frankreich in unseren jeweiligen
nationalen Haushalten erhebliche Spielräume eröffnen.
Genau in diese Richtung müssen wir denken. Wir brauchen mehr Mittel im System, damit wir noch mehr für
internationale Forschung tun können.
({0})
- Herr Kretschmer, Sie handeln ja sonst immer sehr
sorgfältig.
({1})
Deshalb möchte ich Sie noch einmal auf die Zahlen hinweisen, die wir Ihnen in der Antwort auf die Große Anfrage mitgeteilt haben.
Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes
gab es im Jahre 1998 45 000 deutsche Studierende im
Ausland, aber 55 900 im Jahre 2002. Im Jahre 1999 gab
es 113 000 ausländische Studierende in Deutschland;
im Jahre 2003 waren es mittlerweile schon 180 000. Das
entspricht in diesem Zeitraum einem jährlichen Zuwachs
von 10 bis 25 Prozent an ausländischen Studierenden,
die nach Deutschland kommen. Es ist wichtig, sich diese
Zahl vor Augen zu halten. Wenn Sie hier heute behaupten, das Land blute aus, uns liefen die Leute weg, dann
sollten Sie sich wenigstens an die Zahlen halten, die uns
das Statistische Bundesamt mitgeteilt hat.
({2})
Wir alle, die aus der Forschungsszene sind, wissen,
dass Wissenschaft mittlerweile international ist. Mich
freut diese Situation. Es ist wünschenswert, wenn junge
Wissenschaftler ins Ausland gehen.
({3})
Wir wollen, dass sie ins Ausland gehen, und wir wollen,
dass sie zurückkommen. Deswegen freut mich, dass
selbst diese sehr merkwürdige Studie von berlinpolis zu
dem Ergebnis kommt, dass nur 18 Prozent nicht zurückkehren wollen. Das heißt, der übergroße Teil der jungen
Wissenschaftler will sogar nach dieser wissenschaftlich
sehr merkwürdigen Studie zurückkommen. Man muss
sich einmal klarmachen, dass nur 304 Personen auf die
Internetbefragung von berlinpolis geantwortet haben.
Wer um die erforderliche Seriosität von wissenschaftlichen Befragungen weiß, dem muss ich das näher nicht
kommentieren.
Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kretschmer?
Jederzeit.
Herr Staatssekretär, bevor Sie weitere Studien zitieren, die Sie selbst für merkwürdig halten, möchte ich Sie
fragen, wie es sein kann, dass Wissenschaftler und Präsidenten von Forschungsorganisationen wie Bullinger und
Professor Winnacker sowie Wirtschaftsführer wie Siemens-Vorstände uns sagen, die Besten gingen weg oder
kämen nicht wieder, aber Sie hier sagen, das Problem
existiere gar nicht. Ist es nicht besser, dem Problem in
die Augen zu schauen und eine Lösung zu finden, als
wieder einmal an dem Problem vorbeizureden, die Wirklichkeit nicht wahrzunehmen und dann in einigen Jahren
vor einem Desaster zu stehen? Das haben Sie in Ihrer
Politik schon häufiger erlebt. Sie müssten doch eigentlich daraus gelernt haben.
Das ist Ihre Frage?
({0})
Ja. Die Frage ist, Herr Staatssekretär, wie es sein
kann, dass ausgewiesene Fachleute das Problem offenbar erkennen, aber Sie uns hier sagen, es existiere nicht.
Irgendeiner scheint hier ein Wahrnehmungsdefizit zu haben.
({0})
Wir sind uns mit Herrn Professor Bullinger und den
Spitzen der deutschen Wissenschaftsorganisationen einig, dass wir in einem gnadenlosen, knallharten internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe stehen. Gerade deshalb freut es uns, dass wir bei der Zahl der
ausländischen Studierenden, die nach Deutschland kommen, Zuwächse von jährlich bis zu 25 Prozent erzielt haben. Wenn wir das im Wettbewerb erreichen, dann ist
das eine gute Zahl.
({0})
Ich sage Ihnen noch ein Zweites: Wir sind uns mit
Herrn Bullinger, Herrn Gaehtgens, Herrn Winnacker,
den Spitzen der deutschen Wissenschaft völlig einig,
dass wir diesen Wettbewerb noch längst nicht gewonnen
haben, sondern dass der Wettbewerb zunimmt. Die
Frage, die ich Ihnen jetzt stellen muss, lautet: Glauben
Sie, dass Ihre Beiträge heute hier im Plenum junge Leute
ermutigen, nach Deutschland zu kommen?
({1})
Glauben Sie das wirklich? Wir wollen, dass jungen Leuten aus dem Ausland die ganz klare Botschaft entgegenschlägt: Ihr seid in Deutschland willkommen; das, was
wir zu eurer Unterstützung tun können, werden wir
gerne tun. Das ist die wichtige Nachricht, die ins Ausland gehen muss.
({2})
Ich will noch ein Weiteres sagen. Wir haben neulich
im Ausschuss - wie ich fand, sehr beeindruckende Zahlen von den deutschen Unternehmen gehört, die sich
um dieses Themenfeld professionell bemühen. Wir wissen, dass das internationale Marketing Deutschlands als
Bildungs- und Forschungsstandort in den Jahren bis
2001 nicht den Stellenwert hatte, den es brauchte. Wir
haben eine Baustelle übernommen und kommen Schritt
für Schritt voran. Das betrifft beispielsweise den sehr
komplizierten Bereich der Statistik. Wir brauchen verlässlichere Zahlen. Mich freut sehr, dass die Alexandervon-Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische
Austauschdienst und die großen Stiftungen, die die in
Deutschland Studierenden unterstützen, zunächst einmal
in ihrem eigenen Bereich die Daten zusammentragen,
die wir dringend brauchen.
Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Volker Beck?
Jederzeit.
Durch die Einwürfe des Kollegen von der CDU/CSU
wurde ich zu folgender Frage angeregt, Herr Kasparick:
Wie erklären Sie sich, dass die Union in der Forschungspolitik eigentlich Braindrain allerorten sieht,
({0})
einerseits bei dem normalen Wechsel von deutschen
Wissenschaftlern und Spitzenkräften ins Ausland, andererseits zum Beispiel bei dem Wechsel aus Indien und
den USA nach Deutschland, wo im Zusammenhang mit
der Diskussion über das Zuwanderungsgesetz befürchtet
wurde, durch eine liberale Regelung der Aufenthaltstitel,
die es attraktiv macht, nach Deutschland zu kommen - ({1})
- Doch, ich habe gefragt, wie sich der Redner das erklärt. Herr Rachel, das müssen Sie schon aushalten.
({2})
In Ihren Aussagen ist eine gewisse Widersprüchlichkeit enthalten. Ist es vielleicht so, dass für die Union
angesichts ihrer Politik das größte Problem ist, zu akzeptieren, dass ein Austausch im Bereich der Hochleistungsträger und der Wissenschaftler mittlerweile selbstverständlich ist?
({3})
Es gibt Wissenschaftler, die von Deutschland ins Ausland gehen, und es gibt andere, die zu uns kommen. Das
ist ein Austausch von wissenschaftlicher Kompetenz und
damit wirtschaftlicher - ({4})
- Es ist unmöglich, wie Sie hier dazwischen krakeelen.
({5})
Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, meine Syntax
zu verfolgen. Seien Sie einmal ruhig! Sie haben nicht
das Wort.
({6})
- Wollen Sie jetzt sprechen? Lassen Sie mich bitte zu
Wort kommen!
({7})
Wie erklären Sie sich dieses Durcheinander in der
Aufstellung der Union? Teilen Sie meine Ansicht, dass
die Union die Herausforderungen der Gegenwart offensichtlich nicht meistern kann?
({8})
Herr Abgeordneter, ich habe für das Phänomen, das
Sie gerade sehr zutreffend beschrieben haben, nur die
Erklärung, dass man nicht zu Ende gedacht hat.
({0})
Worum geht es uns? Es geht uns darum, dass wir im
internationalen Wettbewerb besser werden. Der Wettbewerb um die besten Leute ist einer der härtesten Wettbewerbe, die wir überhaupt haben, härter noch als in vielen
Bereichen der Wirtschaft.
Kollege Beck, Sie müssen schon stehen bleiben und
sich die Antwort auf Ihre Frage anhören.
Die Frage ist beantwortet. Schönen Dank.
({0})
Uns liegt daran, dass noch wesentlich mehr im Bereich Bildung und Forschung getan wird, als wir in der
Vergangenheit bereits getan haben. Ich fordere Sie von
dieser Stelle noch einmal auf: Begreifen Sie, dass es keinen wichtigeren Politikbereich in Deutschland gibt als
die Stärkung von Bildung und Forschung!
({1})
Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung. Aber wir
brauchen kein Gerede darüber, dass das Land angeblich
ausblutet; denn alle Zahlen, die uns vorliegen, widersprechen klar dieser Aussage.
({2})
Das Statistische Bundesamt, eine sehr seriöse Quelle,
sagt, dass es eine Zuwanderung nach Deutschland mit
Wachstumsraten von jährlich bis zu 25 Prozent gibt.
({3})
Hören Sie also auf, den Standort Deutschland
schlechtzureden! Wir brauchen die jungen Wissenschaftler in Deutschland. Wir brauchen aber auch mehr Geld.
Machen Sie den Weg dafür frei, indem Sie der Abschaffung der Eigenheimzulage zustimmen! Das würde
7 Milliarden Euro ins System bringen.
({4})
Meine herzliche Bitte an die Kollegen der Opposition ist
deswegen: Mehr Mut!
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Helge Braun,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin mit dieser Debatte so, wie sie läuft, nicht
einverstanden.
({0})
Herr Staatssekretär und Frau Berg, welchen Eindruck
muss ein junger Wissenschaftler, der am Fernsehschirm
oder auf der Tribüne diese Debatte verfolgt, mitnehmen?
Wir haben heute nichts davon gehört, dass die Bundesregierung oder die sie tragenden Fraktionen den Ansatz einer Bereitschaft zeigen, über weitere Verbesserungen der
aktuellen Arbeitsbedingungen in Deutschland für Wissenschaftler nachzudenken.
({1})
Sie haben die ganze Zeit nur berichtet, was Sie alles
schon gemacht haben und wie wundervoll die Maßnahmen der Bundesregierung greifen. Sie führen Scheingefechte über die Eigenheimzulage oder über das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur Juniorprofessur.
Das alles ist nicht das Problem, das junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland haben.
({2})
Das Problem der Juniorprofessur muss natürlich gelöst
werden, aber es ist nicht unser Problem, wenn Sie ein
Gesetz machen, das vor dem Bundesverfassungsgericht
nicht standhält.
({3})
Sie hätten in dieser Debatte die Chance gehabt, auf
die Probleme hinzuweisen: Exzellenzen wandern aus
Deutschland ab. Wir haben keine verlässliche Zahlenbasis. Aber auch in diesem Punkt geht es durcheinander.
Auf der einen Seite sagen Sie, die Zahlen würden das
Gegenteil beweisen. Auf der anderen Seite steht in der
Antwort auf die Große Anfrage, dass Sie keine solide
Zahlenbasis hätten. Das ist keine Grundlage für eine Argumentation hier.
Ich stimme ja mit Ihnen überein, dass die Zahlenlage
bislang nicht hinreichend ist.
({4})
Wir sollten genau überlegen, wie wir die Zahlenlage verbessern, ohne damit ein neues bürokratisches Monsterwerk ins Leben zu rufen.
({5})
Aber das Kernproblem ist ein anderes: Man kann den
Braindrain aus meiner Sicht nicht immer nur an Zahlen,
an dem Saldo von Zu- und Abwanderung, festmachen.
Denn wenn die fünf Besten gehen und dafür Hundert andere kommen, dann ist das für Deutschland unter dem
Strich keine positive Entwicklung.
({6})
Beispiele helfen an dieser Stelle häufig auch nicht weiter. Viele Einrichtungen haben einen berühmten Wissenschaftler gesucht. Dieser ist dann aus den USA zurückgekommen, weil man ihm die Leitung eines MaxPlanck-Institutes übertragen hat. Daraufhin wird gesagt:
Seht ihr, wir in Deutschland können es doch; wir können
Wissenschaftler zurückholen. Wenn man den Wissenschaftler nach seiner persönlichen Motivation, warum er
zurückgekommen ist, fragt,
({7})
dann erhält man oft die Antwort, dass der Grund hierfür
ist, dass seine Frau der Überzeugung war, dass die Kinder ihre Schulausbildung in Deutschland erhalten und
hier kulturell aufwachsen sollen und nicht in dem Land,
in dem es die besten Forschungsrahmenbedingungen
gibt.
({8})
Das alles sind Entwicklungen, die wir wahrnehmen müssen.
Wenn sich in diesen Tagen 11 000 Wissenschaftler in
Deutschland zu der Initiative „Wir wollen forschen - in
Deutschland“ zusammenschließen - Wissenschaftler
sind meist nicht diejenigen, die sehr stark politisch motiviert sind und sich zu irgendwelchen politischen Demonstrationen zusammentun; die wollen in aller Regel
in ihrem Erkenntnisgewinn fortschreiten -, dann aber in
einer langen Liste Probleme beschreiben, die sie in
Deutschland haben, dann kann man das nicht einfach
übergehen und sagen: Die Bundesregierung tut alles,
was notwendig ist. Wir haben kein Problem; wir machen
so weiter.
({9})
Das ist die falsche Botschaft dieser Debatte heute.
({10})
Wir müssen in ganz vielen Bereichen etwas tun. Sie
haben die ausdrückliche Bereitschaft der CDU/CSUFraktion und von mir persönlich, an diesen Punkten mitzuwirken.
({11})
Das beginnt bei einem flexiblen Dienstrecht an unseren
Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Wir brauchen Rechtssicherheit im Bereich der
Drittmitteleinwerbung, damit derjenige, der seine Aufgabe erfüllt und für seine Forschungsprojekte Gelder aus
der Industrie akquiriert,
({12})
nicht am Ende vom Staatsanwalt konsultiert wird.
Wir müssen das Forschungsklima in Deutschland
grundlegend verändern.
({13})
Das beginnt bei der Umsetzung der Biopatentrichtlinie.
Auch in vielen anderen Fällen besteht doch, wenn einer
forscht, die Frage, ob er in diesem Moment potenziell
nur für jemanden gehalten wird, der anstößige Dinge tut,
der mit Risiken zu tun hat und der der Gesellschaft etwas
zumutet, oder ob er für jemanden gehalten wird, der eine
Chance für neue Produkte und Innovationen in einem
Land bietet, das auch in Zukunft noch Arbeitsplätze
braucht und sich weiter ein hohes Lohnniveau leisten
kann, weil wir in Deutschland Spitzentechnologie produzieren und keine einfachen Produkte.
Zur DFG-Studie, die hier mehrfach angesprochen
worden ist. 15 Prozent der ehemaligen DFG-Stipendiaten bleiben langfristig im Ausland. Wer ist es denn, der
langfristig im Ausland bleibt? Das sieht man wundervoll
an den Nobelpreisen. Seit 1995 ist kein einziger Nobelpreis mehr an Deutschland vergeben worden. Seit 1998
haben zwar immerhin vier deutsche Wissenschaftler den
Nobelpreis erhalten; diese üben aber ihre wissenschaftliche Tätigkeit in den USA aus. Das ist die Exzellenz ganz
oben. Diese vier tun mehr weh als manchmal Hundert
andere.
Dann wurde mehrfach im Hinblick auf die Hochschulen angesprochen, wie viele Studenten wir nach
Deutschland holen können. Das ist in vielerlei Hinsicht
gar nicht das Problem. Bei den vielen Ausländern an den
Hochschulen, die Sie als positiven Aspekt verzeichnen,
sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen, dass weit mehr
als ein Drittel von ihnen nicht Bildungsausländer im
klassischen Sinne sind, also Leute, die zum Studium
nach Deutschland kommen. Es sind vielmehr zu mehr
als einem Drittel Menschen, die schon vorher in
Deutschland gelebt haben, die hier zur Schule gegangen
sind und dann natürlich in Deutschland auch ihr Studium
aufnehmen. Die würde ich im weitesten Sinne des Wortes sogar als Bildungsinländer bezeichnen.
({14})
- Herr Tauss, Sie sollten einmal im Internet nachschauen,
({15})
wie zum Beispiel Chinesen
({16})
für ein Studium in Deutschland werben. Dort gibt es
dann einen Vergleich der Auslandsstudienmöglichkeiten
für Chinesen. Dort kann man die Angebote und damit
die Attraktivität eines jeden Landes vergleichen.
Die Chinesen sind mittlerweile die größte Gruppe der
in Deutschland studierenden Ausländer. Bei der Frage,
was sie bewegt, in Deutschland zu studieren, stößt man
auf zwei Kernpunkte: Kernpunkt 1 ist das kostenlose
Studium, Kernpunkt 2 das ausdifferenzierte Angebot an
Kulturwissenschaften. Das ist gut, das Problem ist aber,
dass es uns bei der zentralen Frage der Zukunftsfähigkeit
unseres Landes mehr um innovationsträchtige Studienplätze und einen Austausch von Wissenschaftlern in den
Bereichen gehen muss, aus denen Innovationen hervorgehen. Das wird an der Stelle nicht bearbeitet.
({17})
Insofern ist die Kernfrage, an deren Beantwortung wir
arbeiten müssen, wie wir es schaffen können, dass mehr
junge Wissenschaftler - die durchaus ins Ausland gehen
sollen; Herr Fell hat das heute angesprochen, Frau
Wicklein in der letzten Woche bei der Diskussion um die
EU-Forschung - ins Ausland gehen. Man darf jedoch
nicht auf der einen Seite mehr Mobilität bei den Forschern fordern und auf der anderen Seite sagen: Wir haben Angst vor Abwanderung. Das darf kein Widerspruch
sein. Kernaufgabe ist es deshalb, den internationalen
Austausch zu intensivieren. Es ist wahr, dass die bundesweite Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse
zur Internationalisierung der Studiengänge beiträgt. Aber
durch diese Internationalisierung steigt auch der Wettbewerb. Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass die Leute,
wenn sie einmal ins Ausland gehen, auch dort bleiben.
Die Antwort darauf misst sich an der Frage, was wir
eigentlich tun, um jemanden wieder nach Deutschland
zurückzuholen. Hier müssen wir die Angebote erheblich
verbessern. Natürlich ist der Hinweis auf das EmmyNoether-Programm richtig. Das ist ein guter Ansatz.
Das kann aber noch lange nicht alles sein. An dieser
Stelle ist das Bessere immer des Guten Feind. Wer
glaubt, dass die deutschen Wissenschaftler alle freiwillig
ins Ausland gehen und sich die Entscheidung, ob sie
wegbleiben oder wieder zurückkommen, leicht machen,
liegt falsch. Jeder, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ist in seinem Heimatland verwurzelt und
will in der Regel sehr gerne auch langfristig in Deutschland bleiben. Die Wenigsten - das wissen wir aus Umfragen der DFG - verlassen Deutschland von vornherein
mit dem Ziel, dauerhaft wegzubleiben.
Die Frage ist, ob wir ihnen ein Angebot zur Rückkehr
machen können, nachdem sie im Ausland zusätzliche
Qualifikationen erworben haben, ob wir ihnen eine Landebahn bieten können in der Form, dass sie bei ihrer
Rückkehr kein schwieriges Bewerbungsverfahren mehr
durchlaufen müssen. Möglicherweise kann man schon
dann, wenn sie ins Ausland gehen, das Angebot unterbreiten, dass eine Rückkehr möglich ist, nachdem sie
zwei Jahre im Ausland ihre wissenschaftliche Qualifikation erhöht haben, dass vielleicht eine eigene Forschergruppe geboten wird. In diesem Bereich müssen wir viel
mehr machen.
({18})
Wenn das geschieht, bin ich sehr zuversichtlich, dass
Deutschland als große Forschungsnation eine wirkliche
Zuwanderung aus dem Ausland erhält, wir aber gleichzeitig diejenigen, die wir in Deutschland mit unserem
Geld teuer ausbilden, nutzbringend für Forschung und Innovationen und wirtschaftliches Wachstum in Deutschland einsetzen können.
Vielen Dank.
({19})
Ich erteile dem Kollegen Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vergleichen wir den ersten Beitrag der CDU/CSU und
die eben von Herrn Braun gehaltene Rede. Frau Reiche,
Ihnen muss ich leider sagen: Die Art, wie Sie hier immer
aseptisch kalt, von nichts ankränkelbar und ohne etwas
zu hinterfragen den Einstieg in Debatten setzen, ist zum
Glück von Herrn Braun positiv widerlegt worden.
({0})
Ich möchte an den Blickwinkel anknüpfen, den Herr
Braun in die Debatte gebracht hat, indem er fast symbolisch gesagt hat: Stellen wir uns einmal vor, exzellente
Wissenschaftler deutscher oder ausländischer Herkunft
hätten diese Debatte im Parlament verfolgt. Welchen
Eindruck hätten sie? Ich glaube, sie hätten sich über eines gewundert, nämlich dass die größte Oppositionspartei in diesem Bundestag eine Große Anfrage mit nur der
einen Frage stellt, weshalb deutsche Wissenschaftler
abwandern, und nicht fragt, weshalb viele andere Wissenschaftler auch zuwandern. Sie hätten sich in ihrer Exzellenz missachtet gefühlt, die sie in dieses Land einbringen, selbst wenn sie aus anderen Ländern zu uns
kommen. Wir sollten versuchen, diesen Eindruck zu korrigieren, weil dieser leicht nationale Unterton, der durch
das Abschneiden des kompletten Bereichs der Zuwanderung durch die einseitige Fragestellung in Ihrer Großen
Anfrage hervorgerufen wird, einen schlechten Eindruck
macht. Ich glaube, Sie denken nicht einmal so, wie Sie
gefragt haben.
({1})
Der Grundsatz muss doch das Leitbild von Internationalität sein und Internationalität heißt eben gerade
nicht nationale Betrachtung und auch nicht Monopolisierung nach dem Motto „Wir wollen alles und nur für unsere Leute“. Das Leitbild für Internationalität schließt
vielmehr den Grundgedanken ein: Kompetenz vor Pass.
({2})
An dieser Leitlinie müssen wir uns orientieren. Ich kann
es auch einfacher formulieren: Was wäre, wenn alle
Deutschen hier blieben? Wir wären verdammt arm. Was
wäre, wenn alle Besten in einem Land wären? Die Welt
wäre arm. Ich wollte an diesen einfachen Fragen noch
einmal grundsätzlich deutlich machen, dass wir zu Balancen kommen müssen. - So weit meine Grundbemerkungen.
({3})
Ich möchte jetzt eine analytische Bemerkung machen:
Frau Flach, Sie haben Recht, das statistische Material
ist noch nicht so differenziert aufbereitet, wie wir es uns
wünschen; das gilt vor allem dann, wenn es den Bereich
der Spitzenkräfte, der Exzellenzen betrifft. Denn diese
werden sich schwerlich mit statistischen Methoden erfassen lassen.
Betrachtet man das Mosaik von Statistiken - sie fallen auf EU-Ebene mal besser, mal schlechter aus -, kann
man aber immerhin ein paar Grundtendenzen ausmachen. Wir haben einen deutlichen Nettozugewinn an
ausländischen Studenten in Deutschland; das gilt
auch für die Doktoranden. Es promovieren mehr Ausländer bei uns als Deutsche im Ausland. Wir verzeichnen
auch einen Zugewinn bei den Akademikern; es gibt einen deutlichen Import - vor allem aus Europa - an Akademikern.
In Bezug auf die Spitzenkräfte ist die Situation offen. Ich glaube aber, dass wir mit fast allen Ländern
- die Ausnahme bilden die USA - eine positive Bilanz
haben. Die Ausnahme muss man analytisch betrachten.
Es sind wahrscheinlich mehr Spitzenkräfte aus Deutschland in den USA als US-amerikanische Spitzenkräfte in
Deutschland. Ich halte das auch für plausibel.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Flach?
Ich möchte gern meinen Gedanken zu Ende führen,
dann komme ich auf den Fragewunsch zurück.
Ich halte es deshalb für plausibel, weil das so etwas
wie ein Creaming-Effekt ist. Der Creaming-Effekt besteht darin, dass von dem Land, wo die größte ökonomische und wissenschaftliche Kompetenz liegt, auch die
meisten angezogen werden. Wir können uns so stark anstrengen, wie wir wollen, es bleibt dabei: Den Effekt,
den wir in Deutschland bezüglich der anderen Länder erleben, erleben wir in umgekehrter Weise zu den USA.
Dieser Erkenntnis darf man sich nicht verweigern, man
muss sich mit ihr langfristig auseinander setzen. Ich will
gleich im dritten Teil meiner Rede ausführen, wie man
darauf reagieren kann.
Bitte schön, Frau Kollegin Flach.
Herr Kollege Rossmann, ich stimme Ihrer quantiativen Bewertung zu. Meine Aussage war aber eine andere
und deshalb möchte ich eine Frage an Sie richten. Wie
gehen Sie mit dem Umstand um, dass offensichtlich gerade die Forscher, die in den Spitzentechnologien, den so
genannten Schlüsseltechnologien, tätig sind, den erklärten Drang haben, in die USA zu gehen und dort zu bleiben? Das war meine Aussage. Als Beispiel möchte ich
anführen, dass zurzeit jeder zweite Stammzellforscher
überlegt, Deutschland zu verlassen.
({0})
- Herr Tauss, ich habe Herrn Rossmann gefragt.
Ich kann da nahtlos an den dritten Teil meiner Rede
anknüpfen. Ich glaube, wir tun gut daran, in zwei Richtungen zu denken. In Bezug auf die USA kann es nur eine
europäische Antwort geben, weil Europa nur insgesamt
die ökonomisch - wissenschaftliche Potenz aufbringt,
sich gegen Amerika zu behaupten. An dieser Stelle sind
Sie wie wir darüber erfreut - wir haben uns dafür auch
engagiert -, dass es ein siebtes europäisches Rahmenprogramm geben wird, das dazu beiträgt, Europa endlich
von einem Agrarinfrastrukturverbund in einen Forschungsverbund umzuwandeln. Die Verdoppelung der
Mittel ist die beste Antwort auf die amerikanische Dominanz.
Die zweite Antwort ist eine nationale Antwort. Da ich
dazu längere Ausführungen machen werde, bitte ich Sie,
sich wieder zu setzen. Der dritte Teil ist Ihnen gewidmet.
Die nationale Antwort kann nur so aussehen, dass
man in der ganzen Breite versucht, Deutschland für internationale, auch für amerikanische Potenzen attraktiv
zu machen. Wenn wir objektiv betrachten, was seit 1998
passiert ist, sehen wir, dass dort auf drei Ebenen gearbeitet wurde.
Zuerst ist da die wissenschaftliche Angebotsseite. Es
wird versucht, exzellente Wissenschaftler zu gewinnen.
Aus diesem Grund werden Preise verliehen, die besser
ausgestattet sind als der Nobelpreis. Die DFG und die
Humboldt-Einrichtungen unterstützen Graduiertenkollegs und Kompetenznetzwerke und leisten ihren Beitrag
zu den Hochschulstrukturreformen. Darüber hinaus gibt
es - sozusagen in der Warteschleife - noch Bemühungen
zu unserem Exzellenzprogramm mit den Spitzenuniversitäten, den Kompetenznetzwerken und den internationalen Graduiertenkollegs. Das ist eine Antwort, die sich
auf die Hochschulen und die Wissenschaft bezieht.
Man muss aus unserem Kreise ausdrücklich anerkennen, dass die DFG, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Max-Planck-Gesellschaft ungemein viel
tun. Ihr Engagement geht über ihre reinen Planstellen hinaus.
({0})
Wenn wir das nicht anerkennen, dann verdrängen wir
das, was auf der Tribüne zu Recht als Reflexion aus unserem Kreis erwartet wird.
Die zweite Ebene betrifft die soziale Betreuung. Ich
finde, es ist kein Sich-Herablassen, wenn sich auch ein
Professor Winnacker Gedanken darüber macht, dass
akademisch hoch qualifizierte Frauen und Männer Partner haben, für die auch Stellen gesucht werden müssen.
Dass sich ein Herr Gruss, ein Herr Winnacker und ein
Herr Frühwald um diese Fragen kümmern, zeigt, dass
hier eine neue Qualität erreicht wird,
({1})
die etwas Positives in die Entwicklung unserer Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen bringt. Bei der
Max-Planck-Gesellschaft ist man sich nicht dafür zu
schade, sich auch über Kindertagesstätten Gedanken zu
machen. In Amerika, zum Beispiel in Harvard und Stanford, geschieht das schon seit langem.
({2})
Wenn wir Ideen von dort übernehmen, dann ist auch das
eine Antwort.
Die dritte Ebene betrifft die Netzwerke im akademischen und im wirtschaftlichen Bereich. Denjenigen, die
von Deutschland ins Ausland gehen, müssen Wege gezeigt werden, sich so zu vernetzen, dass sie sich besser in
den Wissenschafts- bzw. Wirtschaftsbereich integrieren
können. Wenn jetzt auch in Deutschland eine Auflösung
mancher Zerklüftungen stattfindet, sodass sich auch die
Max-Planck-Gesellschaft wieder stärker universitär anbindet, dann kann dies zu einem wichtigen Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft beitragen. Deshalb
lautet meine Antwort auf Ihre Frage: Ich glaube, es ist
gut, dass man die große Komplexität dieser Fragen seit
einer gewissen Zeit stärker berücksichtigt. Nicht alle Zustände in diesem Bereich sind gut; aber es kommt Schritt
für Schritt zu Verbesserungen.
Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich meine letzte
Bemerkung etwas einfacher formuliere: Dieser Prozess
hat seit 1998 deutlich an Dynamik gewonnen; das erkennt jeder an. Das erkennen auch die kompetenten
Leute aus Wissenschaft und Wirtschaft an. Man kann das
aber auch anders formulieren: Wenn Herr Rüttgers, dieser famose Zukunftsminister, nicht so lange geschlafen
hätte, dann hätte Frau Bulmahn mit ihren Initiativen auf
einem anderen Sockel anfangen können.
({3})
Es ist ein positives Fazit, dass unsere Ministerin mit ihrer Dynamik auf diesem Gebiet sehr viel getan hat. Aber
es ist ein bedauerliches Fazit, dass es in der Wissenschafts- und Forschungspolitik der letzten 15 Jahre in
Deutschland leider keine Kontinuität gegeben hat. Es ist
gut, dass wir jetzt eine andere Richtung einschlagen.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Zu diesem Tagesordnungspunkt sind keine Abstimmungen durchzuführen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier,
Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD sowie von den Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk,
Claudia Roth ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts
- Drucksache 15/3445 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Jörg van Essen, Sibylle
Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes ({3})
- Drucksache 15/2477 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({5})
- Drucksache 15/4052 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Daniela Raab
Irmingard Schewe-Gerigk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen
und Herren! Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften sind in Deutschland Realität. Ihr rechtlicher Rahmen
ist anerkannt und wird gelebt. Diese Tatsache hat auch
das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich bestätigt. Es hat den Weg für eine Weiterentwicklung des
Lebenspartnerschaftsrechts geöffnet, indem es den Gesetzentwurf, den wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet hatten, für verfassungsgemäß erklärt hat. Es
hat ausgeführt, dass es verfassungsrechtlich nicht begründbar sei, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass solche anderen Lebensgemeinschaften im
Abstand zur Ehe auszugestalten und mit weniger Rechten zu versehen seien.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat die Regierungskoalition die erste Stufe der Weiterentwicklung des
Lebenspartnerschaftsrechts in Angriff genommen. Es ist
allerdings noch manches zu tun. In der rechtlichen Ausgestaltung ihres Zusammenlebens werden Lesben und
Schwule einerseits und Ehegatten andererseits noch immer an vielen Stellen ohne sachlichen Grund ungleich
behandelt.
Die Vertreterinnen und Vertreter der CDU/CSU-Fraktion haben in den Beratungen deutlich gemacht, dass sie
die Fortentwicklung des Lebenspartnerschaftsrechts
nicht blockieren wollen. Das kann ich nur begrüßen. Sie
sollten wirklich ihren Frieden mit diesem Gesetz machen
und die notwendigen Ergänzungen des Lebenspartnerschaftsrechts nicht behindern.
({0})
Ich meine, dass dies auch für die Zulassung der
Stiefkindadoption gelten sollte. Wenn das leibliche
Kind eines Lebenspartners in einer Lebenspartnerschaft
aufwächst und wenn sich der andere Lebenspartner um
dieses Kind kümmern und dauerhaft Verantwortung für
es übernehmen will, dann muss man diese Verbindung
rechtlich absichern können.
({1})
Die Bedenken, die gegen diese Regelung angeführt
werden, halte ich nicht für stichhaltig. Auf der einen
Seite wird vorgetragen, dass die Verbindung des Kindes
zu einem leiblichen Elternteil gekappt werde und dadurch erbrechtliche und unterhaltsrechtliche Ansprüche
verloren gingen. Das ist natürlich richtig. Aber klar ist
auch: Der leibliche Elternteil muss in die Adoption eingewilligt haben. Dann muss man sich natürlich fragen,
welche Verbindung zu einem leiblichen Elternteil
bestand, der einwilligt, dass sein Kind adoptiert wird.
Zum anderen ist es ja so, dass das Kind gleichzeitig andere Ansprüche - neue Unterhaltsansprüche und neue
Erbrechtsansprüche - erhält: von dem Lebenspartner,
der es adoptiert. Die Einwilligung eines Elternteils kann
zudem nur dann erfolgen, wenn dieser Elternteil auch
bekannt ist. Wir wissen, dass es gerade in dieser Form
von Lebensgemeinschaften häufig Kinder gibt, bei denen der Vater, der es in aller Regel ist - nein, der es immer ist -,
({2})
nicht bekannt ist.
({3})
- Vielen Dank, Herr Abgeordneter. Das sind insbesondere die Fälle, in denen eine künstliche Insemination
stattgefunden hat; davon gibt es ja verhältnismäßig viele.
Ich meine, wir müssen diesen Fällen besonders gerecht
werden, denn ein Kind, das in einer Lebenspartnerschaft
von zwei Frauen aufwächst, hat damit die Chance, eine
weitere verantwortliche - unterhaltspflichtige und sorgeberechtigte - Person zu bekommen, die für es eintreten
kann, falls der leiblichen Mutter etwas zustößt, die aber
auch sonst für es da ist - mit einer anderen rechtlichen
Relevanz, als wenn sie nur mit in der Wohnung lebt. Ich
glaube, diesem Ansinnen, das eine ganze Zahl betroffener Paare vorgebracht hat, sollten wir nachkommen.
Selbstverständlich ist, dass staatliche Behörden nachprüfen werden, ob die Stiefkindadoption dem Wohl des
Kindes entspricht; das bleibt so wie bei allen anderen
Adoptionen auch.
Dem Antrag der FDP, gemeinsame Adoptionen durch
zwei Lebenspartner vorzusehen, können wir nicht zustimmen, einfach deshalb, weil wir daran im Moment
durch internationale Verpflichtungen gehindert sind. Abgesehen davon haben wir immer die Auffassung vertreten, dass man das Recht der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend anpassen sollte. Wir sind dabei, im
Europarat eine Überarbeitung des entsprechenden Übereinkommens zu betreiben; wir werden sehen, inwieweit
wir dafür auf europäischer Ebene Zustimmung finden.
Ein weiterer Gesichtspunkt, der mir wichtig erscheint
und wo wir eine Anpassung vornehmen, ist die Regelung der Hinterbliebenenversorgung. Die Regelung
wird vorsehen, dass die Hinterbliebenenversorgung bei
homosexuellen Paaren genauso geregelt wird wie bei heterosexuellen Paaren. Jetzt habe ich nachgelesen, dass
vonseiten der CDU/CSU in den Ausschussberatungen
Bedenken geltend gemacht wurden, dass enorme Kosten
auf uns zukommen können. Meine Damen und Herren,
Sie wissen, wir haben derzeit 5 000 eingetragene Lebenspartnerschaften, bei denen das Ganze überhaupt relevant werden kann. Bei dieser Zahl brauchen wir uns
keine Sorgen um die Rentenkassen zu machen. Zum anderen ist es so, dass wir aus den Daten der Lebenspartner
wissen, dass es sich in der Regel um Personen handelt,
die beide arbeiten, weshalb die Problematik sowieso
nicht eintritt. Wenn sie aber eintritt, wenn es so ist, dass
einer der beiden Lebenspartner Kinder versorgt hat und
deshalb nicht gearbeitet hat, dann ist es nur richtig, dass
er eine Hinterbliebenenversorgung erhält,
({4})
und dann gibt es überhaupt keinen Grund, dem Lebenspartner diese zu verweigern.
Insgesamt bin ich der Auffassung, dass wir der rechtlichen Gleichstellung lesbischer und schwuler Paare mit
diesem Gesetzentwurf wieder einen Schritt näher gekommen sind. Im nächsten Schritt wird die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen, der die zustimmungspflichtigen Teile enthält. Sie wissen: Das ist in der
letzten Legislaturperiode im Bundesrat an den Parteien,
die hier die Opposition stellen, gescheitert. Ich hoffe
sehr, dass sich Ihre Ankündigungen, Sie wollten dem
Gesetz keine Steine in den Weg legen, auch auf Ihre
Mehrheit im Bundesrat beziehen und wir auch hinsichtlich der steuerlichen und der erbrechtlichen Gleichbehandlung einen Schritt weiterkommen können.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Raab, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
September, als wir uns hier im Plenum das erste Mal mit
dem Lebenspartnerschaftsgesetz und dessen Überarbeitung befasst haben, hat sich doch einiges ereignet. Für
unsere Fraktion hat es aber nichts gebracht. Es gab eine
öffentliche Anhörung und am Dienstagabend ein sehr
rudimentäres und kurzes Berichterstattergespräch dazu.
All das hätte uns einander vielleicht etwas näher bringen
sollen und können. Meine persönliche ablehnende Haltung und auch die meiner Fraktion zu Ihren beiden Gesetzentwürfen, die wir heute beraten, hat sich dadurch
aber nicht geändert.
Die von Ihnen geplanten Änderungen im Lebenspartnerschaftsrecht sind für uns so, wie sie vorliegen, absolut
nicht akzeptabel.
({0})
In relativ kurzer Zeit haben Sie einen Entwurf gepinselt,
der von dem Bemühen geprägt ist, eine größtmögliche
Annäherung der eingetragenen Lebenspartnerschaften an die Ehe herzustellen.
({1})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen, Sie bekommen doch ohnehin alles, was Sie wollen. - Das ist
Ihnen in dieser kurzen Zeit auch durchaus gelungen.
Fraglich dabei ist aber nicht nur die Verfassungsmäßigkeit Ihres Vorgehens, sondern vielmehr auch die Sinnhaftigkeit der von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom
17. Juli 2002 über die Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsrechts von 2001 nämlich ausdrücklich
festgestellt, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft
gerade keine Ehe ist, sondern ein Aliud, also etwas anderes.
({2})
Was aber machen Sie? - Sie übernehmen die Vorschriften zur Ehe aus dem BGB kritiklos in Ihren Entwurf und
stülpen sie einfach der Lebenspartnerschaft über, ohne
einmal zu hinterfragen, ob das alles überhaupt zusammenpasst und ob nicht an manchen Stellen eigenständige
neue Regelungen für die Lebenspartnerschaften angebrachter wären.
({3})
Ich möchte unseren verdienten Handwerkern im Lande
nicht allzu nahe treten, aber das ist wieder einmal keine
handwerkliche Meisterleistung, da wohl mit relativ heißer Nadel gestrickt wurde.
({4})
Nicht nur das: Der größte Klops im rot-grünen Entwurf - das wissen Sie natürlich auch - ist für uns die
Einführung der Stiefkindadoption für eingetragene Lebenspartnerschaften. Vom FDP-Entwurf, in dem gleich
an ein allgemeines Adoptionsrecht herangegangen wird,
möchte ich vorerst nicht sprechen. Bei Ihnen von RotGrün soll es also die Stiefkindadoption sein.
Ein homosexueller Lebenspartner soll das leibliche
Kind seines Lebenspartners bei Zustimmung des immer
noch existierenden Lebenspartners aus einer früheren
Beziehung adoptieren können, sofern dieser zustimmt.
Das lehnen wir schlicht und ergreifend ab,
({5})
und zwar nicht nur, weil sich stark der Verdacht aufdrängt, dass der Fuß in die Tür gebracht werden soll, um
bald ein allgemeines Adoptionsrecht durchzusetzen
- das ist in den letzten Beratungen durchgedrungen; die
FDP ist mit ihrem Entwurf hier übrigens viel ehrlicher
und direkter -,
({6})
sondern auch, weil es das so genannte kleine oder abgeleitete Sorgerecht für Lebenspartner gibt. Das ist in § 9
des Lebenspartnerschaftsgesetzes bereits normiert. Erschwerend kommt hinzu, dass im Unterschied zu einer
herkömmlichen Adoption, wie wir sie bisher kennen, das
Kind hier keine Vollwaise oder Sozialwaise ist, sondern
regelmäßig noch einen Elternteil hat.
Des Weiteren verliert das Kind auch materielle Ansprüche gegenüber dem einen Elternteil. Denken Sie an
das von der Frau Ministerin bereits angesprochene Unterhalts- und Erbrecht. Für unsere Ablehnung ist entscheidend, dass nach Ihrem Entwurf der leibliche Elternteil, den es immer noch gibt, all seine Rechte und
Pflichten abtritt und sich für das Kind sozusagen komplett auflöst.
({7})
Ihre Argumentation, das Kind ziehe nur Vorteile aus
einer solchen Adoption, läuft definitiv ins Leere. Bei aller juristischen und technischen Diskussion darf einzig
und allein das Wohl des Kindes im Vordergrund stehen.
Wir werden uns in Zukunft überraschen lassen, wie das
funktioniert.
({8})
Wie selbst einer Ihrer Experten, Professor Willutzki,
in der öffentlichen Anhörung zugeben musste, sind Diskriminierungserfahrungen bei Kindern mit einem
gleichgeschlechtlichen Elternpaar nicht auszuschließen.
Die Folgen sind nach wie vor nicht abzusehen.
({9})
Kinder sind untereinander gnadenlos. Das gilt selbst
dann, wenn es sich nur um kleine Auffälligkeiten handelt. Abstehende Ohren, das Gewicht, aber auch das
Elternpaar können der Grund sein, weswegen sich Kinder dem Gerede von anderen Kindern oder auch deren
Eltern ausgesetzt sehen.
({10})
Das mögen Sie verurteilen; das ist Ihr gutes Recht.
({11})
Sie können das sagen, was auch Ihre Experten gesagt haben: Dann wird es Zeit, dass sich das in unserer Gesellschaft ändert.
({12})
Nur: Vielleicht wollen viele Menschen das gar nicht geändert haben, weil sie einfach noch nicht so weit sind
und weil Sie die Gesellschaft bei Ihrer Gesetzgebung
vielleicht noch nicht richtig mitgenommen haben. Es ist
sicherlich zu viel verlangt, dies dann die Kinder ausbaden zu lassen.
Aus diesem Grund reicht, wie ich schon erwähnt
habe, das bisher zugesprochene kleine oder abgeleitete
Sorgerecht für eingetragene Lebenspartnerschaften aus.
Ich denke, das ist genug Einflussnahme auf das Kind des
Lebenspartners und muss nicht noch mehr ausgeweitet
werden. Für uns soll dies auch so bleiben. Das ist für uns
der einzig gangbare und akzeptable Weg, weshalb wir
heute Ihren Entwürfen leider nicht zustimmen können.
Danke.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
ein guter Tag für die Lesben und Schwulen. Auf dem
langen Marsch zur Gleichberechtigung der Homosexuellen kommen wir heute wieder einen entscheidenden Schritt voran.
Wir beobachten heute auch, dass es eine gewisse gesellschaftliche Entspannung in der Debatte um die
Rechtsstellung homosexueller Paare gibt. Das sehen wir
zum einen daran, dass die Zahl derjenigen, die diesen
Gesetzentwurf mittragen, gewachsen ist; ich freue mich
ausdrücklich, dass die FDP unser Anliegen unterstützt.
Das sehen wir zum anderen daran, dass die Aufregung in
dieser Debatte trotz der Rede über die langen Ohren erheblich abgenommen hat.
({0})
Es hat sich herausgestellt, dass alle Befürchtungen,
die bei der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes
geäußert wurden, nicht eingetreten sind. Das Abendland
ist nicht untergegangen, es wurde nicht weniger geheiratet und die Geburtenrate ist nicht zurückgegangen. Alles
ist auf einem guten Weg, und die Schwulen und Lesben
haben in dieser Gesellschaft endlich mehr Rechte.
({1})
Bei dem Lebenspartnerschaftsgesetz ist es ein bisschen wie in jeder guten Ehe: Irgendwann wagt man den
großen Schritt und will heiraten, macht eine Hochzeitsliste und wünscht sich so allerhand; manches bekommt
man und manches bekommt man nicht. So war das auch
bei der Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes in der letzten Wahlperiode. Heute sind wir dabei, den
Hausrat zu komplettieren, etwa bei der Hinterbliebenenversorgung und beim Verlöbnis. Wir führen die Stiefkindadoption für leibliche Kinder des Lebenspartners ein
und beseitigen Ungereimtheiten beim Güterrecht, beim
Unterhaltsrecht und beim Scheidungsrecht.
Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, ist
eine sehr gute Grundlage. Als die will ich es eindeutig
verstanden wissen, und zwar für ein Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz, das wir als Koalition nach der
Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs in Angriff nehmen wollen und in dem wir die steuerrechtliche und
beamtenrechtliche Gleichstellung dieser Paare vorantreiben wollen.
({2})
Das Ergebnis wird dann nicht allein von der Koalition,
sondern auch von der Mehrheit im Bundesrat abhängen.
Wir wollen die Diskriminierung beseitigen. Ich heiße jeden in dem Bündnis, das überparteilich und über die
Grenzen von Koalition und Opposition hinweg entsteht,
willkommen, hieran mitzuwirken, um in beiden Häusern
eine Mehrheit zu erreichen.
Die Anhörung - Sie von der Union haben sie angestrebt, das ist Ihr gutes Recht - hat gezeigt, dass man gegen den vorliegenden Gesetzentwurf mit vernünftigen
und guten Argumenten nicht ankommt. Einer Ihrer
Sachverständigen, Professor Helge Sodan, hat erklärt,
dass er die Regelungen dieses Gesetzentwurfs nicht
mag, aber verfassungsrechtlich seien sie in Ordnung. Ein
anderer von Ihnen benannter Sachverständiger, Professor Wolf, hat gesagt, die Lebenspartnerschaft sei viel zu
nah an der Ehe. Das gefalle ihm nicht, weil für ihn die
obligatorische Zivilehe nach deutschem Muster abgeschafft gehöre. - Das ist eine interessante Position der
Konservativen in diesem Haus.
({3})
Frau Vonholdt, die dritte Sachverständige aus Ihren Reihen, hielt es mit dieser Frage ein bisschen anders. Sie ist
gegen das Lebenspartnerschaftsgesetz, weil sie die Homosexualität abschaffen will, und zwar durch Heilung,
Wegbeten oder was sie sonst noch alles in ihren Schriften vertritt.
({4})
Das zeigt: Mit einer vernünftigen Argumentation
kann man gegen die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften nicht sein. Niemandem wird eine Extrawurst
gebraten, sondern für uns gilt: Wer die gleichen Pflichten in der Partnerschaft übernimmt und damit dem Staat
und der Gesellschaft Verantwortung abnimmt und diese
in die Lebensgemeinschaft verlagert, der muss auch die
gleichen Rechte bekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht erklärt: Die gleichgeschlechtliche
Partnerschaft bzw. die Lebenspartnerschaft nimmt der
Ehe in ihrer Stellung und Bedeutung nichts weg, weil sie
einen anderen Personenkreis betrifft.
Deshalb ist es ein Aliud. Aus der Aliudtheorie des
Bundesverfassungsgerichts folgt gerade die Erlaubnis
zur vollständigen Gleichstellung und zur Nichtdiskriminierung der homosexuellen Paare.
({5})
Ich habe heute gelesen, dass sich der hessische Justizminister Wagner zu der Frage der Stiefkindadoption
geäußert hat. Er versucht, das Anliegen der Koalition mit
dem Wort von der „schrankenlosen Gleichstellungsideologie“ zu denunzieren. Bei der Gleichberechtigung gibt
es kein Übermaß; das schließt sich denklogisch schon
aus. Es geht vielmehr darum, dass man in der
Volker Beck ({6})
Gesellschaft fair miteinander umgeht. Die Menschenwürde unseres Grundgesetzes drückt sich gerade im
Gleichbehandlungsartikel aus. Er besagt, dass alle Menschen, ob heterosexuell oder homosexuell, ob schwarz
oder weiß, ob Mann oder Frau, welcher Religion auch
immer, in Bezug auf Würde und Rechte gleich sind. Es
ist für Homosexuelle auch nach dem heutigen Tag noch
nicht gänzlich Wahrheit geworden, dass sie gleich an
Rechten sind. Aber diese Koalition wird nicht müde
werden, daran zu arbeiten, dass dieses eines Tages Wahrheit wird.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Jörg van Essen für die FDPFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ausgangspunkt aller Überlegungen der FDP-Bundestagsfraktion in dieser Frage ist die simple Feststellung,
dass es für die Gesellschaft ein Fortschritt und wünschenswert ist, wenn zwei Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und das nach außen hin auch
dokumentieren.
({0})
Deswegen haben wir uns immer für die Stärkung dieser Möglichkeiten eingesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das verfassungskonform ist.
Es hat aber auch Kritik geübt. Einige Regelungen haben
die Ehe benachteiligt. Das muss natürlich beseitigt werden, und zwar schnell. Auf der anderen Seite müssen wir
feststellen, dass es zwar unglaublich viele Pflichten in
der jetzigen Regelung gibt, aber einen großen Mangel an
Rechten.
Nach über zwei Jahren macht die Koalition jetzt einen
ersten Schritt - aus meiner Sicht viel zu spät. Sie hätten
das schon viel früher tun können.
({1})
Es ist aber ein Schritt in die richtige Richtung. Deswegen will ich für die FDP sagen: Wir werden mitstimmen,
weil es ein Schritt in die richtige Richtung ist.
({2})
Trotzdem ist es nur der erste Schritt. Viele weitere
Dinge sind noch zu erledigen. Deshalb teile ich die Euphorie nicht, die Sie, Herr Beck, hier verbreitet haben.
Sie selbst haben angedeutet, dass Sie noch ein weiteres
Gesetz vorlegen werden. Das ist dringend notwendig.
Ich lade Sie ein: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf
zu!
({3})
Einer Ihrer Sachverständigen hat zu Recht gesagt, dass
unser Gesetzentwurf der konsequentere ist. Deshalb
sollte Sie nichts daran hindern, das auch zu tun.
Darf der Kollege Beck Ihnen eine Zwischenfrage stellen, Herr van Essen?
Selbstverständlich kann er das.
({0})
Herr Kollege van Essen, würden Sie mir zustimmen,
dass das Plenum dem FDP-Entwurf eines Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetzes sinnvollerweise nicht zustimmen kann, sondern ihn nur als positive Anregung
mitnehmen kann, weil darin Gesetze geändert werden
sollen, die es gar nicht mehr gibt? Ich nenne zum Beispiel das Bundessozialhilfegesetz, das inzwischen als
SGB XII die Regelungen schon beinhaltet, die Sie in
diesem Gesetz vorschlagen.
Herr Kollege Beck, ich bin Ihnen für diese Frage außerordentlich dankbar, weil Ihre Frage deutlich macht,
wie früh die FDP ihren Vorschlag bereits vorgelegt hat.
({0})
Wir sind in dieser Frage sehr viel schneller als Sie aktiv
geworden. Deshalb ist es natürlich möglich, dass in der
Zwischenzeit das eine oder das andere geändert wurde.
Ja, es gibt eine Fraktion in diesem Bundestag, die sich
um diese Fragen sehr viel intensiver gekümmert hat, als
es die Grünen getan haben.
({1})
Vielen Dank für die Frage!
({2})
Es gibt einen Punkt, über den wir wesentlich anderer
Auffassung sind als die Koalition, nämlich die Frage der
Stiefkindadoption. Wir meinen, die Stiefkindadoption
reicht nicht aus. Das haben im Übrigen auch die von Ihnen benannten Sachverständigen deutlich gemacht.
({3})
Herr Beck, wenn Sie diese Auffassung teilen, dann frage
ich Sie, warum Sie das in der Koalition nicht durchgesetzt haben.
({4})
Sie haben diese Frage immer wieder an uns gerichtet.
Jetzt sind Sie in der Regierung und damit in der Verantwortung.
({5})
In den vergangenen Tagen habe ich immer wieder
Kommentare gelesen, in denen festgestellt wurde, es
gehe bei der Stiefkindadoption um die Selbstverwirklichung homosexueller Menschen. Das ist aber nicht der
Grund, warum wir uns für die Möglichkeit der Stiefkindadoption einsetzen. Vielmehr kann es - das ist völlig
klar - nur um die Kinder und damit um das Kindeswohl
gehen.
({6})
Das Kindeswohl entscheidet darüber, wer als Adoptionseltern ausgesucht wird. Dabei kann es sich zeigen,
dass heterosexuelle Paare nicht geeignet sind; es ist aber
genauso gut möglich, dass homosexuelle Paare nicht geeignet sind. Es gibt aber auch homosexuelle Paare, die
sich genauso wie andere mit viel Liebe und Einsatz um
die Kinder kümmern, denen dies zugute kommt. Auf
Letztgenanntes kommt es schließlich an.
Im Übrigen hat die Anhörung gezeigt, dass es in Berlin sehr viele positive Erfahrungen mit homosexuellen
Elternpaaren gibt. Ich möchte in dieser Debatte deutlich
machen, dass es sie in unserer Gesellschaft schon seit
langem gibt. Das ist vielen nicht bekannt. Mir sind keine
negativen Erfahrungen bekannt. Deshalb denke ich, dass
wir diesen Schritt gehen können. Viele Länder in Europa
tun das bereits. Deshalb hat mich Ihr formales Argument
nicht überzeugt, Frau Ministerin.
Herr Kollege!
Herr Präsident, Sie wollen mich sicherlich auf die Redezeit hinweisen. Sie haben völlig Recht. Sie ist abgelaufen.
Ich denke, die heutige Debatte zeigt, dass wir einen
kleinen Schritt vorangehen. Aber es werden noch weitere Schritte dringend notwendig sein. Die FDP wird
weiter entsprechenden Druck machen.
({0})
Ich halte das für die Pflicht einer liberalen Partei.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile der Kollegin Christine Lambrecht, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr van
Essen, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen - das
habe ich mit Freude vernommen -, dass Sie in dieser Legislaturperiode mit Ihrem Entwurf schneller waren als
die Koalition. Wir hätten noch viel schneller und schon
viel weiter sein können, wenn Sie diesen Erkenntnisstand bereits im Jahr 2000 bzw. 2001 gehabt und im
Bundesrat nicht den ursprünglichen Entwurf verhindert
hätten. Denn in diesem Entwurf war schon sehr viel von
dem enthalten, was wir jetzt in mühsamer Kleinarbeit
sowohl im zustimmungsfreien als auch im zustimmungspflichtigen Teil nachholen müssen.
({0})
Wie gesagt, wir könnten schon viel weiter sein. Damals haben Sie noch die Meinung vertreten, dass eine
Angleichung bzw. eine eingetragene Lebenspartnerschaft nicht mit Art. 6 des Grundgesetzes vereinbar sei,
weil sie gegen den Schutz der Ehe und Familie verstoßen
würde. Mittlerweile sind wir etwas weiter - Frau Raab
hat darauf hingewiesen -: Aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht hervor, dass die eingetragene
Lebenspartnerschaft keinen Verstoß gegen Art. 6 des
Grundgesetzes darstellt; sie ist mit der Verfassung vereinbar.
Frau Raab hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die
eingetragene Lebenspartnerschaft ein Aliud darstellt. Sie
ist etwas völlig anderes als die Ehe. Insofern geht es darum, die unterschiedlichen Lebenssachverhalte nebeneinander zu betrachten und nur die künstlichen Unterschiede nach Möglichkeit aufzuheben. Das ist in
unserem Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts zu einem großen Teil geschehen.
Es ließe sich viel zu den einzelnen Themen ausführen.
Beispielsweise wird das Verlöbnis eingeführt; das zieht
als logische Konsequenz beispielsweise ein Zeugnisverweigerungsrecht im Strafprozess nach sich. Warum
sollte dieses Recht gegenüber dem Partner nicht gegeben
sein, sei es in einer Ehe oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft?
Wir beantworten aber auch eine Frage, die uns immer
wieder gestellt wurde: Warum sollte die Adoption nicht
möglich sein? Wir haben darauf mit der Stiefkindadoption eine Antwort gegeben, die wir gesellschaftlich verantworten können. Damit ist Rot-Grün keinesfalls irgendein neues Teufelswerk eingefallen; vielmehr gibt es
die Stiefkindadoption schon seit langem und es liegen
bereits entsprechende Erfahrungen damit vor.
Im Übrigen gibt es auch bisher bei der Adoption nicht
nur den Fall, dass eine Waise adoptiert wird und deswegen keine Rechte gekappt werden, Frau Raab. Selbstverständlich werden in Deutschland auch Kinder adoptiert,
deren leibliche Eltern noch leben. Durch die Adoption
wird das Verhältnis zu den leiblichen Eltern ersetzt.
Man sollte den Gesetzentwurf gründlich lesen. Sie haben im Vorfeld drei Punkte kritisiert, die ich kurz ansprechen will, um die geltende Rechtslage zu verdeutlichen,
um deren Anwendung es schließlich geht.
Eine Adoption ist heutzutage nur möglich - das steht
ausdrücklich in § 1741 BGB -, wenn diese dem Wohl
des Kindes entspricht. Das Kindeswohl ist das Allerwichtigste. Wenn eine Adoption nicht dem Wohl des
Kindes dient, wird es sie nicht geben. Das ist richtig so
und auch wichtig.
({1})
Das wird ausführlich von den Experten des Jugendamtes
und darüber hinaus von einem Vormundschaftsrichter
geprüft. Es entscheidet also kein Schwulen- oder Lesbenverband über eine Adoption. Vielmehr wird bei jeder
Adoption - egal ob es sich um eine Stiefkindadoption
oder eine andere Adoption handelt - als Erstes geprüft,
ob sie dem Kindeswohl dient. Das ist richtig so und auch
wichtig.
Hinzu kommt, dass zwischen dem Kind und dem Annehmenden ein Kind-Eltern-Verhältnis bestehen muss
bzw. dass die Prognose ein solches erwarten lassen
muss. Auch das steht im Gesetz. Wenn das Kind es also
nicht will, wird es keine Adoption, auch keine Stiefkindadoption, geben. Gegen den Willen des Kindes läuft
nichts.
({2})
Es ist auch nicht möglich, dass eine Adoption gegen
den Willen des natürlichen Elternteils durchgeführt
wird, das heißt, dass ihm das Kind genommen wird,
wenn eine Kind-Eltern-Beziehung besteht, weil eine entsprechende Einwilligung erforderlich ist. Eine solche
Einwilligung kann schon jetzt nur in einer sehr geringen
Anzahl von Ausnahmefällen ersetzt werden. Daher kann
einem liebenden Vater oder einer liebenden Mutter nicht
das Kind genommen werden, weil sich zwei Schwule
oder zwei Lesben ihren Lebenstraum erfüllen wollen.
Das ist auch richtig so; denn das Kind-Eltern-Verhältnis
darf nicht gekappt werden.
Sie haben des Weiteren behauptet, dass Kinder durch
eine Adoption ihrer Rechte bezüglich des natürlichen Elternteils beraubt würden. Das gehört natürlich zum Wesen der Adoption. Aber auch hier erfolgt vorab eine Prüfung, ob dies zum Vorteil bzw. Wohl des Kindes ist. Nur
dann wird diese Rechtsfolge möglich sein. Das alles
muss geprüft werden, wobei die vermögensrechtliche
Frage beim Wohl des Kindes nicht im Vordergrund stehen kann bzw. darf; denn es gibt sicherlich viele andere
Aspekte, die in Bezug auf eine positive Entwicklung der
Persönlichkeit entscheidend sind. Das alles macht aber
deutlich, dass Ihre Argumente gegen eine Stiefkindadoption völlig ins Leere laufen; denn diese Form der Adoption gibt es schon längst, hat sich bewährt und ist dort,
wo Probleme auftreten, nicht möglich.
Zu der von Ihnen angesprochenen Diskriminierung
der Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften leben, kann ich nur sagen: Diese leben schon
jetzt in solchen Gemeinschaften und es mag sein, dass
sie diskriminiert werden. Aber dieses Problem kann man
nicht lösen, indem man ihnen nicht die Rechtssicherheit
gibt, die notwendig ist, um zu dem Partner, den sie lieben, eine Beziehung aufzubauen.
({3})
Frau Kollegin Lambrecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Noll?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Noll.
Sehr geehrte Kollegin Lambrecht, Sie haben gerade
permanent auf das Kindeswohl verwiesen. Ich möchte
jetzt die Diskriminierung und die Stigmatisierung der
Kinder ansprechen, die in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften leben. Wie steht das, was Sie gerade
vorgetragen haben, im Einklang mit der Antwort der
Bundesregierung - Bundestagsdrucksache 15/3607 -, in
der festgestellt wird, dass diese Jungen und Mädchen in
ihrem Alltag Diskriminierung erleiden? Diskriminierung
und Stigmatisierung stehen schließlich in krassem Widerspruch zum Kindeswohl.
({0})
Es ist schade, dass Sie bei der betreffenden Sachverständigenanhörung nicht zugegen waren. Dort ist nämlich die Leiterin eines Jugendamtes auf diese Frage eingegangen. Sie hat zwar bestätigt, dass es
Diskriminierung von Kindern gibt, die in solchen Lebenspartnerschaften leben. Aber sie hat auch aufgezeigt,
dass die betroffenen Kinder damit umzugehen wissen,
dass sie gelernt haben, wie man solchen Diskriminierungen, die teilweise noch auf Gründen aus dem vorvorletzten Jahrhundert basieren, begegnen kann. Wenn Sie Kindergärten und Schulen besuchen, dann werden Sie
feststellen, dass die Familienstrukturen heute ganz anders sind. Deshalb können Kinder damit ganz gut umgehen.
Wie gesagt, solche Diskriminierungen gibt es schon
jetzt. Sie werden also nicht erst durch eine Stiefkindadoption entstehen. Wenn ein Kind darunter leidet, wenn
es das als belastend empfindet, dann kann es das selbstverständlich bei der Prüfung im Rahmen eines Adoptionsverfahrens vortragen. Wenn es sagt, dass eine
Adoption zusätzlich belastend ist, dann wird es keine
Adoption geben, weil das Wohl des Kindes gefährdet
wäre.
({0})
Die Anhörung hat ziemlich deutlich gezeigt, dass wir
uns mit dem Gesetz in verfassungsrechtlicher Hinsicht
nicht aufs Glatteis begeben bzw. dass wir damit kein
Neuland betreten und dass wir nur im Interesse der Kinder handeln. Das Wohl der Kinder steht eindeutig im
Vordergrund. Die Sachverständigen haben das in einer
Offenheit bestätigt, die - das muss ich zugeben - schon
verwunderlich war, bis auf eine Sachverständige, die die
Union benannt hatte. Die Ausführungen dieser Person
habe ich aber in meiner Entscheidungsfindung nicht sonderlich berücksichtigt. Für diese Frau ist nicht nur die
Adoption durch Schwule und Lesben Teufelszeug. Sie
vertritt darüber hinaus beispielsweise die Position, dass
das Leben in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft
zu einer tiefen Verunsicherung, zu einer Identitätsverwirrung und zu einer Zerstörung der Existenz führt.
Frau Kollegin Lambrecht!
Wer solch mittelalterliche Positionen vertritt, dessen
Meinung sollten wir hier bei der Beratung moderner und
zukunftsgerichteter Gesetzesvorhaben nicht berücksichtigen.
Vielen Dank.
({0})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich
das Wort der Kollegin Ute Granold für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Beck, Sie haben es auf den Punkt gebracht:
Heute ist ein guter Tag für Lesben und Schwule und ein
trauriger Tag für alle Kinder, die in diesen Beziehungen
leben.
({0})
Sie haben die Anhörung offenbar gänzlich missverstanden. Das Einzige, was Sie daraus mitgenommen haben, ist die Diskriminierung und die Verunglimpfung der
von uns benannten Sachverständigen, die seriöse Daten
vorgetragen haben.
({1})
- Frau Kollegin, ich habe Sie ausreden lassen. Vielleicht
lassen auch Sie mich ausreden.
({2})
Ich möchte auch an dieser Stelle darauf hinweisen,
dass die Kollegin Antje Vollmer von den Grünen schon
in der ersten Lesung und nun erneut - es liegt eine persönliche Erklärung vor - zum Ausdruck gebracht hat,
dass sie gegen die Volladoption und gegen die Stiefkindadoption ist, weil das Kindeswohl und nicht das Elternwohl im Vordergrund steht.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
für eingetragene Lebenspartnerschaften Rechte und
Pflichten vorgesehen werden dürfen, die denen der Ehe
nahe kommen. Es hat auch festgestellt, dass eingetragene Lebenspartnerschaften keine Ehe, sondern ein
Aliud sind. Es hat weiter nichts dazu gesagt, wie mit den
Kindern aus diesen Beziehungen umzugehen ist. Es hat
sich lediglich zu dem so genannten kleinen Sorgerecht
geäußert.
Wir akzeptieren selbstverständlich das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts. Auch wir wissen, dass dort,
wo bislang Pflichten für die Lebenspartner begründet
wurden, noch Handlungsbedarf besteht. Im Interesse der
Betroffenen sind jetzt auch Rechte einzuräumen, allerdings in einem vertretbaren und insbesondere sinnvollen
Maß. Hier sind die Koalition und auch die FDP weit
über das Ziel hinausgeschossen.
Wir haben eine sehr interessante Anhörung durchgeführt. Dabei haben wir einiges erfahren, was wir überdenken und uns auch zu Herzen nehmen sollten. Herr
Professor Wolf hat bedauert - ich kann ihm nur
beipflichten -, dass mit diesem Gesetzentwurf die
Chance vertan wird, eine eigenständige Regelung für die
Lebenspartner zu begründen. Man hat die Inhalte des
Eherechts leider Gottes eins zu eins auf die Lebenspartnerschaften übertragen. Das ist geschehen, obwohl allseits bekannt ist - ich denke, darüber besteht in diesem
Haus kein Dissens -, dass gerade beim Eherecht ein erheblicher Reformstau besteht.
Derzeit diskutieren wir über Vorschläge zur Änderung
des Unterhaltsrechts. Was das Güterrecht angeht, wurde
die eheliche Zugewinngemeinschaft ungeprüft übernommen, obwohl deren Vorbild, die Hausfrauenehe, für die
Lebenspartnerschaft ungeeignet ist. Denn dieses Lebensmodell wird gerade von Lebenspartnern nicht praktiziert; das ist wohl unbestritten. Der richtige Güterstand
im Sinne einer Gleichberechtigung wäre hier die Gütertrennung. Gleiches gilt im Übrigen für den Versorgungsausgleich, der in dieser Legislaturperiode ohnehin reformiert werden soll.
Ich könnte noch eine beliebige Zahl von Beispielen
dafür anführen, was für Stückwerk hier abgeliefert
wurde, und zwar in einer Eile, die der Sache in keiner
Weise gerecht wird.
Ich möchte mich noch kurz zur Stiefkindadoption
äußern. Frau Ministerin, Sie haben heute Morgen im
Frühstücksfernsehen auf die Frage, ob eine Adoption
rückgängig gemacht werden kann, nicht antworten können. Ich gebe Ihnen die Antwort: Sie kann nicht rückgängig gemacht werden.
({4})
Die Kinder sind dem, was Erwachsene hier auf den Weg
bringen, schutzlos ausgeliefert.
({5})
Ich muss sagen: Das ist - nicht nur angesichts der wenigen Fälle, die zu regeln sind - ein mehr als fragwürdiges Unterfangen. Die soziale und materielle Sicherheit
der Kinder in Lebenspartnerschaften können die Lebenspartner durch die vertragliche Übernahme von Unterhaltsverpflichtungen oder durch Begründung von Erbrecht auch ohne Adoption gewährleisten. Schon nach
geltendem Recht sind die eingetragenen Lebenspartner
mit den jeweiligen Stiefkindern verschwägert. Es steht
ihnen ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Es kann zu ihren Gunsten im Todesfall des mit ihnen verpartnerten Elternteils eine Verbleibeanordnung für das Kind ausgesprochen werden.
Mit der beabsichtigten Stiefkindadoption würde ein
Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen
Kindes der eingetragenen Lebenspartner erlangen.
Gleichzeitig würde aber - das ist das Gravierende - die
Rechtsbeziehung zu dem biologischen Elternteil und
dessen Verwandten definitiv abgeschnitten.
({6})
Wir haben in der Anhörung erfahren - ich rate den
Herren und Damen von der Koalition, die Stellungnahmen noch einmal sorgfältig durchzulesen -, dass der
Grundrechtsschutz der Kinder, ihr Recht auf Vater und
Mutter, höherrangig zu bewerten ist als das Recht der
Lebenspartner auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit,
auf Selbstverwirklichung und auf - das ist nur ein vermeintliches Recht - ein Kind.
({7})
Im Mittelpunkt, Frau Kollegin Lambrecht, steht in der
Tat das Kindeswohl. Das allein ist Maßstab für die Entscheidung. Es geht nicht um kinderlose Partner, die gern
ein Kind haben wollen,
({8})
sondern es geht um die elternlosen Kinder, die eine Familie bekommen sollen. Das ist das Grundprinzip der
Adoption. Gerade in Stieffamilien haben die Kinder in
den weitaus meisten Fällen noch einen leiblichen erziehungsfähigen und auch erziehungswilligen Elternteil.
({9})
Wenn sich die Eltern trennen, ist diese Bezugsperson
nach wie vor da.
({10})
Die bisherige Gesetzgebung und Rechtsprechung, auch
die Kindschaftsrechtsreform, besagen eindeutig, dass die
verbleibenden Beziehungen des Kindes zu dem von ihm
getrennten Elternteil gestärkt werden müssen. In dieser
Hinsicht arbeiten wir bis zum heutigen Tage an weiteren
Gesetzen. Ich denke nur an die Diskussionen in den vergangenen Sitzungswochen.
Ich sage, dass die Stiefkindadoption in die falsche
Richtung geht. Wir sollten die Stiefkindadoption prüfen.
Sie bringt Nachteile, und zwar nicht nur für die heterosexuellen Eltern, sondern auch für die jetzt infrage stehenden Lebenspartner.
Frau Granold, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lambrecht?
Ja.
Frau Granold, Sie haben eben das Recht des Kindes
auf Vater und Mutter erwähnt und davon gesprochen,
dass das Kind neben den Partnern in der eingetragenen
Lebenspartnerschaft noch einen erziehungsfähigen und
erziehungswilligen Elternteil hat. Ich habe vorhin sehr
ausführlich, wie ich meine, die Voraussetzungen für eine
Adoption dargestellt.
({0})
Weil das bei Ihnen offensichtlich nicht angekommen ist,
frage ich: Stimmen Sie mit mir darin überein, dass dann,
wenn ein erziehungsfähiger und erziehungswilliger Elternteil da ist, der seine Rechte auch ausüben will und in
die Adoption nicht einwilligt, eine Adoption, eine Stiefkindadoption in diesem Fall, rechtlich nicht möglich ist?
({1})
Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass dann, wenn
der leibliche Elternteil nicht zustimmt, die Adoption ausgeschlossen ist. Wir wissen aber von Fällen, in denen
aus sachwidrigen Erwägungen, um sich nämlich Unterhaltspflichten zu entziehen, einer Stiefkindadoption zugestimmt wird.
({0})
Hier ist das Kind den Erwachsenen schutzlos ausgeliefert.
({1})
Die Bundesregierung hat in der Antwort auf eine
Kleine Anfrage der Kollegin Noll selbst zugegeben, dass
es Benachteiligungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen der Kinder aus diesen Lebenspartnerschaften
gibt und die Kinder Angst vor Ausgrenzung haben.
Wenn Sie sagen, die Kinder hätten schon gelernt, damit
umzugehen, dann muss ich fragen: Warum muten Sie
den Kindern überhaupt zu, dass sie damit umgehen müssen
({2})
und dass sie diesen Stress erleben müssen? Das soll jetzt
auch noch legalisiert werden!
Es gibt keine aussagekräftigen Studien - weder in
Deutschland noch im Ausland; Sie erklären das zwar immer wieder, aber es gibt sie nicht; das hat uns die Anhörung gezeigt -, die belegen, dass die Kinder keinerlei
Schäden erleiden. Ganz im Gegenteil, es gibt Hinweise
darauf, dass die Kinder psychische Schäden erleiden,
wenn sie in einer solchen Beziehung - sie soll auch noch
legalisiert werden - aufwachsen.
Die Kollegin Renate von Renesse, eine SPD-Kollegin
aus der letzten Legislaturperiode,
({3})
- das ist egal -,
({4})
hat im Rahmen der Beratungen eindeutig gesagt - ich zitiere -: Das Adoptionsrecht darf niemals als ein Instrument der Normalisierung gleichgeschlechtlicher Existenz missbraucht werden. - Genau das ist es aber, was
hier auf den Weg gebracht werden soll.
({5})
Sie wollen genau das zum Schaden der Kinder tun. Die
Kinder sind diejenigen, die sich nicht wehren können.
Deshalb noch einmal unsere Aufforderung an Sie:
Setzen Sie dieses unsägliche Verfahren aus! Geben Sie
eine Langzeitstudie in Auftrag, um zu erforschen, wie
sich Kinder in solchen Beziehungen entwickeln! Dann
können wir weiter darüber reden.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Mir liegen zwei persönliche Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung vor: zunächst eine der Kollegin
Vollmer zur zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie eine zweite persönliche Erklärung des Kollegen Volker Beck zum Gesetzentwurf der FDP. Bei der
zweiten könnte man sich über die Notwendigkeit dieser
persönlichen Erklärung sehr streiten,
({0})
nachdem der Kollege als Redner in der Debatte nicht nur
Gelegenheit hatte, zum Sachverhalt Stellung zu nehmen,
sondern das auch getan hat. Aber da wir keinen unnötigen Streit zum Wochenende entfachen wollen,
({1})
empfehle ich, beide Erklärungen zu Protokoll zu neh-
men1). - Dagegen erhebt sich offenkundig auch kein Widerspruch.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts
auf der Drucksache 15/3445. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4052, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und des fraktionslosen Abgeordneten Martin
Hohmann angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes auf Drucksache 15/2477.
Hier empfiehlt der Rechtsausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mehrheitlich abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Einsatz der automatisierten Erfassung von
Kraftfahrzeugkennzeichen durch den Bundesgrenzschutz
- Drucksache 15/3713 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
1) Anlagen 2 und 3
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
Debattenzeit von 30 Minuten vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Dr. Ole Schröder für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vom Bundesinnenminister hören wir immer
wieder markige Ankündigungen, wie die innere Sicherheit in Deutschland verbessert werden kann. Schade ist
nur, dass Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander
fallen. Den Bürgern ist mit bloßen Versicherungen, es
werde alles getan, nicht geholfen. Innere Sicherheit kann
nur durch Taten erreicht werden. Mit einer besonders
einfachen Tat könnte die Regierung mehr Sicherheit für
die Bürger vor grenzüberschreitender Kriminalität erreichen. Sie könnte dafür sorgen, dass die Beamten vom
BGS bei ihrer Arbeit durch die automatisierte Erfassung
von Kraftfahrzeugkennzeichen unterstützt werden. Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen, helfen Sie den Beamtinnen und Beamten vom BGS bei ihrer Arbeit.
({0})
Warum besteht so ein Handlungsbedarf? Die Anzahl
der zur Fahndung ausgeschriebenen Kraftfahrzeuge und
Kraftfahrzeugkennzeichen steigt. In diesem Frühjahr
waren es bundesweit circa 557 000 Kennzeichen und
circa 327 000 Kraftfahrzeuge. Hier geht es nicht nur um
Autodiebstahl, hier geht es auch um die so genannten
Anschlussstraftaten wie Einbrüche, Raubüberfälle und
Geiselnahmen.
Es kommt noch dicker, meine Damen und Herren:
Die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in
Europa nimmt zu. Kriminelle Vereinigungen handeln
mit Menschen, Frauen werden zur Prostitution gezwungen, organisierte Banden verschieben Autos europaweit,
Terroristen agieren ohne Rücksicht auf unsere Grenzen.
Die grenzüberschreitende Kriminalität stellt eine wesentliche Gefahr für die Sicherheit in unserem Lande
dar.
({1})
Wir bemühen uns zwar schon heute, diese Kriminellen
zu fassen. Es wird versucht, die Kraftfahrzeugkennzeichen im Rahmen von Fahndungen zu erkennen und dann
mit dem geführten Fahndungsregister abzugleichen.
Doch selbst die besten Beamten des Bundesgrenzschutzes sind nicht in der Lage, bei hoher Verkehrsdichte und
hoher Geschwindigkeit den schnell fließenden Verkehr
zu erfassen. So schnell kann kein Beamter schauen; da
stoßen die Beamten an ihre menschlichen Grenzen.
Jeder verantwortungsvolle Innenpolitiker sollte sich
überlegen, ob und wie wir den Beamten helfen können.
Die Technologie dafür ist vorhanden, und sie ist nicht
nur vorhanden, sondern auch erprobt; sie wird im Ausland erfolgreich eingesetzt.
({2})
Auch in Deutschland - in Bayern, Brandenburg und
Hessen - ist diese Technik getestet worden.
Sehr geehrte Kollegen von den Grünen und von der
SPD, hier droht Ihnen kein weiteres Mautdesaster.
({3})
Sie können unserem Antrag beruhigt zustimmen. Das
Kfz-Kennzeichen-Scanning ist bereits heute effektiv,
leistungsfähig und hat in der Praxis gute Fahndungsergebnisse gebracht. Damit können nämlich aus dem fließenden Verkehr heraus Kraftfahrzeugkennzeichen durch
Kameras erkannt werden. Diese Daten werden dann automatisch mit dem Fahndungsbestand abgeglichen. Der
Fahndungsbestand bezieht sich nur auf Kennzeichen, die
im Zusammenhang mit Straftaten ausgeschrieben und
gesucht werden.
({4})
Hier geht es nicht um die Erfassung von Kennzeichen
unbescholtener Bürger. Ist das Kennzeichen des vorbeifahrenden Fahrzeugs nicht im Fahndungsbestand, dann
wird es sofort und unwiederbringlich gelöscht und eben
nicht gespeichert. Insgesamt ergeben sich für den BGS
ungeahnte Präventions- und Strafverfolgungsmöglichkeiten von einer ganz neuen Dimension.
Vergessen wir aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, von wem wir das Mandat, für die innere Sicherheit zu sorgen, erhalten haben. Überlegen wir uns: Wie
sieht denn eine herkömmliche Kontrolle für die Bürger
heute aus? Ihre Fahrt wird unterbrochen. Sie müssen ihre
Papiere vorzeigen, je nach Termindruck eine mehr oder
weniger unangenehme Prozedur. In der Zwischenzeit
fährt auf der Autobahn ein gestohlenes Kraftfahrzeug,
zum Beispiel mit einem Schleuser, unbehelligt vorbei.
Wie sieht die Alternative für unsere Bürger aus? Sie
fahren an einem Kontrollpunkt vorbei. Ihr Kennzeichen
wird automatisch gelesen, mit dem Fahndungsregister
abgeglichen und anschließend sofort gelöscht. Sie können unbehelligt weiterfahren. Gleichzeitig wird das
Kennzeichen des gesuchten Schleusers erfasst. Der BGS
kann nun seine eigentliche Arbeit aufnehmen und den
gesuchten Schleuser dingfest machen.
Meine Damen und Herren, was stellt den größeren
Eingriff in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger dar?
Wir dürfen dem BGS die Nutzung dieser funktionierenden Technologie nicht weiter verwehren. Es hilft wenig, wenn wir immer mehr Fahndungsdaten des Schengener Systems zur Verfügung haben, diese aber aufgrund
der fehlenden Technik nicht nutzen können.
({5})
Europa wächst zusammen. Eine größere Anzahl Bürger kann sich in einem größeren Gebiet frei bewegen.
Das begrüßen wir alle. Doch wir müssen alles tun, um zu
verhindern, dass der Freiheitsgewinn für unsere Bürger
mit zusätzlichen Spielräumen für Kriminelle einhergeht.
Ich appelliere daher an den Bundesinnenminister, sich
dieser funktionierenden und innovativen Technik nicht
weiter zu versperren
({6})
und sich dem Einsatz des Kfz-Kennzeichen-Scannings
nicht länger zu widersetzen. Meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition, ich bitte Sie: Stimmen Sie
unserem Antrag zu!
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Frank Hofmann für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Dr. Schröder, das Bild, das Sie von
der inneren Sicherheit hier zeichnen, stimmt nicht mit
der Realität überein.
({0})
Weder das Lagebild „organisierte Kriminalität“ noch die
Polizeiliche Kriminalstatistik oder das Lagebild
„Schleusungskriminalität“ bestätigen Ihr Bild von der
inneren Sicherheit.
Erstens. Der Diebstahl von Kraftfahrzeugen ist von
2002 auf 2003 um mehr als 10 Prozent zurückgegangen.
Seit zehn Jahren gibt es hier - so die Kriminalstatistik einen sinkenden Trend. Die Wagensperre ist eine effiziente Maßnahme, um Diebstähle zu verhindern.
Zweitens. Was unerlaubte Einreisen betrifft, haben
wir im Jahre 2003 einen Rückgang von 24,5 Prozent zu
verzeichnen. Der Rückgang bei den Schleusungen beträgt 16 Prozent.
Drittens. Das Bundeslagebild „Schleusungskriminalität“ betrachtet als bedeutsam: Schiffsschleusung nach
Europa, Benutzung von Flugzeugen und der Bahn sowie
den grenzüberschreitenden Buslinienverkehr, nicht jedoch das gestohlene Kfz, das mit Originalkennzeichen
über die Grenze gefahren wird.
Viertens. Sie behaupten, die Erfassung und der Abgleich von Kfz-Kennzeichen an Grenzübergängen diene
der Aufdeckung unerlaubter Grenzübertritte, insbesondere der Aufdeckung von Schleusungsdelikten, sowie
der Fahndung nach flüchtigen Straftätern. Mir ist nicht
bekannt, dass Kfz-Diebe insbesondere gestohlene Kfz
ohne Kennzeichendublette und ohne frisierte Papiere benutzen, um damit Personen über die Grenze zu schleusen.
In der Summe kann man also sagen: Sie kochen die
Gefahr für die innere Sicherheit hoch. Ihre Darstellungen entsprechen aber nicht der Realität.
({1})
Es muss Ihnen doch klar sein, dass man mit diesem Einsatz nicht auf großen Fischfang gehen kann.
Sie bezeichnen die automatisierte Erfassung von
Kraftfahrzeugkennzeichen und den automatisierten Abgleich mit dem Fahndungsbestand als effiziente Technologie. Soweit ich höre, handelt es sich um eine effiziente
Technologie bei Sonnenschein, aber nicht bei Regen.
({2})
Die Erfassungsgeräte schaffen es wohl nicht, bei jedem
Wetter das Kennzeichen vollständig abzulesen. Von einer effizienten Technologie kann deshalb meines Erachtens noch keine Rede sein. Ich sehe keinen Quantensprung für die Fahndung.
Herr Kollege Hofmann, darf der Kollege Schröder Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Wenn er unbedingt muss, darf er das.
({0})
Danke, Herr Kollege Hofmann, dass Sie mir diese
Zwischenfrage erlauben.
In Bayern wurden im Rahmen eines halbjährigen, eng
gefassten Testbetriebs 114 Treffermeldungen für zur
Fahndung ausgeschriebene Personen und Kfz-Kennzeichen nach Diebstahl bzw. Unterschlagung erzielt. Ist Ihnen das bekannt? Sie reden aber davon, dass wir in
Deutschland keine Probleme mit unterschlagenen und
gestohlenen Fahrzeugen haben.
Sie haben mich missverstanden. Sie sollten das Ende
meiner Rede abwarten. Ich habe davon gesprochen, dass
es diesen Quantensprung nicht gibt. Es gibt in Bayern
282 Treffermeldungen. Darunter sind die 114 Meldungen, die Sie gerade erwähnt haben. Die Anzahl der Treffermeldungen sagt aber noch nichts über die Qualität
aus. Die Qualität muss erst noch festgestellt werden.
({0})
Warten Sie meine weiteren Ausführungen ab. Sie werden dann erkennen, welchen Weg wir vorschlagen.
Richtig ist - soweit ich das weiß -, dass dieses System in den Ländern Bayern, Berlin, Brandenburg,
Rheinland-Pfalz und Thüringen erprobt worden ist. In
Bayern ist man da wohl am weitesten. Ich kenne auch
den entsprechenden Gesetzentwurf.
Sie fordern dieses System für den BGS an den Grenzübergängen. Welche Grenzen kommen denn dafür noch
infrage? Die Grenzen zur Schweiz, nach Polen und nach
Frank Hofmann ({1})
Tschechien. Der größte Teil der Grenze nach Tschechien
wird von der bayerischen Polizei abgedeckt. Für den
BGS bleiben ein kleiner Teil der Grenze nach Tschechien sowie die Grenze nach Polen und die Grenze zur
Schweiz übrig. Wie lange könnten diese Maßnahmen an
den Grenzen noch vom BGS durchgeführt werden? In
naher Zukunft ist die vollständige Einbeziehung Polens,
Tschechiens und auch der Schweiz in den Schengen-Verbund zu erwarten.
Stationäre Kennzeichenlesesysteme könnten deshalb
nur noch bis 2007 betrieben werden. Danach sind dies
EU-Binnengrenzen und können nicht mehr wie EU-Außengrenzen behandelt werden. Man muss sich deshalb
die Frage nach Effizienz, Verhältnismäßigkeit, Datenschutz und Sinnhaftigkeit stellen. Möglicherweise wird
dadurch der BGS mit kleineren Verfahren belastet, was
ihn von anderen wichtigen Aufgaben abhält.
Man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass internationale Kfz-Verschieberbanden ihre Autos bereits
über die EU-Grenzen hinaus gebracht haben, bevor der
Diebstahl überhaupt in das Schengener Informationssystem eingestellt wird. Auch bei anderen bekannten Verbringungsweisen, wie zum Beispiel zerlegter Transport
oder Verladung auf LKWs, hilft uns das KennzeichenScanning nicht weiter. Hier zeigt sich: Auch wenn das
Lesegerät bei Nacht sowie bei Wind und Wetter erfolgreich ist, wird es keine Treffer landen.
Schwerpunkte des Einsatzes beim BGS sind die Verhinderung der unerlaubten Einreise, die Bekämpfung der
Schleuserkriminalität, die internationale Kfz-Verschiebung sowie die Verhinderung der Ein- und Ausreise potenzieller Gewalttäter zu Großveranstaltungen in der
Bundesrepublik. Ich sehe nicht, wie dieses Lesesystem
bei der Verhinderung der unerlaubten Einreise helfen
kann. Wer benutzt denn zur unerlaubten Einreise Autos,
die in der Fahndung ausgeschrieben sind?
Bei der Schleuserkriminalität habe ich aufgezeigt, mit
welchen Verkehrsmitteln geschleust wird. Bei der internationalen Kfz-Verschiebung habe ich aufgezeigt, dass
man Autos ohne Dubletten bzw. ohne andere Veränderungen gerade nicht über die Grenze bringt. Wo ist also
der Fortschritt für den BGS?
Vor einer abschließenden Entscheidung für den BGS
sind die Ergebnisse der laufenden Modellversuche und
insbesondere die Ergebnisse der Untersuchungen zu den
rechtlichen und technischen Möglichkeiten zur Einführung eines automatischen Lesesystems abzuwarten. Damit befassen sich die Fachleute im Rahmen der ständigen Konferenz der Innenminister. Dem werden wir nicht
vorgreifen.
Natürlich ist es unsere Aufgabe, neue Techniken zu
erproben und sie, wenn sie ausgereift sind, auch einzusetzen. Für Schnellschüsse sind wir jedoch nicht zu haben.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die FDP-Fraktion könnte dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion dann zustimmen, wenn es sich dabei tatsächlich nur um das Kfz-Kennzeichen-Scanning
beim eigentlichen Grenzübertritt handeln würde. Denn
es kann - das haben Sie, Herr Schröder, völlig zu Recht
ausgeführt - hier nicht allein um die Technik gehen. Ob
nun bei einer Grenzkontrolle ein Beamter das Kennzeichen in den Fahndungscomputer tippt oder ob man die
moderne Technik nutzt und es automatisch eingelesen
wird, das kann nun wirklich keinen Unterschied machen,
({0})
wobei es natürlich auch damit - das darf man nicht verleugnen - zu einer qualitativen Veränderung kommt.
Bisher geht es mehr um verdachtsabhängige Kontrollen;
demnächst wird jedes Kennzeichen erfasst. Das ist aus
unserer Sicht ein Mittel zur effektiveren Strafverfolgung.
({1})
Leider beschränken Sie sich nicht auf den Grenzübertritt. Dieses Kennzeichen-Scanning soll nach Ihrer Auffassung demnächst im Zuständigkeitsbereich des Bundesgrenzschutzes umfassend eingesetzt werden,
({2})
also in einem Umkreis von bis zu 50 Kilometern.
({3})
Der BGS erfüllt mittlerweile mehr Aufgaben als nur
den reinen Grenzschutz. Das bedeutet, dass es bis zu einem flächendeckenden Kennzeichen-Scanning nur ein
kleiner Schritt ist. Mit welcher Argumentation wollen
Sie eigentlich eher kleineren Ländern entgegentreten,
bei denen schon 50 Kilometer nach dem Grenzübertritt
die Hälfte des Landes erreicht ist? Würde man Ihre Vorstellung umsetzen, gäbe es bald ein komplettes Kennzeichen-Scanning.
Es ist ja so - dies stärkt uns in unseren Befürchtungen -, dass Bayern, Hessen und Thüringen das alles
- teilweise ohne Rechtsgrundlage - schon getestet haben. Darüber hinaus will der Bundesinnenminister, wie
wir wissen, den Bundesgrenzschutz zur Bundespolizei
umbauen. Wenn es im Rahmen dieses Umbaus noch eine
Kompetenzerweiterung gibt, finden solche Maßnahmen
eben nicht nur im Grenzbereich statt. Damit würden wir
im deutschen Recht völlig neuen Boden betreten.
({4})
Absolute verdachtsunabhängige Kontrollen sind dem
deutschen Recht bisher gänzlich fremd.
({5})
Die FDP hat sich stets mit guten Gründen gegen eine
Aushöhlung dieses Ausdruckes einer souveränen und
bewährten Rechtsstaatlichkeit ausgesprochen.
({6})
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung zur präventiven Telefonüberwachung vom März
dieses Jahres bereits festgestellt, dass die Voraussetzungen im Rahmen der präventiven Überwachung umso
konkreter gefasst werden müssen, je weiter sie im Vorfeld vorgenommen werden. Damit macht das Bundesverfassungsgericht klar, dass an eine präventive Maßnahme in diesem Bereich strenge Maßstäbe zu stellen
sind, weil der Betroffene „von einer Überwachung keine
Kenntnis hat und sich deshalb nicht selbst wehren kann“.
An diese Maßstäbe müssen sich glücklicherweise nicht
nur FDP-Kollegen in diesem Haus halten.
Im Übrigen haben schon die Datenschutzbeauftragten
der Länder und des Bundes vor dieser Kfz-Überwachung
gewarnt. Ich weiß, dass Sie die Bedenken der Datenschützer meist belächeln. Ich tue das nicht und meine gesamte Fraktion auch nicht.
({7})
Ich möchte dazu noch einmal zitieren:
Es ist zu befürchten, dass mit dem Einsatz der automatischen Kfz-Kennzeichenerfassung eine neue Infrastruktur geschaffen wird, die künftig noch weit
tiefer gehende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht
ermöglicht.
Die Frage, die ich heute an Sie stelle, lautet: Wollen
wir wirklich die Voraussetzungen schaffen, die bei einem weniger verantwortungsvollen Umgang eine totale
Überwachung des Bürgers so drastisch vereinfachen?
Nicht nur ich hoffe, dass Sie sich das noch einmal überlegen.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde
es zum einen zunehmend köstlich, dass sich bei diesen
innenpolitischen Debatten zeigt, dass Rot und Grün auch
inhaltlich eine politische Gemeinschaft bilden, dass wir
also eine gemeinsame rot-grüne Innenpolitik machen,
({0})
in der auch ein Abwägungsprozess stattfindet.
Zum anderen finde ich den Hinweis des Dreamteams
Merkel und Westerwelle, ab 2006 gemeinsam zu regieren, zunehmend köstlich. Ich frage mich: Soll das eine
Zweckgemeinschaft werden; denn wo sind überhaupt
noch inhaltliche Berührungspunkte? Ich finde das sehr
interessant. Ich glaube aber, die Bürgerinnen und Bürger
bekommen mit, dass wir eine vernünftige, eine abwägende Innenpolitik machen.
({1})
Ich bin fest davon überzeugt, dass Rot-Grün noch weit
über 2006 hinaus für die Sicherheit, aber auch für die
Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger eintreten wird.
({2})
Ich spreche jetzt zur Sache, nämlich zum Antrag der
CDU/CSU. Ich finde es interessant - hier habe ich eine
andere Einschätzung als die FDP -, dass die von Ihnen
regierten Länder den Begriff Bundespolizei und die damit verbundene Zuständigkeitserweiterung generell ablehnen.
({3})
Sie aber nehmen mit Ihrem Antrag eine Vermengung
von landespolizeilichen Aufgaben und der derzeitigen
grenzpolizeilichen Aufgaben des BGS vor. Die Gefahrenabwehr, also die Strafverfolgung beispielsweise in
Fällen von Kfz-Diebstahl, gehört heute aber eben nicht
zur Kernaufgabe des BGS. Dies ist originäre Aufgabe
unserer Landespolizeien.
({4})
Ich finde es aber - das möchte ich auch deutlich sagen - geradezu erschreckend, wie mit Grundsätzen unseres Rechtsstaates umgegangen wird. Wir haben nichts
gegen die Technik des Scannings von Autokennzeichen.
Sie aber wollen dies verdachtsunabhängig, permanent,
lagebildunabhängig und unterschiedslos gegen jeden
Bürger und gegen jede Bürgerin an jedem Ort einsetzen.
Das bedeutet eine völlige Abkehr von dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung.
({5})
Sie müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen - hier
beziehe ich mich auf die Stellungnahme der Datenschützer, die ernst zu nehmen ist -: Selbstverständlich
wird ein Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht nicht dadurch besser, dass die Bürgerinnen und Bürger keine Kenntnis davon haben und auch
nicht merken, dass sie permanent überwacht und ihre
Kfz-Kennzeichen mit Fahndungsdateien abgeglichen
werden. Die Eingriffstiefe wird doch nicht dadurch geringer, dass der Bürger die Kamera an der Autobahnbrücke nicht bemerkt, die das Kennzeichen seines Fahrzeuges erfasst und mit der Fahndungsdatei abgleicht.
Der nächste Schritt ist dann - wie in England - ein
Scanning der Autoinsassen. Danach wird dann in jedem
Fußballstadion geprüft, ob dort nicht vielleicht ein Taschendieb sitzt.
Sie begründen die von Ihnen - unter Missachtung der
verfassungsschutzrechtlichen und datenschutzrechtlichen Regelungen - vorgeschlagenen Maßnahmen mit
dem lapidaren Hinweis: Es ist doch nicht so schlimm,
wenn wir eine permanente Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land mit verschiedenen
technischen Überwachungsmitteln, die auch noch miteinander vernetzt werden, zulassen. So weit werden wir
nicht gehen.
(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler
({6})
Wir setzen moderne Überwachungstechnik in den
Grenzen der Verfassung und des Datenschutzrechts ein.
Gegen eine mobile Überwachung von Kennzeichen
- zum Beispiel bei einer Schwerpunktaktion der Polizei ist nichts einzuwenden. Aber wir können nicht so weit
gehen, wie Sie es fordern. Sie schaffen den permanenten
Überwachungsstaat.
({7})
Wir können doch nicht so weit gehen, dass wir an Autobahnen, auf Bahnhöfen, in Fußballstadien und an
Grenzübergängen mit technischen Überwachungsinstrumenten arbeiten. Wir können doch nicht überall Autos,
Gesichter, biometrische Merkmale und DNA registrieren. Sie müssen doch einmal die Summe Ihrer Anträge
und Forderungen bilden! Mir wird dabei angst.
({8})
Wir werden eine vernünftige Innenpolitik mit Augenmaß betreiben. Dafür steht Rot-Grün. Wir werden in jedem einzelnen Punkt weiterhin abwägen, ob ein Mittel
geeignet und verhältnismäßig ist.
Danke schön.
({9})
Zum Schluss dieser Debatte hat das Wort der Kollege
Ronald Gewalt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben ein flammendes
Plädoyer für den Rechtsstaat gehalten. Schauen Sie sich
Frankreich, Großbritannien und die Schweiz an! Das
sind alteingesessene europäische Demokratien, die das
Kennzeichen-Scanning längst eingeführt haben. Also ein
bisschen gemach an dieser Stelle.
Das Scannen und Registrieren von Kfz-Kennzeichen zu Fahndungszwecken ist in vielen europäischen
Ländern längst Praxis bei der Polizei. Ich nenne das Beispiel der Schweiz: Der Fahndungscomputer in der Zentrale der Züricher Polizei schlägt etwa fünf Mal pro Tag
Alarm, wenn an einer der Hauptverkehrsstraßen der
Stadt von den Aufzeichnungsgeräten das Kennzeichen
eines gestohlenen Fahrzeugs gemeldet wird oder der
Fahrer zur Fahndung ausgeschrieben ist. Streifenwagen
der Polizei riegeln dann das Gebiet sofort ab und, Herr
Kollege Hofmann, der Täter kann in vier von fünf Fällen
- das ist eine beeindruckende Bilanz - gefasst werden.
({0})
Von den Kameras in der Schweiz werden das Kennzeichen, die Frontpartie, die Marke und das Modell des Wagens erfasst. In Sekundenbruchteilen werden die Informationen an den Computer weitergegeben, der dann den
Alarm auslöst.
Die Erfolge - ich habe sie soeben angerissen - sind
beeindruckend. Sie waren ausschlaggebend dafür, dass
die Videoüberwachung von Kraftfahrzeugen überall in
Europa auf dem Vormarsch ist. Großbritannien, Italien
und die Schweiz haben hier eine Vorreiterrolle übernommen. Mittlerweile sind auch in Deutschland drei
Modellversuche gelaufen, in Brandenburg gab es den
weitestgehenden, und zwar unter sozialdemokratischer
Regierungsverantwortung.
({1})
Bayern und Hessen haben begrenzte Versuche durchgeführt. Überall ist das Urteil der Polizei eindeutig.
({2})
Das Kfz-Kennzeichen-Scanning ist ein viel versprechendes Fahndungsmittel. So fällt auf, dass seit Einführung der Videoüberwachung von Kraftfahrzeugen in Italien der Autodiebstahl - dort bekanntermaßen ein
großes Problem - deutlich zurückgegangen ist. Ich habe
heute früh die Zahlen für Norditalien erhalten. Dort gab
es einen Rückgang des Autodiebstahls um 22 Prozent.
Ich glaube, das kann sich sehen lassen, meine Damen
und Herren von der SPD.
({3})
Man kann davon ausgehen, dass die Videoüberwachung von Kraftfahrzeugen nicht nur eine Fahndungskomponente, sondern auch eine präventive Komponente
hat, die für den Bürger die entscheidende ist. Frau Piltz,
um den Bedenkenträgern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen: Datenschutzprobleme bestehen eben
nicht. Die Daten und Bilder, die von der Videokamera
erfasst werden, werden nicht gespeichert, sondern nur
mit den Daten abgeglichen, die bereits im Fahndungscomputer sind. Eine Speicherung über Stunden und Tage
ist überhaupt nicht vorgesehen und nicht notwendig.
({4})
Insofern verstehe ich Ihre Bedenken nicht.
Gerade in Zeiten, in denen die Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union wegfallen - Ihr Argument,
Herr Kollege Hofmann, ist daher eher ein Argument für
die Einführung des Kennzeichen-Scannings -,
({5})
braucht man eine Kompensation hinter den Grenzen.
Deshalb sollte nicht nur der Polizei der Länder, sondern
auch dem Bundesgrenzschutz die Möglichkeit gegeben
werden, die Videoüberwachung von Kraftfahrzeugen
einzuführen.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich daran erinnern, dass nicht nur die Innenminister der Union, sondern auch die der Sozialdemokraten - zum Beispiel Herr
Behrens aus Nordrhein-Westfalen und Herr Körting aus
Berlin - Interesse am Kfz-Kennzeichen-Scanning gezeigt haben.
({7})
Allerdings wollen die sozialdemokratischen Innenminister - offensichtlich, um die Landespolizeigesetze nicht
ändern zu müssen - anders bezogene Kontrollen.
({8})
Diese Kontrollen, Frau Kollegin Stokar - das zeigen die
Pilotprojekte in Brandenburg, Bayern und Hessen -, sind
jedoch nicht ausreichend. Gerade die regelmäßigen Aufnahmen durch fest installierte Kameras und die anlassunabhängigen Kontrollen sind für einen Erfolg maßgeblich. Deshalb setzen wir uns für sie ein.
({9})
Herr Staatssekretär, der Bundesinnenminister hat im
Übrigen nicht dasselbe Problem wie seine sozialdemokratischen Kollegen in den Ländern. Er braucht keine
Angst davor zu haben, bei einer Gesetzesinitiative zur
Einführung anlassunabhängiger Kontrollen an der eigenen Fraktion zu scheitern;
({10})
denn im Bundesgrenzschutzgesetz sind bereits anlassunabhängige Videokontrollen vorgesehen. Es ist übrigens
eines der ganz wenigen bundesweit gültigen Polizeigesetze, in denen solche Kontrollen bereits vorgesehen
sind.
({11})
Deshalb richte ich folgenden Appell an Sie, Herr Staatssekretär, bzw. an die gesamte Bundesregierung: Wenden
Sie dieses fortschrittliche Gesetz bitte an und geben Sie
dem Bundesgrenzschutz die Möglichkeit, diese erfolgreiche Fahndungsmethode einzusetzen!
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3713 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu stelle ich
Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung der Europäischen Gesellschaft
({0})
- Drucksache 15/3405 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 15/4053 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Norbert Röttgen
Rainer Funke
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der CDU/CSU-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen heute eine sehr wichtige Diskussion über den
Gesetzentwurf zur Einführung der Europäischen Gesellschaft. Hierbei geht es nicht nur darum, formal irgendeinen Gesetzentwurf zu beschließen. Vielmehr geht es
darum, dass unsere Unternehmen mit anderen europäischen Unternehmen auf einer guten Grundlage fusionieren können. Diese Grundlage schaffen wir heute. Das ist
sehr wichtig, weil in zusammenwachsenden Wirtschaftsräumen nicht darauf verzichtet werden kann, dass den
Menschen und den Unternehmen Rechtsformen zur Verfügung gestellt werden, in denen sie sich zusammenschließen können. Das wird nun geschehen. Ich glaube,
das ist ein richtiger Schritt und ein guter Erfolg.
Diese Diskussion ist immer schwierig gewesen, weil
nicht klar war, wie die insbesondere in der Frage der
Mitbestimmung bestehenden unterschiedlichen Traditionen in den verschiedenen europäischen Ländern miteinander zu vereinbaren sind. Das hat dazu geführt, dass
es lange gedauert hat, bis auf europäischer Ebene eine
entsprechende Richtlinie ausgearbeitet wurde, die wir
jetzt in nationales Recht umsetzen können. Letztendlich
ist dabei allerdings etwas Gutes herausgekommen. Die
gute Botschaft für unser Land lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die deutsche Form der Unternehmensmitbestimmung wird auf europäischer Ebene gut funktionieren.
({0})
Die Europäische Gesellschaft und die europäische Wirtschaft sind mit der deutschen Mitbestimmung vereinbar.
Das ist die Botschaft, die heute vom vorliegenden Gesetzentwurf ausgeht. Diese Botschaft ist positiv und wir
sollten sie weitersagen.
({1})
Meine Damen und Herren, das sehen auch andere so.
({2})
Erst vor kurzem hat Herr Schrempp verkündet, dass er
gute Erfahrungen mit der Mitbestimmung gemacht hat,
dass er es auf der Arbeitnehmerseite überall, wo er zuständig gewesen ist, mit kompetenten Menschen zu tun
hatte und dass es, wenn es wirklich einmal Schwierigkeiten gegeben hat, oft daran lag, dass sich diejenigen,
die eine unternehmerische Entscheidung zu treffen hatten, diese nicht zugetraut haben, obwohl sie im Aufsichtsrat ein Zweitstimmrecht hatten. Also noch einmal:
Die Mitbestimmung ist europarechtskonform und auch
viele wichtige deutsche Unternehmerpersönlichkeiten
finden, dass sie etwas Gutes ist und wir sie in diesem
Land bewahren sollten.
Was ist in der Diskussion hier passiert? Sie haben versucht, zum Kampf gegen die Mitbestimmung zu blasen.
Sie haben gesagt: Das geht alles nicht. Der kleine Vorwand Europa sollte herhalten für ein Ende der Mitbestimmung in Deutschland, insbesondere der paritätischen. Der große Wind, den Sie da gemacht haben, ist in
der fachlichen Anhörung ein bisschen untergegangen.
({3})
Denn was ist herausgekommen? Eine einzige kleine
Botschaft: In dem Fall, dass man sich in Deutschland
nicht für das bekannte dualistische System mit Vorstand
und Aufsichtsrat entscheidet, sondern für das monistische System eines Verwaltungsrates, zu dem die geschäftsführenden Direktoren gehören, in diesem einen
seltenen Fall soll es so sein, dass theoretisch eine Mehrheit der Arbeitnehmerseite entstehen kann. Wegen dieser
kleinen Nebensache wollten Sie gleich die ganze Mitbestimmung abschaffen. Dabei reicht es völlig, das Stimmrecht so zu regeln, dass es dann keine Mehrheit geben
kann. Ihr großer Wind war ein lauer Luftzug.
({4})
Deshalb vielleicht eine letzte Bemerkung, auch als
strategische Warnung: Passen Sie auf, dass Sie sich hier
nicht die zweite Kopfpauschale holen!
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Röttgen,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Unternehmensmitbestimmung steht wieder auf der Tagesordnung.
Sie ist ein Sachverhalt, mit dem man sich politisch beschäftigen muss, den man nicht ignorieren kann.
Zur Klarstellung: Die Unternehmensmitbestimmung
ist nicht - das wissen wir, aber ich sage es hier bewusst die Mitwirkung von Arbeitnehmern im Betriebsrat. Das
ist nicht das Thema, sondern wir reden über die Mitbestimmung von Arbeitnehmern und Gewerkschaften im
Aufsichtsrat großer Kapitalgesellschaften, nämlich solcher, die mehr als 2 000 Beschäftigte haben. Dieses
Thema ist im Zusammenhang mit Europa wieder auf die
Tagesordnung gekommen.
Nun gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, mit dieser Wirklichkeit umzugehen. Eine Möglichkeit besteht
darin, zu sagen: Wir nutzen das für unsere Interessen.
Herr Rogowski hat gesagt: Wir wollen diese Gelegenheit
nutzen, um einen - angeblich - historischen Fehler zu
korrigieren. Das ist nicht die Auffassung der CDU/CSUBundestagsfraktion und nicht die Auffassung der Parteien CDU und CSU. Wir halten die Auffassung, die er
vertreten hat, für falsch.
({0})
Es gibt eine zweite Möglichkeit, die auch taktisch ist
und die Sie, Herr Kollege Scholz, zu meiner persönlichen Enttäuschung geradezu exemplarisch wieder vorgeführt haben. Ich persönlich habe mich eigentlich sehr
darüber gefreut, dass der Verlust Ihres Amtes bei Ihnen
zu einer vernunfttreibenden Persönlichkeitsentwicklung
geführt hat.
({1})
Nun haben Sie in dieser positiven Entwicklung gerade
einen kleinen Stopp eingelegt und sind wieder in Ihre
alte Rolle zurückgefallen. Schon ist es wieder schief gegangen. Bleiben Sie ein vernünftiger Parlamentarier,
dann werden Sie auch an dieser Debatte bereichernd teilnehmen.
({2})
Das ist die persönliche Empfehlung, die ich Ihnen geben möchte.
Sie haben uns die zweite Möglichkeit vorgeführt, taktisch auf dieses Thema zu reagieren, das uns die Wirklichkeit - nichts sonst - serviert. Sie haben gesagt: Wir
ignorieren das, weil es parteitaktisch zu unserem Vorteil
ist - das ist Ihr wahrer Grund - und weil wir es parteitaktisch nutzen wollen: gegen diejenigen, die sich in der
Sache mit einem real existierenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktthema unserer Gesellschaft beschäftigen wollen. Sie haben ja die Warnung ausgesprochen, dass Sie
dieses Thema zur Verhetzung nutzen, die Gewerkschaften mobilisieren und die SPD stabilisieren wollen, aber
um die Sache nicht ringen wollen. Das ist der Vorwurf,
den ich Ihnen mache.
({3})
Das ist vielleicht parteitaktische Interessenwahrnehmung, aber Sie verletzen Ihre Pflichten, weil es hier um
deutsche Interessen geht. Es geht um Arbeitsplätze und
Unternehmen in Deutschland. Das ist die Frage, kein
Kulturkampf. Es geht um die ganz nüchterne, aber gesellschaftspolitisch und wirtschaftspolitisch grundsätzliche Frage: Welche Bedeutung hat die Unternehmensmitbestimmung für die Wettbewerbsfähigkeit unseres
Landes als Standort internationaler Unternehmen? Sie ist
nicht akademisch oder theoretisch, sondern bedrohlich.
Es ist bedrohlich, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende und
der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank erklären,
dass im Falle eines Zusammenschlusses die Holding
ihren Sitz ganz sicher nicht in Deutschland, sondern
vielleicht in Luxemburg oder in Amsterdam haben wird.
({4})
- Sie halten das für einen Skandal. Das ist aber die Wirklichkeit. Herr Kollege, unsere Aufgabe ist es, die Wirklichkeit zu gestalten und sie nicht zu ignorieren, was Ihre
bevorzugte Variante der Behandlung des Themas ist. Wir
müssen gestalten.
({5})
Ansonsten ist Deutschland als Unternehmenssitz und als
Sitz von Arbeitsplätzen der Verlierer.
Rhône-Poulenc und Hoechst haben sich zu Aventis
zusammengeschlossen. Der Sitz der Holding ist nicht in
Deutschland, sondern Straßburg. Wir könnten eine ganze
Latte von Unternehmen auflisten, die Deutschland nicht
nur aus Gründen der Unternehmensmitbestimmung, sondern auch aus steuerlichen Gründen meiden. Hier spielt
eine Vielzahl von politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen eine Rolle, die durch Sie so gestaltet werden, dass Deutschland als Sitz internationaler Unternehmen nicht attraktiv ist.
Entscheidend ist, dass es schlicht nicht funktioniert,
Deutschland zu verriegeln. Aus wirtschaftlichen und
rechtlichen Gründen kann es nicht gelingen, Deutschland abzuriegeln, indem verhindert wird, dass Unternehmen zu uns kommen oder dass sie unser Land verlassen.
Es gibt die Dienstleistungsfreiheit, die Niederlassungsfreiheit und den europäischen sowie den globalen Markt.
Es ist eine Illusion, zu glauben, wir könnten eine Trutzburg bauen, mit der wir unser Land vor dem internationalen und europäischen Wettbewerb schützen könnten. Das kann nicht gelingen. Sie wissen das in Wahrheit
auch. Ich mache Ihnen die Diskrepanz zum Vorwurf,
dass Ihre Problemkenntnis höher ist als Ihr Handeln und
Reden.
({6})
Warum ist die Unternehmensmitbestimmung - ich
rede von der paritätischen Mitbestimmung, die 1976 eingeführt worden ist - ein Faktor bei der Wettbewerbsfähigkeit? Sie ist es, weil sie ohne internationale Nachahmung geblieben ist. Sie ist ein deutsches Unikat
geblieben und wird in weiten Teilen der Welt, insbesondere im angelsächsischen Wirtschaftsraum, nach wie vor
als fremd, abschreckend und bedrohend empfunden. Das
ist nicht bei allen, aber bei vielen die Wahrnehmung der
deutschen Unternehmensmitbestimmung als einem einzigartigen Modell, das insbesondere durch gewerkschaftlichen Einfluss geprägt ist. Wenn Sie daran nichts
ändern, dann wird die Unternehmensmitbestimmung auf
dem Papier stehen bleiben und es wird immer weniger
Unternehmen geben, auf die sie Anwendung findet. Sie
werden dann an einer papiernen Wirklichkeit bauen. Die
Realität und die Interessen der Arbeitnehmer werden Sie
dadurch nicht thematisieren.
({7}) so-
wie des Abg. Otto Fricke [FDP])
Wir können dem Thema nicht entfliehen. Dafür gibt
es drei konkrete Gründe. Über einen davon reden wir
heute, nämlich die Europäische Gesellschaft. Der erste
Grund ist die Eingeführung einer europäischen Rechtsform einer Kapitalgesellschaft. Der zweite Grund ist die
Fusionsrichtlinie, die verhandelt wird. Wenn Sie das erreichen sollten, was Sie bei der Aushandlung der Richtlinie über die Europäische Gesellschaft erreicht haben,
dann werden deutsche Unternehmen fusionsunfähig
werden und als Partner nicht mehr infrage kommen. Der
dritte Grund, sich mit diesem Thema befassen zu müssen, weil sich die Wirklichkeit sonst von der Politik verabschiedet und ihr eigenes Reglement schafft, ist der
Europäische Gerichtshof, der inzwischen in drei Entscheidungen geurteilt hat, dass Unternehmen gezielt eine
ausländische Rechtsform wählen können, um nationale
unternehmensrechtliche Bestimmungen zu umgehen.
Das ist kein Missbrauch, sondern nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit. Sie können es nicht
verhindern. Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür, zu
glauben, wir wären eine Insel in Europa und könnten
noch etwas regeln. Das wird nicht der Fall sein.
Verantwortlich handelt der, der der Unternehmensmitbestimmung eine europäische Perspektive bietet. Das ist
eine Aufgabe, die verantwortungsbewusst wahrgenommen werden muss. Taktisches Geschrei und Verhetzung - ich weiß nicht, ob das zu Ihrem parteipolitischen
Vorteil ist. Dem Land dienen Sie damit nicht.
Nun zum konkreten Gegenstand der Europäischen
Gesellschaft. Wir haben hier darüber zu entscheiden, ob
dieses Recht Wirklichkeit werden soll, ob es also Europäische Gesellschaften in Deutschland geben soll, oder
ob dieses Recht in Deutschland totes Recht bleibt und
nur in anderen Ländern Wirklichkeit wird. Das ist
schwierig genug, weil diese Bundesregierung eine Auffangregelung ausgehandelt hat: Wenn man sich nicht
auf ein Mitbestimmungsmodell verständigen kann, greift
das Mitbestimmungsrecht mit dem höchsten Niveau in
dem betroffenen Land. Das ist immer das deutsche
Recht. Allein mit dieser Regelung, die die deutsche Bundesregierung auf europäischer Ebene als Gesetzgeber
durchgesetzt hat, tragen Sie dazu bei, dass Deutschland
als Sitz eines Unternehmens nicht attraktiv ist, weil es
am Ende dazu kommen kann, dass das deutsche Recht
durchgesetzt wird. Diese Verantwortung tragen Sie.
Nun geht es aber darum, den verbliebenen Spielraum
zu nutzen oder diese Gesellschaftsrechtsform rechtlich
totzumachen; das ist der Vorschlag der Bundesregierung.
Es geht nicht darum, die Unternehmensmitbestimmung
abzuschaffen. Unser Vorschlag ist an keiner einzigen
Stelle darauf gerichtet. Wir unterscheiden uns gerade darin, dass wir all diejenigen respektieren, die die existierende deutsche Unternehmensmitbestimmung aufrechterhalten wollen.
Herr Kollege Röttgen, der Kollege Scholz möchte den
von Ihnen vermuteten Persönlichkeitsschub durch eine
Zwischenfrage verdeutlichen.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Zwischenfrage
und lasse sie selbstverständlich zu. Wir sollten ihm permanent Rehabilitierungschancen einräumen.
({0})
Ich möchte Ihnen nur eine Frage im Hinblick auf Ihre
Ausführungen stellen. Sie haben gesagt, dass die europäische Richtlinie dazu führt, dass die Mitbestimmung, die
in Deutschland eine Rolle spielt, auch dann gilt, wenn
ein deutsches Unternehmen in großem Umfang beteiligt
ist und kein Sitz in Deutschland gewählt wird. Welchen
Sinn machen dann Ihre Ausführungen zu Deutschland
als Firmensitz?
({0})
Meine Ausführungen machen im Hinblick auf die Attraktivität eines deutschen Unternehmens als Partner und
Teil einer Europäischen Gesellschaft Sinn. Das ist die
Auswirkung.
({0})
- Es gibt zwei Möglichkeiten, die zur Durchsetzung der
deutschen Mitbestimmungsrechte führen. Das ist entweder der Sitz oder die überwiegende Beteiligung einer
deutschen Gesellschaft. Sie haben sichergestellt, dass
beide Möglichkeiten dazu führen, dass das deutsche Unternehmensmitbestimmungsrecht greift. Damit haben
Sie dafür gesorgt, dass große Unternehmen, die eine
überwiegende Beteiligung an einer Europäischen Gesellschaft haben, in dem Maße, wie unser Land für eine europäische Gesellschaft unattraktiv wird, ihrerseits für die
Wahrnehmung dieser Chancen einer europäischen
Rechtsform unattraktiv werden.
({1})
Den von Ihnen aufgebauten Zaun kann man nicht
durchdringen. Die einzige Möglichkeit ist, dass deutsche
Unternehmen unser Land verlassen, entweder unter Verbleib als deutsches Unternehmen oder unter Annahme
einer ausländischen Rechtsform, was der EuGH ermöglicht hat. Das ist der Punkt: Sie zwingen die Unternehmen zur Flucht: entweder aus der Rechtsform oder aus
dem Land.
Der Unterschied zwischen uns liegt im Kern darin,
dass wir den Unternehmen nicht vorschreiben wollen,
was für sie die bessere Unternehmensmitbestimmung ist.
Sie haben uns eben unterstellt, dass wir die Unternehmensmitbestimmung abschaffen und an der Möglichkeit,
nach geltendem Recht Unternehmensmitbestimmung
auszuüben, etwas verändern wollen. Das stimmt schlicht
und ergreifend nicht; das ist die Unwahrheit. Ich möchte
dies ganz ausdrücklich zurückweisen. Wir wollen jedem
Unternehmen, das die gegenwärtige Unternehmensmitbestimmung aufrechterhalten möchte, diese Möglichkeit einräumen. Wir erkennen durchaus das Recht und
die Vorteile, die die Unternehmensmitbestimmung hat,
nämlich die Integration von Arbeitnehmern und Gewerkschaften in die Verantwortung des Unternehmens
auch in schwierigen Phasen. Das bestreitet doch kein
Mensch. Aber im Gegensatz zu Ihnen sagen wir: Wir haben nicht das Recht, den Unternehmen von Gesetzes wegen vorzuschreiben, dass dies der einzig denkbare Weg
ist. Wenn die Unternehmensmitbestimmung des geltenden Rechts so attraktiv ist, wie Sie das immer betonen:
Warum müssen Sie sie dann unter Monopolschutz stellen? Warum können Sie nicht die Wahlfreiheit ermöglichen, wie wir es attraktiv vorgeschlagen haben?
Herr Schrempp mag es so halten, wie er möchte. Aber
es gibt vielleicht auch Unternehmen, die auf der Grundlage des monistischen Systems, des bekannten Systems
der angelsächsischen Welt, das ihnen vertraut ist, in
Deutschland - der deutsche Standort bietet auch Vorteile arbeiten, Gewinne machen und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen wollen. Für sie wollen wir ein Signal setzen, das einen pragmatischen, vernünftigen Kompromiss
zwischen der Wahrung des Niveaus deutscher Unternehmensmitbestimmung und einem Unternehmensführungssystem aus der angelsächsischen Welt beinhaltet.
Gerade dieser Kompromiss ist es, der beide Prinzipien
miteinander in Übereinstimmung bringt und darum ein
echtes Angebot an die Wirtschaft, aber auch ein
Friedensangebot an alle, die guten Willens sind, ist. Ich
hoffe, Sie, die Koalition, werden sich bald zu diesem guten Willen bekennen, weil es um deutsche Interessen,
um die Interessen von Unternehmen in Deutschland und
von deutschen Arbeitnehmern geht.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn für das
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde, man muss schon vorweg einige
Sätze über die Mitbestimmungsdiskussion, die gerade in
Deutschland tobt, verlieren. In einer Situation, in der wir
bei Opel und Karstadt doch offensichtliche Probleme der
Unternehmensführung und der langfristigen strategischen Orientierung der Unternehmensführung haben,
treten Teile des Kapitals, in diesem Fall vertreten durch
den BDI-Chef, auf und sagen, die Mitbestimmung sei
ein historischer Irrtum. Das ist nicht zu akzeptieren.
({0})
Ich freue mich, dass Sie klar und deutlich gesagt haben, dass Sie das für Quatsch halten, was Rogowski formuliert hat.
Allerdings ist der Angriff auf die Mitbestimmung
breiter. In der schriftlichen Stellungnahme anlässlich der
Anhörung zu der Europäischen Gesellschaft, die wir im
Ausschuss durchgeführt haben, formulieren BDI und
BDA übereinstimmend, die Mitbestimmung in Deutschland sei ein ernsthaftes „Investitionshindernis für die
Bundesrepublik Deutschland“.
({1})
Jetzt sind wir an einer spannenden Stelle. Sie sagen,
Rogowski täusche sich, wenn er von einem historischen
Irrtum spreche, aber Sie propagieren die These, die Mitbestimmung sei ein Investitionshindernis. Da sind Sie
nicht weit weg von Rogowski. Darauf will ich hinaus.
Wenn Sie öffentlich in Europa und in der Welt erzählen,
wir in Deutschland hätten die Mitbestimmung irgendwann einmal eingeführt, hielten sie aber für ein Investitionshindernis, dann führen Sie einen ideologischen
Kampf gegen die Mitbestimmung in Deutschland.
({2})
Wenn ich in England oder in den USA mit Leuten
aus der Wirtschaft über diese Frage rede, dann sagen
diese, Mitbestimmung sei für sie schwer zu verstehen
und passe vielleicht nicht gut in ihr System, aber ich
müsse erklären, warum viele deutsche Verbandsfunktionäre und deutsche Politiker, vor allem auf der rechten
Seite, permanent so schlecht über die Mitbestimmung
redeten, während sie praktisch im betrieblichen Konflikt
- schauen Sie sich die Auseinandersetzungen bei Siemens und Daimler an; ich verweise auch auf die vor uns
liegenden Auseinandersetzungen bei VW - und dann,
wenn es um Umstrukturierungen geht, perfekt funktioniere. Ich habe eine einfache Antwort. Wenn man sich
zur Mitbestimmung bekennt, so wie Sie es gerade in Ihrer Rede getan haben, jedenfalls abstrakt, dann muss
man auch für die Mitbestimmung im Innern und nach
außen werben und kann nicht sagen, eigentlich wolle
man sie, aber sie sei leider ein Investitionshindernis. Da
argumentieren Sie meines Erachtens ideologisch nicht
sauber.
({3})
Etwas anderes ist, dass wir die Mitbestimmung reformieren können. Es gibt nichts, das so gut wäre, dass es
immer so bleiben könnte, wie es ist. Also lassen Sie uns
ernsthaft und aufrichtig über die Punkte, die man verändern kann und verändern müsste, diskutieren. Das betrifft zum Beispiel die Frage, wie hoch die Gesamtzahl
der Vertreter in den Aufsichtsräten sein muss. Ich
höre von vielen Aufsichtsräten, dass sie einfach zu groß
sind, um praktikabel sein zu können. Das betrifft sowohl
die Seite des Kapitals als auch die Seite der Arbeitnehmer.
({4})
Da hilft Ihr Vorschlag, die Zahl der Vertreter der Arbeitnehmer auf ein Drittel zu stutzen und ihnen nur eine beratende Funktion zuzugestehen, nicht weiter.
({5})
Es ist doch die Abschaffung der Mitbestimmung, was
Sie unter dem Stichwort Reform vorgeschlagen haben.
({6})
Wir diskutieren hier und heute über die Europäische
Gesellschaft. Ich möchte Ihnen an einer Stelle widersprechen. Was wir jetzt gesetzlich umsetzen, ist ein guter
und praktikabler Vorschlag. Es heißt, es wird zuerst darüber verhandelt, wie man es machen will. In einem gesetzlich festgelegten Verhandlungsgremium wird also
verhandelt, ob man es anders machen will, als es der Fall
ist, wenn man zu keinem Verhandlungsergebnis kommt.
Sie haben eben in Ihrer Rede gesagt, dass sich die Regelung auf jeden Fall nach dem Land mit der weitestgehenden Mitbestimmung richten wird. Ich glaube, dass Sie
sich darin täuschen. In den Verhandlungen wird versucht, die beste Lösung - das gilt auch für die Mitbestimmung - zu finden. Die Verhandlungen werden
schließlich von Akteuren geführt, die die Europäische
Gesellschaft wollen. Das in unserem Gesetzentwurf vorgesehene Modell ist konstruktiv; Ihre Feststellung, dass
es destruktiv sei und zu einer schlechten Lösung führen
werde, ist nicht richtig.
Wir sehen das Problem an einer anderen Stelle, also
nicht in der Debatte über den Gesetzentwurf zur Einführung der Europäischen Gesellschaft, den wir von den
Grünen unterstützen, sondern hinsichtlich der Fusionsrichtlinie. In diesem Zusammenhang stellt sich die
Frage, ob wir sozusagen im Gleichklang zu einer Entscheidung über die Europäische Gesellschaft kommen
können oder ob es zu einer schlechteren, die Mitbestimmung diskreditierende Lösung kommen wird. Diese
Frage ist noch nicht geklärt. Wir von den Grünen halten
aber den vorliegenden Gesetzentwurf für den richtigen
Schritt und werden ihm deshalb zustimmen.
Ich rate abschließend, die Diskussion über die Mitbestimmung aus dem ideologischen Kreuzfeuer herauszuhalten, wenn es uns darum geht, etwas für Deutschland
und für die Arbeitsplätze zu tun.
({7})
- Machen Sie sich deutlich, was das heißt: Wir reden
über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat! Sie hat sich im
Großen und Ganzen bewährt.
({8})
- Die FDP spielt in dieser Debatte keine Rolle. Es ist
doch klar, dass Westerwelle eine andere Art von Kapitalismus in Deutschland will; ihm geht es nicht um die soziale Marktwirtschaft. Das ist doch evident. Allein Ihr
Gerede zum Kündigungsschutz zeigt, welche Richtung
Sie einschlagen wollen.
({9})
Zurück zum Thema: Man kann zwar durchaus einiges
reformieren, aber Sie - ich appelliere an die Union sollten in der Diskussion über die Reform der Mitbestimmung den Verdacht entkräften, dass Sie die Mitbestimmung via Reform erledigen wollen.
({10})
Von diesem Verdacht sind Sie nicht frei. Stimmen Sie
heute dem Gesetzentwurf zu! Das wäre eine vertrauensbildende Maßnahme, um zu zeigen, dass Sie es mit der
Mitbestimmung ernst meinen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die Bundesregierung erhält jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
({0})
- Das nehme ich mit besonderem Vergnügen zu Protokoll und rege an, das fett zu drucken, damit es in ähnlichen Situationen jederzeit als Präzedenzfall herangezogen werden kann.
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem
8. Oktober dieses Jahres sind Unternehmen in der Europäischen Union nicht mehr darauf beschränkt, die traditionellen Rechtsformen wie die Aktiengesellschaft, die
Société Anonyme oder die britische Limited zu wählen.
Die entsprechende Verordnung der EU ist nach jahrzehntelangem Ringen heute vor drei Wochen in Kraft getreten.
Die Bundesregierung hat es jedoch nicht geschafft,
das Gesetz zur Einführung dieser neuen Rechtsform so
rechtzeitig vorzulegen, dass es nach einem normalen
parlamentarischen Verfahren pünktlich in Kraft treten
könnte. Diese Situation alleine ist schon nicht zu akzeptieren. Acht andere EU-Mitgliedstaaten haben die Ausführungsbestimmungen rechtzeitig erlassen. In Österreich ist die erste große SE gegründet worden.
Doch nicht nur die mangelhafte Zeiteinteilung der
Bundesregierung zeitigt Fehler, die es zu kritisieren gilt.
Vor allem wegen der Regelung der Mitbestimmung können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
Es wurde schon ausreichend dargelegt, insbesondere von
Herrn Dr. Röttgen, welche Auswirkungen die vorgesehene Mitbestimmungsregelung sowohl auf das dualistische als auch auf das monistische System in der Bundesrepublik haben wird.
Ich verstehe die Sozialdemokraten und die Grünen insoweit überhaupt nicht.
({1})
- Ich glaube schon, dass er es richtig verstanden
hat. - Wenn Sie glauben, dass die Aktiengesellschaft mit
der überbordenden überbetrieblichen Mitbestimmung
ein gutes Modell ist, dann kann man sich in der Bundesrepublik, aber auch im europäischen Ausland der Konkurrenz mit anderen Gesellschaftsformen stellen.
Dann hätten Sie mit den Regelungen betreffend die SE
die Möglichkeit eröffnen können, nicht nur eine betriebliche Mitbestimmung, beispielsweise im Aufsichtsrat,
einzuführen, sondern auch die überbetriebliche Mitbestimmung durch Gewerkschaftsfunktionäre zu beseitigen. Dann gäbe es die traditionelle Aktiengesellschaft
auf der einen Seite und die SE auf der anderen Seite. Die
Folge wäre ein Konkurrenzkampf zwischen diesen unterschiedlichen Gesellschaftsformen. Aber Sie haben ein
einheitliches System der überbetrieblichen Mitbestimmung gewählt.
({2})
Wenn Sie einen solchen Konkurrenzkampf zugelassen hätten, hätten wir in fünf oder sechs Jahren genau
sehen können, welches Modell von der Wirtschaft angenommen wird. Es geht doch nicht darum, Gewerkschaftsfunktionäre aus den Aufsichtsräten zu drängen,
sondern darum, dass in der Bundesrepublik investiert
wird und Arbeitsplätze geschaffen werden. Das wollen
wir. Wenn aber ein ausländischer Investor hier wegen
der Mitbestimmung nicht investiert - dafür mag es
sicherlich auch steuerliche Gründe geben -, dann haben
wir in der Bundesrepublik das Nachsehen. Das kann
nicht im Interesse beispielsweise von Herrn Eichel
- denn er braucht mehr Steuereinnahmen - und der deutschen Arbeitnehmerschaft sein.
Wir wollen, dass in Deutschland wieder Arbeitsplätze
entstehen, und nicht, dass unter dem Dach von Holdinggesellschaften Produktion und Arbeitsplätze in die Niederlande, nach Luxemburg oder - wie im Falle von
Aventis/Sanofi - nach Frankreich verlagert werden. Wir
wollen, dass hier bei uns ein Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Systemen entsteht. Ein solcher
Konkurrenzkampf wird durch Ihr Gesetz aber nicht ermöglicht. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nun erteile ich mit besonderem Vergnügen das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär Alfred
Hartenbach.
Sie sind auch mein Lieblingspräsident.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Opposition ist es wie mit den pawlowschen Hunden: Immer wenn wir über Wirtschafts-, Gesellschafts- oder Arbeitsrecht reden, geht der Kiefer auf
und es wird das Lied vom Untergang Deutschlands - immerhin nicht vom Untergang des Abendlandes - durch
unsere Wirtschaftspolitik angestimmt. Es hat immer die
gleiche Melodie. So ist es auch hier. Ich bin natürlich anderer Meinung.
({0})
Mit der Einführung der Europäischen Gesellschaft
stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Immer mehr deutsche Unternehmen sind europaweit tätig. Die neue Rechtsform erleichtert ihnen diese
grenzüberschreitende Betätigung und macht sie so fit für
den globalen Wettbewerb.
({1})
Zukünftig können Unternehmen mit Niederlassungen in
mehreren Mitgliedstaaten der EU eine Europäische Gesellschaft gründen. Sie können dann auch in anderen
Staaten auf der Basis vereinheitlichter Regeln tätig werden. Das spart Zeit und Kosten. Bisher mussten die Unternehmen für ihre Aktivitäten in Europa ein Netz von
Tochtergesellschaften errichten, für die jeweils unterschiedliche nationale Vorschriften galten. Dieser Aufwand gehört mit der Europäischen Gesellschaft der Vergangenheit an. Das müsste Ihnen, die Sie immer von
Entbürokratisierung reden, doch lieb sein.
Die Rechtsform der Europäischen Gesellschaft erlaubt es Unternehmen, Landesgrenzen innerhalb der Europäischen Union ohne weiteres zu überwinden. Ein
Umzug, also die Verlegung des Satzungssitzes von einem Land in ein anderes, ist jederzeit möglich. Es kann
sein, dass deswegen das eine oder andere Unternehmen
aus Deutschland wegzieht. Aber ausländische Unternehmen können sich unter dem Dach der Europäischen Gesellschaft - das ist wichtig - in Deutschland ansiedeln
und investieren. Diese Möglichkeit müssen wir eröffnen.
Der Weg war lang. Rund 30 Jahre hat es gedauert, bis
die Verhandlungen in Brüssel zum Abschluss kamen.
Dabei ging es besonders - dazu werden Herr Uhl und
Herr Brandner etwas sagen; das muss nicht ich machen um die Frage der Arbeitnehmermitbestimmung.
Wie europarechtlich vorgegeben hat auch das SE-Einführungsgesetz zwei Teile: einen gesellschaftsrechtlichen und einen arbeitsrechtlichen. Für den Bereich des
Gesellschaftsrechts sieht der Entwurf im Wesentlichen
Regelungen zum Schutz der Gläubiger und Minderheitsgesellschafter bei Gründung und Sitzverlegung einer Gesellschaft und zur Wahl zwischen verschiedenen Systemen für die Unternehmensleitung vor.
Eine große Innovation ist die Garantie der Wahlfreiheit beim Leitungssystem. Die Gesellschaft kann das
so genannte dualistische System mit Vorstand und Aufsichtsrat wählen, wie wir es in Deutschland kennen. Sie
kann sich aber auch für das so genannte monistische
System entscheiden; dabei wird die Leitung der Gesellschaft einem Verwaltungsrat übertragen. Das monistische System entspricht dem Board-Modell nach angloamerikanischem Vorbild.
Für das deutsche Recht ist das eine neue Gestaltungsmöglichkeit. Unser Einführungsgesetz sieht insoweit
vor, dass die Oberleitung der Gesellschaft beim Verwaltungsrat liegt und dass die täglichen Geschäfte die geschäftsführenden Direktoren führen. Sie können gleichzeitig Mitglieder des Verwaltungsrats sein. Daraus kann
sich bei ihrer Bestellung oder Abberufung, aber auch bei
Weisungen ein Problem ergeben. Da sie nicht in eigener
Sache abstimmen dürfen, können sich die Abstimmungsverhältnisse in diesen Fällen zwischen den Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer im
Verwaltungsrat verschieben. Darauf haben die Sachverständigen in den Anhörungen hingewiesen. Wir waren
gut beraten - da danke ich insbesondere den Koalitionsfraktionen -, dieses Thema aufgegriffen und eine praktikable, gute und vernünftige Lösung gefunden zu haben.
Diese Lösung wird es auch diesem Verwaltungsrat ermöglichen, im Konsens tätig zu werden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
muss Sie noch einmal ansprechen: Manchmal habe ich
den Eindruck, dass Sie ein gespaltenes Verhältnis zur Politik haben. Einmal werfen Sie uns vor, in den europäischen Verhandlungen die Interessen der deutschen Politik und des deutschen Rechts zu wenig geltend zu
machen. In diesem Falle werfen Sie uns wiederum vor,
wir hätten auf deutsche Rechtspositionen viel zu viel
Rücksicht genommen.
({2})
So ist halt das Belieben der Opposition. In diesem Falle
war allerdings nicht Belieben, sondern unsere vernünftige Entscheidung ausschlaggebend. Ich denke, wir werden dieses Gesetz mit deutlicher Mehrheit verabschieden.
Herr Präsident, ich habe eine Punktlandung hingelegt.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({3})
Ich hätte Ihnen wegen Ihrer Freundlichkeit glatt zehn
Sekunden zusätzlich zugebilligt. Ich mache eine Notiz
für die nächste Debatte.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang
Meckelburg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vertreter einer „gespaltenen Politik“ fällt es mir ein bisschen
schwer, hier zu sprechen. Ich sehe eher eine Schwierigkeit in unserer gespaltenen Diskussionslage.
({0})
- Den will ich Ihnen gerade klar machen.
Das Verhetzungspotenzial bestimmter politisch diskutierter Begriffe haben Sie, Herr Scholz, mit Ihrer Eingangsrede eben sehr deutlich aufgezeigt. Sie haben am
Ende Ihrer Rede die Union aufgefordert, sich keine
zweite Kopfpauschale zu schaffen. Dahinter steckt doch
die Drohung - ich sage es so, wie Sie es sonst formulieren -, dass Sie durch das ganze Land laufen werden, um
mit den üblichen Fallbeilargumenten bei der Diskussion
über die Themen „Mitbestimmung“, „Kündigungsschutz“ und „Tarifautonomie“ den Gralshüter zu spielen.
Gleichzeitig will ich Ihnen sagen: Diese Rolle haben
Sie längst aufgegeben. Wir brauchen eine sachliche Debatte über all diese Themen.
({1})
Ich habe wirklich die Bitte an Sie - ich bin Vertreter der
Arbeitnehmergruppe; ich bin Mitglied des Ausschusses
für Arbeit und Wirtschaft; Herr Brandner, wir kennen
uns, Sie wissen, wo ich politisch stehe -, mit uns über all
diese Themen sachlich zu debattieren.
Was ich meine, möchte ich am Beispiel Kündigungsschutz deutlich machen: Auch Sie haben die Hand gehoben, als wir beschlossen haben, dass in Betrieben mit bis
zu zehn Arbeitnehmern - vorher lag die Grenze bei
fünf - neu eingestellte Mitarbeiter keinen Kündigungsschutz mehr genießen. Sie haben vorgeschlagen, dass
Mitarbeiter von Existenzgründern nicht 36 Monate, sondern 48 Monate keinen Kündigungsschutz genießen.
Faktisch ist es so, dass man ab 50 oder 52 Jahre aufgrund der Möglichkeit von Befristungen gar keinen
Kündigungsschutz mehr hat.
({2})
Dennoch trauen Sie sich zu, bei diesem Stichwort als
Gralshüter aufzutreten, der Sie längst nicht mehr sind.
Das musste einmal gesagt werden, weil ich eine sachliche Debatte haben möchte.
({3})
Was die Mitbestimmung angeht, so gibt es eine Diskussion. Die muss man nicht erfinden; die ist einfach da.
({4})
Was der BDI-Präsident Rogowski dazu gesagt hat, war
sicherlich sehr dumm; denn historisch gesehen ist nachvollziehbar, warum das so gemacht worden ist und warum das bis heute gilt. Es gibt viele Aussagen von Vertretern der Wirtschaft, die ich hier zitieren könnte - von
Schrempp bis ich weiß nicht was -, die zum Inhalt haben: Wir sind mit der deutschen Mitbestimmung gut gefahren, weil es einen Teil sozialen Frieden, einen Teil
Verlässlichkeit sowie die Möglichkeit bedeutet, längerfristige Absprachen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu treffen. - Darin stimmen wir alle sicherlich überein.
Es besteht für uns in der Union kein Grund, über die
paritätische Mitbestimmung in Unternehmen, wie sie
denn existiert, zu diskutieren. Das hat niemand von uns
vorgeschlagen. Das haben wir nicht vor. Nehmen Sie das
bitte zur Kenntnis! Aber wir können doch nicht die Augen vor Themen verschließen, die da sind. Wir werden
uns damit zunehmend beschäftigen müssen, und zwar
auf sachlicher Ebene. Das bedeutet, dass wir die Herausforderungen, die neu gestellt werden, die 1976 so nicht
da waren, diskutieren müssen. Ich flehe Sie geradezu an:
Lassen Sie uns diese Diskussion in einem sachlichen
Klima führen! Es geht nämlich um die Zukunft des
Standortes Deutschland und nicht um die Frage, ob Sie
durch Nennen bestimmter Begriffe ein Verhetzungspotenzial haben.
Wir können nicht einfach darüber hinweggehen, dass
es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs gibt, das
zum Beispiel eine Ltd. in den Niederlanden zulässt. Das
ist so; da können wir beschließen, was wir wollen. Da ist
etwas im Gange, bei dem wir Gestaltungsmöglichkeiten
haben müssen. Sie haben sich beim Thema Mitbestimmung letztlich auch schon in eine bestimmte Richtung
bewegt, sodass Sie nicht mehr als Gralshüter auftreten
können. Helmut Kohl konnte das noch. Er hat die paritätische Mitbestimmung versprochen und hat versucht, sie
in Europa durchzusetzen. Wir haben es nicht geschafft.
Auch Sie haben es nicht geschafft. Sie haben Verhandlungslösungen zugelassen. Das ist der erste Schritt in
eine Richtung, bei der man zumindest formal zulässt,
über Alternativen zu reden und zu entscheiden.
Wir müssen uns mit dieser Frage beschäftigen; sie ist
einfach da. Wenn man eine Holding mit Sitz in der
Schweiz bilden kann und alle auf dem Papier bestehenden Mitbestimmungsrechte in ein anderes Land verschwinden, dann kann uns das nicht egal sein. Wir sollten uns zeitig, rechtzeitig und mit Gelassenheit damit
befassen; die Zeit dafür müssen wir uns nehmen. Wir
müssen eine Diskussion darüber führen, weil sonst etwas
passiert - das befürchte ich -, was ich hier häufig erlebt
habe, nämlich dass bestimmte Bevölkerungsteile die
Probleme, die anstehen, frühzeitig diskutieren, Sie aber
dastehen und „nein, nein, nein“ rufen. Dafür gibt es zig
Beispiele aus der Zeit, die ich dem Bundestag angehöre.
Es dauert dann immer drei, vier Jahre, bis der Druck so
groß ist, dass auch Sie das diskutieren.
Weil es viele Felder gibt, auf denen wir mit ansehen
müssen, dass Sie Gesetze verabschieden und dann relativ schnell wieder Korrekturen vornehmen, habe ich die
Bitte, dass Sie das in dem Fall nicht tun, sondern dass
wir eine Debatte über die Mitbestimmung führen, an der
das Parlament als gestaltende Kraft teilnimmt. Wir sollten nicht zusehen, dass zehn, 20, 30, 40 deutsche Unternehmen ins Ausland gehen - möglicherweise machen
Sie schon bei der Fusion eine Bauchlandung, weil Sie
das, was Sie in der nächsten Sitzungswoche im Bundestag beschließen wollen, nicht durchsetzen können -, sondern rechtzeitig eine Diskussion führen, die auf die Zukunft gerichtet ist und bei der mit diesem Thema positiv
umgegangen wird.
Deswegen sage ich am Schluss: Machen Sie nicht den
Fehler, durchs Land zu laufen und zu sagen, die CDU sei
gegen die Mitbestimmung in Unternehmen! Wir halten
nämlich daran fest. Aber wir müssen die Diskussion führen. Wenn wir nichtstuend zusähen, würden wir Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand geben. Darum bitte ich
Sie von Rot-Grün einfach, die Diskussion zu führen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Europa hat viel in Bewegung gesetzt: Die Zahl der grenzüberschreitend tätigen Unternehmen nimmt zu; Fusionen, Übernahmen und die
Einrichtung von Zweigstellen im Ausland sind mittlerweile Normalität in Europa geworden. Im Zuge dieser
Entwicklung ist auch der Gesetzentwurf zur Einführung
der Europäischen Gesellschaft zu sehen.
Der Gesetzentwurf wird, wie wir es auch heute in der
Debatte wieder erlebt haben, von einer Reihe vielfältiger
Diskussionen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer begleitet. Diese wird zum Teil lautstark als Irrtum
der Geschichte bezeichnet. Von Abschaffung oder deutlicher Reduzierung ist gar die Rede. Ich habe Herrn
Meckelburgs Worte und seinen Wunsch, eine sachliche
Debatte zu führen, sehr wohl vernommen. Zur Sachlichkeit gehört aber, dass man die Geschichte nicht aus den
Augen verliert. Die Themen seien da, sagt er. Ich möchte
ihn nur daran erinnern, dass 1976 große Teile der
Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft dem
Mitbestimmungskompromiss mit den Freien Demokraten unter einer von meiner Partei geführten Bundesregierung zugestimmt haben. Die Argumente pro und kontra
Mitbestimmung waren damals überhaupt keine anderen.
Insofern gehört es zur Sachlichkeit, zu fragen, wie sich
die Arbeitnehmerschaft in der CDU bei diesem Thema
in der Zukunft verhalten wird.
({0})
Sind Ihre Arbeitnehmer für die Mitbestimmung oder sagen sie: Ja, die Stimmungslage draußen im Lande ist
schlecht, die Unternehmen wollen nicht mehr so; wir
müssen einfach diesen Diskussionsstand zur Kenntnis
nehmen und ducken uns weg.
({1})
Ich frage mich, was für ein Bild von Unternehmensführung hinter solchen Forderungen steht. Mitbestimmung - das möchte ich hier sagen - ist einer der grundlegenden Erfolgsfaktoren des deutschen Wirtschaftsund Sozialsystems und ein Garant für den sozialen Frieden in unserem Land. Deshalb lassen wir auch nicht zu,
dass der Export der Mitbestimmung von Teilen der Fraktion der CDU/CSU als Hirngespinst und marktschädigend bezeichnet wird. Ihr Generalsekretär sagt ja sogar:
Wir müssen die Mitbestimmung auf ein vernünftiges
Maß zurückführen. Daran sieht man doch, wie die Argumentation der Arbeitgeberverbände in Ihren Reihen
Platz gegriffen hat. Wenn Sie ernsthaft für die Mitbestimmung und das damit verbundene Gesellschaftsmodell eintreten wollen, dann helfen Sie doch bitte mit,
dass die Argumente, die für sie sprechen, vermehrt werden, Fuß fassen und damit an Gewicht gewinnen. Dann
wäre Ihre Argumentation ehrlich, dann könnten wir Ihnen zustimmen.
Uns allen, meine Damen und Herren, ist doch klar,
dass die zunehmende Globalisierung von den Unternehmen flexible Strukturen und dynamische Reaktionen auf
die Wettbewerbslage fordert.
({2})
Uns allen sollte aber auch bewusst sein, sehr geehrter
Herr Göhner, dass die Unternehmen diesen Anforderungen
ohne die Motivation und ohne den Einsatz ihrer Arbeitnehmer nicht gerecht werden können.
({3})
Deshalb sage ich ganz deutlich: Für uns, für die SPD,
sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die
Menschen, die wichtigste Ressource eines Unternehmens. Deshalb sind wir für die Teilhabe auf einer gesetzlichen Grundlage.
({4})
Unsere Unternehmen bestehen im internationalen
Wettbewerb nur dann, wenn zwischen Unternehmensführung und Mitarbeitern ein hohes Maß an Identifikation mit den Zielen und dem Aufgabenverständnis des
Unternehmens einhergeht. Grundlage hierfür ist eine offene und ehrliche Beteiligung der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sowie eine umfassende Informationsund Anhörungspolitik der Unternehmen.
({5})
Wir wollen nicht, dass das, wie von Ihnen angesprochen,
vom Goodwill abhängt. Herr Funke sprach ja sogar von
einem Angebotsmodell, in dessen Rahmen die Beteiligung angeboten werden soll und quasi nur der, der sie
möchte, auch beteiligt wird.
Nein, in einem Rechtsstaat wollen wir eine gesetzliche Grundlage dafür haben, weil wir aus der Geschichte
wissen, dass diese Beteiligungsrechte erst erstritten werden mussten und den Arbeitnehmern nicht geschenkt
worden sind. Mitbestimmung und Teilhabe sind Angelegenheiten, für die wir über Jahrzehnte politische Auseinandersetzungen führen mussten.
({6})
Deshalb wollen wir nicht, dass ein Teil der Mitbestimmung auf einer allgemeinen Goodwillbasis beruht. Das
Prinzip der gleichen Augenhöhe lässt sich nur dann verwirklichen, wenn es dafür auch einen Rechtsgrundsatz
gibt.
Dass Mitbestimmung auch Mitverantwortung bedeutet, zeigen im Übrigen eindrucksvoll die Krisen, die wir
in den letzten Jahren erlebt haben, und auch aktuell die
Beispiele Karstadt-Quelle und Opel.
In diesem Zusammenhang recht zynisch davon zu reden, dass die Mitbestimmung diese Krisen nicht verhindern konnte, bedeutet, den Menschen in diesem Lande,
die Teilhabe organisieren und Verantwortung übernehmen, mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.
({7})
Denn wir wissen doch nur zu gut: Mitbestimmung bedeutet eben nicht, dass man das wirtschaftliche Sagen
hat, sondern bedeutet, dass man Teilhabe auf einer
Ebene hat, auf der soziale Verantwortung eingefordert
werden kann.
Den hohen Stellenwert einer Mitbestimmungskultur
hat auch der europäische Gesetzgeber erkannt. Mit der
bei der Europäischen Gesellschaft gefundenen Kombination aus Verhandlungslösung und flankierender Auffangregelung ist ein entscheidender Schritt zu einem sozialen Europa gelungen. Deshalb, meine Damen und
Herren
Herr Kollege!
- ich komme zum Schluss -, bin ich davon überzeugt,
dass mit diesem Gesetz die Europäischen Gesellschaften
ihren Sitz in Deutschland nehmen können und dass sie
das auch tun werden. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass der Standort Deutschland gerade aufgrund
der Teilhabe durch Mitbestimmung viele Vorteile bietet.
Dafür werden wir auch weiter eintreten.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hans-Jürgen Uhl, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
neue Gesetzgebung bietet die Chance, Mitbestimmung
und Mitverantwortung der Arbeitnehmer in den Unternehmensorganen zum Standard in Europa zu machen.
Ein soziales Europa muss die Beteiligung der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften an den Unternehmensentscheidungen auch in einer Europäischen Aktiengesellschaft gewährleisten.
Mit unserem Gesetz sichern wir die bewährte deutsche Mitbestimmung. Ich zitiere: Wer die deutsche Mitbestimmung infrage stellt, riskiert Produktivitätsverluste der deutschen Wirtschaft. Das sagte kürzlich der
amerikanische Wirtschaftsforscher Edward Lazear von
der Stanford University. Ich hoffe, Herr Rogowski hat
das wahrgenommen.
Recht hat dieser amerikanische Wissenschaftler; denn
qualifizierte Mitbestimmung ist ein Standortvorteil für
Deutschland.
({0})
Sie hat mit dafür gesorgt, dass wir nach wie vor die führende Exportnation sind. Sie hat stabile gesellschaftliche
und betriebliche Beziehungen hervorgebracht. Deutschland ist streikarme Zone. So wenige Streiktage wie wir
hat kein vergleichbares Industrieland.
Das zeigt: Mitbestimmung ist ein effektives Instrument des Interessenausgleichs und der Konfliktbewältigung. Das kann nur funktionieren, wenn sich Arbeitnehmervertreter und Manager auf gleicher Augenhöhe
begegnen.
Was erleben wir in diesen Monaten? Verbandsfunktionäre aus dem Arbeitgeberlager wollen MitbestimHans-Jürgen Uhl
mung, Tarifautonomie und Kündigungsschutz kippen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, auch in
Ihren Reihen wollen das viele. Wer sagt, Mitbestimmung
sei ein Investitionshindernis, wie wir das eben hier als
Zwischenruf gehört haben, der stellt letztlich die Mitbestimmung infrage. Wenn BDI-Präsident Rogowski die
Mitbestimmung als Irrtum der Geschichte bezeichnet,
dann legt er die Axt an den in Deutschland bewährten
sozialen Frieden.
({1})
Fragen wir uns: Wie wäre wohl der Strukturwandel
im Bergbau, bei Eisen und Stahl und in der Autoindustrie in Deutschland ohne Mitbestimmung abgelaufen?
Das kann jeder in den Regionen des sozialen Kahlschlags in England und den USA besichtigen. So etwas
in Deutschland auch künftig zu verhindern, dafür treten
wir ein. Wir stehen für den Sozialstaat und nicht für Kapitalismus pur.
({2})
Meine Damen und Herren, Mitbestimmung vermittelt
den Arbeitnehmern bei notwendigen Veränderungsprozessen Sicherheit. Die Herausforderungen der Globalisierung müssen gemeinsam mit den Arbeitnehmern
und ihren Gewerkschaften und nicht ohne sie beantwortet werden. Unternehmerische Zukunftsentscheidungen
werden durch Mitbestimmung nicht verhindert, wohl
aber optimiert und abgefedert. Hätte man bei Opel in
Rüsselsheim und in Bochum mehr auf die Arbeitnehmervertreter gehört, wäre man dort jetzt nicht in dieser
Misere.
({3})
Im Gegensatz zu Herrn Rogowski und seinen politischen Freunden wissen viele Manager dies nur allzu gut.
Daimler-Chrysler-Chef Jürgen Schrempp und Porsche-Chef Wedekind bekennen sich offen zur deutschen
Mitbestimmung. Sie wissen die soziale und wirtschaftliche Kompetenz der Arbeitnehmervertreter zu schätzen. Deshalb sind Rogowski und Co. völlig auf dem
Holzweg. EnBW-Chef Utz Claassen bringt es auf den
Punkt:
Nur wer die Menschen im Unternehmen mitnimmt,
kann erfolgreich reformieren und restrukturieren.
({4})
Der Sanierungserfolg der EnBW wäre ohne die
Mitwirkung der Arbeitnehmer so nicht möglich gewesen.
({5})
Um hier einer weiteren Legendenbildung vorzubeugen: Auch ausländische Investoren sehen die Mitbestimmung nicht als Hindernis. Das hat der Geschäftsführer
der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland in
der „Financial Times Deutschland“ unter der Überschrift
„Mitbestimmung schreckt US-Firmen nicht ab“ erklärt.
Grundsätzlich muss gelten: Europäische Richtlinien
dürfen keine Flucht aus der deutschen Mitbestimmung
ermöglichen.
({6})
Europäische Regelungen dürfen in keinem Fall zu einem Wettlauf um die geringsten Arbeitnehmerrechte
führen. Deutsche Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte können Vorbild für Europa sein. Es gibt sie übrigens auch in Tschechien und in der Slowakei. Dort sitzen ebenfalls Arbeitnehmervertreter und externe
Gewerkschafter in den Aufsichtsräten. Wir kennen das
auch aus Österreich.
({7})
Denn wer hat mehr Interesse an der positiven Entwicklung eines Unternehmens als ein sozial verantwortlich handelnder Betriebsrat und Gewerkschaftler, der
besser als jeder andere weiß, dass die Zukunft der Arbeitsplätze im globalen Wettbewerb vom ökonomischen
Erfolg und einer nachhaltigen, flexiblen Unternehmensstrategie abhängt?
Deshalb wollen wir auch zukünftig wirtschaftliche
Kompetenz und soziale Verantwortung in den Unternehmen sicherstellen, indem die Entscheidungen über Zukunftsinvestitionen, Innovationen und Beschäftigung gemeinsam von Kapitalvertretern, Arbeitnehmervertretern
und Vorständen getroffen werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Die Mitbestimmung ist kein Auslaufmodell. Sie kann
ein Exportschlager für Europa und die ganze Welt sein.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung der Europäischen Gesellschaft auf Drucksache 15/3405. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4053, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/4075? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen der
Koalition abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Häftlingshilfestiftung erhalten und finanziell
ausreichend ausstatten
- Drucksache 15/3763 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartmut Büttner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein
42-seitiger Bericht des Bundesinnenministeriums vom
13. Januar dieses Jahres kam so ganz harmlos daher. Eigentlich sollte diese Ausarbeitung nur ausloten, ob es
Möglichkeiten gibt, die Gerechtigkeitslücken für Entschädigungsleistungen von bisher zu kurz gekommenen
Opfergruppen der beiden Diktaturen in Deutschland zumindest etwas zu schließen.
Die Notwendigkeit hierfür sahen nicht nur wir von
der CDU/CSU, sondern beispielsweise auch die 22. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen. In einem - angenommenen - Antrag forderten die Grünen
neben vielen einzelnen Verbesserungen eine
Bestandsgarantie und ausreichende finanzielle Ausstattung der Stiftung der ehemaligen Häftlinge des
DDR-Systems.
Im Zusammenhang mit der Koalitionsvereinbarung
für diese Legislaturperiode wurde von SPD und Grünen
zudem beschlossen: Wir wollen weiter dafür sorgen,
dass Menschen, die für die Demokratie gekämpft haben,
nicht vergessen werden. Die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge soll gestärkt werden.
({0})
Damit haben Sie bei uns und - das ist noch viel wichtiger - bei den Betroffenen zu Recht die Erwartungshaltung erzeugt, dass mit Vorschlägen für Verbesserungen
zu rechnen ist.
Stattdessen war der von mir genannte Bericht das
Sterbeglöcklein für die Abwicklung von zwei Opferstiftungen. Zum einen sollte die Heimkehrerstiftung im
Jahr 2005 ihre Arbeit einstellen. Zum anderen - das ist
das Thema unseres heutigen Antrages - wird auf
Seite 40 ganz ausdrücklich „eine Aufhebung und Abwicklung“ der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge zum Ende des nächsten Jahres gefordert.
Die Häftlingshilfestiftung ist eingerichtet worden
- daran will ich erinnern -, um den politischen Gefangenen des SED-Regimes, die sich heute noch in einer sozialen Notlage befinden, etwas Unterstützung zu gewähren. Die Stiftungslösung ist 1969 ganz bewusst vom
Gesetzgeber gewählt worden, um hiermit eine Interessenvertretung aus dem Kreis der Betroffenen zu ermöglichen. Der Grundsatz „Betroffene entscheiden über Betroffene“ hatte in den letzten 35 Jahren dazu beigetragen,
die Akzeptanz der Entscheidungen über Anträge wesentlich zu erhöhen.
Die Vorlage vom 13. Januar 2004 ist ein bisschen
mehr als eine reine Meinungsäußerung von einigen
Fachleuten aus dem Innenministerium. Auf Seite 42 des
Berichts wird ausdrücklich dargestellt, dass die getroffenen Aussagen unter den Bundesministerien für Justiz,
für Finanzen und für Gesundheit und Soziale Sicherung
abgestimmt worden sind. Damit ist dieses harmlos erscheinende Schriftstück eine eindeutige Willenserklärung aller mit Opferfragen befassten Ministerien der
Bundesregierung geworden.
({1})
Die Bundesregierung will also eine Abwicklung der
Häftlingshilfestiftung bis Ende 2005.
Das Bekanntwerden dieses Vorhabens löste unter den
Verbänden der Opfer der SED-Diktatur einen Sturm der
Empörung aus.
({2})
Zahlreiche Betroffene protestierten. So lehnte beispielsweise der Bund der Stalinistisch Verfolgten die Bewertung der Bundesregierung, die Stiftung habe ihren
Zweck erfüllt und die Unterstützungsleistungen seien
nach dem Häftlingshilfegesetz abzuwickeln, ganz entschieden ab. Der BSV verlangte, dass die Stiftung so
lange bestehen bleiben soll, wie noch Betroffene leben.
({3})
Zur Erinnerung: Die letzten Haftopfer des SED-Staates
haben die Kerker erst im Herbst 1989 verlassen können.
In dem Antrag meiner Fraktion haben wir diesen Gedanken aufgegriffen. Wir wollen, dass die Stiftung für
ehemalige politische Häftlinge bis zur Erledigung ihrer
Aufgaben bestehen bleibt und mit den zu ihrer Aufgabenerfüllung nötigen Finanzmitteln ausgestattet wird.
({4})
Herr Ludwig von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge erläuterte in einer Meldung der NachrichHartmut Büttner ({5})
tenagentur ddp, dass viele ehemalige Häftlinge nach der
Haft nur schlecht bezahlte Jobs bekamen und heute häufig arbeitslos oder arbeitsunfähig sind. Im Jahr 2003 sind
7 069 Unterstützungsanträge gestellt worden, von denen 5 477 von der Stiftung bewilligt worden sind. Es ist
schon ein entwürdigender Zustand, dass die Stiftung
Jahr für Jahr darum kämpfen muss, Leistungen aus vorliegenden genehmigten Anträgen auch tatsächlich bezahlen zu können. Ich halte das für entwürdigend.
({6})
So lagen Ende September dieses Jahres mehr als
1 300 bewilligungsfähige Anträge vor. Dafür wurden
2,2 Millionen Euro benötigt. Alle für 2004 verfügbaren
Mittel waren aber bereits im April verbraucht.
({7})
- Das sage ich gleich, Herr Edathy. - Außerdem gab es
noch nicht bearbeitete Anträge mit einem Volumen von
2,3 Millionen Euro. Der Finanzbedarf für 2004 beträgt
also insgesamt 4,5 Millionen Euro.
Als Antwort auf Ihren Zwischenruf sage ich: Es ist
ein sehr gutes Beispiel für die Wahrnehmung der Fürsorgepflicht des demokratischen Deutschland gegenüber
den Opfern der SED-Diktatur, dass es uns in diesem Jahr
gelungen ist, zumindest den größten Teil des Finanzbedarfs für 2004 zu decken.
({8})
So konnten wenigstens 2,7 Millionen Euro der in diesem
Jahr nötigen 4,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt
werden.
Frau Stokar von den Grünen und Herr Wiefelspütz
- ihn sehe ich hier heute nicht - von der SPD haben in
vielen gemeinsamen Gesprächen über die Lage der
SED-Opfer immer wieder betont, dass eine Schließung
der immer größer werdenden Gerechtigkeitslücke mit ihnen nicht zu machen sei. Ich erinnere nur daran, dass
diese neue Lücke erst durch jüngste Urteile des Bundesverfassungsgerichts entstanden ist. Vor allem ehemals
staatsnahe Personen bis hin zu den Schergen des Staatssicherheitsdienstes sollten verbesserte Rentenzahlungen
erhalten. Der Deutsche Bundestag hatte diese Urteile gesetzlich umzusetzen.
Gleichzeitig haben sich SPD und Grüne aber geweigert, unseren Anträgen auf Besserstellung auch der
SED-Opfer zuzustimmen. Sie wollten keine neuen Leistungsgesetze. Dafür - auch das will ich sagen - sollten
aber die vorhandenen Stiftungen finanziell so ausgestattet werden, dass sie diesen schwer geprüften Menschen
auch weiterhin in wirtschaftlichen Notlagen helfen können. Das war Ihr Grundsatz, richtig?
Wenn Sie jetzt den abenteuerlichen Plan der Bundesregierung, die Abwicklung der Stiftung für ehemalige
politische Häftlinge bis spätestens 2005 zu betreiben,
durchgehen lassen, dann haben Sie die Öffentlichkeit
und die Opfergruppen jahrelang an der Nase herumgeführt.
({9})
Verbal haben sich einige von Ihnen von diesem Vorhaben der Bundesregierung distanziert. Für unseren
SPD-Kollegen Stephan Hilsberg wäre ein Ende der Unterstützungszahlungen „ein Skandal“. Frau Stokar, Sie
halten laut „Tagesspiegel“ die Abwicklungspläne Ihrer
Regierung für „unglücklich“ und „nicht schlüssig“.
({10})
In ähnlicher Weise wurde auch der stellvertretende
Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion, Hans-Joachim
Hacker, in der „Berliner Zeitung“ zitiert.
({11})
Wörtlich sagte er:
Es wäre paradox, die Stiftung zu schließen oder ihr
die Aufgaben wegzunehmen. Dort arbeitet ein
hochkompetentes Team mit viel Erfahrung im Umgang mit diesen Anträgen. Das kann man nicht einfach bürokratisch abarbeiten.
Das ist auch meine Auffassung, zumal erst vor einigen Monaten alle Fraktionen des Bundestages gemeinsam die Antragsfristen für die Rehabilitierung ehemaliger DDR-Häftlinge bis Ende 2007 verlängert haben.
Die Stiftung, welche über die Anträge entscheidet, soll
aber im nächsten Jahre ihre Arbeit einstellen.
Mit unserem Antrag, den wir heute in erster Lesung
beraten, geben wir Ihnen jetzt Gelegenheit, dem Recht
des Parlaments gegenüber der Regierung Geltung zu
verschaffen. Tun wir gemeinsam Gutes: Lassen Sie uns
die Häftlingshilfestiftung erhalten! Statten wir die Stiftung mit den nötigen Finanzmitteln aus und zeigen wir,
dass die Opfer der SED-Diktatur in diesem Deutschen
Bundestag doch eine Lobby haben!
({12})
Das Wort hat der Kollege Sebastian Edathy, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Büttner, wer Ihre Rede gehört hat, die in
Teilen sachlich war, die aber auch von einer eingeschränkten Wahrnehmung der Realität zeugte, kann feststellen: Ihr heutiger Antrag ist schon deswegen nicht
hilfreich, weil Sie zum einen aktionistisch vorgehen und
zum anderen in Ihrem Antrag unrichtige Behauptungen
aufstellen.
({0})
Zum Dritten haben Sie hier auch keine perspektivische
Antwort auf die Herausforderungen gegeben,
({1})
denen sich die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge gegenübersieht.
({2})
Worum geht es bei der Thematik? Herr Büttner, wir
haben seitens des Innenausschusses die Bundesregierung, das Bundesinnenministerium, einvernehmlich gebeten, einen Bericht vorzulegen, aus dem unter anderem
die Situation der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge hervorgeht. Diesem Anliegen ist - das wurde von
dem Kollegen der CDU/CSU zumindest im Ausschuss
gewürdigt - in einer hervorragenden Form Rechnung getragen worden. Das umfangreiche Material, das uns vorgelegt worden ist, ist für die politische Willensbildung
im Parlament sehr gut geeignet.
Herr Kollege Büttner, eines ist klar: Auch die CDU/
CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag sollte so viel
Selbstbewusstsein besitzen, um festzustellen, dass die
Weiterentwicklung der Häftlingshilfegesetzgebung natürlich ein ureigenes Anliegen des Parlamentes ist. Es
wird nicht von der Regierung entschieden und die Regierung hat auch nicht - Sie haben das in Ihrer Rede anders
dargestellt - die Frage der Leistungsgewährung thematisiert.
({3})
Ich stelle für die SPD und den Koalitionspartner fest,
Herr Kollege Büttner: Während Sie durch die Lande ziehen und die Leute unnötig auf die Palme treiben, haben
wir, seit wir in der Regierung sind, in einem seriösen
Verfahren,
({4})
auch durch die Bereitstellung finanzieller Mittel, dafür
Sorge getragen, dass politischen Opfern der SED-Diktatur Gerechtigkeit widerfahren konnte. Wir haben in der
Sache gearbeitet und Sie machen Polemik.
({5})
Wir haben das auch bei der Haushaltsaufstellung bewiesen. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir es trotz aller Sparzwänge, denen auch der Einzelplan 06 unterliegt, geschafft haben,
2,7 Millionen Euro zusätzlich für die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge zur Verfügung zu stellen.
({6})
Das ist eine politische Leistung, die sich sehen lassen
kann.
Ich habe ein Problem mit dem, was Sie, Herr Büttner,
im Zusammenhang mit der Organisation ausgeführt haben. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass für Sie
Organisationsfragen wichtiger sind als die politische
Zielsetzung. Ich will hier deutlich sagen: Für uns steht
nicht die Organisation im Mittelpunkt, für uns stehen die
Opfer im Mittelpunkt. Deren Lage gilt es zu betrachten
und es geht darum, sicherzustellen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren kann. Sie können die Frage nicht
ernsthaft tabuisieren wollen, in welcher Form das geschieht.
Man ging 1994 - damals waren die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anders, als sie heute erfreulicherweise sind - davon aus, dass bis Ende des Jahres 2005
sowohl die Häftlingshilfestiftung als auch die Heimkehrerstiftung ihre Aufgaben im Großen und Ganzen bewältigt haben würden. Wir stehen also ohnehin vor der
Frage: Was wird in den Jahren 2006 und folgende? Wir
haben eindeutig festgestellt: Die Gewährung von Leistungen wird überhaupt nicht tangiert, es geht darum, sicherzustellen, dass Leistungen an die Opfer erfolgen
können. Über die organisatorischen Fragen müssen wir
aber ohne Zeitdruck, ohne Nervosität und ohne Hektik
diskutieren können.
Ich will auf vier Punkte hinweisen, mit denen wir uns
auch im Ausschuss intensiv werden beschäftigen müssen. Die Zahl der Antragseingänge ist in den letzten Jahren tendenziell rückläufig. Wir haben zudem die Feststellung zu treffen, dass die schwierigen Fälle zwar
immer noch einen gewissen Anteil der Antragseingänge
ausmachen, dass aber über 80 Prozent der Entscheidungen mittlerweile auf der Grundlage des Strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes gefällt werden. Das sind Routinefälle, die keiner individuellen Beratung bedürfen,
sondern am Schreibtisch erledigt werden können. Es
kommt hinzu - das haben Sie, Herr Büttner, leider nicht
angesprochen -, dass dann, wenn man die Ausschüttungen, die über das Häftlingshilfegesetz gewährt werden, und die Verwaltungskosten der Stiftung vergleicht,
ein gewisses Missverhältnis festzustellen ist. Das werden Sie nicht bestreiten können. Viertens wird es schon
aus demographischen Gründen zunehmend schwieriger
- auch das haben Sie nicht erwähnt -, aus den Reihen
der Betroffenen geeignete Personen für die Organe der
Stiftung zu gewinnen. Sinn einer Stiftung ist es aber unter anderem, dass man aus dem Kreis der betroffenen
Bürgerinnen und Bürger ehrenamtliche Mitarbeiter und
Mitstreiter gewinnt.
All das sind Fakten, über die wir zu diskutieren bereit
sind. Es gibt keine Vorentscheidung und keinen Zeitdruck in der Frage, wie es in der Organisation weitergeht.
Ich möchte schließen: Es ist eine Tatsache, dass Menschen - das gilt auch für die Zivildeportierten jenseits
von Oder und Neiße -, die politische Opfer von Diktaturen geworden sind, Anerkennung, auch materielle, zuteil
werden muss. Ich würde mich freuen, wenn wir das als
Ergebnis der Debatte heute einvernehmlich feststellen
und dann ohne unnötiges Pathos und mit der gebotenen
Sachlichkeit in die Debatte über die Frage der Organisation eintreten könnten. Es geht in erster Linie um die betroffenen Menschen, erst danach geht es darum, wie wir
die Hilfe für die Betroffenen organisieren.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Union stellt, wie wir soeben gehört haben, vor allem die Reaktion auf den Bericht des
Innenministeriums dar. Allerdings war ich, als ich mich
als Haushälter in dieses Thema einarbeiten durfte, über
die Reaktion insbesondere der Kollegin Stokar überrascht. Denn die Kollegin Stokar hat uns vorhin, als wir
über einen anderen Tagesordnungspunkt diskutiert haben, gesagt, dass sie immer Hand in Hand mit dem Innenminister gehe.
({0})
- Das hat sie gesagt. Das können Sie im Protokoll nachlesen.
Nun hat sie aber gesagt, dass das, was hier vorgelegt
wurde, nicht mit den Regierungsfraktionen abgestimmt
worden sei. Ich bin sehr gespannt, wie das ausgeht; denn
- das muss ich als Haushälter sagen - es geht um Geld.
Die Haushälter der Koalition haben sich bei diesem
Thema nicht zu Wort gemeldet. Auch im Rahmen der
Berichterstattergespräche war noch keine derartige Reaktion festzustellen.
Nichtsdestotrotz müssen wir eines ganz klar sehen:
Wir haben es letztendlich mit „Kriegsfolgeschäden“ zu
tun, mit all dem, was uns Deutschen durch den Krieg angetan wurde, sei es über mehrere Ecken, sei es durch
einen Unrechtsstaat, der auf einem Teil des deutschen
Territoriums existiert hat. Wir müssen den Opfern gegenüber Fairness walten lassen und ihnen eine klare Perspektive geben. Darüber hinaus müssen wir zwischen
der Leistungsgewährung und der Frage, wer die Leistung gewährt, trennen. Dabei müssen wir uns einigen,
wie die einzelnen Bereiche miteinander zu vereinbaren
sind.
Hier gibt es - da werden Sie mir zustimmen - im Moment noch ein paar Unklarheiten. Herr Büttner, auch Sie
haben gesagt: Es passt nicht zusammen, dass man einerseits Fristen bis 2007 verlängert, andererseits aber die
Stiftung auflösen will. Hier muss - das ist die Hauptaufgabe des Innenausschusses - in allen Bereichen Klarheit
geschaffen werden. Das gilt auch für die Heimkehrer.
Hier erwarte ich eine klare Richtlinie. Ich bin gespannt,
ob Herr Körper nachher etwas dazu sagen wird.
({1})
Wenn Herr Körper sich dazu äußert, wird Herr Diller
skeptisch gucken, weil es dabei immer wieder um Finanzfragen geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik ist in der
Pflicht, endgültig klarzustellen, wie hinsichtlich der
Kriegsfolgeleistungen zu verfahren ist. Ich sage ganz
deutlich: Einerseits müssen wir 60 Jahre nach Kriegsende - im Mai nächsten Jahres werden es 60 Jahre sein selbstbewusst sein, was unsere Vergangenheit in den
letzten 60 Jahren angeht. Andererseits müssen wir aber
auch besonders verantwortungsbewusst sein, was die
Zeit davor betrifft. Diese Verantwortung werden wir
auch in Zukunft tragen.
Das bedeutet, zum einen Verantwortungsbewusstsein
gegenüber den Opfern zu zeigen, zum anderen aber
selbstbewusst zu entscheiden, wann die Regelung bezüglich der Stiftung ausläuft.
({2})
Das muss man klar sagen. Ich bitte die Vertreter der
Koalition, nicht im Fachausschuss zu sagen, dass man
das schon schaffen wird, während man im Haushaltsausschuss sagt, dass kein Geld zur Verfügung steht. Wir haben nämlich wirklich kein Geld. Es muss jetzt eine klare
Linie gefunden und auch abgestimmt werden. Denn wir
müssen uns - Frau Präsidentin, ich komme zum
Schluss - für diejenigen, die sich für unsere Demokratie
eingesetzt haben, und für diejenigen, die nicht in den Genuss der Vorteile unserer Demokratie gekommen sind,
engagieren. Wir dürfen sie nicht in der Luft hängen lassen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Vorsitzende! Meine Damen und Herren! Ich will
nicht zu weiterer Verwirrung, sondern zur Schaffung von
Klarheit beitragen. Ich denke, dass ich in den Debatten
über die Häftlingshilfestiftung, aber auch in denen über
die anderen Themen der Vergangenheitsaufarbeitung,
immer sehr deutlich und unmissverständlich Position im
Sinne der Betroffenen bezogen habe.
Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie Ihren Antrag
zum jetzigen Zeitpunkt einbringen. Denn wir haben über
den Bericht des Bundesinnenministeriums sowohl im
Plenum als auch im Innenausschuss eine intensive Debatte geführt, aus der auch heute zitiert wurde. Damals
habe ich dazu eine ganz klare Position vertreten, die
selbstverständlich auch heute noch gilt. Ich habe gesagt,
dass der Inhalt dieses umfangreichen Berichts sehr gut
ist. Genauso klar und deutlich habe ich hier gesagt, dass
wir - damit meine ich meine gesamte Fraktion - das Ziel
des Berichts, die Auflösung der Stiftung bis zum
Jahr 2005, nicht teilen.
({0})
Dafür habe ich zwei Gründe angeführt: zum einen die
hier angesprochene Verlängerung der Frist für die Stellung von Anträgen, die wir vorgenommen haben, und
zum anderen das Argument - das ist inhaltlich für uns
ein sehr wichtiger und tragender Grund -, dass in einer
Stiftung Betroffene über die Anträge Betroffener
entscheiden sollten. An diesem Grundsatz halten wir
weiter fest.
({1})
Nächster Punkt, zu den Haushaltsmitteln. Von den
Haushältern ist gesagt worden - das ist richtig -, dass die
Bereitstellung von Mitteln bei dieser Haushaltssituation ein Kampf und eine Auseinandersetzung ist: In allen
Stiftungsbereichen wurden die Mittel global gekürzt.
Davon kann es auch hier keine Ausnahme geben. Es ist
uns aber gelungen, die Deckungslücke zu schließen. Wir
haben hier 2,7 Millionen Euro mobilisiert, meine Damen
und Herren! Da erwarte ich, dass Sie uns nicht angreifen,
sondern dass Sie sagen: Toll gemacht, Rot-Grün; gut,
dass ihr das hingekriegt habt. - Das geht zurück auf das
Engagement Einzelner; dann haben wir es in der Fraktion gemeinsam durchgesetzt.
({2})
Zum letzten Punkt, den Sie hier angesprochen haben.
Ich bitte, die Frage der Opfergruppen sehr differenziert
zu betrachten. Ich habe die Versprechungen, die ich auf
unserem Parteitag und auch hier gemacht habe, eingehalten. Ich habe gesagt: Weil wir finanzielle Probleme
haben, können wir keine neuen Opfergruppen in den
Leistungsgesetzen bedenken; dazu stehe ich heute. Sie
haben hier Anträge gestellt, die Leistungen auf zusätzliche Opfergruppen auszuweiten. Ich habe gesagt: Das
können wir nicht finanzieren, für uns ist hier eine
Grenze; auch dazu stehe ich. Gleichzeitig haben wir die
Leistungen, die die anerkannten Opfer aus diesen Stiftungsgesetzen bekommen, schrittweise verbessert. Auch
in diesem Punkt habe ich mein Versprechen - ich gebe
zu: in kleinen Schritten, aber so ist das nun einmal in der
Politik - erfüllt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zu Ihrem
Antrag sagen, damit das hier deutlich wird: Es kann und
wird keinen dauerhaften Bestand von Stiftungen in diesem Bereich geben. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für solche Anträge, weil es dort noch genug zu tun gibt und die
Betroffenen das auch machen werden. Natürlich wird
immer wieder neu diskutiert. Aber was Sie hier in Ihrem
Antrag fordern - die Stiftung bestehen zu lassen, bis sozusagen der letzte Häftling Leistungen von ihr erhalten
hat -, können wir nicht machen, und zwar aus einem
ganz einfachen Grunde: Wir tragen die Verantwortung
dafür, dass die Steuermittel, die wir für die Opfer bereitstellen, auch bei den Opfern ankommen. Wir machen
keine Politik für Funktionäre in Geschäftsstellen, um das
sehr deutlich zu sagen.
({3})
Deshalb werden wir immer wieder das Verhältnis zwischen den Stiftungsmitteln, die an die Opfer gehen, und
denen, die für die Verwaltung verwendet werden, überprüfen. Dieses Verhältnis muss stimmen. Diese Diskussion werden wir auch im nächsten Jahr wieder führen aber bitte sachlich und ohne Stimmungsmache.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bericht vom 13. Januar 2004 zu dieser Thematik ist
ja schon des Öfteren angesprochen worden. Dieser Bericht ist auf Wunsch der Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten erstellt worden, die sich mit dieser Thematik
beschäftigten und in Zukunft beschäftigen. Im Grunde
genommen handelt es sich hierbei nicht um eine Entscheidung, nicht um einen Beschluss und auch nicht um
die Auffassung der Bundesregierung, sondern um Erwägungen des Bundesinnenministeriums zur Zukunft der
Häftlingshilfe und der Heimkehrerstiftung.
Lieber Hartmut Büttner, ich muss ganz offen eingestehen: Ich finde es ein wenig schade, dass von der
CDU/CSU-Fraktion - lassen Sie es mich so formulieren - offensichtlich kein Wert darauf gelegt wird, sich in
der Sache auseinander zu setzen und eine sachliche Debatte zu führen.
({0})
Ich sage auch, warum: Bezeichnenderweise gehen Sie in
Ihrem Antrag nicht auf die institutionelle Schwäche des
Stiftungsmodells ein. Darum geht es aber, wenn man
diese Diskussion führt. Wir erkennen, dass dieses Stiftungsmodell aufgrund der vorgesehenen Interessenrepräsentation aus dem Kreis der Betroffenen an seine Grenzen stößt und es zunehmend Schwierigkeiten bereitet,
Personen aus den Interessenverbänden zu finden, die
Aufgaben in den entsprechenden Gremien übernehmen.
Ich denke, das ist ein Faktum, an dem man nicht vorbeikommt. Darüber muss man einfach diskutieren. Ich bitte
darum, sich das sehr sorgfältig anzuschauen und diese
Diskussion nicht mit Emotion und Polemik in eine falsche Richtung zu lenken.
({1})
Ich sage auch noch etwas zur Finanzausstattung. Bei
der grundsätzlichen Neuregelung der Finanzausstattung
der Stiftungen Anfang der 90er-Jahre des vergangenen
Jahrhunderts wurde davon ausgegangen, dass beide Stiftungen ihre Aufgaben bis zum Jahre 2005 erfüllt haben
würden. Das ist keine Erfindung von uns. Dementsprechend sind die Stiftungsvermögen seinerzeit nochmals
aufgestockt worden, um eine Deckung der VerwaltungsParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
ausgaben bis zu diesem Zeitpunkt zu ermöglichen. Es ist
sehr wichtig, dass man diesen Hintergrund kennt.
Indessen wird das Stiftungsvermögen der Häftlingshilfestiftung bereits im Jahre 2005 nicht mehr vollständig ausreichen, um alle Verwaltungskosten bestreiten zu
können. Vorsorglich eingeholte Schätzungen über den
mutmaßlichen Kostenaufwand einer administrativen Lösung, das heißt, einer Ausführung des Häftlingshilfegesetzes, des Heimkehrerstiftungsgesetzes und des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes durch das
Bundesverwaltungsamt, haben ergeben, dass sich im
Jahre 2006 voraussichtlich erhebliche Einsparungen an
Verwaltungskosten ergeben würden. Auch das ist überlegt worden.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, den ich Ihnen ein
wenig verüble.
({2})
Es ging nie um die Infragestellung der Zahlung von
Leistungen oder der Hilfeleistungen, die diese Stiftungen vorsehen. Es ging um die Frage, ob man sich anstelle des Stiftungsmodells auch andere administrative
Lösungen vorstellen könne oder nicht. Lieber Hartmut
Büttner, ich finde es ein bisschen schade, ja, sogar ein
bisschen schäbig, wie Sie mit dieser Frage umgegangen
sind.
({3})
Ich gebe zu, dass uns diese Überlegungen dazu geführt
haben, über die „Lebensdauer“ der Stiftungen nachzudenken. Ich denke, das ist in der Tat nicht verboten.
Abschließend will ich daran erinnern, dass im Interesse einer klaren Willensbildung verschiedene Aspekte
auseinander gehalten werden sollten. Dies ist zum einen
die Unterscheidung zwischen der Frage, ob man weitere
Haushaltsmittel für die Gewährung von Unterstützungsleistungen bereitstellen soll, und der Frage, welche Einrichtung zweckmäßigerweise mit der Leistungsgewährung betraut werden kann. Zum anderen ist die
Unterscheidung zwischen den Leistungsanlässen notwendig. Hier muss die Thematik der Kriegsfolgeleistungen von der Sonderthematik der SED-Unrechtsbereinigung unterschieden werden, auf die im Unterschied zu
den Kriegsfolgeleistungen ein Rechtsanspruch besteht.
Die Antragsbegründung ist eines von vielen Beispielen,
in denen Sie beide Themenkreise miteinander vermischen.
Die im Bericht des Bundesministeriums des Innern
festgestellte so genannte Deckungslücke betrifft Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz, auf die, wie bereits
erwähnt, kein Rechtsanspruch besteht.
Diese so genannte Deckungslücke, die im Übrigen
aufgrund einer überplanmäßigen Ausgabe des Bundesministeriums des Innern in einer Gesamthöhe von
3,5 Millionen Euro für beide Stiftungen weitgehend geschlossen ist, hat nichts mit den Unterstützungsleistungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu
tun, außer der Tatsache, dass beide Arten von Unterstützungsleistungen von der Häftlingshilfestiftung gewährt
werden. Ich bin sehr dankbar, dass wir es geschafft haben, in diesem Jahr die überplanmäßigen 3,5 Millionen
Euro bereitzustellen. Ich denke, diese Ausgabe ist sehr
sinnvoll verwendet worden.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3763 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ({0})
- Drucksache 15/2720 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
- Drucksachen 15/4056, 15/4066 Berichterstattung:
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig
Jochen-Konrad Fromme
Bernhard Brinkmann ({3})
Anja Hajduk
Jürgen Koppelin
Die Redner Bernhard Brinkmann, SPD, Jochen-Kon-
rad Fromme, CDU/CSU, Anja Hajduk, Bündnis 90/Die
Grünen, und Otto Fricke, FDP, haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben,
Drucksache 15/2720. Der Haushaltsausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen,
({4})
Drucksachen 15/4056 und 15/4066. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. ({5})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tion gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP an-
genommen.
1) Anlage 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Dr. Claudia Winterstein,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die finanzielle Vorausschau der EU den neuen
Aufgaben anpassen
- Drucksache 15/2978 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Claudia Winterstein, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute vollzieht die EU einen sehr wichtigen
Schritt, nämlich die feierliche Unterzeichnung des europäischen Verfassungsvertrages.
({0})
Ein zweiter wichtiger Schritt steht uns bevor, nämlich
die Finanzplanung der EU.
Im Februar hat die Europäische Kommission ihren
Vorschlag für die nächste mittelfristige Finanzplanung
für die Jahre 2007 bis 2013 vorgelegt und dann im Juli
konkretisiert. Dieser Vorschlag enttäuscht. Mehr Geld
für neue Aufgaben soll her, ohne aber alte, lieb gewonnene Töpfe in ausreichendem Maße anzurühren. Kurz:
Es fehlt der Mut zur überfälligen Reform.
({1})
1,14 Prozent des europäischen Bruttonationaleinkommens will die Kommission ausgeben. Das jährliche Budget liegt zurzeit bei 100 Milliarden Euro und würde bis
zum Jahre 2013 auf etwa 143 Milliarden Euro ansteigen.
Deutschlands Anteil am EU-Haushalt liegt zurzeit bei
etwa 22 Milliarden Euro. Nach den Schätzungen des
Bundesfinanzministeriums würden die Deutschen im
Jahre 2013 letztendlich Bruttozahlungen in Höhe von
satten 40 Milliarden Euro zu leisten haben. Das ist
schlicht nicht finanzierbar, schon gar nicht für Deutschland. Die desaströse Haushaltspolitik von Rot-Grün hat
in Deutschland Schulden in Rekordhöhe verursacht.
Deutschland hat bis auf weiteres überhaupt keine finanziellen Spielräume mehr.
Ziel muss sein, dass die EU wie bisher mit 1 Prozent
des Bruttonationaleinkommens für ihre Aufgaben auskommt.
({2})
Das hat die Bundesregierung bisher auch gefordert.
Es reicht aber nicht, die Kommission nur zum Sparen
aufzufordern. Wo bleiben eigentlich die Vorschläge der
Regierung für den künftigen Finanzrahmen? Wir erwarten, dass Sie die Karten offen legen und mit präzisen
Vorschlägen aufwarten.
Die FDP legt mit diesem Antrag erste Vorschläge vor.
Für uns heißt es: Umstrukturierung statt Aufstockung.
Es darf nicht um mehr Geld gehen, sondern es muss um
die Art der Verwendung der Gelder gehen. Der Kuchen
kann nicht größer werden, er muss nur anders geteilt
werden. Gefordert ist also eine mutigere Reform der
Ausgabenstruktur. Ohne eine Verringerung und Neuausrichtung der beiden größten Ausgabenposten, nämlich
der gemeinsamen Agrar- und der Strukturpolitik, die zusammen immer noch 80 Prozent des gesamten EUHaushaltes ausmachen, ist ein modernes, auf die Zukunft
gerichtetes Europa nicht zu haben.
Die Integration der neuen Mitgliedstaaten, die Sicherstellung europäischer Handlungsfähigkeit auf dem Feld
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der
Schutz unserer gemeinsamen Außengrenzen gegen Terrorismus und internationale Kriminalität, Investitionen
in Bildung und Forschung und damit auch in die Zukunft
unserer Kinder - das sind die europäischen Zukunftsaufgaben.
({3})
Die Zukunft Europas liegt nicht auf Getreidefeldern,
auch nicht auf Zuckerrübenfeldern, sondern in den Laboren. Statt in grüne Wiesen müssen wir in graue Zellen
investieren. Bildung, Forschung und Entwicklung sind
die Pfeiler, auf die eine prosperierende Zukunft gestützt
sein wird.
Aus unserer Sicht müssen jetzt folgende Weichenstellungen vorgenommen werden: Wir fordern das Ende der
Förderung nach dem Gießkannenprinzip in der Regionalpolitik. Wie ein Gärtner mit der Gießkanne verteilt
die EU die Gelder der Bürger im europäischen Garten
und gießt dabei auch eine ganze Menge Unkraut.
({4})
Eine Konzentration der Mittelvergabe auf die strukturschwächsten Regionen ist deshalb zwingend geboten.
Gebiete, die aus der Förderung herausfallen, sollen eine
befristete Übergangsfinanzierung erhalten. Das haben
wir schon besprochen.
Ich möchte auch daran erinnern, dass die Strukturhilfen nur Hilfe zur Selbsthilfe sind. Das heißt, sie schaden
dem Entwicklungspotenzial der Regionen, wenn sie als
dauerhafte Alimentation selbstverständlich werden.
({5})
Die Mittel aus dem Kohäsionsfonds wollen wir ausschließlich in die neuen Mitgliedstaaten fließen lassen.
Die dynamischen Volkswirtschaften in Osteuropa brauchen Unterstützung, und zwar vor allem beim Aufbau
der Infrastruktur, bei Innovationen und beim Umweltschutz.
Wir wollen die Ausweitung der Kofinanzierung in der
gemeinsamen Agrarpolitik durch die nationalen Haushalte der Mitgliedstaaten. Dadurch kann ein verantwortungsvollerer Umgang der Mitgliedstaaten mit den bereitgestellten Mitteln bewirkt werden. Wir fordern
außerdem generell kurze Verfallsfristen für Projektmittel. Noch immer fließen große Summen an bereitgestellten Geldern überhaupt nicht ab. Zurzeit sind das
105 Milliarden Euro.
Frau Kollegin, Sie hatten bereits fünf Minuten. Sie
müssen jetzt zum Ende kommen.
({0})
Bei den Verhandlungen über die Agenda 2007 geht es
um Konsequenzen, die weit über die nächste Legislaturperiode hinausreichen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre Prioritäten klar auf wachstumsrelevante Bereiche auszurichten. Dabei muss die 1-Prozent-Grenze
auf jeden Fall Verhandlungsgrundlage bleiben.
({0})
Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heute zur Diskussion stehende Antrag der FDPFraktion zeigt trotz mancher Bemerkungen der Kollegin
Winterstein, dass es doch in den wesentlichen Punkten
der finanziellen Vorausschau einen überparteilichen
Konsens gibt. Die von Deutschland zusammen mit
Frankreich, Großbritannien, Österreich, Schweden und
den Niederlanden eingenommene Position, die Ausgabenobergrenze bei 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens festzusetzen, ist kritisch und realistisch. Sie entspricht sowohl der tatsächlichen Situation in der EU
- wir liegen zurzeit bei 0,98 Prozent - als auch der zusätzlichen Verantwortung der erweiterten Gemeinschaft.
Sie beinhaltet ein Wachstumsszenario mit Augenmaß
und Steigerungsraten für den EU-Finanzrahmen, die
über die Steigerungsraten der nationalen Haushalte hinausgehen.
Dies zeigt: Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zu
leisten, um Europa zu einem dynamischen, wissensbasierten und zukunftsorientierten Wirtschaftsraum weiterzuentwickeln. Nur zur Erinnerung: Das ist die Formel
des so genannten Lissabon-Prozesses, der europäischen
Agenda 2010.
Die Notwendigkeiten der Konsolidierung auf nationaler Ebene müssen sich aber auch auf EU-Ebene widerspiegeln.
({0})
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt gibt hierzu eine
klare Linie vor: Nur mit der Begrenzung des EU-Ausgaben-Volumens können die Anforderungen, die sich aus
dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ergeben, mit der
Notwendigkeit der nationalen Konsolidierung und der
Entwicklung der EU-Finanzen in Einklang gebracht
werden. Wir dürfen in diesem Zusammenhang kein gespaltenes Bewusstsein an den Tag legen; denn diese Faktoren sind untrennbar miteinander verknüpft.
Lassen Sie mich klar und deutlich feststellen, um was
es an dieser Stelle geht: Selbst wenn die Neuverschuldung in Deutschland 2005 die 3-Prozent-Grenze unterschreitet, wird dennoch der haushaltspolitische Druck
unverändert bestehen bleiben. Der Stabilitäts- und
Wachstumspakt und die Brüsseler Vorgaben - also die
jährlichen länderspezifischen Berichte - schreiben uns
mittelfristig einen ausgeglichenen Haushalt vor. Ein
schrittweiser Abbau des strukturellen Defizits ist bis
weit in die Periode der finanziellen Vorausschau 2007
bis 2013 hinein erforderlich.
Solange wir aber noch keinen ausgeglichenen Haushalt haben, müssen zusätzliche Einnahmen für den Defizitabbau verwendet werden. Da wir das Geld aber nur
einmal ausgeben können, sind zusätzliche Ausgaben für
das EU-Budget nicht ohne weiteres möglich.
Wir plädieren deshalb für die strikte Anwendung des
Subsidiaritätsprinzips. Das heißt, dass grundsätzlich
ein echter europäischer Mehrwert vorliegen sollte, wenn
die EU-Ebene tätig werden soll. Die EU-Kommission,
die entsprechende Bewertungen der für wichtig gehaltenen europäischen Projekte vornimmt, muss dabei wissen, dass die Finanzierung auf nationaler Ebene erfolgt.
Das ist ein wichtiger Punkt, den die Kolleginnen und
Kollegen von der FDP vergessen haben. Denn Deutschland hat als Transitland erhöhte Aufwendungen und
kann nicht noch die Handelsstraßen anderer Länder mitfinanzieren.
({1})
Ebenso wie die deutsche Politik muss auch der europäische Haushalt auf die Lissabon-Strategie ausgerichtet
werden. In den vergangenen Jahren hat Deutschland
massive Anstrengungen im Forschungsbereich unternommen. Das für das Jahr 2010 vorgesehene Ziel,
3 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Forschung
auszugeben, haben wir in den öffentlichen Haushalten
schon fast erreicht. Wir werden diesen Sektor auf EUEbene weiter unterstützen. Allerdings können wir nicht
für die fehlenden Ausgaben anderer Länder in diesem
Bereich aufkommen. Es gibt bekanntlich kein 3-ProzentAusgabenziel für Forschung auf EU-Ebene.
Axel Schäfer ({2})
Für die Regionalpolitik wollen wir eine Konzentration auf die bedürftigsten Regionen erreichen. Eine
Streuung der Fördermittel nach dem Gießkannenprinzip
wird auch von uns abgelehnt. Die EU-Kommission hat
hierzu bereits in der letzten Finanzperiode wichtige Vorarbeiten geleistet, indem sie die Ziele von sieben auf drei
sowie die Gemeinschaftsinitiativen von 14 auf vier reduziert hat. Im Zusammenhang mit den vor wenigen Monaten erfolgten Beitritten ist die Gesamtzahl der Ziel-1Regionen von insgesamt 50 in der EU der 15 Staaten auf
69 in der EU der 25 angestiegen. Selbstverständlich besteht hier noch weiterer Handlungsbedarf. Doch sollten
wir nicht vergessen, dass jede Veränderung, ob nach
oben oder nach unten, auch Auswirkungen auf die Förderregionen in Deutschland hat.
Im Bereich der Eigenmittel setzen wir uns auch für
eine gerechtere Lastenverteilung ein. Eine Entlastung
bei übermäßigen Nettosalden darf nicht weiterhin auf
nur ein EU-Mitglied beschränkt sein. Denn es existiert
für keinen anderen europäischen Staat ein so ungünstiges Verhältnis zwischen Wohlstandsniveau und jährlichen Nettosalden wie für Deutschland. Die EU-Kommission hat dazu einen guten Vorschlag unterbreitet, der
in die richtige Richtung weist. Auch in dieser Frage,
glaube ich, gibt es in diesem Hause grundsätzlich keine
Meinungsverschiedenheiten.
Wir sind der Auffassung, dass das Eigenmittelsystem
der EU klarer strukturiert werden muss und dass die Notwendigkeit, den „Britenrabatt“, der - das wissen Sie sicherlich - während der Zeit der CDU/CSU-FDP-geführten Regierung auf Druck von Maggie Thatcher
eingeführt worden ist, zu hinterfragen, auf der Tagesordnung bleiben muss. Wir haben das bereits im Jahre 1999
- im Rahmen der finanziellen Vorausschau für 2000 bis
2006 - etwas begrenzt.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Im EU-Haushalt
- das ist das Besondere - bestimmen die Einnahmen die
Ausgaben. Eine Verschuldung gibt es nicht. Das europäische Haushaltsverfahren ist also ein bisschen anders als
unseres.
Deutschland hat während seiner Ratspräsidentschaft
im Jahre 1999 den Finanzrahmen für 2000 bis 2006 solidarisch und fair geregelt, das heißt, es wurde eine Einigung gefunden. Die Bundesregierung hat in den vergangenen fünf Jahren europapolitisch exzellente Arbeit
geleistet, vom Konvent zur Grundrechte-Charta, über die
Bewältigung der Kosovokrise, den Rücktritt der SanterKommission, die erfolgreiche Einführung des Euros, den
Zwischenschritt des Nizza-Vertrages über den Beitritt
von zehn neuen Mitgliedern bis zur heutigen feierlichen
Unterzeichnung des Vertrages über eine Verfassung für
Europa.
({3})
Auf diesem Fundament und in diesem Bewusstsein
wird die deutsche Europapolitik bei der finanziellen Vorausschau 2007 bis 2013 nach einem klaren Maßstab
handeln. Dieser lautet: Es reicht nicht, nur den Preis, nur
die Zahlen zu kennen; man muss auch den Wert wissen.
Das wichtigste deutsche Interesse ist und bleibt die Einigung Europas, eine Einigung, die zwischen 25 gleichberechtigten Partnern erzielt werden muss. Das bedeutet,
dass Durchsetzungsfähigkeit einerseits und Kompromissbereitschaft andererseits gefragt sind. Was uns 1999
gelungen ist, wird auch diesmal gelingen. Denn der Bundeskanzler des Jahres 1999 ist auch der Bundeskanzler
dieses Jahres: Gerhard Schröder. Er ist ein Garant für ein
europäisches Deutschland.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie viel Geld braucht die Europäische Union?
Bei allen Detaildiskussionen über die Höhe bzw. die
Verteilung der Mittel für Agrarhaushalt, Strukturhilfe,
Regionalförderung, Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit
und vieles mehr - das sind ja wichtige Punkte - ist es
diese damit verbundene Grundsatzfrage, welche immer
mehr in den Vordergrund rückt. Vor dem Hintergrund
der bisher größten Erweiterung der EU im Mai dieses
Jahres, des gemeinsamen Willens, die Integration zu vertiefen, und am Vorabend einer gemeinsamen europäischen Verfassung bietet sich die Chance, mit der finanziellen Vorausschau für die Jahre 2007 bis 2013 diese
Frage vielleicht ein bisschen besser als bisher zu beantworten.
Die Beiträge der Mitgliedstaaten bilden den wichtigsten Teil auf der Habenseite der EU. Sie sind auch
diejenigen, um die - zumal in Zeiten klammer Haushalte - am stärksten gerungen wird und die bei der Bevölkerung sehr sensibel wahrgenommen werden. Gerade
für unser Land, das sich durch die Wiedervereinigung in
den eigenen Grenzen noch in einem Aufholprozess befindet und im Gegensatz zu den meisten anderen EULändern in unmittelbarer Nachbarschaft zu den neuen
Mitgliedstaaten liegt, ist dies von großer Bedeutung.
Wir sind mit Abstand der größte Nettozahler, aber nur
in absoluten Zahlen. Prozentual gesehen - bezogen auf
das Bruttoinlandsprodukt - haben wir diesen Rang leider
an andere Länder abgetreten. Dies ist im Umkehrschluss
natürlich ein unmissverständlicher Indikator dafür, dass
wir in hohem Maße an Wirtschaftskraft eingebüßt haben.
Dazu gehört auch die Tatsache, dass wir in punkto
Durchschnittseinkommen nur noch in der Bezirksliga
spielen.
({0})
Blicken wir zurück. Im Jahre 1999 wurde unter deutscher Ratspräsidentschaft für die zurzeit laufende Periode - sie geht bis 2006 - erneut eine Beitragsobergrenze von 1,24 Prozent des Bruttonationaleinkommens
festgesetzt.
Bereits Ende vergangenen Jahres unterzeichneten
sechs Nettozahler, auch Deutschland - das ist also nicht
ganz neu -, einen Brief an die Europäische Kommission
mit der grundsätzlichen Absage an ein Mehr an finanzieller Unterstützung. Dies geschah 48 Stunden nach
dem ersten Scheitern der damaligen Verhandlungen über
den Vertrag über die europäische Verfassung und war
- Kolleginnen und Kollegen der Koalition, lassen Sie es
mich wiederholen - in Form, Stil, Zeitpunkt und vor allem vor dem Hintergrund Ihres Zieles äußerst kontraproduktiv.
({1})
Diese Vorgehensweise fördert nicht ein gesundes Verhandlungsklima, sondern sie reißt zusätzliche Gräben
auf.
Zu Beginn dieses Jahres gab die Europäische Kommission bekannt - wir haben es schon gehört -, dass für
die finanzielle Vorausschau der kommenden Periode
eine Fortschreibung der Beitragsgrenze von 1,24 Prozent
- diese Zahl wurde später um ein Zehntel Prozentpunkt
reduziert - gewünscht sei.
Wir kommen zu der in diesem Land gängigen Argumentationslinie.
Erstens. In der Realität zeigte sich, dass selbst dies
pro Jahr in der Regel nicht ausgeschöpft wurde. Der
Haushalt für das laufende Jahr 2004 - es ist immerhin
das Jahr der Erweiterung; dieser Haushalt wurde aufgestellt für 25 Mitgliedstaaten - erreicht tatsächlich nur
plus/minus 1 Prozent und er bildete in dieser Größe wohl
keine Ausnahme.
Zweitens. Deutschland ist hoch verschuldet und
gleichzeitig größter Nettozahler in der EU. Der Impuls,
auch den nächsten Haushaltsrahmen bei diesen 1 Prozent
zu deckeln - der vor allem, aber nicht nur auf die reflexartige Forderung der Bundesregierung zurückging -, ist
verständlich, soweit das symbolhaft dazu dienen mag, zu
grundsätzlich größerer Sparsamkeit aufzufordern.
Zudem wurde festgestellt, dass auch ein hoher Anteil
an Fördermitteln der EU gar nicht abgerufen wurde.
Auch wenn die Ausgaben auf 1 Prozent gedeckelt
werden, steigen - je nach Wirtschaftswachstum in den
nächsten Jahren - die zugrunde gelegten absoluten Zahlen. Deutschland ist mit seinem Beitrag daran nicht unmaßgeblich beteiligt.
Wenn heute schon 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens der 25 Mitgliedsländer ausreicht, dann stellt
sich logischerweise die Frage, weshalb die Europäische
Kommission für die Zukunft eigentlich mehr benötigt.
Von der Kommission werden als Grund weitere Aufgaben genannt, denen sich die Europäische Union künftig
stellen will oder muss. Die Ausgabenkategorien wurden
hierfür neu gegliedert.
Darüber hinaus ist manche Passage in der geplanten
europäischen Verfassung mehr als ehrgeizig im Hinblick
auf die Kompetenzerweiterung der EU, also auf eine
weitere Verlagerung von Aufgaben auf die europäische
Ebene. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeiten prognostiziere ich, dass der Begriff der Subsidiarität - es
geht um das, was der einzelne Mitgliedstaat regional
besser bewerkstelligen kann; auch Sie, Herr Schäfer, haben diesen Begriff genannt - spätestens in einigen Jahren im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend nicht
mehr nur noch ein geflügeltes Wort sein wird. Gegebenenfalls wird nämlich erst dann bei der eigenen Arbeit
spürbar, welche Verantwortung wir abgegeben haben
und was uns bleibt.
Ich fasse diese Gemengelage zusammen: Die Front
verläuft zwischen den 1,14 Prozent der Europäischen
Kommission und den 1 Prozent der Bundesregierung.
Falls diese Daten die alleinige Verhandlungsgrundlage
bleiben - hinzukommen natürlich noch die Befürworter
und die Gegner der anderen 24 Nationen -, so kann es irgendwann und irgendwie einen Kompromiss geben; der
Zeitpunkt ist noch offen. Unbeantwortet bleibt die Frage,
ob diese Vorgehensweise allein tatsächlich zielführend
ist. Erreichen wir damit das, was wir erreichen wollen?
Ein anderes Beispiel. Im Mittelpunkt zahlreicher Diskussionen über den EU-Haushalt stehen naturgemäß
- ich sagte es bereits - die Bereiche Strukturhilfe und
regionale Förderung. Eine Begrenzung auf 1 Prozent
träfe natürlich vornehmlich diese Bereiche, da andere
große Bereiche, wie der Agrarhaushalt, bereits weitgehend festgelegt sind. Verständlich ist in diesem Zusammenhang das deutliche Unbehagen strukturschwächerer
Regionen - auch im eigenen Land, insbesondere in den
neuen Bundesländern, aber auch woanders -, die zurzeit
noch Fördermittel aus dem europäischen Haushalt erhalten.
Ich finde es zumindest bemerkenswert, dass Regionen
im eigenen Land Strukturhilfezusagen aus Europa teilweise mehr Vertrauen schenken als Zusagen der eigenen
Bundesregierung. Diese Regionen befürchten, dass sie
aus rein statistischen Gründen aus dieser Förderung herausfallen, da sich eine Begrenzung auf der einen Seite
mit einem wesentlich höheren Bedarf an Strukturhilfe in
den Staaten, die neu hinzugekommen sind, plus der eigenen bisherigen Unterstützung auf der anderen Seite mathematisch zunächst nur schwer vereinbaren lässt. Den
Argumenten, dass die meisten Gebiete weiterhin gefördert würden oder ein annehmbarer Übergang geschaffen
werde, wird oft nicht vertraut.
Im Dezember 2002 veröffentlichte die Bundesregierung ein Eckpunktepapier zur EU-Strukturpolitik nach
2006. Darin heißt es: Nach 2006 muss ein ausreichender
beihilferechtlicher Spielraum für eine nationale Strukturpolitik in Deutschland gewahrt bleiben. - Diesen Worten
ist natürlich nichts entgegenzusetzen. Die Betroffenen
fordern die Einhaltung. Das bedeutet jedoch, Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dass die Mittel aus
Strukturfonds nicht Begehrlichkeiten wecken dürfen dahin gehend, sie gegebenenfalls zweckentfremdet einzusetzen, um beispielsweise die nationale Nettokreditaufnahme im Haushalt zu senken. Das gilt übrigens auch
heute schon da, wo Mittel aus dem EU-Haushalt stammen.
Wir stehen seit einem Jahr in einem unglaublichen
Spannungsfeld. Das bleibt, denke ich, unwidersprochen.
Das Ende des vergangenen Jahres war von einer Grundsatzauseinandersetzung über die europäische Verfassung
geprägt. Prompt scheiterte diese Verfassung zunächst. In
der Konsequenz ergab sich der bereits genannte Brief
der Sechs, von welchem sich natürlich genau die Länder
angesprochen fühlten, die die Verfasser - vermeintlich für das Scheitern verantwortlich machten.
Wir haben seit Jahren eine Auseinandersetzung über
den Stabilitäts- und Wachstumspakt inklusive einer
Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Es ist vor allem Deutschland, das die Grenze ein ums andere Mal
reißt und vermehrt aktiv Verbündete auf europäischer
Ebene sucht, um sich aus diesem Dilemma zu befreien.
Die Schuld für die Probleme, die wir in unserem Land
mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt haben, ist nicht
im EU-Haushalt zu suchen - ich sage das nur, weil das
vorhin so ein bisschen angeklungen ist -; die Probleme
sind hier gemacht. Wir haben Probleme, bestimmte
Dinge weiterzugeben, aber nicht umgekehrt.
Gleichzeitig rückt Europa immer mehr in das Bewusstsein der Bevölkerung. Diese Entwicklung ist
durchaus zu begrüßen. Europa bekommt ein Gesicht.
Wir alle wollen natürlich eine Stärkung des Europäischen Parlaments mit dem Ziel von mehr Kontrolle der
verschiedenen Organe auf dieser Ebene. Eine Auseinandersetzung darüber, wie dieses Ziel besser zu erreichen
wäre, ist angebracht. Aufgrund der genannten Punkte ist
es vor allem angebracht, zu hinterfragen, welchen Beitrag Deutschland in letzter Zeit zur Integration geleistet
hat. Gerade dieses Land inmitten Europas - es ist zudem
das größte und hat die meisten Nachbarn ({2})
hat die Aufgabe, verbindend und vermittelnd statt spaltend zu wirken; denn das können wir uns politisch und
finanziell nicht leisten.
Wir hatten gestern eine sehr emotionale Debatte zum
Thema Türkeibeitritt.
({3})
- Es war auch eine sehr gute Debatte. Emotionale Dinge
können manchmal sehr gut sein. - Ich möchte jetzt aber
nicht noch einmal alle Argumente, das Für und Wider
bringen. Wir alle sind uns doch über Folgendes im Klaren: Auch wenn es noch so viele Jahre dauern mag, bis
es zu einem endgültigen Beitritt kommt - mit einer Vorgehensweise wie der, die Sie aktuell zum EU-Haushalt
an den Tag legen, können Sie dieses große Land nicht integrieren.
Wie viel Geld braucht Europa? Die neue finanzielle
Vorausschau für die Zeit ab 2007 muss sich an den tatsächlichen und notwendigen Aufgaben der EU orientieren. Eine Neuausrichtung der Beitragsobergrenzen mag
eine Möglichkeit sein, ist aber zu kurz gesprungen. Sie
kann nur Auslöser für Folgedebatten sein. Erst aus der
Aufgabendefinition kann das für die Aufgaben notwendige Ausgabenvolumen bestimmt werden. Dabei sind
die finanzielle Belastbarkeit der Mitgliedstaaten und die
Fortsetzung wirtschaftlicher Aufholprozesse in den Bundesländern zu beachten; hier ist der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozess noch lange nicht abgeschlossen.
Eine Aufgabenkritik soll und kann zu zusätzlichen finanziellen Spielräumen führen. Aber noch mehr: Die Budgets müssen nicht nur für die Regierungen, sondern
mehr als bisher auch für die Bevölkerung nachvollziehbar und transparent sein.
Beitragsgerechtigkeit kann nicht für sich allein stehen, sondern verlangt gleichermaßen Ausgabengerechtigkeit. Damit wird der Reformdruck auf die ausgabenrelevanten Politikfelder der Europäischen Union
aufrechterhalten und zur Sparsamkeit aufgefordert. Gerade in der heutigen Zeit ist dies auch für eine höhere
Akzeptanz der Europäischen Union durch die Bürgerinnen und Bürger essenziell.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Europäische Kommission hat uns einen
Haushaltsvorschlag für die Periode von 2007 bis 2013
vorgelegt. Ich glaube, wir täten gut daran, einmal zu
würdigen, was die Kommission hier an positiven Aspekten dargestellt hat. Ich halte diesen Haushalt nämlich für
ausgesprochen ausgewogen.
Wir stehen ja vor großen Herausforderungen. Eine
zentrale europäische Herausforderung, vor der wir alle
stehen, ist es, die Erweiterung der Europäischen Union
solidarisch zu gestalten. Außerdem müssen auch die vor
uns liegenden Aufgaben wie Bildung, Innovation und
Forschung stärker in den Vordergrund gestellt werden
und die europäische Gesellschaft zukunftsfähig gemacht
werden. Angesichts dieser Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist dieser Haushaltsentwurf aus meiner
Sicht vernünftig.
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, wenn wir die
Auseinandersetzung um die finanzielle Vorausschau
- das ist ja eine der wichtigsten Debatten im Zusammenhang mit dem Europa der Zukunft - nicht als reine Finanzdebatte, also nur als Debatte um eine Prozentzahl,
führen, sondern in dieser zentralen Zukunftsdiskussion
zunächst einmal fragen, welche politischen Prioritäten
wir beschlossen haben und was wir eigentlich mit diesem Europa leisten wollen.
Um wettbewerbsfähig zu bleiben und eine nachhaltige Entwicklung zu fördern, reicht es nicht aus, auf europäischen Gipfeln oder heute an diesem europäischen
Feiertag anlässlich der Unterzeichnung der europäischen
Verfassung den EU-Organen neue Aufgaben zuzuweisen
und der Europäischen Union neue Pflichten aufzubürRainder Steenblock
den. Wenn wir Europa zur dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Region ausbauen wollen, wenn wir gleichzeitig den Lebensstandard in den
Beitrittsländern an den Durchschnitt in der EU heranführen wollen, wenn wir wollen, dass auch von europäischer Seite der internationale Terrorismus bekämpft und
der Korruption und der organisierten Kriminalität begegnet wird, dann brauchen wir hierfür natürlich auch eine
materielle Unterfütterung; denn wir wären doch unglaubwürdig, wenn wir nur Ziele definierten, aber materiell nichts dazu beitrügen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Winterstein?
Gerne.
Herr Steenblock, soweit ich weiß, haben sich Regierung und Koalitionsfraktionen für die Einhaltung einer
Höchstgrenze von 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens ausgesprochen. Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, dann haben Sie sich als Sprecher der Grünen
hier für den Vorschlag der Kommission, der von einer
Höchstgrenze von 1,14 Prozent ausgeht, ausgesprochen.
Könnten Sie diesen Widerspruch vielleicht aufklären?
Das tue ich gerne, liebe Frau Kollegin. Ich habe mich
für gar keine Zahl ausgesprochen. Wenn Sie mir aufmerksam gelauscht hätten, dann hätten Sie tatsächlich
meinen Gedankengang verstanden. Ich habe nämlich gesagt, wir dürfen diese Debatte nicht als reine Finanzdebatte führen, sondern müssen auch schauen, welche Aufgaben wir Europa übertragen haben. Natürlich muss der
EU-Haushalt effizient gestaltet werden und muss sparsam mit den Geldern umgegangen werden. Liebe Kollegin, ich bitte Sie, dabei auch zur Kenntnis zu nehmen,
dass die nationalen Haushalte in den letzten sieben Jahren doppelt so schnell gestiegen sind wie der EU-Haushalt. Zugleich ist der EU-Haushalt der einzige, der ohne
eine Verschuldung auskommt.
({0})
- Das stimmt; diese Zahlen können Sie gerne in einer
Drucksache der EU-Kommission nachlesen. Die genaue
Nummer reiche ich Ihnen gerne noch nach. Sie können
gerne schauen, bei wie viel Prozent des Bruttonationalproduktes die jeweiligen nationalen Haushalte liegen. Im
Durchschnitt der EU-Staaten kommt man auf
45 Prozent, während der EU-Haushalt bei 1 Prozent
liegt. Schauen Sie sich dann auch an, welche Einsparpotenziale realisiert werden. Sie sagen ja zu Recht, dass
immer ein Teil - Sie können ruhig stehen bleiben, liebe
Kollegin, ich antworte noch auf Ihre Frage - ({1})
- Darauf gehe ich als Nächstes ein; jetzt handelt es sich
noch um die Antwort auf Ihre Frage.
Ich halte es vor diesem Hintergrund für wichtig, liebe
Kollegin, sich erst einmal genau anzuschauen, welche
Aufgaben durch die neue Verfassung an die EU übertragen wurden; dann kann man sagen, ob 1,0 oder 0,95 oder
vielleicht 1,14 Prozent als Höchstgrenze angemessen
sind. Das ist eine inhaltliche Debatte. Ich habe mich allerdings dafür ausgesprochen, diese inhaltliche Debatte
zu führen. Das ist wichtig. Da unterscheiden wir uns
auch innerhalb der Koalition überhaupt nicht. - Vielen
Dank.
({2})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar
des Kollegen Kalb?
Aber gerne.
Herr Kollege, würden Sie mir Recht geben, dass die
Frage, ob Europa die dynamischste Wirtschaftsregion
werden kann oder nicht, nicht von dem Finanzvolumen,
das der EU zur Verfügung steht, abhängig gemacht werden kann? Diese Aufgabe kann doch nicht gelingen,
wenn die Mitgliedstaaten ihre Hausaufgaben nicht machen. Und würden Sie zweitens zur Kenntnis nehmen,
dass sowohl im Unterausschuss zu Fragen der Europäischen Union als auch im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig und mit großem Nachdruck beschlossen wurde, die Regierung in dem
Bestreben zu unterstützen, dass der EU-Haushalt auf
1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzt wird?
({0})
Ich bin gerne bereit, den letzten Punkt zur Kenntnis
zu nehmen, frage mich aber, ob der Haushaltsausschuss
in seinen Beratungen auch schon einmal darüber nachgedacht hat, den nationalen Haushalt auf x Prozent des
Bruttonationalprodukts zu begrenzen.
({0})
Ich persönlich halte das für eine fragwürdige Strategie,
um das einmal deutlich zu sagen.
Aber ich will auch den ersten Teil Ihrer Frage beantworten: Natürlich ist es richtig, dass wir das Ziel der Lissabon-Strategie, die Sie hier ansprechen, also Europa
wettbewerbsfähig zu machen, nur dann erreichen, wenn
wir eine europäische Strategie haben, der sich alle Mitgliedsländer verpflichtet fühlen.
({1})
Natürlich müssen die Mitgliedsländer dafür in ihren jeweiligen Haushalten sorgen; das ist überhaupt keine
Frage. Aber wir können - das wissen Sie ganz genau zum Beispiel im Forschungsbereich, wie Sie an der Planung für das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm erkennen können, an vielen Stellen einen Mehrwert erreichen,
wenn wir das auf europäischer Ebene organisieren. Das
heißt - um die von Ihnen gestellte Frage zu beantworten -, wir brauchen Mittel nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene. Wir brauchen eine
nationale und eine europäische Strategie, die allerdings
zusammenpassen müssen.
({2})
Ich glaube, dass wir in der Debatte über die Frage, um
die es heute geht, Ehrlichkeit brauchen. Auch die niederländische Ratspräsidentschaft hat das deutlich gemacht.
Sie verfolgt die Strategie der politischen Prioritätenbildung. Frau Lips hat das bereits angesprochen; in diesem
Punkt kann ich mich ihr anschließen. Zur Debatte über
die finanzielle Vorausschau ist von der niederländischen
Ratspräsidentschaft die Building-Block-Methode eingeführt worden. Hierbei werden die Finanzberatungen
auf eine breitere Grundlage gestellt, damit stärker auf
den Inhalt der verschiedenen Politikbereiche eingegangen werden kann. Dies ist aus meiner Sicht ein richtiger
Ansatz, um zu erreichen, dass Anspruch und Wirklichkeit in Europa wieder zusammenpassen. Wir dürfen
nicht politische Ziele formulieren, die Erwartungen bei
den Bürgerinnen und Bürgern wecken, aber dann nicht
die notwendigen finanziellen Mittel dafür bereitstellen.
Sonst besteht die Gefahr, wie Wim Kok hinsichtlich der
Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie schon gesagt hat,
dass die Europäische Union zu einem Synonym für verfehlte Ziele und gebrochene Versprechen wird. Wir müssen dafür sorgen, dass die Europäische Union nicht nur
mit hehren politischen Zielen, sondern auch mit den dafür notwendigen Mitteln ausgestattet wird. Denn sonst,
liebe Kolleginnen und Kollegen, verlieren wir das Wichtigste: das Vertrauen der Menschen in die Zukunft Europas.
({3})
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2978 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
24 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen
({0})
- Drucksache 15/3421 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung ({2})
- Drucksache 15/3419 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksachen 15/4055, 15/4054 Berichterstattung:
Abgeordnete Olaf Scholz
Jerzy Montag
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Jerzy Montag, Volker
Beck ({5}), Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards in Deutschland sachgerecht
und transparent fortentwickeln
- Drucksache 15/4036 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist schön, Sie alle zu dieser
nachmittäglichen Stunde hier zu sehen.
({0})
- Ich freue mich, dass ich Sie alle sehe.
Zu einem attraktiven Kapitalmarkt gehört ein modernes und transparentes Bilanzrecht. Mit den beiden Gesetzen, also mit dem Bilanzrechtsreformgesetz und dem
Bilanzkontrollgesetz, die wir heute beschließen, werden
wir unsere Bilanzregeln auf hohem internationalen Niveau fortentwickeln.
Ich darf mich an dieser Stelle herzlich für die konstruktive Atmosphäre bei der Beratung der beiden Gesetzentwürfe bedanken. Es ist gut, wenn bei diesen für
unseren Finanzplatz wichtigen Weichenstellungen alle
an einem Strang ziehen, und das - auch das muss ich
hier sagen - mit großer Sachkompetenz. Es war eine
reine Freude.
Mit dem Bilanzrechtsreformgesetz und dem Bilanzkontrollgesetz setzen wir weitere bedeutende Punkte unseres Zehn-Punkte-Programms zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes um. Mit dem
Bilanzrechtsreformgesetz tragen wir der Internationalisierung des Bilanzrechts Rechnung. Wir geben den Unternehmen in Deutschland sachgerechte Möglichkeiten
zur Anwendung der International Accounting Standards.
Wir stärken außerdem die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer. Als Ausgangspunkt dient eine Generalklausel. Sie lautet: Die Besorgnis der Befangenheit führt
zum Ausschluss des Abschlussprüfers - ein altehrwürdiger juristischer Grundsatz. Niemand soll in eigener Sache prüfen und urteilen. Wir unterfüttern diesen Grundsatz mit einer Liste von Ausschlussgründen, die als
Regelbeispiele die Besorgnis der Befangenheit vermuten
lassen.
Der Grundgedanke ist dabei vor allem das Selbstprüfungsverbot. Es versteht sich von selbst, dass es für die
Unabhängigkeit schädlich ist, wenn Abschlussprüferinnen und Abschlussprüfer in die Situation kommen können, bei einer Prüfung selbst das Resultat der eigenen
vorangegangenen Beratung, sprich: Dienstleistung, bewerten zu müssen.
Verschärfte Anforderungen gelten für Kapitalmarktunternehmen. So sind Abschlussprüfer von der Prüfung
eines solchen Unternehmens ausgeschlossen, wenn sie
zugleich auch gestaltende Rechts- oder Steuerberatungsleistungen für das Unternehmen erbringen. Ich möchte
aber betonen, dass das Gesetz für mittelständische Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die keine Kapitalmarktunternehmen prüfen, keine so weit gehenden Regelungen vorsieht. Das heißt also: so viel Belastung und
Regulierung wie nötig, so viel Freiheit wie möglich.
Die Bilanzskandale der letzten Jahre haben leider gezeigt, dass es auch in der Wirtschaft ohne Kontrolle nicht
geht. Aber gerade im Wirtschaftsleben wollen wir dort,
wo es möglich ist, auf das Prinzip der Selbstregulierung
setzen und erst dann hoheitlich eingreifen, wenn es unvermeidlich ist. Diesen Weg gehen wir beim Bilanzkontrollgesetz. Wir schaffen ein zweistufiges so genanntes
Enforcementverfahren. Es geht um die Überprüfung
der Richtigkeit der Jahres- und Konzernabschlüsse von
Kapitalmarktunternehmen.
Auf der ersten Stufe soll eine privatrechtlich organisierte Prüfstelle tätig werden. Sie begegnet den Unternehmen auf gleicher Augenhöhe. Die Zusammenarbeit
mit dieser Stelle ist freiwillig. Verweigert das betroffene
Unternehmen die Zusammenarbeit mit dem privaten
Enforcementgremium, kommt auf der zweiten Stufe
- deswegen ist Herr Diller noch anwesend - die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zum Einsatz.
Sie kann die Prüfung mit hoheitlichen Mitteln durchsetzen.
Die Wirtschaft will von unserem Angebot zur Selbstregulierung Gebrauch machen und hat bereits mit
Geburtshilfe des Bundesministeriums der Justiz einen
Trägerverein für eine Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, abgekürzt DPR, gegründet. Der Aufbau
dieser Prüfstelle ist also auf einem guten Weg.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen. Wir
wollen bei aller notwendigen Kontrolle nicht die Bewegungsspielräume und die Innovationskraft unserer Unternehmer einengen. Wir wollen vielmehr durch funktionierende Finanzmärkte diese Spielräume gerade auch für
den Mittelstand erweitern. Wir wollen das Vertrauen in
die Bilanzen und die Arbeit der Abschlussprüfer stärken,
damit nicht einige wenige - eventuell schwarze Schafe ganze Märkte in Vertrauenskrisen stürzen können. Mit
den heute zu verabschiedenden Gesetzen schaffen wir
die Grundlagen dafür.
Ich danke Ihnen, dass Sie alle nachher zustimmen
werden.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich in der Sache ausführe, möchte auch ich einige
Worte des Dankes sagen; denn die Beratung dieser beiden sachlich verbundenen Gesetzentwürfe, für die ich im
Rechtsausschuss der Berichterstatter der CDU/CSUBundestagsfraktion bin, ist nach meiner Meinung beispielhaft für eine gelungene Arbeit des Parlaments. Meinen Berichterstatterkollegen der anderen Fraktionen
möchte ich für die sachliche und konstruktive Beratung
danken, in deren Folge wir in einem straffen, aber nie
übereilten Verfahren im Konsens nahezu alle Punkte
nicht nur zu unserer Zufriedenheit, sondern vor allen
Dingen sachgerecht und allen Betroffenen gerecht werdend klären und einer Lösung zuführen konnten.
Mein Dank gilt auch den Sachverständigen, die uns
im Rahmen eines erweiterten Berichterstattergespräches
unterstützten. Die Zusammenarbeit sowohl mit dem
Bundesjustizministerium als auch mit den Ländern, die
über die Stellungnahme des Bundesrates wertvolle Anregungen gaben, kann und will ich nur loben. Meinen
Dank dafür!
Gleichwohl das Bundesjustizministerium und damit
der Rechtsausschuss federführend sind, haben die Gesetzentwürfe vor allen Dingen einen finanz- und wirtschaftspolitischen Hintergrund. Mein Kollege Otto
Bernhardt sprach als Berichterstatter der CDU/CSU im
Finanzausschuss in der ersten Lesung der beiden Gesetzentwürfe zu deren gesetzgeberischem Ziel. Daher
möchte ich mich an dieser Stelle ein wenig beschränken.
Gemeinsam ist beiden Gesetzen, dass Bilanzskandale
der letzten Jahre - nicht nur, aber eben auch in Deutschland - die Anleger erheblich verunsicherten. Um das
Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland zu sichern,
mussten wir als Gesetzgeber handeln. Dieses Vertrauen
betrifft sowohl die Rechnungslegung der Unternehmen
wie auch das Institut der Abschlussprüfung. Der Anlegerschutz ist ein gewichtiges Schutzgut, dem wir vor allem mit den Regelungen zur Unabhängigkeit der Abschlussprüfer Rechnung tragen.
Im Bilanzrechtsreformgesetz werden die internationale Vereinheitlichung der Rechnungslegung und damit
die Vergleichbarkeit durch die Übernahme internationaler Rechnungslegungsgrundsätze gesichert. Das
Verfahren IAS steht somit auch für die internationale
Wettbewerbsfähigkeit kapitalmarktorientierter deutscher
Unternehmen.
Langfristig wird allerdings die Frage zu beantworten
sein, inwieweit die parallele Erstellung eines IAS-Abschlusses und eines Abschlusses nach dem Handelsgesetzbuch sinnvoll ist. Der HGB-Abschluss ist und bleibt
Maßstab für die Gewinnausschüttung und insbesondere
für steuerliche Zwecke und geht teilweise von fundamental anderen Grundlagen aus. Der IAS-Abschluss
kann dies nicht leisten.
Im Bilanzrechtsreformgesetz wird die Unabhängigkeit der Abschlussprüfer gesichert. Damit werden die
Empfehlungen der EU-Kommission umgesetzt. Hier
zeigt sich aber auch ein Spannungsfeld zwischen dem
notwendigen Anlegerschutz, dem durch die Unabhängigkeitsregelungen Rechnung getragen wird, und den Interessen der mittelständischen Wirtschaft und deren Prüfern. Regelungen, die auf die Abschlussprüfungen von
so genannten Unternehmen öffentlichen Interesses ausgerichtet sind, passen nicht notwendig auch auf mittelständische Unternehmen. Hier galt es, genau auf die
potenziellen Wirkungen der Gesetzgebung zu achten.
Das ist uns meiner Einschätzung nach im Verfahren gut
gelungen.
Die Vorschriften sollen die gesetzgeberischen Ziele
erfüllen. Sie sollen aber auch so wenig nachteilige Wirkungen wie möglich haben. Der Nutzen muss wie bei jeder Gesetzesfolgenabwägung überwiegen. Hier wies der
Regierungsentwurf eine ganze Reihe von Verbesserungsnotwendigkeiten auf.
Daneben sei mir an dieser Stelle gestattet, zu sagen,
dass das Bundesjustizministerium im Laufe der Beratungen an für meinen Geschmack zu vielen Stellen redaktionelle Änderungen vornehmen und Schreibversehen
beheben musste. Derartige Fehler sind leider ein weit
verbreitetes Übel der letzten Jahre, auch wenn es sich in
diesem Fall zwar um zahlreiche, aber zugegeben nur um
kleine Fehler handelte.
In der Sache weiter: Eine der gewichtigsten Veränderungen ist die Herausnahme der nicht kapitalmarktorientierten Banken und Versicherungen aus dem Anwendungsbereich der verschärften Unabhängigkeitsregeln
für Prüfer. Damit wurde eine unnötige Belastung von
kleineren und insbesondere nur regional tätigen Unternehmen dieses Bereichs und der Prüfer erreicht.
In diesem Sinne wirkend und ebenfalls zielführend ist
die Sonderregelung einer so genannten internen Rotation
für genossenschaftliche Prüfungsverbände sowie die
Prüfungsstellen des Sparkassen- und Giroverbandes, die
im Zuge der parlamentarischen Beratungen gefunden
wurde. Die Gleichbehandlung mit Wirtschaftsprüfungsgesellschaften an dieser Stelle hätte ohne Not das bewährte gewachsene genossenschaftliche System der Beratung und Prüfung zerstört und damit letztlich in
unnötiger Weise Kosten verursacht.
Wieder gestrichen wurde außerdem die zunächst vorgeschlagene Unabhängigkeitsregel, nach der Abschlussprüfer nicht tätig werden dürfen, wenn sie das zu prüfende Unternehmen auch gerichtlich vertreten. Die
Beratungen haben für mich überzeugend ergeben, dass
dieser Ausschluss unter der definierten Zielsetzung auch
nicht erforderlich war.
Weiterhin nicht sachgerecht war der ursprünglich vorgesehene endgültige Prüferausschluss nach der Zeichnung von Bestätigungsvermerken über einen Zeitraum
von fünf Jahren. Durch die nun festgelegte Dauer von
sieben Jahren und insbesondere durch die vom Bundesrat eingebrachte Möglichkeit, dass der Prüfer nach einer
Abkühlungsphase, also einem Zeitraum, in dem er ein
Unternehmen nicht geprüft hat, von mindestens drei Jahren erneut tätig werden kann, bleiben gerade kleinere
Prüfunternehmen wettbewerbsfähig. Das Miteinander
von kleineren und großen Prüfunternehmen ist ein gewachsenes System, das sich bewährt hat.
Sachgerecht war es auch, die Pflicht zur Angabe der
Abschlussprüferhonorare im Bilanzanhang abweichend
vom Regierungsentwurf auf solche Unternehmen zu beschränken, die einen organisierten Kapitalmarkt in Anspruch nehmen; denn nur dort ist dieses Transparenzgebot erforderlich.
Ich möchte noch einmal klar betonen, dass meine
Fraktion die Forderung nach größtmöglicher Unabhängigkeit der Abschlussprüfer unterstützt. Daran besteht
ein dringendes öffentliches Interesse. Bei der gesetzlichen Umsetzung dieser Forderung ist allerdings Augenmaß angezeigt. Daher ist es mir wichtig, noch einmal
deutlich zu machen, dass die neue Umsatzabhängigkeitsgrenze von 15 Prozent der Beobachtung bedarf. Diese
Regelung ist nach meiner Ansicht sehr streng und stellt
kleinere Prüfer vor nicht unerhebliche Probleme; Probleme, die freilich ob der Fünf-Jahres-Erheblichkeit und
der gefundenen Übergangsvorschriften abschätzbar sind.
Dennoch halte ich hier potenziell eher eine Korrektur
nach oben für möglich. Wir dürfen auf keinen Fall Regelungen schaffen, die verhindern, dass einzelne Wirtschaftsprüfer oder kleinere Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Prüfaufträge auch von größeren Unternehmen
bekommen. Dies nützte dem Anlegerschutz überhaupt
nicht und wäre zudem ordnungspolitisch bedenklich.
So, wie es richtig und wichtig ist, kleinere und mittlere Unternehmen nicht auf die Erstellung eines IASAbschlusses zu verpflichten, war es wichtig, dass für
diejenigen Unternehmen, die die internationalen Rechnungslegungsregeln freiwillig anwenden wollen, dies
nun bereits für den nächsten Konzernabschluss zum
31. Dezember 2004 möglich ist. Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte das noch anders vorgesehen.
Das Bilanzkontrollgesetz bringt eine zusätzliche Prüfinstanz - der Staatssekretär hat es bereits erwähnt - auch
für ausländische Unternehmen, die in Deutschland entsprechend notiert, also an einer inländischen Börse, im
amtlichen Handel oder im geregelten Markt zugelassen
sind.
Die derzeitige Praxis der Kontrolle der Jahresabschlüsse, der Konzernabschlüsse und der Lageberichte
durch Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsrat wird künftig
durch ein weiter gehendes zweistufiges Verfahren abgelöst. Das mag auf den ersten flüchtigen Blick nach mehr
Bürokratie klingen, ist es aber nicht. Da vor die potenzielle zweite Prüfungsstufe durch das Bundesamt für
Finanzdienstleistungsaufsicht eine privatrechtlich organisierte Prüfstelle tritt, wird Bürokratie vielmehr abgebaut. Diese Instanz ist - wie schon erwähnt - mit der
Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung auch schon
ins Leben gerufen.
An dieser Stelle ergaben sich in den Beratungen eine
Reihe von Notwendigkeiten zur Veränderung des
Regierungsentwurfes, die auch umgesetzt wurden. Die
Verschiebung des Termins für die eigentliche Prüftätigkeit vom 1. Januar auf den 1. Juli 2005 wegen der Notwendigkeit einer vorherigen Kostenerhebung bei den zu
prüfenden Unternehmen mag einleuchten. Da der eigentliche Arbeitsgegenstand der Prüfstelle, nämlich die Abschlüsse für 2004, erst im späten Frühjahr zu erwarten
ist, ist der tatsächliche Zeitverzug kürzer. Dennoch hätte
ich mir hier eine andere Lösung, beispielsweise im Sinne
einer Vorfinanzierung, gewünscht.
Ich will auch nicht verhehlen, dass ich nicht mit letzter Sicherheit von der zweistufigen Prüfung überzeugt
bin, oder ob nicht eine einstufige Prüfung durch das
BaFin der bessere Weg gewesen wäre. Letztlich leiten
mich aber das durchaus überzeugende konkrete Konzept
und der Gedanke einer vorgeschalteten Selbstregulierung. Künftig müssen wir aber alle miteinander sehr genau beobachten, ob das Konstrukt im Sinne der Zielsetzung trägt. Mein Appell geht an die betroffenen
Unternehmen, dieses Modell durch Kooperation mit Leben zu erfüllen.
Die Gefahr einer Doppelprüfung bei Kreditinstituten,
Finanzdienstleistungsinstituten oder Versicherungsunternehmen im Sinne einer gleichzeitigen Prüfung durch die
Prüfstelle nach den allgemeinen Regeln und das BaFin
im Rahmen einer Sonderprüfung ist durch das abweichend vom Regierungsentwurf geschaffene Selbstanziehungsrecht des BaFin gebannt. Damit würde in diesen
Fällen die erste Stufe der Prüfung entfallen - eine Zeitund Kostenersparnis ohne Qualitätsverlust.
Insgesamt sind die beiden Gesetze - das möchte ich
nochmals betonen - eine erfreuliche Umsetzung des Erforderlichen und als letzter Tagesordnungspunkt dieser
Plenarwoche auch ein guter Schlusspunkt für diese.
Da es aber noch nicht 16 Uhr ist und daher auch die
Sperrfrist einer mir bereits vorliegenden Pressemitteilung Ihres Hauses zu diesem Thema noch nicht abgelaufen ist, sollten Sie vielleicht nach dem von mir Aufgeführten den Passus, „dass die Regierungsentwürfe mit
nur wenigen Änderungen angenommen worden sind“,
selbstkritisch hinterfragen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unternehmensintegrität und Anlegerschutz in Deutschland zu
erhalten und zu stärken sind zwei bedeutende politische
Aufgaben unserer Koalition im Bereich des Wirtschaftsrechts.
({0})
Die Bundesregierung hat im Maßnahmenkatalog vom
Februar 2003 die Werkzeuge genannt, mit denen wir sowohl den Schutz der Anleger als auch die Integrität der
Unternehmen stärken wollen. Das Bilanzrechtsreformgesetz und das Bilanzkontrollgesetz setzen ganz konkret
Empfehlungen des Maßnahmenkatalogs um.
Das Enforcementverfahren und die einzurichtende
Prüfstelle schaffen ein Instrument der Selbstkontrolle
der Wirtschaft. Wir setzen dabei gerade nicht auf mehr
Staat, Herr Kollege Wanderwitz, sondern auf mehr Engagement der Wirtschaft selbst, um die Richtigkeit von
Kapitalmarktinformationen zu stärken.
({1})
Das Bilanzrechtsreformgesetz stärkt die Abschlussprüfer
in ihrer Unabhängigkeit und Neutralität.
Es gibt aber auch Entwicklungen im deutschen und
europäischen Bilanzrecht, die uns mit Sorge erfüllen.
Ganz konkret geht es um den Verlust von Transparenz
und Demokratie bei der Entwicklung und Übernahme
internationaler Rechnungslegungsstandards, der so genannten IAS. Durch das Bilanzrechtsreformgesetz wird
das nationale Bilanzrecht an vier europäische Rechtsakte, darunter auch an die EU-Verordnung zu den IAS
angepasst. Das heißt konkret: Ab dem 1. Januar 2005
werden kapitalmarktorientierte Unternehmen in Deutschland nach diesen Regeln bilanzieren müssen.
Die Erarbeitung der darin festgelegten Rechnungslegungsstandards erfolgt jedoch nicht - wie es bisher in
Deutschland rechtsstaatlicher Standard war - in einem
demokratisch legitimierten nationalen Gesetzgebungsverfahren, sondern im so genannten IAS-Board, einem
privaten 14-köpfigen Gremium mit Sitz in London, das
von Industrieunternehmen, Banken, Versicherungsunternehmen und Wirtschaftsprüfern finanziert wird.
Folglich wird die Transparenz, die auf dem Kapitalmarkt durch die Anwendung der neuen Standards erreicht werden soll, in einer Dunkelkammer geboren. Intransparenz soll Transparenz schaffen, ein im Grundsatz
paradoxes und unmögliches Verfahren.
Der auf EU-Ebene im Rahmen des Komitologieverfahrens für die Übernahme der Regeln - zuerst in europäisches und dann in nationales verbindlich geltendes
Recht - eigens eingesetzte Regelungsausschuss unter
dem Vorsitz der Kommission kann diese Standards lediglich annehmen; mitmachen und mitgestalten kann er
sie aber nicht und ändern auch nicht.
({2})
Das Europäische Parlament ist außen vor und auch wir
als deutsches Parlament werden nicht gefragt. Auch dies
ist ein im Grundsatz unmögliches Verfahren.
({3})
Der von mir beschriebene Demokratie- und Transparenzverlust ist ein großes Problem, die mit weiteren gravierenden Konsequenzen verbundene Einführung der
IAS-Regeln birgt aber noch weitere Probleme. Ich nenne
hier die zu erwartenden Auswirkungen auf den Mittelstand und den kaum abschätzbaren Einfluss auf die künftigen Besteuerungsgrundlagen von Unternehmen in
Deutschland.
({4})
Für mittelständische und nicht kapitalmarktorientierte
Unternehmen besteht nach der EU-Verordnung zwar ein
Wahlrecht, entweder wie bisher zu bilanzieren oder nach
den neuen IAS-Regeln. Es steht aber zu befürchten, dass
sich auch der Mittelstand gezwungen sehen wird, diese
Rechnungslegung umzustellen, wenn Banken zunehmend IAS-Bilanzen verlangen und auch Kooperationspartner, insbesondere in der internationalen Zusammenarbeit, nach den neuen Regeln bilanzieren werden. Dies
wird enorme Kosten verursachen, die der Mittelstand
nicht oder nur sehr schwer schultern kann. Deshalb halten wir es für erforderlich, dass für mittelständische Unternehmen so rasch wie möglich eine abgespeckte Version der IAS-Regeln, die so genannten IAS light, fertig
gestellt wird.
Was den Einfluss auf die Steuerbilanz betrifft, so
konnten wir bereits der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 25. Oktober dieses Jahres entnehmen, dass es
schon Urteile des Europäischen Gerichtshofs gibt, die in
die Richtung deuten, dass die neuen IAS-Regeln in Zukunft auch die Grundlage der Besteuerung darstellen
werden. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, dass
der Deutsche Bundestag gegensteuert. Gefordert sind
gesetzliche Vorgaben für die Steuerbilanz, die weiterhin
auf dem Realisationsprinzip aufbauen und übermäßige
Schwankungen bei der Berechnung von Steuereinnahmen vermeiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch unseren Entschließungsantrag, den wir gleichzeitig mit den beiden
Gesetzentwürfen in den Bundestag eingebracht haben,
machen wir auf diese Sorgen und Probleme aufmerksam. Darüber werden wir auch im Rechtsausschuss noch
sehr sorgfältig diskutieren. Wie bei den beiden Gesetzentwürfen laden wir die Opposition auch bei diesem Entschließungsantrag zur gemeinsamen Zusammenarbeit
ein.
Danke.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich dem Dank an die Kollegen, die als Berichterstatter an diesen Gesetzentwürfen
mitgewirkt haben, anschließen. Ich möchte mich auch
ausdrücklich beim Bundesjustizministerium und insbesondere bei Herrn Dr. Ernst bedanken, der eine wirklich
komplizierte Materie so dargestellt und erläutert hat,
dass sie jeder von uns verstanden hat. Ebenfalls möchte
ich mich bei den Sachverständigen bedanken, die uns
gerade in der letzten Phase der Beratungen sehr geholfen
und mit dazu beigetragen haben, dass eine Reihe von
Bestimmungen, die vielleicht zu bürokratisch waren und
die Dinge verkompliziert hätten, beseitigt worden sind.
Dazu zählt in meinen Augen die Vermeidung der
Doppelprüfung nach § 44 des Kreditwesengesetzes. Es
wird vermieden, dass die betroffenen Unternehmen einer
zusätzlichen Belastung ausgesetzt werden und dass das
BaFin eine unnötige, kostenintensive Doppelprüfung
vornehmen muss.
Ich glaube, dass die gute Zusammenarbeit zwischen
den Berichterstattern notwendig war, da mit beiden Gesetzentwürfen wichtige volkswirtschaftliche Ziele verfolgt werden.
Mit dem Bilanzkontrollgesetz sollen der Anlegerschutz und die Unternehmensintegrität nachhaltig gestärkt werden. Diese Ziele finden, wenn sie praktikabel
und sinnvoll umgesetzt werden, unsere Unterstützung.
Mit dem Bilanzrechtsreformgesetz werden zunächst
Vorgaben des europäischen Bilanzrechts umgesetzt,
um die europäischen Unternehmen auf dem international
umworbenen Kapitalmarkt, insbesondere in Konkurrenz
zum US-Kapitalmarkt, zu stärken. Auch zur Stärkung
des Vertrauens in die Aussagekraft von Unternehmensabschlüssen sowie in die Unabhängigkeit und das Testat
des Abschlussprüfers waren gute Regelungen dringend
notwendig; denn wir alle erinnern uns noch an Skandale
wie die um Enron und Parmalat.
Im Rahmen der Berichterstattergespräche haben wir
im Einverständnis zwischen allen Fraktionen bereits einige wichtige Änderungen am Gesetzentwurf der Bundesregierung vornehmen können. Unter anderem wurden der Ausschlussgrund der gerichtlichen Vertretung
gestrichen, die Regelungen zur internen Rotation vernünftig geändert und die nicht kapitalmarktorientierten
Banken und Versicherungen von den Unabhängigkeitsregeln vollständig befreit. Auch die Schaffung einer
Sonderregelung für genossenschaftliche Prüfungsverbände war zu befürworten. Das Verbot der Verbindung
von Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung hat uns
nicht gefallen, aber das ist nun einmal eine Konzession
in einem Kompromiss; wir werden hierüber sicherlich
noch häufiger zu reden haben.
Herr Kollege, darf ich Sie an die Zeit erinnern?
Vorletzter Satz. - Die Fragen des europäischen und
des weltweiten Bilanzrechts werden uns beschäftigen,
weil die Kapitalmärkte immer globaler werden und deswegen auch kompatibler sein müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Olaf
Scholz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
sprechen über ein in der Tat sehr wichtiges Gesetz, das
- wie man erkennen kann - die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in unserem Land, die es verdient, wohl nicht
bekommen wird. Es geht um Wirtschaftspolitik, ganz
handfeste sogar. Alles, worüber wir hier entscheiden, hat
etwas damit zu tun, wie sich unsere Unternehmen auf
den internationalen und nationalen Kapitalmärkten refinanzieren können, ob es ihnen gelingt, im Wettbewerb
kräftig dazustehen oder nicht. Wer kein Gefühl für das
Thema hat, wird dies vielleicht nicht gleich denken, aber
man muss wissen, dass es von großer Bedeutung ist, Bilanzen trauen zu können. Deshalb ist es richtig, Bilanzen
für die internationalen Finanzmärkte so zu erstellen, dass
ihnen geglaubt wird.
Im Wettbewerb der verschiedenen Bilanzierungsmöglichkeiten hat diesbezüglich eine Entwicklung stattgefunden. International akzeptiert wird das, was auf dem
amerikanischen Kapitalmarkt üblich ist, die dortigen Accounting Standards und eine internationale Variante davon, die jetzt für die Europäische Union und damit auch
für uns verbindlich wird. Das muss man zur Kenntnis
nehmen. Wäre unser Markt kapitalisierter, würden sich
unsere Unternehmen an den Börsen besser refinanzieren,
als sie das real tun, dann hätte das deutsche Bilanzrecht
dabei sicherlich eine größere Rolle gespielt. Aber so ist
es eben nicht; man muss die Realität anerkennen. Das
hat Europa getan und das tun auch wir mit dem Gesetz,
das wir heute beschließen wollen.
Natürlich stellen sich damit auch neue Fragen: Wie
kommen diese Bilanzierungsregeln zustande? Es ist zunächst einmal nicht wichtig, ob dabei ein Mangel an Demokratie vorliegt. Wir haben letztendlich schon vor längerer Zeit entschieden, dass Unternehmen internationale
Rechnungslegungsstandards anwenden dürfen. Diese
Entscheidung wollen wir nicht zurücknehmen - das können wir auch nicht. Aber je internationaler es wird, desto
weniger hat natürlich eine nationale Kultur - auch eine
nationale Rechtsetzungskultur - Einfluss auf das, was
geschieht. Dann kommt es immer wieder vor, dass man
feststellt: Wäre doch schön, wenn dabei ein Diskussionsprozess, wie er bei uns stattfindet, eine größere Rolle
spielen könnte.
Zwei aktuelle Beispiele, mit denen wir heute konfrontiert sind: Nach den neuen Rechnungslegungsvorschriften wird das Kapital der Genossenschaften - auch der
Genossenschaftsbanken - nicht mehr ohne weiteres als
Eigenkapital anerkannt.
({0})
Was über Jahrzehnte richtig funktioniert hat, wird jetzt
nicht mehr ohne weiteres akzeptiert; wir als Gesetzgeber
in Deutschland können dabei kaum helfen. Das Gleiche
gilt - juristisch und intellektuell abgeleitet analog zur
Rechtsprechung und Meinungsbildung bezüglich des
Genossenschaftskapitals - für die Bilanzierung des Genussrechtskapitals. Wir haben vor kurzem lesen können,
dass ein Unternehmen eine ganz neue Konstruktion gewählt hat, weil es darauf reagieren musste, dass etwas,
was immer ging, jetzt nicht mehr geht.
Es ist also notwendig, etwas zu tun. Darum wollen
wir nicht nur diese beiden Gesetze einvernehmlich beschließen, sondern wir wollen heute auch einen Entschließungsantrag auf den Weg bringen, über den wir
gerne gemeinsam weiter diskutieren wollen. Es geht darum, herauszufinden: Was sollen wir eigentlich wollen?
Was könnten wir politisch bewegen, damit wir in Europa
nicht immer nur vor der Wahl stehen „Friss, Vogel, oder
stirb“, wenn es etwa um die Frage geht, wie wir uns gegenüber IAS 32 und IAS 39 verhalten; um die erwähnten
Beispiele wieder aufzugreifen. Das haben wir getan und
ich glaube, das war richtig.
Das Gesetz insgesamt ist von meinen Vorrednern so
ausführlich besprochen worden, dass ich nicht alles wiederholen will. Ich erwähne aber noch einmal die bessere
Unabhängigkeit der Wirtschaftsprüfer börsennotierter
und börsenorientierter Unternehmen. Dies war unbedingt richtig und das haben wir erreicht. Wir sind aber
nur so weit gegangen, wie wir glaubten, verantworten zu
können. Es macht auch Sinn, dass man als Gesetzgeber
erst einmal schaut, was man anrichtet; denn durch dieses
Gesetz werden wir natürlich Verschiebungen auf dem
Markt der Wirtschaftsprüfer verursachen. Vielleicht werden sich auch weitere Kosten daraus ergeben. Das muss
man ja immer mit bedenken.
Deshalb glaube ich, dass es richtig war, stückweise
vorzugehen und zu schauen, was eigentlich geschieht.
Dadurch können wir später Veränderungen vornehmen,
wenn wir erste Erfahrungen gesammelt haben. Aus meiner Sicht ist dies der richtige Weg. Die Unabhängigkeit
wird trotzdem gleichzeitig gestärkt.
Ich habe mir bis zum Schluss aufgehoben, Folgendes
zu sagen: Ich denke, dass wir hier eine sehr gute Gesetzgebung machen. Das Ministerium hat ein intellektuell
sehr hoch stehendes Gesetz entwickelt. Ich glaube, dass
das in der öffentlichen Debatte gegenwärtig ein wenig
untergeht. Deutschland verfügt über eine Rechtsordnung auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau.
({1})
Dieses Niveau zu erreichen ist uns mit der vorgelegten
Gesetzgebung wieder gelungen. Wir als Abgeordnete
haben uns bemüht, mitzuhalten, weshalb wir hier gemeinsam ein sehr gutes Gesetz vorgelegt haben.
Warum sage ich das? Bei all dem, was gegenwärtig in
diesem Bereich geschieht, kommt es immer auch darauf
an, dass wir das hohe Niveau unserer Rechtsordnung bewahren; denn sie ist auch ein Standortvorteil. Diesen berücksichtigen die Unternehmen, wenn sie sich entscheiden, wo ihr Konzernsitz sein soll. Darüber wird immer
wieder diskutiert. Es gibt in der Debatte viele Schlagworte. Unsere gut funktionierende Rechtsordnung in
Deutschland, auf die man sich verlassen kann und die intellektuell gut durchdrungen ist, ist für die Unternehmen
oft viel wichtiger als das, was uns sonst aufregt. Insofern
leisten wir heute auch einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsförderung.
Schönen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bilanzkontrollgesetzes auf Drucksache 15/3421. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4055, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen gibt es keine, Enthaltungen auch nicht.
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Noch zu Tagesordnungspunkt 24: Abstimmung über
den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bilanzrechtsreformgesetzes auf Drucksache 15/3419.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4054, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen und Enthaltungen gibt es nicht. Damit ist
der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 15/4036 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. November 2004, 13 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Besuchern
auf der Tribüne ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.